Fotografische Normalisierung: Zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung am Beispiel des Fotoarchivs der Stiftung Liebenau 9783839434949

This volume works through the photographic representation of disability historically that at the same time contributes t

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Fotografische Normalisierung: Zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung am Beispiel des Fotoarchivs der Stiftung Liebenau
 9783839434949

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung: Sozio-mediale Konstruktion von Behinderung
1.1 Bilder von Behinderung – Bilder ohne Behinderung?
1.2 Ein anderes Archiv: Das Fotoarchiv der Stiftung Liebenau
1.3 Fragestellung und Aufbau der Studie
2. Andere Bilder: Theoretische Grundlagen der sozio-medialen Konstruktion von Behinderung
2.1 Zweimal Studies: Zum Verhältnis von Visual Studies und Disability Studies
2.1.1 Die Visual Studies als Meta-Disziplin
2.1.2 »Nichts über uns ohne uns!« Die Disability Studies
2.1.3 Doing Images – Doing Dis/ability
2.2 Fotografie und Behinderung
2.2.1 Semiotische Ansätze der Fototheorie
2.2.2 Fotografie und Behinderung aus zeichentheoretischer Perspektive
3. Anderes Sehen: Vom Blick auf den (behinderten) Körper
3.1 Die Disability Studies und der klinische Blick – eine Kritik am Blickregime?
3.2 Normalität und Normalismus
3.3 Normale Bilder von Behinderung?
3.4 Der klinische Blick bei Foucault
3.5 Der klinische Blick in der Fotografie
4. Anderes beschreiben: Bildanalysen
4.1 »Arbeit ist die beste Medizin« – Werkstattfotografien aus den 1920er Jahren
4.1.1 Visuelle Ein- und Ausschlüsse
4.1.2 Bildkomposition und soziale Hierarchie
4.1.3 Medizinischer Blick oder soziales Blickregime?
4.2 Ein ›Knipser‹ in Liebenau – Arbeiterporträts 1936-1940
4.2.1 Zur Ästhetik der Knipserfotografie
4.2.2 »Menschen des 20. Jahrhunderts«: Die Produktion von Normalität in der Porträtfotografie der Weimarer Republik
4.3 Porträts im Wirtschaftswunder – das Leben im Josefshaus um 1960
4.3.1 Die Liebenauer Anstalt zwischen Aktion T4 und der Gründung der BRD
4.3.2 Zur Sichtbarkeit und gesellschaftlichen Relevanz behinderter Menschen in der Nachkriegszeit
4.3.3 »Saisonkonformismus« als ästhetische Kategorie
4.3.4 Denormalisierung durch Infantilisierung
4.3.5 Blickregime statt Bildrhetorik?
4.4 Fotografie zwischen Institution und Öffentlichkeit ab 1970
4.4.1 Fotografieren im Zeichen von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
4.4.2 Sichtbarkeitsverhältnisse
4.5 Zusammenfassung
5. Anderes zeigen: Behinderung in Serie und als Archiv
5.1 Einleitung
5.2 Was ist ein Archiv? Archivtheoretische Grundlagen
5.3 (Fotografische) Serialität
5.3.1 Das vergleichende Sehen als Ordnungsprinzip
5.3.2 ›Behinderung‹ in Serie?
5.3.3 Fotografische Typen – das Archiv im Bild
5.3.4 Objektivierung durch Vereinheitlichung – das Bild im Archiv
5.4 Die Fotografie als Archiv im Archiv
6. Behinderung (nicht) zeigen? Schluss
Literatur
Danksagung

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Anna Grebe Fotografische Normalisierung

Image | Band 92

Anna Grebe (Dr. phil.) lebt und arbeitet in Berlin. Die Medienwissenschaftlerin promovierte an der Universität Konstanz und forscht und lehrt seitdem u.a. in Linz und Wien (Österreich) sowie in Valparaíso (Chile).

Anna Grebe

Fotografische Normalisierung Zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung am Beispiel des Fotoarchivs der Stiftung Liebenau

Dissertation der Universität Konstanz Tag der mündlichen Prüfung: 13. Mai 2015 Referentin: Prof. Dr. Beate Ochsner Referent: Prof. Dr. Thomas Macho Die Drucklegung der Dissertation wurde durch die freundliche Unterstützung der Stiftung Liebenau ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Stiftung Liebenau, ca. 1904, © Stiftung Liebenau, Meckenbeuren-Liebenau Satz: Carola Schneider Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3494-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3494-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1

Einleitung: Sozio-mediale Konstruktion von Behinderung | 7

1.1 Bilder von Behinderung – Bilder ohne Behinderung? | 7 1.2 Ein anderes Archiv: Das Fotoarchiv der Stiftung Liebenau | 15 1.3 Fragestellung und Aufbau der Studie | 19 2

Andere Bilder: Theoretische Grundlagen der sozio-medialen Konstruktion von Behinderung | 29

2.1 Zweimal Studies: Zum Verhältnis von Visual Studies und Disability Studies | 30 2.1.1 Die Visual Studies als Meta-Disziplin | 30 2.1.2 »Nichts über uns ohne uns!« Die Disability Studies | 38 2.1.3 Doing Images – Doing Dis/ability | 54 2.2 Fotografie und Behinderung | 59 2.2.1 Semiotische Ansätze der Fototheorie | 61 2.2.2 Fotografie und Behinderung aus zeichentheoretischer Perspektive | 67 3

Anderes Sehen: Vom Blick auf den (behinderten) Körper | 75

3.1 Die Disability Studies und der klinische Blick – eine Kritik am Blickregime? | 78 3.2 Normalität und Normalismus | 79 3.3 Normale Bilder von Behinderung? | 84 3.4 Der klinische Blick bei Foucault | 89 3.5 Der klinische Blick in der Fotografie | 95 4

Anderes beschreiben: Bildanalysen | 103

4.1 »Arbeit ist die beste Medizin« – Werkstattfotografien aus den 1920er Jahren | 105 4.1.1 Visuelle Ein- und Ausschlüsse | 105 4.1.2 Bildkomposition und soziale Hierarchie | 113 4.1.3 Medizinischer Blick oder soziales Blickregime? | 115 4.2 Ein ›Knipser‹ in Liebenau – Arbeiterporträts 1936-1940 | 118 4.2.1 Zur Ästhetik der Knipserfotografie | 121

4.2.2 »Menschen des 20. Jahrhunderts«: Die Produktion von Normalität in der Porträtfotografie der Weimarer Republik | 132 4.3 Porträts im Wirtschaftswunder – das Leben im Josefshaus um 1960 | 142 4.3.1 Die Liebenauer Anstalt zwischen Aktion T4 und der Gründung der BRD | 142 4.3.2 Zur Sichtbarkeit und gesellschaftlichen Relevanz behinderter Menschen in der Nachkriegszeit | 146 4.3.3 »Saisonkonformismus« als ästhetische Kategorie | 152 4.3.4 Denormalisierung durch Infantilisierung | 158 4.3.5 Blickregime statt Bildrhetorik? | 169 4.4 Fotografie zwischen Institution und Öffentlichkeit ab 1970 | 172 4.4.1 Fotografieren im Zeichen von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit | 175 4.4.2 Sichtbarkeitsverhältnisse | 197 4.5 Zusammenfassung | 202 5

Anderes zeigen: Behinderung in Serie und als Archiv | 205

5.1 Einleitung | 205 5.2 Was ist ein Archiv? Archivtheoretische Grundlagen | 208 5.3 (Fotografische) Serialität | 212 5.3.1 Das vergleichende Sehen als Ordnungsprinzip | 213 5.3.2 ›Behinderung‹ in Serie? | 219 5.3.3 Fotografische Typen – das Archiv im Bild | 221 5.3.4 Objektivierung durch Vereinheitlichung – das Bild im Archiv | 227 5.4 Die Fotografie als Archiv im Archiv | 231 6

Behinderung (nicht) zeigen? Schluss. | 233

Literatur | 239 Danksagung | 257

1. Einleitung: Sozio-mediale Konstruktion von Behinderung

1.1 B ILDER VON B EHINDERUNG – B ILDER OHNE B EHINDERUNG ? Der Diskurs um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung 1 an ihrer medialen Repräsentation und im Zuge dessen um die Produktion authentischer Bilder von

1

Die »Nomenklaturgeschichte« im Falle des Phänomens ›Behinderung‹ ist lang und bewegt, wie Emil Kobi festgestellt hat. Dabei sei die »Benennungs- und Umbenennungsdynamik […] weniger eine Folge vertiefter und differenzierterer Sachkenntnis, als die eines Wandels von Kontextverhältnissen und Sichtweisen, von Einschätzungen und Bewertungen und somit insgesamt der anthropologischen und kosmologischen Verortung.« (Kobi, Emil: Zur terminologischen Konstruktion und Destruktion Geistiger Behinderung. In: Greving, Heinrich/Gröschke, Dieter (Hrsg.): Geistige Behinderung – Reflexionen zu einem Phantom. Ein interdisziplinärer Diskurs und einen Problembegriff. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2000, S. 63-78, hier S. 63). Die vorliegende Studie bemüht sich neben einer geschlechtergerechten Sprache auch um eine jeweils vom historischen Kontext abhängige, zugleich aber ebenso um politisch korrekten Bezeichnungen und Begrifflichkeiten, die Menschen mit und ohne Behinderung beschreiben. Gleichwohl ist dieser Diskurs breit gefächert, politisch hart umkämpft und es herrscht zwischen den Disziplinen als auch im Alltagsgebrauch häufig noch Uneinigkeit über eine Nomenklatur, die freilich immer Differenzen sprachlich mitproduziert. Insbesondere die Bezeichnung »geistige Behinderung« erscheint dabei als besonders kritisch und die dazu diskursivierten Alternativen wie »Menschen mit einer Lernbehinderung« oder aus die aus dem Englischen übertragene Redewendung der »besonderen Menschen« (»special people«) bringen ebenso vielerlei Fragen und Abgrenzungsmechanismen mit sich. Um nicht dem »Sogenanntismus« zu verfallen und

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Behinderung hat sich seit einigen Jahren und spätestens mit der 2006 von der UNO-Generalversammlung in New York verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention 2 auch in einer großen Anzahl an fotografischen Ausstellungsund Buchprojekten niedergeschlagen: In Fotoserien wie »Sichtlich Mensch« von 2008 (Abb. 1) porträtieren sich Mitarbeiter_innen einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung gegenseitig im Studio des Fotografen Andreas Reiner, für den Bildband »anderStark. Stärke braucht keine Muskeln« werden Frauen mit einer Muskelerkrankung kreativ und erotisch in Szene gesetzt (2012) und Menschen mit einer geistigen Behinderung werden zu Protagonist_innen in Dokumentationen und Musikvideos des südafrikanischen Künstlers Roger Ballen (2012) (Abb. 2). 3

›Behinderung‹ stets zu apostrophieren, jedoch um hier schon deutlich zu machen, dass ich mir der Schwierigkeit der Bezeichnung und der damit einhergehenden Differenzproduktion äußerst bewusst bin, habe ich mich dafür entschieden, mehrheitlich den momentan am meisten Zustimmung findenden Begriff »Menschen mit Behinderung« zu verwenden. Die so vermiedene »Kontamination« (Kobi 2000, S. 74) des MenschSeins erscheint meines Erachtens in den meisten Fällen für das dahinter stehende Bild von Behinderung in Abgrenzung zur ebenfalls stets zu apostrophierenden ›Normalität‹ am geeignetsten zu sein, zumal diese Arbeit nicht den Menschen an sich, sondern seine visuellen (Re-)Präsentationen untersuchen wird. Dies ist auch insofern zu erwähnen, da es hier nicht um Unterscheidungen zwischen ›richtigen‹ und ›falschen‹ Bildern geht, sondern eben um eine Ergänzung des sozialen bzw. kulturellen Modells von Behinderung, das die ›Gemachtheit‹ dieser Bilder und der damit verbundenen Zuschreibungen an Menschen im Allgemeinen herausarbeitet. An manchen Stellen verwende ich Apostrophierungen, um eben jene Konstruktionsverhältnisse im Schriftbild anzuzeigen und für die Argumentation hervorzuheben. Zur Repräsentation von geistiger Behinderung vgl. Dederich, Markus: Zwischen alten Bildern und neuen Perspektiven. Geistige Behinderung als Herausforderung für die Ethik. In: Ochsner, Beate/Grebe, Anna (Hrsg.): Andere Bilder. Zur Produktion von Behinderung in der visuellen Kultur. Bielefeld: transcript 2013, S. 13-29. 2

Vgl. die Broschüre der Aktion Mensch »Ein großer Schritt nach vorn. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung«, online verfügbar unter https://www.aktion-mensch.de/themen-informieren-und-disku tieren/was-ist-inklusion/un-konvention (letzter Zugriff am 14.04.2016).

3

Vgl. http://anderstark.de/ (Initiatorin: Anastasia Umrik), http://www.sichtlichmensch. de/ (Andreas Reiner), http://www.rogerballen.com/series/ (Roger Ballen); vgl. auch http://www.keinwiderspruch.de/ (Johannes Meirhofer) und andiweiland.de/portfolio/ inklusion/ (Andi Weiland) u.v.m. (letzter Zugriff (alle) am 14.04.2016).

E INLEITUNG

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Abbildung 1: Aufnahmen aus dem Projekt »SichtlichMensch«

Quelle: Andreas Reiner, 2012 (sichtlichmensch.de)

Der französische Fotograf Deniz Darzacq, welcher im Anschluss an sein vielbeachtetes Fotoprojekt »Hyper« (2007-2010) 4 in der Ausstellung »Act« (20082011) 5 Jugendliche mit Behinderung in außergewöhnlichen Posen, Räumen und Umgebungen zeigt (Abb. 3), begründet sein Interesse an ihrer fotografischen Insbildsetzung mit einer bisherigen medialen Unsichtbarkeit: »Some people have said to me: ›How dare you photograph disabled people.‹ And I said: ›How dare you not photograph them‹.« 6 In diesem Ausspruch Darzacq’s wird bereits deutlich: Wenngleich es sein und das Ansinnen vieler Fotograf_innen ist, ihre Modelle so ›normal‹ und/oder so authentisch und ausdrucksstark wie möglich zu zeigen, so erzeugen diese Bilder Irritationen und Unbehagen, da sie auf Bildstra-

4

Vgl. http://www.denis-darzacq.com/hyper.htm (letzter Zugriff am 14.04.2016).

5

Auf seiner Homepage lässt Darzacq sein Projekt folgendermaßen beschreiben: »Act is the result of Denis Darzacq’s long work amongst people with learning disabilities. Even though some of the subjects are also actors, athletes and dancers, each of them found in the acting and in the ownership of the public space a means to express the complexity of their individuality beyond the assigned label of ›handicapped person‹«. Vgl. http://www.denis-darzacq.com/act.htm (letzter Zugriff am 14.04.2016).

6

http://lejournaldelaphotographie.com/entries/6389/new-york-denis-darzacq-act (letzter Zugriff am 20.08.2013).

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tegien zurückgreifen, welche den »fragmented body« 7 einerseits in fotografische Konventionen und normalisierende Dispositive der bürgerlichen Porträt- oder Atelierfotografie 8, der Kunst- oder auch der Arbeiterfotografie 9 einbetten, ihn aber andererseits in Diskurse der Monster- und Freakfotografie des 19. Jahrhunderts 10 und der medizinisch-psychiatrischen Patientenfotografie11 einschreiben, 7

Davis, Lennard J.: Enforcing Normalcy. Disability, Deafness, and the Body. London/New York: Verso 1995, S. 138ff.

8

Vgl. Sagne, Jean: Porträts aller Art. Die Entwicklung des Fotoateliers. In: Frizot, Michel (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln: Könemann 1998, S. 102-122; Gernsheim, Helmut: Geschichte der Photographie. Die ersten 100 Jahre. Frankfurt a.M.: Propyläen-Verlag 1983; Honnef, Klaus: Das Porträt im Zeitalter der Umbrüche. Anmerkungen zur Bildnisfotografie im 20. Jahrhundert. In: Ders./Thorn-Prikker, Jan (Hrsg.): Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotografie. Köln: Rheinland-Verlag 1982, S. 568-595; Hoerner, Ludwig: Das photographische Gewerbe in Deutschland 18391914. Düsseldorf: GFW-Verlag 1989 u.v.m.

9

Vgl. Hiepe, Richard (Hrsg.): Riese Proletariat und große Maschinerie. Zur Darstellung der Arbeiterklasse in der Fotografie von den Anfängen bis zur Gegenwart. Städtische Galerie Erlangen und Kunstverein Ingolstadt: Erlangen 1983; Stumberger, Rudolf: Klassen-Bilder. Sozialdokumentarische Fotografie. Konstanz: UVK-Verlagsgesellschaft 2007; Kaufhold, Enno: Arbeitsbilder deutscher Kunstfotografen (1890-1914). In: Fotogeschichte 2 (5), 1982, S. 39-50 u.v.m.

10 Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie (Hrsg.): Freakery. Cultural spectacles of the extraordinary body. New York: New York University Press 1996; Hevey, David: The enfreakment of photography. In: Davis, Lennard J. (Hrsg.): The Disability Studies Reader. New York: Routledge 2010, S. 507-521; Ochsner, Beate: DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film. Heidelberg: Synchron 2007; Schmidt, Gunnar: Anamorphotische Körper. Medizinische Bilder vom Menschen im 19. Jahrhundert. Köln: Böhlau 2001; Hevey, David: The creatures time forgot: photography and disability imagery. London/New York: Routledge 1992; Oldenburg, Volker: Der Mensch und das Monströse: Zu Vorstellungsbildern in Anthropologie und Medizin in Darwins Umfeld. Essen: Verlag Die Blaue Eule 1996 u.v.m. 11 Vgl. Regener, Susanne: Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts. Bielefeld: transcript 2006; Brinkschulte, Eva/Lemke Muriz de Faria, Yara: Patienten im Atelier. Die fotografische Sammlung des Arztes Heimann Wolff Berend 1858-1865. In: Fotogeschichte 21 (80) 2001, S. 16-26; Steinlechner, Gisela: Leibesvisitationen. Patienten-Fotografien aus den frühen 20er Jahren. In: Fotogeschichte 21 (80) 2001, S. 59-68; Gilman, Sander L.: Seeing the Insane. Lincoln: University of Nebraska Press 1996 u.v.m.

E INLEITUNG

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welche maßgeblichen Anteil am Sehen von Behinderung seit der ›Entdeckung‹ der Fotografie und damit wiederum für das gesellschaftliche Bild von Andersartigkeit haben und am daraus folgenden Umgang mit dieser Andersartigkeit beteiligt sind. Diese ernstzunehmende kulturelle Bedingtheit der fotografischen Inszenierung in Verbindung mit dem, was hier als ›kulturelles Sehen‹ 12 bezeichnet werden kann, eröffnet so den interdisziplinären Disability Studies verknüpft mit den unter dem Containerbegriff der Visual Studies versammelten Disziplinen einen neuen Forschungshorizont. Dieser rückt die Untersuchung der soziohistorischen Repräsentationsmodi von Behinderung in künstlerischen und medialen Artefakten in den Fokus und verbindet sie mit der Frage nach den kulturellen Programmen und (Vor-)Bildern, die den behinderten Körper entwerfen. 13 Anstatt eine normative ›Behindertenästhetik‹ zu entwickeln und damit von einer zu kurz greifenden und vielfach hinterfragten bzw. widerlegten reinen Abbildfunktion von Fotografie 14 auszugehen, ist das Ziel dieser Untersuchung, die Produktionsbedingungen von Behinderung im und als Bild zu analysieren und dabei die mediale Arretierung von Behinderung im fotografischen Dispositiv und im fotografischen Archiv offenzulegen. Mit ›im Bild‹ meine ich hier zum Beispiel die Fokussierung auf die kompositorische Anordnung, die Lichtsetzung, die Markierung einer Pose etc., ›als Bild‹ bedeutet die in einem Wechselverhältnis dazu stehende Produktion von »pictures« und »images«, wobei Ersteres nach W.J.T. Mitchell als tatsächliche materielle Entität zu verstehen ist und Letzteres als Gedankenbild, Metapher oder letztendlich als Erkenntnis und Wissen. 15 Inwiefern diese Mechanismen in Verbindung mit der Produktion und der Rezeption von visuellen Artefakten sich gegenseitig hervorbringen, stützen und so neues Wissen erzeugen oder wie sie sich auch gegenseitig unterlaufen und dekonstruieren kön12 Vgl. Rimmele, Marius/Stiegler, Bernd: Visuelle Kulturen/Visual Culture zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2012, S. 10. 13 Vgl. Dannenbeck, Clemens: Paradigmenwechsel Disability Studies? Für eine kulturwissenschaftliche Wende im Blick auf die Soziale Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen. In: Waldschmidt, Anne/Schneider, Werner (Hrsg.): Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Bielefeld: transcript 2007, S. 103-127, hier S. 107. 14 Zum Beispiel Krauss, Rosalind: Notes on the Index. Seventies Art in America. In: October (3) 1977, S. 68-81; Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 (Erstausgabe 1980); Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam: Verlag der Kunst 1998 u.v.m. 15 Vgl. Mitchell, W.J.T.: Bildtheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 10ff.; Oldenburg 1996, S. 7ff.

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nen, ist in den Visual Studies unter dem Begriff der ›Visualisierung‹ diskutiert worden: »›Visualisierung‹ zielt auf Techniken individueller und apparativer Verarbeitung von Informationen, also auf Erkenntnis- und Rezeptionsvorgänge, die entweder mental oder technisch visuell strukturiert werden.« 16 In dieser Studie sollen jene Auffassungen von Bildlichkeit und Visualisierung der Theoriebildung der Disability Studies begegnen: Die sich seit den 1980er Jahren aus der politischen Behindertenbewegung herausgebildeten sozial- und kulturwissenschaftlich fundierten Disability Studies benennen als ihren Dreh- und Angelpunkt das »soziale Modell« von Behinderung. Anhand dessen möchten ihre Vertreter_innen sich vom sogenannten »medizinischen Modell« von Behinderung absetzen, 17 welches auf der Basis des von Michel Foucault beschriebenen »klinischen Blicks« 18 das Ziel verfolgt, »die Abweichung festzustellen und dann in geeigneter Form zu behandeln« 19, und den behinderten Menschen damit auf diese Devianz reduziert. Folglich verstehen Forscher_innen dieser in den »Studien zu oder über Behinderung« 20 vereinten Disziplinen in Abgrenzung zu den biologistisch orientierten Gesundheits- und Rehabilitationswissenschaften Behinderung nicht als individuelles Merkmal oder Problem, welches Heilung oder Linderung bedarf, sondern als soziales Phänomen oder Kategorie, welche es als »komplexes Zusammenspiel politischer, ökonomischer Kräfte und kultureller Werte« 21 zu analysieren gilt.

16 Brosch, Renate: Bilderflut und Bildverstehen. Neue Wege der Kulturwissenschaft. Themenheft Forschung: Kultur und Technik (4) 2008, S. 70-78, hier S. 71. 17 Vgl. Waldschmidt, Anne: Disability Studies: individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? In: Psychologie und Gesellschaftskritik 29 (1) 2005, S. 9-31, hier S. 15. 18 Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Frankfurt a.M.: fischer 1993 (Erstausgabe 1963). Vgl. dazu auch Tremain, Shelley (Hrsg.): Foucault and the Government of Disability. Ann Arbor: University of Michigan Press 2005. 19 Hirschberg, Marianne: Behinderung im internationalen Diskurs. Die flexible Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2009, S. 112. 20 Waldschmidt 2005b, S. 10. 21 Hermes, Gisela: Der Wissenschaftsansatz Disability Studies – neue Erkenntnisse über Behinderung? In: Dies.: »Nichts über uns ohne uns!« Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung. Neu-Ulm: AG SPAK 2006, S. 15-33, hier S. 22.

E INLEITUNG

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Abbildung 2: »Dresie and Casie«, Aufnahme aus der Serie »Platteland«

Quelle: Roger Ballen, Roger: Platteland: Images from Rural South Africa. New York: St. Martin’s Press 1996

Dieser Auffassung folgend lautet meine Leitthese zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung, dass jene nicht angeboren, sondern als Sinneffekt eines medialen und diskursiven Konstitutionsprozesses zu begreifen ist. Das bedeutet, dass Bilder von Behinderung gleichsam als Akteure im Diskurs um die Praktiken sozialer Herstellung von Behinderung als auch von Normalität untersucht werden müssen, ohne die Bilder selbst als Ontologien aufzufassen und ihnen damit lediglich den Status einer (historischen) Quelle zuzuweisen. 22 Die These orientiert sich deshalb einerseits an dem in den Disability Studies diskutierten Behinderungsbegriff und den daraus abgeleiteten Modellen von Behinderung und andererseits am (Bild-)Begriff der Visualisierung, den Vertreter_innen der Visual Studies seit dem von W.J.T. Mitchell proklamierten pictorial turn weiterentwi-

22 Die von Ian Hacking als »Mode«, als »liberating idea« bezeichnete Denkweise über die Welt als »soziale Konstruktion« bedeutet somit keinesfalls, dass ›Behinderung‹ im Sinne einer körperlichen Beeinträchtigung, die das Individuum bedrängt, schmerzt oder beeinträchtigt, ignoriert oder geleugnet werden sollte. Vielmehr muss, wie das kulturelle Modell von Behinderung sich vorgenommen hat, die körperliche Dimension von Behinderung ihren Platz im Dispositiv von Behinderung erhalten. Vgl. Hacking, Ian: The social construction of what? Cambridge: Harvard University Press 1999, S. 2.

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ckeln. Diese medien- respektive bildwissenschaftliche Komponente erweitert die große Anzahl neuerer kulturwissenschaftlich geprägter Untersuchungen aus der Disability-Forschung, die mittlerweile mehrheitlich davon ausgehen, dass Behinderung keine essentialistische oder ontologisch-naturgegebene Eigenschaft darstellt, sich dabei aber primär auf die sozio-diskursive Konstruktion konzentrieren. 23 So konstatiert die Disability-Wissenschaftlerin Anne Waldschmidt zwar, dass man immer häufiger auf Reflexionen treffe, die »die Bedeutung des Sehens für die Konstruktion von ›Behinderung‹, über den Stellenwert von Visibilität und Wahrnehmbarkeit von Merkmalen [verhandeln], die zumeist erst dann, wenn sie dem Auge des Betrachters zugänglich gemacht werden, als typische und typisierende Zeichen von Behinderung gedeutet werden können.« 24 Jedoch haben diese Ansätze bisher vernachlässigt, dass die hier bereits angedeutete Wechselwirkung von Blick und Sehen, verknüpft mit erlernten und tradierten Bildstrategien, im Sinne einer kritischen Bildwissenschaft notwendigerweise durch die Berücksichtigung der medialen Eigenlogik der Fotografie ergänzt werden muss, die sich ihrerseits wiederum zwischen technischer Entwicklung und sozialen Praktiken konstituiert denken lässt. Behinderung wird hier folglich auch als wirkmächtige Kategorie verstanden, an deren sozialer wie auch technischer Verfassung einerseits die Gesamtheit aller Aussagen bzw. der Diskurse zum Thema Behinderung, andererseits aber auch die Institutionen und Orte sowie die Techniken der Sichtbar- und Unsichtbarmachung im fotografischen Medium beteiligt sind. 25 Dabei gilt es, insbesondere jene Bilder von Behinderung zwischen dem Anspruch auf wissenschaftlich-objektive bzw. soziale Wahrheit von Behinderung auf der einen Seite und der häufig propagierten indexikalischen Wahrheit des fotografischen Mediums auf der anderen Seite zu beleuchten und damit die Blickregimes offenzulegen, welche das Sehen einer Abweichung von einer sozio-historisch stabilisierten Normalität konfigurieren und diese im fotografischen Moment arretieren. 26 23 Im deutschsprachigen Raum zeigt sich insbesondere mit der Reihe »Disability Studies« im transcript-Verlag ein kulturwissenschaftlich orientiertes Verständnis von Behinderung, welches in den Einzelstudien und Anthologien der Reihe von unterschiedlichen Standpunkten innerhalb der mit den Disability Studies verbundenen Disziplinen neue Sichtweisen auf Behinderung zu diskutieren und zu etablieren versucht. 24 Waldschmidt, Anne: Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies. In: Dies./Schneider 2007, S. 55-77, hier S. 64. 25 Vgl. Peters, Kathrin: Rätselbilder des Geschlechts. Körperwissen und Medialität um 1900. Zürich: Diaphanes 2010, S. 16. 26 Der Begriff des »scopic regime« geht zurück auf Martin Jay, der sich wiederum auf Christian Metz bezieht: vgl. Jay, Martin: Scopic regimes of Modernity. In: Foster, Hal

E INLEITUNG

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Abbildung 3: »Act Nr. 38: Lila Derridj«

Quelle: Aufnahme aus der Serie »Act«, Deniz Darzacq, 2008-2011 (http://www.denis-darzacq.com/act24.htm)

1.2 E IN ANDERES ARCHIV : D AS F OTOARCHIV DER S TIFTUNG L IEBENAU Das Bildmaterial, anhand dessen ich meine These zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung in der Fotografie entwickelt habe, stammt aus dem Fotoarchiv der Stiftung Liebenau, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung in Süddeutschland, deren Gründung im Jahre 1870 in eine Zeit fällt, in der im deutschsprachigen Raum überdurchschnittlich viele sozial-karitative Einrichtungen für Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen ins Leben gerufen wurden. 27 Waren zum Ende des 18. Jahrhunderts die ersten Versuche un-

(Hrsg.): Vision and Visuality. Seattle: Bay Press 1988, S. 3-23. Im deutschsprachigen Raum haben die Studien von Tom Holert diese Konzeption aufgegriffen und für zeitgenössische Bildphänomene weiterentwickelt. Vgl. Holert, Tom: Regieren im Bildraum. Berlin: b_books 2008. 27 Vgl. Kaspar, Franz: Ein Jahrhundert der Sorge um geistig behinderte Menschen. Band 1: Die Zeit der Gründungen. Das 19. Jahrhundert. Katholische Initiativen zur Behindertenhilfe. Bemühungen um Geistesschwache in Deutschland von 1847 bis 1910.

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ternommen worden, Menschen mit Sinnesbehinderungen anhand von ehrgeizigen pädagogischen Lehrkonzepten in Privatinitiativen zu beschulen, so entstanden die ersten konfessionellen Einrichtungen für Behinderte und chronisch Kranke ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und richteten sich zunächst nicht an eine bestimmte ›Gruppe‹ von Behinderten wie es beispielsweise die sogenannten ›Taubstummeninstitute‹ oder ›Blindenfürsorgeanstalten‹ getan hatten. 28 Stattdessen nahmen diese neuen Einrichtungen im ländlichen Raum im weitesten Sinne all jene auf, die aufgrund von körperlichen Beschwerden wie ›Verkrüppelungen‹, aber auch von Krebserkrankungen in ihrem Lebensalltag eingeschränkt waren, ebenso wie all jene, die wegen einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung von jeglicher gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen waren. In vielen Fällen ging bei der Gründung von Heil- und Pflegeanstalten die Initiative von Männern der Kirche aus, die durch ihr charismatisches und glaubensfestes Auftreten gegen den Widerstand der Obrigkeit und oftmals auch den Widerstand in ihrer eigenen Kirche und Gemeinde aus Schenkungen, Erbschaften und Spenden ein in manchen ländlichen Gebieten weitreichendes Netz an Fürsorgemöglichkeiten für behinderte Menschen aufbauten, das wie im Falle der Liebenau bis heute auch einen wesentlichen Teil der Infrastruktur im Raum Bodensee-Oberschwaben beeinflusst. 29 Gründer Adolf Aich, Kaplan in Tettnang, verfolgte mit der Schaffung der »Pfleg- und Bewahranstalt Liebenau« das Ziel »[…] nur langwierig Kranken, als: Cretinen, Idioten, Blöd- und Schwachsinnigen, Epileptischen; sodann Krebsleidenden, mit bösartigen Geschwüren, mit schwer heilbaren Hautkrankheiten Behafteten, deren Erscheinen Eckel und Schrecken erregt, die deßwegen auch der Familie oder der Gemeinde zur großen Last sind, eine sichere Zufluchtsstätte zu verschaffen. In dieser Anstalt soll für diese Kranken mit Gottvertrauen durch eine liebevolle, für ihre körperlichen und geistigen Verhältnissen passende Pflege die mögliche Heilung angestrebt werden, das Unmögliche aber nicht versprochen, doch ihrem Elende dann möglichste Linderung verschafft werden.«

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Freiburg i. Br.: Verband katholischer Einrichtungen für Lern- und Geistigbehinderte e.V. 1980, S. 389. 28 Vgl. Haeberlin, Urs: Allgemeine Heilpädagogik. Bern/Stuttgart: Haupt 1992, S. 49. 29 Interessant in diesen Zusammenhang ist die Studie von Franz Kaspar, welcher sechs katholische Einrichtungen für Geistigbehinderte, die in den Jahren 1847 bis 1910 entstanden sind, anhand der Gründungsmotive und der ersten Jahre bis zur Etablierung vergleicht. Ein Kapitel widmet er dabei der Stiftung Liebenau und dem Wirken ihres Gründers Adolf Aich. Vgl. Kaspar 1980. 30 Statuten der Pfleg- und Bewahranstalt für Unheilbare in Liebenau aus dem Jahre 1868, zitiert nach Kaspar 1980, S. 410f.

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Seine Vision scheint sich verwirklicht zu haben, wohnen und arbeiten heute doch mehrere Tausend Menschen mit und ohne Behinderung in Liebenau und Umgebung, deren Leben in Akten, Briefwechseln, aber auch in ca. 70.000 Fotografien im Liebenauer Schlossarchiv dokumentiert worden ist. 31 Dabei handelt es sich weder um ein gezielt angelegtes und nach bestimmten Kategorien geordnetes Fotoarchiv, noch um Patientenfotografien oder Aufnahmen für bzw. aus Krankenakten. Vielmehr setzen sich die Aufnahmen inhaltlich mit der gesamten Bandbreite des Lebens in einer ›Anstalt‹ des 20. Jahrhunderts auseinander: Etwa ein Drittel der Fotografien dokumentiert Baumaßnahmen, ein weiteres Drittel zeigt Veranstaltungen und Besuche von Politiker_innen und Kirchenmännern und das letzte Drittel zeugt vom alltäglichen Leben in der Liebenau. Die vermutlich älteste Aufnahme eines Bewohners der Liebenauer Anstalt stammt aus dem Jahr 1904 und nur noch einige Bettelkarten, Stiche und Radierungen, die das »Schlösschen Liebenau« zeigen, geben bildliche Auskunft von der Zeit vor 1900. Die jüngsten Bilder im Archiv sind von 2004, danach wurden die fotografische Dokumentation und die Verwaltung dieser Bilder der Öffentlichkeitsarbeit zugeteilt, weshalb sie nicht mehr Teil des Archivs im Schloss sind. Inhaltlich erscheint im Zuge dessen nicht nur die genannte Fülle der Sammlung interessant, sondern dass die abgebildeten Menschen in einem Kontext erscheinen, der ›normaler‹ kaum sein könnte – in Arbeits- und Alltagssituationen, sprich: an ihrem Wohnort, in handwerklichen Werkstätten, in der Bäckerei, im Gartenbau, aber auch bei kirchlichen Hochfesten als Messdiener, in Anzug und Krawatte bei der Firmung oder Erstkommunion. 32 31 Für die meisten der ausgewählten Fotografien liegen keine genaueren Angaben zur Aufnahmesituation, zum genauen Aufnahmedatum oder zu den abgebildeten Personen vor. Für mein Forschungsziel erachte ich diese Informationen zwar nicht als irrelevant, jedoch als dem Bildmotiv an sich untergeordnet, da es mir in erster Linie um die genuin fotografisch-visuellen Strategien geht, mit denen Behinderung im und als Bild erkenn- und beschreibbar gemacht werden, statt anhand von Angaben zur Biografie oder zur Persönlichkeit der abgelichteten Personen deren individuelle Geschichte zu rekonstruieren. 32 Dass diese ›Normalität‹ gleichsam ein immer wieder neu auszuhandelndes diskursives Feld bedeutet und jeweils unter Berücksichtigung von historischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten selbst als produziert verstanden werden muss, fließt in die Bildanalysen mit ein, um daran wiederum aufzeigen zu können, wie sich ›Behinderung‹ und ›Normalität‹ als epistemologische Kategorien in gegenseitiger Referenz erst herstellen. Vgl. dazu Waldschmidt, Anne: Flexible Normalisierung oder stabile Ausgrenzung: Veränderungen im Verhältnis Behinderung und Normalität. In: Soziale Probleme 9 (1) 1998, S. 3-35.

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Gerade weil diese Bilder, die Menschen aus Liebenau zeigen, keine ›klassischen‹ Patientenaufnahmen sind, wie sie in Studien zur Psychiatriefotografie 33 analysiert wurden, weil sie sich ebenso wenig einfach dem Diskurs der Freakoder Monsterfotografie 34 zuordnen lassen, sie einen hohen Improvisations- und Schnappschusscharakter aufweisen und zudem genauere Angaben über die Fotograf_innen und den Aufnahmekontext fehlen, erscheint eine eingehende Analyse dieses bisher noch zu großen Teilen unveröffentlichten und unbearbeiteten Materials so spannend als auch herausfordernd. Es handelt sich bei der Liebenauer Sammlung um ein umfangreiches und diverses Archiv des Alltags einer Behinderteneinrichtung, in das die Fotografien über einen nahezu hundertjährigen Zeitraum und auf unterschiedliche Arten und Weisen Eingang gefunden haben, und dessen Zweck zwar zwischen historischer Dokumentation und der Aufbereitung von Marketingmaterialien im Sinne einer frühen Fundraisingstrategie anzusiedeln ist, unbewusst dadurch aber ein fotografisches Archiv des 20. Jahrhunderts entstanden ist, das so gleichsam viele Fragen zur medialen Bedingtheit des Sehens und Wahrnehmens von Behinderung aufwirft. 35 Ein weiterer Aspekt, der für die Bearbeitung eines Fotoarchivs einer Institution wie der Stiftung Liebenau spricht, ist jener der Exemplarität der Institution selbst, da sie, wie oben bereits angesprochen, durch den Zeitpunkt und die Umstände ihrer Gründung durchaus vergleichbar mit vielen weiteren konfessionellen Behinderteneinrichtungen im ländlichen Raum ist und deren Pflege- und Betreuungskonzepte nicht zuletzt eine wesentliche Rolle für die gesellschaftliche und damit auch für die visuelle Repräsentation behinderter Menschen im 20. Jahrhundert gespielt hat, durch die unsere Wahrnehmung von Behinderung und Normalität bis heute geprägt ist. Die hier vorzunehmenden Bildanalysen verstehe ich im Folgenden weniger als strenge Methode zur Überprüfung meiner Leitthese zur sozio-medialen Kon33 Siehe Fußnote 11. 34 Siehe Fußnote 10. 35 Während ein Großteil der Bilder ab dem Ende der 1970er Jahre gezielt von Mitarbeitern der Stiftung aufgenommen wurde und in internen Mitteilungen oder Artikeln zur Liebenau in der Presse auftaucht, finden sich unter den Fotografien auch Auftragsbilder von Fotostudios der Region oder einzelnen Fotografen. Ein weiterer Teil des Bildbestandes, insbesondere Fotografien von Festivitäten wie den jährlichen Sommerfesten, wurde von Angehörigen von Liebenauer Bewohnern an die Liebenau zurückgegeben; diese Bilder weisen einen hohen Schnappschusscharakter auf und sind eher mit dem Ziel der privaten Dokumentation zur Erinnerung entstanden als mit dem Gestus der Fotografien von Liebenauer Mitarbeitern, die zielgerichteter Aufnahmen von Ereignissen und Personen gemacht haben.

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struktion oder als ›Illustrationen‹ eines zu verteidigenden theoretischen Standpunktes. 36 Stattdessen habe ich mich zunächst vom größtenteils unsortierten und in Kartons und Mappen gesammelten Material selbst leiten lassen und im Zuge dessen Einzelbilder und Serien aus dem nunmehr digital vorliegenden Archiv ausgewählt, welche daraus für mich aufgrund ihres Motivs, ihres Entstehungsdatums oder ihres Einschreibens in bestimmte fotografische Genre bei der Sichtung und im Kontext des gesamten Fotoarchivs in den Vordergrund getreten sind. So soll sich in der hier angewandten Argumentationsform die Annahme einer wechselseitigen Verfasstheit von Bild und Archiv dahingehend niederschlagen, dass ich die Fragen, die die im Archiv als topologischem Ort gefundenen Bilder aufwerfen, einerseits mit dem Archiv und seinen diskursiven Strukturen selbst zu beantworten versuche und andererseits die Bilder innerhalb als auch außerhalb des Archivs als Ort zu denkenden kulturellen Bilderrepertoire situiere. So sieht sich diese Studie auch als ein persönlicher Zugang zum Archiv und zu den Bildern, der in den von Texten und Methoden der Visual Studies als auch der Disability Studies geleiteten Analysen »entlarvt«, wie sehr unsere Wahrnehmung – und damit auch meine eigene – konditioniert und dadurch gleichsam eingeschränkt ist und das, was als ›behindert‹ gilt, dadurch erst hervorbringt. 37 Insofern ist jenes ›Geleitetwerden‹ immer wieder auf seine Bedingungen, seine eigene Produziertheit und auf jene ›Vor-Bilder‹ zu hinterfragen, die das Heraustreten der Bilder aus dem Archiv und ihre Rückbindung an andere Bilder im und außerhalb des Archives beeinflussen.

1.3 F RAGESTELLUNG UND AUFBAU

DER

S TUDIE

Die Verknüpfung von Praktiken des Sehens und des Bildes mit dem bislang häufig sozialwissenschaftlich inspirierten Forschungsfeld der Disability Studies als Form der Aufarbeitung des Verhältnisses von ›Behinderung‹ und visueller Kultur ist seit der Jahrtausendwende von englisch- als auch deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen forciert worden. Die von der DisabilityForscherin Rosemarie Garland-Thomson eingeführten (und im Laufe dieser Stu-

36 Dennoch beschränke ich mich nur auf jene Aufnahmen, welche Menschen zeigen und lasse die große Anzahl an Architekturaufnahmen unbearbeitet, wenngleich diese für eine historische Betrachtung und Analyse des Liebenauer Fotoarchivs unabdingbar wären und innerhalb der Stiftungsgeschichte von großem Wert sind. 37 Vgl. Ziemer, Gesa: Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ästhetik. Zürich/ Berlin: Diaphanes 2008, S. 119.

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die immer wieder auf- als auch anzugreifenden) rhetorischen Modi der Insbildsetzung von Behinderung sind dabei in der Literatur zur Verknüpfung von Visual Studies und Disability Studies von verschiedenen Disability-Forscher_innen übernommen und teilweise kritisch hinterfragt worden. Garlands kategoriale Einteilung in »wundersame«, »sentimentale«, »exotische« und »realistische« Blickkonstruktionen auf den behinderten Körper 38 wurden beispielsweise von Gesa Ziemer 39 und Ulrike Bergermann 40 einer kritischen Erweiterung bzw. Diskussion unterzogen, da die Konzeption der Bildrhetoriken und insbesondere jene des »realistischen Blicks« Schwierigkeiten aufwerfe, die zum einen auf der Medialität des (Bilder-)Sehens und zum anderen auf dem asymmetrischen Verhältnis zwischen dem Körper des Betrachters und dem Körper desjenigen, der betrachtet wird, beruhen. So betont die Philosophin Ziemer in ihrer Studie »Verletzbare Orte. Entwurf einer praktischen Ästhetik« die Relevanz einer Arbeit an der Schnittstelle von Disability Studies und Visual Studies, »weil sie zeigt, wie Körper durch Blicke kategorisiert werden und wie diese wiederum unsere weitgehend negativ konnotierten Sprachgewohnheiten […] beeinflussen.« 41 Insofern seien Fragen danach, » [w]elche Bilder menschlicher Körper im Bildrepertoire der Kultur aktuell bereitstehen, welche prominent sind und daher unhinterfragt getriggert und anschlussfähig kommuniziert werden und welche abseitig sind und daher nur zögerlich aktiviert und angesprochen werden können« 42 von besonderer Bedeutung für die Loslösung von einer eigenständigen »Ästhetik der Behinderung« 43, wie sie neben Garland-Thomson auch der Kunsttheoretiker Tobin Siebers vorschlägt. Im Anschluss an Ziemer werde ich mich deshalb mit eben jenen Bildern beschäftigen, die das »kulturelle Bilderrepertoire« 44, wie auch die Filmtheoretikerin Kaja Silverman es benennt, bilden, aus denen sich 38 Vgl. Garland-Thomson, Rosemarie: Seeing the Disabled. Visual Rhetorics of Disability in Popular Photography. In: Longmore, Paul K./Umansky, Lauri (Hrsg.): The new disability history. American perspectives. New York: New York University Press 2001, S. 335-374, hier S. 338ff. 39 Vgl. Ziemer 2008. 40 Vgl. Bergermann, Ulrike: Verletzbare Augenhöhe. Disability, Bilder und Anerkennbarkeit. In: Ochsner/Grebe 2013, S. 281-305. 41 Ziemer 2008, S. 115. 42 Ebd., S. 118. 43 Siebers, Tobin: Zerbrochene Schönheit. Essays über Kunst, Ästhetik und Behinderung. Bielefeld: transcript 2009, S. 8. 44 Silverman, Kaja: Dem Blickregime begegnen. In: Kravagna, Christian (Hrsg.): Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin: Edition ID-Archiv 1997, S. 41-64, hier S. 42.

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unser Blick, unsere mediatisierte Wahrnehmung des Anderen und des anderen Körpers und damit gleichsam unseres eigenen Körpers konstituiert. 45 Dabei wird es nicht das Ziel sein, zwischen besonders ›gelungenen‹ Versuchen, die sich in bestimmte normalisierende Dispositive einschreiben, und jenen zu unterscheiden, die Widerstand dagegen zu leisten und den Körper dem Blick in seiner »absoluten Andersartigkeit« 46 hinzugeben scheinen. Dieses Vorgehen würde voraussetzen, dass ›Behinderung‹ den Gegenpol zu ›Normalität‹ darstelle und beide als stabile und unveränderliche Kategorien oder sich voneinander klar abgrenzende Felder begriffen werden müssten, ferner dass ›Behinderung‹ als unabänderliche (körperliche) Eigenschaft existiere und nicht erst sozio-kulturell und dadurch letztlich auch durch Bilder diese Dichotomie erzeugt werde. So befürwortet Tobin Siebers zwar in seiner Essay-Sammlung »Zerbrochene Schönheit«, durch einen »Einschluss von Behinderung die Definition des politischen Unbewussten auf überraschende Weise verändern« zu können, um so im Bilderrepertoire existierende Bilder von Behinderung zu perpetuieren.47 Im Gegensatz zu Ziemer geht er dabei allerdings davon aus, dass es sich bei einer mit ›Behinderung‹ markierten Gruppe von Menschen um eine sozial erzeugte Minorität handle, und festigt so die Annahme einer Polarität von ›Behinderung‹ und ›NichtBehinderung‹ bzw. die partizipationseuphorische Annahme, dass durch Inklusion allein sich Differenzen auflösen könnten und eine allumfassende Normalität hergestellt werde. Gerade dies verkennt jedoch die Zugehörigkeit beider Begriffe zu ein und demselben Bezugssystem und mithin ihre gegenseitige Bedingtheit, wie aufzuzeigen sein wird. Aufgrund dessen plädiert Ziemer wiederum für eine Weiterentwicklung der von Garland-Thomson eingeführten Rhetorik des »realistischen Blicks« 48 zu einem »verletzbaren Blick«, der »die Anerkennung des Anderen unter Beibehaltung von Differenz – im Wissen darum, dass beide, Ähnlichkeit und Differenz, Bestandteile des selben Diskurses sind« 49 impliziert und so den Blick an die eigene Körperlichkeit zurückbindet. Dadurch wird zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Sehens eine Gleichberechtigung in Form einer 45 Vgl. Bublitz, Hannelore: Sehen und Gesehen-Werden – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozial- und Selbsttechnologien des Körpers. In: Gugutzer, Robert (Hrsg.): Body Turn. Perspektiven des Körpers und des Sports. Bielefeld: transcript 2006, S. 341361, hier S. 350. 46 Fanon, Frantz/Farr, Ragnar/Mercer, Kobena (Hrsg.): Mirages. Enigmas of Race, Difference, and Desire. Ausstellungskatalog. London: Institute of Contemporary Arts 1995, S. 25f. 47 Siebers 2009, S. 18. 48 Garland-Thomson 2001, S. 344. 49 Ziemer 2008, S. 116.

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wechselseitigen Bewusstwerdung der eigenen Verletzbarkeit durch den Blick etabliert, »der einem ethischen Appell, der auf der Anerkennung der Gefährdetheit eines jeden Lebens beruht, gerecht wird.« 50 Dies erscheint für die theoretische Fundierung der These zur sozio-medialen Konstruktion von Behinderung auch dahingehend relevant, als mit den Bild- und Blickanalysen deutlich werden soll, dass ich selbst als Betrachterin mit meinem Körper durch meinen »nach innen gewendeten Blick« 51 in ein Verhältnis zu den Körpern trete, die in den Fotografien (re-)präsentiert werden. Eben jener durch das Fotografische und dessen Eigenlogik begründeten Vermitteltheit oder Medialität dieser Blickverhältnisse nimmt sich diese Analyse an und versucht dabei in vier Schritten diese bisherige Forschungslücke zu schließen: Der erste Zugang zum Verhältnis von Sehen, Bild und Behinderung erfolgt im Anschluss an die von Ziemer aufgezeigte Schnittstelle von Visual Studies und Disability Studies als auch an die Beobachtung von Marquard Smith und Lennard J. Davis im Editorial einer Sonderausgabe zum Thema »Disability-Visibility«, in welchem sie die wechselseitige Bedingtheit dieser beiden Topoi betonen: »[…] visuality is both determined by and determining our understanding of disability.« 52 Um diese Wechselbeziehung von Bild und Behinderung bzw. Behinderung und Normalität für eine Theorie der soziomedialen Konstruktion von Behinderung fruchtbar zu machen, beziehe ich mich auf die Erkenntnisse der bild- und insbesondere der fotografietheoretischen Forschung sowie auf die Entwicklungsgeschichte der Modelle von Behinderung im Sinne des Disability Studies, ihre Kritik und insbesondere die Bemühungen, das soziale Modell in ein kulturelles Modell zu überführen. 53 Dieses erste Theoriekapitel erfährt deshalb eine erhöhte Aufmerksamkeit und somit auch eine gewisse Ausführlichkeit und Länge, da die wissenschaftliche ›Begegnung‹ von Visual

50 Ebd., S. 122; vgl. auch Bergermann 2013, S. 293. 51 Bublitz 2006, S. 353. 52 Davis, Lennard J./Smith, Marquard: Editorial: Disability-Visibility. In: Journal of Visual Culture 5 (2) 2006, S.131-136, hier S. 132. 53 Vgl. Waldschmidt 2005b; Schillmeier, Michael: Zur Politik des Behindert-Werdens. Behinderung als Erfahrung und Ereignis. In: Waldschmidt/Schneider 2007b, S. 79-99; Shakespeare, Tom: The Social Model of Disability. In: Davis, Lennard J. (Hrsg.): The Disability Studies Reader. New York: Routledge 2010, S. 266-273; Felder, Franziska: Inklusion und Gerechtigkeit. Das Recht behinderter Menschen auf Teilhabe. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2012 u.v.m. Für Herbst 2016 ist im transcript-Verlag das Erscheinen von »Culture – Theory – Disability: Encounters between Disability Studies and Cultural Studies« von Anne Waldschmidt angekündigt, in welchem sie die Öffnung der Cultural Studies für die Disability Studies und vice versa diskutieren wird.

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Studies und Disability Studies im Zeichen der Fototheorie bis dato als grundlegende Betrachtung noch nicht erfolgt ist. Im zweiten Teil verknüpfe ich die aus dem ersten Schritt gewonnenen Erkenntnisse mit der Frage nach der Rolle des Blicks für die Konstitution und Produktion des normalen/nicht-normalen Körpers und diskutiere diese unter dem Fokus der in den Disability Studies gebildeten Opposition gegen den »klinischen Blick«. 54 Ferner gilt es danach zu fragen, auf welche Art und Weise sich das medizinische und das soziale Modell von Behinderung, wie es die DisabilityForschung vorschlägt, in visuelle Regimes übersetzen lassen. Diese wiederum sind als diskursive Systeme zu verstehen, die unser Sehen kulturell als auch technisch organisieren und konfigurieren. Dafür konstitutiv sind einerseits das durch die von den Disability Studies vorgeschlagenen Behinderungsmodelle produzierte soziale Wissen über Behinderung und andererseits die Spezifik der Fotografie als indexikalisch-ikonisches Bildmedium, wie es Fotografietheoretiker_innen der Moderne vorschlagen. 55 Im Zuge dessen ist die Insbildsetzung von geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung von besonderem Interesse, da diese sich selten auf der Oberfläche des fotografierten Körpers manifestiert und dem Betrachter eher selten verkörperten Zeichen anbietet, die auf eine geistige Devianz schließen lassen. Daher verlangen sie nach einer anderen Form der Sichtbarmachung, die sich Strategien bedient, die auch außerhalb des abgebildeten Körpers, aber im Bild und in dessen Wechselwirkung mit unserem Sehen selbst zu finden sind. Fotografische Repräsentationen von Menschen mit Behinderung wirken, so die These, dabei in gleichem Maße auf den Charakter dessen ein, was es zu erkennen gibt, wie das Gesehene wiederum auf die Bildproduktion zurückwirkt: Ikonographisches wie auch soziales Wissen produziert Bilder von (Menschen mit) Behinderung, die wiederum Vorstellungen von (Menschen mit) Behinderung und ebenso Vorstellungen von Normalität bilden. Deshalb muss um Behinderung als solche im Bild erkennbar zu machen, diese (intellektuell) einer ›Normalität‹ gegenübergestellt werden, die wiederum als Gegensatz zu der auf diese Weise markierten ›Nicht-Normalität‹ oder Behinderung begriffen wird und die es kritisch zu diskutieren bzw. zu dekonstruieren gilt. 56 Über54 Inwiefern dieser Begriff tatsächlich mit dem von Michel Foucault angeführten epistemologischen Instrument übereinstimmt, wird im Zuge dessen zu klären sein. 55 Vgl. u.a. Dubois 1998 u.v.m. 56 Während als Gegenpol zu ›Normalität‹ oftmals ›Anomalie‹ im medizinischen Jargon verwendet wird und für ›Unregelmäßigkeit‹ steht, ›anormal‹ im Zusammenhang mit der Zuweisung eines krankhaften Status und ›abnormal‹ diese negative Wertung noch zu steigen scheint, werde ich in dieser Studie in erster Linie mit den durchaus gleichsam dichotomisierenden Kategorien von Behinderung/Nicht-Behinderung und Nor-

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dies soll im Rahmen dieses Ansatzes u.a. die bisweilen in der Forschungsliteratur angenommene und so auch reproduzierte Anordnung der Modelle von Behinderung hinterfragt werden, welche sich aus politischer Sicht der Behindertenbewegung zwar als nützlich erwiesen hat, um auf soziale Missstände aufmerksam zu machen, jedoch eine Fortschrittslogik impliziert, die für das Sehen von Bildern und der Frage nach etwaigen Vorbildern wenig fruchtbar zu sein scheint. 57 Aus der großen Anzahl an Bildern, die das fotografische Archiv der Stiftung Liebenau umfasst, kann nur ein kleiner Teil in die konkrete Bildanalyse im dritten Schritt meines Vorgehens einfließen. Im Wissen, dass durch die Selektion und die Repräsentation in Form des Wiederaufführens innerhalb dieses Textes dadurch bereits ein besonderes Bild von Behinderung enggeführt und gefestigt wird, sind die Untersuchungen an der konkreten Aufnahme nicht als Verallgemeinerungen oder Verabsolutierungen von Aussagen über (Bilder von) Behinderung zu verstehen. Vielmehr soll hier bereits durch die Anwendung eines dynamischen Archiv- und Bildbegriffes deutlich gemacht werden, dass die ausgewählten Beispiele aus dem riesigen Liebenauer Fotografie-Konvolut zwar durch die von mir getroffene Auswahl isoliert hervorzutreten scheinen, jedoch Teil eines multidiskursiven Netzes von Bildpraktiken und mithin den Praktiken des Sehens sind und so mit allen Bildern im Archiv in Verbindung stehen, aufeinander einwirken und an Kontinuitäten und Diskontinuitäten teilhaben. Um diese Bezugnahmen und wechselseitigen Referenzen deutlich zu machen, führe ich bereits im ersten Kapitel eine Porträtfotografie aus dem Jahre 1904 ein, auf die ich mich dann in den Folgekapiteln immer wieder beziehen werde. Im Rahmen der Bildanalyse werden dann fotografische Aufnahmen aus Liebenau zu vier Zeitpunkten bzw. in vier Zeiträumen im 20. Jahrhundert näher beleuchtet: In den 1920er Jahren ist eine kleine Fotoserie entstanden, die die Liebenauer Eigenbetriebe und die Menschen, die dort arbeiten, zeigt. Diese Bilder bringen trotz oder malität/Nicht-Normalität operieren. Damit erhoffe ich mir, nicht permanent die historisch und sozial stabilisierte rhetorische Gegenüberstellung von ›Behinderung‹ und ›Normalität‹ zu wiederholen, die dem Ansatz der Disability Studies folgend auch für den sprachlichen Ausschluss von Menschen mit Behinderung verantwortlich sind. Durch die gewählten Begriffe sollen so die Zonen zwischen den sich wechselseitig bedingenden Konstruktionen besser aufgezeigt werden können und so die sich immer wieder neu vollziehende Grenze vorübergehend stabilisieren und so beschreibbar werden. 57 Vgl. Renggli, Cornelia: Disability Studies – ein historischer Überblick. In: Dies./ Weisser, Jan (Hrsg.): Disability Studies. Ein Lesebuch. Luzern: Ed. Szh/Csps 2004, S. 15-26, hier S. 16.

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gerade wegen ihrer eigenwilligen Insbildsetzung der Liebenauer Bewohner und der Ordensschwestern visuelle Ein- und Ausschlüsse hervor, die den Versuch der Normalisierung des Anstaltslebens zwischen zwei Weltkriegen systematisch unterlaufen. Ebenso im Bereich des Arbeitsumfeldes sind die Fotografien entstanden, auf die sich der Fokus im Anschluss an die Werkstattaufnahmen richtet. Ein anstaltsinterner Fotograf, der Schweizer Jesuitenpater Johannes Baptista Hubbuch, hat in den 1930er Jahren und in den 1950er Jahren sein fotografisches Hobby mit nach Liebenau gebracht und dort am Vorabend der Euthanasieaktion T4 die Bewohner einzeln porträtiert. 58 Gerade der Versuch einer ästhetischen Einordnung von Hubbuchs Werk im Spannungsfeld zwischen der zu jener Zeit sich immer weiter verbreitenden Amateurfotografie und der professionellen Porträtfotografie, eröffnet gleichsam die Möglichkeit, die Porträts hinsichtlich ihres ›Normalisierungspotenzials‹ zu untersuchen. Dafür ziehe ich zum Vergleich die etwa synchron entstandenen Aufnahmen des Fotografen August Sander hinzu, wenngleich diese im Gegensatz zu den Liebenauer Aufnahmen keine willfährigen Schnappschüsse darstellen, sondern sorgfältig komponiert gewesen zu sein scheinen. Aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges und über zehn Jahre danach sind kaum Fotografien aus Liebenau im Archiv erhalten. Erst mit der Rückkehr Hubbuchs aus dem Exil und dem Hinzukommen eines neuen, namentlich leider nicht bekannten Fotografen, wird die fotografische Praxis wieder aufgenommen und in das Setting der sich selbst rehabilitierenden Behindertenfürsorge eingepasst. Insbesondere eine Porträtserie junger Männer, die etwa zum Ende der 1950er Jahre entstanden ist, ermöglicht es, nicht nur die politischen und sozialen Zäsuren nach dem Dritten Reich daran zu reflektieren, sondern die Bildstrategien der Normalisierung von Behinderung in Form eines subtilen Wechselspiels von Sichtbarmachung und Unsichtbarmachung zu beschreiben. Nach der Analyse dieser drei vermutlich jeweils synchron entstandenen Bilderkonvolute wird im letzten Teil der zeitliche Rahmen erweitert und fotografische Beispiele von etwa 1970 bis 1992 für die Untersuchung der Visualisierung von Behinderung und NichtBehinderung herangezogen. Dies hat den Grund, dass mit einer personellen Veränderung zum Ende der 1960er Jahre in Liebenau die Anstalt auch strukturell umorganisiert wurde und die fotografische Praxis aus dem Feld der privaten Dokumentation heraustrat und verstärkter als zielgerichtetes Instrument einer Öffentlichkeits- und Pressearbeit eingesetzt wurde. Gerade diese Transformationen gilt es im Lichte sozialpolitischer Veränderungen zu untersuchen, um daraus die 58 Die Ereignisse um die sogenannte »Aktion T4« werden im Bildanalysekapitel noch ausführlicher beschrieben; einführend vgl. Klee, Ernst: »Euthanasie« im Dritten Reich. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Frankfurt a.M.: fischer 2010.

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Blickregimes von Behinderung herausarbeiten und in diachroner Rückbindung an die Bildbeispiele aus den 1920ern, 1930ern und 1950ern beschreiben zu können. Im abschließenden Teil der Untersuchung wird der Zusammenhang zwischen den Erkenntnissen der vorangegangenen Kapitel bezüglich der medialen Eigenlogik der Fotografie und den genannten »scopic regimes«, den Ordnungs- und Erscheinungsmodi von Bilderserien und archivalischen Praktiken ergründet werden. Dazu werde ich punktuell den Diskurs um Bilderreservoirs aus erfassungsund erkennungsdienstlichen Kontexten hegemonial organisierter Orte und Institutionen beleuchten, wie sie beispielsweise von Allan Sekula für die ›Verbrecherkartei‹ Bertillons und die Kompositfotografien Daltons analysiert worden sind. 59 Aus dieser kurzen Rekapitulation werden die Strukturen und Funktionsweisen von fotografischer Serialität herausgearbeitet, die den ›Typus‹ von Behinderung und Behinderten mit Hilfe spezifischer Inszenierungsstrategien als Devianz in das fotografische Dispositiv einschreiben und auf diese Weise die abgebildeten Menschen zugunsten einer kon- und uniformen Durchschnittlichkeit de-/individualisieren. 60 Obwohl es sich bei den Liebenauer Bildern wie bereits betont nicht um jene Art von Patientenfotografien handelt, welcher sich im 19. und 20. Jahrhundert Leiter von Kranken- und Irrenanstalten wie auch Kriminalisten bedient haben, um entweder Erkenntnisse oder Diagnosen fotografisch zu arretieren oder um Diagnosen erst nachgängig anzustellen, so liegen beiden Gattungen jedoch dieselben Praktiken zugrunde. Ihnen ist der Akt des Serienbildens oder Serialisierens inhärent, welcher auf der Operation des Ab- und Vergleichens beruht. Diese hat sich nicht erst seit dem Aufkommen der Fotografie als Kulturtechnik etabliert, bot jedoch erst durch die Fotografie und der mit ihr verbundenen schnellen und einfachen Art der Herstellung und Reproduzierbarkeit die Möglichkeit, viele Bilder auf engem Raum zu einem Tableau zusammenzustellen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu untersuchen. Die Fotoserien der Stiftung Liebenau, die hierfür analysiert und verglichen werden, lassen so neue diskursive Strukturen entstehen, welche die Möglichkeitsbedingungen des Sagbaren und des Sichtbaren konstituieren und damit auch die Gren-

59 Vgl. Sekula, Allan: Der Körper und das Archiv. In: Wolf, Herta (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 269-334. 60 Vgl. hierzu Ochsner 2007, bes. Kapitel 2.1: Zur wissenschaftlichen Konstruktion von (A)Normalität.

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zen des Archivs aufzeigen, die sich in der Unterscheidung zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung entfalten. 61

61 Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981 (Erstausgabe 1973).

2. Andere Bilder: Theoretische Grundlagen der sozio-medialen Konstruktion von Behinderung

Bevor sich diese Studie an die Analyse des Liebenauer Fotoarchivs wagen wird, gilt es mehrere, nicht unerhebliche oder gar marginale theoretische Diskurse vorzustellen und miteinander in Verbindung zu bringen: die Visual Studies, die Disability Studies als auch die Fototheorie. Um in diesem und dem darauf folgenden Kapitel dennoch nicht gänzlich auf Beispiele aus dem reichhaltigen Archivschatz der Liebenau zu verzichten, soll eine Fotografie als roter Faden oder als materialorientierte Referenz für die folgenden theoretischen Überlegungen dienen: Auf einem Stuhl vor einer Wand aus Holzbrettern sitzt ein Junge mit kurzgeschorenem Haar (Abb. 4). Es muss sich um ein Setting im Freien handeln, denn der Stuhl steht auf grasbewachsenem Untergrund. Der Junge trägt eine dunkle Hose, eine dunkle Weste und darüber eine Jacke, deren oberster Knopf am Hals geschlossen ist. Seine rechte Hand ruht auf seinem Oberschenkel, seine linke Hand hält er vor seinen Bauch; sein Kopf ist leicht nach rechts gedreht, er schaut nicht in die Kamera. Auf seiner Jacke zeichnen sich im Hals- und Brustbereich helle Flecken ab, die an Speiseresteflecken erinnern. Es ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, die mir in die Hände fiel, als ich Hunderte Fotos lose in einem Karton im Archiv der Stiftung Liebenau fand und zunächst lediglich die dünn mit Bleistift auf der Rückseite der Fotografie aufgetragene Datierung einen ersten Hinweis darauf gab, wann sie entstanden war: 1904. Die Fragen, die sich abseits der Tatsache, dass es sich hier um die älteste in Liebenau aufgefundene Porträtaufnahme eines Bewohners handelt, nun stellen, lassen sich anhand der oben genannten Verbindung von Visual Studies, Disability Studies und Fototheorie beantworten, und erscheinen auf den ersten Blick (sic!) durchaus so verkürzt als auch simpel, entfalten aber gerade im Lichte einer ausführlichen theoretischen Reflexion eine tiefergehende Bedeutungsdimension für das Sehen von

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Abbildung 4: Porträt eines Bewohners

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1904

Behinderung und Nicht-Behinderung: Was sehen wir auf dieser Fotografie? Was sehen wir nicht? Welche Schlüsse ziehen wir aus der Darstellung zur abgebildeten Person und wie grenzen wir uns von ihr ab? Und letztlich: Wie verhält sich die Aufnahme zum Archiv?

2.1 Z WEIMAL S TUDIES : Z UM V ERHÄLTNIS VON V ISUAL S TUDIES UND D ISABILITY S TUDIES 2.1.1 Die Visual Studies als Meta-Disziplin Betrachtet man die Forschungsliteratur seit dem von W.J.T. Mitchell im Jahre 1992 proklamierten Pictorial Turn, so scheinen nicht nur in der oftmals von Ungenauigkeiten behafteten deutschen Übersetzung oder Übertragung der Idee dieser geistesgeschichtlichen Wende die Fragen und Probleme an das Betätigungsfeld dieser ›neuen Disziplin‹ oder ›Meta-Disziplin‹ zu liegen. Stattdessen wurde

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bereits im ursprünglich angloamerikanischen Diskurs die Ausrichtung der so gnannten Visual Studies in der Diskussion ihrer genauen und einheitlichen Bezeichnung verhandelt. Während dort dem Vorschlag Mitchells folgend das Studium der »Visual Culture« unter der Bezeichnung der »Visual (Culture) Studies« zusammengefasst wird 1, wird in deutschsprachigen Anschlussversuchen an diesen Diskurs die von Nicholas Mirzoeff an Michel de Certeau angelehnte als »Taktik« bezeichnete Hinwendung zum Bild 2 zumeist in die Benennung als »Visuelle Kultur« 3 oder als »Studien zur visuellen Kultur« 4 überführt und im Zusammenhang mit der Rolle der deutschsprachigen Kulturwissenschaften bzw. der Pluralisierung des Kulturbegriffs verhandelt, wie beispielsweise von Rimmele/Stiegler in ihrem Einführungsband »Visual Culture/Visuelle Kulturen« vorgenommen. 5 Der Begriff der ›Visual Studies‹ 6 erscheint dabei für das Vorhaben 1

Vgl. Mitchell 2008, S. 314.

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Vgl. Mirzoeff, Nicholas: What is Visual Culture? In: Ders.: An introduction to visual culture. London/New York: Routledge 1999, S.3-13, hier S. 8: »To adapt Michel de Certeau’s phrase, visual culture is thus a tactic, rather than a strategy, for ›the place of the tactics belongs to the other‹ (de Certeau 1984:xix). A tactic is carried out in full view of the enemy, the society of control in which we live (ibid. 37).« Er verweist dabei auf De Certeau, Michel: The Practices of everyday life. Berkeley/Los Angeles: University of California Press 1984.

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Rimmele/Stiegler 2012. Schade, Sigrid/Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2008, S. 9.

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Die Autoren benennen als Forschungsfeld der Visual Culture die Beschäftigung mit den »Kulturen des Auges«; dieser Begriff impliziert die Existenz verschiedener Kulturbegriffe, die oftmals nebeneinander oder in Verbindung miteinander verwendet werden. Vgl. Rimmele/Stiegler 2012, S. 12ff.

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Sobald man versucht, sich einer kohärenten Begriffsklärung der Visual Studies anzunähern, stößt man auf Schwierigkeiten und Missverständnisse, zum Beispiel dass unser Alltag heute mehr vom Sehen (und nicht von Bildern!) geprägt sei als der unserer Vorfahren; der Unterschied zwischen uns und unseren Vorfahren liegt aber Mark Poster folgend lediglich in der gestiegenen Anzahl an optischen Informationsvermittlungsmaschinen (»information machines«). Aufgrund der Wichtigkeit dieser Maschinen oder Medien für das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt sollten deshalb Poster zufolge die Visual Studies als ein Teil der Media Studies oder auch Medienwissenschaften verstanden werden, um bei allen Analysen nicht das Material bzw. den Informationsträger aus dem Blick zu verlieren. Ebenso wäre laut Poster eine Erweiterung oder Umbenennung in »Media Studies« von Vorteil, wenn es um die Beurteilung audiovisueller Phänomene wie den Film geht. Nicht zuletzt wären dadurch kompara-

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dieser Untersuchung passend, da er zum einen ähnlich den Disability Studies und vielen weiteren Studies sich in ein aktuell diskutiertes sozial- und kulturwissenschaftliches Forschungsfeld einschreibt, welches durch eine starke praxistheoretische Perspektive, eine kultur- und sozialkritische Sichtweise und die Fokussierung auf Medialität und Materialität gekennzeichnet ist und dadurch den ihm inhärenten breiten interdisziplinären Ansatz deutlich werden lässt. 7 Zum anderen ist es ein Ziel dieser Studie, anhand der Verschränkung der Visual Studies und der Disability Studies die Hypothesen der Visual Culture überhaupt erst zu überprüfen, inwiefern »das Sehen […] eine ›kulturelle Konstruktion‹ und nicht einfach naturgegeben ist, daß es gelernt und kultiviert wird; daß es daher eine Geschichte haben könnte, die in irgendeiner noch zu bestimmenden Weise mit der Geschichte der Künste, der Technologien, der Medien und der sozialen Praxis von Zurschaustellung und Zuschauerschaft zu tun hat; und schließlich, daß es eng mit der menschlichen Gesellschaft, mit Ethik und Politik und der Epistemologie des Sehens und Gesehenwerdens zusammenhängt.«

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Deshalb werde ich mit dem Begriff der Visual Studies operieren, wenngleich ich selbstverständlich dieser Prämisse der kulturellen Verfasstheit unserer Wahrnehmung nicht widerspreche, sondern sie vielmehr für einen neuen Untersuchungsbereich fruchtbar machen werde. Jener »Undisziplin« 9 also, die sich hinter den Visual Studies verbirgt, liegt der bereits erwähnte Pictorial Turn als Ausgangspunkt zugrunde, welcher jedoch

tistische diachrone und synchrone Studien möglich, die das Auditive berücksichtigen. Vgl. Poster, Mark: Visual Studies as Media Studies. In: Journal of Visual Culture (1) 2002, S. 67-70. Sigrid Schade und Silke Wenk sehen das Auditive im Begriff der Visual Culture oder Visual Studies bereits als vorhanden an: »Visuelle Kultur schließt alte und neue Medien ein, die nicht erst heute keineswegs nur ›visuell‹ sind und nur den Augensinn ansprechen, sondern mit Texten, mit Sprache, mit Zu-HörenGegebenem notwendig verknüpft sind. Die ›visuelle Konstruktion des Sozialen‹ […] ist nie nur eine visuelle.« Vgl. Schade/Wenk 2008, S. 9. 7

Vgl. Moebius, Stephan: Kulturforschungen der Gegenwart – die Studies. Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2012b, S. 7-12.

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Mitchell 2008, S. 314.

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W.J.T. Mitchell betont mit dieser Bezeichnung gerade auch die Vorteile einer solchen »Undisziplin«: »Der große Vorzug der Visuellen Kultur als Konzept besteht darin, daß sie ihrer Tendenz nach eine Undisziplin ist; sie benennt eher eine Problematik als

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nicht als Antwort auf die häufig gestellte Alltagsdiagnose zu verstehen ist, dass das menschliche Dasein heutzutage mehr denn je von Bildern beeinflusst sei und die ›Macht der Bilder‹ im Vergleich zu früher zugenommen habe. 10 Vielmehr ergibt sich die Evidenz einer solchen (Mitchell zufolge immer wiederkehrenden 11) Trope der geistigen Wende aus einem Paradoxon, das er zwischen jener Bilder-Angst und einer ebenfalls großen Bilder-Euphorie verortet: »Zum einen ist auf überwältigende Weise klar, daß das Zeitalter von Video und kybernetischer Technologie, das Zeitalter der elektronischen Produktion, neue Formen visueller Stimulation und eines Illusionismus mit noch nicht dagewesenen Kräften entwickelt hat. Zum anderen ist die Furcht vor dem Bild, die Angst, daß die ››Macht der Bilder‹ letztlich sogar ihre Schöpfer und Manipulatoren zerstören könnte, so alt wie das Bildermachen selbst. Idolatrie, Ikonoklasmus, Ikonophilie und Fetischismus sind keine ausschließlich ›postmodernen‹ Phänomene. Was für unsere Situation spezifisch ist, ist genau dieses Paradoxon.«

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Folglich ist diese »Wiederentdeckung des Bildes als komplexes Wechselspiel von Visualität, Apparat, Institutionen, Diskurs, Körpern und Figurativität« 13 zu fassen, aus welchem sich die Notwendigkeit einer praxeologisch-wissenschaftlichen Hinwendung zum Bild ergibt, die seit den 1990er Jahren in der Forschungsliteratur unter den oben genannten Begrifflichkeiten verhandelt wird. Dabei steht weniger die philosophisch-kunstwissenschaftliche Definition dessen, was bildlich oder bildhaft sei im Vordergrund, sondern die Praktiken des Sehens und Wahrnehmens von Bildern in ihren institutionellen und sozialen Kontexten. Als das Visuelle wird demzufolge die Verknüpfung von Objekten des Sehens, sprich: den Bildern, und den Praktiken des Sehens verstanden, woraus sich die Aufgabe der Visual Studies ableitet, unter Berücksichtigung ihres Verhältnisses zur Sprache zu thematisieren, auf welche Art und Weise etwas in unterschiedlichen Medien und in unterschiedlichen Kontexten zu sehen gegeben einen klar definierten theoretischen Gegenstand.« Vgl. Mitchell 2008, S. 268, Herv. i.O. 10 Vgl. Schade/Wenk 2008, S. 7. 11 Vgl. Mitchell 2008, S. 323. 12 Ebd., S. 106f; dazu auch Sturken/Cartwright: »On the one hand, this shift to the visual promotes a fascination with the image. On the other hand, it produces an anxiety about the potential power of images that has existed since the time of Plato.« Sturken, Marita/Cartwright, Lisa: Practices of looking. An introduction to visual culture. Oxford/New York: Oxford University Press 2001, S. 1. 13 Mitchell 2008, S. 108.

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wird. 14 Dies verweist auf zwei für die Visual Studies und für diese Untersuchung wesentliche Diskurse: Zum einen geht es um die Frage nach den Kontexten, in denen sich ein Bild bewegt, wie es produziert und rezipiert wird, zirkuliert, tradiert, ausgetauscht, vernichtet oder ausgelöscht wird – oder auch wie es Eingang in ein Archiv findet. Zum anderen wird die Rolle des Sehens und des NichtSehens in seiner sozialen und kulturellen Verfasstheit wie auch die visuelle Konstruktion des sozialen Feldes in einem historischen Kontext fokussiert, wie sie Jonathan Crary in seiner wegweisenden Studie »Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert« 15 verhandelt hat. Die Veränderungen visueller Konstellationen seit der frühen Neuzeit, wie zum Beispiel das Erstellen von Karten und Atlanten, der Realismusanspruch der Malerei und die Errichtung von Institutionen zur (Auf-)Bewahrung und zugleich zur Beobachtung gesellschaftlicher Gruppen (zum Beispiel Gefängnisse, Krankenhäuser etc.) und die Beschleunigung und die Feststellung von Objekten des Alltags durch Erfindungen wie die Eisenbahn bzw. die Etablierung von Ausstellungen und Museen, verändern nachhaltig die Konstitution des Blicks und die Operationen des Sehens durch das anschwellende Einfließen von Bildern in die menschlichen Alltagspraktiken, worauf aufbauend die Visual Studies eine »Neukalibrierung der Perspektive auf das Kulturelle« einfordern. 16 Dementsprechend ist ihr Gegenstand nicht auf Kunstwerke oder auf Objekte beschränkt, denen ein Kunstwert zugesprochen wird, sondern schließt alle Medien der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung mit ein, und leitet daraus einen weit gefassten Bildbegriff ab, der von Mirzoeff als »visual event«, als visuelles Ereignis, charakterisiert worden ist. Dieses bildet in Wechselwirkung mit dem sozio-kulturell determinierten Sehen jenes in gleichem Maße aus, wie dieses selbst das Bild ›sieht‹. 17 Mit Hilfe eines Bildes im Sinne eines visuellen Ereignisses kann sich ein Betrachter »information, meaning or pleasure« anhand der Nutzung einer durch einen technischen Vorgang hervorgebrachten Oberfläche verschaffen, wobei sich dies laut Mirzoeff nicht nur auf apparatgenerierte, sondern auch auf handgefertigte Bilder wie Malereien etc. bezieht. 18 Daran anschließend erscheint es mög14 Vgl. Schade/Wenk 2008, S. 9. 15 Crary, Jonathan: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden: Verlag der Kunst 1996. 16 Vgl. Prinz, Sophia/Reckwitz, Andreas: Visual Studies. In: Moebius 2012, S. 176-195, hier S. 177f. 17 Vgl. Mirzoeff 1999b, S. 13. 18 Vgl. Mirzoeff 1999b, S. 3. Diesen besonderen Wert des Interface, des ›Dazwischen‹, hat auch Mitchell in seiner vielzitierten Metapher der Bauchrednerpuppe zum Ausdruck gebracht: »Ein Bild ist also nicht so sehr eine Aussage oder ein Sprechakt als

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lich, das Bild als Effekt einer Interaktion zwischen verschiedenen Akteuren zu denken, der diesen weder nur der individuellen Bewusstseinsleistung zuschreibt, noch das Bild in einer unkritisch-objektiven Abbildfunktion belässt, sondern die Präformierung des Sehens durch kulturelle und technologische Bedingungen hervorhebt und dadurch gerade der für die Fotografie maßgeblichen physikalisch-chemischen Eigenschaft eine besondere Funktion im Bildkonstitutionsprozess verschafft, wie ich später noch ausführen werde. Insofern erscheint nun die Frage legitim, was denn im deutschsprachigen Diskurs die Visual Studies von der Kunst- oder Bildwissenschaft unterscheidet bzw. inwiefern die Visual Studies sich als besseres ›Handwerkszeug‹ für diese Arbeit eignen als es die Instrumente der Bildwissenschaft tun. Diesem ›Ausspielen‹ der Visual Studies gegen die neuen Ansätze der Vertreter_innen der Bildwissenschaft, wie zum Beispiel Klaus Sachs-Hombach, Gottfried Böhm oder Hans Belting 19, möchte ich mich gerne entziehen und vielmehr dafür plädieren, die Perspektiven, die die Visual Studies bezüglich des Verhältnisses von Sehen und Objekt des Sehens bieten, für den Fokus der Bildwissenschaft, »die Fragen immanenter Reflexion des Ikonischen und um eine Erkenntnistheorie des Bildes überhaupt«20 fruchtbar zu machen. 21Gerade für den Gegenstand dieser Studie, die Fotografie, bietet es sich besonders an, eine Untersuchung der Eigenlogik des Bildlichen in einen breiteren kulturellen Kontext einzubetten, wie ihn die Visual Studies vorschlagen, und mit einer stärkeren Akzentuierung der technischen Verfasstheit des Mediums zu verbinden. Dies erscheint auch im Lichte der häuvielmehr ein Sprecher, der zu unzähligen Äußerungen imstande ist. Ein Bild ist kein Text, der gelesen werden will, sondern die Puppe eines Bauchredners, in die wir unsere eigene Stimme hineinprojizieren.« Mitchell 2008, S. 391. 19 Wobei man hier schon auf eine gewisse Disparatheit hinweisen muss: SachsHombach beruft sich auf semiotische Modelle und versucht, darunter verschiedene Ansätze anderer Forscher zur synthetisieren; Belting und Boehm verstehen das Bild nicht nur als Zeichen, sondern möchten die »ikonische Differenz« (Boehm) und »anthropologische Aspekte« (Belting) integriert wissen. Vgl. Prinz/Reckwitz 2012, S. 180. 20 Rimmele/Stiegler 2012, S. 71. 21 Lesenswert in diesem Zusammenhang ist die kritische Rezensionsdiskussion von Lukas Engelmann et. al., in welcher der an manchen Universitäten bereits zum »Lehrbuch« erhobene Band von Schade/Wenk dem Sammelband von Martina Heßler und Dieter Mersch »Logik des Bildlichen« gegenübergestellt wird: Engelmann, Lukas/Kesting, Marietta/Köppert, Katrin/Schoen, Anne-Julia: Visuelle Kultur und Theorien des Bildes. Eine Rezensionsdiskussion. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 2/2012, S. 166-171.

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fig geäußerten Kritik an den Visual Studies als eine Vorgehensweise, die dieser durch vertiefende medientheoretische Überlegungen selbstbewusst entgegen treten kann. Den unter dem Label der Visual Studies entstandenen Arbeiten ist dabei einerseits häufig Disparatheit und Wahllosigkeit des Forschungsobjektes unterstellt worden, andererseits machten sich Befürchtungen und Beobachtungen eines Dilettantismus breit, der die Ansätze der Visual Studies im geistes- und sozialwissenschaftlichen Feld erheblich in ihrer Wirkmacht schwächen könnte. Beiden Kritikpunkten wurde auf Vorschlag einiger Wissenschaftler_innen bereits durch die Rezeption und tiefer gehende kritische Diskussion kanonischer Texte wie jener von Benjamin, Foucault und Warburg begegnet, so Rimmele/Stiegler. 22 So weisen auch beispielhafte Charakterisierungsversuche der Visual Studies seitens der Kultursoziologie wie jene von Sophia Prinz und Andreas Reckwitz den Weg zu methodischen Zugangsmöglichkeiten von Bildern, die die soziale Determiniertheit des Bildbegriffs schärfen und vor einem keineswegs durch Dilettantismus geprägten praxeologischen Hintergrund die Wechselwirkung von Kultur und Technik herausarbeiten. Ihre Vorschläge gewinnen sie aus dem Versuch einer Synthetisierung von produktionsorientierten, produktorientierten und rezeptionsorientierten Ansätzen der Bildforschung und eröffnen dadurch reizvolle Perspektiven für eine »Praxeologie des Sehens und der Visualisierungen« 23, die in einer Konzeptualisierung einer Visualitätsanalyse münden: »Zentral für eine praxeologische Analytik des Sehens – und damit auch von Bildern und Sichtbarkeit – ist der Zusammenhang von fünf miteinander verknüpften, heuristisch unterscheidbaren Elementen in ihrer kulturellen und historischen Dynamik: erstens den Praktiken des Sehens, zweitens den Objekten und Artefakten, das heißt dem, was gesehen wird und das zugleich eine technische Trägerschaft dieses Gesehenen bildet, drittens dem sehenden (und gesehenen) Subjekt, viertens dem Wissen und den Affekten, welche diese Konstellationen des Sehens strukturieren, fünftens den umfassenden konflikthaften makrosozialen Arrangements in ihrer Genealogie, in die diese Elemente eingebettet sind und die sie (re)produzieren.«

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22 Vgl. Rimmele/Stiegler 2012, S. 162; W.J.T. Mitchell selbst warnt ebenso vor einer vereinfachten Denkweise in den Visual Studies: »Der Aufstieg einer neuen hybriden Disziplin namens ›Visuelle Kultur‹ geht, angesichts der aktuellen meteorartigen Karriere der sogenannten ›Cultural Studies‹, vielleicht ein wenig zu glatt vor sich. Man klebt vor die ›Kultur‹ das ›visuell‹, und alles geht von selbst.« Vgl. Mitchell 2008, S. 238. 23 Prinz/Reckwitz 2012, S. 191. 24 Ebd., S. 192.

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Diese Praktiken des Sehens bringen die Autor_innen mit Praktiken der Visualisierung zusammen, worunter sie »Aktivitäten« verstehen, »[…] in denen Phänomene für Dritte in eine visuelle Darstellungsform gebracht werden, in der also Phänomene nicht nur vom Subjekt selbst für sich selbst visuelle betrachtet werden, sondern für den intersubjektiven Gebrauch eine visuelle Repräsentation auf einem entsprechenden materialen Träger hergestellt wird.« 25 Im Zusammenhang mit einer eingehenden Berücksichtigung der Bildtechniken und Bildträger, der architektonischen Arrangements und der Seh-Subjekte, ergibt sich ein Zusammenspiel der Praktiken des Sehens und der Visualisierung, den Seh-Subjekten und den Artefakten, welches den sozialen Raum ausbildet, in welchem sich wiederum spezifische Wissensordnungen und Affekte herausbilden: »Kulturelle Wissensordnungen bezüglich des Sehens und der Bilder, das heißt ein visuelles Wissen, bilden sich in Auseinandersetzung mit Artefakten, werden in Praktiken in die Tat umgesetzt, in Diskursen thematisiert und exemplifiziert und in den Subjekten interiorisiert.« 26 Die von Prinz/Reckwitz vorgenommene Sensibilisierung der Visual Studies für die Praxistheorie schärft deren wissenschaftstheoretische und zugleich ihre medientheoretische Orientierung: Der Betrachter eines Bildes ist dadurch » [a]ls Träger medialer Praktiken« weder als rein konsumierendes Subjekt der dem Bild vermeintlich inhärenten Information zu denken noch kann er als unabhängig vom Medium angesehen werden. Vielmehr »lässt sich das mediennutzende Subjekt nun als jemand analysieren, dem die Techniken des Mediengebrauchs zu ›Techniken des Selbst‹ werden, so dass sich durch die medialen Praktiken bestimmte ›innere‹ Kompetenzen und Dispositionen aufbauen.« 27 Auf diese Weise wird der Zusammenhang und vielmehr die Wechselwirkung zwischen Bildern, Sehen und Diskursen deutlich, wie sie für meine Leitthese von der sozio-medialen Konstruktion von Behinderung essentiell ist: Die Praktiken des Sehens und der Visualisierung in ihrer sozio-technischen Bedingtheit und die kulturwissenschaftliche Lesart von Behinderung, wie ich sie im nächsten Abschnitt vorstellen werde, greifen hier ineinander und ermöglichen so eine praxeologische Annäherung an jene Diskurse und Praktiken, die sich in und an den Fotografien des Liebenauer Archivs entfalten und in der Beschreibung stillstellen lassen. Dank des Instrumentariums der Visual Studies kann und muss sich eine Analyse von Bildern nicht mehr auf das beschränken, was sich auf ihrer Oberflä25 Prinz/Reckwitz 2012, S. 193. 26 Ebd. 27 Reckwitz, Andreas: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie 32 (4) 2003, S. 282-301, hier S. 286.

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che manifestiert und damit ihren Status als ›wahrhaftig‹ be- und kennzeichnet, sondern es befähigt uns, unsere Wahrnehmung auf ihre Relation zu ihrer apparativen Präformation zu untersuchen und dabei zugleich das Bild aktiv und im Sinne W.J.T. Mitchells auf sein Eigenleben, auf seine Eigenlogik hin zu befragen. 28 Dazu gilt jedoch zunächst, die Grundlagen der Disability Studies in den Blick zu nehmen und auf ihre Anschlussfähigkeit an die Leitfragen der Visual Studies zu untersuchen. 2.1.2 »Nichts über uns ohne uns!« 29 Die Disability Studies Große Wohlfahrtsorganisationen und Interessensverbände für Menschen mit Behinderung, Dokumentarfilme wie auch TV-Formate sowie die Heil- und Sonderpädagogik haben in den letzten 20 Jahren im Anschluss an die politische »Krüppelbewegung« 30 durch verschiedene Leitsprüche die Frage nach dem, was ›Behinderung‹ eigentlich sei, immer wieder aufgegriffen und versucht, diese Auseinandersetzung durch Publikationen, Plakatkampagnen und Inklusionsprojekte in den gesellschaftlichen Alltag hineinzutragen: »Es ist normal, verschieden zu sein.« – »Normal bin ich nicht behindert.« – »Ich möchte mich ganz normal fühlen.« 31 Das ›Problem‹, auf das sie damit aufmerksam machen, ist jenes der sich verändernden Verortung von Behinderung in einem Feld von Normalität und Anormalität und damit einhergehend die sich verschiebenden gesellschaftlichen

28 Vgl. das Kapitel »What do pictures want« in Mitchells Band zur Bildtheorie: Mitchell 2008, S. 347-370. 29 Vgl. den Titel des gleichnamigen Buches von Hermes 2006. 30 Die zum Ende der 1970er Jahre in der Bundesrepublik sich gründenden »Krüppelgruppen«, angeführt durch Aktivisten wie Franz Christoph und Horst Frehe, hatten diese Bezeichnung für ihre Aktivitäten selbst gewählt und verstanden diese aus mancher Sicht auch beleidigende Namensgebung als Teil ihres provokativen politischen Programms. Vgl. Köbsell, Swantje: Towards Self-Determination and Equalization: A Short History of the German Disability Rights Movement. In: Disability Studies Quarterly 26 (2) 2006 (ohne Paginierung), online verfügbar unter http://dsqsds.org/issue/view/33 (letzter Zugriff am 19.06.2014). 31 Schildmann, Ulrike: Es ist normal, verschieden zu sein? Einführende Reflexion zum Verhältnis zwischen Normalität, Behinderung und Geschlecht. In: Dies. (Hrsg.): Normalität, Behinderung und Geschlecht. Ansätze und Perspektiven der Forschung. Opladen: Leske + Budrich 2001, S. 7-15, hier S. 7.

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Grenzen zwischen diesen beiden Zonen. 32 Die Disability Studies haben sich einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Fragen verschrieben und sind aufgrund ihres politisch-emanzipatorischen Ansatzes besonders daran interessiert, die Grundannahme einer sich sozial, politisch und wirtschaftlich manifestierenden Polarität von Behinderung und Nicht-Behinderung gleichsam zu untersuchen wie auch zu erschüttern, um daraus Bedingungen für eine inklusive Gesellschaft zu formulieren. Die Darstellung des Ursprungs und der Grundlagen der Disability-Forschung im folgenden Abschnitt soll eine Annäherung daran bieten, was die Disability Studies trotz ihres noch jungen ›Alters‹ zu einem wichtigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansatz macht, um den vermeintlichen ebenso wie mächtigen Essentialismus von Behinderung und ebenso von ›Normalität‹ zu dekonstruieren. Der Zeitraum der Entstehung der Disability Studies als interdisziplinäre Forschungsrichtung ist etwa in den 1970er Jahren anzusiedeln. Sie gehören überdies zu einer der erst in den letzten Jahren im deutschsprachigen Diskurs angekommenen Wissenschaftsdisziplinen in den Kultur- und Sozialwissenschaften und sind bis zum heutigen Tage noch im Wachsen und in der Ausformulierung ihrer Strategien und Ziele begriffen. 33 Nichtsdestotrotz gehören sie nicht nur zu den »new multicultural kid[s] on the block« 34, sondern vereinen ähnlich wie die Visual Studies vielfältige historisch und institutionell etablierte sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplinen in sich, zugleich aber haben sie Eingang in rechtsund politikwissenschaftliche Studien der letzten Jahrzehnte gefunden, insbesondere in den letzten Jahren, wenn es um die sozialpolitische Auslegung von Behinderung und Nicht-Behinderung im Anschluss an die UN-Behindertenrechtskonvention ging. 35 Dieser gleichwohl aktivistisch-politische Ansatz ist ne32 Ich werde in dieser Studie an anderer Stelle mich noch dezidierter auf die Normalitätstheorie von Jürgen Link beziehen und diese für die Frage nach Bildlichkeit und Wahrnehmung diskutieren. 33 Vgl. Schneider, Werner/Waldschmidt, Anne: Disability Studies. (Nicht-)Behinderung anders denken. In: Moebius 2012, S. 128-150, hier S. 138. 34 Davis, Lennard J.: Crips Strike Back: The Rise of Disability Studies. In: American Literary History 11 (3) 1999, S. 500-512, hier S. 502. 35 Vgl. exemplarisch Degener, Theresia: Behinderung als rechtliche Konstruktion. In: Lutz, Petra/Macho, Thomas/Staupe, Gisela/Zirden, Heike: (Hrsg.): Der (im-)perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Köln: Böhlau 2003, S. 449-467; Dies.: Die neue UN-Behindertenrechtskonvention aus der Perspektive der Disability Studies. In: Behindertenpädagogik (3) 2009, S. 263-283; Dies.: Die UNBehindertenrechtskonvention: Grundlage für eine inklusive Menschenrechtstheorie. In: Vereinte Nationen 58 (2) 2010, S. 57-63.

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ben der wissenschaftlichen Motivation eine der beiden wesentlichen Antriebskräfte, aus denen sich die Disability Studies herausgebildet haben und welcher sie bis heute ihr parteinehmendes Profil verdanken: 36 Im Zuge der und im Anschluss an die Bürgerrechtsbewegungen im englischsprachigen Raum formierten sich zu jener Zeit Gruppen behinderter Menschen, »um gegen ihre Verbannung in Wohnheime, ihren Ausschluss vom Arbeitsmarkt und der Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gegen ihre finanzielle Abhängigkeit sowie ihre erzwungene Armut Widerstand zu leisten.« 37 Aus diesem politischen Engagement und der Forderung nach Gleichberechtigung und gesellschaftlicher Teilhabe erwuchs zugleich unter selbst behinderten Wissenschaftler_innen das Ansinnen, die grundsätzliche Frage danach zu stellen, was aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive ›Behinderung‹ überhaupt kennzeichnet und ob es sich dabei nicht um eine gesellschaftliche Konstruktion handelt, die auf einem reduktionistischen Menschenbild basiert. 38 Unter dieser Fragestellung wurde 1975 das erste Seminar an der Open University of Kent gehalten, weitere Seminare und Studiengangsgründungen in den USA und Großbritannien sowie Publikationen seitens der ersten prominenten Akteure der Disability Studies folgten, welche alle auf den sich auf einer berechtigen Opposition zu einem essentialistischen Menschenbild beruhten. 39 Erstes Ziel der Disability Studies ist es, »Behinderung neu [zu] denken« 40, ferner als gesellschaftliches Phänomen bzw. als epistemologische Kategorie zu erfassen und so in den Mittelpunkt der Forschung zu stellen und gleichsam zu hinterfragen, »[w]ie, warum und wozu […] – historisch, sozial 36 Vgl. Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript 2007, S. 17. 37 Thomas, Carol: Theorien der Behinderung. Schlüsselkonzepte, Themen und Personen. In: Weisser, Jan/Renggli, Cornelia (Hrsg.): Disability Studies. Ein Lesebuch. Luzern: Ed. Szh/Csps, S. 31-56, hier S. 32. 38 Mike Oliver wird zugeschrieben, das erste Seminar gehalten zu haben, das man den Disability Studies hätte zuordnen können; vgl. Oliver, Mike: The Social Model in Action: if I had a hammer. In: Barnes, Colin/Mercer, Geof (Hrsg.): Implementing the social model of disability. Theory and research. Leeds: Disability Press 2004, S. 18-31, online verfügbar (ohne Paginierung) unter http://disability-studies.leeds.ac.uk/files/ library/Barnes-implementing-the-social-model-chapter-2.pdf (letzter Zugriff am 08. 05.2016). 39 Vgl. Renggli 2004, S. 19. 40 Dederich 2007, S. 17; Degener, Theresia: »Behinderung neu denken«. Disability Studies als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland. In: Hermes, Gisela/Köbsell, Swantje (Hrsg.): Disability Studies in Deutschland. Behinderung neu denken. Dokumentation der Sommeruni 2003, S. 23-26.

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und kulturell – ›Andersheit‹ als Behinderung hergestellt, verobjektiviert und institutionalisiert [wird]«. 41 Darauf basierend konvergieren Studien der sich bislang recht heterogen präsentierenden Disability Studies in der Übereinkunft der Ablehnung des Rehabilitationsparadigmas, welches Menschen mit Behinderung als (Untersuchungs-)Objekte der Medizin, der Sonderpädagogik und den Biowissenschaften überlässt, da diese mehrheitlich ihren ›Defekt‹ bzw. ihre Schädigung in den Vordergrund stellt, um diese entsprechend behandeln und beheben zu können. 42 Mit dieser impliziten Problematisierung von Behinderung als »persönliche Tragödie« 43 einher geht die Ablehnung des den »klinischen Blicks«, wie ihn Foucault in »Die Geburt der Klinik« 44 herausgearbeitet hat, und welchen die Aktivist_innen und Forscher_innen als dominante Betrachtungsweise von körperlicher Abweichung ausgemacht haben. Daraus folgerten sie ein medizinisches oder individuelles Modell von Behinderung, in dessen Opposition sie im Zuge der Disability Studies in Form eines sozialen Modells von Behinderung getreten sind und welches in zahlreichen Studien weiterentwickelt und kritisiert worden ist. 45 Diese beiden Modelle von Behinderung bilden die Grundlage der Disability Studies, wenngleich das medizinische Modell rückwirkend von den Vertreter_innen des sozialen Modells konstruiert zu sein scheint und eine kohärente Darstellung und Charakterisierung diese als dem sozialen Modell historisch 41 Schneider/Waldschmidt 2012, S. 129. 42 Ausführlich beschrieben in Renggli 2004, Waldschmidt 2005b, Hermes 2006, Dederich 2007. 43 Renggli 2004, S. 16. 44 Foucault 1993; häufig wird als theoretische Grundlage der Disability Studies auch die Rezeption von Erving Goffmans Studien zum Stigma und zur Psychiatrie angeführt, aber ebenso kritisch diskutiert: Goffman, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010 (Erstausgabe 1963); Ders.: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008 (Erstausgabe 1961); zur Kritik vgl. Coleman Brown, Lerita M.: Stigma. An Enigma Demystified. In: Davis, Lennard J. (Hrsg.): The Disability Studies Reader. New York: Routledge 2010, S. 179-192. 45 Ausführlich zur Kritik am sozialen Modell, die noch in dieser Studie aufgegriffen werden wird: Shakespeare, Tom/Watson, Nicholas: The social model of disability: an outdated ideology? In: Research in Social Science and Disability (2) 2002, S. 9-28; Hughes, Bill/Paterson, Kevin: The Social Model of Disability and the Disappearing Body: Towards a sociology of impairment. In: Disability & Society, 12 (3) 1997, S. 325-340; Thomas, Carol/Corker, Mairian: A Journey around the Social Model. In: Corker, Mairian/Shakespeare, Tom (Hrsg.): Disability/Postmodernity. Embodying disability theory. London/New York: continuum 2002, S. 17-31.

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vorgängig geformte Denkweise von Behinderung bisher ausgeblieben ist. 46 Nichtdestotrotz werde ich im Folgenden diese beiden Modelle in ihren Grundzügen vorstellen bzw. rekonstruieren und das aus der ihnen gegenüber geäußerten Kritik entstandene »kulturelle Modell« 47 von Behinderung einführen, welches zum einen für einen Anschluss an die Visual Studies von großer Bedeutung sein wird und das zum anderen auf der für diese Untersuchung relevanten These beruht, »daß Behinderung im Gesellschaftssystem hergestellt wird – konstruiert und produziert in wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Diskursen sowie in politischen und bürokratischen Verfahren, habitualisiert als alltägliche Umgangsweisen mit Behinderung und ›verinnerlicht‹ als subjektive Sichtweisen und Identitäten.« 48 a) Das medizinische Modell Das medizinische Modell ist aufgrund seines langen Gültigkeits- und Rezeptionszeitraums das wirkmächtigste der im Umfeld der Disability Studies kursierenden Modelle von Behinderung. Nichtsdestotrotz wird es in der Forschungsliteratur nur sehr selten dezidiert beschrieben und auf seine Quellenbezüge hin untersucht, sondern zügig als jenes Modell markiert, von dem sich die Vertreter_innen des sozialen Modells abzusetzen suchen. 49 So erscheint es bisweilen ex post konstruiert und erschwert einen Zugang, der nicht durch eine Kritik am medizinischen Modell geleitet ist, sondern das Modell in seinen Grundstrukturen und Argumentationsweisen analysiert. Häufig wird es auch als »individuelles Modell« 50 bezeichnet, was darauf zurückzuführen ist, dass es im Unterschied zum sozialen Modell nicht die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen einer Einzelperson und der Gesellschaft in den Blick nimmt, sondern sich auf 46 Jörg Michael Kastl drückt dies recht überspitzt aus: »Ich habe schon darauf hingewiesen, dass es ein »medizinisches Modell« der Behinderung eigentlich gar nicht gibt. Bei dieser Redeweise handelt es sich eher um einen (fach-)politischen Schachzug derer, die das ›soziale Modell‹ der Behinderung durchsetzen wollten und zu diesem Zweck einen möglichst leicht besiegbaren Gegner aufbauen mussten.« Vgl. Kastl, Jörg Michael: Einführung in die Soziologie der Behinderung. Wiesbaden: VS-Verlag 2002, S. 48; vgl. dazu auch Hirschberg 2009, S. 106f. 47 Anne Waldschmidt hat in einem Aufsatz von 2005 zum ersten Mal einen kulturwissenschaftlichen Untersuchungsansatz tatsächlich auch als »Modell« bezeichnet und in anderen Aufsätzen weiter ausgeführt. Vgl. Waldschmidt 2005b, 2006, 2012. 48 Schneider/Waldschmidt 2012, S. 133. 49 Vgl. Hirschberg 2009, S. 106; Felder 2012, S. 63f. 50 Anne Waldschmidt hält den Begriff »individualistisch« für passender: Waldschmidt 2005b, S. 16.

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das Individuum und seine Handlungsoptionen konzentriert. 51 ›Medizinisch‹ wird das Modell deshalb genannt, da es eng verknüpft ist mit der Geschichte und der Entwicklung der Medizin und der Humanwissenschaften und dem daraus resultierenden medizinisch-biologisch-analytischen Blick auf den menschlichen Körper, wie ihn Michel Foucault in »Die Geburt der Klinik« beschreibt und welcher vielfach (und ebenso vielfach unhinterfragt) zitiert wird. 52 Auch wenn von einigen Forscher_innen das medizinische Modell zu recht noch bis heute als das am häufigsten angewandte Modell betrachtet wird 53, so wird es im selben Atemzug als etwa bis in die 1960er Jahre die vorherrschende Deutungsart von Behinderung deklariert. 54 Es waren die bis dahin dominierenden Disziplinen der Anwendungswissenschaften wie Medizin, Psychologie oder Sonder- und Heilpädagogik 55 und die damit verknüpften Institutionen wie Kliniken, Psychiatrien und Anstalten, welche sich dem Phänomen der Behinderung und der Lebenssituation behinderter Menschen zugewandt und ihr Forschungsinteresse darauf gelenkt hatten. 56 Behinderung gilt aus dieser Perspektive als individuelles Problem, das durch Vererbung, durch einen Unfall oder Krankheit hervorgebracht wurde und »als tragischer Defekt, als defizitäre Abweichung eines einer Minderheit angehörenden Individuums« 57 betrachtet werden muss. Die körperliche Schädigung alleine wird hier mit ›Behinderung‹ gleichgesetzt, während gesellschaftliche Faktoren oder die sächliche Umwelt noch keine Rolle für die Abweichung vom Normalzustand spielen. Gelöst werden könne das ›Problem‹ Behinderung durch medizinisch-therapeutische Maßnahmen, durch die das zur Heilung und Genesung bereite Individuum wieder in die ›Normalgesellschaft‹ integriert werden kann. 58 Diese ist nur insofern von Relevanz, als dass 51 Vgl. Hirschberg 2009, S. 105. 52 Genau an dieser Frage nach dem tatsächlichen Blick auf Behinderung setzt später die Untersuchung an und verhandelt diesen in Verbindung mit der Frage nach den visuellen Regimes der Modelle von Behinderung. 53 Vgl. Hermes 2006b, S. 15-30, hier S. 18; Waldschmidt 2007, S. 55-77, Köbsell, Swantje: Behinderte und Medizin. Ein schwieriges Verhältnis. In: AG »Medizin(ethik) und Behinderung« in der Akademie für Ethik in der Medizin e.V.: Behinderung und medizinischer Fortschritt. Dokumentation der gleichnamigen Tagung vom 14.-16. April 2003 in Bad Boll. 2003, S. 31-41, hier S. 31, online verfügbar unter http://www.user.gwdg.de/~asimon/bb_2003.pdf (letzter Zugriff am 08.05.2016). 54 Vgl. Renggli 2004, S. 16. 55 Vgl. Waldschmidt 2005, S. 9; Hermes 2004, S. 16. 56 Vgl. ebd. 57 Renggli 2004, S. 16. 58 Vgl. Waldschmidt 2005b, S. 17.

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»allgemein vorhandene Vorurteilsstrukturen als hinderlich für das individuelle Coping-Verhalten und die Annahme einer ›behinderten Identität‹ betrachtet werden.« 59 Behinderung kann im medizinischen Modell also nur ›überwunden‹ werden, wenn das Individuum sich als aus der Mehrheit ausgeschlossen akzeptiert, sein defizitäres Dasein erkennt und aus seinem exklusiven Status heraus versucht, sich dieser Mehrheit durch die eigene Anstrengung und den Rehabilitationswillen anzunähern. Ein weiteres Merkmal des medizinischen Modells ist die »Expertendominanz im rehabilitativen Versorgungssystem und das Verwiesensein der Behinderten auf Sozialleistungen, deren Empfang an soziale Kontrolle und Disziplinierung gekoppelt ist.« 60 Dieses Expertentum wird jenen Akteuren im System zugesprochen, welche über die Deutungshoheit von Behinderung und Krankheit im Vergleich zu Normalität und Gesundheit verfügen, zum Beispiel Ärzten, Psychiatern oder Pädagogen. Durch die ihnen zugewiesene Fachlichkeit und die damit verbundene Autorität tragen sie zur Entscheidung über den Ausschluss eines Individuums aus der Mehrheitsgesellschaft bei, indem sie es als von einer Norm oder einem Normalzustand abweichend markieren und ihm entsprechende Angebote machen oder Perspektiven aufzeigen, wie dieser Zustand wieder erreicht werden kann. Diese besondere Expertenrolle ist auch für die Klassifikation von Behinderung entscheidend, da bis zur Überarbeitung der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) in den 1990er Jahren und ihrer Verabschiedung durch die WHO (World Health Organisation) im Jahre 2001 Menschen mit Behinderung nicht an der Erarbeitung dieser Klassifikationssysteme teilhaben durften. So war die Kategorisierung von Behinderungen und chronischen Erkrankungen jenen Expert_innen vorbehalten, die Behinderung im Lichte des medizinischen Modells betrachtet hatten. 61 Behindertenpolitik in der Bundesrepublik stützte sich bis dahin zudem weitestgehend auf das medizinische Modell und die Klassifikationssysteme der WHO (deren ursprünglicher Zweck die Beschreibung und Klassifizierung einer international einheitlichen Systematik von Behinderung war), um daraus die Sozialleistungsansprüche für Menschen mit Behinderung abzuleiten. Indem der Grad der Behinderung (und damit auch der Grad der Nicht-Behinderung) eingeschätzt wird, kann auch errechnet werden, ob und inwiefern eine Person Anspruch auf Hilfs-, aber auch Rehabilitationsmaßnahmen seitens der Solidargemeinschaft der Steuerzahler_innen hat. 62

59 Ebd. 60 Waldschmidt 2005b, S. 17. 61 Vgl. Hirschberg 2009, S. 52. 62 Dazu ausführlich: Hirschberg 2009, S. 71.

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Was Waldschmidt unter »soziale[r] Kontrolle und Disziplinierung« 63 versteht, bezieht sich auf ein weiteres einem Klassifikationssystem inhärenten und mithin negativ konnotiertes Merkmal: Das Individuum muss sich zunächst diesem System unterordnen und es sich aneignen, um Leistungen in Anspruch nehmen und damit gesellschaftlich teilhaben zu können, es kann durch Klassifikation aber auch Exklusion erfahren, wenn ihm aufgrund seiner Einordnung in die Klassifikation bestimmte Leistungen verweigert werden, die eigentlich wichtig wären, um ihm gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. 64 Der sich hier manifestierende medizinische Blick auf das vermeintliche Defizit eines Menschen führt somit mehrfach zur Exklusion aus der ›Normalgesellschaft‹ – einerseits durch den Ausschluss von dem, was als ›normal‹ bezeichnet wird durch die Klassifikation selbst und andererseits durch die tatsächliche Absonderung 65 des Individuums in Institutionen wie Anstalten, Heime oder Wohngruppen, da an diesen Orten oftmals für den Staat kostengünstiger und weniger aufwendig die angestrebte Rehabilitation oder Integration vollzogen werden kann. Aus dieser Position der ›Ausgeschlossenen‹ heraus begannen betroffene Wissenschaftler_innen, ein Gegenmodell zu dieser pathologisierten Sichtweise auf sie selbst zu entwickeln: das soziale Modell. b) Das soziale Modell Wenngleich das soziale Modell seinem Namensgeber Mike Oliver zufolge nicht als theoretisches Konzept oder als eigenständige Theorie von Behinderung geeignet ist, sondern als ein »praktisches Instrument« 66 zur Ermöglichung von gesellschaftlicher Teilhabe behinderter Menschen dient, so wird es doch als Drehund Angelpunkt der Disability Studies bezeichnet und davon ausgehend gegen das medizinische Modell und für eine langfristige gesellschaftliche Veränderung diskutiert. Die verschiedenen Ausprägungen des sozialen Modells 67 betrachten Behinderung folglich eben nicht als Leiden oder Störung des Individuums, sondern rü63 Waldschmidt 2005b, S. 17. 64 Vgl. Hirschberg 2009, S. 75. 65 Diese Ab- oder Aussonderung drückt sich auch sprachlich darin aus, dass hinter dem Begriff oder Merkmal »behindert« alle anderen Eigenschaften verschwinden, wie zum Beispiel Geschlechts- oder Religionszugehörigkeit; vgl. Radtke, Peter: Zum Bild behinderter Menschen in den Medien. In: APuZ. Aus Politik und Zeitgeschichte 2003, S. 7-12, hier S. 8. 66 Oliver 2004, S. 18-31. 67 David Pfeiffer identifiziert neun Versionen des sozialen Modells: Pfeiffer, David: The Philosophical Foundations of Disability Studies. In: Disability Studies Quarterly 22

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cken sie in das Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Umwelt. 68 Der Ursprung dieses gemeinsamen Nenners aller Modellvarianten lässt sich in der politischen Behindertenbewegung der 1970er und 1980er Jahre und etwa zeitgleich in Großbritannien und den USA als Kritik und Abwendung vom medizinischen Modell verorten. In Großbritannien ging aus dieser Bewegung die marxistisch orientierte Union of Physically Impaired Against Segregation (UPIAS) hervor, welche versuchte, sich von früher gegründeten liberalen und auf Mainstreaming bauenden Interessensvereinigungen abzusetzen, indem sie sich als eine unterdrückte gesellschaftliche Gruppe markierte und einen vollständigen und umfassenden Zugang zu allen Bereichen des öffentlichen Lebens forderte. 69 ›Behinderung‹ ist für die UPIAS in ihrer 1976 veröffentlichten Erklärungen und für das darauf aufbauende soziale Modell nicht mehr im Sinne des medizinischen Modells als individuelles Schicksal zu verstehen, das durch Therapie und Rehabilitation überwunden werden kann, sondern als »Produkt sozialer Organisationen« 70 und macht die gesellschaftliche Benachteiligung behinderter Menschen zur Grundlage ihrer Überlegungen und Forderungen. 71 Folglich ist es nicht der behinderte Mensch, der sich ändern und anpassen muss, sondern die Gesellschaft und damit auch die sächliche Umwelt, um ihn oder sie als mündige und zur Selbstbestimmung fähige Bürger_in wahr und ernst zu nehmen. 72 Wie bereits angedeutet, versteht sich das soziale Modell als fundamentale Kritik am bis dahin vorherrschenden medizinischen Modell und dessen Konzentration auf die körperliche Schädigung (impairment). Stattdessen vertreten seine Akteure den Standpunkt, dass nicht der Körper, sondern die ihren Bedürfnissen nicht angepasste Umwelt und Gesellschaft zur Behinderung als disability führen. 73 Behinderung wird hier als Ergebnis von Diskriminierung bewertet und nicht als per(2) 2002, S. 3-23. Mike Oliver nennt das Modell als erstes »soziales Modell«, vgl. Thomas 2004, S. 33. 68 Vgl. Hirschberg 2009, S. 113. 69 Tom Shakespeare zitiert die UPIAS folgendermaßen: »We find ourselves isolated and excluded by such things as flights of steps, inadequate public and personal transport, unsuitable housing, rigid work routines in factories and offices, and a lack of up-todate aids and equipment.« Shakespeare 2010, S. 266. 70 Waldschmidt 2007, S. 86. 71 Vgl. Oliver, Mike: Understanding disability. London: Macmillan 1996, S. 22. 72 Vgl. Waldschmidt 2007, S. 86. 73 Tom Shakespeare, Soziologe und Aktivist in der britischen Disability-Bewegung, benennt drei wesentliche Dichotomien, auf denen das soziale Modell beruht: 1) impairment vs. disability; 2) soziales Modell vs. medizinisches Modell; 3) behinderte Menschen vs. nicht behinderte Menschen. Vgl. Shakespeare 2010, S. 268.

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sönliches Problem, das von nicht-behinderten Experten auf das Individuum abgewälzt wird, statt die Betroffenen selbst zu befragen. 74 Die US-amerikanischen Aktivist_innen der Independent-Living-Bewegung schrieben sich mit den ihren britischen Genoss_innen ähnelnden Forderungen in die studentische Bürgerrechtsbewegung der 70er Jahre ein. 75 Sie reagierten damit auf die Beobachtung, dass sie selbst in den Diskursen über Behinderung als Akteure nicht vorkamen und lediglich als Objekte medizinischer und pädagogischer Forschung galten. 76 Ihr Ansatz ist insofern mit dem der britischen Aktivist_innen zu vergleichen, als dass er in zwei von drei wesentlichen Punkten deckungsgleich erscheint: Er definiert zum einen Behinderte als eine unterdrückte gesellschaftliche Gruppe und differenziert zum anderen zwischen der individuellen Schädigung (impairment) auf der einen Seite und der Diskriminierung bzw. der gesellschaftlichen Behinderung auf der anderen Seite. In einem wesentlichen Punkt, den zum Beispiel Shakespeare/Watson (2002) als Grund für die äußerst kritische gegenseitige Rezeption der Disability Studies in den USA und Großbritannien anführen, unterscheiden sich die beiden nationalen Strömungen des sozialen Modells: Während für die britischen Aktivist_innen die soziale Benachteiligung die tatsächliche Behinderung (disability) darstellt, gingen ihre USamerikanischen Genoss_innen in diesem Punkt weniger weit und betonten stattdessen den Zusammenhang zwischen körperlicher Schädigung und sozialer Behinderung. 77 Nordamerikanische Vertreter_innen wie Irving Kenneth Zola, David T. Mitchell oder Sharon L. Snyder haben sich dieser Position durch literatur-,

74 Swantje Köbsell hat Menschen mit Behinderung zu ihrem Verhältnis mit Ärzten selbst befragt; ihre Einschätzung nach einer nach eigenen Angaben nicht repräsentativen, jedoch aussagekräftigen Befragung von Betroffenen, ist jene, dass »Behinderte kein vertrauensvolles Verhältnis zur Medizin aufbauen [könnten], so sehr sie gleichzeitig auf deren Leistungen angewiesen sind.« Daraus leitet sie ab, dass »eine Veränderung des Menschenbildes in der Medizin dringend erforderlich« sei, um Menschen mit Behinderung künftig aufgrund ihrer Behandlung nicht mehr als defizitorientiert und deviant zu markieren. Vgl. Köbsell 2003, S. 40. 75 Vgl. Theunissen, Georg: Die Independent Living Bewegung. EmpowermentBewegungen machen mobil. In: Behinderte und Familie, Schule und Gesellschaft (3/4) 2001, online verfügbar unter http://bidok.uibk.ac.at/library/beh3-4-01-theuniss en-independent.html (letzter Zugriff am 08.05.2016). 76 Vgl. Dederich 2007, S. 22. 77 Vgl. Shakespeare/Watson 2002, S. 4.

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kultur- und sprachwissenschaftliche Ansätze genähert bzw. diese verstärkt und sich zugleich größtenteils in poststrukturalistische Theorien eingeschrieben. 78 Wenngleich das soziale Modell also in der US-amerikanischen wie auch in der britischen Behindertenbewegung in den 1970er Jahren zu verorten ist, so wurde insbesondere dessen britische Ausprägung im Laufe der Zeit von ihren eigenen Pionieren einer heftigen Kritik unterzogen, obwohl sie gleichsam die Stärken des Modells betonten. Dies ist sicherlich zum einen seine Anwendbarkeit als politisches Instrument, um auf Zugangsschwierigkeiten oder mangelnde Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe von behinderten Menschen aufmerksam zu machen, und es ist ebenso als psychologisches Instrument zu verstehen, das zu einem erhöhten Selbstwertgefühl behinderter Menschen beigetragen 79 und »meist einen offenbarenden und befreienden Effekt« 80 hat. Die Kritik bezog sich deshalb u.a. auf die Körpervergessenheit des Modells und die damit immer wieder neu aufgerufene Dichotomie von Natur und Kultur, eine Kritik, die den sich aus der Behindertenbewegung jener Zeit herausbildenden wissenschaftlichen Diskurs der Disability Studies wesentlich beeinflusste und aus der Perspektiven für eine kultur- und medienwissenschaftliche Betrachtungsweise gewonnen werden können, wie zu zeigen sein wird. c) Das kulturelle Modell – ein neuer Zugang zu den Disability Studies? Wie Anne Waldschmidt mehrfach betont hat, beruht das soziale Modell auf einer »kruden Dichotomie von Natur und Kultur« 81 in Form der Trennung von impairment und disability. Die tatsächliche Schädigung wird nicht als ebenso sozial und kulturell konstruiert wie die gesellschaftliche Beeinträchtigung anerkannt und stattdessen durchweg von den Vertreter_innen des starken sozialen Modells negiert, zum Beispiel aus politischen Gründen, um nicht hinter die eigenen For-

78 Zum Beispiel: Davis 1995; Longmore, Paul K./Umansky, Lauri (Hrsg.): The new disability history. American Perspectives. New York: New York University Press 2001; Snyder, Sharon L./Mitchell, David T.: Cultural Locations of Disability. Chicago: University of Chicago Press 2006 u.v.m. 79 Vgl. Shakespeare 2010, S. 268f; Mike Oliver zum Gemeinschaftsgefühl, das das soziale Modell hervorgerufen habe: »The social model was a way of getting us all to think about the things we had in common, and the barriers we all faced.« Oliver 2004, S. 18-31. 80 Thomas 2004, S. 33. 81 Waldschmidt 2005b, 2006, 2012.

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derungen im Rahmen der Behindertenbewegung zurückzufallen. 82 Damit wird der Körper der Medizin und den Gesundheitswissenschaften überlassen und der Vorwurf eines essentialistischen Kerns seitens des sozialen Modells erscheint auf eine bedrängende Art und Weise berechtigt, da er damit wesentliche körpersoziologische Aspekte schlichtweg ausblendet und ausgerechnet die leiblichen Dimensionen von zum Beispiel Schmerz und Leiden ignoriert. 83 Tom Shakespeare und Nicholas Watson formulierten dieses Problem für sich als von Behinderung betroffene Wissenschaftler folgendermaßen: »We are not just disabled people, we are also people with impairments, and to pretend otherwise is to ignore a major part of our biographies«. 84 Sie erkennen dabei die berechtigte Sorge der Vertreter_innen des starken sozialen Modells an, dass dadurch Behinderung wieder auf die individuelle Schädigung und ihre medizinische Therapie- und Heilungsmöglichkeiten zurückgeführt werden könnte, schlagen jedoch vor, das theoretische Potenzial einer Berücksichtigung körperlicher, psychologischer, kultureller, sozialer und politischer Faktoren für ein neues Modell von Behinderung zu nutzen, um damit auch letztendlich der genannten Dichotomie von impairment und disability entgegenzutreten. 85

82 So warnte Tom Shakespeare, bevor er zu einem der stärksten Kritiker des sozialen Modells wurde: »Be rigorously careful to use the term ›impairment‹ for the physical experience and ›disability‹ for the social experience, or else we open the way for confusion or counter-attack.« Shakespeare 1992, zitiert nach Siminski, Peter: Patterns of Disability and Norms of Participation through the Life Course: empirical support for a social model of disability. In: Disability and Society 18 (6) 2003, 707-718, hier S. 709. 83 Diese Vorwürfe an das soziale Modelle kamen in erster Linie aus dem feministischen Flügel der Behindertenbewegung; so hat Jenny Morris als eine der Ersten darauf hingewiesen, dass die persönliche Erfahrung von Schmerz und Leiden für Menschen mit Behinderung nicht ausgeblendet werden dürfe, um ›Behinderung‹ adäquat beschreiben zu können. Vgl. Morris, Jenny: Pride Against Prejudice. London: Women’s Press 1991. Mike Oliver wehrte sich gegen den Kritikpunkt, dass die Dimension des Schmerzes ausgeblendet werden würde und somit die persönliche Erfahrung von Behinderung; Oliver zufolge gründe die Behindertenbewegung ja genau auf dieser Erfahrung, weshalb dem Ansinnen der Disability Studies und des sozialen Modells die körperliche Dimension stets mit eingeschrieben sei. Oliver 2004, S. 18-31. Vgl. auch Kuhlmann, Andreas: Schmerz als Grenze der Kultur. Zur Verteidigung der Normalität. In: Lutz/Macho/Staupe/Zirden 2003, S. 121-127. 84 Shakespeare/Watson 2002, S. 11. 85 Vgl. ebd., S. 19.

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Dennoch und nicht zuletzt haben das medizinische und das soziale Modell eines gemeinsam: Sie behandeln Behinderung als Problem, das einen Lösungsbedarf anzeigt – einmal in Form von Therapie und Rehabilitation, einmal als Abbau von gesellschaftlichen Barrieren. 86 Diese Haltung verweist deutlich auf die Ursprünge beider Modelle als anwendungsorientierte Programme, auf welche sie auch der für die Disability Studies als ein sich in seiner Etablierung befindender Wissenschaftsansatz schwerwiegende Vorwurf bezieht, dass es sich beim sozialen Modell nicht um eine ausgereifte Sozialtheorie von Behinderung handle. Darauf antwortete der ›Begründer‹ des Modells in Großbritannien, Mike Oliver, dass weder er noch seine aktivistischen Zeitgenoss_innen jemals diesen Anspruch erhoben hätten und dass seiner Ansicht nach das soziale Modell ein praktisches Instrument für den gesellschaftlichen Wandel sei, aber sicherlich keine belastbare Theorie. Doch wie ist dann die Verbindung zwischen dem sozialen Modell und dem Wissenschaftsansatz der Disability Studies zu bewerten? Wird in der Forschungsliteratur das soziale Modell als Grundlage der Disability Studies erwähnt, so scheinen sich die Autor_innen in erster Linie auf die Abgrenzung vom medizinischen und die Hinwendung und Etablierung des sozialen Modell zu beziehen. Ohne hier von einem zu den vielen anderen literaturund kulturwissenschaftlichen turns der letzten Jahrzehnte analogen disability turn zu sprechen, so vollzieht sich die Veränderung der Betrachtungsperspektive von Behinderung jedoch an der Nahtstelle zwischen dem gesellschaftspolitischen Anspruch der Behindertenaktivist_innen und dem Bemühen ihres wissenschaftlichen Flügels, das praktisch gedachte soziale Modell für eine theoretische Analysekategorie fruchtbar zu machen. Dies entspräche der Charakterisierung eines turns durch Bachmann-Medick, dass von diesem erst zu sprechen sei, »[…] wenn der neue Forschungsfokus von der Gegenstandsebene neuartiger Untersuchungsfelder auf die Ebene von Analysekategorien ›umschlägt‹, wenn er also nicht mehr nur neue Erkenntnisobjekte ausweist, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium wird.« 87 Stephan Moebius hat an dieser Auffassung zu recht kritisiert, dass Bachmann-Medick damit andeute, dass jeder ausgerufene turn wesentliche Verschiebungen in allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen mit sich gebracht habe oder bringen könnte, dies aber nur für den linguistic turn der Fall gewesen sei, der es nun insgesamt erlaube, Identitäten, Praktiken und Wissensordnungen als Differenzen zu denken. 88 Durchaus – und deshalb für die Beschreibung der Disability Studies von Bedeutung – haben diese ähnlich den 86 Vgl. Waldschmidt 2005b, 2006, 2012. 87 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Verlag 2006, S. 26. 88 Vgl. Moebius 2012b, S. 10.

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Queer oder Gender Studies den Fokus weg von einer einseitigen Betrachtung von Behinderung als isoliertes und individuelles Phänomen und hin zu einer umfassenderen Analyse des Verhältnisses von sogenannter ›Normalität‹ und ›Behinderung‹ in gegenseitiger konstitutiver Abhängigkeit ermöglicht. Dieser Ansatz einer Etablierung der Disability Studies in einem sich immer weiter ausdifferenzierenden kulturwissenschaftlichen Forschungsfeld verlangt nach einer Antwort auf die Kritik am sozialen Modell und zugleich ein Zugeständnis seitens der Disability-Aktivist_innen, dass eine theoretische Annäherung an die Kategorie der Behinderung keinesfalls die Negierung gesellschaftlicher Barrieren und Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderung bedeutet, sondern vielmehr die Tür öffnet für eine breite Diskussion über die historische, soziale und kulturelle Konstruktion von impairment und disability in gleichem Maße. Die bekannteste deutsche Disability-Forscherin Anne Waldschmidt hat bereits 2005 einen ersten Vorschlag zu einem kulturellen Modell von Behinderung gemacht, welches das soziale Modell (entgegen der Forderung von Shakespeare/Watson oder Hughes/Paterson 89) nicht ersatzlos streicht oder ersetzt, sondern vielmehr für die oben genannte wissenschaftliche Auseinandersetzung fruchtbar macht. Im Zuge dessen soll »das Verhältnis von symbolischen (Wissens-)Ordnungen und alltagspraktischen Kategorisierungsprozessen sowie deren ›wirk-lichen‹, im Sinne von handlungswirksam werdenden, Folgen für die Lebensbedingungen der Beteiligten, das heißt der Menschen mit und ohne Behinderung, ihre sozialen Bezüge und Selbstverhältnisse« 90 in den Blick genommen werden. Sie schreibt sich dabei einerseits in kulturwissenschaftliche Disability-Diskurse USamerikanischer Prägung ein, wie sie beispielsweise Sharon L. Snyder, David T. Mitchell oder Lennard J. Davis für ihre eigenen Arbeiten genutzt haben 91, andererseits entwickelt sie Grundzüge einer eigenen Programmatik der Disability Studies (auch für den deutschsprachigen Raum), die den heuristischen Charakter ihrer eigenen Modellbildung anerkennt. 92 ›Behinderung‹ will Waldschmidt im Anschluss an das soziale Modell eben nicht als pathologische Gegebenheit oder als essentialistische Eigenschaft, sondern vielmehr als Differenzkategorie in Bezugnahme auf die jeweils »vorherrschenden symbolischen Ordnungen und institutionellen Praktiken von Normalität und Abweichung, von Eigenem und Frem-

89 Vgl. Shakespeare/Watson 2002, S. 9-28; Hughes/Paterson 1997, S. 325-340. 90 Schneider/Waldschmidt 2012, S. 143. 91 Vgl. exemplarisch Snyder/Mitchell 2006; Davis, Lennard J.: Bending over backwards. Disability, dismodernism, and other difficult positions. New York: New York University Press 2002 u.v.m. 92 Vgl. Schneider/Waldschmidt 2012, S. 143.

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dem, von Vertrautheit und Andersheit« 93 und somit als »erkenntnisleitendes Motiv« 94 verstanden wissen. Diese Betrachtungsweise ermöglicht einen Perspektivwechsel in den Disability Studies, der nicht von der ›Normalgesellschaft‹ aus das als behindert markierte Individuum untersucht, sondern dieses Verhältnis umkehrt und so die Herausbildung neuen Wissens über moderne Gesellschaften im Wandel vom Standpunkt der Konstruiertheit von impairment und disability aus gestattet. 95 Der Kritik am sozialen Modell in seiner Körpervergessenheit und Problemorientierung begegnet Waldschmidt, indem sie sich für eine Form der »Cultural Disability Studies« stark macht, welche im Anschluss an die Körpersoziologie »die Re- und Dekonstruktion der am Körper ansetzenden diskursiven und institutionellen Praktiken und der dahinterstehenden Werte, Normen und Deutungen« fokussiert und den geschädigten Körper weder als zu lösendes Problem wie im medizinischen Modell betrachtet noch ihn im Sinne des starken sozialen Modells ignoriert. 96 Markus Dederich versteht deshalb in Bezugnahme auf Waldschmidt die Disability Studies in ihrer kulturwissenschaftlichen Ausprägung als »eine differenzierte methodische und theoretische Optik für die Erforschung des Themas Behinderung« 97, die sich von der ideologisch-aktivistischen Ausrichtung des sozialen Modells zwar nicht ablöst, aber sich so weit entfernt, dass ein Partei-Ergreifen für den Wandel der Gesellschaft durch eine fundierte Kultur- und Sozialkritik möglich bleibt. Waldschmidts Ansatz möchte ich hier die Untersuchungen des Soziologen Michael Schillmeiers an die Seite stellen, der in einem für die deutschsprachigen Disability Studies wichtigen kultursoziologischen Sammelband (Waldschmidt/Schneider 2007) nicht etwa ein neues Modell von Behinderung vorschlägt, sondern gezielt eine »soziale Theorie der Praxis von Behinderung« oder auch eine Praxistheorie von Behinderung fordert, die auf diese Weise am gegenseitigen Ausschluss des medizinischen und des sozialen Modells und ihrer jeweiligen Ablehnung von disability bzw. impairment ansetzt. 98 Ähnlich wie Waldschmidt wendet er sich damit von einem Entweder/Oder von Natur bzw. Kultur von Behinderung ab, um gleichsam auf die Körpervergessenheit des sozialen Modells zu reagieren. Jedoch vermeidet er den heuristischen Begriff des ›Mo93 Ebd., S. 145. 94 Ebd., S. 144. 95 Diese Ansicht ist gleichsam als schwierig zu beurteilen, da sie nicht die Kategorien von ›normal‹ und ›nicht normal‹ auflöst, sondern sie vielmehr ebenso als gegeben annimmt und verfestigt. 96 Vgl. Schneider/Waldschmidt 2012, S. 147f. 97 Dederich 2007, S. 41. 98 Schillmeier 2007b, S. 82.

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dells‹, obwohl er Waldschmidts Anknüpfen an Foucault bezüglich der Relevanz der Diskursivität von Behinderung teilt: Diskurse sind »als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen«. 99 Die daraus erfolgende Ereignishaftigkeit dieser Praktiken konstatiert Schillmeier auch für das Phänomen ›Behinderung‹ und akzentuiert im Zuge dessen, dass die Betonung nicht auf dem naturalistischen »Behindert-Sein«, sondern auf dem »Behindert-Werden« in seinem Zusammenspiel zwischen sozialen und nichtsozialen Akteuren liegt – womit er sich in die Tradition von Theorien der Science and Technology Studies (STS) oder auch der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) stellt. 100 Dieses ›Werden‹ von Behinderung in seinem beweglichen und prozessualen Charakter ist dementsprechend gekennzeichnet durch das »situative Ineinanderwirken und Verknüpftsein von menschlichen und nicht menschlichen Akteuren, Prozessen und Praktiken, welche die komplexen und kontingenten, guten wie schlechten Erfahrungen von Behinderung, von verhindernden oder einschränkenden wie ermöglichenden (dis/abling) Szenarien aktualisieren.« 101 Die Konsequenz daraus wäre die Annahme von »multiplen Realitäten« von Behinderung, die sich nicht in einer Theorie oder einem Modell zusammenfassen ließen, sondern immer wieder danach verlangen, die Praktiken der Diskursivierung gezielt herauszuarbeiten und zu analysieren. 102 Waldschmidt benennt in ihren frühen Skizzen des kulturellen Modells dieses Zusammenwirken von sozialen/nicht sozialen Objekten zwar nicht in der selben Konsequenz wie Schillmeier und bleibt dabei näher an Foucaults Auslegung von Machtpraktiken, jedoch räumt sie in einer neueren Veröffentlichung dezidiert nun den ›Dingen‹ eine nicht unwesentliche Rolle für die künftige kulturwissenschaftliche DisabilityForschung ein: »Hierbei [bei der Erweiterung der Disability Studies, A.G.] kommt für zukünftige Forschungen den Bildern, Medientechnologien und Körpern, den technischen Objekten, materiellen Artefakten und Räumen eine zentrale Bedeutung zu.« 103 Ähnlich wie Schillmeier macht sie sich deshalb für eine neue Auffassung von »dis/ability« stark, in welcher (hier durch den Schrägstrich

99

Foucault 1981, S. 74.

100 Zur Akteur-Netzwerk-Theorie vgl. einführend: Belliger, Andréa/Krieger, David J. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript 2006. 101 Schillmeier 2007b, S. 91. 102 Vgl. Schillmeier 2007b, S. 88. 103 Schneider/Waldschmidt 2012, S. 149.

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angezeigt) »die Verschränkungen und Verknüpfungen, das Wechselspiel von ›normal‹ und ›behindert‹« 104 zur Grundlage aller Untersuchungen werden. Verbindet man nun diese offenere kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Disability Studies und der im Zuge dieser Skizzierung konstatierte Relevanz von Bildern – auch und gerade im Sinne der Visual Studies als soziale Ereignisse – mit dem von Dederich für die den Disability Studies zugeschriebene Funktion einer »Optik« 105, so wird einmal mehr deutlich, dass eine vereinfachte Auffassung von Bildern von Behinderung als schlichte Darstellungen eines »ça-aeté« 106 zu kurz greifen und stattdessen an einer theoretischen Schnittstelle von Visual Studies und Disability Studies danach geforscht werden muss, wie diese Visualisierungen von Behinderung als soziales/nicht-soziales Aussagesystem zwischen materiellen Bildern im Sinne von Artefakten und dem dispositiv zugerichteten Blick des Betrachters Wissen über Behinderung hervorbringen und immer wieder neu aushandeln. Im nächsten Abschnitt dieses einführenden Kapitels gilt es deshalb nun, in einer Zusammenschau der vorgestellten Ansprüche der beiden Studies und ihrer Modell- und Begriffsbildung diese Schnittstelle unter den Vorzeichen der von Schillmeier geforderten Praxistheorie herauszuarbeiten, bevor der Blick auf die Kulturen und Praktiken des Sehens von Behinderung im fotografischen Medium gerichtet werden soll. 2.1.3 Doing Images – Doing Dis/ability Wie bereits erwähnt haben die Studies in den letzten Jahren als interdisziplinäre Kulturforschung(en) an Bedeutung gewonnen. So vereinen sie (wie auch die Visual und die Disability Studies) nicht nur Ansätze aus nahezu allen kultur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen, sondern beziehen auch rechtsund naturwissenschaftliche Überlegungen in ihre Forschungen ein und reflektieren deren Verhältnis zueinander kritisch. Dabei werden die Disability Studies und die Visual Studies mit unterschiedlichen Kritikpunkten konfrontiert: Aufgrund des breiten Gegenstandsbereiches der Visual Studies, der sich auf einen weit gefassten und immer wieder neu diskutierten Bildbegriff beruft, wurde im104 Ebd., S. 149. Interessant in diesem Zusammenhang ist beispielsweise die Fallstudie von Myriam Winance, in welcher sie unter dem Fokus der Akteur-Netzwerk-Theorie und der Phänomenologie die Verschränkung von Menschen und Rollstuhl als gegenseitige Hervorbringung beschreibt: Winance, Myriam: Trying out the Wheelchair. The Mutual Shaping of People and Devices through Adjustment. In: Science Technology Human Values 31 (52) 2006, S. 52-72. 105 Dederich 2007, S. 40. 106 Barthes 2008, S. 87.

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mer wieder befürchtet, dass dadurch eine »Erosion fachspezifischer Kenntnisse« Einzug in die traditionellen und grundständigen Theorien und Disziplinen halten und diese im Zuge dessen ›verwässern‹ könnten. 107 Die Disability Studies hingegen haben noch damit zu kämpfen, einerseits deutliche Grenzen zu den »NotDisability-Studies« 108 zu ziehen und andererseits durch den im kulturellen Modell vorgeschlagenen Perspektivwechsel ihren Gegenstandsbereich eher zu erweitern als zu verkleinern, wie es immer wieder für die Visual Studies gefordert wurde. Ersteres ist aufgrund der stellenweise noch zaghaften Kommunikation zwischen den traditionellen Rehabilitationswissenschaften wie Medizin und Sonderpädagogik und denen sich im sozialen Modell von Behinderung entfaltenden neuen Denkweisen von Behinderung in Abgrenzung dazu noch im Entstehen begriffen. 109 Letzteres setzt eine breite Anerkennung kulturwissenschaftlicher Ansätze voraus, welche Behinderung eben nicht als isoliertes Einzelphänomen betrachten, sondern die ›Normalgesellschaft‹ in Abhängigkeit zu den Zuschreibungen von Behinderung denken. Unter anderem an diesen vermeintlich gegenläufigen Tendenzen des Erweiterns und des Fokussierens liegt das Potenzial für den Versuch einer produktiven Zusammenschau beider Studies unter einer beide Bereiche tangierenden Fragestellung wie jene dieser Untersuchung nach den Bedingungen des Sehens und Wahrnehmens von Normalität und NichtNormalität: Der von der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Disability Studies als besonders bedeutsam erachtete »dis/abled body« wird, so Gesa Ziemer, letztlich durch Blicke konstruiert und kategorisiert, weshalb eine Erforschung dieses gezielten Sehvorgangs die »Konditionierung unserer Wahrnehmung« 110 freizulegen vermag. 111 Sichtbarkeitsverhältnisse (und eben nicht Bilder an sich) sind einerseits von unserem Verständnis und Wissen über Behinderung bestimmt und andererseits richten sie dieses Wissen von Behinderung überhaupt erst zu. Damit beschränkt sich das Untersuchungsfeld zum einen nicht auf die Sichtbarkeit eines ›Defektes‹ oder ›Mangels‹ in Form einer auf der Oberfläche des menschlichen Körpers manifestierten Schädigung, sondern wendet sich bewusst auch jenen Bildern zu, die aufgrund ihrer formalen Gestaltung sich von dem absetzen, was ein Betrachter als ›normal‹ wahrnimmt. Zum anderen ist dieser Untersuchungsansatz nicht an einer Verarbeitung von ›Behinderung‹ anhand

107 Vgl. Moebius 2012, S. 11f; Rimmele/Stiegler 2012, S. 162. 108 Dederich 2007, S. 51. 109 Vgl. Weisser, Jan: Disability Studies und die Sonderpädagogik. In: Ders./Renggli 2004, S. 27-30. 110 Bergermann 2013, S. 291. 111 Vgl. Ziemer 2008, S. 115.

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eines »Drehens durch die postmoderne Mühle« 112 interessiert, um sie dadurch erneut zu naturalisieren und ihr als eingegrenztes Produkt wieder den Status einer ontologischen Gegebenheit zuzuweisen. Vielmehr geht es darum, das Verhältnis von dem, was als ›normal‹ wahr- und hingenommen wird, und dem, was aus diesem Normalitätsfeld aufgrund des Sehens und des (Bilder-)Wissens ausgegrenzt wird, in seinen Verschiebungen und den für diese Verschiebungen relevanten Akteure beschreibbar zu machen – und dabei die Machtkonstellationen zu untersuchen, die diese Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung produzieren. Diese Konstellationen sind weder durch das reine Arretieren einer sichtbaren körperlichen Beeinträchtigung im Bildmedium im Sinne einer vereinfachten Abbildlogik bedingt, noch rühren sie von einer grundsätzlich diskriminierenden Haltung eines (nicht-behinderten) Betrachters her: Zu Beginn steht die erste Annahme, dass das Sehen nicht als ein rein physiologischer Vorgang zu verstehen ist, sondern als komplexes Zusammenspiel von Praktiken, Subjekten, Objekten, von Wissen und Arrangements des Sehens und sowie Praktiken der Visuali112 Ich entnehme dieses Zitat einer Email (vom 17.06.2012) einer Leserin des Ankündigungstextes zum von Beate Ochsner und mir herausgegebenen Sammelband »Andere Bilder«, der im Januar 2013 im transcript-Verlag erschienen ist. Die Leserin beklagte, dass es für sie als selbst von Behinderung betroffene Frau nur schwer zu begreifen sei, weshalb das Thema Behinderung nun auch noch von Seiten der Visual Studies beleuchtet werden müsse, da sie sich durch diese Betrachtungsweise diskriminiert fühle. Abgesehen von der Tatsache, dass dies nicht die Absicht der Herausgeberinnen gewesen ist, zeigt sich hier eine Schwierigkeit, mit der sich auch diese Studie konfrontiert sieht: Das Sprechen über Behinderung und vor allen Dingen das erneute Wiederaufführen von Bildern von Behinderung, die dazu beitragen, dass manche Menschen mit Behinderung sich diskriminiert und angegriffen fühlen, bestätigt so auch Machtstrukturen, deren Analyse und Dekonstruktion sich eigentlich auch dieses Forschungsvorhaben verschrieben hat. So weist Ulrike Bergermann im Anschluss an Judith Butler zurecht darauf hin, dass »verletzende Rede […] vielmehr dann [stattfinde], wenn die möglichen Kontexte verloren gingen.« Vgl. Bergermann, Ulrike: MONSTRARE. Zum Ausstellen von Dis/ability. In: Loreck, Hanne/Mayer, Katrin (Hrsg.): Visuelle Lektüren – Lektüren des Visuellen. Hamburg: TextemVerlag 2009, S.177-192, hier S. 181. Der Kontext dieser Untersuchung ist das fotografische Archiv und nicht zuletzt der Ansatz, nicht die abgelichteten Menschen als von vornherein ›behindert‹ zu begreifen, sondern die sozio-medialen Strategien und Praktiken herauszuarbeiten, die sie in und durch die Fotografie ›behindert machen‹ – was nicht im geringsten die Tatsache ausschließt, dass Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung in ihrem Alltag und in ihren Teilhaberechten tatsächlich be-hindert werden.

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sierung und Ins-Bild-Setzung dieser Subjekte und Objekte durch bestimmte Techniken auf einem materiellen Träger. Die zweite Annahme ist nun, dass unter dem Fokus des kulturellen Modells von Behinderung diese weder als biophysische Entität noch als eine den Körper ausschließende und sich lediglich auf die gesellschaftliche Diskriminierung und Markierung als ›behindert‹ berufende, sondern als ein in Diskursen produziertes und prozessiertes Wissen anzuerkennen ist, das Unterscheidungen ermöglicht. In der Verschränkung dieser beiden dynamischen Begrifflichkeiten und den sich somit in ihrer Struktur durchaus ähnelnden Auffassungen von Bild und Behinderung, lassen sich beide Begriffe als ein sich immer wieder erneuerndes und damit veränderndes ›Werden‹ oder ›Ereignen‹ in Form eines »doing dis/ability« 113 und »doing images« 114 verstehen. Dieses ›doing‹ als englisches Partizip Präsens drückt die tiefgreifende Wechselwirkung bzw. das Zusammenspiel von multiplen im Werden begriffenen Praktiken aus, vollzogen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, welche in ihrer Gesamtheit für das ›wie‹ des Vollzugs verantwortlich. 115 Eine als in der »Theorie sozialer Praxis« zu verortende Methode zur Beschreibung dieses ›doing‹ umfasst Andreas Reckwitz zufolge auch Ansätze der Akteur-NetzwerkTheorie (ANT) sowie der Science and Technology Studies (STS), welche eben jenen nicht-menschlichen Akteuren als technischen Dingen einen besonderen Stellenwert zukommen lässt: »Diese [nicht-menschlichen Akteure, A.G.] lassen sich nicht auf instrumentelle Hilfsmittel reduzieren, sondern ermöglichen und begrenzen erst bestimmte Verhaltensweisen […]« und können so »unter dem

113 Michael Schillmeier führt diese Analogie nicht aus, jedoch lässt sich seine Beschreibung der »dis/abling practices« stimmig in ein ›doing dis/ability‹ überführen, wenn man dazu einen Vergleich mit der Begriffsbestimmung von Hörning/Reuter (»doing culture«) versucht. Vgl. Schillmeier, Michael: Dis/Abling Practices. Rethinking Disability. In: Human Affairs (17) 2007, S. 195-208; Hörning, Karl H./Reuter, Julia: Doing culture. Kultur als Praxis. In: Dies. (Hrsg.): Doing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript 2004. 114 Der Titel der spannenden Studie von Regula Burri lautet »Doing images«, wobei sie allerdings den Schwerpunkt ihrer Analyse auf apparativ generierte medizinische Bilder legt, ich diesen Begriff allerdings auch für das klassische fotografische Verfahren verstanden wissen möchte. Vgl. Burri, Regula: Doing Images. Zur Praxis medizinischer Bilder. Bielefeld: transcript 2008. 115 Vgl. Hirschauer, Stefan: Praktiken und ihre Körper. Über materielle Partizipanden des Tuns. In: Hörning/Reuter (Hrsg.): Doing culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis. Bielefeld: transcript 2004, S. 73-91, hier S. 75; Reckwitz 2003, S. 283.

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Aspekt ihres mit ›know how‹ ausgestatteten und veränderbaren Gebrauchs betrachtet werden.« 116 Michael Schillmeier macht sich deshalb, wie bereits aufgezeigt, für ›Behinderung‹ im Sinne eines produktiven Ereignisbegriffes im Anschluss an die ANT bzw. die STS stark, welcher eben nicht die individuelle Schädigung und die Erfahrung des Behindert-Werdens in die Naturalisierung eines Behindert-Seins überführt, aber diese körperlich-individuellen Erfahrungen ebenso wenig verleugnet und sie stattdessen als »soziale Ereignisse, welche die Herstellung der sozialen Relevanz physiologischer Zusammenhänge sichtbar machen« versteht. 117 Insofern muss in einer Arbeit, die sich an der Verknüpfung von Visual und Disability Studies versucht, auch danach gefragt werden, inwiefern Bilder als sich zwischen materieller Entität und Betrachter vollziehende und durch ein (technologisches) Interface vermittelte Ereignisse am ›Behindert-Werden‹ als ein sich zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren vollziehendes Wechselverhältnis beteiligt sind. Konkret bedeutet dies für Bilder ebenso wie für Behinderung, dass sie aufgrund ihrer sozio-technischen bzw. sozialen/nicht sozialen Determiniertheit nicht als essentialistische Gegebenheiten betrachtet werden sollten, sondern daraufhin untersucht werden müssen, wie sie in gegenseitiger Referenznahme das Verhältnis zwischen dem, was gesehen wird und dem, wie es gesehen wird, neu kalibrieren. Dabei gilt es einer archäologischen Ausgrabung gleich die Schichten freizulegen, um herauszufinden, wie es dazu kommt, dass diese Praktiken ›am Laufen gehalten‹ werden und wie aus ihrer sorgfältigen Analyse Rückschlüsse auf die sie vollziehenden Personen, Personengruppen (Träger) und Dinge gezogen werden können, ferner eine »Vollzugswirklichkeit« hergestellt wird. 118 Es geht im Rahmen dessen also im Wesentlichen nicht darum, Kategorien und/oder eine Kritik an einer wie auch immer gearteten ›Behindertenästhetik‹ oder Typologie zu formulieren und demgemäß zwischen ›guten‹ und ›schlechten‹ Repräsentationen zu unterscheiden. Stattdessen ist durch die Grundlage eines praxeologischen Zugriffs die Möglichkeit geschaffen, ›doing images‹ und ›doing dis/ability‹ als Ereignisse und damit in ihrem sich permanent erneuernden Vollzug zu denken und an konkreten Bildern aufzuzeigen, unter welchen historischen, sozialen, technischen und kulturellen Bedingungen sich die Differenzierung zwischen Normalität und Nicht-Normalität durch und anhand des Sehens von Bildern verfertigt und wie in diesem Sich-Vollziehen Machtverhältnisse mittels von Selbst- und Fremdzuschreibungen verwirklicht

116 Reckwitz 2003, S. 284f. 117 Vgl. Schillmeier 2007b, S. 82. 118 Vgl. Hirschauer 2004, S. 73; Reckwitz 2003, S. 292.

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werden. 119 Der behinderte Körper kann somit als einer gouvernementalen Macht unterworfen gedacht werden, die dafür sorgt, ihn mit Hilfe verschiedener Techniken in ständiger Referenz auf den nicht-behinderten Körper hin zu normalisieren und ihm einen Platz in der sich permanent ändernden gesellschaftlichen Ordnung zu geben. 120 Und gerade für das Sehen von Behinderung ist dieser Körper unabdingbar, denn er »wird dann zu einem für das Behinderungsdispositiv relevanten Objekt, wenn – wie Foucault gezeigt hat – der Blick ins Spiel kommt […]« 121. Eben jener Blick, so meine These, erweist sich als bedeutungsstiftender Teil von Behinderung im fotografischen Medium. Dabei, und das scheint der wesentliche Zugriffspunkt für die Medien(kultur)wissenschaft zu sein, ist es eben nicht der Körper selbst, der wahrgenommen wird, sondern es ist eine Mediatisierung des Körpers in Form eines fotografischen Bildes. Gerade die Fotografie zeichnet sich nicht nur durch einen breiten wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Diskurs aus, sondern durch einige nur ihm inhärente und ebenso nur ihm beigemessene Merkmale, die die Frage nach dem Sehen von Behinderung besonders beeinflussen, um nicht zu sagen: konstituieren. Im nächsten Unterkapitel werde ich deshalb den hier entwickelten Bildbegriff in seiner Ereignishaftigkeit für die Fotografie diskutieren. Dabei gilt es die an die Fotografie gemachte Zuschreibung als ein rein indexikalisches Zeichen zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu machen, da diese Attribuierung im fototheoretischen Diskurs seit ihrer Erfindung oder Entdeckung ebenso affirmativ bestärkt wie auch kritisch diskutiert worden ist. Der damit einhergehende Disput um die fotografische Fähigkeit der Abbildtreue führt uns auf der Produktions- wie auch auf der Rezeptionsebene zu einer wichtigen Frage, die auf das Sehen und Nicht-Sehen von Behinderung in der Fotografie einwirkt: Inwiefern bestimmt die mediale Technik bzw. das fotografische Verfahren die Wahrnehmung des im Bild arretierten Sujets? Welche Rolle spielt diese mediale Eigenlogik der Fotografie für den Diskurs um die Konstruktion von Behinderung als Ereignis im und außerhalb des Bildes? Und in welchem Verhältnis steht sie zum Sehen als kulturell präformierte Praxis?

2.2 F OTOGRAFIE UND B EHINDERUNG Rosemarie Garland-Thomson, die in der Forschungsliteratur häufig als jene Disability-Theoretikerin bezeichnet wird, die sich als eine der Ersten mit der 119 Vgl. Hörning/Reuter 2004, S. 11. 120 Vgl. Waldschmidt 2007, S. 68. 121 Waldschmidt/Schneider 2007, S. 72.

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Verschränkung von Visual und Disability Studies beschäftigt hat, weist in einem Essay von 2001 in Zusammenhang mit den Psychiatriefotografien von Hugh Welch Diamond bereits auf den besonderen Status der Fotografie hinsichtlich der Repräsentation von Behinderung hin: »As a form of representation, photography carries out more truth value than other images; in other words: we think of photographs as being closer to reality, as more reliable sources of truth that, say, drawings or even verbal representations. […] photographs of disabled people recapitulate cultural ideas about disability at the same time that they perpetuate those beliefs.«

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Sie bringt so zwei bereits in dieser Studie genannte Hypothesen zur soziomedialen Konstruktion von Behinderung zur Sprache. Zum einen die Präformierung der fotografischen Botschaft aufgrund ihrer sozialen und technischen Bedingtheit, zum anderen die Wechselwirkung von (Vor-)Bildern und Behinderung, wobei sie hier allerdings nur auf das ›Werden‹ von Behinderung durch das Sehen und nicht auf das Bild als visuelles Ereignis referiert. Nicht zuletzt – und hier setzt nun meine Kritik an – vernachlässigt sie einen wichtigen Gedankengang, der ihren Annahmen eigentlich implizit und zugleich entscheidend für den ›Wahrheitsgehalt‹ von Fotografien ist: die indexikalische Eigenschaft der Fotografie. Diese ist im Zuge des proklamierten »Ende[s] des fotografischen Zeitalters« 123 in Form eines Untergangs der analogen Fotografie bzw. der sukzessiven Verringerung ihrer technischen, sozialen und kulturellen Bedeutung und aufgrund des Siegeszuges digitaler Aufzeichnungsmöglichkeiten schon vielfach beschworen worden: »Die Photographie war einmal die Vera Icon der Moderne«, 124 konstatiert Hans Belting nahezu melancholisch, und auch Beat Wyss sieht den künftigen Stellenwert der Fotografie kritisch, wendet diese Untergangsszenarien jedoch auch mit einem ironischen Augenzwinkern ins Positive: »[Es] ist etwas eingetreten, wovon Walter Benjamin noch nicht träumen konnte. Fotografie und Film sind auratisch geworden in ihrem Anspruch, eine vera icon 122 Garland-Thomson 2001, S. 335f. 123 Diesen Begriff entnehme ich dem Titel des zwei Bände umfassenden fototheoretischen Sammelwerks von Herta Wolf (Hrsg.): Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; Dies. (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. 124 Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: Wilhelm Fink Verlag 2001, S. 215.

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des Wirklichen zu sein. Diese Aura gilt es gegen mögliche Übergriffe digitaler Bildproduktion zu schützen.« 125 Wyss’ Aussage referiert dabei insbesondere auf jenen besonderen Charakterzug der Fotografie, der mit dem Aufkommen der digitalen Fotografie sich am Wesentlichsten verändert hat: eben jene von GarlandThomson ausgesparte Eigenschaft als Spur eines Realen, ihre indexikalische Funktion als eingelassenen Abdruck eines »ça-a-été« oder »so-ist-esgewesen« 126. Die vielschichtigen Diskurse um den indexikalischen Wirklichkeitsanspruch sowie die Verknüpfung der Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie mit der Frage nach der ihr zugewiesenen Realitätsnähe benötigen hier keine besonders ausführliche Darstellung, wurden sie doch bereits vielfach diskutiert und an das Zeitalter der Entdeckung oder Erfindung der Fotografie 127 rückgebunden. 128 Aufgrund dessen wird im Folgenden der Fokus auf die Erörterung der Frage gelegt werden, ob und inwiefern diese Diskurse für die festgestellte Ereignishaftigkeit von Behinderung und Bild von Bedeutung sind, um damit eine Basis für die Analyse der ausgewählten fotografischen Beispiele bereiten zu können. 2.2.1 Semiotische Ansätze der Fototheorie Als der Engländer William Henry Fox Talbot im Jahre 1839 darum bangte, seine Ansprüche auf die Erfindung seines Verfahrens der »photogenic drawings« geltend machen zu können, betonte er gegenüber der Royal Institution in London zum einen das Magische, das dem fotochemischen Vorgang inhärent zu sein scheint und das aufgrund seiner Komplexität kaum zu begreifen sei, zum anderen aber hob er auch genau an diesem Punkt ansetzend das Natürliche bzw. die Hand der Natur hervor, die sozusagen im Alleingang ihr eigenes Abbild herstellte. 129 Dieser Status der Fotografie als »Zeichenstift der Natur« 130 hielt sich bis 125 Wyss, Beat: Das indexikalische Bild. Hors-Texte. In: Fotogeschichte 20 (76) 2000, S. 3-11, hier S. 11. 126 Barthes 2008, S. 87. 127 Zur Frage, ob die Fotografie erfunden oder entdeckt wurde vgl. Geimer, Peter: Fotografie als Fakt und Fetisch. Eine Konfrontation von Natur und Latour. In: Gugerli, David/Orland, Barbara (Hrsg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Zürich: Chronos 2002, S. 183-194. 128 Vgl. Fußnote 14 in Kapitel 1. 129 Zitiert nach Newhall, Beaumont: Die Väter der Fotografie. Anatomie einer Erfindung. Seebruck am Chiemsee: Heering 1978, S. 23. 130 Talbot, William Henry Fox: The Pencil of Nature. New York 1969 (London 1844), ohne Paginierung.

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ins 20. Jahrhundert, wurde allerdings mehr und mehr kritisch hinterfragt bzw. energisch negiert, sodass sich der Diskurs von der die Wirklichkeit kopierenden zu einer die Wirklichkeit transformierenden Fotografie verschob. 131 So betonte Rudolf Arnheim bereits 1932 die Unterschiede zwischen der Fotografie und dem was sie zeigt. 132 Pierre Bourdieu hob 1965 in »Eine illegitime Kunst« hervor, dass die Fotografie durch die gesellschaftliche Zuschreibung von Objektivität geprägt sei, welche vernachlässige, dass sie lediglich »das Ergebnis einer willkürlichen Wahl und somit einer Bearbeitung« sei. 133 Und Allan Sekula bringt 1981 die kulturelle Codierung der Fotografie besonders pointiert zum Ausdruck: »The meaning of a photograph, like that of any other entity, is inevitably subject to cultural definition. […] the meaning of any photographic message is necessarily context determined.« 134 Das große Misstrauen gegenüber der Fotografie und ihrem noch im 19. Jahrhundert gefeierten Vermögen, Wahrheit und Wirklichkeit zu reproduzieren, das sich hier veräußert, bezieht sich zum einen auf den Produktionsprozess, die vorgenommene Kadrierung, den Standort der Kamera zum Zeitpunkt der Aufnahme etc. und zum anderen auf den Rezeptionsvorgang, der ebenso einer kulturellen Determiniertheit unterliegt und den Betrachter sowie seine ›Deutungsfähigkeit‹ von fotografischen Bildern in seiner Herkunft, Erziehung und sozialer Prägung verortet. Damit verschiebt sich der wahrheitsvermittelnde Status der Fotografie von der ›Realität‹ in die Codierung, »die das Foto vor allen Dingen auf künstlerischer Ebene impliziert« und es so »zu einem Vermittler der inneren (nicht-empirischen) Wahrheit [wird]. Durch seine Künstlichkeit wird das Foto zu einem wahren Foto, das zu seiner eigenen inneren Realität vordringt.« 135 Diese hier nur sehr kurz skizzierten Positionen wurden in der fototheoretischen Forschung spätestens seit dem Erscheinen von Roland Barthes’ »Die helle Kammer« im Jahre 1981 unter einer Leitfrage oder -thematik diskutiert und immer wieder einander gegenübergestellt bzw. miteinander in Verbindung und 131 Vgl. Dubois 1998, S. 41. 132 Vgl. Arnheim, Rudolf: Film als Kunst. Frankfurt a.M.: fischer 1979 (1932), zitiert nach Dubois 1986, S. 42. 133 Bourdieu, Pierre: Die gesellschaftliche Definition der Photographie. In: Ders. (Hrsg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 85-109, S. 85f. Auf Bourdieus Studien zur Familienfotografie werde ich im Analyseteil noch genauer eingehen. 134 Sekula, Allan: On the Invention of Photographic Meaning. In: Goldberg, Vicki (Hrsg.): Photography in print. Writings from 1816 to the present. New York: Simon and Schuster 1981, S. 452-473, hier S. 452f. 135 Dubois 1998, S. 46.

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Verschränkung gebracht: der Semiotik. 136 Für Barthes entfaltet sich das ›Haften‹ des Objektes an einem bestimmten Referenten in der Fotografie dahingehend, dass es sich nicht leugnen lässt, »daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: Realität und Vergangenheit. Und da diese Einschränkung nur hier existiert, muß man sie als das Wesen, den Sinngehalt (noema) der PHOTOGRAPHIE ansehen. Worauf ich mich in einer Photographie intentional richte […] ist weder die KUNST noch die KOMMUNIKATION, sondern die REFERENZ, die das Grundprinzip der PHOTOGRAPHIE darstellt. Der Name des Noemas der Photographie sei also ›Es-ist-so-gewesen‹ oder auch: das UNVERÄNDERLICHE.«

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Der Referent, also das, was eine Fotografie dann ›re-präsentiert‹, wird somit zur Bedingung für die Konstitution von Fotografie, die Bezugnahme auf das Objekt ist mittelbar und weil sich der Referent ›automatisch‹ in das Objekt einschreibt – und hier ist Barthes auf eine seltsam anachronistisch anmutende Art und Weise bei Talbot gelandet – handelt es sich bei einer Fotografie um eine »Botschaft ohne Code« 138, die keiner Übersetzungsleistung bedarf. Dies bedeutet nicht, dass er sich damit von der Codiertheit der Fotografie distanziert oder sie gar ausschließt, vielmehr erkennt er dem reinen Referenzcharakter, der Denotation, eine eigene

136 Dies gilt selbstverständlich nicht nur für die Fotografie; vgl. dazu exemplarisch Nöth, Winfried/Santaella, Lucia: Bild, Malerei und Fotografie aus der Sicht der Peirceschen Semiotik. In: Wirth, Uwe (Hrsg.): Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 354-374. Barthes hat dabei mitnichten die Frage nach dem Zeichenstatus der Fotografie als Erster gestellt, indem er sie auf der Basis seines 1961 erschienenen Essays »Fotografie als Botschaft« reformuliert und im Rahmen eines Zeichenmodells von Denotation und Konnotation fruchtbar gemacht hat, sondern schon Walter Benjamin ergriff 1931 in seiner »Kleine[n] Geschichte der Photographie« das seltsame Gefühl, dass in der Fotografie etwas liege, »was nicht zum Schweigen zu bringen ist«, etwas, das den Referenten mit dem Objekt verbinde und das nicht von alleine verschwinde: Benjamin, Walter: Kleine Geschichte der Fotografie (1931). In: Kemp, Wolfgang: Theorie der Fotografie, Band II: 1912-1945. München: Schirmer-Mosel 1971, S. 200-213, hier S. 202. 137 Barthes 2008, S. 86f, Herv. i.O. 138 Barthes, Roland: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 13; Dubois 1986, S. 40.

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und allein stehende Kategorie zu, an welche sich die Konnotation als deutende und interpretierende Kategorie anschließen kann, aber nicht muss. 139 Relativierungen oder Erweiterungen dieser Auffassung Barthes’ wurden hauptsächlich mit Hilfe der Zeichentheorie nach C.S. Peirce vorgenommen und dies in einem derart hohen Umfang, dass François Brunet dieser Verbindung von Fototheorie und Semiotik einen nahezu popkulturellen Status zuschreibt. 140 Nichtsdestotrotz erscheinen vielmehr die Erkenntnisse des belgischen Wissenschaftlers Philippe Dubois im Folgenden hinsichtlich der Indexikalität des »fotografischen Aktes« 141 auf der Basis der von Peirce entwickelten Dreiheit IkonIndex-Symbol als grundlegend für eine Verschränkung der Zuschreibung an die Fotografie, sie sei mimetisch, und der Anerkennung ihrer kulturellen Codiertheit. Peirce’ unterscheidet zwischen den Zeichenkategorien von Ikon, Index und Symbol, wobei ikonische Zeichen »die Ideen der von ihnen dargestellten Dinge einfach dadurch […], daß sie sie nachahmen« vermitteln, indexikalische Zeichen »etwas über Dinge […], weil sie physisch mit ihnen verbunden sind« zeigen und symbolische Zeichen »mit ihren Bedeutungen über ihre Verwendungen« verknüpft« sind. Die Zeichen erhalten die Zuschreibung als Objekte durch den Betrachter (»Nothing is a sign unless it is interpreted as a sign.« 142), sie können gleichzeitig auftreten und ermöglichen es, Objekte wie die Fotografie unter dynamischeren Bedingungen zu betrachten. Der für die Fotografie zentrale Akt des Auslösens setzt nun das Ikonische der Fotografie in Abhängigkeit zum Index, wie Dubois’ Lektüre von Peirce’ Modell zeigt, denn in diesem Akt entfaltet sich die indexikalische Qualität der Fotogra139 Dieses Zeichenmodell ist durchaus immer wieder kritisch beurteilt worden, da es zwar nicht den »Zwangsvorstellungen des mimetischen Illusionismus« (Dubois 1998, S. 57) seitens des Realismus erliegt, jedoch aufgrund seines Beharrens auf der Möglichkeit einer reinen Denotation einen tiefer gehenden Zugang zur Fotografie als Gegenstand theoretischer Forschung schwierig macht. 140 »C.S. Peirce’s classification of signs […] reached quasi-pop-culture status in art history and visual studies.« Brunet, François: »A better example is a photograph«: On the Exemplary Value of Photographs in C.S. Peirce’s Reflection on Signs. In: Kelsey, Robin Earle/Stimson, Blake (Hrsg.): The meaning of photography. New Haven/Williamstown: Yale University Press 2008, S. 34-49, hier S. 34. 141 So der Titel der Monografie von Philippe Dubois: Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam: Verlag der Kunst 1988. 142 Peirce, Charles Sanders: Collected Papers Vol. 1-6, hrsg. von Hartshorne, Charles/ Weiss, Paul; Vol. 7-8, hrsg. von Burks, Arthur. Cambridge: Harvard University Press 1931-58, 2.308.

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fie, die zwischen »Serien von Codes« davor und danach eingeklemmt zu sein scheint: »Hier ist ein Riß, ein momentanes Aussetzen der Codes, ein nahezu reiner Index. Dieser Augenblick dauert nur einen Sekundenbruchteil und wird sofort wieder von den Codes eingeholt, die ihn dann nicht mehr loslassen werden […], aber gleichzeitig ist dieser Augenblick der reinen Indizialität, weil er konstitutiv ist, theoretisch nicht ohne Folgen.«

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Arretiert man diesen indexikalischen Moment des fotografischen Aktes und untersucht seine Eigenschaften, so klingt hier schon der Zusammenhang mit der fotografischen Produktion von Behinderung an, denn es sind gerade diese Eigenschaften, die als unerlässliche Faktoren für die Zuweisung eines ›Wahrheitsgrades‹ anzusehen sind: Die physikalische Nähe macht die Fotografie zu einem Abdruck, zu einer Spur ihres Referenten, der ebenso einzigartig und singulär ist wie das Bild, in das er sich eingeschrieben hat, das damit seine Existenz zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort beweist und bezeichnet ihn zugleich mit der Geste eines verlängerten Fingerzeigs (nach Roland Barthes: »[…] das, genau das, dieses eine ist’s!« 144). Nichtsdestotrotz hat uns die Fotografie damit noch nicht gesagt, was sie bedeutet oder was sie uns in einem größeren Kontext damit sagen will. 145 Diese Rolle fiele zum einen dem Ikon zu, das das Objekt über seine Ähnlichkeit zu einem Referenten definiert, egal ob dieser Referent existiert oder nicht, und einen Schritt weiter gehend dem Symbol, das beispielsweise für Assoziationen steht. Die genannten Eigenschaften haben nun auch eine nicht von der Hand zu weisende Strahlkraft auf die Rezeption von Fotografien, die auch im Zeitalter der Digitalisierung und dem Misstrauen gegenüber computergenerierten Bildern nur wenig nachgelassen hat: Eine Fotografie dient immer noch als Beweis für die tatsächliche Existenz einer Person, eines Momentes, eines Ortes zu einem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt, zum Beispiel im Rahmen von Passbildern zur Identifizierung eines Menschen, als Erinnerungsartefakt im Fotoalbum, das uns das Abwesende anwesend macht, oder als Urlaubsfoto, das unserem Gegenüber authentisch anzeigt, dass wir an jenem Ort gewesen sind. 146 In Verbindung mit dem Akt des Wiedererkennens einer Si143 Diese Folgen, die sich laut Dubois auf das gesamte fotografische Dispositiv auswirken, sind für das Sehen und Wahrnehmen von Fotografien auch und insbesondere im archivalischen Kontext entscheidend, wie sich im Laufe dieser Untersuchung noch zeigen wird. Dubois 1998, S. 55. 144 Barthes 2008, S. 12. 145 Vgl. Dubois 1998, S. 55f. 146 Vgl. ebd., S. 75; Rimmele/Stiegler 2012, S. 11f.

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tuation oder eines Menschen und die Einbettung in einen größeren Kontext ergibt sich die Feststellung Dubois’, dass Ikon und Index sich nicht ausschließen, sondern die Fotografie als ikonisch-indexikalisches Zeichen denken. 147 Selbst wenn also W.J.T. Mitchell behauptet, dass dem Bild der Referent nicht mehr anhafte, so scheint es dennoch auch am »Ende des fotografischen Zeitalters« Bilder zu geben, denen man zuschreibt, dass »etwas von dem Dargestellten […] in sein fotografisches Double eingegangen [sei]«. 148 So wird deutlich: Die Verknüpfung von Index und Ikon zeichnet das fotografische Medium aus und ist hinsichtlich dieser Eigenlogik mit keinem anderen Bildmedium vergleichbar. »Das Fotografische«, wie es Dubois denkt, nämlich als »konstitutive[r] Seinsmodus des fotografischen Bildes« 149 vollzieht sich auf der Grundlage der »Kenntnis der relevanten kausalen Zusammenhänge, die für die Veränderung des Negativs verantwortlich sind« 150, ferner der chemischphysikalischen Prozesse, wenngleich auch nicht en detail, jedoch in der Grundannahme einer gewissen indexikalischen Abbildungsfähigkeit durch die Belichtung von Silbersalzkristallen auf einem Filmstreifen in einer Kamera, sowie in der damit einhergehenden ikonische Ähnlichkeitsbeziehung, die sich zwischen Objekt und Referent feststellen lässt. Die Verabsolutierung einer indexikalischen Lesart der Fotografie verliefe deshalb zu Ungunsten eines breiter angelegten Verständnisses von Bildhaftigkeit im Sinne der Visual Studies, welche an jenem Punkt der Verbindung von Index und Ikon die Bedingungen für das Sehen und die Verarbeitung von Fotografien als Bildmedien untersuchen können, um daraus Erkenntnisse über die Seh- und Visualisierungspraktiken zu gewinnen. 151 So muss die Aussage des Bildwissenschaftlers Klaus Sachs-Hombach deutlich relativiert werden, wenn dieser anführt, dass die Beschaffenheit des physischen Bildträgers (und damit auch der Prozess, der zu dieser Beschaffenheit führt) gar nicht bemüht werden müsse, wenn es um die inhaltliche Bestimmung der Fotografie geht, denn »[d]er Bildinhalt konstituiert sich ausschließlich gemäß der be-

147 Vgl. Dubois 1998, S. 65. 148 Geimer, Peter: Das Bild als Spur. Mutmaßung über ein totes Paradigma. In: Krämer, Sybille/Kogge, Werner/Grube, Gernot (Hrsg.): Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 95-120, hier S. 113, S. 117; Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt a.M.: fischer 2010. 149 Dubois 1986, S. 62. 150 Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: von Halem 2003, S. 222. 151 Vgl. Blunck, Lars (Hrsg.): Die fotografische Wirklichkeit. Inszenierung – Fiktion – Narration. Bielefeld: transcript 2010, S. 9.

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teiligten Wahrnehmungskompetenzen«. 152 Vielmehr erfordert es die Fotografie als »Form des Denkens« 153, das Bild innerhalb eines Aktes, der sowohl seine Produktion als auch seine Rezeption einschließt, und in der Frage nach den Bildpraktiken zu verorten und zugleich die konkrete Materialität einer einzelnen Fotografie zu berücksichtigen. 154 2.2.2 Fotografie und Behinderung aus zeichentheoretischer Perspektive C.S. Peirce hat nicht nur die Fotografie als beispielhaft für ein indexikalisches Zeichen gewertet. So, wie die Fotografie als Existenzbeweis oder als Spur eines Gewesenen fungiere, so diene auch zum Beispiel das Symptom als Spur, anhand derer man Krankheit erkennen und deuten kann. 155 Letzteres setzt voraus, dass der Blick auf die Oberfläche des Körpers freigegeben ist, sodass er durch diesen hindurchdringen kann und von einer Sichtbarkeit des Symptoms auf die Unsichtbarkeit der Krankheit schließen kann und den Körper als das Gegenteil von ›gesund‹ markiert. Nun ist Behinderung keine Krankheit und keineswegs etwas, das sich durch Symptome äußert, jedoch schreibt sich auch Behinderung in Form einer Abweichung von unseren Wahrnehmungsgewohnheiten des Körpers in diesen selbst ein. Durch die Stillstellung und durch die Kadrierung im fotografischen Dispositiv wird der Körper unseren Blicken schonungslos ausgesetzt und gestattet ein Durchdringen seiner Oberfläche – und zugleich der Oberfläche des Bildes. Diese ›Oberfläche‹ des Bildes verweist dabei nicht nur auf ihre materielle Beschaffenheit als flächige Repräsentation eines dreidimensionalen Referenten, sondern gleichsam auf seine Medialität als ein »Dazwischen« 156, das Betrachter und Material zueinander in Beziehung setzt. Wie lässt sich diese Beziehung beschreiben und welche Aussage kann daran anschließend zum Verhältnis zwischen dem Bild als Ereignis und dem Phänomen von Behinderung im Lichte der Indexikalität von Fotografie getroffen werden?

152 Sachs-Hombach 2003, S. 226. 153 Dubois 1986, S. 97. 154 Vgl. ebd., S. 19. 155 Vgl. Deledalle, Gérard: Semiotik als Philosophie. In: Wirth Uwe (Hrsg.): Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 31-43, hier S. 37. 156 Roesler, Alexander: Medienphilosophie und Zeichentheorie. In: Münker, Stefan/ Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hrsg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt a.M.: fischer 2003, S. 34-52, hier S. 39.

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Ich möchte an dieser Stelle die zu Beginn dieses Kapitels eingeführte Fotografie des Jungen von 1904 (Abb. 4) ins Gedächtnis rufen. Beschränken wir uns hierbei auf den rein indexikalischen Charakter der Fotografie, so sagt sie uns nichts anderes, als dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit und an einem bestimmten Ort dieser Junge vor der Kamera saß, er folglich tatsächlich existierte und der Index wie ein Fingerzeig auf ihn verweist und im Sinne Barthes’ uns sagt, dass diese Zusammenkunft von Kamera und Referent sich in das Objekt als Spur eingeschrieben hat, wie es die Lichtstrahlen des geöffneten Objektivs auf die lichtempfindliche Oberfläche des fotografischen Materials getan haben. Nehmen wir weiter an, dass es sich bei Fotografien um einen Index mit ikonischer Funktion handelt, und der reine Index sich nur im Moment des Auslösens entfaltet, so lässt das ›Davor‹ und das ›Danach‹ nun zwar eine Interpretation zu, die unserer kulturellen Prägung und unserem kulturellen Sehen gehorcht, es lässt sich aber auch nicht bestreiten, dass der Junge existierte – und dass seine Jacke verschmutzt ist und dass er nicht in die Kamera blickt. Bleiben wir nun auf dem Weg dieser Interpretation, so wundern wir uns vielleicht, wie es sein kann, dass jemand mit verschmutzter Kleidung in ein so förmliches Setting einer Porträtfotografie eingepasst wurde. Wird dieses Zeichen nun als Abweichung von einer porträtfotografischen Normalität gelesen, die dem Betrachter aus seinem Bilderrepertoire bekannt ist und die ihm zugleich andeutet, dass der Junge trotz seines fortgeschrittenen Alters (er dürfte schätzungsweise 12 oder 13 Jahre alt sein) nicht in der Lage ist, zu essen ohne zu kleckern, so verweist diese auf einer Ähnlichkeitsbeziehung beruhende ikonische Aufladung (›sieht aus wie‹) unmittelbar auf seine Körperlichkeit – und auf das Defizitäre oder Deviante, das sich ihm dadurch symbolisch (›ähnelt/ähnelt nicht‹) einschreibt. Nun ist eine Verknüpfung von Index und Ikon, wie ich sie hier angedeutet habe, als ein »semiotischer Kurzschluss« 157 im fotografischen Dispositiv zu verstehen, der nachhaltige Auswirkungen auf das Sehen von (Menschen-)Bildern hat: Wenn, wie angenommen, die Fotografie ein Index mit ikonischer Funktion ist, und dabei das indexikalische Zeichen auf die Singularität eines Objektes und das ikonische Zeichen auf die Ähnlichkeit verweist, dann besteht dieser »Kurzschluss« darin, dass in einer missinterpretierten Zusammenschau der Zeichen der Index plötzlich nicht mehr lediglich von der realen Existenz der Aufnahme zeugt, sondern auch von deren Authentizität und im Zuge dessen »die ikonische Zeichen-

157 Ochsner, Beate: Visuelle Subversionen. Zur Inszenierung monströser Körper im Bild. In: IMAGE – Zeitschrift für interdisziplinäre Bildwissenschaft (9) 2009, S. 91105, hier S. 96 bzw. Ochsner 2007, S. 186.

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funktion [deren] essentielle Eigenschaften darstellt.« 158 Authentizität als zu dekonstruierende Kategorie der Postmoderne geht dieser Annahme folgend also noch einen Schritt weiter als der Fingerzeig auf die reine raumzeitlich vergangene Existenz des Jungen. Sie heftet die Ikonizität in Form der Ähnlichkeitsbeziehung nahezu chiastisch wieder direkt an diese indexikalische Existenzbeziehung und lässt dadurch die Fotografie zu einer wahren Aussage über das werden, was sie darstellt. Der Riss, das »Aussetzen des Codes« 159, wird so zum konstitutiven und aussagekräftigen Moment des Referenten, er wirkt sich auf die Rezeption und auf die symbolische Zeichenfunktion aus, wenngleich eben auch auf einer intellektuellen ›Übersprunghandlung‹ basierend. Nochmals zurück zur Fotografie von 1904: Wir sehen einen Jungen auf einer fotografischen Aufnahme und glauben aufgrund seines Erscheinungsbildes und der Aufnahmesituation erkennen zu können, dass es sich um einen Menschen mit Behinderung handelt, da er aus unseren gewohnten Sehweisen von Porträtfotografien wegen seiner verschmutzten Kleidung und seines nicht-porträtaffinen und entrückten Blickes herausfällt. 160 Dies hat, wie bereits erwähnt, erst einmal wenig mit Diskriminierung oder einer uns inhärenten medizinischen Sichtweise von Behinderung zu tun, sondern entfaltet sich auf zeichentheoretischer Ebene in allen drei Zeichenkategorien des triadischen Modells von Peirce: Weil wir davon ausgehen, dass eine Fotografie uns etwas zeigt, das ›dort‹ und ›dann‹ gewesen ist, messen wir ihr eine indexikalische Zeichenfunktion zu. Weil wir dem Objekt Ähnlichkeit mit seinem Referenten zugestehen, geben wir der Fotografie eine ikonische Zeicheneigenschaft. Weil wir durch unsere Wahrnehmung den Referenten in einen größeren (Bilder-)Kontext einbetten und mit dem vergleichen, was wir sonst zu sehen gewohnt sind, gewähren wir der fotografischen Aufnahme die Funktion eines symbolischen Zeichens. In welchen Zusammenhang ist nun aber die obige These zu stellen, dass Behinderung und Bild sich jeweils im Vollzug konstituieren, der fotografische Index jedoch das Potenzial des Stillstellens und im Zuge dessen der Produktion von Wissen über den abgebildeten Referenten hat? 158 Zitiert nach Ochsner 2009, S. 96 bzw. Ochsner 2007, S. 186. Ochsner bezieht sich auf Schaeffer, Jean Marie: L’image precaire. Du dispositif photographique. Paris: Éditions du Seuil 1987; im zweiten Kapitel »L’icône indicielle« (S. 59-104) analysiert Schaeffer das Spannungsverhältnis von Ikonizität und Indexikalität der Fotografie, das er im 3. Kapitel »L’image normée« (S. 105-156) in Fragen der Auswirkung dieser semiotischen Beziehung für die konkrete Wahrnehmung überführt. 159 Dubois 1998, S. 55. 160 Vgl. Regener, Susanne: Zwischen Dokumentation und Voyeurismus. Fotografien psychiatrischer Patienten. In: Fotogeschichte 20 (76) 2000, S. 13-24, hier S. 17.

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Behinderung als Behindert-Werden im Sinne eines sozialen Ereignisses zu verstehen bedeutet, die soziale, kulturelle und technische Verfasstheit in der Gesamtheit der Praktiken zu untersuchen, in denen sich dieses Behindert-Werden vollzieht. Analog dazu lassen sich Bilder als visuelle Ereignisse beschreiben, die ebenso wenig wie Behinderung essentialistische Gegebenheiten sind, die überdies eine einheitliche Botschaft oder gar ›Wahrheit‹ vermitteln, sondern vielmehr erst durch den Blick durch die Materialität als auch die Medialität des ›Bildes‹ entstehen. Folglich hängt die Bedeutungszuschreibung dessen, was auf dem materiellen Träger abgebildet ist, einerseits mit der Präfiguration des Sehens zusammen, die auf der technischen und sozialen Zurichtung des Blickes bzw. den Sehpraktiken beruht, andererseits aber auch mit dem Bilderwissen bzw. der SehErfahrung, die uns Bilder miteinander vergleichen lässt. Die Fotografie ›friert‹ nun dank ihrer indexikalischen Funktion aufgrund des für sie konstitutiven physikalisch-chemischen Prozesses im Rahmen des Sehvorgangs dieses sich permanente Im-Vollzug-Befinden ein und weist ihr an diesem ›Riss‹ einen »es-ist-sogewesen«-Status zu, der sich trotz aller kultureller Codes vor und nach dem Betätigen des Auslösers auch auf den Referenten im Bild auswirkt: Er wird festgestellt, und ihm werden aufgrund dieses Arretierens im fotografischen Rahmen Eigenschaften zugesprochen, die sich auf die Oberfläche seines Körpers sowie auf das Verhältnis seines Körpers zum fotografischen Dispositiv beziehen. Selbst wenn wir also anerkennen, dass es sich beim Sehen und Betrachten von Fotografien um im höchsten Maße sozio-technische und kulturell geprägte Operationen handelt, so können wir uns nicht dem entziehen, was die Fotografie von Beginn an auszeichnete: Ihre (technische) Fähigkeit, den Referenten dem Objekt in höchst möglichem Maße ähnlich werden zu lassen. Und aufgrund dieser (unbewussten) Erfahrung, die wir täglich mehrfach und in unserem Leben unzählbar oft mit Fotografien machen, und der hohen Anzahl an Bildern, die sich aufgrund der Eigenschaften ihres Sujets oder ihres Dispositivs in unser Gedächtnis eingeschrieben haben, wirkt sich jede neue Bild-Erfahrung auf unser Sehen aus. Gleichsam formatiert dieses so den Gegenstand immer wieder neu, der wiederum, wie Garland-Thomson im genannten Zitat andeutete, unsere Sehgewohnheiten affirmieren oder auch irritieren oder gar brechen kann. Nehmen wir an, das Foto des Jungen begegnet uns zum ersten Mal, zum Beispiel in einem Fotoalbum. Wir betrachten es und sind auf eine seltsame Art und Weise irritiert, da wir zwar das Setting bürgerlicher Atelierfotografie erkennen und an viele andere Porträts denken, die wir bereits gesehen haben, jedoch die Flecken auf der Jacke des Jungen und sein verklärter Blick an der Kamera vorbei in dieses Setting nicht zu passen scheinen, in welchem normalerweise Menschen in besonders festlicher Kleidung und in steifer Pose abgelichtet werden. Die Fle-

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cken, so ließe sich schlussfolgern, sind auf einem Teil der Jacke, der wiederum darauf schließen lässt, dass es sich aufgrund der Nähe zum Mund um Essensflecken handelt. Da der Junge allerdings schon etwas älter ist, wäre anzunehmen, dass er dazu imstande sein müsste, fleckenfrei zu essen oder zumindest dafür zu sorgen, dass er vor dem Fotografieren sich umzieht – da dies jedoch ›offensichtlich‹ nicht der Fall ist, wandert unser Blick zur seltsam angewinkelten Hand auf dem Bauch und setzen sie in Bezug zur bereits gemachten Feststellung der Abweichung durch das zugeschriebene Nicht-Essen-Können. Diese zunächst äußerst defizitär anmutende Einschätzung des Jungen entsteht aus zwei Gründen: Zum einen durch die Einbettung in das normalisierende und normierende Setting der Porträtfotografie, aus welchem der Junge aufgrund seines Blicks und der Flecken herausfällt; zum anderen aber, weil zuerst der Fotograf und dann die Fotografie selbst ihn stillgestellt und gerahmt hat. So ist er den voyeuristischen Blicken ausgesetzt, deren Akteuren durch das Wissen um die technische Fähigkeit der Fotografie suggeriert wird, dass das, was sich damals, 1904, vor dem Objektiv ereignet hat, wirklich und wahrhaftig zu geschehen ist. Damit halten wir allerdings nicht nur die reine Existenz des Jungen für bewiesen, sondern weisen ihm auch Merkmale zu, die auf den Bildern beruhen, die wir schon kennen und von denen wir sein Bild differenziert haben. Innerhalb dieser Differenzlogik konstituieren wir uns als Subjekte, die sich selbst im Normalfeld verorten und das Bild des Jungen – und somit auch ihn selbst – außerhalb dieses Feldes einordnen. 161 Nun muss man dennoch bei dieser Art von Deduktion Vorsicht walten lassen, um nicht dazu zu neigen, den indexikalischen Status der Fotografie zu einer Legitimation eines ontologisch-essentialistischen Status von Behinderung zu machen und hinter das soziale oder das kulturelle Modell sowie hinter den Bildbegriff der Visual Studies zurückzufallen. Es handelt sich lediglich um einen kurzen, nur Sekundenbruchteile andauernden Vorgang im Prozess des Fotografierens, der nicht verabsolutiert werden sollte. Fotografie kann und muss auch außerhalb des Index gedacht werden, da ihre kulturelle Konstruiertheit für ein postmodernes Denken nicht von der Hand zu weisen ist, die sich durch den Index weder erklären noch kommentieren noch interpretieren lässt. »Der Index endet mit dem das ist gewesen, das er nicht mit einem das besagt auffüllt.« 162 Die Wahrnehmung von Andersartigkeit, die sich sonst im intersubjektiven Austausch außerhalb des Mediums vollziehen würde, wird durch die Fotografie stillgestellt und zugleich angeregt, da sie den ungestörten Blick auf den arretierten Körper ermöglicht und so auf ihm Zeichen der Differenz suchen lässt. Dies gilt, wie im 161 Vgl. Bublitz 2006, S. 353. 162 Dubois 1998, S. 88.

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Falle der hier analysierten Fotografie, nicht nur für Körperbehinderung. Auch geistige Behinderung wird vom Körper her gedacht, durch ihn ausgedrückt und durch ihn wahrgenommen, und wird sichtbar durch den Blick auf den Körper. 163 Aufgrund der zwischen den Betrachter und den Betrachteten geschobenen Medialität der Fotografie wird die Zuschreibung einer sich nicht primär körperlich manifestierenden Behinderung allerdings nicht nur durch die tatsächliche Interaktion hervorgebracht, sondern erfährt durch die Eigenlogik sowie die Inszenierungsmodi der Fotografie eine Verstärkung oder eine Schwächung, eine Sichtbarmachung oder eine Unsichtbarmachung der in der körperlichen Interaktion zutage getretenen Abweichung von einer irgendwie gearteten Normalitätserfahrung. Hier zeichnet sich nun ab, was im Laufe dieser Studie an einer Reihe von Bildbeispielen ausformuliert werden wird: Der Blick durch das Bild auf den Menschen ist ein wirkungsvolles Machtmittel, das Inklusion in und Exklusion aus einem im Zuge dessen gleichsam sich konstituierenden Feld von Normalität produziert und dadurch neues Wissen über Behinderung hervorbringt. Die Opposition des sozialen Modells von Behinderung in Theorie und Praxis sowie des kulturellen Modells gegen das medizinische Modell legitimiert sich über eine Kritik am »klinischen Blick«, der durch die Oberfläche des Körpers hindurch zu dringen versucht und ihn als abweichend vom ›Normalkörper‹ markiert, und beruft sich stattdessen im Anschluss an Foucault darauf, »beschädigte Körperlichkeit […] als Produkt gesellschaftlicher Disziplinierung« 164 verstehen zu wollen. Foucault definiert diese moderne Disziplinarmacht nicht als eine von einem festgelegten Akteur oder einer Gruppe von Akteuren ausgehend, sondern als depersonalisierte Kraftverhältnisse, die »sich als Handlung durch Auswahl in gegebenen Strukturen« 165 verwirklichen, und in denen der »Blick, der wissen und erkennen will, […] sich mit dem Blick, der kontrollieren und disziplinieren will [verbündet, A.G.].« 166 Begreift man diese Machtverhältnisse nun als diskursives System, das den behinderten Körper und daraus ebenso den normalen Körper hervorbringt, so sind sie in Verbindung mit dem dadurch formatierten Sehen ebenso als visuelle Regime zu fassen, die wiederum auch das Sehen von Bildern organisieren und konfigurieren. Jedes dieser Systeme ist in der Lage zu bestimmen, was wahr und was falsch ist, jedoch immer nur innerhalb der »Einrichtung von Bereichen, in denen die Praktik von wahr und falsch zugleich reguliert und

163 Vgl. Lutz/Macho/Staupe/Zirden 2003, S. 14. 164 Waldschmidt 2007, S. 61. 165 Ruoff, Michael: Foucault-Lexikon. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2009, S. 151. 166 Waldschmidt 2007, S. 65.

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gültig sein kann.« 167 Die Fotografie, an und mit der sich diese Praktiken vollziehen, verhandelt aufgrund der aufgezeigten Eigenschaft, Ereignisse ›einfrieren‹ zu können die sich an ihr ausbildenden Gegenstände – hier also ›Behinderung‹– innerhalb ihres vorgegebenen Rahmens bzw. ihrer tatsächlichen Rahmung. Diese vielfältigen Bezugnahmen von Normalität/Anormalität, Sichtbarkeit/ Unsichtbarkeit und Wahrheit/Unwahrheit aufeinander und ihr gegenseitiges Durchdringen im fotografischen Medium spannen ein dichtes diskursives Netz auf, das es ermöglicht› ›Behinderung‹ durch die Beschreibung und Untersuchung der jeweilig herrschenden visuellen Regime im Sinne des kulturwissenschaftlichen Denkansatzes der Disability Studies neu zu erzählen. Dies geschieht, indem die Macht- und Sichtverhältnisse herausgearbeitet werden, die dazu führen, dass diese Dichotomien überhaupt als tatsächliche Polaritäten konstruiert werden und so Kategorien zur Einteilung von Menschen eröffnen, aus denen diese nur schwerlich wieder herausfinden können.

167 Ruoff 2009, S. 234.

3. Anderes Sehen: Vom Blick auf den (behinderten) Körper

Die Disability Studies »betreiben eine Kritik des ›klinischen Blicks‹« 1 und machen dadurch auf den Ursprung und zugleich die Methode des sozialen Modells von Behinderung und seiner wissenschaftlichen Ausrichtung in Form der Disability Studies aufmerksam. Diese Kritik am klinischen oder auch ärztlichen Blick, wie ihn Foucault in seiner Studie »Die Geburt der Klinik« für einen sehr kurzen Zeitraum im nach-revolutionären Frankreich herausarbeitet, richtet sich gegen ein medizinisches Modell von Behinderung, wie ich es im vorangegangenen Kapitel vorgestellt habe. Es wendet sich folglich auch gegen eine den behinderten Menschen auf seine Schädigung oder seinen ›Mangel‹ reduzierende Sichtweise als auch gegen ein defizitorientiertes und mechanistisches Menschenbild, das zwischen den vermeintlichen Polaritäten von ›Normalität‹ und ›NichtNormalität‹, ›Gesundheit‹ und ›Krankheit‹ und ›nicht-behindert‹ und ›behindert‹ keine Graustufen und keinen Handlungsspielraum zu kennen scheint. 2 Die Rhetorik des sozialen Modells bedient sich hier also bereits einer Begrifflichkeit, die unmittelbar auf die physiologische wie auch erkenntnistheoretische Bedeutung des Sehens für die Wahrnehmung von Normalität und Abweichung hinweist: Es ist der Blick, der die Behinderung erst hervorbringt. Damit werden zwei wesentliche Stoßrichtungen des sozialen Modells deutlich: Zum einen die (vielleicht zunächst unbewusste) Öffnung für eine poststrukturalistische Theoriebildung, im Zuge derer die Voraussetzung für ein kulturelles Modell von Behinderung geschaffen wurde, und zum anderen das Wissen darum, dass Subjektbildung ein im 1

Waldschmidt 2005, S. 13.

2

Vgl. dazu Maio, Giovanni: Medizin und Menschenbild. Eine Kritik anthropologischer Leitbilder der modernen Medizin. In: Ders. (Hrsg.): Mensch ohne Maß? Reichweite und Grenzen anthropologischer Argumente in der biomedizinischen Ethik. Freiburg i. Br./München: Alber 2008, S. 215-229.

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höchsten Maße von Praktiken der (Selbst-)Wahrnehmung gekennzeichneter Erkenntnisprozess ist, für welchen das »Sehen und das Gesehen-Werden« 3 des Subjektes die Grundlage bilden. Gerade jene »Reziprozität der Perspektiven, die anderen immer im Blick zu haben und immer im Blick der anderen zu sein, gewährleistet, dass nicht nur der Einzelne sich nach den anderen richtet, sondern sich dessen gewiss ist, auch von anderen gesehen zu werden« 4 und ist folglich für die Reintegration des Körpers als »visuelle[r] Verkörperung des Sozialen«5 in die Modellbildung der Disability Studies von nicht zu unterschätzender Relevanz. Trotz dieser klaren Referenz auf die Bedeutung von Visualität für die Kennzeichnung eines Subjektes als ›behindert‹, wurden die dem medizinischen Blick zugeschriebenen Charakteristika und deren Folgen für die gesellschaftspolitische Positionierung behinderter Menschen durch und im fotografischen Medium bisher weniger unter dem Dach der Disability-Forschung analysiert: Dies zeigt sich einerseits daran, dass im gut bearbeiteten Forschungsfeld zur medizinischen Fotografie, zur Monster- oder Freakfotografie oder zur Psychiatriefotografie die Bedeutung der Verschränkung von Sehen, Blick und Apparat im Lichte des Wahrheitsanspruches des fotografischen Verfahrens eingehender diskutiert worden ist, jedoch der Schritt zur Herstellung von Andersartigkeit in der Alltags- und Amateurfotografie noch nicht vollzogen wurde. Andererseits vernachlässigen Vorschläge zur Bildung von rhetorischen Heuristiken zur Beschreibung des Blicks auf Behinderung, wie sie Rosemarie Garland-Thomson oder Robert Bogdan vorgenommen haben, gerade jene Frage nach der Bedeutung fotografischer Diskurse sowie die Berücksichtigung aktueller Diskurse der Visual Studies zum epistemischen Status des Bildes. 6 Ebenso wenig wurde bisher ein expliziter Anschluss dieses Zusammendenkens von Blick und Behinderung für das soziale Modell und für das kulturelle Modell von Behinderung forciert, obwohl Studien zu visuellen Anerkennungspraktiken von Alterität, wie sie

3

Bublitz 2006, S. 343.

4

Ebd., S. 355, Herv. i.O.

5

Ebd., S. 343.

6

Vgl. dazu exemplarisch Garland-Thomson, Rosemarie: Staring. How we look. Oxford/New York: Oxford University Press 2009; Bogdan, Robert: Picturing Disability. Beggar, freak, citizen and other photographic rhetoric. Syracuse: Syracuse University Press 2012. Auf beide Autor_innen werde ich in dieser Analyse noch genauer eingehen und ihre bildrhetorischen Modell vorstellen und diskutieren.

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auf Judith Butler aufbauend vorgenommen wurden, das Vokabular für diese Operation bereitgestellt zu haben scheinen. 7 Im Folgenden gilt es deshalb nun, die beiden populärsten Modelle der Disability Studies, das medizinische und das soziale, auf ihre den Blick und das Sehen organisierenden Bedingungen hin zu befragen und einen Versuch der Übersetzung in das vorzunehmen, was von Vertreter_innen der Visual Studies als »visuelle Regime« oder »Blickregime« bezeichnet wird und als ein Set von Konfigurationen verstanden werden kann, das das Subjekt vor der Kamera und als Bild konstituiert. 8 Dabei soll u.a. aufgezeigt werden, dass die Annahme, dass das soziale Modell das medizinische Modell »abgelöst« 9 habe, in der damit formulierten radikalen genealogischen Ab- oder Reihenfolge sich weder in der sozialen Praxis noch im Umgang mit Bildern von Behinderung halten lässt. Durch die Einführung des sozialen Modells in den späten 1970er bzw. den frühen 1980er Jahren verschwanden medizinische Deutungen von Behinderung keineswegs: Gerade der ›klinische Blick‹ hält sich aufgrund von neueren biomedizinischen Diskursen sowie den sich weiterentwickelnden bildgebenden Verfahren hartnäckig statt aufgrund politischer Instrumente der Integration und Inklusion wie immer wieder gefordert an Bedeutung zu verlieren. Die Lesarten von Normalität und Abweichung, so meine These, konfigurieren sich immer wieder neu und in ständiger Wechselwirkung von sozialem Wissen und Bilderwissen – und unterliegen zeitlich und situativ variierenden Zuschreibungen von Machtverhältnissen und visuellen Regimes. Um im Anschluss an das erste Kapitel die Frage nach den sich von einem kausalen Denken absetzenden Praktiken des Sehens, der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung von Behinderung und ebenso Normalität im fotografischen Medium beantworten zu können, wird dieses Kapitel zunächst versuchen zu rekonstruieren, wogegen sich die Vertreter_innen des sozialen Modells aussprechen und in Anlehnung an Foucault als den »medizinischen Blick« bezeichnen. 7

Vgl. Schaffer, Johanna: Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung. Bielefeld: transcript 2008, Kapitel 4: »Das visuelle Vokabular der Anerkennung reformulieren«.

8

Beide Begriffe gehen zurück auf die von Martin Jay eingeführten »scopic regimes« (Jay 1988), die in einem Aufsatz von Kaja Silverman als »Blickregime« übersetzt wurden (Silverman 1997, S. 41-64). Um deutlich zu machen, dass es nicht nur um den Blick, sondern um ein komplexes Gefüge an Praktiken des Bildersehens geht, verwende ich hier analog auch eine Übersetzung als »visuelles Regime«.

9

»Das soziale Modell löste das medizinische Modell ab, in dem Behinderung als tragischer Effekt, als defizitäre Abweichung eines einer Minderheit angehörenden Individuums betrachtet wurde.« Renggli 2004, S. 16.

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3.1 D IE D ISABILITY S TUDIES UND DER – EINE K RITIK AM B LICKREGIME ?

KLINISCHE

B LICK

Die Fotografie des Jungen aus dem vorangegangenen Kapitel ist, wie erwähnt, etwa um die Jahrhundertwende entstanden. Die Stiftung Liebenau, damals knapp 30 Jahre alt, war in wenigen Jahrzehnten um ein Vielfaches gewachsen und nahm als »Pfleg- und Bewahranstalt« im katholischen Oberschwaben Menschen mit Behinderung aus ganz Württemberg auf, von denen damals die meisten von Anstaltsarzt Dr. Weißenrieder in die Gruppe der »Schwachsinnigen« von »geringe[m] bis zum höchsten Blödsinn« eingeordnet wurden. 10 Diese altertümlich erscheinende Sammelbezeichnung umschloss viele noch nicht erfasste und klassifizierte geistige Behinderungen und psychische Erkrankungen, aber auch Sinneseinschränkungen wie Schwerhörigkeit, Gehörlosigkeit, Blindheit etc., sodass sich diese ›Gruppe‹ als sehr heterogen präsentierte und sich folglich innerhalb der Anstalt weniger durch gezielte Förderung als durch ›Aufbewahrung‹ und landwirtschaftliche Arbeit charakterisieren lässt. 11 Betrachtet man noch einmal das bereits beschriebene Porträt von 1904 in seinem historischen Kontext, so müsste es aus Sicht der Modellbildung der Disability Studies deutlich ein pathologisiertes und defizitäres Menschenbild von Behinderung widerspiegeln, da dies für jene Zeit die vorherrschende (und einzige) Erklärungsform für jegliche Abweichung von der Normalität gewesen sei. Doch ist es tatsächlich der ›klinische Blick‹, den der Fotograf bzw. der Betrachter auf den Jungen richtet und ihn so einer ›anderen Ordnung‹ zuweist? Das Porträt zeigt zwar einen Jungen in verschmutzter Kleidung auf einem Stuhl sitzend, den Arm leicht und dennoch merklich angewinkelt und den Blick an der Kamera vorbei gerichtet. Gleichwohl erscheint es als ein an das zeitgenössische bürgerliche Atelierdispositiv angelehntes und zugleich improvisiertes Arrangement, das trotz der kleinen Auffälligkeiten auf der Jacke den Jungen in ein ›normales‹ Bild verwandelt. Dieses Oszillieren zwischen der Sichtbarmachung einer Abweichung – hier etwa in Form der verschmutzten Kleidung – von einem fotografischen Dispositiv, dessen sich das Bürgertum zur Festigung seines Status‹ bedient 12 und zugleich der Unsichtbarmachung und dadurch der Normalisierung

10 Schnieber, Michael: In unserer Mitte – der Mensch. Hrsg. von der Stiftung Liebenau aus Anlass des 125jährigen Bestehens im Mai 1995. Tettnang: Lorenz Senn 1995, S. 50. 11 Bis in die 1970er nahm die Liebenau auch Leute auf, die sich aufgrund ihres Alters oder einer Gebrechlichkeit nicht mehr selbst versorgen konnten. 12 Vgl. Sagne 1998, S. 117.

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des Referenten vor der Kamera durch die Einbettung in eben dieses Dispositiv lässt deutlich werden, dass das Sehen von Nicht-Normalität vielmehr in einem dichten und aufgeladenen Spannungsfeld zwischen der visuellen oder medialen Logik der Sichtbarmachung und Unsichtbarmachung, der Normalisierung, der Anlehnung an bestimmte zeitgenössische Genres und Blickregime verortet werden muss, statt in Form von vereinfachten Bildrhetoriken oder einer auf den Modellen von Behinderung basierenden Bildästhetik künstlich einzugrenzen. Gerade die Frage nach dem Verhältnis von Normalität und Nicht-Normalität und die Übergangsmöglichkeiten zwischen diesen vermeintlichen Polaritäten diente der Behindertenbewegung weltweit wie auch den Disability Studies als Ausgangspunkt für die Entwicklung des sozialen Modells von Behinderung, in welchem dieser Prozess der Normalisierung als soziales Instrument angelegt ist. Doch inwiefern spielt Normalisierung auch für das Sehen und das Bild/die Bilder von Behinderung eine Rolle?

3.2 N ORMALITÄT

UND

N ORMALISMUS

Von ›Normalisierung‹ zu sprechen, bedeutet an der Schnittstelle von Visual Studies und Disability Studies zunächst einen Orientierungsversuch in zwei Feldern zu wagen: Gilt es in beiden Fällen danach zu fragen, was als ›normal‹ und was als ›nicht normal‹ gekennzeichnet wird, so weist dies einerseits auf die Wahrnehmung von visuellen Phänomenen sowie deren Einordnung aufgrund ihnen inhärenter Stil-, Inhalts- oder Strukturmerkmale zwischen diesen beiden Polaritäten hin. Andererseits scheint allein schon die Definition von ›Behinderung‹ als Leitkategorie der Disability Studies auf die Bedingungen einer dazu sich abgrenzenden Normalität zu referieren, die an die Kategorien von ›Nicht-Behinderung‹ oder ›Gesundheit‹ geheftet werden. In der deutschsprachigen DisabilityForschung haben bereits zahlreiche Publikationen das Verhältnis von Normalität und Behinderung verhandelt und sich dabei auf die Theoriebildung des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link bezogen, der 1996 in »Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird« die Begriffsfelder um »Norm«, »Normalität«, »Normativität«, »Normalismus« und »Normalisierung« in interdiskursiver Interdependenz analysiert hat. 13

13 Zum Beispiel Waldschmidt, Anne: Normalität. Ein Grundbegriff in der Soziologie der Behinderung. In: Forster, Rudolf (Hrsg.): Soziologie im Kontext von Behinderung. Theoriebildung, Theorieansätze und singuläre Phänomene. Bad Heilbrunn: J. Klinkhardt 2004, S. 142-157; Dies.: Die Macht der Normalität. Mit Foucault »(Nicht-)Be-

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Link versteht unter ›Normalismus‹ ein Netz von Dispositiven, das wiederum ›Normalität‹ als eine »graduelle Kategorie« 14 hervorbringt, die sich als diskursives Ereignis immer wieder neu konstituiert und das Individuum zu einem regelmäßigen, aber nicht fixierten Verhalten anregt: »Wer oder wie bin ich bzw. wie handle ich im Vergleich zu den anderen?« 15 Folglich ist das ›normal‹, was sich innerhalb dieser Vergleichszone als tolerabel oder akzeptabel bewerten lässt und im Gegensatz zu dem, was als ›anormal‹ gilt, keine Intervention beansprucht. 16 ›Normativität‹ hingegen markiert begrifflich die Existenz einer feststehenden sozialen Regel, deren Befolgung gesellschaftlich oder auch juridisch erwartet wird und eine Form von Stabilität voraussetzt: »Es wird erwartet, daß ich mich so und nicht anders verhalte.« 17 »Ganz sicher aber ist ›normal‹ nicht einfach gleich ›normgemäß‹, ›Normgeltung‹ nicht einfach identisch mit ›Normalität‹.« 18 Link zufolge hat das gesellschaftliche Bestreben, den sozialen Wandel zwischen den Polaritäten von ›normal‹ und ›nicht normal‹ beschreibbar zu machen und ihn so auch bewältigen zu können, zu zwei sich diametral gegenüberstehenden normalistischen Strategien geführt, die er als »Protonormalismus« und als »flexiblen Normalismus« bezeichnet. 19 Protonormalistische Ansätze beruhen dabei auf Normativität und auf der Festlegung einer festen Grenze zwischen Normalität und Nicht-Normalität und sind so beispielsweise in Diskursen der Medizin oder Psychiatrie zu finden, in denen es darum geht, auf der Basis eines von Expertentum geschulten Blickes zwischen einem ›Diesseits‹ und einem ›Jenseits‹ der Normalitätsgrenze zu unterscheiden. 20 Dem setzen flexibel-normalistische Ansätze relativ breite Toleranzzonen entgegen, innerhalb derer sich die Normalihinderung« neu denken. In: Anhorn, Roland/Bettinger, Frank/Stehr, Johannes (Hrsg.): Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 119-133; Weinmann, Ute: Normalität im wissenschaftlichen Diskurs verschiedener Fachdisziplinen. In: Schildmann 2001, S. 17-41; Link, Jürgen: »Irgendwo stößt die flexibelste Integration schließlich an eine Grenze«. – Behinderung zwischen Normativität und Normalität. In: Graumann, Sigrid (Hrsg.): Ethik und Behinderung. Ein Perspektivenwechsel. Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2004, S. 130-139 u.v.m. 14 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 22. 15 Waldschmidt 1998, S. 10. 16 Vgl. Link 1997, S. 22. 17 Waldschmidt 1998, S. 11. 18 Link 1997, S. 23. 19 Vgl. ebd., S. 77f. 20 Vgl. ebd., S. 21.

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tätsgrenze verschieben und so an historische Zäsuren und soziale Prozesse angleichen kann, sodass das Individuum anhand von gouvernementaler Selbstanpassung und Selbsttechnologien sich mit Blick auf sein Umfeld selbst in einem Normalfeld positionieren kann, ohne dass es feststehende und rechtsverbindliche Regeln befolgt. Konstatiert Anne Waldschmidt im Anschluss an Link, dass sich in westeuropäischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg der flexible Normalismus gegenüber dem Protonormalismus durchsetzte, so weist sie aber auch auf die Möglichkeit einer Rückkehr zu protonormalistischen Strategien seitens einer flexibel-normalistischen Haltung hin. Aus diesem Grunde dürfe »[b]ei der Expansion, der Bewegung nach außen in Richtung auf den Pol der Anormalität, […] das Gummiband, das die normale Mitte mit den Grenzzonen verbindet, nicht reißen. Wenn die Gefahr besteht, daß sich das gesamte Normalfeld auflösen würde, würde der Umschlag in den Protonormalismus stattfinden.« 21 ›Normalisierung‹ würde in diesem Zusammenhang nun den Prozess des Übergangs von einer Kennzeichnung als ›nicht normal‹ hin zu einem Feld der Normalität beschreiben, und dies zunächst unabhängig von der normalistischen Strategie. Der Unterschied liegt in dem Verhalten dessen, was sich jenseits der Normalitätsgrenze im Feld des Normalen befindet: Im Sinne des Protonormalismus muss, um diese Grenze zu passieren, eine soziale Regel befolgt werden und die Ganzheit dieser Regeln als für ein Individuum gültig anerkannt werden. Flexibel-normalistisch gedacht kann durch eine Annäherung an diese Grenze diese selbst auch dazu herausgefordert werden, sich selbst auf eine mögliche Expansion der eigenen Toleranzzone zu überprüfen und sie gegebenenfalls auszuweiten, um das vormals Ausgeschlossene einzuschließen, ohne ihm ein vollständiges Bekenntnis dazu abzuringen. Wer oder was normal ist, entscheidet folglich im einen Fall eine klare Trennungslinie, im anderen Fall das diskursive Übereinkommen der sich im Normalfeld befindenden Akteure, die dieses Feld gleichsam relational konstituieren. Jedoch rufen beide Spielarten des Normalismus im Individuum Sorge hervor, aus diesem Feld herauszufallen, da die Übergänge zwischen Normalität und Anormalität fließend sind. Dieser Denormalisierungsangst begegnet der Protonormalismus mit klaren Regeln, einer engen Toleranzzone und einer breiten Anormalitätszone, während der flexible Normalismus den Einschluss von sich in den Randzonen befindenden Individuen mitdenkt – so zum Beispiel auch von Menschen mit Behinderung. ›Behinderung‹, sozio-historisch als Abweichung oder eben auch als Nicht-Normalität markiert, und ›Normalität‹ sind somit zwei Kategorien, die sich gegenseitig bedingen und verfertigen. Das, was außerhalb der Toleranzzone (ob breit wie im flexiblen Normalismus oder schmal wie im Protonormalismus) auf einer Normalverteilungskurve, wie sie die 21 Waldschmidt 1998, S. 13.

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Verdatung moderner Gesellschaften ergibt, liegt, ist das, was es in Relation zur Toleranzzone selten gibt oder was selten in Erscheinung tritt. 22 Nun ist für das Thema ›Behinderung‹ der Prozess der Normalisierung mit sozio-politischen Veränderungen seit den 1970er Jahren verbunden und wird in Verbindung mit modernen Inklusionsdiskursen als Anerkennung behinderter Identität verstanden. Aufbauend auf das in Skandinavien als behindertenpädagogisches Reformkonzept entwickelte »Normalisierungsprinzip« sollten institutionelle Strukturen geschaffen werden, um dem Einzelnen eine individuelle Annäherung an die Normalität zu ermöglichen. 23 Jedoch ist auch das, was hier als ›Normalität‹ verstanden wird, ausgerichtet an einer nicht-behinderten Mehrheit, die sich gegenüber einer vermeintlichen Minderheit zu öffnen habe, wenngleich das Anliegen, »Sonderterritorien« 24 für Menschen mit Behinderung abzuschaffen, zu betonen scheint, dass nicht der Mensch, sondern die Struktur normalisiert werde. 25 Daran anschließend ist auch der Gestus des sozialen Modells von Behinderung zu verstehen: Nicht durch Rehabilitation, Therapie und ›Anpassung‹ im Sinne des medizinischen Modells soll ein Mensch mit Behinderung ›normalisiert‹ werden, sondern vielmehr sollen Strukturen geschaffen werden, die eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft ermöglichen und eine Vielfalt an Identitäten zulassen. 26 Gerade an dieser sich permanent im Vollzug befindenden Neuaushandlung der Felder jenseits und diesseits einer flexibelnormalistischen Grenze – die sich dadurch gleichsam selbst stets in Bewegung befindet – sind in nicht unerheblichem Maße die Produktion und Rezeption von 22 Vgl. Link 2004, S. 133; zum Verhältnis von Normalität und Behinderung in einem sozio-historischen Kontext vgl. auch Mattner, Dieter: Die Erfindung der Normalität. In: Der (im-)perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit. Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum vom 20. Dezember 2000 bis 12. August 2001. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2001, S. 13-32; Rohrmann, Eckhard: Zur gesellschaftlichen Konstruktion von Normalität und Anders-Sein. In: Abraham, Anke/Müller, Beatrice (Hrsg.): Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Bielefeld: transcript 2010, S. 139-164. 23 Vgl. überblicksartig Thimm, Walter (Hrsg.): Das Normalisierungsprinzip. Ein Lesebuch zu Geschichte und Gegenwart eines Reformkonzepts. Marburg: LebenshilfeVerlag 2005. 24 Waldschmidt 1998, S. 18. 25 Vgl. ebd., S. 18. 26 Vgl. Waldschmidt, Anne: Behindertenpolitik im Spannungsverhältnis zwischen Normierung und Normalisierung. In: Graumann, Sigrid/Grüber, Katrin (Hrsg.): Anerkennung, Ethik und Behinderung. Beiträge aus dem Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft. Münster: Lit Verlag 2005, S. 175-194, hier S. 176.

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materialisierten (Menschen-)Bildern beteiligt: Die visuelle Wahrnehmung, die letztendlich entscheidet, ob der Betrachter ein Bild bzw. dessen Sujet als ›normal‹ oder ›nicht normal‹ klassifiziert, ist sozio-medial konfiguriert und bezieht sich auf Bilder und Bildinhalte, die ihr bereits bekannt sind und die sie so diesseits oder jenseits der Normalitätsgrenze verortet hat. 27 »Ganz ›normale‹ Bilder bedürfen keiner Begründung. Jeder sieht oder kennt sie – keiner regt sich auf oder wundert sich. Wenn alle meinen, das gleiche zu sehen und zu verstehen, dann ist dies die Wirklichkeit.« 28 Diesem einleitenden Satz aus dem Band »Ganz normale Bilder« der Wissenschaftshistoriker David Gugerli und Barbara Orland ist bereits der Verweis auf die Existenz von Vorbildern oder vorangegangenen Bildern oder Konzepten inhärent, denn der Verwunderung über ein Bild oder über mehrere Bilder liegt die Wahrnehmung von etwas Neuem, Ungewohnten, vom Alltag bzw. eben von der Normalität Abweichenden zugrunde. 29 Die Irritation einer visuellen Ordnung und die sich daraus diskursiv immer wieder neu konstituierende Wahrnehmung und kognitive Einstufung von ›normalen‹ und ›nicht normalen‹ Bildern ist jedoch nicht allein auf der Ebene des Bildsujets anzusiedeln: eine ungewöhnliche Farbgebung, eine von fotografischen Konventionen abweichende Kadrierung, ein seltsam anmutender Aufnahmewinkel u.v.m. Es muss sich also durchaus nicht zwingend um ein einziges durch den Fotografen intentional platziertes, augenfälliges Detail im Bild oder zum Beispiel eine sichtbare Körperbehinderung handeln, sondern die Irritation kann sich aus dem Zusammenspiel vieler ästhetischer, diskursiver wie auch inhaltlicher Faktoren ergeben, die mit dem, was der Betrachter zu sehen gewohnt ist, zunächst nicht in Einklang zu bringen sind. Hier wird auch erneut die Wirkmächtigkeit der fotografischen Eigenlogik deutlich: Das fotografische Erzeugnis ermöglicht einen Wahrnehmungs- und Deutungsspielraum, der im Produktions27 Dass aber nicht nur die relative Sichtbarkeit über die Normalisierung entscheidet, zeigt Johanna Schaffer in ihrer Monographie »Ambivalenzen der Sichtbarkeit« auf und wird hier noch an anderer Stelle verhandelt werden. Vgl. Schaffer 2008. 28 Gugerli, David/Orland, Barbara: Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Ganz normale Bilder. Historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit. Zürich: Chronos 2002b, S. 9-16, hier S. 9. 29 Etwas Neues oder auch Überraschendes zu sehen wird in neurowissenschaftlichen Diskursen auf der physiologischen Ebene nicht zuletzt mit einer Ausschüttung von Dopamin begründet: »You may not always like novelty, but your brain does.« Sinkt der Dopaminspiegel wieder, so konnte das eben noch Neue in den Wissens- und Erfahrungsstand des Betrachters integriert werden, das Bild erscheint nun nicht mehr fremd und wird Teil der Bewältigungsstrategien von künftigen visuellen Eindrücken. Vgl. Garland-Thomson 2009, S. 18f.

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prozess aufgrund des chemisch-physikalischen Verfahrens und der Übertragung eines dreidimensionalen Sujets auf ein planes Fotopapier sich der Intentionalität des Fotografen entzieht und letztendlich nicht antizipieren kann, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Kontext ein Betrachter diesen Raum ›betritt‹. Auf diese Weise können Fotografien zu Akteuren im Prozess einer Normalisierung als auch einer Denormalisierung werden und abhängig von ihrem Kontext, zum Beispiel als Serie, in einem Album oder in einer Ausstellung wiederum darauf einwirken, ob der fotografische Referent als ›normal‹ oder ›nicht normal‹ wahrgenommen wird.

3.3 N ORMALE B ILDER

VON

B EHINDERUNG ?

Der Herausforderung, die visuelle Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung und dadurch auch von ihren Bildern zu untersuchen und durch die Bildgeschichte in verschiedene Strömungen oder Ordnungen zu überführen, wurde bisher in der Disability-Forschung größtenteils unter einem kunst- und/oder kulturhistorischen Fokus begegnet und dies zumeist unter Vernachlässigung der wechselseitigen Konstitution von Bild und Behinderung. So bewegen sich zum Beispiel die schlaglichtartigen und dennoch grundlegenden Untersuchungen von Christian Mürner zwischen einer sozio-historischen Kulturwissenschaft bzw. klassischer Literaturwissenschaft auf der einen Seite, und einem (heil-)pädagogischen Anspruch auf der anderen Seite. 30 Diesem doppelten Anspruch folgend nimmt er zwar den unterschiedlichen Stellenwert von Medien von der Antike bis in die Gegenwart in den Blick, zielt aber immer wieder konkret auf die langfristige Verbesserung der Situation behinderter Menschen ab und tritt damit aus einem beschreibenden und analytischen Rahmen heraus. Nichtsdestotrotz wird gerade in Mürners Arbeiten deutlich, wie groß die mediale Bandbreite und der zu beachtende Zeitraum für eine umfassende und den Rahmen der Fotografie verlassende Beschäftigung mit der bildlichen Repräsentationsweise von Behinde-

30 Vgl. Mürner, Christian: Die nackte Wahrheit – Bildnisse mit Behinderungen. In: Ochsner/Grebe 2013, S. 161-178; ders./Schönwiese, Volker: Das Bildnis eines behinderten Mannes. Kulturgeschichtliche Studie zu Behinderung und ihre Aktualität. In: Psychologie und Gesellschaftskritik 29 (1) 2005, S. 95-125; Mürner, Christian: Das Bild behinderter Menschen im medien- und kulturgeschichtlichen Wandel anhand von Beispielen aus Kunst und Literatur. In: Vierteljahrsschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (73) 2004, S. 101-115.

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rung angelegt ist und wie sich mit dem Aufkommen der modernen Massenmedien diese veränderte oder stabilisierte. Andere Forscher_innen konzentrieren sich im Gegensatz zu Mürner auf die Untersuchung von Einzelmedien. So wendet sich beispielsweise Robert Bogdan, ein US-amerikanischer Soziologe und Disability-Forscher, in seiner Studie »Picturing Disability« ausschließlich fotografischen Erzeugnissen zu und analysiert anhand einer beeindruckend hohen Anzahl von Quellen die Intentionen oder die Bestimmung von Fotografien behinderter Menschen, beispielsweise im Rahmen von Fundraising für Wohlfahrtsorganisationen oder gar kommerzieller Produktwerbung. 31 Dabei geht er davon aus, dass eine jedem dieser »disability photography genre« 32 inhärente und eigene Ästhetik existiert, deren Merkmale den Betrachter darauf schließen lassen, dass es sich bei dem fotografisch zugerichteten Subjekt um einen Menschen mit Behinderung handelt. Dieser materialorientierte Ansatz muss notwendigerweise vernachlässigen, dass es über die Intention des Fotografen oder des Auftraggebers hinaus eine Bilddimension gibt, die außerhalb des Feldes der Sichtbarkeit einer körperlichen Behinderung oder der körperlichen Manifestation einer (vermuteten) geistigen Behinderung operiert und durch die Zuweisung von Genres oder ästhetischen Kategorien ›Behinderung‹ erst produziert wird. Von besonderem Interesse hinsichtlich der vorliegenden Studie ist das letzte Kapitel seiner umfangreichen Studie zur Darstellung von Behinderung in der Fotografie, in der er sich jenen Bildern widmet, von denen er behauptet, dass sie im Gegensatz zu den bisher von ihm untersuchten Aufnahmen keine spezifische Ästhetik implizieren würden: »In this chapter, I look at photographs of people with disabilities in which disability photographic conventions are not employed or, if they are, they do not dominate the image.« 33 Bogdan konstatiert diesen Bildern, dass sie den Menschen mit Behinderung als »ordinary member of the community« 34 zeigten und bezieht sich dabei auf synchron entstandene bürgerliche Atelierfotografien, die in erster Linie als Andenken für die Familie produziert worden seien. Dabei beschreibt er ausführlich die Techniken der Normalisierung durch die Inszenierung, das Setting oder die Requisite und bezieht sich dabei in erster Linie auf jene Behinderungen, die sich auf der Körperoberfläche manifestieren, während er für ›unsichtbare‹ Behinderungen wie geistige Behinderungen, Gehörlosigkeit oder Blindheit durchaus zu31 Vgl. Bogdan 2012. 32 Ebd., S. 165. Bogdan versteht unter »genre« in diesem Zusammenhang »different sets of guidelines«, welche wiederum mit verschiedenen »modes of representing« und fotografischen Konventionen operieren (ebd., S. 2). 33 Ebd., S. 144. 34 Bogdan 2012, S. 144.

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gibt, dass er auf die Frage nach diesen Normalisierungsstrategien keine Antwort parat habe. 35 Seine These, dass die fotografierten Subjekte ›ganz normal‹ dargestellt werden würden, scheint er in seinen Bildbeschreibungen dann allerdings selbst zu überholen, denn er identifiziert die abgebildeten Menschen nicht als ›behindert‹ oder ›nicht normal‹ auf der Grundlage fotografischer Konventionen, der Komposition oder des kulturellen Bilderrepertoires. Vielmehr setzt er in seiner detailreichen Betrachtung bereits voraus, dass demjenigen, der das Bild sieht, bewusst ist, dass es sich um einen Menschen mit Behinderung handelt. Dies ist insofern problematisch, als dass er sich dadurch anhand von Spekulationen (»Although it is difficult to make a diagnosis based on the photograph, the mother’s gaunt appearance suggests tuberculosis.« 36) selbst einem klinisch-ärztlichen Sehen auf der Basis des medizinischen Modells von Behinderung ergibt und dadurch im selben Moment, in dem er den Subjekten Normalität zuspricht, ihre Nicht-Normalität außerhalb des Bildes voraussetzt. Aus den US-amerikanischen Disability Studies kommend hat die bereits zitierte Rosemarie Garland-Thomson im Zuge ihrer vielfältigen Beschäftigung mit Bildern von Menschen mit Behinderung in ihrem Aufsatz »Seeing the Disabled. Visual Rhetorics of Disability in Popular Photography« von 2001 vier Bildrhetoriken vorgeschlagen, die den Blick auf Behinderung durch das Bild hindurch beschreiben und dadurch eine Differenzlogik zwischen Behinderung und NichtBehinderung implizieren: den außerordentlichen (»the wondrous«), den rührseligen (»the sentimental«), den exotischen (»the exotic«) und den alltagsnahen Blick (»the realistic«). 37 Diese rhetorischen Modi ermöglichen es nicht nur, den ›Bildinhalt‹ zu lesen, sondern auch das Verhältnis zwischen der Person im Bild und (wohlbemerkt nicht-behinderten) Betrachter zusammenfassen zu können, und wurden infolgedessen von deutschsprachigen Disability-Forscherinnen aufgegriffen und kritisiert. 38 Garland-Thomson zufolge können die vier Modi in manchen Bildern auch konvergieren, ineinander aufgehen und damit zugleich konfligieren, und fordern dadurch den Betrachter auf, auf die Bilder zu reagieren. 39 So sei der außerordentliche Blick historisch gesehen der älteste Modus und fände immer noch seine Anwendung. In diesem Modus nimmt der Betrachter ei35 Vgl. ebd., S. 162. 36 Ebd., S. 156. 37 Vgl. Garland-Thomson 2001, S. 335-374, hier S. 338ff. Ich übernehme hier die von Cornelia Renggli vorgeschlagene Übersetzung der Begriffe. Vgl. Renggli, Cornelia: Nur Mitleid oder Bewunderung? Medien und Behinderung. In: Hermes 2006, S. 97109. 38 Vgl. Renggli 2006; Ziemer 2008, S. 119ff. 39 Vgl. Garland-Thomson 2001, S. 339.

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ne Position des Gewöhnlichen, Normalen ein, und blickt bewundert und beeindruckt hinauf zur als Wunder oder im modernen Diskurs als »supercrip« 40 verkörperten Differenz. 41 Dennoch geht es auch im außerordentlichen Modus weniger darum, den nicht-behinderten Betrachter in eine demütig-bewundernde Position zu bringen, sondern vielmehr kann dieser durch die distanzierte Beziehung zu dem, was er bewundert, sich seiner eigenen Normalität versichern und diese stabilisieren. Diesem Verhältnis zwischen nicht-behindertem Betrachter und betrachtetem behinderten Referenten im Bild steht der rührselige Modus gegenüber, der den behinderten Menschen als Opfer oder als hilflos Leidenden unterhalb des Betrachters positioniert. Garland-Thomson bindet diese Konstellation an die bürgerliche Empfindsamkeit des langen 19. Jahrhunderts an, in deren Spur der Betrachter dem behinderten Individuum gegenüber zum großzügigen und hilfsbereiten Akteur werden kann, der in einem nahezu paternalistischen Gestus den bemitleidenswerten Behinderten durch seine Aufmerksamkeit (zum Beispiel auch in Form von Almosen) als ihm unterlegen anerkennt. 42 Die dritte rhetorische Form, der exotische Blick, hält Betrachter und Betrachtetes auf Distanz: Der behinderte Mensch verkörpert das Fremde, das sich vom Betrachter eingehend begaffen und bestaunen lässt, Furcht und Neugierde zugleich anregt. Der Zuschauer erfährt sich dabei als erleuchtet und angenehm durch die Begegnung mit dem Exotischen erregt, bewahrt jedoch die Distanz. 43 Im Gegensatz zum exotischen Blick verringert der alltagsnahe Blick diese Distanz und stellt den Menschen mit Behinderung nicht mehr als etwas ›radikal anderes‹ dar, sondern normalisiert und minimiert die Sichtbarkeit in Form einer Zurschaustellung von Behinderung. »[R]ealistic«, so Garland-Thomson, heißt in keinem Fall, dass es sich um eine besonders echte oder wahrhaftige Darstellung handelt, sondern der Modus hat die Funktion, eine Vorstellung von Realität zu erschaffen. Insofern ist dieser Modus so konstruiert wie alle anderen Modi auch, kann aber Garland-

40 Insbesondere im Feld des Behindertensports wird häufig das Bild des »supercrips« aufgerufen, dem aufgrund einer besonderen Leistung oder einer besondere Fähigkeit die Fähigkeit zugeschrieben wird, seine eigene Behinderung oder Einschränkung ›überwinden‹ zu können. Vgl. dazu Grebe, Anna/Ochsner, Beate: Vom Supercrip zum Superhuman oder: Figuration der Überwindung. In: kritische berichte 41 (1) 2013b, S. 47-60; Kama, Amit: Supercrips versus the pitiful handicapped. Reception of disabling images by disabled audience members. In: Communications (29) 2004, S. 447-466 u.v.m. 41 Vgl. Garland-Thomson 2001, S. 340. 42 Vgl. ebd., S. 341f. 43 Vgl. Garland-Thomson 2001, S. 343.

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Thomson zufolge dazu ermutigen, dass Betrachter und Betrachteter sich auf Augenhöhe miteinander identifizieren und so Gleichberechtigung entsteht. 44 Diese vier rhetorischen Modi der Insbildsetzung von Behinderung sind meiner ersten These folgend hier eher als Impulse denn als feststehende Kategorien für die Frage nach der Produktion von Behinderung in der Fotografie zu verstehen, nicht nur da sie in den seltensten Fällen isoliert auftreten, sondern auch weil mit dieser Modellbildung der ikonisch-indexikalische Status des fotografischen Bildes vernachlässigt wird. Garland-Thomson erkennt die Asymmetrie zwischen starer und staree, die der fotografische Akt mit sich bringt, da die Oberfläche und die Rahmung des Bildes den Betrachter geradewegs dazu einladen, den abgebildeten Menschen zu betrachten, und weist in ihren unter den rhetorischen Modi erfolgenden und spannenden Bildanalysen auch auf die zeitlich-epochale Ungebundenheit der rhetorischen Figuren hin. 45 Jedoch argumentiert sie nicht im Anschluss an die Visual Studies auf der Grundlage einer permanenten Neuverfassung des Bildes als visuelles Ereignis und vernachlässigt überdies die Medialität, die ihren Ausführungen zum fotografischen Bild zugrunde liegen. Dies hat zur Folge, dass die von ihr beschriebenen Praktiken des Sehens von Behinderung für die Visual Studies unvollständig dahingehend bleiben, als sie die den Blick konfigurierenden Techniken verschweigt und so die visuelle Begegnung zwischen Subjekt und Objekt des Sehens ohne ihre Mediatisiertheit und ihr Dispositiv denkt. 46 So erscheinen die von ihr entwickelten Bildrhetoriken aufgrund ihres heuristischen Charakters freilich wenig flexibel und offen für die Beschreibung jener vexierbildhaften Bewegungen zwischen Normalisierung und Denormalisierung und können so letztlich keinen Ausweg aus dem Dilemma eines zugeschriebenen unabänderlichen medizinischen Blicks seitens des nicht-behinderten Betrachters auf einen Menschen mit Behinderung aufzeigen. Um aber genau jene Verschränkung der Ereignishaftigkeit des Bildes einerseits und von Behinderung andererseits und zugleich deren Arretierung im fotografischen Denken und des44 Vgl. ebd., S. 344. 45 »Photography mediates between the viewer and the viewed by authorizing staring. After all, photos are made to be looked at.« – »[Photographs] absolve viewers of responsibility to the objects of their stares at the same time that they permit a more intense form of staring than an actual social interchange might support. In other words, disability photography offers the spectator the pleasure of unaccountable, insistent looking.« Garland-Thomson 2001, S. 349. 46 Ulrike Bergermann zeigt diese Problematik an einer von Melody Davis vorgenommenen Bildanalyse von »John Slate« (Georges Dureau) auf, in welcher diese Rosemarie Garland-Thomson gleich die Medialität der Fotografie überspringt bzw. »für eine erotische Verschmelzungsphantasie« benutzt. Bergermann 2013, S. 288f.

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sen Dispositiven, die diese Studie vorschlägt, aufzuzeigen und beschreibbar machen zu können, erscheint es notwendig, sich von einem sich über die Verbindung von Blick und Gegenblick etablierenden rhetorisch-figurativen Modell wie auch von Kategorien einer spezifischen ›Behindertenästhetik‹ zu entfernen. Stattdessen gilt es, außerhalb von heuristischen Analysekategorien produktive Zugänge zu entwickeln, die den Status des Fotografen, des Referenten, des Betrachters und nicht zuletzt des Mediums selbst in seiner sozio-technischen Verfasstheit berücksichtigen und in ihrer Relation zueinander erfassen. Dadurch eröffnet sich für die hier weiter zu verfolgende Auffassung die Möglichkeit, die Produktion von Behinderung im fotografischen Medium als dynamischen Prozess zu denken, der zwischen den beteiligten Akteuren diskursiv ausgehandelt wird und beispielsweise in den 1970er Jahren rückwirkend unter einem ›medizinischen Blick‹ bzw. Modell zusammengefasst wurde, der den Anderen oder das Andere unter protonormalistischen Vorzeichen denkt und Aspekte der Medialität vernachlässigend diese Andersartigkeit an der Person festmacht.

3.4 D ER

KLINISCHE

B LICK

BEI

F OUCAULT

Wie bereits im ersten Kapitel erwähnt, ist es schwierig, das medizinische im Gegensatz zum sozialen Modell von Behinderung auf einen speziellen Diskurs oder einen gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Konsens zurückzuführen. Stattdessen verrät seine aufgerufene Referenz auf eben jenen ›klinischen Blick‹, dass es sich um ein aus den Eindrücken vieler historischer und damit auch sozialer Umbrüche gewonnenes Destillat handelt, das zwar an die von Michel Foucault beschriebenen Transformationen dieses professionalisierten Blicks auf den menschlichen Körper im Medizinalwesen und im Zuge der ›Erfindung‹ der Objektivität im 19. Jahrhundert an Diskurse des Blicks in den Körper anschließt, jedoch entscheidend von der Etablierung medialer Aufzeichnungsverfahren geprägt ist, die wiederum das Sehen mit dem genannten Objektivitätsanspruch verschränken – insbesondere durch die Fotografie. Foucault hat sich in »Die Geburt der Klinik« nicht auf die Fotografie bezogen, sondern zunächst die Bedingungen für das ärztliche Sehen im Frankreich des 18. und frühen 19. Jahrhunderts untersucht. 47 Zentral dafür ist die Frage danach, wie sich das Subjekt durch eben jenes Sehen und Wissen als Resultat von gesellschaftlichen Diskursen als ein solches konstituiert. Zu Beginn seines Untersuchungszeitraums wurde Krankheit als etwas begriffen, das sein eigenes Sein

47 Foucault 1993.

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besitzt und sich demzufolge aus sich heraus und von alleine entfalten kann. Die Krankheit verfügt daher über die Eigenschaft eines Zeichens, das sich dem Blick des Arztes präsentiert und sich dann, gruppiert mit anderen gelesenen Zeichen, auf einem Tableau anordnen, vergleichen und damit auf eine gewisse Weise mediatisiert verstehen lässt. 48 Der sich im Nachklang der Französischen Revolution verändernde Status der Klinik und ihre Reorganisation unter neuen ökonomischen Bedingungen erforderte auch einen veränderten Umgang mit jener ›Lesbarkeit‹ von Krankheit auf der Körperoberfläche, sodass die Beobachtung durch den Mediziner am Krankenbett an Bedeutung gewann. So konnte nun direkt über das gesprochen werden, was am Körper gesehen und observiert wurde, sodass die Tableau-Logik umgedreht wird und sich die Aussage direkt auf das Sichtbare beziehen kann, statt dass das Sichtbare sich nur auf das Aussagbare bezieht. Dieser Wandel und damit die Neubewertung des Zusammenhangs von Sichtbarkeit und Sagbarkeit vollzieht sich Foucault zufolge zwischen dem ›Sein‹ der Krankheit und ihrer Lokalisierbarkeit am Körper: »Die Krankheit ist nur mehr eine komplexe Bewegung von Geweben, die auf eine Reizursache reagieren: darin liegt das ganze Wesen des Pathologischen und es gibt keine essentiellen Krankheiten und keine Wesenheiten von Krankheiten mehr.« 49 Wenn sich nun also die Disability Studies bzw. die Vertreter_innen des sozialen Modells auf diese Verbindung von Sichtbarkeit und Sagbarkeit beziehen, so meine ich in der Übernahme des Begriffs keine falsche, jedoch eine missverständliche Rezeption von Foucaults Studie zu erkennen, die zwar konsequenterweise auf die Ursprünge der modernen Medizin und dem mit ihr verbundenen Menschenbild referiert, aber eine Wertung dieses Blicks vornimmt, welche so von Foucault aufgrund seiner eigenen Auffassung von Archäologie nicht intendiert war. Die Defizitorientierung, die dem medizinischen Modell gerade infolge des klinischen, ärztlichen oder medizinischen Blicks zugeschrieben wird, ist diesem selbst zunächst nicht inhärent, da er als Instrument zur Wahrnehmung, zum Vergleich und zur Organisation angelegt ist. Dieses nimmt in den damit verbundenen Praktiken zwar am konkreten Körper eine Unterscheidung zwischen ›krank‹ und ›gesund‹ vor, aber überführt erst in der Verbindung mit macht- und diskursanalytischen Überlegungen diese Differenzlogik in eine hegemoniale Ordnung, aus der wiederum die Polaritäten von Gesundheit und Krankheit bzw. in diesem Falle Nicht-Behinderung und Behinderung ihre einseitige negative Bewertung erhalten. Vielmehr scheint nämlich mit dieser Zuweisung u.a. der Blick des Arztes als Akteur gemeint zu sein, der aufgrund seiner sozialen Position als ›Experte‹ im Dispositiv der Klinik die Rolle eines Wahrsprechers ein48 Vgl. ebd., S. 19ff. 49 Foucault 1993, S. 202.

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nimmt und damit eine Form von Macht in sich vereint, die es ihm ermöglicht, aus der Beobachtung heraus bestimmte Verhaltensweisen oder Handlungsoptionen zu folgern, zum Beispiel ob ein Subjekt durch therapeutische Maßnahmen oder Rehabilitation in eine Normalität überführt werden soll oder nicht. Eben diese Handlungsmacht einer gesellschaftlichen Gruppe (jene der Ärzte, Pädagogen, aber auch der Politiker etc.), über eine andere Gruppe von Individuen ein Urteil sprechen und diese auf diesseits oder jenseits der protonormalistisch gedachten Grenze zwischen ›Normalität‹ und ›Nicht-Normalität‹ einordnen zu können und daraus folgernd konkrete Operationen am Körper in Form von Therapien oder Maßnahmen zu vollziehen, lässt sich also nicht primär und allein auf die von Foucault ursprünglich intendierte archäologische Instrumentalisierung des Sehens zurückführen. Vielmehr verweist diese Macht auf die an den Raum (der Klinik) gebundene oder angelehnte Organisation des Wissens, das sich in Wechselwirkung mit der Wahrnehmung als diskursive Praxis, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als ›wahr‹ markiert wird, stabilisiert. Swantje Köbsells Studie zum Verhältnis zwischen Menschen mit Behinderung und dem ärztlichklinischen Wesen vermag diese Opposition des sozialen Modells gegen das medizinische Modell von Behinderung in diesem Sinne noch zu stützen: Die biografische Erfahrung, dass Behinderung durch Ärzte mit Krankheit gleichgesetzt werde und diese deshalb abwägen, Therapie- und Heilungsversuche zu unternehmen, lässt Betroffene dies häufig als gewaltsame Eingriffe in ihr Sein begreifen, das dadurch auf einen ›Defekt‹ reduziert werde. 50 Der ärztliche Blick wird so als machtvolles Instrument begriffen, nicht nur in den Körper hinein zu blicken, sondern das an ihm gewonnene Wissen wieder an ihm und auch gegen ihn anzuwenden. Wird nun also im Rahmen der Disability Studies vom klinischen Blick als erkenntnisleitendes Moment für das medizinische Modell gesprochen, so muss dieser meines Erachtens im Sinne eines ›klinischen Blickregime‹ verstanden werden oder allgemeiner als ein ›visuelles Regime‹, welches das Subjekt anhand von Repräsentationen und der Wahrnehmung definiert, es in bestimmte diskursive (Bild-)Formationen einbindet und es sich so in Relation zu einem imaginären äußeren Betrachterstandpunkt wahrnehmen lässt. Das bedeutet, wie im ersten Kapitel auf der Grundlage des Ereignisbegriffes ausgeführt, dass eben jene Bedingungen für das Sehen von Behinderung und Nicht-Behinderung einem stetigen Wandel unterliegen, dessen Wirkmacht von sozialen wie auch technischen Veränderungen motiviert wird und dadurch auch stetig neue Deutungsangebote

50 Vgl. Köbsell 2003.

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hervorbringt. 51 Die Kritik, die die Disability Studies bzw. das soziale Modell von Behinderung an diesem stabilisierten klinischen Blick üben, zielt folglich auf die praktischen Konsequenzen der Exklusion und Separation, die aus dieser Ordnung gezogen wurden und dazu geführt haben, dass kranke und behinderte Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und zur ›Aufbewahrung‹ in Anstalten und Institutionen gebracht wurden, um so erneut ihren nicht-normalen Status zu zementieren. Sie richtet sich ferner an die Machtverhältnisse, die ein visuelles Regime in Wechselwirkung dazu zu produzieren und zu etablieren vermag und die Form von Wissen und Wahrheit, die ›Behinderung‹ als Devianz markiert und ein Körperideal erzeugt, das deutliche Normalitätsgrenzen dazu zieht. Ein Regime impliziert damit auch immer, dass es eine herrschende, eine dominante Wissensform gibt, die das Subjekt modelliert, jedoch eben nicht von einem zentralen institutionellen Punkt oder Souverän ausgeht, sondern sich im Sinne des von Foucault in seinen späteren Schriften geprägten Begriffs der Gouvernementalität als »Gesamtheit, gebildet aus den Institutionen, den Verfahren, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken […]« 52 vollzieht. Gerade die Technologie(n) des fotografischen Verfahrens und die Zuschreibungen, die an sie gemacht werden, spielen für die Errichtung und den Vollzug dieser Machtverhältnisse und für die damit verschränkte Konfiguration des nicht-behinderten/behinderten Subjekts eine wesentliche Rolle. Auch die Filmtheoretikerin Kaja Silverman betont dieses Potenzial der Fotografie: »Daß Subjektivität und Welt sich widerspiegeln, und darüber erst begründen, ist […] kein Merkmal unserer Epoche. Epochenspezifisch sind die Bedingungen, zu denen das geschieht: Die Darstellungslogik, die unseren Blick auf die Objekte bestimmt und die Gestalt, die wir selbst annehmen, sowie der Wert, den ein inzwischen komplett organisiertes visuelles Feld diesen Darstellungen beimißt. Dabei scheinen drei Technologien eine Schlüsselrolle zu spielen, die mit der Kamera eng verknüpft sind: Standfotografie, Film und Video. Es klingt vielleicht überraschend, aber es ist die erste dieser Technologien – die Standfotografie –, die den größten Einfluß darauf hat, wie wir das Gespiegeltwerden (er)leben.«

53

51 In »Die Geburt der Klinik« dient beispielsweise die ökonomisch-soziale Notwendigkeit der Veränderung des medizinischen und klinischen Wesens als ein solcher Katalysator und auch Stabilisator für das Sehen von Krankheit und Behinderung. Foucault 1993, S. 44. 52 Foucault, Michel: Dits et Écrits. Schriften, Band III, Nr. 239, 1976-1979. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 820. 53 Silverman 1997, S. 42.

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Neben einem Argument für die Annahme, dass es sich bei den sich aus den Modellen von Behinderung ergebenden visuellen Regimes nicht um genealogisch oder gar teleologisch gefestigte Abfolgen handelt, sind in diesem Zitat (wenngleich auch nur angedeutet) drei wichtige Teilprozesse des fotografischen Aktes und seiner Bedeutung für die Wahrnehmung von Normalität enthalten: die Subjektkonstitution durch das Posieren vor der Kamera, das Sich-Einschreiben in die Fotografie durch den mechanisch-optischen Akt des Auslösens und die Rezeption der Welt durch das fotografische Bild und die damit verknüpften Sehkonventionen. In diesen drei Schlaglichtern spiegelt sich das wider, was Silverman in ihren Studien als Bedingungen gesellschaftlich dominanter Sehweisen konzeptionalisiert hat, die sich in ihrer Gesamtheit als die Konstitutiven für die Erfassung visueller Regime beschreiben lassen. Sie bilden ein dichtes und von permanenten Wechselwirkungen gekennzeichnetes Feld, das Martin Jay folgend durchaus von einer Pluralität verschiedener Sehweisen charakterisiert ist, die sich voneinander abzugrenzen versuchen und wenig harmonisch zueinander stehen, jedoch auch unbestreitbar majorisierte und minorisierte Seh- und Deutungsweisen hervorbringen. 54 Diese Erkenntnis macht an dieser Stelle deutlich, dass es sich zumindest beim medizinischen Modell von Behinderung auch und gerade um ein hegemoniales visuelles Regime handelt, das sich als »dominante Fiktion« 55 vor dem Hintergrund eines »kulturellen Bilderrepertoires« 56 herausgebildet hat, das das Subjekt vor der Kamera wie auch das rezipierende Subjekt konfiguriert und bestimmt, wie es gesehen wird und wie es sich selbst zu sehen hat. 57 Die Kamera als technisch-mediale Apparatur wird so zur Beobachtungs- und Kontrollinstanz«, anhand derer sich das Subjekt »als eines, das sich seiner im Feld der Sichtbarkeit, im Blick des Anderen« versichert. 58 Jenes Feld der Sichtbarkeit oder auch Bilderrepertoire, enthält wiederum einen Teilbereich, der von Silverman als das »Vorgesehene« (engl. »given-to-be-seen«, frz. »donné-a-voir«) bezeichnet wird und die Bedeutung von bereits existierenden Bildern für die Wahrnehmung neuer Bilder stark macht. So müssen in der Analyse auch »jene Parameter der Sinnherstellung und jene Bilder, die sich nachdrücklich und unvermeidlich aufdrängen, weil sie durch häufige und emphatische Wiederholung enorm präsent sind […]« 59 Beachtung finden, um verstehen zu können, auf wel54 Vgl. Jay 1988, S. 4. 55 Silverman, Kaja: Male subjectivity at the margins. New York: Routledge 1992, S. 1551. 56 Silverman 1996, S. 42. 57 Vgl. Schaffer 2008, S. 113. 58 Bublitz 2006, S. 351. 59 Schaffer 2008, S. 114.

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chem Wege sich visuelle Regime stabilisieren und über einen langen Zeitraum halten können, während andere in dieser hegemonialen Ordnung eine subalterne Rolle spielen. Aufgrund ihres repetitiven Erscheinens und des von unseren Blicken Illuminiertwerdens treten diese Bilder in den Vordergrund, erhalten dadurch den Status des Wahrhaftigen, Unhintergehbaren und stellen sich so immer wieder zwischen den Menschen und die Welt, indem sie seine Wahrnehmung organisieren und zugleich präfigurieren. In diesem Sinne erscheinen das soziale und das kulturelle Modell und die damit aufgerufenen neuen Betrachtungen und Deutungen von Behinderung als eine Art neue und (noch) subalterne Blickregime, die durch politische Umwälzungen, den sozialen Wandel und veränderte technische Möglichkeiten der Bildproduktion und -rezeption sich unter neuen Bedingungen konstituiert haben und mit dem Blickregime des medizinischen Modells in einem deutlichen Spannungsverhältnis stehen. Sie fordern es heraus, indem sie nach seiner Berechtigung fragen, den Diskurs zu beherrschen, sind aber auch gleichsam Teil dieses Diskurses, denn ein »Konzept herrschender Repräsentationspraktiken [impliziert] die Existenz minorisierter oder subalterner Formen und Praktiken«. 60 Die mit dem medizinischen Blickregime von Behinderung in Verbindung gebrachten Bilder des kulturellen Bilderrepertoires sind folglich über einen langen Zeitraum hinweg häufig ›angestrahlt‹ worden, um in Silvermans Rhetorik zu bleiben, während andere, alternative und vom Blickregime des sozialen Modells favorisierte Bilder zwar vorhanden gewesen zu sein scheinen, jedoch im Dunkeln des Repertoires verharrten. Damit sie in den Vordergrund treten und so hegemoniale Bildpraktiken kritisch angreifen können, um sie langfristig zu verändern, müssen sich die Bilder des sozialen bzw. des kulturellen Blickregimes von Behinderung zunächst der visuellen Grammatik des dominierenden medizinischen Blickregimes bedienen, was sich in der Bildanalyse in Kapitel 4 insbesondere in den Porträtfotografien noch zeigen wird. 61 In Bezug auf das obige Zitat betont Silverman im Anschluss an Vilém Flusser, dass die Organisation unseres Sehens im 20. Jahrhundert insbesondere von der Fotografie geprägt sei, da zwar nicht diese selbst, jedoch der ihr inhärente und für sie konstitutive Blick durch einen »imaginären Sucher« diese Ordnungsaufgaben übernehme und sich zwischen Welt und Mensch zu schieben scheine, sodass »das Gesehene nach fotografischen Kategorien« strukturiert werde. 62 Wenn sich dieses Kapitel der Untersuchung von Fotografien aus dem Liebenauer Archiv widmet, um etwas über die Blickregime von Behinderung und Normalität im Spannungsfeld der Modellbildung der Disability Studies zu erfahren, so gilt 60 Schaffer 2008, S. 115, Herv. i.O. 61 Vgl. ebd., S. 161. 62 Vgl. Silverman 1997, S. 42.

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es demnach, Fotografien als ›Subjektivierungsmaschinen‹ zu begreifen, die das sehende wie auch das zu fotografierende Subjekt formen und dadurch Wissen hervorbringen und es als Wahrheit konsolidieren – eine soziale wie auch fotografische Wahrheit über Behinderung. 63

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Mit der Erfindung der Fotografie erhält der Arzt Unterstützung durch eine neue Technologie und die an sie gemachten Zuschreibungen der Objektivität, die die »Souveränität des Blicks« 64 in ihrer hegemonialen Position bestärken und der Wissenschaft sozusagen »Augen einsetzt«. 65 Die Kraft der Evidenz, die ihr zugewiesen wird, ist insbesondere für die medizinische Fotografie ein Argument für ihren Gebrauch zur Dokumentation wie auch zur Diagnose von sich körperlich zeigenden Abweichungen, um für Objektivität und Authentizität im selben Maße zu garantieren. 66 Jedoch musste gerade für jene Erkrankungen, die sich nicht oder nur minimal auf der Körperoberfläche manifestieren, zur Feststellung der Abweichung von der Normalität zu Diagnoseverfahren gegriffen werden, die über die reine Beobachtung am Krankenbett hinaus ein Urteil erlauben und insbesondere eine Vergleichbarkeit dieser Diagnosen ermöglichen. Auch hier schienen sich in der Fotografie diese Ansprüche zu erfüllen, sodass bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in psychiatrischen Anstalten mit technischen Mitteln unter der Prämisse ihrer naturgetreuen Abbildfähigkeit experimentiert wurde und damit einhergehend der Mensch einer »operationale[n] Herrschaft«67 unterworfen wurde, die sich in der Wechselbeziehung zwischen Blick und Bild entfaltet. Der Kulturwissenschaftlerin Susanne Regener folgend vollzieht sich dies dahingehend, dass »Bilder von psychiatrischen Patienten […] eine Realität [erzeugen], die erst durch die Beschreibung des Arztes Sinn generiert und eine Diagnose be-

63 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve-Verlag 2005, S. 193; vgl. auch Broeckmann, Andreas: KompositSubjekte. In: Radikale Bilder. 2. Österreichische Triennale zur Fotografie vom 14. Juni-28. Juli 1996 in Graz. Graz: Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum 1996, S. 116-122, hier S. 116. 64 Foucault 1993, S. 19. 65 Regener 2006, S. 19. 66 Vgl. Ochsner 2007, S. 186. 67 Foucault 1993, S. 129.

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haupten lässt« 68, zugleich aber die »Produktion des Bildes […] eine Ausbildung des ärztlichen Blicks« 69 verlange, woraus sich eine spezifische Blickkultur ergebe, »die den Patienten als eingeschlossenen, kranken und anormalen Menschen konstituiert« 70. Sie bezieht sich dabei auf die umfassenden Bilderreservoirs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die im Rahmen von Institutionen wie zum Beispiel dem Springfield Hospital in Surrey/England, der Salpétrière in Paris oder auch der Anstalt Weilmünster in Deutschland entstanden sind und von Ärzten angefertigt bzw. in Auftrag gegeben worden waren, und schreibt diesen Patientenaufnahmen als visuellen Ereignissen die Macht zu, »fortwährende definitorische Unterscheidungen zwischen normal und anormal« 71 auszuhandeln. Hugh Welch Diamond gilt als erster Psychiater, der fotografische Verfahren für die Diagnose und Therapie in der von ihm geleiteten Einrichtung fruchtbar machte. 72 Seit etwa 1848, nur ein knappes Jahrzehnt nach der Erfindung der Fotografie durch Talbot bzw. Daguerre, hatte Diamond begonnen, die Insassen des Surrey County Lunatic Asylums zu porträtieren, um diese und deren ›Krankheit‹ anhand von physiognomischen Studien besser erforschen zu können, aber auch um sie im Zuge therapeutischer Maßnahmen mit einem »accurate self-image« 73 zu konfrontieren. Seinen Bemühungen, die ›Krankheitsabläufe‹ von der Einweisung bis zur Entlassung fotografisch zu dokumentieren stehen die wenige Jahrzehnte später entstandenen Aufnahmen Jean-Martin Charcots aus der Salpétrière in Paris entgegen, welcher einer Erkrankung wie der von ihm erforschten Hysterie unumstößliche physiognomische Kennzeichen zuschrieb, die er wiederum fotografisch sichtbar werden ließ. 74 Aus dieser Wiederholung oder Wiederaufführung des ›Wahnsinns‹ und seiner Arretierung im Bild schuf Charcot eine Samm68 Regener 2006, S. 19. 69 Ebd., S. 20. 70 Ebd., S. 8. 71 Ebd., S. 7. 72 Vgl. dazu Burrows, Adrienne/Schumacher, Iwan: Doktor Diamonds Bildnisse von Geisteskranken. Frankfurt a.M.: Syndikat 1979; Gilman, Sander (Hrsg.): The face of madness. Hugh W. Diamond and the origin of psychiatric photography. New York: Brunner/Mazel 1976. 73 Gilman 1976, S. 7. 74 Vgl. dazu Didi-Huberman, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. München: Wilhelm Fink Verlag 1997; Dahlke, Karin: Spiegeltheater, organisch. Ein Echo auf Charcots Erfindung der Hysterie. In: Schuller, Marianne/Reiche, Claudia/Schmidt, Gunnar (Hrsg.): BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin. Hamburg: Lit Verlag 1998, S. 213-242.

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lung, einem Museum gleich, die das in der Institution herrschende Blickregime konfigurierte und hinsichtlich der Ästhetik der Aufnahmen für die medizinischpsychiatrische Fotografie in den folgenden Jahrzehnten maßgebend war. Aufgrund der Tatsache, dass die Differenzierung zwischen körperlichen und psychischen Erkrankungen sowie körperlichen und geistigen Behinderungen sich seit jeher immer wieder anhand einer permanenten Grenzverschiebung zwischen Normalität und Nicht-Normalität neu vollzieht und im Anstalts- und Medizinalwesen bis tief ins 20. Jahrhundert folglich häufig kein Unterschied zwischen Krankheit und Behinderung gemacht wurde, ist für die Analyse der Liebenauer Bilder die Referenznahme auf die medizinische wie auch auf die psychiatrische Fotografie von Relevanz, da die jeweilige Ästhetik dieser beiden institutionell gewachsenen Genres sich gleichsam in den Aufnahmen aus Liebenau widerspiegeln. 75 Insbesondere die fotografische Arretierung der ›Unsichtbarkeit‹ von geistiger Behinderung erfordert bestimmte Inszenierungsmodi, die einerseits die Abweichung von einer körperlichen bzw. geistigen Normalität hervortreten lassen, andererseits diese aber für den Betrachter in einer ihm bekannten Ästhetik verorten. Susanne Regener schlägt dazu vor, die Psychiatriefotografie zwischen »Normalitätsaussagen« und »Anormalitätsaussagen« oszillierend zu denken und argumentiert dabei anhand der Konventionen der bürgerlichen Atelierfotografie am Ende des 19. Jahrhunderts: 76 »Normalitätsaussagen« werden getroffen, indem eine Person sich entsprechend der zeitgenössischen Gepflogenheiten fotografisch inszenieren lässt, eine »Anormalitätsaussage« ist dementsprechend ein Nichtbefolgen dieser Konventionen bzw. die Insbildsetzung der Abweichung von einem bestimmten fotografischen Diskurs in Form von »Grimassen, Abwendung des Blickes, aufgerissene[n] Münder[n]« und der Ablichtung des Referenten im Nachthemd statt der Inszenierung in schicker Kleidung, mit sorgfältig 75 Diese Bezugnahme auf die psychiatrische Fotografie ist zum einen möglich, weil die Liebenau bis in die 1970er Jahre Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung als auch Menschen mit psychischen Erkrankungen aufgenommen hat und daraus zunächst keine Unterschiede in der Betreuung abgeleitet hat. Zum anderen existierte bis ins 20. Jahrhundert keine eindeutige Trennung zwischen (geistiger) Behinderung und psychischer Erkrankung; wie auch schon Michel Foucault in »Wahnsinn und Gesellschaft« beschrieben hat, ist die Grenzziehung zwischen ›Vernunft‹ und ›Wahnsinn‹ schon immer ständig im Werden begriffen gewesen und findet erst in der Ermächtigung dieser Diskurse seitens der Medizin Orte, an denen ›Wahnsinn‹ von ›Vernunft‹ geschieden wird, jedoch noch keine Grenzen zur geistigen Behinderung gezogen werden. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969. 76 Vgl. Regener 2006, S. 132.

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gekämmtem Haar und in aufrechter Position in entsprechend edlem Ambiente. 77 Die Annahme, dass sich das ›Nicht-Normale‹ am ›Normalen‹ ausrichtet und nicht auch umgekehrt, erscheint hier gleichsam problematisch, da dies bedeuten würde, dass lediglich das ›Normale‹ eine stabile Kategorie darstellt. Betrachtet man die von Regener vorgeschlagenen Begrifflichkeiten jedoch als dynamische und in einer Wechselbeziehung zueinander stehende Enden eines Kontinuums, so lässt sich innerhalb dessen auch die Herstellung der Grenzen zwischen »Normalitätsaussagen« und »Anormalitätsaussagen« beschreiben. In diesem Sinne wäre das Liebenauer Porträt von 1904 folgendermaßen zu verstehen: Der Verweis auf die bürgerliche Porträtfotografie ergibt sich durch die Positionierung des Jungen auf einem Stuhl vor einem einheitlichen Hintergrund und seine frontale Ausrichtung auf das Kameraobjektiv; dies sei die Normalitätsaussage. Deren Gegenpart, die Anormalitätsaussage, würde somit über die verschmutzte Kleidung erfolgen, die, wie im ersten Kapitel festgestellt, zugleich auch das irritierende Moment bildet, das dem Betrachter die Deutungsmöglichkeit einer Abweichung eröffnet und damit wiederum die Normalitätsaussage relativiert. »In diesem Nebeneinander von gewöhnlichen und ungewöhnlichen, privaten und institutionellen Visualisierungen entwickelte sich ein Voyeurismus, eine heimliche Lust an der Monstrosität.« 78 Diese Monstrosität, das Eindringen von etwas Unbekanntem in etwas Bekanntes 79, vollzieht sich zum einen auf der Ebene des fotografischen Aktes, indem die porträtfotografischen Konventionen verletzt oder gebrochen werden. Zum anderen wirkt sich dieses ästhetische ›Dazwischen‹ auch auf das Menschenbild aus, das durch das Bild transportiert wird. So ist wie im Falle der psychiatrischen Fotografie oder der Liebenauer Bilder weniger der abgelichtete Mensch das ›Monster‹ und per se körperlich missgestaltet oder abweichend, sondern seine Inszenierung in Verbindung mit der fotografischen Eigenlogik macht ihn für den Betrachter »zu einer reale[n]

77 Vgl. Regener 2006, S. 132. 78 Ebd., S. 132. 79 Aus der Sicht der Phänomenologie » […] setzt [dieser] Prozess ein, wenn Unvertrautes erscheint, wo Vertrautes erwartet wird, wenn das Unheimliche an die Stelle des Heimeligen tritt, das Ungeheure an die Stelle des Geheuren, wo es also zu einer Art Einbruch des Fremden in eine als selbstverständlich und natürlich empfundene Ordnung kommt.« Vgl. Dederich 2007, S. 88. Gleichsam ist jener Ausdruck für das Verhältnis zwischen ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹ bereits bei Roger Caillois’ Definition der Phantastik angelegt. Vgl. Caillois, Roger: Au cœur du fantastique. Paris: Gallimard 1965, S. 161.

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Erscheinung, für die Erklärungsbedarf besteht« 80, da diese Erscheinung sich als Differenzphänomen, jedoch nicht als ontologisches Faktum lesen lässt. 81 Der Junge mit der verschmutzten Jacke ist innerhalb des fotografischen Rahmens als Differenz zu einer Normalität markiert, wie sie auch in Aufnahmen aus der Psychiatrie um die Jahrhundertwende aufgespürt werden kann. Da jedoch diese Fotografie die einzige erhaltene aus dieser Zeit in Liebenau ist, kann nur gemutmaßt werden, ob es sich dabei um eine gezielte und an die psychiatrisch-diagnostische Fotografie angelehnte Methode handelte. Zudem ist nicht bekannt, zu welchem Zwecke die Aufnahme angefertigt wurde und wer der Fotograf war, weshalb die Zuschreibung einer bestimmten Intention an diesem Punkt eine Leerstelle bleiben muss. Nichtsdestotrotz wird hier bereits deutlich, dass das Bildnis von 1904 einem bestimmten Prinzip folgt, welches es von den Produktionsumständen und der Ästhetik der »Fotografie-wider-Willen« 82 aus dem psychiatrischen Kontext trennt, es zugleich aber ebenso an den damit verbundenen fotografischen wie auch medizinischen Diskurs anbindet, was wiederum eine Referenz auf den klinischen Blick auf Behinderung nahelegt. Das Blickregime formt dadurch das Subjekt vor der Kamera als (Untersuchungs-) Objekt, das dem haltlosen Starren und Staunen des Betrachters ausgesetzt ist, der wiederum in seinem Rezeptionsprozess die Vor-Bilder aus der bürgerlichen Atelierfotografie wie auch aus der Psychiatriefotografie aufruft und sich selbst als ein von diesen hegemonial-dominanten Vorbildern präfiguriertes Subjekt wahrnehmen kann. Er nimmt so die Position des Arztes ein, indem er sehend die Abweichung von jenen ihm bekannten Bildern erörtert und verortet durch den Vergleich das Porträt und damit auch den abgebildeten jungen Mann innerhalb des Spannungsfeldes zwischen Normalitäts- und Anormalitätsaussage letztlich deshalb auf Seiten der Abweichung. Der Laien-Blick wird zum professionalisierten Blick, der ›normal‹ von ›nicht normal‹ scheidet. Das Potenzial dieses Blickregimes, diese Wahrheit über Behinderung zu produzieren, entfaltet sich zwischen 80 Hagner, Michael: Monstrositäten haben eine Geschichte. In: Ders. (Hrsg.): Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen: Wallstein Verlag 1995, S. 8-20, hier S. 9. 81 Vgl. zur Thematik des Monströsen in den Literatur- und Kulturwissenschaften: Stammberger, Birgit: Monster und Freaks. Eine Wissensgeschichte außergewöhnlicher Körper im 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2011; Geisenhanslüke, Achim/Mein, Georg (Hrsg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld: transcript 2009; Hagner, Michael: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Göttingen: Wallstein Verlag 1995; Ochsner 2007. 82 Regener 1999, S. 16.

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der zeitgenössischen Zuschreibung an die Fotografie, ein Abdruck der Natur zu sein, und jener, dass eben aufgrund dieser Naturtreue in der fotografischen Stillstellung des Referenten mehr als diese Natur zu sehen sei und somit das Unsagbare sagbar und vor allen Dingen: beschreibbar werde. So stehen die Bilder für sich und benötigen keine erklärende Legende oder ergänzende Informationen über die abgebildete Personen oder die genauen historischen Umstände der Aufnahme, vielmehr verschmelzen in ihnen selbst »Forschungsmittel und Forschungsresultat zu einem visuellen Ereignis« 83, welches in seinem permanenten Sich-Vollziehen und durch die ikonisch-indexikalische Eigenschaft der Fotografie Erkenntnis über das Verhältnis von Normalität und Nicht-Normalität hervorbringt und wahrhaftig macht. Es kreuzen sich demgemäß in diesem Blickregime bereits um die Jahrhundertwende die von den Disability Studies proklamierten Modelle von Behinderung insofern, als durch die ästhetische Monstrosität zwischen Normalitäts- und Anormalitätsaussagen im Porträt des Jungen wie auch in vielen Aufnahmen aus der Psychiatriefotografie und der medizinischen Fotografie die Grenze zwischen der Kennzeichnung als ›deviant‹ und der Zuschreibung von Normalität zwischen dem Bild und dem Betrachter, im »medialen Zwischenraum« 84, ausgehandelt wird. Der klinische Blick auf den Menschen, der ordnet und klassifiziert und so die Behinderung von der Nicht-Behinderung zu scheiden vermag, trifft auf eine ästhetisch-kompositorische Anordnung, die aufgrund ihrer Konventionalität und ihren Bemühungen um die Normalisierung von Menschenbildern ebenso den Anforderungen des sozialen Modells entspräche, da sie zunächst die vom klinischen Blick getroffene Unterscheidung nicht impliziert und erst durch das Sehen das Bild zu einem visuellen Ereignis macht, das die Monstrosität der Ästhetik in einer Monstrosität der Körper aufgehen lässt. Die fotografischen Praktiken, die sich in und an den Bildern aus dem Liebenauer Archiv entfalten, lassen als diachronen ›roten Faden‹ die Tendenz zu einer visuellen Normalisierung von Behinderung erkennen, welche nicht im selben Maße mit einer tatsächlichen soziopolitischen Normalisierung von Behinderung einhergeht, wie sie vermutlich in einer Untersuchung der sozialen Praktiken des 19. und 20. Jahrhunderts in Erscheinung treten könnte. Die gleichzeitige Denormalisierungstendenz, die Brüchigkeit und die vexierbildhafte Wirkung der hier vorzustellenden Aufnahmen sind somit weniger in der Intentionalität des Fotografen zu verorten. Sie sind vielmehr der medialen Eigenlogik geschuldet, die den Bildern teilweise erst ein latentes Irritationspotenzial einverleibt, das in wechselseitiger Referenz mit dem 83 Regener 2006, S. 67. 84 Tholen, Georg-Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 22.

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(Vor-)Sehen des Betrachters Behinderung als Abweichung von der gesetzten Normalität produziert, wie im nächsten Kapitel in Form von Bildanalysen erörtert werden wird.

4. Anderes beschreiben: Bildanalysen

Bei der ersten Sichtung der neu bzw. wiederentdeckten Fotografien aus dem Liebenauer Archiv wurde bereits deutlich, dass trotz der insgesamt sehr hohen Anzahl von fast 70.000 Aufnahmen sich der Großteil der Bilder etwa ab den 1970er Jahren ansiedeln lässt und insbesondere aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nur wenige Fotografien erhalten sind. Das vorgestellte Porträt des Jungen aus dem Jahre 1904 scheint dabei die älteste sich im Archiv befindende Aufnahme eines Menschen zu sein, danach sind bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg keine Fotografien auffindbar und die fotografische Praxis setzt erst wieder in den 1920er Jahren mit den neun Aufnahmen eines unbekannten Fotografen in Liebenau ein. Folglich habe ich mich dazu entschieden, jene Aufnahmen aus der Zeit der Weimarer Republik als Startpunkt für meine Analyse auszuwählen, auch da sie aufgrund ihres seriellen Charakters eine anschlussfähige Basis für die zweite Häufung von Fotografien in den 1930er Jahren bilden, die dem bereits genannten Jesuitenpater Johannes Baptista Hubbuch zugesprochen werden können. Hubbuchs Aufnahmen sind am Vorabend des Zweiten Weltkriegs gleichsam die einzigen fotografischen Zeugnisse aus Liebenau, die das Alltagsleben in der oberschwäbischen Anstalt zeigen, zumal sie als Diapositive außerhalb des Archives in einem abgeschlossenen Schrank aufbewahrt worden sind. Auch während des Zweiten Weltkrieges setzt die fotografische Produktion in Liebenau weitestgehend aus und findet erst mit der Rückkehr Hubbuchs aus dem Exil in den 1950er Jahren wieder Eingang in den Anstaltsalltag. Um dessen Arbeiten mit anderen zeitgenössischen Aufnahmen zu konturieren, bildet ein Bilderkonvolut eines unbekannten Fotografen ab etwa 1957 die Grundlage für den dritten Teil der Analyse. Bieten sich die ausgewählten Bildbeispiele aus den 1920ern, den 1930ern und den 1950ern also auch deshalb zur Analyse an, da sie innerhalb des Archives und innerhalb ihres Entstehungszeitraumes nahezu alleine stehen, so ist aufgrund der schnell und immens zunehmenden Anzahl an Aufnahmen im

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Liebenauer Fotoarchiv ab den 1970er Jahren die für diese Studie notwendige Auswahl deutlich problematischer. Letztlich haben so jene Fotografien im vierten Analyseteil einen exemplarischen Rang erhalten, die innerhalb eines Films oder einer Reihe besonders häufig wiederholt worden sind bzw. in Publikationen der Stiftung in Umlauf gekommen sind und so schon einen ersten Selektionsprozess durchlaufen haben, der für die Analyse der visuellen Regime von Bedeutung ist. So unterschiedlich diese ausgewählten Aufnahmen sind, so vielfältig und bisweilen assoziativ mögen auf den ersten Blick die Zugänge erscheinen, die ich dafür gewählt habe: Um aufzeigen zu können, wie ›Behinderung‹ zu verschiedenen Zeitpunkten im visuellen Feld produziert wird, gilt es, die Bilder aus Liebenau ästhetisch zu verorten, das heißt also, sie einerseits an jeweils zeitgenössische Diskurse der Fotografie anzubinden und andererseits konkrete fotografische Vergleichsmöglichkeiten heranzuziehen, zum Beispiel in Form von künstlerischen als auch privaten Fotografien. Im Zuge dieses Abgleichs können die ausgewählten Liebenauer Fotografien dann ebenso in ihren historischen Kontext eingebettet und an sozio-politische Diskurse von Behinderung in der Weimarer Republik, der NS-Zeit und der Bundesrepublik angeschlossen werden, sodass die Strategien der sozialen als auch der technischen Zurichtung der fotografisch arretierten Subjekte zutage treten und an ihnen die Praktiken der Produktion von Normalität als auch Nicht-Normalität beschreibbar werden. Da bei einem Großteil der Liebenauer Bilder nicht mehr quellenfundiert nachzuweisen ist, von wem und zu welchem Zwecke fotografiert wurde, wird in der folgenden Analyse deutlich, wie breit das Feld der Zugangsmöglichkeiten zu den Aufnahmen ohne derlei Informationen ist und auf wie viele unterschiedliche Arten und Weisen ›Behinderung‹ zum fotografischen Sujet werden kann. Wenn man sich wie hier außerhalb des Rahmens von ›gesichertem‹ historischem Wissen bewegt und sich überdies auf die Praktiken der Insbildsetzung unter den Vorzeichen einer medialen Eigenlogik der Fotografie konzentriert, so stabilisiert man als Forschende selbst in Form von Beschreibung ein Wissen, das wiederum überhaupt erst zur Produktion der Dichotomie von ›Behinderung‹ und ›Nicht-Behinderung‹ beiträgt. Im Bewusstsein dessen, dass mein Blick und mein kulturelles Bilderrepertoire selbst zu Akteuren in diesem Herstellungsprozess werden, versteht sich dieses Kapitel nicht als eine absolute und abgeschlossene Analyse, sondern vielmehr als Versuch, anhand einer Fallstudie die Bedingungen des Sehens zu beschreiben, die den Bildern als kulturelle Artefakte eingeschrieben sind bzw. zugeschrieben werden und wie sie so aus dem Archiv hervortreten.

B ILDANALYSEN

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4.1 »ARBEIT IST DIE BESTE M EDIZIN « 1 – W ERKSTATTFOTOGRAFIEN AUS DEN 1920 ER J AHREN 4.1.1 Visuelle Ein- und Ausschlüsse Die Stiftung Liebenau steht nicht nur aufgrund ihres Entstehungszeitraums zum Ende des 19. Jahrhunderts nahezu emblematisch für viele konfessionelle Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, sondern auch wegen ihrer geografischen Lage und der damit verbundenen wirtschaftlichen Situation: Errichtet im ländlich-katholischen Oberschwaben-Bodensee-Raum war von Beginn an ihre Existenzgrundlage an die Eigenversorgung durch die Landwirtschaft geknüpft, wie es auch in anderen etwa zeitgleich ins Leben gerufenen Anstalten der Fall war (zum Beispiel Ursberg in Bayern, Heggbach bei Biberach an der Riß u.v.m.). Frauen und Männer in Liebenau mussten, sofern dies aufgrund ihrer körperlichen Einschränkung möglich war, sich nicht nur an den Arbeiten auf dem Feld, im Hof und in der Küche beteiligen, sondern stellten teilweise den Erhalt der eigenen Einrichtung sicher, ergänzt durch die Pflege- und Kostgelder der Angehörigen. So stand ab der Gründung der Anstalt bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs die Versorgung der Bewohner von Liebenau mit Grundnahrungsmitteln im Fokus der Grundstücks- und Baupolitik des leitenden Direktors Josef Wilhelm (im Amt von 1910 bis 1953), weshalb bereits früh eigene Werk- und Arbeitsstätten erbaut wurden, in denen die Pfleglinge unter Anleitung von Franziskanerschwestern und später auch Handwerksmeistern arbeiteten. 2 So schrieb der Direktor in seinem Jahresbericht von 1913: »Einschließlich der besseren Schwachsinnigen und besseren Epileptischen haben wir etwa einhundert Leute, die zur Arbeitsverwendung in Betracht kommen. Von diesen kann die Hälfte nur zum Holztragen, Wassertragen, Hopfenzupfen, Bodenscheuern und ähnlichen geringen Handleistungen verwendet werden. Die übrigen verteilen sich auf Feld- und Stallarbeiten, Bürstenbinden, den Gemüsegarten, die Waschküche und Speiseküchen sowie das Nähzimmer.«

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Sierck, Udo: Arbeit ist die beste Medizin. Zur Geschichte der Rehabilitationspolitik.

2

Vgl. Schnieber 1995, S. 51f.

3

Link, Hermann: Die Stiftung Liebenau unter Direktor Josef Wilhelm 1910-1953.

Hamburg: Konkret-Literatur-Verlag 1992.

Tettnang: Lorenz Senn 1995, S. 17.

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Abbildung 5: »Schusterwerkstatt«

Quelle: Max Schmidt, entnommen aus: Kaufhold, Enno: Arbeitsbilder deutscher Kunstfotografen (1890-1914). In: Fotogeschichte 2 (5), 1982, S. 39-50, hier S. 43, 1899

Etwa zehn Jahre nachdem Wilhelm dies in seinem Bericht hervorhob, ist eine Serie von (neun noch auffindbaren) Schwarz-Weiß-Fotografien entstanden, die die von ihm angesprochenen Arbeitsbereiche thematisieren und die zu den wenigen erhaltenen Bildern aus den 1920er Jahren zählen. Sie zeigen Menschen in Zivil bzw. Arbeitskleidung und Ordensschwestern u.a. in der Schmiede, beim Bürstenmachen, in der Küche, in der Metzgerei beim Wursten, am Butterfass, in der Nähstube und in der Schuhmacherei. Um die Natürlichkeit und Alltäglichkeit der dargestellten Szenen einerseits abzubilden, andererseits aber auch viele Personen, Requisiten und Gesten in einem Bild zu vereinigen, bewegen sich die Fotografien dieser Serie seltsam zwischen verschiedenen Polaritäten, zwischen Bewegung und Stillstand, zwischen Normalität und Nicht-Normalität und wenden sich dabei einerseits zeitgenössischen fotografischen Konventionen zu und andererseits von den selbigen in einer Doppelbewegung ab. Zieht man als ästhetische Referenz die sich seit der Jahrhundertwende aus der Kunstfotografie heraus entwickelnde Arbeiterfotografie heran, so scheinen die Liebenauer Einblicke ins Werkstattwesen sich an fotografische Genrestudien wie die der Gebrüder Hofmeister, Hugo Hennebergs oder Max Schmidts anschließen zu lassen, in denen zum Beispiel Letztgenannter eine Schusterwerkstatt zeigte, in der Meister, Lehrling und Geselle großformatig abgebildet sind und gemeinsam auf engem

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Abbildung 6: Schusterwerkstatt

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1920 4 Raum gemeinsam an einer Werkbank arbeiten (Abb. 5). Die Liebenauer Schusterwerkstatt wird vom unbekannten Fotografen auf eine ähnliche Art und Weise präsentiert (Abb. 6): Ein älterer Mann, vermutlich der Meister, und ein junger Bursche, wohl der Lehrling, sitzen gemeinsam an einer Werkbank; beide halten jeweils einen Schuh bzw. Stiefel in der einen Hand und arbeiten mit der anderen Hand daran. Von hinten rechts fällt grelles Licht durch ein Fenster, die Szene ist hell erleuchtet und wirkt insofern inszenierter als die Schusterwerkstatt von Max Schmidt, da die Protagonisten direkt in die Kamera blicken, wobei der Meister auf der linken Seite frontal aufgenommen wird und der Bursche rechts sich mit dem Oberkörper nach links dreht, um sein Gesicht direkt ablichten lassen zu können. Meister und Lehrling sind jedoch nicht die einzigen Personen im Bild. Am linken Bildrand steht ein weiterer Mann mit Handwerkerschürze und einem Paar Stiefel in der linken, einem Korb in der rechten Hand, der in Seitenansicht nicht nur am Kameraobjektiv, sondern auch an der Szenerie zwischen seinen beiden Kollegen vorbeizuschauen scheint. Sein Gesicht ist starr, die Augen weit aufgerissen – und er fällt nicht nur aus dem Rahmen, weil er in Bewegung zu sein scheint, da seine Figur leicht verschwommen ist: Er fällt aus dem Bild, da er abseits der fotografischen Konvention zu sehen gegeben wird, obwohl zum Zeitpunkt der Aufnahme aufgrund der technischen Entwicklung der tragbaren Fo-

4

Vgl. Kaufhold 1982, S. 42f.

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tokameras und der damit kurzen Verschlusszeiten ein scharfes und wohlkonturiertes Bild möglich gewesen wäre. 5 Dadurch wird nicht nur der Amateurcharakter der Fotografien deutlich, sondern auch die nachlässige Schnappschussgeste, die den Mann als von der ›Normalität‹ abweichend markiert. Das ›Typische‹ an der Schusterei, das die Amateur- und Kunstfotografen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu destillieren versuchten, nämlich die Werkstatt als nahezu pittoresken Ort der ehrlichen Arbeit darzubieten, wird durch die Randfigur gestört und erhält so seinen zwischen Genrefotografie und misslungenem Schnappschuss changierenden Charakter. Die bürgerlich-romantische Verklärung des Berufes, dass sich die Menschen im Handwerk nahestanden und »Meister, Geselle und Lehrling […] unter einem Dach [wohnten] und […] den Haushalt in enger geistiger und gemütlicher Gemeinschaft« 6 teilten, weist durch den Mann am linken Bildrand einen Riss auf, denn er scheint nicht zu dieser Gemeinschaft dazuzugehören, wie seine Position im Bildfeld anzeigt. Diese Art von Ausschluss findet sich auch in weiteren Fotografien der Serie (Abb. 7). Im Porträt der Schreinerei stehen zwei in helle Hemden und Schürzen gekleidete junge Männer, die hell und durch ein Fenster schräg hinter ihnen außerhalb des Bildfeldes beleuchtet werden. Links in ihrem Schlagschatten befindet sich ein älterer Mann in dunkler Kleidung, der Abbildung 7: Schreinerei

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1920

5

Vgl. Regener 2006, S. 178.

6

Kaufhold 1982, S. 45.

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nicht nur kleiner als die beiden Burschen zu sein scheint, sondern auch unbeholfen ein Richtmaß in den Händen hält, das wie eine Requisite wirkt, die zur Szene hinzugefügt wurde, um sie ›typischer‹ erscheinen zu lassen. Seine abseitige und schattige Position und die Tatsache, dass er dank der dunklen Kleidung und der nicht vorhandenen Schürze sich von seinen Kollegen absetzt, verstärken den zusätzlich durch den altersuntypischen Größenunterschied gewonnenen Eindruck einer »absoluten Andersartigkeit« 7, die ihn auch als Individuum aus der Szene und damit aus der Alltagsnormalität des Schreinerberufes ausschließt. Jedoch ging es auch den Kunstfotografen zu jener Zeit (noch) nicht um das Herausarbeiten individueller Charakterzüge der abzulichtenden Personen. Vielmehr – und dazu passt auch die seltsam ungeschickt und improvisierte Platzierung der Werkzeuge in den Händen des Mannes – stand die Arbeit an sich im Vordergrund, die auch im Sinne der politischen Arbeiterbewegung als Symbol für eine Abkehr von der entfremdenden Fabrikarbeit und eine Zuwendung zur Unverstelltheit des im Schutze einer kleinen Werkstatt ausgeübten Handwerkerberufs gedeutet werden kann. Nichtsdestotrotz darf diesem Fotografen nicht unterstellt werden, dass es ihm daran gelegen gewesen sei, eine spezifische soziale Wirklichkeit abzubilden, sondern anhand von kompositorischen und technischen Mitteln ein Bild von Arbeit zu erzeugen, das sich unter ästhetischen Normen diskutieren lässt. Auch in den anderen Fotografien finden sich solcherlei Brüche, die vermutlich nicht in vollem Ausmaße und so vom Fotografen intendiert gewesen sein müssen, jedoch aufgrund der medienspezifischen Eigenschaft des ›SichEinschreibens‹ des Referenten in die Fotografie dem Ansinnen des Fotografen zuwiderlaufen können. An dieser Stelle zeigt sich dabei gleichsam die Problematik einer rein ikonographischen Beschreibung der Fotografie, die außer Acht lässt, dass ihre sozio-technische Bedingtheit sowie der Diskurs um ihre Abbildfähigkeit in den Rezeptionsraum hineinragen. So ist den Werkstattbildern eine Form von Zeitlichkeit eingeschrieben, die dem Betrachter suggeriert, dass er Zeuge des Arbeitsvorgangs sei und dem Bürstenmachen, Brotbacken etc. unmittelbar und im Prozess beiwohne. Einige Personen sind in Bewegung und deshalb leicht verwischt, einige meiden den Blick in die Kamera und wenden sich stattdessen geschäftig ihrer Arbeit zu und in nahezu allen Bildern halten alle abgebildeten Menschen einen für ihren Handwerksbereich typisches Gegenstand oder ein Werkzeug in ihren Händen. Zugleich aber wird beispielsweise in der Fotografie des Buttermachens (Abb. 8) diese angedeutete Dynamik durch die Bildkomposition bzw. das Arrangement des Settings ins Gegenteil verkehrt: Die vier

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Fanon/Farr/Mercer 1995, S. 25f.

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Abbildung 8: Buttern

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1920

Frauen in einer Reihe werden vor dem Hintergrund des bereits mit Butter befüllten Regals so in den Bildrahmen gesetzt, dass sie frontal in die Kamera blicken, zugleich aber den Blick auf das Regal, das Butterfass und die Arbeitstische freigeben und die Butterstücke dem Betrachter präsentieren, als würden sie ihn von ihrer Handarbeit überzeugen wollen oder müssen. Die Anordnung der Menschen und Möbelstücke wirkt wie für eine Atelierfotografie arrangiert, die die Sichtbarmachung des Arbeitsprozesses regelt, indem sie die Bewegung der Kurbel am Butterfass oder das Formen und das Einwickeln der Butter ins Bild setzt, zugleich aber versucht, dadurch den für die Belichtungszeit notwendigen Stillstand der Szene unsichtbar zu machen, indem sie die Personen ›einfriert‹ und so zu ebenso statischen Bildelementen wie den Möbeln werden lässt. Das Spannungsfeld von Dynamik und Statik bzw. Bewegtem und Unbewegtem berührt in einigen Bildern die im Bildvordergrund drapierten Arrangements aus Werkzeugen und fertigen Produkten: Die Bürsten, die auf einem Tisch lose angeordnet liegen (Abb. 9), die Kleiderhaufen im Vordergrund des Nähstubenbildes (Abb. 10), die frisch gestopften Würste auf der Arbeitsplatte (Abb. 11) – sie sind nicht nur Symbole des bereits verrichteten Werkes, sondern sie leiten durch ihre Position im Bildvordergrund den Betrachters guckkastenartig in den Bildraum hinein und geben ihm so die Möglichkeit, den Blick in der Szenerie schweifen zu lassen.

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Abbildung 9: Bürstenmacherei

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1920

Abbildung 10: Nähstube

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1920

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Abbildung 11: Metzgerei

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1920

Die Fotografie der Bürstenmacherei spricht eine ähnliche Sprache und bindet Statik und Dynamik in der Bildkomposition aneinander, indem sieben der acht Jungen sowie die Ordensschwester frontal und hinter dem Arbeitsbereich stehend oder sitzend abgebildet sind und für die Kamera ihre Arbeit eingestellt zu haben scheinen, jedoch ein Junge mit dem Rücken zum Betrachter sitzend eine Bürste bindet und zumindest mit seiner Hand in Bewegung bleibt. Aufgrund seiner Positionierung in der Bildmitte kann er rezeptionsästhetischen Ansätzen folgend als eine Figur gelesen werden, die den Betrachter in das Geschehen hineinleitet und er zugleich zu einer Figur der Reflexion über die Bildhandlung wird, indem er in das Arbeitsgeschehen eingebunden ist. Auffällig erscheint es hier außerdem, dass in keiner der Aufnahmen die Arbeiter_innen einzeln porträtiert, sondern stets in Gruppen von mehreren Personen abgelichtet wurden. Die Individualität ihrer Darstellung im Sinne der bürgerlichen Porträtfotografie, die den unverkennbaren Kern einer Persönlichkeit im fotografischen Medium arretieren sollte, tritt zugunsten eines Kollektivs in den Hintergrund, das sich über die gemeinsame Arbeit und das ›Nützlichmachen‹ definiert, damit den Fokus auf das ›Typische‹ des Handwerks und es so als Folie über das ›Typische‹ einer Institution für Menschen mit Behinderung legt.

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4.1.2 Bildkomposition und soziale Hierarchie Soweit könnte man nach dieser ersten Analyse zwar davon ausgehen, dass es sich bei den Liebenauer Werkstattbildern eher um stellenweise misslungene Anlehnungen an die Genrefotografie der Zeit handelte, die keineswegs die Intention widerspiegeln, Menschen mit Behinderung durch die Art der Bildkomposition aus dem Feld der visuellen und damit auch sozialen Normalität auszuschließen. Jedoch knüpft an diese Fotografien auch ein sich bis heute haltender Diskurs an, der etwa ab der Jahrhundertwende für die Lebenswelt von Menschen mit Behinderung bedeutsam wurde: die Arbeitstherapie. Hervorgegangen aus der »Krüppelzählung« von 1906 und der daraufhin u.a. von Konrad Biesalski initiierten Krüppelfürsorge, wurde es zum erklärten Ziel der professionellen Behindertenbetreuung, so viele Menschen mit Behinderung wie nur möglich in die Erwerbsarbeit zu überführen: »Je mehr Almosenempfängern wir zu Steuerzahlern machen, um so eher können wir ethisch und wirtschaftlich wieder gesunden.« 8 Udo Sierck konstatierte zwar, dass zu jener Zeit »Insassen der von Innerer Mission, Caritas oder privaten Wohltätigkeitsvereinen initiierten und geführten Heil- und Pflegeanstalten weitestgehend beschäftigungslos« geblieben seien und die arbeitstherapeutischen Maßnahmen im Rahmen der Krüppelfürsorge sich in erster Linie auf öffentliche Einrichtungen bezogen haben. 9 Jedoch zeugen die Liebenauer Bilder nicht nur von der bereits seit der Gründung der Anstalt praktizierten Eigenbeteiligung der Insassen (wenngleich auch nur von etwa 1/5 aller Bewohner der Liebenau zu Beginn des 20. Jahrhunderts) an der Versorgung der Einrichtung, sondern auch von einer Verortung innerhalb des Diskurses um die seelische Gesundheit (»Krüppelseelenkunde« 10) von Menschen mit Behinderung als Ergebnis von Arbeit und wirtschaftlicher Produktivität. Wieder ist es der Liebenauer Anstaltsarzt Dr. Weißenrieder, der bestätigt, dass der »wohltätige Einfluß der Arbeit, namentlich auf die unruhigeren Elemente […] nicht zu verkennen« sei und die Bestrebungen der Liebenau, ihre Insassen nicht nur in die täglich anfallende Arbeit in der Einrichtung einzubinden, sondern gezielt damit zu fördern, einer »modernen Irrenbehandlung« entspreche, »die den Kranken alle Freiheiten gewährt, welche sie ertragen können.« 11 Unter diesen Voraussetzungen lassen sich die Werkstattfotografien nicht nur als Dokumentation einer ökonomischen Notwendigkeit, sondern auch als Ausdruck einer sozialpolitischen Haltung verstehen. Die Einordnung von Menschen mit Behinderung in ein wirtschaftlich8

Zitiert nach Sierck 1992, S. 16.

9

Ebd., S. 16.

10 Ebd., S. 17. 11 Schnieber 1995, S. 51.

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produktives System, das der Eigenversorgung dient, zeugt einerseits von dem Bestreben, sich von staatlichen Zuwendungen wie Kost- und Pflegegeldern unabhängig machen zu wollen (auch wenn dies de facto stets ein unverzichtbarer Teil der Finanzierung der Liebenau war) und weist andererseits auf den ›modernen‹ therapeutischen Umgang mit den geistig und körperlich behinderten Fürsorgezöglingen hin, der Dr. Weißenrieder folgend eher eine Form von Freiheit als eine restriktive Praktik des Zwangs darstellte. Die Fotoserie spiegelt genau diese doppelte Strategie wider: Auf keiner der Fotografien sind Menschen mit Behinderung alleine zu sehen, stets ist ihnen eine Ordensschwester oder ein Handwerksmeister etc. zur Seite gestellt. Diese werden als in die Arbeitsabläufe eingebunden gezeigt, da sie ohne den Kontakt zur Kamera zu suchen entweder in einer Gruppe von Menschen arbeiten (zum Beispiel in der Bügelstube oder in der Backstube), oder mit direktem Blick in die Kamera ein soeben hergestelltes Produkt präsentieren, zum Beispiel die frische Butter aus dem Butterfass oder den bespannten Besenkopf. Die Ordensfrauen stechen jedoch aufgrund ihres Schleiers in den Bildern deutlich hervor und werden so in einem Kontext der christlichen Soziallehre bzw. den Ordensstatuten der Franziskanerinnen verortet, sodass sie als Pflege- und Betreuungspersonal zu erkennen sind, das zwar kräftig bei der Arbeit zuzupacken scheint, jedoch als den anderen abgebildeten Menschen übergeordnet markiert wird. Insbesondere im Falle besagter Fotografie aus der Bürstenmacherei wird diese hierarchische Diskrepanz zwischen der Ordensschwester und den Pfleglingen deutlich, da es sich um Kinder und Jugendliche handelt, in deren Mitte sie platziert ist und durch ihre Körpergröße im Vergleich zu den sitzenden Burschen um sie herum herausragt. Die hinter ihr gezogene Linie, die den unteren Teil des Anstrichs vom oberen Teil der Wand trennt, führt direkt ›durch‹ ihren Kopf hindurch, ordnet diejenigen, die neben ihr sitzen dieser Linie unter und markiert sie visuell als ihr unterlegen. Nicht zuletzt ist diese Aufnahme neben jener aus der Schreinerei die einzige, die auf eine körperliche Dimension von Behinderung hinweist: Der Junge im Bild rechts neben der Ordensfrau hat das Down-Syndrom, was der Betrachter aufgrund seines Bilderrepertoires, in welchem Menschen mit Down-Syndrom oft stellvertretend für die Vielfältigkeit geistiger Behinderung stehen, erkennen kann und aufgrund der sich körperlich eingeschriebenen Zeichen des Syndroms (schräge Lidfalte etc.) diese in das Feld der Nicht-Normalität und der Behinderung überführt. Die beiden Jungen, die links der Nonne zu sehen sind, fallen zum einen aus dem Bild, weil sie beide den Blick in die Kamera verweigern, zum anderen tragen sie auch körperliche Zeichen, die sie von den anderen Burschen im Bild unterscheiden – die Kopfform des einen erinnert an die eines ›Hydrocephalen‹, wie sie dem zeitgenössischen und versierten Betrachter aus der medizinischen Fotografie be-

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kannt sein könnte. Und selbst wenn die Zuweisung einer derartigen ›Diagnose‹ aufgrund unsicheren Wissens nicht möglich ist, so zeigt sich an dieser Stelle, dass die Rolle des »Vorgesehenen« nicht nur für ästhetische Muster, sondern auch für das Wiedererkennen von Motiven und Symbolen und so auch Körpermerkmalen relevant ist und eine Zuordnung im Bilderrepertoire auf der Basis der Lesbarkeit und Deutbarkeit des Körpers veranlasst. Ein derartiges Zeichen in Form einer physischen Abweichung oder Deformation, das von Erving Goffman als »Stigma« kultursoziologisch begründet wurde, verweist auf seinen Träger und dessen Nicht-Normalität und überlagert so alle anderen Eigenschaften, nicht zuletzt, da gerade das Gesicht als Kommunikationsmedium unseren Blick als erstes einzufangen scheint und sich so in Beziehung zu dem ›Anderen‹ setzt. 12 4.1.3 Medizinischer Blick oder soziales Blickregime? Sind diese Fotografien nun aufgrund ihres Entstehungszeitpunktes und -ortes an ein medizinisches Modell von Behinderung und dem ihm zugewiesenen klinischen Blick gebunden, der Menschen in die Kategorien von ›Normalität‹ und ›Nicht-Normalität‹ einordnet? Wie ich in der Bildbetrachtung zeigen konnte, oszillieren die Liebenauer Werkstattbilder wie auch schon das Porträt von 1904 diskursiv wie auch kompositorisch zwischen zwei Polen: Wurde zum einen versucht, die Normalität der dargestellten Arbeitssituation zu betonen, indem ein stilistischer Anschluss an die zeitgenössische Kunstfotografie gewagt wurde, so lassen sich im fertigen fotografischen Produkt immer wieder Risse in dieser Ästhetik erkennen, die den Versuch der Normalisierung brüchig werden oder gar in eine Denormalisierung umschlagen lassen. So sind die Bilder vielmehr als ein Versuch zu verstehen, eine soziale Konstellation einer Anstalt, die sich zum einen durch die geografische, aber auch durch die gesellschaftliche Segregation selbst als ein ›Anderes‹ markiert hat, über diese trennenden Grenzen hinweg in das zu überführen, was in der Welt jenseits der Grenzen als ›normal‹ verhandelt wird – ästhetisch wie diskursiv. Dieser Diskurs spiegelt sich auch in der Namensgebung der Liebenauer Anstalt wider: Die Gründung der Liebenau als »Pfleg- und Bewahranstalt für Un-

12 Vgl. Goffman 2010. Zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des Gesichtes vgl. Schmidt, Gunnar: Das Gesicht. Eine Mediengeschichte. München: Wilhelm Fink Verlag 2003; vgl. Macho, Thomas: Abweichung und Idealmaß. Zur Funktionalisierung der Gesichter in der Moderne. In: Lutz/Macho/Staupe/Zirden 2003, S. 31-40; vgl. Löffler, Petra/Scholz, Leander (Hrsg.): Das Gesicht ist eine starke Organisation. Köln: DuMont 2004.

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heilbare« ist unter dieser Bezeichnung bereits als Aussage über den eigenen Anspruch der Einrichtung zu verstehen. So stand im Gegensatz zu den ›Heilanstalten‹ zunächst nicht die Behandlung und Therapie der Patient_innen im Zentrum des Anstaltslebens, sondern lediglich die Versorgung in einem sicheren sozialen wie auch topographischen Raum sowie die Beschäftigung durch anfallende Arbeiten in Haus und Hof. Erst um 1900 verschob sich dieser Anspruch zugunsten der Förderung geistig behinderter Menschen, als u.a. eine »Schule für die etwas bildungsfähigen Kinder« gegründet wird und weitere Fördereinrichtungen folgen. 13 Mit diesen Bemühungen, sogenannte »schulentlassene Fürsorgezöglinge«, also in der Regel lernbehinderte Jugendliche, in verschiedenen Berufsfeldern anzulernen, hatte man bereits 1929 begonnen. Jedoch erfuhren diese Maßnahmen erst unter den Vorzeichen der »Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« eine wesentliche Veränderung des nach außen getragenen Selbstverständnisses der Liebenau, um nun die von Direktor Wilhelm noch als Instrument gegen den »Müßiggang« genannte Arbeitserziehung in der Rechtfertigung der eigenen Existenz aufgehen lassen zu können. So macht Wilhelm im Jahresbericht von 1927 zwar auf die Wichtigkeit der therapeutischen Komponente der Arbeit aufmerksam, betont jedoch, wie wenig diese mit einer tatsächlichen Produktivität für die Eigenversorgung seiner Anstalt zu tun hat: »Bei diesem Punkt [in Bezug auf die Produktivität, A.G.] muß ich einer irrtümlichen Meinung entgegentreten, die in letzter Zeit von gewisser Seite verbreitet wurde«, schreibt Wilhelm, »denn es wurde nämlich behauptet, man könne die schwachsinnigen Knaben soweit handwerklich ausbilden, daß sie ihr Brod selbst verdienen. Davon kann gar keine Rede sein. […] Im neuesten Karitasheft wird mit Recht gesagt, daß selbst Fürsorgezöglinge den scharfen Rhythmus außerhalb der Anstalt nicht mitmachen können. Auch in der Landwirtschaft können nur ganz wenige Schwachsinnige heutzutage ihr Brod selbst verdienen. […] Was bei diesen Menschen zu erstreben ist, ist eine vernünftige Beschäftigung derselben, um sie vor den schädlichen Folgen des Müßigganges und des Bummels zu bewahren. Wer

13 Überdies wird 1896 der Anstaltsarzt hauptamtlich angestellt und Teil des gewählten Vorstandes, was auch einen Hinweis darauf zulässt, dass der Fokus deutlicher auf die Versorgung der Bewohner von Liebenau gelegt wurde. 1940 wird unter dem Druck der politischen Verhältnisse der Name in »Heil- und Pflegeanstalt Liebenau« abgeändert, woraus sich das Ansinnen ablesen lässt, die sich in der Obhut der Liebenau befindenden Menschen in ein geregeltes und ›normales‹ Leben überführen zu wollen. Link, Hermann: Die Stiftung Liebenau und ihr Gründer Adolf Aich. Tettnang: Lorenz Senn 1983, S. 10.

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mehr als 20 Jahre in Schwachsinnigen-Anstalten tätig ist, weiß aus Erfahrung, wie gerade Schwachsinnige zum Faulenzen geneigt sind.«

14

Wilhelms Verweis auf die ›Gefahr‹ des Müßiggangs steht so merklich quer zu Dr. Weißenrieders Lob auf die moderne Irrenversorgung durch Arbeitsmaßnahmen. Dem Geiste der Liebenau als konfessioneller Einrichtung entsprechend, sollten die Bewohner auch deshalb zur Beschäftigung angehalten werden, um sie so im Sinne eines christlichen Wertesystems zu erziehen, in welchem Fleiß und Demut im Mittelpunkt stehen sowie den durch die Arbeit ermöglichten gesellschaftlichen Einschluss – wenngleich auch nur vordergründig. 15 Anschließend daran lässt sich innerhalb des medizinischen Modells von Behinderung im Rahmen dieser historischen Verortung eine Binnendifferenzierung beobachten: Wird der behinderte Mensch zu einer frühen Zeit der Anstalt zunächst im Sinne des ›Pflegens‹ und ›Bewahrens‹ von der Gesellschaft und somit von der ›Normalität‹ getrennt und dadurch als von derselbigen abweichend markiert, so erfährt er durch die Einordnung in anstaltsinterne Arbeitsverhältnisse zwar eine Normalisierung hinsichtlich seiner sozialpolitischen ›Verwendbarkeit‹, jedoch stets unter der ihn davon ausschließenden Prämisse der tatsächlichen Wirtschaftlichkeit seines Einsatzes, die arbeitstherapeutischen Ansätzen folgend weniger im Mittelpunkt der Beschäftigung in den Eigenbetrieben der Liebenau stand. So sind die ›Pflege‹ bzw. die ›(Auf)Bewahrung‹ wie auch die ›Heilung‹ insofern als Ansammlung von Praktiken der Exklusion zu verstehen, die den Menschen als ein ›Anderes‹ markieren und aus der Normalität zunächst ausschließen, sei es, weil er im Status des ›Anormalen‹ verharren muss oder weil er durch rehabilitative Maßnahmen von dieser Nicht-Normalität in die Normalität des Arbeitslebens überführt werden soll. Dahingehend sind wiederum auch die fotografischen Praktiken dieser Normalisierung zu deuten: Wird aufgrund der Normalitätsaussagen im Dispositiv der künstlerischen Arbeiterfotografie der Referent im Bild zunächst in das Feld zeitgenössischer fotografischer Konventionen eingeordnet und vermeintlich dadurch auch gesellschaftlich inkludiert, so zeugen die aufgezeigten Brüche und Irritationen von einem Blickregime von Behinderung, das sich für die vorliegenden Bilder in seinen Grundzügen skizzieren lässt. Dieses ist jedoch nicht an ein bestimmtes Behinderungsmodell geheftet, sondern vollzieht sich in Referenz auf die fotografisch-ästhetischen Konventionen der damaligen Zeit einerseits und andererseits auf den Diskurs der Krüppelfürsorge und der Arbeitstherapie, der nur wenige Jahre später mit eugeneti14 Zitiert nach Schnieber 1995, S. 116. 15 Vgl. Osten, Philipp: »Lärmender Frohsinn«. Fotografien körperbehinderter Kinder (1900-1920). In: Ochsner/Grebe 2013, S. 133-159, hier S. 140.

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schen Ansätzen um die gesellschaftlichen Folgekosten des Unterhaltes von Menschen mit Behinderung verschmolz. So sehr die Fotografien auch den Eindruck zu vermitteln versuchen, das Bild des in einer geschlossenen Institution verwahrten behinderten Menschen, der auf Kosten der ›normalgesunden‹ Mehrheit zu leben scheint, dahingehend zu wenden, dass die Bewohner der Liebenau, wenngleich unter Anleitung, sich selbst versorgen können und durch die Normalisierung ihrer Arbeitsverhältnisse ihnen auch eine Form von gesellschaftlicher Teilhabe verheißen wird, so sehr streben sie auch gegen diese normalisierenden Ansprüche.

4.2 E IN ›K NIPSER ‹ IN L IEBENAU – ARBEITERPORTRÄTS 1936-1940 Bei nahezu allen Liebenauer Fotografien handelt es sich um Aufnahmen, deren Schöpfer nicht (mehr) bekannt ist, und nur in seltenen Fällen lässt sich aufgrund einzelner Notizen auf der Bildrückseite oder entsprechenden Adressaufklebern von Fotostudios aus dem Raum Tettnang, Meckenbeuren oder Ravensburg feststellen, ob es sich bei dem Fotografen um einen Profi oder einen Amateur gehandelt hat. Ein wichtiger Akteur für das Fotoarchiv der Stiftung Liebenau, dessen Name und Identität sich bis ins 21. Jahrhundert retten konnten, ist der Jesuitenpater Johannes Baptista Hubbuch SJ, der als Hausgeistlicher von 1936 bis 1940 sowie 1957 bis 1959 in der Anstalt Liebenau wirkte und dessen verhältnismäßig umfangreiche fotografische Sammlung in den Bestand des Archivs eingegangen ist. Diese hat jedoch zu großen Teilen bislang noch wenig Beachtung gefunden, obwohl ihre Entstehung in eine für die Liebenau besonders wichtige und ebenso tragische Epoche fällt und wurde stattdessen wenn überhaupt in der Funktion von Illustrationen für Publikationen der Stiftung verwendet. Zwischen den im vorangegangenen Abschnitt analysierten Werkstattaufnahmen und den nun zu untersuchenden Fotografien zum Ende der 1930er Jahre hatte sich die politische und wirtschaftliche Landschaft in Deutschland im Nachklang des Ersten Weltkrieges nicht unwesentlich verändert und so auch die Liebenau erreicht. Hatte die steigende Inflation durch den Krieg und die Anfangsjahre der Weimarer Republik den Vorstand und die Ordensschwestern zu erneuten Betteltouren durch Süddeutschland gezwungen, um Sach- und Geldspenden für die Anstalt einzuwerben, so war das Leben in Liebenau seit dem Ende der 1920er Jahre wieder durch größere Baumaßnahmen und Gebäudezukäufe gekennzeichnet. Neben dem Ankauf eines Anwesens in Rosenharz im Jahre 1929 und der Übernahme des St. Gebhardihauses in Hegenberg (als Heim für behinderte Frau-

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en ab 1927 in Betrieb) wurden in Liebenau weitere Gebäudeteile errichtet und erweitert und es folgten 1927/28 wieder einige gute Jahre für die Landwirtschaft und die Eigenbetriebe der Liebenau, wie Direktor Wilhelm in seinen Jahresberichten erklärt. 16 1932/33 wird eine landwirtschaftliche Lehrklasse eingerichtet, deren Ziel es u.a. ist, die dort angelernten Jugendlichen als Arbeitskräfte in die umliegenden Höfe und Haushalte zu vermitteln, und auch die anstaltseigenen Werkstätten bilden weiterhin junge Schulabgänger aus. Mit der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 beginnt eine Zeit, die auch für das deutsche Anstalts- und Behindertenwesen langfristige und tiefgreifende Folgen haben wird: Das nur wenige Monate später erlassene Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses tritt zum 1.1.1934 in Kraft und hat zur Folge, dass in Deutschland dadurch als ›erbkrank‹ gekennzeichnete Menschen ab 14 Jahren zur Sterilisation gezwungen werden. 17 Es findet zunächst auf Liebenau insofern keine Anwendung, da sie als geschlossene Institution selbst dafür Sorge zu tragen hat, dass ihre Insassen sich nicht fortpflanzten. Auf die offenen Einrichtungen Hegenberg und Rosenharz trifft das Gesetz allerdings zu, weshalb bis 1939 insgesamt 127 Bewohner der Liebenauer Anstalten zwangssterilisiert werden. 18 Gerade jene Schulabgänger, die in Landwirtschaftsbetriebe der Umgebung entsandt werden, sind von den Maßnahmen betroffen und werden zügig nach ihrer Entlassung aus der Liebenau sterilisiert. Überdies wurde der Anstalt 1937 kurzzeitig der gemeinnützige Status entzogen, was zugleich bedeutete, dass nachträglich ab 1931 Steuerzahlungen anfielen, die sich auf mehrere Hunderttausend Mark beliefen. Obwohl diese Entscheidung 1941 wieder rückgängig gemacht wurde, macht diese Handlung nicht nur die menschen- sondern auch die kirchenfeindliche Haltung der Nationalsozialisten deutlich, die Direktor Wilhelm in seinen Jahresberichten bis 1936 immer wieder kritisiert – die Jahresberichte von 1937 und 1938 sind vermutlich auch deshalb nicht mehr auffindbar. 19 In dieser unruhigen Epoche, etwa zehn bis fünfzehn Jahre nachdem die Werkstattaufnahmen in Liebenau entstanden sind, zog also ein Jesuitenpater nach Oberschwaben, dessen fotografische Leidenschaft die meisten Bildquellen aus der Zeit direkt vor und nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht hat: Jener Pater Hubbuch, ein passionierter Hobbyfotograf, nahm während seines ersten Aufenthaltes ab 1936 in Liebenau Bilder der Anstalt, ihrer Umgebung, der Bewohner und der Mitarbeiter anhand der ersten Agfa-Color-Filme mit dreifacher Beschichtung auf und verfasste dazu während seines zweiten Aufenthaltes einen 16 Vgl. Link 1995, S. 31f. 17 Ausführlich dazu Klee, Ernst 2010. 18 Vgl. Link 1995, S. 38f. 19 Vgl. ebd., S. 44.

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handschriftlichen Index, in welchem er seine ausgewählten Motive beschreibt und zusätzliche Informationen aus seiner Erinnerung zu ihnen gibt (Abb. 12). 20 Abbildung 12: Diaschrank von Pater Hubbuch SJ

Quelle: J. Hubbuch, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1936-1939

20 Die Fotografien, die Pater Hubbuch zugeschrieben werden können, waren bis zum Datums ihrer ›Wiederentdeckung‹ 2009 in einem Schrank über der Schlosskapelle aufbewahrt worden; ein kleiner Teil der Bilder, die während Hubbuchs ersten Aufenthaltes in Liebenau entstanden sind, wurde bereits für Veröffentlichungen zur Geschichte der Liebenau verwendet, jedoch zumeist in einem zeigend-illustrativen Modus, der die textuellen Informationen zum Anstaltsleben zwischen den zwei Weltkriegen verdeutlichen oder authentifizieren soll. Die Aufnahmen, die in den 1950er Jahren während Hubbuchs zweitem Aufenthalt entstanden sind, sind bisher noch in keiner Publikation im Liebenauer Umfeld erschienen, vermutlich auch deshalb, da sie ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr mit dem Index in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden konnten und zudem bis auf wenige Ausnahmen nur in Form von Glas-Diapositiven vorliegen. Leider ist in den letzten dreißig Jahren aufgrund Umstrukturierungen und Fluktuation in der Betreuung des Archivs die Ordnung der einzelnen Diamagazine und -schachteln nicht erhalten geblieben, weshalb sich der Index und die Bilder nur in wenigen Fällen wieder zusammenführen lassen.

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Aus diesen wenigen Jahren seines künstlerischen Schaffens stammen auch zahlreiche Einzel- und Gruppenporträts von Menschen mit Behinderung in Liebenau bei der Beschäftigung in der Umgebung des Schlosses. Diese für das Bilderrepertoire der Liebenau in den 1930er Jahren stellvertretend zu begreifenden Aufnahmen, so meine Vermutung, markieren aufgrund ihres zwischen einer schnappschussartigen Knipser-Ästhetik sowie typologischen Annäherungen an die Gesellschaft der Weimarer Republik in Form von großen Fotoprojekten changierenden Status nicht nur einen technikhistorischen Übergang von der Stativkamera zur Handkamera, sondern verhandeln das Verhältnis von Normalität und Nicht-Normalität unter den Vorzeichen eines sich durch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges verändernden Menschenbildes, das im Zuge des Nationalsozialismus eine politisch wie ästhetisch dramatische Wendung erfahren wird. 4.2.1 Zur Ästhetik der Knipserfotografie Der Fotohistoriker Timm Starl, der sich in zahlreichen Publikationen u.a. mit der Geschichte der privaten Fotografie beschäftigt hat, charakterisiert die Amateurfotografie zum Ende des 19. Jahrhunderts bereits als besonders heterogen hinsichtlich ihrer ästhetischen wie auch technischen Ansprüche. 21 Während es einem Teil der Amateure um die Weiterentwicklung fotografischer Verfahren und eine Verortung im Kunstdiskurs ging, formierte sich eine (wenngleich ebenso in sich heterogene) Bewegung, deren Angehörige Starl als »Knipser« bezeichnet. 22 Der damit einhergehende kritische bis spottende Unterton referiert dabei weniger auf den der Knipserfotografie häufig zugeschriebenen Dilettantismus, sondern vielmehr auf das Geräusch des Auslösens des Verschlusses während des fotografischen Aktes. Im Zuge dessen verweist es auf die technische Bedingtheit der Entwicklung der Amateurfotografie, nämlich der ökonomischen Erschwinglichkeit einer Fotokamera und des dazugehörigen Materials, um über21 Vgl. Starl, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. München/Berlin: Koehler & Amelang 1985, S. 12. 22 Von Starl nur in einem Randzitat erwähnt wird Vilém Flusser, der bereits 1983 in »Für eine Philosophie der Fotografie« den Knipser hinsichtlich seines Verhältnisses zum Apparat zu charakterisieren versucht: »Die Kamera verlangt von ihrem Besitzer (von jenem, der von ihr besessen ist), immerfort zu knipsen, immer weitere redundante Bilder herzustellen. […] Der Knipser kann die Welt dann nur noch durch den Apparat und in Fotokategorien ansehen. Er steht nicht ›über‹ dem Fotografieren, sondern ist von der Gier seines Apparats verschlungen, zum verlängerten Selbstauslöser seines Apparats geworden.« Vgl. Flusser, Vilém: Für eine Philosophie der Fotografie. Göttingen: European Photography 1983, S. 53.

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haupt das ›Ertönen‹ des Knipsgeräusches als konstituierenden Teil einer kulturellen Praxis zu etablieren. Die Schwierigkeit bestünde folglich darin, von einer eigenen ›Knipserästhetik‹ zu sprechen, wenn doch Starl zufolge sich der Knipser gerade dadurch auszeichnet, ästhetische Trends und Normen zu vernachlässigen und stattdessen eher intuitiv und weniger überlegt Personen und Objekte in seiner Umwelt fotografisch festhält, um sie an einen Ort und an eine bestimmte Zeit gebunden als Erinnerung zu bewahren. 23 So beziehen sich die Merkmale dieser Form von Amateurfotografie in erster Linie auf die Figur und Funktion des Fotografen, der in der Regel keinen Vereinen oder Verbänden beitritt, nicht publizistisch aktiv ist und auch keine Fachzeitschriften zu abonnieren scheint. Für die Fotoindustrie ist der Knipser aber von besonders hoher Bedeutung, wenn es um die ständige Weiterentwicklung technischer Verfahren geht, um die Kamera noch leichter, noch günstiger und noch einfacher bedienbar zu machen. 24 Was er fotografiert, das möchte er erinnern, bewahren, in eine innere oder veräußerte Ordnung der Welt überführen, zum Beispiel in Form eines Fotoalbums: »Damit der spätere Blick nicht bloß das Abgebildete erkennt, sondern einen Vorgang des Erinnerns an die besonderen Umstände auslöst, legt der Knipser eine Spur in die Zukunft, einen unsichtbaren Faden, entlang dessen die Erinnerung zu den bedeutsamen Augenblicken zurückfindet.« 25 Was einen Augenblick zu einem besonders bedeutsamen und deshalb aufnahmewürdigen macht, bestimmt der Knipser alleine, wobei er Starl zufolge weniger Wert darauf legt, dass der Fotografie seine eigene künstlerische Handschrift zu entnehmen ist, sondern den fotografischen Referenten in erster Linie für sich selbst und möglicherweise für ihm nahe stehende Andere, zum Beispiel Familienmitglieder, (wieder-)erkennbar zu arretieren. 26 Durch die Fokussierung des Knipsers auf diesen privaten Bereich und seinen Verzicht auf konventionelle Darstellungsmittel, entziehen sich Knipserfotografien jeglicher öffentlichen Verwertung und verhalten sich in höchstem Maße dem Fremden gegenüber abweisend: »Mögen auch die Aufnahmen dem einzelnen Knipser biografische Züge verleihen, bilden sie zugleich die undurch23 Vgl. Starl 1985, S. 18. 24 Vgl. ebd., S. 14ff. 25 Ebd., S. 23. 26 »Sein ästhetisches Kalkül ist nur den eigenen Vorlieben verpflichtet, denn der Knipser ist zugleich Hersteller und bevorzugter Betrachter seiner Produkte. Deren Aussehen braucht sich also nicht nach den Gesetzen des Marktes zu richten, sondern nach dem, was außerhalb der Sphäre sozialen Austausches steht: nach den Unverbindlichkeiten des Privaten.« Starl, Timm: Eine kleine Geschichte der Knipserfotografie. In: Schmid, Joachim (Hrsg.): »Knipsen«. Private Fotografie in Deutschland von 1850 bis heute. Stuttgart: Institut für Auslandsbeziehungen 1993, S. 5-13, hier S. 8.

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dringliche Wand eines privaten Raumes, der sich nur dem Bildautor erschließt.« 27 Mag dies für die Fotografie als streng definierte historische Quelle zutreffen, so ist durch die Herangehensweise der Visual Studies jedoch eine analytische Annäherung an eine eigene Ästhetik dieser Privataufnahmen möglich, die wiederum Rückschlüsse auf die technische und kulturelle Bedingtheit der Fotografie und damit auch der Figuration des Knipsers zulässt und anhand des von Dubois eingeführten erweiterten Begriffs des fotografischen Aktes nicht nur die Produktions-, sondern auch die Rezeptionsseite zu beleuchten im Stande ist. Gleichsam muss hier der Ansatz Starls kritisch hinterfragt werden, ob sich der Knipserfotograf tatsächlich frei von Konventionen und ästhetischen Normen machen kann, oder ob es unter Rückgriff auf die das Bild und das Sehen konstituierenden Blickregime und Bilderrepertoires nicht doch um eine Konfiguration fotografischer Wirklichkeit geht, die nie gelöst von ihrer technischen und soziokulturellen wie auch historischen Verfasstheit gedacht werden kann. Wenngleich nicht bekannt ist, ob die Aufnahmen von Pater Hubbuch jemals Eingang in ein von ihm selbst angefertigtes Fotoalbum gefunden haben oder ob zu seiner Zeit jemand die Bilder zu sehen bekommen hatte 28, so weisen einerseits die schiere Menge der Fotografien und andererseits viele bildkompositorische Merkmale auf das hin, was Starl als charakteristisch für das Selbstverständnis eines Knipsers bezeichnet hat. 29 Dies wird besonders deutlich anhand einer hier exemplarisch ausgewählten Fotografie, die aus einer ganzen Reihe von 27 Starl 1985, S. 9. 28 Es ist durchaus möglich, dass Hubbuchs Bilder in den 1950er Jahren in Form von Diavorträgen innerhalb der Anstalt gezeigt worden sind, zumal wiederum Fotografien davon existieren, wie der damalige Anstaltsdirektor Gutknecht an einem Diaprojektor steht und um ihn herum sitzenden Menschen die gezeigten Aufnahmen zu erklären scheint, welche er aus einer Holzkiste entnimmt, in denen eindeutig die mit einer weißen Folie markierten Glasdias von P. Hubbuch angeordnet sind. Überdies sind Aufnahmen erhalten, auf denen mehrere Priester, u.a. der junge Hubbuch, in einem Zimmer sitzen und durch ein kleines Gerät mit eingebauter Glühbirne Glasdias bewundern. Seine Bilder waren somit auch einem bestimmten Publikumskreis innerhalb von Liebenau zugänglich. 29 Starl zufolge gehört allerdings nicht nur das Aufführen oder Zeigen der gemachten Aufnahmen zu den Praktiken des Knipsers (vgl. Starl 1985, S. 23); diesen vorgängig ist beispielsweise das Erstellen eines Fotoalbums, in welchem die Fotografien in einen größeren Zusammenhang gestellt werden und beschriftet werden. Aus der Zeit, in der P. Hubbuch in Liebenau aktiv war, sind allerdings nur Fotoalben erhalten, die sich entweder nicht seiner Bilder bedient haben oder sich in erster Linie auf die Dokumentation von Bauprojekten beschränkten.

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Abbildung. 13: Frau mit Korb im Hof I

Quelle: J. Hubbuch, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1936-1939

Aufnahmen, die im Frühling zwischen 1938 oder 1939 entstanden sein müssen, stammt und die die Bewohner von Liebenau bei Alltagsverrichtungen auf dem Hof und dem Feld zeigen. Zu sehen ist eine Frau mittleren Alters, die in Kleid und Arbeitsschürze vor dem Hintergrund einer Wiese und eines Hauses steht und dabei den linken Bildteil der hochformatigen Fotografie einnimmt (Abb. 13). Aus der Betrachterperspektive gesehen wurde rechts neben ihr auf dem Boden ein großer geflochtener Korb platziert, dessen Henkel sie mit der linken Hand berührt. Scheu blickt sie in die Kamera, die sie in leichter Schrägsicht von oben nach unten aufnimmt. Über dem großen Korb erhebt sich ein dunkler Schatten einer Person mit angewinkelten Armen – es ist der Fotograf Hubbuch, den die Sonne in seinem Rücken während des Fotografierens mit einer Handkamera als Schatten auf das von ihm gewählte Motiv der Frau wirft und ihn so im Bild verewigt. Der schräge Aufnahmewinkel, die eigentümliche Kadrierung, die durch den Schatten erzeugte Nähe zwischen Fotograf und Referent sowie der Eindruck von Spontaneität, der sich aus dieser Komposition ergibt, verweisen auf die fotografische Praxis, durch die Hubbuchs Porträtaufnahmen entstanden sind und die sich auch auf weiteren Aufnahmen dieser Reihe manifestiert, auf denen sich

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Abbildung 14: Mann mit Topf

Quelle: J. Hubbuch, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1936-1939

die abgelichteten Personen in Bewegung befinden, dem Fotografen entgegen laufen, vor ihm den Hut ziehen oder gar überrascht davon wirken, fotografiert zu werden (Abb. 14). Diese schnappschussartige und spontane fotografische Praxis legt auch der Fund eines Indices nahe, den Pater Hubbuch während seines zweiten Aufenthaltes zum Ende der 1950er Jahre für seine Fotografien aus den 1930er Jahren angefertigt hat, in welchem er die Bilder beschreibt und nach Aufnahmedatum bzw. Sujet ordnet. 30 Hier zeigt sich, dass die Porträtfotografien

30 Hubbuch muss den Index handschriftlich abgefasst haben, da seine Handschrift auf dem ersten Blatt noch erhalten ist, der maschinenschriftliche Teil danach aber immer wieder Hinweise darauf enthält, dass jemand die Ausführungen Hubbuchs maschinenschriftlich abgetippt hat und dessen Handschrift nicht entziffern konnte. Zudem ist auf der letzten Seite ein Datum und ein Kürzel vermerkt: »7.IX.77, J. Hsch.«, was wiederum darauf verweist, dass die zu jener Zeit einsetzende archivarische Tätigkeit in Liebenau sich durchaus auch der Existenz der Diapositive Hubbuchs bewusst war. Die Nachträglichkeit des Index kann anhand einzelner Indexeinträge festgestellt werden, wenn Hubbuch beispielsweise eine Aufnahme des ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten beschreibt und auf dessen Hinrichtung im Jahre 1945

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nicht nur ästhetisch als Knipseraufnahmen gekennzeichnet sind. Vielmehr legt Hubbuch aufgrund der Beschreibungen einiger Bilder im Index auch seine eigene fotografische Methode offen, indem er angibt, dass einige Bewohner sich selbst zum fotografischen Referenten machen wollten, indem sie ihn baten, sie abzulichten: »sie wollte auch photographiert und verewigt werden« – »Johann will unbedingt noch photographiert werden« – »ein Epileptiker – er möchte auch auf die Platte« usw. 31 Im Gegensatz zu den aufwändig arrangierten Fotografien, wie es die bereits analysierten Werkstattbilder waren und wie ich es noch an Aufnahmen aus den 1950/60er Jahren aufzeigen werde, sind Hubbuchs Porträts folglich schon im Bildakt ihrem Knipserstatus verpflichtet und zeigen sich auch im Gegensatz zu den angeführten Psychiatriefotografien nicht als »Fotografienwider-Willen« 32, sondern als Praxis des ›Verewigens‹ und ›Festhaltens‹ als Individuen und im Dialog mit dem Fotografen Hubbuch, so, wie Timm Starl es auch für die Knipserfotografien konstatiert. 33 Überdies verrät der Index auch die technischen Bedingungen von Hubbuchs Aufnahmen. So verweist eine handschriftlireferiert, die somit zwischen dem Zeitraum von Hubbuchs erstem Aufenthalt in Liebenau und seiner Rückkehr in den 1950er Jahren liegt. 31 Weshalb sich diese Zuschreibungen nicht mehr konkreten Bildern zuordnen lassen, ist zum einen praktischen Gründen nicht mehr möglich, da die Diapositive nicht mehr in jener Ordnung vorliegen, wie P. Hubbuch sie angelegt hat; zum anderen würde eine Zuordnung allein auf der Grundlage der im Index genannten Behinderung nicht nur aus historisch-methodologischen Gründen nicht funktionieren und zum anderen eine Manifestation der Behinderung auf der Körperoberfläche voraussetzen, der aufgrund des ikonisch-indexikalischen Charakters der Fotografie zu dem führen würde, was diese Studie zu dekonstruieren versucht. 32 Diese Bezeichnung stammt von Susanne Regener; sie versteht darunter u.a. Aufnahmen, die gegen den Willen des fotografischen Referenten entstanden sind. Vgl. Regener, Susanne: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen. München: Wilhelm Fink Verlag 1999, S. 16. 33 Nichtsdestotrotz muss hier auf eine Form von bildkompositorischer Gewalt hingewiesen werden, die sich vollzieht, wenn man auf das ›Eindringen‹ des Schattens in die Kadrierung mit in die Überlegungen einbezieht. Was sicherlich auch als unbeholfene und ungewollte Handlung des Hobbyfotografen Hubbuch bewertet werden kann, ist unabhängig davon als ein invasiver Akt zu lesen, der das Motiv nicht nur ästhetisch wesentlich beeinflusst (und man davon ausgehen könnte, dass der Fotograf seinen Schattenwurf gar nicht bedacht hat), sondern auch eine hierarchische Relation zwischen dem Fotografen und der Frau im Bild konstruiert wird, die sie trotz ihrer Positionierung ›über‹ dem Schatten zu einem passiv wirkenden Akteur macht, der sich gegen die Bewegung von unten in das Bild hinein nicht wehren kann.

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che Notiz auf der ersten Seite des maschinengeschriebenen Index darauf, dass er für seine Aufnahmen den erst seit 1936 erhältlichen Agfacolor-Neu-Film verwendet hat, ein sogenannter Umkehrfilm für Diapositive, welcher der Notiz zufolge eine »dreifache Photoschicht besass« und darum die gemachten Aufnahmen »etwas undurchdringlich erscheinen«. 34 Für das Einfassen der Diapositive in Glas hatte Hubbuch Hilfe von Bewohnerinnen Liebenau: »beim LichtbilderEinfassen unter Glas halfen diese mir«. Der kritische Umgang mit den eigenen fotografischen Erzeugnissen ist ebenso im Index verzeichnet: »12.-23: missratene Aufnahmen« oder »ebenso aber undeutlich eingestellt« oder »als Innenaufnahmen nicht gut«. 35 Subsumiert man nun die ästhetischen wie auch technischen Merkmale der Hubbuch-Fotografien unter der von Starl skizzierten Figuration des Knipsers, so wird spätestens durch die genannten Stellen im Index deutlich, dass ein Amateurfotograf wie Hubbuch sich zum Zeitpunkt der Aufnahme möglicherweise tatsächlich vordergründig nicht um einzuhaltende fotografische Konventionen gekümmert hat, jedoch durch die Nachträglichkeit des Index durchaus seine Fotografien als kompositorisch oder technisch unzulänglich empfand und so auch hier dem sogenannten Knipserfotografen ein Verlangen nach individuellkünstlerischer Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen zugestanden werden muss. So mag es vielleicht zutreffen, dass der Amateurfotograf weniger Aufmerksamkeit auf das Arrangement legt, jedoch nicht, dass er gänzlich unkritisch mit den eigenen Produkten umgeht und so das Feld der Privataufnahmen, vor allen Dingen jener ohne weiteren Kontext, von jeglichem künstlerischen Anspruch freigesprochen werden kann. Wenngleich viele Bilder eine gewisse Dynamik aufgrund der sich auf den Fotografen zubewegenden Personen aufweisen, so handelt es sich nicht bei allen Aufnahmen aus Hubbuchs Sammlung ästhetisch gesehen um Schnappschüsse, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie aufgrund der technischen Möglichkeiten (tragbare Kamera, kurze Belichtungszeit, günstiges Material) spontan und zuweilen für den Referenten unbemerkt entstehen. An vielen Bildern wird deutlich, dass auch Hubbuch die zu fotografierenden Menschen vor seiner Kameralinse arrangiert hat bzw. ihnen zumindest Anweisung gegeben hat, wie sie sich aufzustellen hätten. Der große Weidenkorb, der im zuvor genannten Bild zu se34 Diese Angaben sind auf dem Deckblatt des Index handschriftlich vermerkt. 35 Hubbuch hat auch eine Diareihe angelegt, die er als »Ausschuss« bezeichnet und die stark verwackelte und/oder überbelichtete Dias enthält, jedoch zugleich sehr aufschlussreich im Vergleich zu den nicht in diesem Magazin einsortierten Bildern ist, da so die Entwicklung des fotografischen ›Geschicks‹ des Jesuitenpaters analysiert werden kann.

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hen war, dient als Requisite für mehrere Aufnahmen verschiedener Frauen, die (zu erkennen am Schattenwurf und an den immer gleichen Lichtverhältnissen) abwechselnd für den Fotografen Hubbuch posiert zu haben scheinen (Abb. 15). Auf einem weiteren Bild steht eine in schwarze Kleidung und mit einem Wollschal sich den Kopf verhüllende Frau in die Ecke einer weiß verputzten Häuserwand gedrängt und blickt den sie von oben herab ablichtenden Fotografen so kritisch wie auch verwundert an. Der Schatten Hubbuchs dringt von links unten in ihre Kadrierung ein und macht den zwar improvisierten, aber nicht spontanen Charakter der Aufnahme deutlich (Abb. 16). Zugleich zeigt sich hier aber auch ein phänomenologisch verstandenes Einschreiben des Körpers des Fotografen in die Aufnahme, die darauf verweist, dass der physikalische Standpunkt des Fotografen auch immer ein sozialer Standpunkt ist und Effekte eines hierarchischen Verhältnisses zeitigt, das realiter auch in einer »totalen Institution« 36 angelegt sein muss. Innerhalb derer vollzieht sich folglich die Beziehung zwischen den Insassen oder Bewohnern von Liebenau einerseits und dem Personal andererseits, zu welchem Pater Hubbuch als Hausgeistlicher gehört. 37 Sein in viele Aufnahmen hineinragender Schatten ist so nicht nur als Ausdruck eines KnipserDilettantismus zu verstehen, sondern auch als autoritäre Figur und zeugenhafte Spur eines anwesenden Abwesenden, das die tatsächliche Anwesenheit des Referenten vor der Kameralinse beweisen kann. Auf der Ebene der Produktion kann jener Pater Hubbuch nun sicherlich an die Ausführungen Starls anschließend als die Figuration eines ›typischen‹ Knipsers seiner Zeit verstanden werden, der sich in die sechs bis sieben Millionen Amateurfotografen in Deutschland am Vorabend des Zweiten Weltkrieges einreihen lässt. 38 Der Annahme folgend, dass er die Menschen in Liebenau deshalb fotografierte, weil es einerseits technisch nun mal möglich war und weil er andererseits eine bildlich-materiell manifestierte Erinnerung an sie entstehen lassen wollte, schuf Hubbuch zugleich einzigartige Dokumente des Anstaltsalltags, in denen er in Verbindung mit dem Index die Individualität der Bewohner zum Beispiel durch Nennung ihres Namens herausstellte. So kommentierte er neben den genannten Beschreibungen der Aufnahmesituationen die abgebildeten Personen und versah sie zum einen mit ihrem Namen und einer Tätigkeitsbeschreibung,

36 »Eine totale Institution läßt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.« Goffman 2008, S. 11. 37 Vgl. Stumberger 2007, S. 24. 38 Vgl. Starl 1985, S. 98.

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Abbildung 15: Frau mit Korb im Hof II

Quelle: J. Hubbuch, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1936-1939

Abbildung 16: Frau in einer Häuserecke

Quelle: J. Hubbuch, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1936-1939

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zum anderen aber auch mit Diagnosen oder Verhaltensauffälligkeiten, die er an ihnen beobachtet haben will. Demgemäß bezeichnet er einen porträtierten Mann als »ein[en] fleissige[n] Arbeiter des Josephshauses, der von Zeit zu Zeit seine Schimpf- und Tobsuchtsanfälle bekam, dann musste er ins Zimmer gesperrt werden« oder nennt lobend den vollen Namen einer Arbeiterin: »Bertha Löw ist schwer epileptisch, aber brav und fleissig«. 39 Im Falle anderer Porträts nennt er nicht den Namen des Abgebildeten, sondern konstatiert nur knapp: »mit dem ist auch nichts anzufangen« oder »nicht mehr verwendungsfähig«. Somit fügt sich zu der Rolle der Fotografien als Erinnerungsartefakte zugleich eine die defizitorientierte Sichtweise auf den Menschen mit Behinderung zementierende Funktion hinzu, die sich in das medizinische Modell von Behinderung einordnen und dadurch auch diese Aufnahmen zu Vexierbildern zwischen Normalität und Nicht-Normalität werden lässt. Dies geschieht, indem anhand des Settings und der gewählten Motivik auf die Alltagsweltlichkeit der Arbeit in der Anstalt und damit auf die bereits in den Werkstattbildern angelegte Selbstversorgung hingewiesen wird, zugleich aber am anderen Ende des Bedeutungskontinuums auf die Abweichung oder gar Opposition zu diesem Alltag referiert wird, indem die körperliche Arbeit in Haus und Hof bei jedem Wetter aufgrund ihrer Funktion als Leitmotiv in Hubbuchs Bildern dadurch nahezu überbetont wird. Eine weitere Funktion, die Timm Starl für die Knipserfotografie anführt, nämlich die einer vom Fotografen bewusst gelegten »Spur in die Zukunft« 40, vollzieht sich in den Aufnahmen Hubbuchs auf eine doppelte und mitunter tragische Art und Weise. Die Spur, verstanden als anwesende Zeugin einer Abwesenheit, die etwas präsent macht, das einmal da war und nun in Form einer ihrem Referenten weder ähnlichen noch konventionellen Präsentation indexikalisch auf das zeigt, was nie wieder sein wird, ragt aufgrund ihrer Nachträglichkeit in die Zukunft insofern hinein, als dass im Anschluss an Roland Barthes die Fotografie als Ausdruck eines »es ist so gewesen« 41 auf die einstmalige Anwesenheit des Referenten vor dem Kameraobjektiv aufmerksam macht und »mechanisch [wiederholt], was sich existenziell nie mehr wird wiederholen können«. 42 Zugleich, und darin besteht die Tragik der Spur, verweist der zeitliche Abstand zwischen der zeitgenössischen Betrachtung der Fotografie und ihrem ungefähren Aufnahmedatum auf den unumkehrbaren Tod des Referenten in der Realität – eine Tatsache, die für sich genommen in ihrer Natürlichkeit wenig problematisch erscheinen würde, 39 Die folgenden Zitate Hubbuchs stammen aus dem Index, der im Schrank der Diapositive auf dem Dachboden über der Schlosskapelle gefunden wurde. 40 Starl 1985, S. 23. 41 Barthes 2008, S. 87. 42 Ebd., S. 12.

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wenn nicht dieser Tod nur wenige Zeit nach dem Entstehen der Aufnahmen auf gewaltsame Art und Weise eingetreten wäre. 43 So wurden einige der Menschen, die 1937/1938 noch von Pater Hubbuch fotografisch festgehalten worden waren, ab Juli 1940 im Zuge der Euthanasie-Aktion T4 in die Anstalt Grafeneck verlegt und anschließend dort durch Vergasung ermordet. Josef L., von Hubbuch noch als beschürzter und engagierter Arbeiter porträtiert, wird von den sogenannten »grauen Bussen« 44 der »Gemeinnützigen Krankentransport GmbH« (kurz: Gekrat) am 4. November 1940 aus Liebenau abgeholt und getötet (Abb. 17). 45 Das Wissen um seinen gewaltsamen Tod lässt sein Porträt zu einem Artefakt werden, das über die private Erinnerung eines Knipsers hinaus auf sein Erstarren im Bild und sein Erstarren als Bild durch die Pose auf das »GANZ UND GAR BILD«Werden 46 aufmerksam macht und im Zuge dessen als Emanation des Wirklichen den Betrachter schmerzvoll in seiner Gegenwart erreicht. Auch Pater Hubbuch, der nachträglich den Index zu den Porträts angefertigt hat, referiert in dieser Nachschau auf den Abtransport der Liebenauer Bewohner, indem er zum Beispiel ein Bild mit dem Satz »ein eigenartiger, aber treuer Arbeiter, Fuchs, der bei der ›Abholung‹ als einer der ersten liquidiert worden ist« beschreibt oder nahezu klagend fragt: »die gute Christine! Wo mag sie sein?«. Diese Frage nach dem Ort, an dem sich ›Christine‹ nun befindet, zeugt nicht nur von der Unmotiviertheit des Spurenlegens, sondern sie verhallt in ihrer gleichsamen Abwesenheit und Anwesenheit in der ihr zugeordneten Aufnahme und lässt ihre Spuren darin für den Fotografen Hubbuch wie auch für den zeitgenössischen Betrachter

43 »Die Spur zeigt etwas an, was zum Zeitpunkt des Spurenlesens irreversibel vergangen ist.« Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme. In: Dies./Kogge/Grube 2007, S. 11-33, hier S. 17. 44 Die sogenannten »grauen Busse« waren als grau umlackierte Fahrzeuge der Reichspost die Transportmittel der GEKRAT, mit denen Menschen aus verschiedenen Anstalten deutschlandweit abgeholt und in Vernichtungslager gebracht wurden. Sie wurden so zu einem Symbol der Euthanasieaktion, das beispielsweise von den Künstlern Horst Hoheisel und Andreas Knitz als Vorlage für die Gestaltung eines Mahnmals für die Opfer der Aktion T4 diente, welches heute in der Nähe von Liebenau im Zentrum für Psychiatrie »Die Weissenau« an der alten Pforte den Eingang zur damaligen Anstalt säumt und so an die 691 Opfer aus Weissenau erinnert. Vgl. http://www.das denkmaldergrauenbusse.de/ (letzter Zugriff am 08.05.2016). 45 Vgl. Lebenswertes Leben. »Aktion Gnadentod« in der Stiftung Liebenau. 50 Jahre danach. Hrsg. von der Stiftung Liebenau. Tettnang: Eigenverlag 1993, Rückseite. 46 Barthes 2008, S. 23, Herv. i.O.

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enden: »Spuren sind der Einbruch eines fremden Jenseitigen in das wohl vertraute Diesseits.« 47 Abbildung 17: Josef L. an eine Hauswand gelehnt

Quelle: J. Hubbuch, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1936-1939

4.2.2 »Menschen des 20. Jahrhunderts«: Die Produktion von Normalität in der Porträtfotografie der Weimarer Republik Da diese Studie sich nicht vorrangig mit der Untersuchung von konkreten ›Einflüssen‹ auf das Entstehen von Fotografien bzw. nur peripher mit den Geisteshaltungen der Fotografen beschäftigt, sondern die Frage nach dem Sehen von Normalität und Behinderung im fotografischen Medium fokussiert, liegt es hier nahe, einen Schritt von der fotografischen Praxis in Liebenau zurückzutreten und weitere fotografische Erscheinungen in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg in den Blick zu nehmen. Diese sind ihrerseits selbst als Produkte von Diskursen und Praxen zustande gekommen und geben so Auskunft über soziale Konventionen, ästhetische Normen und technische Experimente, die für die Analyse der Liebenauer Fotografien von Bedeutung sein können. Gerade

47 Krämer 2007, S. 16.

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Hubbuchs Aufnahmen aus den späten 1930er Jahren bieten sich an, nicht nur unter dem praxeologischen Fokus der Amateur- oder Knipserfotografie gelesen zu werden. Vielmehr erlauben sie eine Anbindung an weitere zeitgenössische Diskurse der Fotografie, die den Menschen im und durch das Bild zu kategorisieren und ihn dadurch einer Ordnung einzuverleiben versuchen, die ihn wiederum als einen bestimmten Typus hervorbringt, der in einer Hierarchie verortet wird. Die Bedeutung der Serialität für die fotografische Produktion von Normalität soll hier zunächst hinter den Fokus auf die Ästhetik des Einzelbildes zurücktreten, um im abschließenden Kapitel unter den Vorzeichen archivtheoretischer Überlegungen noch einmal aufgegriffen zu werden. Auf der Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, dem damit verbundenen Ende des Kaiserreiches und den politischen und sozialen Umwälzungen in der jungen Weimarer Republik offenbarte sich schnell, dass diese Veränderungen auch einen Wandel der sozialen Hierarchie mit sich brachten, die viele Menschen zwischen den Polaritäten von Stadt und Land, Reichtum und Armut, Verarbeitung der Kriegstraumata und Aufbruchsstimmung eher in die Orientierungslosigkeit als in die Stärkung identitärer Verhältnisse trieb. Zahlreiche Künstler, Fotografen und Schriftsteller zogen aus diesen Beobachtungen einer gespaltenen Gesellschaft die Motivation, diese Zustände einerseits in ihr Werk und Wirken einfließen zu lassen, sie andererseits aber auch in die Erschaffung eines ›Neuen Menschen‹ im Spannungsfeld zwischen ›Neuer Architektur‹, ›Neuer Fotografie‹ und ›Neuer Typografie‹ zu überführen. Damit versuchten sie aufzeigen, dass man zugleich an einer ›Neuen Welt‹ arbeite, die mit den Schrecken des Krieges und des Imperialismus und der erstarrten hierarchischen Gesellschaftsstruktur der Monarchie nichts mehr zu tun habe. 48 In diesen Anspruch der Erneuerung und zugleich der Anerkennung sozialer Realitäten stoßen unter anderem die Vertreter_innen der »Neuen Sachlichkeit«. Die großen Fotoprojekte von August Sander, Helmar Lerski, Hugo Erfurth, Erna Lendvai-Dircksen, Karl Blossfeldt, Albert Renger-Patzsch und vielen weiteren zeugen von diesem tiefgreifenden Verlangen nach Ordnung bzw. der Wiederherstellung einer verloren geglaubten gesellschaftlichen Struktur, und versuchen im Zuge dessen, die Verbindung von neuen künstlerisch-sinnlichen Ausdrucksformen mit einem ebenso ›neuen Sehen‹ durch und anhand des fotografischen Verfahrens neu auszuhandeln, wie Walther Petry es treffend beschreibt: »Die Photographie ordnet sich damit dem heutigen Weltbild entscheidend ein […] Sie bindet den Menschen dieses Zeitalters […] an die Dinge, die ihm im Wirbel der unaufhörlichen Bewegung zu entschwinden drohten. Sie un48 Vgl. Molderings, Herbert: Fotografie in der Weimarer Republik. Berlin: Nishen 1988, S. 18.

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terstützt damit eine natürliche, tieferhin metaphysische Kraft des Menschen: das Sehen.« 49 Der wohl bekannteste Fotograf dieser Aufzählung, August Sander, beruft sich in seinem Werk auf die Kraft der Fotografie als Instrument zur Analyse der Wirklichkeit und verkündet dabei eine stabilisierte wie auch stabilisierende gesellschaftliche Ordnung, wie sie von vielen seiner künstlerisch aktiven Zeitgenoss_innen herbeigesehnt worden war. Geboren 1876 im Siegerland und nach Stationen in Österreich, landete der Berufsfotograf Sander schließlich in Köln, wo er einerseits ein Fotostudio betrieb, andererseits jedoch mit seiner Ausrüstung aus der Stadt hinaus zog, um dort die Landbevölkerung zu fotografieren, sei es als Auftragsarbeit oder für seine Publikationsvorhaben. Eine erste Ausstellung erfolgt 1927 in den Räumen des Kölner Kunstvereins, sein 1929 erschienener und 60 Porträtaufnahmen umfassender Bildband »Antlitz der Zeit« wird von Alfred Döblin nahezu euphorisch im Vorwort als »herrliches Lehrmaterial« 50 gelobt und von Walter Benjamin als »Übungsatlas« 51 bezeichnet, anhand dessen die Veränderungen physiognomischer Merkmale einer sich wandelnden Gesellschaft studiert werden könnten. Von seinen frühen wie späten Bewunderern für das von ihm geschaffene »Panorama der Zeit« 52 gefeiert, von seinen Kritikern am rechtskonservativen politischen Rand der frühen 1930er Jahre für die Dokumentation eines ideologisch ungewollten »Anmarsch[es] des Pöbel[s]«53 angefochten, hat sich spätestens durch sein posthum herausgegebenes mehrteiliges Projekt »Menschen des 20. Jahrhunderts« in der Fotografieforschung immer wieder die Frage nach Sanders Intentionen als Fotograf in den Vordergrund der Diskussion geschoben. Dies lag nicht zuletzt daran, dass Sander keineswegs als ›typischer‹ Vertreter der künstlerischen Avantgarde seiner Zeit gewertet werden kann. 54 War es technisch schon 49 Zitiert nach Brückle, Wolfgang: Politisierung des Angesichts. Zur Semantik des fotografischen Porträts in der Weimarer Republik. In: Fotogeschichte 17 (65) 1997, S. 334, hier S. 6. 50 »Wir haben herrliches Lehrmaterial vor uns.« Döblin, Alfred: Von Gesichtern, Bilder und ihrer Wahrheit. Vorwort in Sander, August: Antlitz der Zeit. 60 Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts. München: Schirmer-Mosel-Verlag 1977 (Originalausgabe: Wolff-Transmare-Verlag 1929), S. 12. 51 Benjamin 1971, S. 209. 52 Thorn-Prikker, Jan: August Sander (Industrieller, Bonn, 1933). Das Porträt einer Zeit. In: Ders./Honnef, Klaus (Hrsg.): Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotografie. Köln: Rheinland-Verlag 1982, S. 162. 53 Zitiert nach Molderings 1988, S. 6. 54 »Sander fotografierte für seine Zeit sehr untypisch. Er vermied den engen Ausschnitt, die scharfe Beleuchtung und jenes Eindringen bis in die Poren der Haut, das in Form

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seit einigen Jahren möglich und erschwinglich, mit einer mobilen Handkamera und einfachen Rollfilmen schnelle Bilder in variabler Umgebung zu schießen, zog Sander es vor, mit der Stativkamera und Glasplattennegativen zu arbeiten und dadurch auch die zwei bis drei Sekunden andauernde Belichtungszeit in Kauf zu nehmen. 55 Diese technische Bedingung weist seinen Aufnahmen dadurch einen wenig dynamischen Status zu, der sich ästhetisch stark an den Konventionen der Porträtfotografie orientiert, wie sie bereits in der Frühzeit des fotografischen Verfahrens betrieben wurde. Jedoch schreibt sich Sander dadurch keineswegs in einen sich selbst überlebten Diskurs um das bürgerliche Atelierdispositiv ein, sondern er entwickelt in seinem umfangreichen Werk auf der Grundlage des Verständnisses der neusachlichen Fotografie, das Gesehene möglichst authentisch wiederzugeben, einen künstlerischen Ansatz, der das Porträt mit alten Methoden neu erfindet. Für »Menschen des 20. Jahrhunderts« hatte er von 1892 bis 1954 zahlreiche Fotografien gesammelt, mit dem Ziel, diese in über 45 Mappen mit insgesamt 500 bis 600 Aufnahmen zu gliedern und den Ansätzen eines zyklischen Gesellschaftsmodells vom ›Urtypus‹ des Bauers bis zu den »letzten Menschen«, sprich jenen am Rande der Gesellschaft, Arbeitslosen, Behinderten etc., aufzugliedern. 56 Seine Porträts sind nahezu ausnahmslos Ganzkörperaufnahmen und wurden unter der Prämisse ihrer Repräsentativität für den Stand oder die soziale Schicht, zu der die Abgebildeten gehörten, ausgewählt. 57

der sogenannten ›Porträtstudie‹ in den zwanziger Jahren Mode wurde.« - »Sander fotografierte die Personen möglichst in ganzer Figur, in ihrer gewohnten Umgebung und bei natürlichem Licht.« Molderings 1988, S. 4. 55 Vgl. August Sander. Photographs from the J. Paul Getty Museum. Los Angeles: J. Paul Getty Museum 2000, S. 6. 56 Ulrich Keller bemerkt dazu, dass Sander sich vermutlich auf das morphologische Geschichtsverständnis von Oswald Spengler bezogen haben könnte. Vgl. Keller, Ulrich/Sander, Gunther/Sander, August (Hrsg.): August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts: Portraitphotographien 1892-1952. München: Schirmer/Mosel 1980, S. 66f; Brückle, Wolfgang: Face-Off in Weimar Culture: The Physiognomic Paradigm, Competing Portrait Anthologies, and August Sander’s Face of Our Time. In: Tate Papers (19) 2013, online verfügbar unter http://www.tate.org.uk/research/publications/tatepapers/face-weimar-culture-physiognomic-paradigm-competing-portrait (letzter Zugriff am 08.05.2016). 57 Sander hat eine Systematik hinterlassen, wie die Fotos geordnet werden sollen, die jedoch unvollendet blieb. Vgl. Lange, Susanne/Conrath-Scholl, Gabriele: Einführung. In: August Sander – Menschen des 20. Jahrhunderts. 7. Die letzten Menschen. Hrsg.:

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Der Eindruck, der mit dem Blick auf das Gesamtwerk entsteht, wurde in der Forschungsliteratur häufig zwischen der Zuschreibung einer Objektivität oder Neutralität Sanders gegenüber seinen Modellen und seiner konkreten Parteinahme unter ideologischen oder gar sozialdokumentarischen Vorzeichen verhandelt. 58 Mir erscheint hier jedoch die Frage nach dem visuellen Regime evidenter als jene nach der spezifischen Intentionalität Sanders, auch um die Verbindung zu den Fotografien aus Liebenau herausarbeiten zu können. Der Ethnologe und Fotohistoriker Ulrich Hägele führt den Anspruch August Sanders in seiner Studie zur Foto-Ethnografie auf eine »Beobachtung von Milieus« 59 zurück, aus der sich wiederum eine Verbindung zum volkskundlichen Fotografen seiner Zeit ergibt. Der Germanist und Historiker Sander L. Gilman hingegen verneint einen fotoethnografischen Hintergrund Sanders, macht aber deutlich, dass dessen Aufnahmen heute und im Nachhinein durchaus unter Aspekten eines ethnografischen Sehens charakterisiert werden könnten. 60 Nun sprechen einige fototheoretische wie auch bildimmanente Hinweise ebenso für wie auch gegen einen rein beobachtenden Gestus Sanders 61, so wie auch ebenso viele Zeichen gegen und für eine sich im Bild manifestierende sozialdokumentarische Parteinahme durch den Fotografen reden. 62 An dieser alternierenden Schnittstelle entfaltet sich jedoch ihre ästhetische Analogie zu den Liebenauer Porträts: Vollzieht sich auf jener Ebene der Unterschied zwischen dem hier exemplarisch ausgewählten und von Sander fotografierten Lackierer (Abb. 18) und dem von Hubbuch aufgenommenen Arbeiter Josef L. (Abb. 17) in erster Linie aufgrund der Unterschiedlichkeit der technischen Methoden (Stativkamera versus Handkamera und Schwarz/Weiß versus Farbe) und des beruflichen Status (Sander als Berufsfotograf versus Hubbuch als Hobbyfotograf), so sind ihre Gemeinsamkeiten ebenso deutlich in der Inszenierung zu erkennen, die den jeweiligen Referenten vor der Kamera in Zusammenhang mit seiner berufstypischen Requisite und vor einem natürlich erscheinenden Hintergrund arrangiert. Auf diese Weise werden GanzkörperaufDie Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur. München/Paris/London: Schirmer/Mosel 2002, S. 12-13, hier S. 12. 58 Zum Beispiel Sontag, Susan: Über Fotografie. Frankfurt a.M.: fischer 1987, S. 64. 59 Hägele, Ulrich: Foto-Ethnographie. Die visuelle Methode in der volkskundlichen Kulturwissenschaft. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2007, S. 138. 60 Sander L. Gilman in einem Gespräch mit Gabriele Conrath-Scholl, Weston Naef, David Featherstone, Hilla Becher, Joan Weinstein, Ulrich Keller und Claudia BohnSpector. In: August Sander. Photographs from the J. Paul Getty Museum. Los Angeles: J. Paul Getty Museum 2000, S. 111. 61 Vgl. Hiepe 1983. 62 Vgl. Stumberger 2005, S. 150; Sontag 1987, S. 64.

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nahmen hervorgebracht, die jeweils durch den angeschnittenen Bildrand wirken, als seien sie so zufällig wie auch authentisch in situ entstanden. Abbildung 18: »Lackierer«

Quelle: August Sander: »Menschen des 20. Jahrhundert: 2. Der Handwerker«, 1932

Weder der Maurer noch der Arbeiter werden aufwändig ins Bild gesetzt oder spektakularisiert, sondern stehen mit ihrer Präsenz als Teil und Ausdruck für eine soziale Realität, die sie über ihre Haltung, ihre Kleidung und ihre Requisite symbolisieren und die auf ihre Alltagsnormalität als Handwerker und körperlich tätige Menschen verweist. So ergibt sich auch eine starke Analogie zwischen der Sander’schen Mappe der Handwerker (Gruppe II) und den Aufnahmen Hubbuchs, die auf eine ähnliche Weise arbeitende Menschen in Liebenau zeigen. Ebenso sind die Liebenauer Aufnahmen aber auch anschlussfähig an die letzte Mappe von Sanders Projekt, nämlich die 16 Fotografien umfassende Mappe »Die letzten Menschen« (Gruppe VII: »Idioten, Kranke, Irre und die Materie«). Darin vereint sind zum einen Auftragsfotografien einer Blindenanstalt in Düren aus dem Jahre 1930, zum anderen aber auch Porträtfotografien behinderter, kranker und alter Menschen sowie Totenbilder. Wenngleich Susanne Lange und Gabriele Conrath-Scholl für die Bilder konstatieren, Sander habe sie »ohne nega-

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tiv [zu] wertende Konnotationen« 63 und »in der für sein gesamtes Werk gültigen, um Objektivität bemühten Weise abgelichtet« 64, so hat er mit ihrer Einordnung in »Die letzten Menschen« nicht nur eine die in seinem Sinne die Wirklichkeit abbildende Aussage darüber getroffen, wie sich ihre Position in der Gesellschaft – nämlich ganz unten und zuletzt – gestaltet. Vielmehr produziert er auf diese Weise die soziale Stellung eines Außenseitertums und damit auch einer NichtNormalität erst mit und positioniert sie so im Gegensatz zu dem, was er sonst als alltägliche Normalität visuell eingerahmt hat. Hubbuch wie auch Sander ermöglichen jedoch zugleich in einer Art Doppelbewegung durch die Zuweisung einer Bildwürdigkeit an ihre Modelle eine Form von Normalisierung der jeweiligen Nicht-Normalität, die bei Sander durch die Einordnung in sein System angezeigt wird, bei Hubbuch durch den Entstehungskontext der geschlossenen Anstalt zum Vorschein kommt. Diese Bildwürdigkeit entfaltet sich bei beiden aufgrund einer ästhetischen Loslösung von medizinisch-defizitorientierten Denk- und Darstellungsweisen von Behinderung dahingehend, dass sie weder inszenatorisch noch diskursiv bewusst auf Vor-Bilder der medizinischen oder psychiatrischen Fotografie verweisen, sondern die ›Behinderung‹ im fotografischen Dispositiv unsichtbar zu machen versuchen. 65 In der mit dem Wort »Kretin« betitelten Aufnahme von 1924 (Abb. 19) treffen diese zwei gegenläufigen Bewegungen der Normalisierung und der Denormalisierung beispielhaft aufeinander: Der in schwarzen Zwirn gekleidete Mann, einen Hut auf dem Kopf tragend, rauchend und mit einer Taschenuhr in der Westentasche ausgestattet, wurde von Sander nicht etwa aufgrund seines klassifizierbaren Äußeren in die Reihe der »letzten Menschen« aufgenommen, da dieses durchaus auch in der Mappe der Handwerker oder der Bauern hätte erscheinen können. Stattdessen weist er ihm durch die Zuschreibung »Kretin« den Status einer außerhalb der Norm stehenden Figur zu, die dadurch zum Destillat bzw. zum Typus für den geistig behinderten Menschen in Sanders Gesellschaftsordnung wird. Er wird normalisiert durch die Alltäglichkeit seines Erscheinungsbildes und durch die Ins-Bild-Setzung durch den Fotografen Sander, zugleich aber erfährt er eine Denormalisierung durch seine Einbindung in ein Bilderkonvolut der Andersartigkeit innerhalb eines in sich zwar ebenso widersprüchlichen Gesamtwerkes, für das er als ›typisch‹ für einen ›Idioten‹ stehen muss, wie ihn Sander im Mappentitel ankündigt. 66 63 Lange/Conrath-Scholl 2002, S. 13. 64 Ebd., S. 13. 65 Vgl. August Sander. Photographs from the J. Paul Getty Museum. Los Angeles: J. Paul Getty Museum 2000, S. 84. 66 Der Begriff »Kretin« referiert im medizinischen Bereich auf eine Schilddrüsenfehlfunktion, umgangssprachlich jedoch steht die an das französische »crétin« angelehnte

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Abbildung 19: »Kretin«

Quelle: August Sander: »Menschen des 20. Jahrhunderts: 7. Die letzten Menschen«, 1924

Sanders Ziel war die Schöpfung eines kollektiven Porträts der deutschen Gesellschaft in der Weimarer Republik als Ausdruck einer bestehenden sozialen Ordnung. 67 Hubbuch als Knipser deutete jedoch zunächst den fotografischen Akt als Instrument zur Speicherung von Erinnerung und beschränkte sich auf die Liebenauer Bewohner als ›Gesellschaft‹ von Individuen, die es während seiner Aufenthaltszeit in Liebenau als Hausgeistlicher zu ›erfassen‹ galt und die in sich keine Hierarchie zu bilden bzw. kein von außen appliziertes System abzubilden scheinen. Beide Fotografen fokussierten, und davon ist im Falle von Sander aufgrund seiner eigenen Aussagen und seiner Verortung in der neusachlichen Fotografie auszugehen, so wie im Falle Hubbuchs die Informationen aus dem Index darauf verweisen, im Sinne eines symbolischen Verständnisses von Fotografie

Bezeichnung für einen »Dummkopf« oder »Idiot«. Gunnar Schmidt zufolge ist der Begriff »aus der Alltagssprache gekommen, in die medizinische Verwendung übergegangen und zum Schimpf geworden […]« und schwanke so »zwischen wissenschaftlicher Denotation und rhetorisch-kalkulierter Entstellung«. Schmidt 2001, S. 10. 67 Vgl. August Sander. Photographs from the J. Paul Getty Museum. Los Angeles: J. Paul Getty Museum 2000, S. 8.

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die Menschen und Verhältnisse so darzustellen, wie sie ›wirklich‹ sind. Dies steht dabei nicht im Widerspruch zu der an den Knipserfotografen gemachte Zuschreibung, dass dieser sich nicht an die Maßstäbe von Objektivität oder gar Neutralität zu halten habe, sondern bedeutet im Gegenteil, dass durch die Aufnahmen Hubbuchs eine Art teilnehmender wie auch dokumentarischer Ethos durchzusickern scheint. Dieser drängt sich in der Betrachtung all seiner in jener Zeit entstandenen Aufnahmen unweigerlich auf, ermöglicht aber keine Aussage darüber, ob dieser jemals geplant hatte, seine Fotografien in tableauartiger Anordnung zu präsentieren, wie Sander dies als Berufsfotograf stets mitbedacht hatte. Nichtsdestotrotz zeigt sich hier ebenso die bereits erwähnte Möglichkeit eines kritischen Kommentars hinsichtlich der vermeintlich der Knipserfotografie nicht inhärenten ästhetischen Referenz auf zeitgenössische Vorbilder oder soziomediale Konventionen. Der Blick durch die Kamera auf die abzulichtende Person ist auch im Falle eines Amateurfotografen wie Hubbuch von einem vorfotografischen Sehen geprägt, das, wie Roland Barthes es beschreibt, nicht nur auf der Präformation einer Pose seitens des Referenten beruht, sondern gleichsam voraussetzt, dass das, was dem Betrachter zu sehen gegeben wird, vom Blick des Fotografen bereits vor dem Betätigen des Auslösers in ein Bild umgewandelt worden ist. 68 Jene präfotografische Vorbildlichkeit impliziert zugleich die Existenz von tatsächlichen Vor-Bildern im Sinne eines Ausdrucks kompositorischer Konventionen oder technischer Bedingungen, die das Werk des Berufsfotografen wie auch des Knipsers wesentlich beeinflussen und das Bild ästhetisch präfigurieren. Aufgrund dessen muss hinsichtlich der hier verglichenen fotografischen Projekte, ungeachtet des tatsächlichen Vorgehens seitens des Fotografen, der Annahme Starls widersprochen werden, dass die Bilder des Knipsers Hubbuch »dem Verdikt, was gerade als modisch, schön, attraktiv gilt, entzogen [werden]« 69 wie dies beim wohlbedachten und versierten Berufsfotografen Sander der Fall zu sein scheint. Vielmehr wird die Verschränkung verschiedener sozialer, technischer und kultureller Faktoren für die Konstitution eines Blickregimes deutlich: Ein an diesem Regime Anteil habender ethnografischer und zugleich zeitgenössischer Blick, der sich durch eine Form der teilnehmenden Beobachtung durch die Kamera auszeichnet und beiden fotografischen Beispielen inhärent zu sein scheint, verschiebt sich infolgedessen in die Richtung der sozialdokumentarischen und damit Partei ergreifenden Fotografie und trifft auf das Potenzial einer starken politischen Lesart, die Sander insofern zum Verhängnis wurde, als dass die Nationalsozialisten »Antlitz der Zeit« verboten – und die für die Referenten in Hubbuchs Aufnahmen indirekt den Tod bedeuten sollte. Die 68 Vgl. Barthes 2008, S. 88f; Silverman 1997, S. 47. 69 Starl 1985, S. 24.

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von Sander produzierte Widersprüchlichkeit des deutschen Volkes, nämlich eben nicht eine durch Blut und Boden verbundene und verschworene ›Volksgemeinschaft‹ zu sein, sondern vielmehr eine durch soziale Unterschiede und Abstufungen innerhalb der Klassen gekennzeichnete Ordnung, widersprach der ideologischen Basis des Hitler-Regimes derart, dass der noch wenige Jahre zuvor gefeierte Fotograf sich nach dem Verbot seines Porträtbandes der Landschaftsfotografie zuwandte und sich im Gegensatz zu seiner Kollegin Erna Lendvai-Dircksen nicht für völkische Ideen instrumentalisieren ließ. 70 Pater Hubbuch musste sein Hobby des Fotografierens (zumindest im Umfeld von Liebenau) ebenso aus politischen Gründen während des Zweiten Weltkrieges ruhen lassen, wenngleich nicht aufgrund seiner den Nazis missfallenden Bildpraxis, sondern weil er als Schweizer Eidgenosse und Jesuit aus Liebenau bzw. aus dem Landkreis ausgewiesen wurde und erst in den 1950er Jahren zurückkehrte, als viele seiner fotografischen Modelle bereits nicht mehr lebten. Nicht ahnend, dass kurze Zeit nachdem er sie aufgenommen hatte, ihnen der Status der »absoluten Andersartigkeit« 71 durch den mit der Aktion T4 einhergehenden Tötungsbefehl zugewiesen und damit seiner normalisierenden Sicht auf die Menschen in Liebenau in radikalster Art und Weise widersprochen wurde, stehen Hubbuchs Aufnahmen aus heutiger Sicht für den Versuch, durch die den institutionell ausgegrenzten Frauen und Männern erteilte Bildwürdigkeit eines Amateurfotografen diese Ausgrenzung nicht einfach unhinterfragt fotografisch zu reproduzieren. Eine Untersuchung des auf seine Aufnahmen zielenden Blickregimes macht so vielmehr deutlich, dass es sich weder ausdrücklich an ein medizinisches Modell noch an ein soziales Modell von Behinderung anbinden lässt, sondern im Spiel mit visuellen und diskursiven Ein- und Ausschlussverfahren sich einer dominanten Lesart zu verweigern scheint und so von einem für jene Zeit wenig typischen Umgang mit dem Sehen und dem medialen Ins-Bild-Setzen von Behinderung zeugt, 70 Erna Lendvai-Dircksen war neben Sander, Blossfeldt und Renger-Patzsch eine weitere wichtige Fotografin der Weimarer Republik und legte mit dem Erscheinen ihrer Porträtsammlung »Das deutsche Volksgesicht« 1932 den Grundstein für eine Karriere als geförderte und gefeierte Künstlerin im NS-Regime; in ihrem Werk nahm sie die Darstellung der »natürlichen Lebensverhältnisse« von Bauern und Handwerkern als ideologischen Ausgangspunkt für die von rechtspopulistischen Kräften erhoffte Gesundung der Weimarer Republik und fand so Anschluss an die rassistisch-völkische Propaganda ab 1933: »Ihre völkische Weltanschauung, ihre Idealisierung des Bauerntums und des ländlichen Lebens, verbunden mit einem hohen fotografischen Können, machten sie zur meistgesuchten Porträtfotografin des Nazi-Regimes.« Molderings 1988, S. 7. 71 Fanon/Farr/Mercer 1995, S. 25f.

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wie es bereits für die einige Jahre zuvor entstandenen Werkstattaufnahmen festgestellt werden konnte.

4.3 P ORTRÄTS IM W IRTSCHAFTSWUNDER – DAS L EBEN IM J OSEFSHAUS UM 1960 4.3.1 Die Liebenauer Anstalt zwischen Aktion T4 und der Gründung der BRD Auftakt der präzise geplanten Ermordung behinderter Menschen bildete die Erfassung der deutschen Pflege- und Heilanstalten im Jahre 1939 in Form von Meldebögen, welcher die ›Verlegung‹ zahlreicher Menschen anhand von Namenslisten in andere Anstalten folgte. Die ersten drei Transportlisten mit jeweils 90 Namen erreichten die Liebenau Ende Juni 1940, versehen mit der Aufforderung, diese Personen in die Anstalten nach Schussenried und Zwiefalten überführen zu lassen. Nur wenige Wochen nach deren ›Verlegung‹ kam ihre Kleidung nach Liebenau zurück, während die Angehörigen die Todesnachricht erhielten, meist versehen mit dem Vorwand, der Patient sei aufgrund einer Erkrankung verstorben. 72 In Wirklichkeit wurden die Liebenauer Bewohner wie auch die meisten anderen durch die Aktion T4 zum Tode verurteilten behinderten Menschen aus Süddeutschland in umgebauten Postbussen mit getönten Scheiben nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb gefahren, unmittelbar vergast und verbrannt. 73 Obwohl Direktor Wilhelm durch zahlreiche Bittgesuche an das Württembergische Innenministerium und an die Diözese versuchte, den Abtransporten Widerstand zu leisten, konnten nur wenige Bewohner der Liebenau vor der Fahrt in den sicheren Tod gerettet werden. Trotz des Einstellens der

72 Vgl. Lebenswertes Leben. »Aktion Gnadentod« in der Stiftung Liebenau. 50 Jahre danach. Hrsg. von der Stiftung Liebenau. Tettnang: Eigenverlag 1993, S. 8. 73 Zu den Ereignissen um die Aktion T4 in Liebenau ist 1988 an der Universität Konstanz eine Magisterarbeit entstanden, die detailliert deren Umstände beschreibt: Biermann, Markus: Die Stiftung Liebenau in der Zeit der »Euthanasie-Aktion« 1939 – 1945. Einzelstudie zum Komplex von Massentötungen an Behinderten im »Dritten Reich«. Magisterarbeit, Universität Konstanz, 1988; in Zusammenarbeit und in Berufung auf die Recherchen Biermanns erschien 1993 die Gedenkschrift »Lebenswertes Leben. »Aktion Gnadentod« in der Stiftung Liebenau. 50 Jahre danach«.

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›Verlegungen‹ ab dem Jahre 1943 fielen der Euthanasieaktion in Liebenau insgesamt 510 Menschen zum Opfer. 74 Zugleich wurde bereits 1940 in einem Teil der Liebenau ein Lager für französische und englische Kriegsgefangene eingerichtet, im Laufe des Jahres 1941 kamen knapp 300 weibliche westeuropäische Zivilinternierte hinzu, sowie einige Frauen US-amerikanischer Herkunft, aber auch 45 Ordensfrauen aus 22 Kongregationen. 75 Bewacht von der regulären Polizei unter der Leitung eines GestapoInspektors und versorgt von den Franziskanerschwestern, dem medizinischen Personal der Liebenau und durch Pakete des Roten Kreuzes entwickelte sich ein in vielen autobiografischen Berichten bestätigtes kulturelles und friedliches Lagerleben, selbst als Teile des Auswärtigen Amtes aus Berlin nach Liebenau verlegt wurden. 76 Die Enge in der Einrichtung (zum Ende des Jahres 1944 lebten in Liebenau und Hegenberg rund 1000 Menschen verschiedener Herkunft) führte dazu, dass keine weiteren Pfleglinge mehr aufgenommen werden konnten, obwohl immer wieder Internierte in Austauschaktionen die Liebenau verließen.77 Als am 29. April 1945 die ersten französischen Panzer Oberschwaben erreichten, begann erneut eine unruhige Zeit an den drei Standorten der Anstalt, da die Liebenau nach dem Abzug der Internierten zunächst als Stätte für Displaced Persons aus Polen, Litauen, der Ukraine und Weißrussland genutzt wurde und den Plünderungen der französischen Besatzung ausgeliefert war. 78 Erst 1950 wurde die Pfleg- und Heilanstalt nach einigen Jahren des ökonomischen Mangels und der Fremdbestimmtheit wieder frei von fremden Belegungen und konnte sich allmählich wieder dem zuwenden, zu dessen Zwecke sie gegründet worden war: 74 Vgl. Lebenswertes Leben. »Aktion Gnadentod« in der Stiftung Liebenau. 50 Jahre danach. Hrsg. von der Stiftung Liebenau. Tettnang: Eigenverlag 1993, S. 14; Link 1995, S. 51. 75 Vgl. Link 1995, S. 57. 76 Vgl. ebd., S. 62. Tatsächlich werden laut Angaben der für das Archiv zuständigen Stiftungsmitarbeiterin am Häufigsten Informationen und Fotografien von Angehörigen der damals in Liebenau internierten Frauen aus dem Archiv erbeten. So gibt es neben einigen schriftlichen Dokumenten auch gut erhaltene und beschriftete Aufnahmen vom Alltag der Zivilinternierten als auch Fotografien von Kostümparties, vom Gottesdienst und von Spaziergängen auf dem Gelände von Liebenau. 77 Die bekannteste Internierte in Liebenau war Genevieve de Gaulle, die Nichte von Charles de Gaulle, die als Angehörige der Résistance 1943 nach einem Aufenthalt im KZ Ravensbrück nach Oberschwaben gebracht wurde, um von dort aus als ›Pfand‹ gegen einen Gefallen seitens der Franzosen eines Tages eingetauscht zu werden. Vgl. ebd., S. 65f. 78 Vgl. Link 1983, S. 11; Link 1995, S. 72f.

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zur Versorgung und Betreuung behinderter Menschen. Als Direktor Wilhelm 1953 stirbt, leben wieder über 800 Menschen mit Behinderung und an Krebs oder Lungentuberkulose erkrankte Menschen an den drei Standorten Liebenau, Hegenberg und Rosenharz. 79 Max Gutknecht übernimmt 1954 die Leitung der Liebenauer Anstalten und stellt den »Ausbau der Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten und die Modernisierung von Versorgungseinrichtungen« 80 in den Vordergrund seiner Tätigkeit. So veranlasst er, nachdem bereits unter Direktor Wilhelm 1948 eine erste Wiederinstandsetzung des während der Besatzungszeit besonders unter Beschädigungen und Plünderungen gelittenen Josefshauses begonnen worden war, dass dieses mit dem Ziel einer langfristig offenen Wohnform renoviert wird. 81 Das Josefshaus, erbaut zwischen 1894 und 1897, bildet im Liebenauer Fotoarchiv den ersten visuellen Fixpunkt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (Abb. 20). Waren die letzten sich im Archiv befindenden Fotografien aus Liebenau jene aus der Zeit der Zivilinternierung, so sind aus den Jahren 1945 bis zur Mitte der 1950er Jahre nur wenige Aufnahmen erhalten, und erst ab etwa 1956/57 setzt wieder eine rege fotografische Praxis in Liebenau ein, die sich in Abbildung 20: Josefshaus

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960 79 Vgl. Link 1995, S. 88. Zur Geschichte von Rosenharz vgl. Link, Hermann: 75 Jahre Zweigeinrichtung Rosenharz 1925-2000. Tettnang, Lorenz Senn 2001. 80 Schnieber 1995, S. 29. 81 Vgl. ebd. 1995, S. 91.

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weiten Teilen auf die jugendlichen Bewohner jenes Josefshauses konzentriert. 82 Pater Hubbuch, der von 1957 bis 1959 ein zweites Mal in Liebenau als Hausgeistlicher tätig ist, führt seine Tätigkeit als Hobbyfotograf fort und dokumentiert in zahlreichen als Diapositive erhaltenen Farbaufnahmen das Leben und Arbeiten in der Anstalt. Jedoch scheint sich ein weiterer Fotograf zu ihm zu gesellen, dessen Hauptaugenmerk auf der Anfertigung von Porträtaufnahmen Jugendlicher und jungen Erwachsenen liegt und dessen Name und Herkunft bei den Archivrecherchen unbekannt geblieben ist. 83 Er fertigt (vermutlich innerhalb weniger Jahre) über 200 Einzel- und Gruppenaufnahmen an, deren Inszeniertheit jene der Aufnahmen von Hubbuch bei Weitem übersteigt und dadurch ästhetisch zwischen verschiedenen fotografischen Genres und Konventionen oszilliert, so-

82 Es existieren einige Aufnahmen eines Besuches im Jahre 1948 seitens des Bischofs von Rottenburg-Stuttgart, Joannes Baptista Sproll, der aufgrund seines Widerstandes gegen das NS-Regime 1938 seiner Diözese verwiesen wurde und 1945 zurückkehrte. Aufgrund seines Engagement und des Exils wurde Sproll, so legen es die Fotografien aus jener Zeit nahe, frenetisch in Liebenau gefeiert. 83 Ich gehe aus verschiedenen Gründen davon aus, dass es sich beim Urheber der Aufnahmen aus dem Josefshaus nicht um den bereits genannten Pater Hubbuch handelt: Zum einen hat Hubbuch ausschließlich mit Diapositiven gearbeitet, die er zu großen Teilen in Magazinen der Stiftung Liebenau hinterlassen hat; zum anderen hat Hubbuch seit Mitte der 1930er Jahre mit AgfaColor-Filmen fotografiert, jedoch sind von ihm keine Schwarz-Weiß-Aufnahmen aufzufinden. Überdies wurden die Porträtaufnahmen aus dem Josefshaus lose als Papierabzüge mit einem für die Fotografie jener Zeit typischen gezackten Zierrändern und in einer Schachtel vorgefunden und sind ausschließlich schwarz-weiß. Im fotografischen Archiv lassen sich keine dazugehörigen Negative aufspüren und ebenso wenig vergleichbare Aufnahmen, die außerhalb des Josefshauses entstanden sind. Es existieren zwar durchaus Aufnahmen von Pater Hubbuch, auf denen einige der Jungen und jungen Männer zu sehen sind, die der unbekannte Fotograf ebenfalls fotografiert hat, jedoch sind dies nur vereinzelte farbige Schnappschüsse, auf denen überdies zu erkennen ist, dass sie zu einem früheren Zeitpunkt als die Serien aus dem Josefshaus entstanden sein müssen, da an der Entwicklung der Jungen ein Altersunterschied zwischen den Bildern Hubbuchs und den Bildern des unbekannten Fotografen festzumachen ist. Ob es sich allerdings nicht auch um eine weibliche Fotografin, möglicherweise eine Ordensschwester gehandelt haben könnte, kann hier nicht eindeutig beantwortet werden. Ich ziehe daher eine männliche Form vor, ohne mich allerdings darauf festlegen zu können, dass es sich tatsächlich auch um einen Mann als Fotografen gehandelt habe.

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dass ich im Folgenden meine Aufmerksamkeit auf die Analyse exemplarischer Beispiele dieses Bilderkonvoluts des unbekannten Fotografen richten möchte. Im Anschluss daran gilt es die Frage nach der Sichtbarmachung und der zeitgleichen Unsichtbarmachung von Behinderung im Dispositiv der Porträtfotografie zu stellen. Den hier besonders augenfälligen Aspekt der Serialisierung in Anlehnung an fotografische Projekte zur Erfassung und Klassifizierung von kriminellen und/oder devianten Subjekten werde ich separat im letzten Teil dieser Untersuchung besprechen und deshalb an dieser Stelle zunächst vernachlässigen. 4.3.2 Zur Sichtbarkeit und gesellschaftlichen Relevanz behinderter Menschen in der Nachkriegszeit ›Sichtbarkeit‹ als Begriff konstituiert sich im Feld der Visualität zwischen dem Zu-Sehen-Geben, dem Sehen und dem Gesehen-Werden. 84 Somit ist Sichtbarkeit nicht mit dem Begriff der ›Repräsentation‹ gleichzusetzen, sondern selbst stets produziert sowie »dabei eng mit der praktischen Einheit von Wissen und Institutionen verbunden« 85. In diesem Sinne bedeutet Sichtbarkeit ein »begriffliche[s] Schema, das bestimmt, was überhaupt gesehen werden kann« 86 und ist in Verbindung mit dem Begriff der ›Unsichtbarkeit‹ hier nicht als Binarität zu verstehen, die nur einen der beiden Modi zulässt, sondern sie können als Konzepte zeitgleich herrschen und konstituieren sich dabei gegenseitig. 87 Das Sichtbare wird so zum »Gegenstand, Schauplatz und Resultat von Regulierungen, Einschränkungen, Ausschlüssen und Umarbeitungen, von Machtprozessen also, die

84 Schaffer führt dazu einen interessanten und zugleich etwas polemischen Vergleich der feministischen Performance-Theoretikerin Peggy Phelan an, welcher den vermeintlichen Gewinn an politischer und wirtschaftlicher Macht durch erhöhte mediale Sichtbarkeit fokussiert: »If representational visibility equals power, then almost-naked young white women should be running Western Culture. The ubiquity of their image, however, has hardly brought them political or economic power.« Phelan, Peggy: Unmarked. The Politics of Performance. London/New York: Taylor and Francis 1993, S. 10, zitiert nach Schaffer 2008, S. 15. 85 Holert, Tom: Bildfähigkeiten. Visuelle Kultur, Repräsentationskritik und Politik der Sichtbarkeit. In: Ders. (Hrsg.): Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit. Köln: Oktagon 2000, S. 20. 86 Holert 2000, S. 39. 87 Vgl. Schaffer 2008, S. 56. Vgl. auch Vogl, Joseph: Medien-Werden: Galileis Fernrohr. In: Mediale Historiographien (1) 2001, S. 115-123.

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man ihm keinesfalls ansieht, geschweige denn auf den ersten Blick.« 88 Folglich ist die reine ›Anwesenheit‹ von Menschen mit Behinderung in einem visuellen Feld nicht gleichbedeutend mit einer tatsächlichen gesellschaftlichen Sichtbarkeit und somit auch keine Anerkennung im Sinne einer »Belehnung mit Wert« 89. Aufgrund dessen ist gerade für die Verknüpfung von Fragen nach ihrem gesellschaftlichen Stellenwert mit medialen Rhetoriken und Prozessen der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit an dieser Stelle des Kapitels kurz in die sozio-politischen Lebens- und Sichtbarkeitsumstände von Menschen mit Behinderung nach dem Ende der Euthanasieaktion und dem Ende des Zweiten Weltkrieges einzuführen, um diese wiederum als Bedingungen zu verstehen, die bestimmen, wie und ob etwas gesehen bzw. wahrgenommen werden kann oder nicht. Wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg trat auch nach dem Zweiten Weltkrieg der Topos ›Behinderung‹ zunächst in Form der Kriegsversehrung in den gesellschaftlichen wie auch medialen Vordergrund. 90 Im Krieg verwundeten und dadurch körperlich eingeschränkten oder behinderten Männern wurde in der kollektiven Wahrnehmung zunächst zugeschrieben, diese Behinderung nicht selbst verschuldet zu haben, während die durch Kampf oder Gefangenschaft hervorgerufenen psychischen Erkrankungen diskursiv zunächst keine Rolle spielten und diese Betroffenen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg als ›Simulanten‹ oder ›Schmarotzer‹ und somit als ›schlechte‹ Kriegskrüppel bezeichnet wurden. 91 Was die körperbehinderten Kriegsversehrten dadurch mit anderen körperlich Behinderten gemeinsam hatten, war lediglich die Dauerhaftigkeit ihrer Schädigung, jedoch nicht ihre genannte unteilbare Ursache der ›Exogenität‹. Diese Zuschreibung würde sich spätestens in den 1970er Jahren in der bundes88 Vosskamp, Wilhelm/Weingart, Brigitte: Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse. In: Dies. (Hrsg.): Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse. Köln: DuMont 2005, S. 7-21, hier S. 11. 89 Ebd., S. 20. Bewusst ausgeklammert lasse ich hier zunächst noch die Bedeutungsdimensionen von Anerkennung, wie sie u.a. im Anschluss an Judith Butler formuliert wurden, zum Beispiel von Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010; Ziemer 2008; Hentschel, Linda: Haupt oder Gesicht? Visuelle Gouvernementalität seit 9/11. In: Dies.: Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror. Berlin: B-Books-Verlag 2008, S. 183-202; Bergermann 2013, S. 281-305. 90 Vgl. Köbsell 2006, ohne Paginierung. 91 Vgl. Möhring, Maren: Kriegsversehrte Körper. Zur Bedeutung der Sichtbarkeit von Behinderung. In: Waldschmidt/Schneider 2007, S. 175-197, hier S. 178f; vgl. auch Kienitz, Sabine: Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923. Paderborn: Schöningh 2008.

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deutschen Sozial- und Wirtschaftspolitik noch als entscheidend für die Integration behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt herausstellen, wie es Elsbeth Bösl in ihrer Studie zur Beschäftigungspolitik von Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik betont. 92 Sogenannte geistig behinderte Menschen wie auch Menschen mit einer Schwerst(mehrfach)behinderung erfuhren hingegen in den Jahren nach dem Kriegsende 1945 zunächst eine verstärkte gesellschaftliche Unsichtbarmachung, die mit der langsamen Aufarbeitung der Euthanasieaktion und der Vernichtung vieler sogenannter »Geistestoter« oder »unnützer Esser« in Verbindung steht. So hatte die Erfahrung, dass behinderte Familienmitglieder plötzlich aus ihrer Mitte gerissen und getötet wurden, eine prägende Wirkung auch auf die Behandlung jener, die überlebt hatten, weshalb viele Eltern ihre behinderten Kinder aus der Öffentlichkeit heraushielten und versteckten. 93 Zugleich hatten aber auch Praktiken der institutionellen Verwahrung und der gesellschaftlichen Abtrennung nach wie vor ihre Gültigkeit und sorgten dafür, dass in den Jahren der wirtschaftlichen Konsolidierung der jungen Bundesrepublik die Betreuung und Versorgung behinderter Menschen hinter Mauern und Zäunen verblieb. 94 Wieder Eingang in den gesellschaftlichen und damit auch den politischen Diskurs fanden diese Themen etwa ab der Mitte/Ende der 1950er Jahre, als beispielsweise 1958 in Marburg die »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind« als Selbsthilfeorganisation von Eltern gegründet wurde und sich vergleichsweise schnell in Form von Orts- und Kreisvereinigungen ausbreitete. 95 Ihr Ziel, für Kinder mit geistiger Behinderung gezielte heilpädagogische Förderung und zugleich die Unterbringung in der Familie statt in geschlossenen Institutionen zu erwirken, mündete u.a. in der Veränderung des Sonder- und Hilfsschulwesens in den frühen 1960er Jahren, nachdem die Schulpflicht für diese Kinder im Rahmen des Reichsschulgesetzes abgeschafft worden war. Zugleich begann sich mit dem bundesdeutschen Wirtschaftswunder auch das Spenden- und Almosenwesen des Bürgertums wieder zu erholen, was sich folglich auch in der visuellen Präsenz von Menschen mit Behinderung niederschlug und mit dem Contergan-Skandal einen vorläufigen Höhepunkt erfuhr, als deren ›Hilfsbedürftig-

92 Vgl. dazu grundlegend: Bösl, Elsbeth: Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: transcript 2009. 93 Vgl. Böhm, Roland: Rahmenbedingungen der Behindertenhilfe im Nachkriegsdeutschland (1945-1958), online verfügbar unter www.50-jahre.lebenshilfe.de/50_ jahre_lebenshilfe/1950er/downloads/50Boehm.pdf (letzter Zugriff am 08.05.2016). 94 Vgl. ebd. 95 Zur Geschichte der Lebenshilfe vgl. deren Homepage http://50-jahre.lebenshilfe.de/ (letzter Zugriff am 08.05.2016).

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keit‹ in Kampagnen, Zeitschriften und später in regelmäßigen Fernsehshows bildlich thematisiert wurde. 96 Dieses sukzessive mediale Sichtbarwerden, das hier im Übrigen nur punktuell beleuchtet werden kann, bildet das dispositive Netz, vor dessen Hintergrund auch das Verhältnis insbesondere zwischen der fotografischen Sichtbarmachung und einer sozialpolitischen Normalisierung von Behinderung in der jungen Bundesrepublik (und nicht zuletzt hinter den Mauern einer Anstalt steht) zu beachten ist. So sind die Fotografien aus den späten 50er und frühen 60er Jahren aus dem Liebenauer Josefshaus dieser kurzen Skizze der gesellschaftlichen Situation behinderter Menschen folgend in einem Zeitraum entstanden, der nicht nur politisch und sozial von Übergängen, Konsolidierungen und Neuanfängen außerhalb der Einrichtung geprägt war, sondern sich auch in der Anstaltsorganisation niederschlug: der Übergang vom klassischen geschlossenen Heimbereich zu offeneren Wohnformen; die wirtschaftliche Konsolidierung der Liebenauer Anstalt nach Beendigung der Fremdbelegung und der Neuanfang mit Betreuer_innen und Wärter_innen ohne Gelübde und Habit wie die Franziskanerinnen, die bis dahin den Großteil der Arbeit in Liebenau bewerkstelligt hatten. Diese drei Faktoren, eingebettet in einen größeren sozialpolitischen Kontext, beeinflussen die Aufnahmen aus der zweiten Aufenthaltsphase von Pater Hubbuch und jenen Bildern des unbekannten Fotografen und sind daher als vorausgesetzte Orientierungspunkte in der folgenden exemplarischen Bildanalyse zu verstehen, welche diese an zeitgenössische Behinderungs- und damit auch Sichtbarkeitsdiskurse rückbinden. Die Fotografien, die Pater Hubbuch zugewiesen werden können, lassen sich aufgrund ihrer Ästhetik zunächst an die ihm im vorangegangenen Kapitel konstatierte fotografische Praxis anschließen. So verwendete Hubbuch wie in den 1930er Jahren auch Farbfilmmaterial und lichtete die Liebenauer Bewohner_innen überwiegend im Hof und Garten der Anstalt ab. Er ›überraschte‹ sie bei der Arbeit, beim Spielen und Baden im See sowie bei festlichen Anlässen wie Weihnachten und Ostern (Abb. 21). Das Sujet betreffend ergibt sich dadurch eine Schnittmenge mit den Aufnahmen des unbekannten Fotografen, der sich eindeutig auf eine feststehende Gruppe von Jungen und jungen Männern aus dem Josefhaus konzentrierte (Abb. 22), die zwar auch auf Hubbuchs Bildern auftauchen, jedoch sind seine Schwarz-Weiß-Aufnahmen im Haus und außerhalb des Hauses bzw. der Anstalt weniger von einer Knipser-Ästhetik geprägt als vielmehr von einer geplanten und organisierten Inszenierung seiner Referenten

96 Auf die damit in Zusammenhang stehende als »Aktion Sorgenkind« gegründete Aktion Mensch werde ich noch an anderer Stelle zu sprechen kommen.

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Abbildung 21: Außenaufnahme von drei jungen Bewohnern

Quelle: J. Hubbuch, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1957-1959

Abbildung 22: Gruppenaufnahme

N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

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für die Kamera. 97 Was beide Fotografen eint, ist die Fokussierung auf die Insbildsetzung einer Alltäglichkeit oder Normalität, die sich auf zwei Arten äußert: zum einen durch eine Annäherung an die familiale Amateurfotografie der 50er und 60er Jahre, wie sie Pierre Bourdieu beschreibt, zum anderen aufgrund von konkreten Einpassungen der fotografischen Referenten in das Dispositiv der (bürgerlichen) Atelierfotografie und dem damit verbundenen Verweis auf eine Form der medialen Identitätsproduktion. Normalität im Sinne von Alltäglichkeit setzt in Abhängigkeit dazu die Existenz einer Nicht-Normalität voraus, deren Grenzen aber durch den Prozess der Normalisierung bzw. der Denormalisierung überschritten werden können. Wie bereits im Abschnitt zur Normalismustheorie nach Jürgen Link angerissen, wandte sich die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft nach 1945 langsam von einer protonormalistischen Grundeinstellung ab und hin zu flexibel-normalistischen Strategien der sich unter verbreiteten Toleranzzonen vollziehenden Normalisierung des Lebens in allen Bereichen. Ein wichtiges Instrument der Normalisierung war die Fotokamera, die nun oft in Form einer leichten und einfach zu bedienenden Kleinbildkamera das sich nach dem Krieg und durch das Wirtschaftswunder wieder stabilisierende Familienleben dokumentierte und so diese Stabilität als Normalität aber zugleich mitproduzierte. Der Annahme folgend, dass der unbekannte Fotograf aus dem sich zum Ende der 1950er Jahre für moderne ›Irrenfürsorge‹ öffnenden Josefshaus stammt und dort vermutlich als Betreuer oder Erzieher tätig war, können seine Fotografien zu jener Zeit als Versuch gewertet werden, sich in diese sozio-politische und wirtschaftliche Normalisierung einzuschreiben, die sich außerhalb der Anstaltsmauern vollzog, und sie durch das fotografische Dispositiv auch innerhalb der Anstalt in eine Normalität zu überführen. Diese denken, wie zu zeigen sein wird, jedoch so die gleichsam vorausgesetzte Nicht-Normalität mit und performieren sie aufs Neue. 98 97 Dies lässt vermuten, dass es sich um einen Erzieher oder Angestellten des Josefshauses handelt. In einem kommentierten Fotoalbum wird diese Gruppe als »Knabenabteilung bei Sr. Maria Luise« bezeichnet, es findet sich jedoch kein Hinweis auf Namen weiterer Erzieher_innen. 98 Es ist nicht bekannt, inwiefern die hier vorgestellten Aufnahmen ihren Weg aus der Anstalt hinaus und in die Öffentlichkeit und zurück ins Archiv gefunden haben; in den stiftungseigenen Veröffentlichungen seit den 1980er Jahren tauchen die Porträts nicht auf und die Tatsache, dass sie in einem Umschlag in einem ungeordneten Karton gefunden wurden, erlauben kaum Hinweise darauf, wer die Bilder jemals zu Gesicht bekommen hat bzw. ob sie im öffentlichen Raum zirkulier(t)en oder tatsächlich lediglich für den privaten Gebrauch bestimmt waren. Auf manchen Aufnahmen ist auf der Rückseite in blauer Tintenschrift der Name der abgebildeten Person zu lesen, die

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4.3.3 »Saisonkonformismus« als ästhetische Kategorie Pierre Bourdieu zufolge sind die meisten Amateurfotografen zu Beginn der 1960er Jahre sogenannte »Saisonkonformisten«, das heißt, dass diese sich in erster Linie darauf konzentrieren, bei besonderen Anlässen und Feiern zu fotografieren, zum Beispiel zu Weihnachten, zu Hochzeiten, aber auch im Urlaub oder Treffen von Freunden. 99 Diese Feststellung geht einher mit den sich ständig vereinfachenden Bedienungsmöglichkeiten von Kameras und den sinkenden Materialkosten, jedoch auch, wie bereits im Kapitel zu den Arbeiterfotografien der 1930er Jahre für den Knipserfotografen Hubbuch bemerkt, mit dem sich verändernden Zweck der Fotografien, nämlich ihrem Entzug der öffentlichen Verwertung und der sich stattdessen etablierenden privaten Gebrauchsform, die sich so auch in der Ästhetik der Aufnahmen wiederfinden lässt und mit ihr in einer starken Wechselwirkung steht. 100 In dieses Spannungsfeld lassen sich auch die Liebenauer Aufnahmen aus den ausklingenden 50er Jahren einordnen, wenn man einen Blick auf die Anlässe wirft, zu denen die Fotografien entstanden sind. Ein Großteil besteht aus Einzel- und Gruppenporträts; die Innenaufnahmen sind im Aufenthaltsraum des alten Josefshauses aufgenommen worden; die Außenaufnahmen im Garten des Liebenauer Schlosses oder oberhalb von Liebenau in den großflächigen Streuobstwiesen und Hopfengärten. Diese Innenaufnahmen wiederum können verschiedenen Anlässen oder Festen zugeordnet werden, denn sie zeigen die jungen Männer des Josefshauses vor gefüllten Osternestern, Weihnachtstellern, verkleidet an Fasching oder beim brav geordneten Spiel mit Legosteinen oder Steckfiguren. 101

meisten Fotografien können aber nicht mehr konkreten Personen und Namen zugeordnet werden. 99

Vgl. Bourdieu, Pierre: Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede. In: Ders. (Hrsg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 25-84, hier S. 31.

100 Vgl. ebd.: Die gesellschaftliche Definition der Photographie. In: Ders. (Hrsg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1981, S. 85-109, hier S. 91. 101 Die 1934 in Dänemark erfundenen, 1949 auf den Markt gebrachten und seit Mitte der 1950er Jahre auch in Deutschland erhältlichen und beliebten Lego-Steine sind in diesem Zusammenhang durchaus als eine moderne Errungenschaft im Anstaltskontext zu betrachten; so ist zu vermuten, dass dies für den Fotografen schon allein den Anlass bot, die jungen Männer beim Lego-Spiel bzw. bei der Konstruktion von Gebäuden aus Lego-Steinen abzulichten, um auf diese Neuheit im Josefshaus aufmerk-

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Diese besonderen Momente, die der Fotograf als ›bildwürdig‹ beurteilt hat, verweisen in ihrer Besonderheit zugleich aber auch auf die an sie gekettete Normalität und Alltäglichkeit, die allerdings nur dann zutage treten kann, wenn man die Bildsituationen an ihren Entstehungsort rückbindet – eine Anstalt für Menschen mit Behinderung. Der dem Fotografen zu konstatierende »Saisonkonformismus«, wie auch die Tatsache, dass die überwiegende Anzahl der Fotografien sich an Konventionen der bürgerlichen Atelierfotografie orientiert und sie damit nobilitiert, sind somit innerhalb der Anstaltsmauern als Dokumentation von Besonderheit (zum Beispiel Ostern) innerhalb von einer Normalität bzw. Alltäglichkeit (die der Bewohner des Josefshauses) zu bewerten, können aber zugleich auch aus der Perspektive, die außerhalb des Anstaltsdiskurses gelagert ist, als Normalität innerhalb einer Besonderheit, nämlich der Nicht-Normalität in Form von Behinderung und in Form einer ausgegrenzten gesellschaftlichen Gruppe gelesen werden. Diese dynamische und vexierbildhafte Perspektive bildet so die Voraussetzung für die Beschreibung der Aushandlung visueller Normalisierung und Denormalisierung, die sich auch hier zwischen ästhetischen Diskursen der Porträt- und Atelierfotografie sowie der Amateurfotografie vollzieht. Unter Atelierfotografie ist zunächst der fotografische Akt zu verstehen, bei welchem ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen professionell von einem Fotografen in einem Fotostudio oder Atelier porträtiert wird, zum Beispiel für Passbilder, für Familienporträts oder auch für anlassgebundene Aufnahmen wie zum Beispiel Hochzeitsfotos. Diese Situation ist geprägt durch ihr soziales und technisches Dispositiv, das für die Studiofotografie bis etwa in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bedeutete, dass man zumeist in einem geschlossenen Raum, dem Atelier, auf einem Stuhl oder auf einem Hocker sitzt oder zum Beispiel an etwas gelehnt vor einem neutralen Hintergrund steht. Zuvor hat man sich zurecht gemacht, die Haare ordentlich gekämmt, sich dem Anlass entsprechend gekleidet und erhofft sich nun, dass der Fotograf aufgrund seiner künstlerisch-technischen Fähigkeiten eines oder mehrere Bilder schießt, das sich dem potentiellen Betrachter als besonders gelungen, nicht aber als besonders auffällig oder anormal präsentiert. 102 Diese Praxis der Atelierfotografie ist nahezu so alt wie die Fotografie selbst und galt insbesondere noch im 19. Jahrhundert als Statussymbol, das dem abgelichteten Subjekt versprach, es durch verschiedene Codes als jemand Einmaliges zu repräsentieren, ohne jedoch das gesellschaftli-

sam zu machen. Zur Geschichte von Lego vgl. Baichtal, John: The cult of Lego. San Francisco: No Starch Press 2011. 102 Vgl. Grebe, Anna: Wenn der Fotograf kommt. Eine Porträtserie aus dem Fotoarchiv der Stiftung Liebenau. In: Dies./Ochsner 2013a, S. 227-247, hier S. 232f.

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che Normalitätsfeld zu verlassen. 103 Bernd Busch betont den konstruktivistischen Charakter der Atelierfotografie: »Das Atelier des 19. Jahrhunderts mit seinen Requisiten und ritualisierten Operationen gleicht einer Versuchsanordnung gesellschaftlicher Identitätsproduktion und Habitualisierung.« 104 Die Amateurfotografie, wie sie im vorangegangenen Kapitel unter dem Fokus der Knipserfotografie beschrieben wurde, löste zwar das Dispositiv der professionellen Atelierfotografie sukzessive ab bzw. erfand seine eigenen Regeln und Konventionen, nichtsdestotrotz blieben aber die Grundvoraussetzungen und die Ziele von porträtfotografischen Praktiken erhalten: Die Repräsentation der abgelichteten Person bezieht sich auf deren außerbildliche Existenz, sie muss diese als wiedererkennbar und in ihrer Individualität darstellen und fungiert so als Erinnerungsartefakt. 105 Diese Faktoren vereinigen sich so beispielsweise in jener Art von Fotografie, die Pierre Bourdieu für die Mitte des 20. Jahrhunderts im Amateurbereich beschreibt. Bourdieu versteht die Konzentration des Amateurfotografen auf die ›Besonderheiten‹ als Ausdruck seines Wunsches nach Integration und verweist damit auf den Zusammenhang zwischen dem Besitz einer Kamera und dem Umstand ›Familie/Haushalt mit Kindern‹. An Durkheim anschließend sei die Fotografie folglich ein »Mittel, die großen Augenblicke des gesellschaftlichen Lebens, in denen die Gruppe ihre Einheit aufs neue bestätigt, zu feiern.« 106 Ich möchte dies anhand von Aufnahmen diskutieren, die zum Ende der 1950er Jahre entstanden sind und einen dieser festlichen Momente, von denen Bourdieu spricht, in den Mittelpunkt stellen: Vier männliche Jugendliche sitzen 103 Vgl. Drück, Patricia: Das Bild des Menschen in der Fotografie. Berlin: Reimer Verlag 2004, S. 23. Die vexierbildhaften und damit zugleich auch brüchig werdenden Subjektivierungsstrategien der Porträtfotografie finden in der Kulturtechnik der Serialisierung oder des Serienbildens über die ›Zwischenstation‹ der »carte-de-visite«Fotografie von Disdéri in den 1860er Jahren spätestens mit den großen Fotoprojekten des bereits genannten August Sanders und anderer Fotografen der Weimarer Republik einen mächtigen Respondenten, der im Zuge neuer und günstiger Vervielfältigungs- und Publikationsverfahren von Fotografien in Zeitschriften und Bildbänden die implizite Gegenüberstellung von Einzelbildern als Serie in den Vordergrund publizistisch-kuratorischer Praktiken drängt. Vgl. zur carte-de-visite-Fotografie Gernsheim, Helmut: Das Visitenkartenporträt. In: Ders.: Geschichte der Photographie. Die ersten 100 Jahre. Frankfurt a.M.: Propyläen-Verlag 1983, S. 355-368; Sagne 1998, S. 109ff. 104 Busch, Bernd: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie. München: Hanser Verlag 1989, S. 312. 105 Vgl. Drück 2004, S. 23. 106 Bourdieu 1981, S. 32.

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in einem Innenraum auf einer Bank, vor ihnen steht ein Tisch, auf dem kunstvoll auf einen Untergrund aus Holzwolle Zuckerhasen und Ostereier drapiert worden sind (Abb. 23). Die Jungen sind ordentlich und formell angezogen, einige tragen Hemd und Krawatte, manche eine Strickjacke darüber. Die zwei sich links im Bild befindenden Jungen schauen in die Kamera, die zwei Jungen rechts haben keinen Blickkontakt zum Fotografen und schauen aus dem Bild heraus bzw. auf den Tisch. Draußen scheint es schon dunkel zu sein, denn durch das vergitterte Fenster sieht man kein Tageslicht dringen. Ein weiteres Bild, das wenige Minuten davor oder danach entstanden sein muss, zeigt sechs junge Männer, ebenfalls vor einem dekorierten Ostertisch sitzend, die jedoch nicht in die Kamera blicken. Dieses Arrangement wiederholt sich noch auf einigen anderen Fotografien (Abb. 24). Dabei wirkt das Setting stets äußerst inszeniert und für die Kamera hergestellt, aber das tatsächlich gestellte festliche ›Familienfoto‹ erhält stets einen Riss durch das Nicht-Posieren der jungen Männer vor der Linse, die sich gegen die steife Inszeniertheit sperren und durch ihre überwiegende Abwendung vom Fotografen ihre Konzentration auf die Interaktion mit ihren Kameraden, aber nicht mit der Kamera deutlich machen. Das, was die Gruppe der jungen Männer zusammenhält, ist im realen Leben ihr gemeinsamer Wohnort in der Liebenauer Anstalt und der gemeinsame Alltag, zu dem eben auch das gemeinsame Begehen besonderer Anlässe gehört. Sie damit als ›Familie‹ zu bezeichnen, legt sicherlich auch die familienähnliche Struktur der Gruppen des Josefshauses zu jener Zeit nahe – wie auch die Insbildsetzung der Referenten. 107 Dadurch verstärkt bzw. produziert die Fotografie diese institutionelle Zusammengehörigkeit und bringt zugleich aufgrund ihrer Eigenlogik das genaue Gegenteil hervor, nämlich die Separation und die Exklusion einer als ›anormal‹ markierten Wirklichkeit: Schreibt Bourdieu der Fotografie zu, »die Integration der Familiengruppe [zu] verstärken, indem sie immer wieder das Gefühl neu bestätigt, das die Gruppe von sich und ihrer Einheit hat«, 108 so vollzieht sich diese Integration visuell beispielweise durch die Rahmung, die der Fotograf vornimmt: Die jungen Männer vor der Osterlandschaft werden in den Bildmittelpunkt gestellt, sie sind nicht angeschnitten oder in Bewegung, sondern doppelt stillgestellt durch ihre sitzende Position und durch die Fotografie an sich. Aufgrund der Tatsache, dass es sich hier immer um Gruppenaufnahmen handelt,

107 Die nach Alter und Geschlecht aufgeteilten Gruppen im Josefshaus, die jeweils von einer Ordensschwester federführend geleitet wurden, waren so durchaus durch eine familienähnliche Struktur gekennzeichnet, die sich auch in den Bildern wiederfinden lässt. 108 Bourdieu 1981, S. 31.

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Abbildung 23: Vier Bewohner des Josefshauses beim Osterfest

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

Abbildung 24: Fünf Bewohner des Josefshauses beim Osterfest

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

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werden eben durch jene Kadrierung die Individuen aneinandergebunden und vom Betrachter in einen Zusammenhang gebracht, der in Referenz auf das Familienfest Ostern auch von einer familialen und emotionalen Verbindung der jungen Männer ausgehen muss. Der »Saisonkonformismus« verschränkt sich hier nicht nur mit dem Wunsch nach der Darstellung familiärer Zugehörigkeit und dem Einschluss von Individuen in einen gemeinsamen Rahmen, sondern auch mit der Frage nach der fotografischen Bildwürdigkeit der Liebenauer Bewohner. So hat der unbekannte Fotograf des Josefshauses den Bewohnern des Hauses nicht nur zu einem materialisierten Abbild verholfen, sondern ihnen durch seine Tätigkeit den Status des »Photographierbaren« 109 verliehen. Insofern normalisiert er sie zugleich durch den fotografischen Akt und überführt sie in die ›normale‹ Gesellschaft, als er – Bourdieu folgend – seine Referenten »gegen den Einfall« verteidigt, »irgend jemandem oder irgend etwas zur Würde des ›Photographierten‹ zu verhelfen, das sich nicht objektiv (das heißt gesellschaftlich) als ›photographierbar‹ definiert und als ›würdig, photographiert zu werden […].‹« 110. Der Topos der Bildwürdigkeit ist Teil eines grundlegenden Diskurses der Fotografie: War die Porträtmalerei noch lediglich für einen kleinen Teil der Bevölkerung ein erschwingliches Instrument und Medium zur Konservierung und Präsentation des eigenen Abbildes, so demokratisierte die Erfindung der Fotografie das Genre des Porträts. Innerhalb weniger Jahrzehnte ermöglichte dies, dass eine breite Bevölkerungsschicht zunächst Zugang zu professionellen Studioaufnahmen und dann durch die schnell fortschreitende technische Entwicklung der Kameraausrüstung auch zu eigenen, selbstangefertigten fotografischen Porträts hatte. So wurde letztlich auch aufgrund des immer günstiger werdenden Materials sowie der Etablierung des Papierabzuges ab den 1960er Jahren das Porträt vom den Referenten nobilitierenden Luxusgegenstand zum allseits beliebten und erschwinglichen Hobby, das sich durch Schnappschüsse und spontane Aufnahmen auszeichnete. 111 Unter dieser Voraussetzung sind die Liebenauer Bilder aus dem Josefshaus zwar einerseits und auf den ersten Blick unproblematisch im Diskurs um die Knipser- oder der Amateurfotografie zu verorten, die aufgrund der Kürze der Belichtungszeit, des verhältnismäßig günstigen Materials und dem quasifamiliären Umfeld den jungen Männern ihre Bildwürdigkeit verleiht. Andererseits muss hier aber auch kritisch hinterfragt werden, inwiefern es sich hier um 109 Ebd., S. 50. 110 Ebd. 111 Vgl. Schmidt, Kerstin: Das fotografische Porträt. In: Brakke, Jaap/Andratschke, Thomas (Hrsg.): That’s me! Das Portrait von der Antike bis zur Gegenwart. Hannover: Landesmuseum Hannover 2010, S. 416-429, hier S. 425.

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eine tatsächliche Nobilitierung bzw. um das Einfangen eines »Augenblick[s] des gesellschaftlichen Lebens« 112 handelt, wenn man davon ausgeht, dass die Liebenauer Anstalt vielmehr eine ›Para-Gesellschaft‹ verkörpert, für die die Regeln außerhalb der Institutionsmauern keine oder nur wenig Gültigkeit besitzen. An dieser Stelle zeigt sich ein Riss, ein Zweifel an der ›Normalität‹ der Aufnahmen: Durch die Bilder des unbekannten Liebenauer Fotografen und das intentionale, ästhetische und zeitgenössische Einschreiben in das Feld der ›normalen‹ Familienfotografie schimmert hindurch, dass der integrative Blick des Fotografen durch den Sucher auch hier nicht verhindern konnte, dass das fertige Bild auf ein präformiertes Wissen von Behinderung wie auch Wissen über Bilder trifft und so eine soziale Wahrheit von Behinderung hervorbringt, die quer zu den Bemühungen um Normalität zu stehen scheint. Konkret vollzieht sich dies auf der Fährte zweier fotografischer Praktiken: Jener der infantilisierenden Kinderfotografie und jener der medizinisch-psychiatrischen Fotografie. 4.3.4 Denormalisierung durch Infantilisierung Wurden um die Jahrhundertwende in mittleren und unteren Gesellschaftsschichten erst dann von Kindern Fotografien angefertigt, wenn diese verstorben waren, so war es in der Oberschicht bereits durchaus üblich, bestimmte Stadien und Lebensalter der Kindheit fotografisch festzuhalten und dadurch als etwas Besonderes auszuzeichnen. 113 Im Zuge der Etablierung der Amateurfotografie und später der Knipserfotografie, werden Kinder dann auch in allen Lebenslagen fotografiert und nicht mehr speziell dafür in einem Fotostudio arrangiert und dazu angehalten zu posieren. 114 Stattdessen fotografieren Eltern damals wie heute den Alltag mit ihren Kindern, zum Beispiel beim Essen, Anziehen oder Spazierengehen. Diese Bilder sind zwar durchaus in erster Linie für den privaten Gebrauch bestimmt, jedoch bemerkt Konrad Köstlin dazu treffend, dass sie so auch als Beweis über den Besitz gewisser Statussymbole dienen können und das Kind 112 Bourdieu 1981, S. 32. 113 Vgl. Köstlin, Konrad: Der Liebe Blick – Kinderfotografie. In: Ziehe, Irene/Hägele, Ulrich (Hrsg.): Fotos »schön und nützlich zugleich«. Das Objekt Fotografie. Berlin: Lit Verlag 2006, S. 19-27, hier S. 20f. 114 Nichtsdestotrotz hält sich bis heute in Kindergärten und Grundschulen die Praxis, Kinder mit ihren Lieblingskuscheltieren oder mit ihrem Lieblingsspielzeug zum Beispiel in Form eines »Pixy«-Fotos (benannt nach der Marke) zu verewigen bzw. von einem Schulfotografen Einzelbilder und Klassenporträts anfertigen zu lassen, die wie auch die Pixy-Fotos Eingang in die Fotoalben von Eltern und Verwandten finden.

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»zu einer Form des demonstrativen Konsums geworden [ist], über ihn wird identitätsproduktiv geredet« 115 – und zwar die Identität der Eltern bzw. der Fotografen. Identität wird auch anhand der Aufnahmen des unbekannten Fotografen produziert, jedoch: eine »behinderte Identität«. 116 Dies geschieht in Form einer visuellen Denormalisierung, im Zuge derer sich damit auch ein Ausschluss aus dem Feld der Normalität vollzieht und so als Strategie der Infantilisierung erwachsener oder heranwachsender Menschen verstanden werden kann. Ausgestattet mit Attributen der Kindheit, wie Kuscheltieren oder Puppen oder abgebildet an der Seite pädagogischer oder medizinischer Autoritäten, referieren solcherlei Bilder von erwachsenen Menschen auf deren Abweichung von einer für ihr Alter ›typischen‹ geistigen oder körperlichen Entwicklungsstufe. Auf diese Weise (re)produzieren die Bilder insbesondere Vorstellungen von geistiger Behinderung, aber auch Demenz 117, als Verbleiben oder als ›Rückfall‹ in das Kindheitsstadium bzw. in ein Stadium einer noch nicht voll entwickelten geistigen Reife. Während Kinderfotografien durch diese Strategie an ›Niedlichkeit‹ hinzugewinnen, verursachen sie im Falle von erwachsenen Menschen eine Irritation 115 Köstlin 2006, S. 22. 116 »Behindert« ist hier durchaus als ›verhinderte‹ Identität zu verstehen, denn die Strategien der Insbildsetzung verunmöglichen die Zuweisung eines Subjektstatus‹, wie sich noch zeigen wird. Den Ausdruck »behinderte Identität« übernehme ich von Christian Mürner und Udo Sierck, die in ihrem gleichnamigen Sammelband Beiträge dazu versammeln, »wie Identitätsbildung trotz aller Hindernisse, Einschränkungen und Ausgrenzungen gelingt und zu einem realistischen Bild von Behinderung beiträgt«, wobei auch hier zu fragen wäre, wie individuelle Erfahrung sich als »realistisch« fassen ließe. Vgl. Mürner, Christian/Sierck, Udo (Hrsg.): Behinderte Identität? Neu-Ulm: AG SPAK 2011, S. 7. 117 Der Fotograf Michael Hagedorn fotografiert im Rahmen einer Langzeitdokumentation, u.a. für das von ihm initiierte Projekt »Konfetti im Kopf«, Menschen mit Demenz in ihrer Umgebung zu Hause oder im Heim; neben sehr berührenden und intimen Einblicken in den Alltag Demenzkranker sind auf einigen Aufnahmen auch alte Menschen mit einer Spielzeugeisenbahn, einem Puppenwagen oder einem Zwergkaninchen zu sehen – wenngleich diese sicherlich wichtige Objekte im Leben der fotografierten Menschen darstellen, so erwecken sie beim Betrachten den Eindruck, dass das Alter(n) in einem Zusammenhang mit Bedürfnissen aus der Kindheit gebracht werden könnte. Vgl. http://www.michaelhagedorn.de/ (letzter Zugriff am 08.05. 2016). Die Kampagne »Konfetti im Kopf« ist unter http://www.konfetti-im-kopf.de/ konfetti-im-kopf/Aktivierungskampagne.html zu finden (letzter Zugriff am 08.05. 2016).

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beim Betrachter, die diesen darauf schließen lässt, dass er es mit devianten Subjekten zu tun hat. Eine Fotoserie aus dem Bilderkonvolut des Josefshauses, die nahezu ausschließlich aus Einzelporträts der jungen Bewohner besteht, zielt auf vielfältige Art und Weise auf diese Form der Denormalisierung ab, indem sie sich einerseits in das Genre der Atelierfotografie einschreibt, jedoch zugleich beim Betrachten den Diskurs der psychiatrischen Fotografie mit aufruft und ebenso an die spätestens seit den 1930er Jahren übliche und verbreitete Praxis der Kindheitsfotografie anschließt, die sich neuen und für den Familienhaushalt erschwinglichen Fotoapparaten bedient. So ist auf über fünfzig Ganzkörperaufnahmen jeweils ein Junge oder junger Mann zu sehen; alle Abgelichteten tragen festliche Kleidung in Form eines Anzugs mit Fliege oder Krawatte bzw. eines förmlichen Pullunders und stehen in einem Innenraum vor einer hellen und neutralen Wand. 118 Die meisten von ihnen halten ein Requisit in den Händen, ein Bilderbuch, ein Stofftier oder eine Puppe. Jene, die ein Buch in den Händen halten, blicken mehrheitlich hinein, wobei sie damit zugleich den Kontakt mit der Kamera und mit dem Betrachter vermeiden (Abb. 25-27). 119 Jene, die ein Stofftier oder eine Puppe halten, kommunizieren aktiv mit dem Objekt und lenken ihre volle Aufmerksamkeit auch eher darauf, als auf die Kamera und den Fotografen. Während das Buch seltsam fremd in ihren Händen wirkt und die jungen Männer auch nicht darin zu lesen scheinen, sondern vielmehr die Abbildungen darin betrachten, interagieren jene, die ein Stofftier halten, intensiv mit diesem, sehen es an, spielen damit oder drücken es beherzt an ihre Brust, ohne jedoch in die Kamera zu schauen. Dass sie sich beim Lesen weniger auf das geschriebene Wort als auf die Bilder konzentrieren müssen, legen die Titel der Bücher nahe, denn es handelt sich um illustrative Werke wie »Die Häschenschule« von Fritz Koch-Gotha, ein Wimmelbuch namens »Benjamins Buch«, oder Bilderbücher zur Schöpfungsgeschichte. 120 Mit der Beigabe dieser Requisiten wird auf das oben bereits angesprochene Problem aufmerksam gemacht: Sich mit dem Umstand konfrontiert sehend, dass eine Abweichung einer zwar körperlichen, aber 118 Die Aufnahmen sind, so legt es ein Vergleich mit anderen Innenaufnahmen aus dem Josefshaus nahe, im Aufenthaltsraum des Hauses entstanden; um eine Ateliersituation herzustellen, wurden die Möbel von den Wänden auf die Seite gerückt, wie am Rande von Abb. 31 deutlich zu sehen ist. 119 Vgl. Grebe 2013a, S. 242. 120 Die Titel der Bücher scheinen nicht ganz zufällig ausgewählt worden zu sein; so verweisen sie zwar als pädagogisch-didaktisches Material auf die Bildungsfähigkeit der jungen Männer, rufen aber zugleich das Gegenteil dieser Aussage hervor, nämlich dass diese trotz ihres Alters noch Bücher für Kinder lesen (müssen). Die Ordensschwestern hingegen lesen auf ihren Einzelporträts die Bibel.

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Abbildung 25: Porträtaufnahme eines Bewohners mit Puppe

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

Abbildung 26: Porträtaufnahme eines Bewohners mit Buch

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

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Abbildung 27: Porträtaufnahme eines Bewohners mit Stofftier

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

nicht zwingend körperlich manifestierten Normalität in die sorgfältig geplante Nachahmung der Atelierfotografie eingeschlossen werden soll, musste der Fotograf auf Zeichen zurückgreifen, die auf diese Abweichung unmissverständlich hinweisen. Diese Zeichen wiederum, konnotiert mit ›Kindheit‹ und ›Verspieltheit‹, in den Händen von Jugendlichen und jungen, zumal männlichen Erwachsenen, eröffnen so einen Deutungsraum, der die zu jener Zeit geistig behinderten Menschen sozio-politisch zugewiesene Bildungsunfähigkeit veranschaulicht, damit das Individuum auf seine ›niedliche Harmlosigkeit‹, seine ›Hilflosigkeit‹ und seine ›Schutzbedürftigkeit‹ reduziert und so zur medialen Sichtbarmachung einer an sich unsichtbaren und zumal zugeschriebenen Eigenschaft führt. Was dadurch in den Hintergrund tritt, ist die Nobilitierung der Porträtierten allein durch die ihnen verliehene Bildwürdigkeit durch den Fotografen und das (wenngleich improvisierte) Atelierdispositiv, das aufgrund der Rahmung und der Perspektive nichts anderes als sie selbst in den Blick nimmt, und so aufgrund der innerbildlichen Referenzlosigkeit den besonderen Anlass des Fotografierens verschleiert. Dementsprechend findet die Verschiebung von einer durch das Setting und die formale Insbildsetzung stabilisierter Normalität in eine irritierende Nicht-Normalität statt, die beispielsweise in einer anderen Aufnahme noch intensiviert wird, indem eine weitere Person abgebildet wird, zum Beispiel eine Ordensschwester oder eine Pflegerin. Diente in der medizinischen Fotografie des

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Abbildung 28: Porträtaufnahme einer Ordensschwester mit Buch

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

19. sowie des beginnenden 20. Jahrhunderts die Sichtbarmachung von Pflegepersonal oder Ärzten oder auch nur von deren zeigenden Händen im Bild mit einer kranken oder behinderten Person zum einen als Gestus der Legitimierung einer Aufnahme und deren Authentifizierung, zum anderen aber auch als Zeichen der sozialen Autorität oder Überlegenheit über diese Person, gesetzt dem Falle, dass ein Blickkontakt zwischen der autoritären Figur und der Kamera stattfindet. 121 Die gegenteilige Konstellation unter Vermeidung des Blickkontakts zeitigt dagegen realistische Effekte, die den Betrachter aus dem Bild insofern ausschließen, als er eine nahezu voyeuristische Position außerhalb des Bildes einnehmen und so ungehindert seinen Blick schweifen lassen kann. 122

121 Vgl. Löffler, Petra: Fabrikation der Affekte. Fotografien von Leidenschaft zwischen Wissenschaft und Ästhetik. In: Sykora, Katharina/Derenthal, Ludger/Ruelfs, Esther (Hrsg.): Fotografische Leidenschaften. Marburg: Jonas-Verlag 2006, S. 41-56, hier S. 44. 122 Sind unter dem Fokus der medizinischen Fotografie diese Strategien als größtenteils intentional platzierte Leseanweisungen für den Betrachter des Bildes zu verstehen, so muss dies nicht für die Liebenauer in diesem Maße zutreffen, aber an den Punkt der fotografischen Eigenlogik und den theoretischen Überlegungen Silvermans zum »Vorgesehenen« rührend, eröffnet das Betrachten dieser Bilder einen Deutungshori-

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Abbildung 29: Porträtaufnahme einer Ordensschwester mit zwei Bewohnern

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

In den zahlreichen Porträts des unbekannten Liebenauer Fotografen lassen sich beide Strategien finden und unter dem Gesichtspunkt der Politiken der medizinischen Fotografie gemeinsam verhandeln. Während in den meisten Aufnahmen, die im Garten der Einrichtung und unter weniger strengen formalen Anweisungen entstanden zu sein scheinen, der Blickkontakt zwischen der Gruppenpflegerin und dem Fotografen durch ein freundliches Lächeln hergestellt wird, zeichnen sich die beschriebenen Innenaufnahmen dadurch aus, dass jeglicher Blickkontakt zwischen den Ordensschwestern bzw. der Pflegerin und der Kamera vermieden wird. Auf vier Aufnahmen sind neben den Pfleglingen auch Schwestern zu sehen, zwei Porträts zeigen nur jeweils eine Ordensfrau, die ebenso angestrengt wie die jungen Männer in einem Buch liest (Abb. 28). Dort, wo sie in Kontakt mit den Bewohnern des Josefshauses abgebildet wurden, stehen sie auch in Interaktion mit ihnen, indem sie entweder mit einem Plüschtier spielen und damit die Bewohner zum Lachen bringen (oder ebenso einen skeptischen Blick evozieren) oder ihnen beim ›Lesen‹ des Bilderbuches helfen (Abb. 29). Gerade letzteres Beispiel zeugt deutlich von einer durch Blickvermeidung nach außen hin abgeschirmten Szenerie, die nur durch das Ablichten durch den Fotografen sichtbar gemacht werden soll. So zeigt eine Schwester, die neben einem in

zont, der das Feld der Intentionalität des Fotografen übersteigt und so eine Assoziation mit dem gestischen Repertoire der medizinischen Fotografie ermöglicht.

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Abbildung 30: Porträtaufnahme einer Ordensschwester, einem Bewohner beim Lesen helfend

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

Jackett und Fliege gekleideten jungen Mann steht und die über ihrem Habit ein graues Arbeitskleid trägt, von der Seite mit ihrer Hand in das Bilderbuch, das der Junge in seinen Händen hält und scheint mit ihm währenddessen zu sprechen bzw. ihren Fingerzeig verbal zu beschreiben (Abb. 30). Die dadurch entstehende in sich abgeschlossene Szene bedeutet dem Betrachter gleichsam eine sozialhierarchische Konstellation, die sich darin ausdrückt: Die Person, die auf das Buch zeigt, steht nicht nur aufgrund ihres Schleiers für eine besondere (geistliche) Autorität, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass sie dem jungen Mann etwas zu erklären scheint und damit ihren Wissensvorsprung und zugleich sein Defizit oder seine Devianz hervortreten lässt. Zugleich aber weist der erzieherische Gestus des Zeigens und Erklärens, der auch aus Schulfotografien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt ist 123, auf das Potenzial der Erziehung und Bildung hin, welches sich durch die angemessene pädagogische Methode entfalten

123 Vgl. Stille, Eva: »Zum Andenken an meine Schulzeit«. Deutsche und österreichische Schulfotos bis 1935. In: Fotogeschichte 3 (8) 1983, S. 29-40.

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kann und das Kind bzw. den geistig behinderten jungen Mann in das Feld des Wissens und somit der Normalität überführen kann. 124 Dieser bildliche Ausdruck des Beschützens und Erziehens 125 zeigt sich letztlich in einer der Außenaufnahmen im Speziellen, in der die (weltliche) Pflegerin neben einem Jungen steht, der seinen Blick verunsichert von der Kamera abwendet, während sie freundlich in die Kamera schaut und ihn dabei sanft am Arm festzuhalten scheint, vermutlich, damit er im Bild bleibt und sich der Aufnahme nicht entzieht (Abb. 31). 126 Zugleich aber entsteht dadurch der Eindruck, dass der Junge nicht freiwillig vor den Sucher getreten ist. In diesem Zusammenhang von tatsächlich am Patienten ausgeführter und intentionaler körperlicher Gewalt auszugehen erscheint dabei zunächst nicht sinnvoll. Susanne Regeners These folgend, dass sich Gewalt aber auch durch die (körperlichen) Praktiken der Insbildsetzung, der Medialisierung und durch die Institutionalisierung von Fotografie im Rahmen des Anstaltslebens vollzieht, ist jedoch somit allein schon das Arrangement der jungen Männer in festlicher Kleidung und der vermutlich nicht selbstständig gewählten Ausstattung mit einem Requisit gegeben. 127 »Visuelle Gewalt«, die Regener als »Bildwerdung des Patienten als inferiorer Mensch« 128 versteht und somit auch unter dem Thema der Infantilisierung zu fassen wäre, scheint sich hier also auf mehreren Ebenen zu ereignen: Erstens deutet der Umfang der Aufnahmen des unbekannten Fotografen darauf hin, dass, 124 An dieser Stelle greift der Ansatz des medizinischen Modells: Passt sich der Mensch mit Behinderung durch verschiedene Strategien der Selbstführung als auch durch die Inanspruchnahme von therapeutischen (hier pädagogischen) Maßnahmen an das an, was ihm als ›normal‹ präsentiert wird, so kann er seine Behinderung ›überwinden‹ und so vermeintlicherweise Teil der ›Normalgesellschaft‹ werden. Vgl. Waldschmidt 2005, S. 17. 125 Anja Tervooren erkennt ähnliche Strategien in einer Benetton-Kampagne von 1998, in welcher Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung als Models die neueste Kollektion des italienischen Modehauses vorführten. Das Setting, in welchem die Kinder stets in Anwesenheit von (nicht behinderten) Erwachsenen dargestellt werden, erlaube es so nicht, diese außerhalb einer »pädagogischen Beziehung« zu denken, so Tervooren. Vgl. Tervooren, Anja: Von Sonnenblumen und Kneipengängern. Repräsentationen von geistiger Behinderung in Bild und Performance. In: Forum Kritische Psychologie (44) 2002, S. 14-21, hier S. 15f. 126 Es existiert innerhalb dieser Serie noch weitere Aufnahmen, auf denen die Pflegerin in Interaktion mit einem jungen Bewohner des Josefshauses zu sehen ist und auf denen sie diese ebenfalls sanft am Arm festhält, jedoch nicht in die Kamera blickt. 127 Vgl. Regener 2006, S. 22f. 128 Ebd., S. 23.

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Abbildung 31: Außenaufnahme einer Pflegerin mit Bewohner

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

obwohl der genaue Anlass des Fotografierens nicht klar ist, alle Gruppenbewohner an der ›Fotosession‹ teilzunehmen hatten, da sie Teil einer auf Regeln und festen Grenzen basierenden »totalen Institution« 129 sind und sich so auch nicht dem Kleidungszwang entziehen konnten. Des Weiteren kann auch die Wahl der kindlich konnotierten Requisiten weniger als Akt der Selbstdarstellung im fotografischen Porträt gewertet werden, sondern vielmehr als Zuweisung und Zuteilung durch den Fotografen bzw. die Mitarbeiter_innen des Josefshauses. Zweitens zeugt die Anwesenheit des Personals in einem Teil der Bilder von einem bereits genannten Ausdruck von Beziehungsgefüge, das durch eine Insbildsetzung hierarchischer Positionen zwischen pflegenden und zu pflegenden Menschen auch visuell unterscheidet und so die in diesem Verhältnis angelegte Inferiorität des Pfleglings und die Superiorität des Pflegepersonals erneut (re-)produziert. Drittens gibt die Aufnahmegröße und der Aufnahmewinkel für den Betrachter wiederum den Weg frei für einen intensiven Blick, der nahezu voyeuristisch auf dem abgebildeten Körper wandern kann, und stellt den vor einem kontrastreichen weißen Hintergrund präsentierten Menschen in einer Situation dar, der er sich nicht verweigern kann, da ihn der Rahmen einspannt und ihn für das Starren

129 Goffman 2008, S. 11.

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des Betrachters festhält. Der vermiedene Augenkontakt als Bildstrategie verweist wie bereits erwähnt auch auf die Erzeugung einer realistischen Situation und legitimiert so den voyeuristischen Blick des Betrachters, der ungestört den fotografisch festgehaltenen Körper begutachten kann. Überdies wurden die meisten Bilder dieser Serie in leichter Untersicht fotografiert, das heißt, dass durch den Aufnahmewinkel der Eindruck entsteht, man würde von schräg unten nach oben auf das fotografierte Subjekt sehen. Während dies oft als hierarchische Struktur zu Ungunsten des Betrachters klassifiziert wird, im Sinne eines Auf-Sehens zum fotografischen Referenten und als Gegenteil zur Aufsicht auf eine Person herab, so lässt sich dies in Verbindung mit der nahezu schattenwurffreien, frontalen Ausleuchtung des Subjektes als ein neugieriger, sich an das fotografierte Subjekt ›heranschleichender‹ Betrachterblick bewerten, der durch diesen Blickwinkel den abgebildeten Körper in seiner vollständigen Größe abtasten kann. 130 Der fotografische Referent kann sich in dieser mehrfachen Unfreiwilligkeit nicht wehren und ebenso wenig die Entscheidung treffen, zurück zu starren und damit dem potentiellen bzw. antizipierten Betrachter auf Augenhöhe zu begegnen. 131 Aus diesen vielfältigen Anleihen an verschiedene fotografische Genres ergibt sich der Eindruck von einer bestimmten ›Hybridität‹ der Aufnahmen: Die ganzfigurigen Porträts referieren zum einen auf die Konventionen der Atelierfotografie mit ihren klaren technischen und kulturellen Anordnungen – neutraler Hintergrund, schicke Kleidung, Pose – jedoch beziehen sie sich zugleich auf die kulturelle Praxis der medizinisch-psychiatrischen Fotografie, die aber auch wiederum auf die Atelierfotografie zurückverweist. Insofern handelt es sich so um eine Verschränkung von psychiatrischen und bürgerlich-kanonischen und damit konventionalisierten Insbildsetzungen. Die Bilder bewegen sich zwischen den Bedingungen der Atelierfotografie und jenen der psychiatrischen Fotografie und erzeugen so im selben Zuge wie sie auf Vorbilder referieren auch Irritationen im Umgang mit ihnen, indem sie die Frage nach dem, was visuell als ›normal‹ empfunden wird und wo die Grenze zum ›Nicht-Normalen‹ verläuft, aufwerfen und zugleich hinterfragen. So ist es gerade die der bürgerlichen Atelierfotografie in130 Vgl. Grebe 2013a, S. 242. 131 Rosemarie Garland-Thomson argumentiert, dass eine Person, die angestarrt wird, durch das Zurückstarren, das »staring back«, die Macht über die eigene Repräsentation zurückgewinnen kann: »Intense eye-to-eye engagement with the viewer can make a subject seem to reach out of the picture to stare down the viewer.« GarlandThomson 2009, S. 84f. Vgl. auch Dies.: Staring Back. Self-Representations of Disabled Performance Artists. In: American Quarterly 52 (2) 2000, S. 334-338, online verfügbar unter http://muse.jhu.edu/journals/american_quarterly/v052/52.2thomson. html (letzter Zugriff am 08.05.2016).

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härente Inszenierung einer ›heilen Welt‹, die das alles in Frage stellende Negativ hervorbringt. Das ›Normale‹ erscheint nur als eine bewegliche und zugleich temporär stabilisierte Konstruktion, welche sich in das Sehen eingeschrieben hat und zwar so, dass etwas Abweichendes als etwas Fremdes wahrgenommen wird. Günter Liehr bemerkt zu dieser Verbindung: »Die Identifizierungsporträts [und somit auch medizinisch-psychiatrische Porträts, A.G.] waren stets die heimlichen Begleiter der gängigen Porträtfotografie. Beide zusammen bezeichnen den gesellschaftlichen Zustand der Individualität. Was die einen in Szene setzen, führen die anderen höhnisch ad absurdum.« 132 4.3.5 Blickregime statt Bildrhetorik? Die Porträts aus dem Liebenauer Josefshaus oszillieren somit zusammenfassend zwischen visuellen Strategien der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung, der Normalisierung und der Denormalisierung von Behinderung. Wird durch die Inszenierung nach der Art (bürgerlicher) Porträtfotografie die abgebildete Person im Sinne einer »Normalitätsaussage« nobilitiert, so wird sie im selben Zuge durch den Aufnahmewinkel, durch die Beigabe von Requisiten und durch die Anwesenheit von Pflegepersonal denormalisiert und die Abweichung von der Norm als »Anormalitätsaussage« sichtbar gemacht. 133 Auf der Grundlage dieser Dynamik kann nun auch diskutiert werden, inwiefern sich die genannten fotografischen Praktiken an die beispielsweise von Garland-Thomson vorgenommenen Bildrhetoriken und dadurch auch an die Modellbildung der Disability Studies anschließen lassen bzw. ob eine Betrachtung unter diesen Voraussetzungen nicht vielmehr die vielfältigen Wechselbeziehungen und Dynamiken zwischen Normalität und Nicht-Normalität verkennt. Fasst man die Liebenauer Porträts aufgrund der Umstände und der Zeit ihrer Entstehung als visuelle Zeugnisse eines medizinischen Modells von Behinderung auf, so würde dies mit der im Zuge der Beschreibung der Eigenschaften medizinischer Fotografie im Sinne des medizinischen Modells von Behinderung getroffenen Aussage korrespondieren, dass diese das Individuum nicht als Subjekt anrufe, sondern es zugunsten seiner Verobjektivierung unsichtbar werden

132 Liehr, Günter: Menschenbilder – Bildermenschen. In: Honnef, Klaus/Thorn-Prikker, Jan (Hrsg.): Lichtbildnisse. Das Porträt in der Fotografie. Köln: Rheinland-Verlag 1982, S. 534-545, hier S. 543. 133 Vgl. Regener 2006, S. 132.

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ließe. 134 Der porträtierte Mensch, dem nicht die Gelegenheit gegeben wird, sich dem Kameraobjektiv so zu präsentieren, wie er sich selbst sieht und wie er wahrgenommen werden möchte, würde so zum Objekt, zum »Museumsgegenstand« 135, werden, der ihn in seiner Individualität nur insofern anerkennt, als dass er ihn lediglich als Abweichung von der Normalität validiert, aber ihn nicht als Subjekt sichtbar werden lässt. Zugleich würde dies aber im Umkehrschluss auch bedeuten, dass im Modus des sozialen Modells gedachte und gemachte Bilder das Subjekt sichtbar machen bzw. dessen Individualität innerhalb eines Normalfeldes verorten. Rosemarie Garland-Thomson folgend träfen so in den Liebenauer Porträts der »rührselige« und der »realistische« rhetorische Modus aufeinander, indem einerseits die fotografischen Referenten infantilisiert werden, jedoch vor dem Hintergrund ihrer sich durch die Präsentationsform des Porträts zeigenden Bildwürdigkeit normalisiert werden würden. 136 Der Mensch mit Behinderung träte Garland-Thomson zufolge dem Betrachter auf Augenhöhe gegenüber, könne aber zugleich auch von diesem mitleidig besehen werden und so wiederum in eine visuelle Hierarchie eingegliedert werden, die ihn als das Deviante markiert. Abgesehen davon, dass der Kritikpunkt an dieser Lesart jener ist, dass das ›Dazwischen‹ des fotografischen Mediums hier notwendigerweise vernachlässigt werden müsste, konfligieren diese Einschätzungen auch mit dem, was Gunnar Schmidt für die medizinische Fotografie nach 1890 konstatiert, als nämlich die aufwändige Requisite und die Einbettung kranker und behinderter Menschen in ein bürgerliches Ateliersetting zugunsten einer neutralen Inszenierung und einer »Unkenntlichmachung des Patienten« verschwand. So brachten sie gleichsam ein Unsichtbarwerden des Subjektes hervor, während im Umkehrschluss dieser Logik das Subjekt aber zuvor sichtbar bzw. anwesend gewesen sein muss. 137 Ausschlaggebend für die Insbildsetzung und die damit verbundene Wertigkeit von Kleidung, Requisite etc. in der Frühzeit der medizinischen Fotografie sei Schmidt zufolge die Annahme gewesen, dass das fotografische Objekt »als einerseits biologisch-körperliches Sichtbarkeitsfaktum und andererseits als mit psycho-sozialen Zeichen versehenes Wesen« 138 präsentiert werden müsse. In diese Kategorie medizinischer Fotografie scheinen nun auch die Liebenauer Porträts zu fallen – jedoch möchte ich hier erneut wiederholt einer einfachen ›Zuweisung‹ von Bildern an fotografische Gattungen oder Kategorien wider134 Vgl. Kathan, Bernhard: Objekt, Objektiv und Abbildung: Medizin und Fotografie. In: Fotogeschichte 21 (80), 2002, S. 3-15. 135 Regener 2006, S. 152. 136 Vgl. Garland-Thomson 2001, S. 344. 137 Vgl. Schmidt 2001, S. 97. 138 Schmidt 2001, S. 97.

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sprechen, die eine solche Zuordnung zugleich hervorbringen würde. Der Zweck der medizinischen Fotografie mag zwar die strategische Sichtbarmachung und die zeitgleiche Unsichtbarmachung von Zeichen sein, jedoch müssen ihr dabei verschiedene Spielarten dieser Visualisierungsformen bescheinigt werden. So sind es nicht nur das Bild und die Insbildsetzung der jungen Männer allein, die die Behinderung produzieren, sondern es ist (wie auch in allen anderen Fällen) das kulturelle Sehen, das das Verhältnis von Normalität und Nicht-Normalität als Abweichung aushandelt – und somit gleichsam als ein visuelles Regime von Behinderung verstanden werden kann. Die Aufnahmen aus dem Josefshaus erweisen sich, wie die zuvor analysierten Aufnahmen auch, durchaus als sperrig gegenüber der Zuweisung eines heuristischen Modellansatzes seitens der Disability Studies oder einer Kategorisierung des Blickes. Vielmehr machen sie auf die Koexistenz verschiedener Sichtweisen auf Behinderung und Normalität innerhalb ein und desselben Rahmens aufmerksam, die nur deshalb möglich ist, weil die Fotografie in ihrer chemisch-physikalischen Verfasstheit für einen Sekundenbruchteil ein rein indexikalisches Zeichen produziert, und so etwas zu arretieren vermag, das in seiner diskursiven Dynamik vor und nach der Öffnung der Blende nicht antizipiert werden kann. Deswegen bringen die »Ordnungen der Sichtbarkeit« 139 des fotografischen Produktes zugleich Unsichtbarkeiten hervor, die jegliches Ansinnen des Fotografen oder des posierenden Modells unterlaufen oder außer Kraft setzen können und an der Konstruktion von Wahrheit(en) über Behinderung ebenso beteiligt sind wie das, was auf dem Bild als materielle Entität sichtbar zu sein scheint. Die Subjektivierungsmaschine Fotografie, die den Referenten wie auch den Betrachter formt, konfiguriert aufgrund ihrer soziotechnischen Verfasstheit hier eine Lesart von Behinderung, die zum einen aufgrund ihrer diskursiven Verweise einen Stereotyp wiederholt und anhand von fotografischen Strategien der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung dadurch eine Form von Minorisierung (re-)produziert. Diese visuelle Produktion einer ausgeschlossenen und als deviant markierten Minderheit entspräche der Zuweisung der Vertreter_innen des sozialen Modells von Behinderung an ein individualistisches oder medizinisches Modell von Behinderung und vollzieht sich wie bereits aufgezeigt beispielsweise an der Beigabe von als kindlich konnotierten Gegenständen. Zum anderen und zugleich aber werden die jungen Männer anhand des normalisierenden Gestus des Dispositivs in die Logik des sozialen Modells eingebunden, die sie so darstellt ›wie alle anderen‹ auch – und dadurch die Forderungen nach einer inklusiven Gesellschaft, die sich auch im visuellen Feld so veräußert, nachzukommen scheint. Das Blickregime impliziert 139 Geimer, Peter: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010a, S. 7-25, hier S. 7.

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diese Wechselbeziehungen in Form eines dynamischen Hervortretens einzelner Sichtweisen und des Zurücktretens anderer Sichtweisen auf Behinderung und relativiert deren Status als vermeintliche essentialistische Gegebenheit zugunsten einer so sichtbar werdenden gegenseitigen Verfasstheit des Bildes als Ereignis und der Behinderung als stets im Werden begriffene und deskriptive Kategorie – und schreibt sich in das von Anne Waldschmidt vorgeschlagene kulturelle Modell von Behinderung ein. 140

4.4 F OTOGRAFIE ZWISCHEN I NSTITUTION Ö FFENTLICHKEIT AB 1970

UND

Die sich in Westdeutschland im Zuge der Studentenproteste mit dem Höhepunkt im Jahre 1968 langsam und noch äußerst dezentral formierende Behindertenbewegung führte in den 1970ern zunächst unabhängig von den ersten Theoretisierungsversuchen der Aktivist_innen in Großbritannien und den USA zu einer Politisierung des Themas ›Behinderung‹, wenngleich Swantje Köbsell betont, dass auch zum Ende des Jahrzehnts durchaus noch nicht von einer heterogenen Bewegung zu sprechen sei. 141 Erst mit dem umstrittenen »Frankfurter Urteil« von 1980 und dem Ausruf des »UN-Jahres der Behinderten 1981« erfuhr die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen und Ursachen von Behinderung auch durch die lautstarken Proteste der »Krüppelbewegung« eine Form von Aufmerksamkeit, die schließlich den Weg für die Emanzipation und Selbstbestimmung behinderter Menschen zu ebnen schien. 142 Am Rande dieses Diskurses scheint

140 Vgl. Waldschmidt 2005, S. 9-31. 141 Vgl. Köbsell 2006, ohne Paginierung. 142 Das »Jahr der Behinderten 1981« wurde von Beginn an von Seiten der Behindertenbewegung nicht nur kritisch hinterfragt, sondern auch in Form von Protesten und politischen Aktionen kritisch begleitet. Die Kritik richtete sich hauptsächlich dagegen, dass die Gestaltung des Aktionsjahres ohne die Teilhabe der Betroffenen selbst stattfand sowie eine medizinische Deutungsform von Behinderung und der darauf folgenden politischen Konsequenz, Rehabilitation und Sondereinrichtungen zu fördern, dominierte. Ernst Klee nennt deshalb in einem Artikel in der ZEIT vom 30.01.1981 das »Jahr der Behinderten« ein »Jahr der Behinderer« und bezieht sich dabei die »Behindertenopposition«. (http://www.zeit.de/1981/06/jahr-der-behinderer, letzter Zugriff am 08.05.2016). Nur ein halbes Jahr vor der feierlichen Eröffnung des UNJahres hatte ein Gerichtsurteil des Landgerichts Frankfurt für große Aufregung (und dies nicht nur unter den Aktivist_innen) gesorgt, welches einer Frau Schadensersatz-

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sich zumindest noch in den 1960er Jahren die institutionelle Versorgung von Menschen mit einer geistigen Behinderung zu bewegen, die zwar von der bereits erwähnten Elterninitiative der Lebenshilfe damals schon kritisch hinterfragt wurde, aber erst durch den ›Katalysator‹ der Psychiatriereform zum Ende der 1960er und Beginn der 1970er Jahre auch Auswirkungen auf das Anstaltswesen wie jenes in Liebenau zeitigte. 143 Wie schon in den Jahrzehnten zuvor ändert sich die Politik der Institution Liebenau mit einem Wechsel im Direktorium der Anstalt: Nach dem Tode Max Gutknechts übernimmt im Jahre 1968 der Theologe, Psychologe und Priester Norbert Huber den Posten des Vorstands und läutet auf allen Ebenen den Wandel der Liebenau in eine moderne Einrichtung der Wohlfahrtspflege ein und schärft so ihr Profil als Heimstatt für geistig behinderte und schwerstmehrfachbehinderte Menschen. 144 Neben der aufgrund des Rückgangs der in Liebenau beschäftigten Ordensschwestern notwendig gewordenen Neuorientierung in der Personalpolitik durch den Einstieg in geregelte Tarif- und Entlohnungsregelungen wurde auch der Aufbau neuer Verwaltungseinheiten und zahlreicher Ausbildungs- und Fortbildungsmaßnahmen für die eigenen Mitarbeiter_innen erforderlich. Überdies veranlasst Huber auch eine Entzerrung bzw. Auflösung der großen Schlaf- und Waschsäle, setzt die von seinem Vorgänger bereits eingeleiteten Maßnahmen zur Errichtung kleinerer Wohneinheiten fort und leitet in der Tradition von Direktor Wilhelm eine neue Ära der Bauaktivität in Liebenau ein. Als ein wichtiger und bis heute wesentlichen Schritt forciert er letztlich die Umbenennung (und damit auch die Veränderung der Rechtsträgerschaft) der als »Pfleg- und Bewahranstalt« gegründeten Einrichtung in »Stiftung Liebenau« im

leistungen zusprach, da sie während ihres Urlaubs den Anblick von Menschen mit Behinderung hätte ›ertragen‹ müssen. (http://www.zeit.de/1980/20/ein-unhaltbaresurteil/, letzter Zugriff am 08.05.2016). Was darauf folgte, war die erste Formation verschiedener Gruppen der sogenannten Behindertenbewegung zum gemeinsamen Protest gegen das Urteil in Frankfurt, das deswegen zwar nicht revidiert wurde, aber den Aktivist_innen den notwendigen Antrieb gab, sich auch gegen das »Jahr der Behinderten« zur Wehr zu setzen. Einen informativen Überblick bietet eine Zusammenfassung der Journalistin Rebecca Maskos in der Zeitschrift »mondkalb – Zeitschrift für das organisierte Gebrechen«: mondkalb-zeitung.de/von-der-fuersorgezur-selbstbestimmung/ (letzter Zugriff am 08.05.2016). 143 Michael Schnieber zitiert dazu den damaligen Direktor der Liebenau Norbert Huber: »Wir haben die Welle, die uns getragen hat, genutzt, um von den Bewahranstalten wegzukommen.« Schnieber 1995, S. 34. 144 Vgl. Schnieber 1995, S. 32.

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Jahre 1970. 145 So, wie sich nun die drei Teileinrichtungen in Liebenau, Hegenberg und Rosenharz neu sortieren, strukturieren und dabei ausdifferenzieren, so verändert und öffnet sich auch die sich im Archiv widerspiegelnde fotografische Praxis. Direktor Huber erklärt zu seinem Amtsantritt den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit als unabdingbaren Teil seiner Modernisierungsstrategie, was zur Folge hat, dass ab den 1970er Jahren mehr und öfter fotografiert wird und die Anzahl der Aufnahmen im Archiv alsbald stark ansteigt. 146 Mehr als ein oder zwei (Hobby-)Fotografen scheinen nun in Liebenau tätig zu sein, weshalb sich so zugleich auch die Ästhetik der Fotografien ausdifferenziert und viel deutlicher als bei den bereits analysierten Aufnahmen seit den 1920er Jahren ihre Zweckgerichtetheit und -gebundenheit in Form von Pressearbeit, Eigenmarketing und Fundraising in den Vordergrund tritt. 147 Der soeben nur kurz skizzierte neue Kurs der Liebenau lässt sich immer wieder in den behindertenpolitischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland einbetten und bringt dabei visuelle Erzeugnisse hervor, die einerseits als strategischer Ausdruck einer Bilderpolitik zu verstehen sind, mit Hilfe derer bestimmte Absichten verfolgt werden (Politik, die Bilder macht). Andererseits wirken diese Bilder auf die aktiven und passiven Entscheidungsträger dieser Sozialpolitik zurück und werden so selbst zu Akteuren jenes Netzwerkes, das diskursiv aushandelt, was als ›normal‹ und was als ›behindert‹ gilt (Bilder, die Politik machen). Wie bereits im ersten Kapitel eingehend analysiert, kommt dabei fotografischen Erzeugnissen insofern eine besondere Rolle zu, da sie unmissverständlich darauf hinzuweisen scheinen, dass sie aufgrund ihres ikonisch-indexikalischen Charakters ihren abgelichteten Referenten ›naturgetreu‹ wiedergeben und zugleich seine 145 Vgl. ebd., S. 31ff. 146 So taucht auch in den Archivunterlagen ab Mitte der 1970er Jahre in den Arbeitsfeldbeschreibungen der für das Archiv verantwortlichen Person der Topos »Fotoarchiv« auf, wird aber nicht weiter dokumentiert, sodass unklar bleibt, wie zu dieser Zeit mit der Menge an Aufnahmen verfahren wird. 147 Im Zuge der neuen Öffentlichkeitsarbeit in Liebenau werden ab den 1970er Jahren auch neue Veranstaltungsformen erprobt, um einerseits die Stiftung in der Gesellschaft und Umgebung zu präsentieren und Kontakte zwischen der Einrichtung und der Bevölkerung außerhalb der Einrichtung herzustellen, und andererseits um so auch Förderer und Freunde zu gewinnen. So findet bereits im Sommer 1969 zum ersten Mal ein »Tag der offenen Tür« mit einem Kinderfest statt und 1970 der erste große Liebenauer Weihnachtsmarkt. Beide Veranstaltungen werden jährlich fotografisch dokumentiert, sodass teilweise vier oder fünf Filme pro Ereignis ›verknipst‹ werden, wie die Menge der Aufnahmen und die Dokumentation der Negative es nahe legt.

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ontologische Existenz bezeugen – und so das Werden von Behinderung und das Werden des Bildes für den Betrachter materiell und epistemologisch zu arretieren vermögen. Dadurch werden die hier in den Fokus zu nehmenden Fotografien der späten 1970er und 1980er Jahre durch »häufige und emphatische Wiederholung bzw. Aufladung« 148 insbesondere rund um das »Jahr der Behinderten« 1981 mit Silverman gesprochen zu einer »dominanten Fiktion« und produzieren eine Wahrheit über ihren Referenten, die zu jenem Zeitpunkt selten minorisierte Sichtweisen neben sich zulässt. 149 Diese veräußert sich wenn dann nur in der privaten Knipserfotografie, vermag jedoch dem Ansinnen des seit den 1970ern sich theoretisch formierenden sozialen Modells von Behinderung nicht genügend Gewicht zu verleihen und verbleibt so hinter den majorisierten und medizinisierten Sichtweisen auf Behinderung zurück. Das sich daraus ergebende visuelle Regime, das die unterschiedlichen Sichtweisen auf Behinderung zugunsten eines essentialisierenden Sehens einzuebnen versucht, demonstriert so seine Macht über das, was gesehen werden darf und das, was nicht gesehen werden soll. Um diesen Entwicklungen nachzugehen und sie auch theoretisch zu kontextualisieren, habe ich die Aufnahmen aus dem Liebenauer Archiv ab den 1970ern zunächst in zwei vereinfachte Bereiche eingeteilt und werde mich in der Analyse vorwiegend dem ersten Bereich zuwenden. Ich unterscheide dabei zwischen professionell angefertigten Fotografien, die beispielsweise im Rahmen von Publikationen der neuen Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit oder in Zeitschriften und Zeitungen reproduziert wurden, und den ›privat‹ erscheinenden Knipserbildern, die u.a. intime Einblicke in das Leben der Liebenauer Bewohner_innen erlauben und zunächst vermutlich nicht für die Veröffentlichung bestimmt gewesen waren. Ihren Status als minorisierte Sichtweisen von Behinderung gilt es abschließend mit den vielfach »illuminierten« Bildern der Öffentlichkeitsarbeit abzugleichen und auf ihr Potenzial zu untersuchen, diese in ihrer hegemonialen Position herauszufordern. 4.4.1 Fotografieren im Zeichen von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Die Verwendung von Bildern für die Spendenakquise ist keineswegs eine Erfindung der Nachkriegszeit – und auch in Liebenau waren bereits im 19. Jahrhun-

148 Silverman 1996, S. 221; Schaffer 2008, S. 115. 149 Mit minorisierten Sichtweisen meine ich hier beispielsweise die Auffassung, Menschen mit Behinderung außerhalb des Pflege- und Hilfsparadigmas zu denken. vgl. Silverman 1992, S. 15-51.

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dert erste Ansätze einer heute als PR-Arbeit zu verstehenden Strategiesammlung zu erkennen. So ging schon in frühen Jahren der Liebenauer Anstalt ihr Gründer Adolf Aich auf Bettelzüge, bei welchen er sogenannte ›Bettelkarten‹ oder auch Sammelbilder mit sich führte. Eine dieser Sammelkarten von 1886, gedruckt zur Eröffnung der Anstalt, ist auf der Vorderseite mit einer Lithografie versehen, welche im Hintergrund das St. Gallushaus zeigt, während im Bildvordergrund als Ordensschwestern zu identifizierende Frauen mit Schleier mit männlichen Behinderten an Gehhilfen oder im Rollstuhl im Garten des Hauses spazieren gehen. Am unteren Bildrand titelt ein Spruchband, das über das Eingangstor zum Garten reicht: »Sct. Gallushaus. Pfleg=Anstalt für unheilbare, eckelhafte Kranke Ob.Schwabens. Tettnang« (Abb. 32). Dreht man die Karte um, so ist ein längerer Text zu lesen, der mit den Worten »Gebt um Gottes Willen ein Almosen zur Gründung einer Pfleg=Anstalt« und dem Versprechen endet, dass jene, die etwas spenden, Anteil am »geistigen Verdienst um diese unglücklichen Kranke[n]« hätten und in die Gebete der Schwestern und Pfleglinge eingeschlossen werden. Auch wenn hier keine Fotografien der Anstaltsinsassen gezeigt wurden, obwohl dies technisch durchaus schon möglich, aber unverhältnismäßig teuer gewesen wäre, so ist diese Karte als Instrument einer frühen Fundraising-Strategie zu verstehen, die einerseits anhand der Lithografie dem Betrachter und potentiellen Spender visuell präsentiert, für welchen Zweck er sich engagieren könnte und ihm andererseits durch den Text auf der Rückseite eine immaterielle Belohnung verspricht, die für gläubige Katholiken im Hinblick auf das Jüngste Gericht durchaus erstrebenswert gewesen war. Für die Zeit bis in die 1960er Jahre sind zwar keine weiteren Betteloder Sammelkarten mehr erhalten, jedoch Postkarten mit Aufnahmen von Gebäuden und vor allen Dingen Ansichten aus der Luft auf die »Heil- und Pflegeanstalt«, welche ebenfalls als Mittel zur externen Kommunikation und frühen ›Werbung‹ oder ›PR‹ betrachtet werden können. 150 Für die Ausbildung einer gezielten Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in Liebenau, verstanden als Organisation einer strategischen Kommunikation mit internen und externen Gruppen, waren dann im Zuge der Neuausrichtung der Stiftung zu Beginn der 1970er Jahre verschiedene Gründe ausschlaggebend, die einerseits mit der Stiftungspolitik eng verknüpft sind, zum anderen aber auch von außerhalb der (nunmehr geöffneten)

150 Diese Luft- oder Architekturbilder sind gleichsam als Praktiken der Unsichtbarmachung von Behinderung zu verstehen, da sie den Blick nicht auf den Menschen richten, der in den abgebildeten Gebäuden lebt, sondern auf das, was sie auch gesellschaftlich unsichtbar macht, nämlich sie von der städtischen oder dörflichen Gemeinschaft abschirmende Einrichtungen.

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Abbildung 32: Bettelkarte aus Liebenau

Quelle: Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1888

Anstaltsmauern motiviert waren. Im Folgenden werde ich deshalb skizzieren, zwischen welchen behinderungspolitischen Diskursen sich ein großer Teil der Aufnahmen nach 1968 ansiedeln lässt und inwiefern diese als Ausdruck bzw. Ausgangspunkt einer (bild-)politischen Strategie verstanden werden können. Nur wenige Jahre nachdem die im vorangegangenen Kapitel vorgestellten Bilder aus dem Josefshaus entstanden sind, wurde in der Bundesrepublik u.a. als Reaktion auf den Contergan-Skandal im Jahre 1964 die »Aktion Sorgenkind« gegründet, deren Präsenz in den Massenmedien auch das Bild von Menschen mit Behinderung nachhaltig verändern sollte. 151 Der Schock und die große Betrof151 Vgl. dazu Lingelbach, Gabriele: Konstruktionen von »Behinderung« in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964. In: Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2010, S. 127-150. Etwa zur selben Zeit wie das Bekanntwerden des Contergan-Skandals wurde auch der Verhütung von Polio-Erkrankungen in der BRD viel Aufmerksamkeit geschenkt, zum Beispiel durch entsprechende Impfkampagnen ab 1962. Zuvor waren zwar eine hohe Anzahl an Kindern an Polio erkrankt und erlitten dadurch teilweise schwere Behinderungen, jedoch waren sie weniger medial präsent als jene Kinder, die aufgrund der Einnahme von Thaliodomid-haltigen Tabletten seitens ih-

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fenheit als Reaktion auf die Geburt tausender Kinder mit durch das Schlafmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thaliodomid verursachten körperlichen Deformationen, fehlenden Organen und fehlenden oder verkürzten Gliedmaßen, verschaffte nach Jahren der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit dem Thema der zivilen (Körper-)Behinderung (komplementär gedacht zur Kriegsversehrung) eine große mediale Aufmerksamkeit, die aufgrund der Verbreitung des Fernsehens nun bis in die Wohnzimmer der Bevölkerung transportiert wurde. Der Entschluss der Verantwortlichen des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF), mit einer Fernsehlotterie Spenden und Fördermittel für Menschen mit Behinderung zu generieren, erschien so nur angemessen, die Fernsehzuschauer_innen in ihrem hedonistischen Streben nach Wohlstand durch die Chance auf einen Gewinn zu einer Spende bzw. zu einem Loskauf zu motivieren, die ihnen gleichzeitig das Gefühl gab, etwas Gutes getan zu haben. Werbung für das Anliegen der »Aktion Sorgenkind« und die damit verbundene Lotterie wurde im Rahmen von Fernsehshows gemacht, die ab dem Gründungsjahr 1964 im ZDF ausgestrahlt wurden und ein Millionenpublikum erreichten, jedoch auf die Anwesenheit bzw. die Ausstrahlung von Menschen mit Behinderung innerhalb des Sendungsformates verzichteten, da »[d]em Unterhaltungscharakter […] eine Darstellung von Behinderung abträglich gewesen« wäre. 152 Nichtsdestotrotz erreichten über die Öffentlichkeitsarbeit der Aktion Sorgenkind Bilder von Menschen mit Behinderung eine große Verbreitung, beispielsweise in Form von Abbildungen in Aufklärungsbroschüren. Diese zeigen in erster Linie behinderte Kinder und keine Erwachsenen, weshalb Gabriele Lingelbachs Analysen folgend die Darstellungen »für damalige Verhältnisse weder elendspornografisch noch sensationsheischend« 153 gewesen seien, obwohl damit sicherlich Stereotype reproduziert worden seien, die sich jedoch abseits von Hilflosigkeits- und Mitleidsrhetoriken bewegten (Abb. 33). Der Erfolg der Aktion und der Fernsehlotterie und die Förderung zahlreicher Projekte und Einrichtungen auch außerhalb des Contergandiskurses zeitigten so auch Effekte im Bereich des kirchlichen oder privaten Wohlfahrtswesens, die zwar durchaus von den Zuwendungen der Aktion profitierten, zugleich aber dazu aufgefordert waren, selbst Spenden und Fördermittel einzuwerben und dafür eigene Öffentlichkeitsmaßnahmen zu entwickeln. Für Norbert Huber, seit 1968 Direktor der Liebenauer Anstalt, schienen die PR-Strategien der Aktion Sorgenkind und ihr damit einhergehendes Ziel der Aufklärung und

rer Mütter während der Schwangerschaft behindert zur Welt kamen. Vgl. Köbsell 2006, ohne Paginierung. 152 Ebd., S. 133. 153 Ebd., S. 131.

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Abbildung 33: »Foto eines contergangeschädigten Jungen aus der Broschüre Sorgenkinder unter uns« der Aktion Sorgenkind

Quelle: Aktion Mensch, entnommen aus Lingelbach, Gabriele: Konstruktionen von »Behinderung« in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964. In: Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hrsg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2010, S. 127-150, hier S. 131, 1966

Information, aber auch das Erstarken von Initiativen wie der Lebenshilfe, gut zu seinen Konzepten der Umstrukturierung und der Öffnung der Einrichtung zu passen, die mit einem entscheidenden finanziellen Mehraufkommen einher gehen sollten. 154 Von Mitte der 1970er Jahre bis in die 1990er Jahre dominieren so im Archiv jene fotografischen Aufnahmen von Menschen mit Behinderung, die zum Zwecke einer Kommunikation mit Akteuren aus Politik, Kirche und Gesellschaft angefertigt worden sind und ein Bild von Behinderung zu vermitteln versuchen, das zum einen die Normalität des Stiftungsalltags widerspiegeln soll, zum anderen aber auch darauf referiert, dass diese Normalität in der NichtNormalität nur durch finanzielle wie auch ideelle Hilfen dieser Akteure möglich ist. Gleichsam wird jedoch auch an diesen Fotografien wieder deutlich, wie durch die mediale Eigenlogik sich im Zwischenraum zwischen Bild und Betrachter andere Lesarten ergeben, die sich den Intentionen einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit zu widersetzen scheinen.

154 Vgl. Schnieber 1995, S. 34.

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Abbildung 34: Mädchen spielt am Tisch

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1973

In diesem Sinne ist auch eine kleine Fotoserie aus dem Jahre 1973 innerhalb dieser Doppelstrategie zu verstehen: Kinder sitzen in einem Klassenzimmer der Liebenauer Sonderschule und werden beim Spielen, Werken und Lernen porträtiert. Sie lachen und scheinen sich an ihrem Tun zu erfreuen, blicken aber nicht direkt in die Kamera, die so folglich eine beobachtende Position einnimmt. Ein Mädchen mit einer Beinschiene wird im seitlichen Ganzkörperprofil gezeigt, wie sie lächelnd an einem Tisch sitzt und mit Leichtigkeit Klötze aufeinanderstapelt (Abb. 34), ein anderes Mädchen baut auf dem Boden kniend Bauklötze zu einem Gebäude zusammen und lässt sich dabei vom Fotografen nicht stören (Abb. 35). Irritierend erscheint in beiden und den weiteren Bildern der Serie zunächst nur, dass diese Tätigkeiten für kleinere Kinder gedacht sind, die Jungen und Mädchen aber sicherlich über zehn Jahre alt sind. Hier wird im Anschluss an den Diskurs um die Bildungsfähigkeit behinderter Kinder aufgezeigt, dass diese ›im Rahmen ihrer Möglichkeiten‹, also dem Rahmen der Sondererziehung, in der Lage sind, sich durch geeignete Maßnahmen und fernab jeglicher rein disziplinierender Pädagogik spielerisch-motorisch zu bilden. Ein anderes Bildbeispiel, das den Eindruck gelungener Betreuung und Pflege erweckt, ist vermutlich in den frühen 1980er Jahren entstanden und zeigt in einer quadratischen Aufnahme

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Abbildung 35: Mädchen spielt am Boden mit Bauklötzen

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1973

links ein Kind im Rollstuhl sitzend, das einen Sonnenhut trägt, den Kopf schräg legt und lächelt, während die neben ihm kniende oder sitzende Erzieherin auf ein Tamburin schlägt (Abb. 36). Die Sonne erhellt die Szene, die Farben sind bunt und das Lächeln des Kindes eröffnet dem Betrachter einen Blick auf eine harmonische Szene zwischen einem Menschen mit Behinderung und seiner Pflegerin/Erzieherin. So wie die Aufnahmen aus der Sonderschule kann auch dieses exemplarische Motiv im Sinne der fotografischen Praxis von Aktion Sorgenkind oder der Lebenshilfe gelesen werden. Die Normalisierung des Alltags von Menschen mit Behinderung durch erzieherische bzw. therapeutische Maßnahmen ist möglich und zeitigt erste ›Erfolge‹, gespiegelt im Lächeln der Kinder, das sie an den Betrachter richten. Sie kann aber nur aufrechterhalten werden, wenn weiterhin eine so gute Betreuung innerhalb der Institution (finanziell) gewährleistet bleibt. Auch hier handelt es sich weniger um »karitativ verbrämte« 155 Aufnahmen, die in erster Linie auf das Leiden der Kinder verweisen, das es mit Hilfe von Spenden zu lindern gilt, sondern sie regen aufgrund ihrer Komposition dazu an, die ins Bild gesetzte Szenerie als positiv und zugleich als ›normal‹ zu deuten,

155 Schaffer 2008, S. 21. Begriff der Mitleidspornographie?

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Abbildung 36: Kind mit Betreuerin und Tamburin

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, Aufnahmejahr unbekannt

wenngleich ebenso die Nicht-Normalität in Form des Rollstuhls bzw. der nichtaltersgerechten Tätigkeit im Bild bzw. durch das Bild erscheint. »Nicht Mitleid, sondern Empathie sollte das Movens für Hilfe sein.« 156 Diese Strategie zur Gewinnung von Spenden oder auch Sympathie gegenüber Menschen mit Behinderung ist jedoch keinesfalls als ein modernes Phänomen zu betrachten. So befindet sich im Liebenauer Fotoarchiv ein Exemplar einer Beilage zur Oberschwäbischen Volkszeitung, zum Friedrichshafener Tagblatt und zur Biberacher und Waldseer Oberamtszeitung vom November 1930 namens »Welt und Heimat«, die auf vier knapp DIN A3-großen und reich bebilderten Seiten das neu gegründete Landerziehungsheim St. Gertrudis in Rosenharz als Erziehungsanstalt für schwache Kinder vorstellt (Abb. 37). Die nur mit wenigen Zeilen Text kommentierten abgebildeten Fotografien zeigen lachende Kinder »bei frohem Spiel« vor dem Kasperl-Theater und mit sogenannten »Fröbelspielen«, bei der Körperpflege und im Schul- bzw. Werkstattunterricht, stets angeleitet von einer Ordensschwester bzw. einem Lehrer oder einer Lehrerin (Abb. 38). Es werden keine weiteren Angaben zur Möglichkeit von Almosengabe gemacht, keine erläuternden Informationen zu den Bildern gegeben – sie scheinen für sich zu sprechen

156 Lingelbach 2010, S. 130.

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Abbildung 37: Frontseite von »Welt und Heimat«

Quelle: Zeitungsbeilage, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1930

und in Form eines ›modernen Bettelbriefes‹ den Leser einer der genannten Zeitungen davon überzeugen zu wollen, wie wichtig zum einen die Arbeit in der neuen Einrichtung in Rosenharz ist und dass es sich nicht um ein weiteres ›Krüppelheim‹ handelt, sondern um eine um die Bildungsfähigkeit der Kinder bemühte Anstalt unter professioneller Betreuung. Auch fast vierzig Jahre nach dem Erscheinen des Prospektes ist eine liebevolle Versorgung und Pflege behinderter Menschen noch nicht selbstverständlich und insbesondere das Anstaltswesen für Menschen mit einer geistigen Behinderung oder Schwerst(mehrfach)behinderung beginnt sich nach der Zäsur durch den Zweiten Weltkrieg erst langsam wieder zu erholen. So wurde die Le benshilfe wie auch die Aktion Sorgenkind auch deswegen gegründet, um auf Missstände in vielen derartigen Einrichtungen aufmerksam zu machen und die ›Aufbewahrung‹ behinderter Menschen in überfüllten Heimen anzuprangern. 157 Die Stiftung Liebenau geht wohl auch deshalb mit der fotografischen Darstellung ihrer medizinisch-pflegerischen Versorgungsstruktur in die Offensive.

157 Vgl. Lingelbach 2010, S. 130.

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Abbildung 38: Zweite Seite von »Welt und Heimat«

Quelle: Zeitungsbeilage, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1930

Dies lässt sich an der deutlich steigenden Anzahl an Aufnahmen im Archiv erkennen, die zeigen, wie Menschen mit Behinderung gewaschen, gepflegt und mit Essen versorgt werden. Im Gegensatz zu den aus den 50er und 60er Jahren erhaltenen und wenngleich natürlich kleineren fotografischen Archivbeständen, tritt hier das Abhängigkeitsverhältnis von Pfleger_in und Bewohner_in oder Patient_in im Bilderrepertoire wieder dominant zum Vorschein. Dabei produziert es so den Menschen mit Behinderung im Anschluss an die medizinische Fotografie als Objekt der Fürsorge und erneut als Abweichung von einer gesellschaftlich ausgehandelten Normalität und läuft vor allen Dingen den Forderungen der in Deutschland spätestens seit 1981 ihr Recht auf Teilhabe einklagenden Behindertenrechtsaktivist_innen entgegen. Durch diese Inszenierungsstrategien können im Sinne einer der Spendenakquise zuarbeitenden Öffentlichkeitsarbeit wie in Liebenau so zum einen die Kosten für therapeutisches und pädagogisches Personal rechtfertigt werden, zum anderen aber reproduzieren sie damit auch erneut das dazu im Verhältnis stehende Subjekt als deviant. Nun stößt man an dieser Stelle, wenn man weiterhin damit argumentiert, dass eine Insbildsetzung von Pflegepersonal eine Abbildung als im Sinne des medizi-

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nischen Modells entstanden oder sich vollziehend markiert wird, im Falle von Menschen mit einer sogenannten Schwerst(mehrfach)behinderung auf mehrere Probleme: Deren Handlungsfähigkeit wird erst durch die Bereitstellung von assistierendem Personal gewährleistet und eine gesellschaftliche Teilhabe und Inklusion wird zuweilen erst dann möglich, wenn der behinderte Mensch über seinen Assistenzbedarf selbst bestimmen kann und nicht nur in seinem Anliegen gehandelt wird. Deshalb muss hier noch einmal deutlich gemacht werden, dass es sich um Regime oder Politiken des medizinischen Blicks auf den Menschen handelt, nicht jedoch um festgestellte Kategorien des Sehens von Behinderung. Diese Regime können sich je nach Kontext, Praktiken und Technologien verändern und so eine auf den Paradigmen des medizinischen Modells von Behinderung basierende Interpretation durch Veränderung der sozio-politischen Umstände in eine im Anschluss an das soziale Modell zu verstehende visuelle Konstruktion von Behinderung transformieren. Darauf aufbauend dreht sich das Verhältnis zwischen Pfleger_in und zu Pflegendem um – und die Möglichkeit des Agierens fällt dem Menschen mit Behinderung zu, der die Assistenz nur braucht, um die eigenen Bedürfnisse zu vertreten. 158 Die sich seit Mitte der 1970er Jahre verstärkt durchsetzenden rehabilitativen Disziplinen wie Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie beginnen neueste medizinische und pädagogische Erkenntnisse in Methoden zur Förderung der Mobilität und Eigenständigkeit von Menschen mit Behinderung umzuwandeln und begründen so eine »Dekade der Rehabilitation« 159, die sich durch die Bemühungen auszeichnet, behinderte Menschen in ein ›normales‹ Leben zu überführen. 160 Was von Vertreter_innen der emanzipierten Behindertenbewegung als be158 Zugegebenermaßen scheint dies auf den ersten Blick vorauszusetzen, dass der behinderte Mensch dazu in der Lage ist, selbst über sich zu verfügen, was Personen mit einer schweren geistigen und körperlichen Behinderung zunächst nicht als Eigenschaft zugeschrieben wird. Franziska Felder schlägt hier ein Modell der passiven Teilhabe vor, aus welchem gleichsam abgeleitet werden kann, dass eine Assistenz in Form eines anderen Menschen einem sich nicht selbst äußern können den behinderten Menschen auch Handlungsfähigkeit zuschreiben kann, indem dieser auf der Basis von nonverbaler Kommunikation eine Intentionalität zugewiesen werde. Vgl. Felder 2012, S. 159ff. 159 Hähner, Ulrich: Vom Betreuer zum Begleiter. Eine Neuorientierung unter dem Paradigma der Selbstbestimmung. Marburg: Lebenshilfe-Verlag 1997, S. 30. 160 Die Ergotherapie als anerkannte Therapieform und als eigenständiges Berufsfeld etabliert sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Deutschland und erfährt in den 1970er Jahren durch die Gründung neuer Sondereinrichtungen für Menschen mit Behinderung einen Aufschwung und einen Anstieg an Beschäftigungsmöglich-

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sonders kritisch erachtet wird und letztlich auch zur Forderung nach einem sozialen Modell von Behinderung führt, das den Anpassungsdruck weg vom behinderten Individuum und hin zur behindernden Gesellschaft und Umwelt verschieben soll, wird nahezu euphorisch von Einrichtungen wie der Stiftung Liebenau aufgegriffen und innerhalb weniger Jahre massiv ausgebaut. Dies drückt sich unter anderem auch in einer hohen Anzahl an seriell oder sequenziell entstandenen Aufnahmen im therapeutischen Bereich aus. 161 So wird in einer Serie eine junge Frau präsentiert, die in ein Gerät eingespannt ist, das es ihr ermöglicht, der Therapeutin gegenüber zu stehen und mit dieser an einem Stehtisch Übungen zu machen (Abb. 39). Sie trägt einen Kleiderschutz auf der Brust und kommuniziert mit der Therapeutin, die sie nach verschiedenen Gegenständen greifen lässt. Da es sich um knapp 30 serielle Fotografien, folglich einen ganzen ›verknipsten‹ Fotofilm handelt, welche in Nahaufnahmen und in Ganzkörperaufnahmen die Interaktion zwischen der jungen Frau und der Therapeutin zeigen, und die ebenso verwackelte Bilder enthalten, ist davon auszugehen, dass die Serie zum Zwecke einer Auswahl des besten oder der besten Motive entstanden ist, die dann einer größeren Öffentlichkeit zugeführt werden sollten. So wurden beispielsweise Abzüge von Nahaufnahmen der Hände in einem separaten Ordner im Archiv aufbewahrt, in welchem unter dem Titel »Hände und Füße« eine ganze Reihe von als Symbolbildern zu verstehenden Fotografien enthalten sind, die

keiten für mit diesen Methoden arbeitenden Menschen. Vgl. Marquardt, Manfred: Die Geschichte der Ergotherapie 1954-2004. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag 2004. Waren Ausprägungen der Sprach(heil)therapie bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland bekannt, so wurde ähnlich wie bei der Ergotherapie diese erst ab den 1970er Jahren im Sinne des Rehabilitationsangleichungsgesetzes anerkannt. 161 In der Behindertenbewegung wird diese Euphorie immer wieder heftig kritisiert: »Das Wort ›Therapie‹ ist inflationär geworden, seit alles, was zuvor natürlich war, mit dem Etikett ›Therapie‹ versehen wird. Wo sich früher Menschen schlicht aussprachen, geht man heute zur Gesprächstherapie. Ein behindertes Kind, das auf einem Pferd reitet, bekommt heute therapeutisches Reiten verordnet, mit einem Fremdwort auch Hippotherapie genannt. […] Und selbst die stupidesten Arbeiten, die zum Beispiel Bewohner von psychiatrischen Anstalten verrichten müssen und deren Stumpfsinn oft genug geradezu krankmachend wirkt, wird inzwischen Arbeits- oder viel wohltönender: Ergotherapie genannt.« Klee, Ernst: Behindert. Über die Enteignung von Körper und Bewußtsein. Ein kritisches Handbuch. Frankfurt a.M.: fischer 1987, S. 92f.

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Abbildung 39: Junge Frau in der Ergotherapie

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, Aufnahmejahr unbekannt

so auch Eingang in interne und externe Publikationen gefunden haben. 162 Ähnliche Fotografien finden sich im 1992 erschienenen Buch »In unserer Mitte – der Mensch« des Lokaljournalisten Michael Schnieber, der im Auftrag der Stiftung die Geschichte der Liebenau in Text und Bild zusammentrug und unter die Aufnahme eines in einen dem obigen ähnlichen Stehrahmen eingespannten Kindes kommentiert: »Technik kann helfen: Auch für mehrfachbehinderte Kinder wird immer wieder nach Lösungen gesucht, sie im Rahmen der gesetzten Grenzen zu fördern. Zur persönlichen Zuwendung treten individuell angepasste technische

162 Unter Symbolbildern oder Konzeptbildern versteht man jene im Print- und OnlineJournalismus häufig verwendete fotografische Aufnahmen, die sich nicht konkret auf ein Ereignis oder den dazugehörigen Text beziehen, sondern Merkmale aufweisen, die inhaltlich auf den Text referieren und ihn oberflächlich illustrieren, zum Beispiel sogenannte »Stockfotos«. Vgl. Ullrich, Wolfgang: Bilder zum Vergessen. Die globalisierte Industrie der »Stock Photography«. In: Grittmann, Elke (Hrsg.): Global, lokal, digital. Fotojournalismus heute. Köln: Von Halem 2008, S. 51-61.

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Hilfen.« 163 Das Bild von Behinderung, das in diesem Diskurs transportiert werden soll, verweist an dieser Stelle besonders auffällig auf die (technischen) Möglichkeiten einer ›Normalisierung‹ von Behinderung – und die Fotografie soll die Zeugin dafür sein, dass es dem Patienten bzw. der Patientin nicht nur Spaß macht, sondern auch entscheidend ›hilft‹. Was sich dabei nicht in das Blickfeld des Betrachters schieben soll, ist die Frage nach der tatsächlichen Notwendigkeit der dargestellten Maßnahmen und der Selbstbestimmung der betroffenen Person. Vielmehr bezeugt das mit ins Bild gesetzte Expertentum des Therapeuten/der Therapeutin, dass die ›Förderung‹ medizinisch-wissenschaftlich abgesichert sei und zum Besten des Menschen mit Behinderung geschehe, gegebenenfalls auch gegen dessen Willensäußerung. 164 Dass es erstrebenswert sei, diese Form von Expertentum auch für sich selbst in Anspruch zu nehmen, machen auch die zahlreichen Aufnahmen deutlich, die die pflegerische oder pädagogische Interaktion zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen fokussieren. Wie bereits erwähnt sieht sich die Stiftung seit den 1970er Jahren mit der Tatsache konfrontiert, aktiv für ihr Personal zu werben und diesem Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten zu bieten, da die Franziskanerinnen sich 1975 aufgrund der eigenen Überalterung und des Rückgangs ihrer Mitgliederzahlen aus Liebenau zurückziehen mussten. Die Anwerbung von qualifiziertem Pflege- und Betreuungspersonal rückt so auch in Form einer aktiven Öffentlichkeitsarbeit in das Zentrum der Liebenauer Bilderpolitik. Broschüren, Informationsveranstaltungen und Erfahrungsberichte von bereits in der Stiftung angestellten Mitarbeiter_innen scheinen dabei auch als Fotografien davon überzeugen zu wollen, wie viel Freude der Umgang mit Menschen mit Behinderung im Beruf bringt. Die in die Kamera lachenden Heilerziehungspfleger_innen, die in einer gestellt wirkenden Geste Körperpflege an einem Bewohner betreiben oder einem schwerbehinderten Kind Essen anreichen, sollen mit ihrem Blick den Betrachter dazu auffordern, die Erfüllung in diesem Beruf anzuerkennen. Die fotografische Rahmung macht dabei jedoch unsichtbar, dass es sich um einen harten Alltag langer Schichten und schlechter Bezahlung handeln könnte (Abb. 40). Auf einer in einer Fotografie von 1991 abgebildeten

163 Schnieber 1995, S. 103. 164 Gleichsam bedeutet die Arretierung der Bewegung der jungen Frau durch das Gestell einerseits und durch das ›Einfrieren‹ des Momentes durch die fotografische Technik andererseits auch eine Macht über den Körper, die sich auch in den Praktiken des frühen fotografischen Ateliers wiederfinden lässt, in denen das Individuum beispielsweise durch Kopfstützen zum sekundenlangen Verharren in einer Position verholfen wurde. Vgl. Sagne 1998, S. 103.

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Abbildung 40: Heilerziehungspflegerin beim Rasieren eines Bewohners

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1988

Schautaufel werden jene Aufnahmen der Körperpflege großformatig neu aufgeführt, unter der Überschrift »Arbeitsplatz Behindertenhilfe« präsentiert und so zu einem Werbeträger für den Beruf der Heilerziehungspflegers bzw. der Heilerziehungspflegerin, der gleichsam die Zuschreibung ›Behinderung‹ wiederholt und das Bild zu einem Teil des Bilderrepertoires werden lässt, das über Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten bestimmt und so das visuelle Regime von Behinderung konfiguriert (Abb. 41). Neben diesen Beispielen für eine zielgerichtete Bilderpolitik in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Freizeit bringt das Fotoarchiv mit der Einrichtung einer ersten mit Industriearbeiten betrauten Gruppe von Menschen mit Behinderung im Jahre 1968 in Liebenau und der bald folgenden Gründung der ersten »Werkstatt für Behinderte« (kurz auch: WfB; später abgelöst durch »Werkstatt für behinderte Menschen« = WfbM) auch über dreißig Jahre nach den Arbeiterbildern Pater Hubbuchs und mehr als vierzig Jahre nach den Werkstattbildern wieder die Darstellung von Arbeitssituationen zum Erscheinen. Hatte die Selbstversorgung durch Landwirtschaft und Handwerk die Liebenau seit ihrer Gründung wesentlich geprägt, so schließen die von großen Firmen und Unternehmen ausgelagerten Aufträge an die sogenannten »beschützenden Werkstätten« nun an das 1969 verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz an, das einen Rechtsanspruch

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Abbildung 41: Plakatausstellung »Arbeitsplatz Behindertenhilfe«

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1991

behinderter Menschen auf berufsfördernde Leistungen impliziert und so innerhalb weniger Jahre zu einem regelrechten Boom von diesen durch den Staat geförderten Werkstätten auslöst. Ein Teil der Argumentation für die Beschäftigung und wirtschaftliche Produktivität behinderter Menschen hatte sich dabei aus der Zeit von Biesalski und Würtz von Anfang des 20. Jahrhunderts in die Nachkriegszeit gerettet, wie Udo Sierck am Beispiel eines Zitates eines Mitgliedes des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge aufzeigt: Arbeit sei, so Dr. Bierfelder, die »beste wirtschaftliche Fürsorge und zur Erhaltung der Arbeitskraft den Arbeitsfähigen, Erziehung durch Arbeit dem sozial nicht Vollwertigen, Bewahrung dem Asozialen und Ertüchtigung und Erwerbsbefähigung durch Arbeit dem körperlich Erwerbsbeschränkten«. 165 In diesem Ausspruch wird implizit die doppelte Aufgabe von Arbeitsmaßnahmen in Behinderteneinrichtungen reflektiert: Einerseits soll eine hohe Produktivität und wirtschaftliche Rentabilität erzielt werden, andererseits soll die Institution erziehen, bilden und fördern. Unter dem Fokus dieser zweifachen Zielsetzung sind auch die Aufnahmen aus dem Arbeitsleben in Liebenau zu verstehen. Sie sind aus dem Blickwinkel einer Öffentlichkeitsarbeit einerseits deutbar als Ausdruck für die

165 Zitiert nach Sierck 1992, S. 113.

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Abbildung 42: Tischgruppe in der »alten WfB«

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1975-1976

grundsätzliche Bildungsfähigkeit behinderter Menschen und andererseits bezeugen sie die Arbeitsleistung der abgebildeten Individuen unter Referenz auf den ›normalen‹ Arbeitsmarkt. In diesem Sinne konstatiert die Disability-Historikerin Elsbeth Bösl für die bundesrepublikanische Behindertenpolitik »eine funktionale Normalisierung von Menschen mit Behinderungen«, um diese (wieder) in die Erwerbsarbeit überführen zu können, die nicht nur von medialen Inszenierungen begleitet, sondern gerade durch den Einsatz von Bildern, insbesondere Fotografien, bekräftigt bzw. im Sinne einer gezielten Bilderpolitik zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe stilisiert wurde. 166 Auf den frühen Aufnahmen der Industriearbeit in Liebenau zu Beginn der 1970er Jahre scheinen die Menschen sich ausschließlich auf ihre handwerkliche Tätigkeit zu konzentrieren: Um Tischgruppen herum sitzend montieren sie kleine Fertigungsteile, die sie aus vorsortierten Plastik- und Holzkästen entnehmen und, teilweise mit Hilfe von Steckvorrichtungen oder kleinen Maschinen, miteinander verbinden. Ihr Blick ist dabei auf ihre Hände gerichtet, sie blicken nicht in die Kamera, sondern wirken eifrig und allein deshalb schon produktiv, da sie mit einer großen Menge sehr kleinteiliger und nicht weiter für das Auge des Betrachters identifizierbarer

166 Vgl. Bösl 2009, S. 33.

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Abbildung 43: Schautafel in der »alten WfB«

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1975-1976

Dinge operieren (Abb. 42). Dies unterstreicht auch eine Aufnahme in einer Serie, die lediglich die vielen Einzelteile zeigt, die beschriftet und zur besseren Erklärung auf einer Schautafel befestigt wurden (Abb. 43). Die Inszenierung erzeugt eine Atmosphäre der Geschäftigkeit, die jedoch dadurch eine leichte Irritation erfährt, dass die Umgebung der Arbeitenden weniger an einen Industriebetrieb als an eine Beschäftigung in Privaträumen erinnert, da im Hintergrund bunte Vorhänge und Topfpflanzen zu erkennen sind, aber keine besonderen Arbeitsflächen oder -geräte. Die zwanzig Jahre später und somit Anfang der 1990er Jahre entstandenen Fotografien zeigen die Werkstatt dahingegen zugleich als Arbeitsstätte und als Ort der zwischenmenschlichen Interaktion, die auch pflegerische Tätigkeiten mit einschließt. Der in Oberschwaben und darüber hinaus bekannte Fotograf und Reporter Rupert Leser hat für eine Publikation eine umfassende Bilderserie geschaffen, die sich im Gegensatz zu den Fotografien aus der Frühzeit der industriellen Fertigung in Liebenau darauf konzentriert, das Individuum und nicht seine wirtschaftliche Produktivität ins Bild zu setzen. 167 Indem

167 Rupert Leser, geboren 1933 in Bad Waldsee, prägte mit seinen Fotoreportagen seit den 1960er Jahren nicht nur die journalistische Landschaft Oberschwabens als Fotograf für die Schwäbische Zeitung, sondern auch als Sportjournalist und -fotograf,

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Abbildung 44: WfB-Mitarbeiter sortiert Schrauben

Quelle: Rupert Leser, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1990

er den Fokus auf das Gesicht richtet, wird der Hintergrund unscharf und isoliert so den fotografischen Referenten von seiner Umgebung, sodass auch die Fertigungsteile, die in Kisten im Bildvordergrund zu sehen sind, zwar der Person zugeordnet werden können, jedoch durch die direkte Kommunikation zwischen Kamera und Individuum dem dieser untergeordnet werden (Abb. 44). Das den Werkstattbildern der 20er Jahre sowie den Arbeiterbildern der 30er Jahre konstatierte diskursive Normalisierungspotenzial unterliegt gleichwohl in den zeitgenössischen Aufnahmen Lesers eine merkliche Veränderung: Wurden damals, wie das im Kapitel zu den Werkstattfotografien der 1920er Jahre angeführte

zum Beispiel für den »Stern«. Ihm widmete das »Haus der Geschichte BadenWürttemberg« 2010/2011 eine umfassende Werkschau mit dem Titel »Von Bad Waldsee bis L.A. – Rupert Leser, Fotoreporter« und zeigte u.a. Aufnahmen aus der Stiftung Liebenau, die im Ausstellungskatalog folgendermaßen kommentiert werden: »So vermied er den etablierten Zugang, Menschen mit Behinderung als bedauernswerte Patienten zu zeigen. Rupert Lesers Sozialreportagen in Kinder- und Altersheimen wurden zu einem wichtigen Aushängeschild der Schwäbischen Zeitung. […] Der Fotograf war hier stets Komplize und Freund seines Gegenübers.« Vgl. »Von Bad Waldsee bis L.A.« – Rupert Leser, Fotoreporter. Katalog zur Ausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, 17. Dezember 2010 bis 11. September 2011. Stuttgart 2010, S. 26.

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Abbildung 45: WfB-Mitarbeiter beim Essen

Quelle: Rupert Leser, Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1990

Zitat des Direktors Wilhelm zur Einsetzbarkeit behinderter Menschen zeigte, lediglich die körperlich aktivsten von ihnen der Arbeit zugeführt, so werden nun durch das Konzept der WfBs auch schwerbehinderte Menschen in ein Produktions- und Arbeitsverhältnis gesetzt, das sich auch dahingehend in den Fotografien widerspiegelt, wenn am Arbeitsplatz, umgeben von Fertigungsteilen und Maschinen, ein Mensch von einem anderen Menschen gepflegt oder gefüttert wird. Die Hand mit dem Joghurtlöffel, die in den fotografischen Rahmen hineinragt und einem Mann mit weit geöffnetem Mund Essen zuführt, während vor ihm auf dem Tisch Reihen mit industriellen Steckteilen zu sehen sind, bricht so in das Framing ein und transformiert die Normalität der Arbeit in eine NichtNormalität und den abgebildeten Mann in ein deviantes Subjekt, das zwischen diesen beiden Polen fotografisch und so auch diskursiv eingespannt wird (Abb. 45). Neben diesen thematischen Schwerpunkten der seit den 1970er Jahren erhaltenen Fotografien existiert noch eine Vielzahl an Aufnahmen, die weniger vor dem Hintergrund von Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit anzusiedeln sind und deutlich seltener einzelne Menschen porträtieren, sondern schnappschussartige Bilder von situationsgebundenen Interaktionen darstellen oder häufiger noch überhaupt keine Menschen zu zeigen, nichtsdestotrotz aber auch im Lichte einer öffentlichen Kommunikation betrachtet werden müssen. Auf das Bedürfnis einer verstärkten stiftungsinternen Kommunikation bzw. der Information von Eltern

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und Verwandten über den Alltag wie auch die Neuerungen in Liebenau reagiert die Stiftung 1972 zunächst mit der Einrichtung von »kurz notiert« als regelmäßig erscheinende und gedruckte »Hausnachrichten«. Es folgt 1977 der 1. Liebenauer Brief mit dem Titel »In Liebenau leben«, der den Elternbrief ablöst und Ereignisse im Jahreskreis dokumentiert, wie zum Beispiel die Einrichtung neuer Angebote und Häuser, das Begehen von kirchlichen Festtagen oder Ankündigungen für Treffen und Veranstaltungen wie den Weihnachtsmarkt oder den seit 1969 stattfindenden »Tag der offenen Tür«. 168 Zu diesem Zwecke werden vermehrt Fotografien angefertigt, die allerdings weniger als aussagekräftige Werbeinstrumente verstanden werden, sondern zunächst als visuelle Unterstützung des geschriebenen Textes. Zugleich aber nutzen sie das indexikalisch-ikonische Potenzial der Fotografie, indem sie allein durch das Wissen um ihre chemischmechanische ›Objektivität‹ bezeugen, dass etwas genau ›so‹ geschehen ist. Auf interne wie auch auf externe Empfänger zielen die einen nicht unwesentlichen Teil des Liebenauer Fotoarchivs ausmachenden Architektur- und Bauaufnahmen, die in erster Linie keine Menschen zeigen, sondern das Eigentum, die Neubauten und Zustiftungen der Liebenau ausführlich und von vielerlei Standpunkten aus dokumentieren. Die Zielrichtung dieser Aufnahmen erscheint dabei sehr heterogen zu sein. Werden zum einen diese Bilder für Veröffentlichungen und im Zuge von Pressearbeit verwendet, so zeigen sie zugleich auch den Besitzstand der Stiftung an und bilden sozusagen ein internes Archiv für die politischen und wirtschaftlichen Rechtfertigungen von weiteren Baumaßnahmen oder Ansprüchen auf Grundstücke etc. 169 Eine fotografische Gattung, die zwar in den späten 1940er Jahren mit dem Besuch des Rottenburger Bischofs Sproll in Liebenau in einigen wenigen Aufnahmen aufleuchtet, dann aber mit der Ernennung von Direktor Huber als politischem und kirchlichem Akteur und Netzwerker rasant anzuschwellen scheint, ist die Dokumentation von Besuchen hoher Vertreter_innen aus Politik, Gesellschaft und Kirche. Selten wird bei einem solchen Besuch nur ein einziger Film verknipst, und jeder Schritt der prominenten Persönlichkeit in Liebenau wird fotografisch festgehalten. Neben dem Ziel der Dokumentation dienen diese Aufnahmen auch zu einem nicht zu vernachlässigenden Grad der Selbstlegitimation

168 Vgl. »Chronik der Stiftung Liebenau vom 17.03.68 bis 31.12.85 – Kurzfassung« (die gedruckte Fassung kann im Archiv der Stiftung Liebenau eingesehen werden). 169 Das wurde wichtig im Rahmen verschiedener Verfahren, beispielsweise der Klärung des Rechtsstatus der Stiftung Liebenau zwischen 2006 und 2009. Vgl. http://www. drs.de/service/presse/a-rechtsstreit-zwischen-land-baden-wuerttem-00003941.html (letzter Zugriff am 08.05.2016).

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Abbildung 46: Ministerin Annemarie Griesinger bei einem Besuch in Liebenau

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, 1975

der Stiftung, die sich in einem sozialpolitischen Gefüge verorten muss, um weiterhin und zukünftig als finanziell förderwürdig anerkannt zu werden. Um den Prominenten einerseits einen angenehmen Aufenthalt in der Stiftung zu ermöglichen, zugleich aber sie direkt mit den ›Fürsorgeobjekten‹ vertraut zu machen, für die man sich Förderung und Unterstützung erhofft, werden Begegnungen mit Menschen mit Behinderung organisiert, die wiederum fotografiert werden. Als 1975 die baden-württembergische Ministerin für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Annemarie Griesinger die Liebenau besucht, wird sie (so legen es die Aufnahmen nahe) vom ersten Aussteigen aus dem Auto bis zum Abschied von Direktor Huber und mehreren Kameras begleitet, die von ihrer Visitation auf Wohngruppen behinderter Kinder Dutzende Fotos schießen. Ihre Zuwendung zu den im Bett liegenden oder mit Nahrung versorgten Kindern, dabei aber nie die weiße Damenhandtasche aus der Hand legend, macht sie im Bild zur Zeugin einer sozialen Wahrheit über Behinderung, die wiederum durch das Bild als Fotografie und seine Distribution (zum Beispiel in der stiftungseigenen Pressearbeit) stabilisiert wird und so Griesinger in das Gefüge eines fotografischen als auch eines sozialen »so-ist-es-gewesen« einbindet und folglich ihre Zeugenfunktion

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verdoppelt (Abb. 46). Nichtsdestotrotz treten dabei die Menschen mit Behinderung in den visuellen wie auch in den diskursiven Hintergrund: Es wird über sie gesprochen, jedoch selten mit ihnen. Diese Praxis der indirekten Wohltätigkeit spiegelt sich insbesondere in der fotografischen Dokumentation von Einweihungsfeiern wider, wenn auf den Aufnahmen nahezu ausschließlich wichtige Würdenträger in Anzügen zu sehen sind, die entweder Laudationes lauschen oder bedächtig durch die Neubauten gehen – jedoch diejenigen, denen diese Anstrengungen zu gelten scheinen, nicht oder nur selten abgebildet werden. 170 4.4.2 Sichtbarkeitsverhältnisse Wie diese schlaglichtartigen Ausführungen zu den fotografischen Praktiken der Öffentlichkeitsarbeit der Stiftung Liebenau seit den 1970er Jahren gezeigt haben, kann an dieser Stelle nicht in aller Breite und Ausführlichkeit die starke Ausdifferenzierung der aus jener Zeit erhaltenen Aufnahmen thematisiert werden. Jedoch zeigt sich anhand dieser Betrachtungen und Verknüpfungen schon, was ich in den drei engeren und konzentrierteren Bildanalysen der 20er, 30er und 50er Jahre habe aufzeigen können: Der »screen« 171, nach Silverman die Gesamtheit aller materieller Repräsentationen, spezifischen Wahrnehmungs- und Repräsentationslogiken einer Gesellschaft, konfiguriert das Sehen jedes neu erscheinenden Bildes und wirkt so nicht nur auf dessen Einordnung in dieses »Feld der Sichtbarkeit« 172 ein, sondern veranlasst auch seine Zuordnung diesseits oder jenseits von normalistischen Toleranzgrenzen oder -zonen. Je mehr Bilder innerhalb dieses Feldes »wie durch Scheinwerfer erleuchtet und aufgeladen« 173 werden und damit ein visuelles Regime zu bestätigen scheinen, desto eher setzten sich bestimmte Formen eines (visuellen) Phänomens durch und stabilisieren so seine Bedeutung, indem sie es mit der Zuweisung von ›Wahrheit‹ versehen. Im Zuge einer Öffentlichkeitsarbeit, die enorm davon profitiert, dass die Kamera und das Verbrauchsmaterial immer günstiger werden und leichter zu bedienen sind, und die zugleich dem wachsenden gesellschaftlichen Verlangen nach Bildern ent-

170 Als ein frühes Beispiel für die fotografische Dokumentation von Festakten im Rahmen von Baumaßnahmen können Aufnahmen von der Einweihung des Hauses St. Anna in Liebenau im Jahre 1957 angesehen werden; sie zeigen Direktor Max Gutknecht sowie Gäste, die durch die neuen Räumlichkeiten gehen und gemeinsam den Bauplan betrachten. 171 Silverman 1992, S. 353. 172 Schaffer 2008, S. 113. 173 Silverman 1996, S. 221.

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sprechen möchte, wird so ein ›Image‹ 174 von Behinderung kreiert und transportiert. Dieses konstituiert zugleich das Phänomen ›Behinderung‹ und damit überhaupt erst den Tätigkeitsbereich der Öffentlichkeitsarbeit, indem diese es sichtbar macht und ihm einen bestimmten Platz in der Gesellschaft zuweist. Deshalb gilt es hier kritisch zu hinterfragen, wie eben jener screen dafür sorgt, dass durch das Sehen und die Wahrnehmung von visuellen Erzeugnissen einem Menschen jener deviante Status zugeschrieben wird. Gerade an den Beispielen fotografischer Praxis, die im Zuge der Erschaffung der Marke »Stiftung Liebenau« entstanden sind und aus deren Reihen einzelne Bilder für Publikationen ausgewählt worden sind, tritt die Bedeutung eines visuellen Regimes als ›herrschende‹, also stabilisierte und zugleich stabilisierende Autorität dahingehend zutage, dass es die Bilder und gleichsam das Sehen zurichtet, und so ein Wiedererkennen eines Phänomens ermöglicht, das es im selben Augenblick erst zu produzieren scheint. Werden wie im Falle der oben beschriebenen Fotografien aus der Sonderschule oder jener aus der Werkstatt auf bestimmte fotografische und soziale Verfahrens- und Darstellungsweisen zurückgegriffen, so lassen sich diese an die Sehgewohnheiten des antizipierten Betrachters anschließen, da sie zum Beispiel von der Aktion Sorgenkind oder der Lebenshilfe zum screen hinzugefügt worden sind. Zugleich aber lassen sie ihn Neues entdecken und in Handlungen überführen (zum Beispiel in Form von Spenden, Unterstützung oder Informationswillen). Folglich wird mit diesen Bildern eine Politik konfiguriert, die zugleich wiederum auf die Bilder rückwirkt und darüber bestimmt, was das eingerahmte Subjekt darstellt und was nicht – ob es ›behindert‹ ist oder nicht. Dadurch, dass in Liebenau weniger Menschen mit einer ›reinen‹ Körperbehinderung als Menschen mit einer geistigen Behinderung, einer Lernbehinderung oder einer mehrfachen Behinderung leben (und dies in den 1970ern zur erklärten Ziel der Stiftung wurde), mussten insbesondere Strategien gefunden werden, die nicht ausschließlich auf dem Blick auf den ›anderen Körper‹ basierten. Stattdessen sollten sie die Unsichtbarkeit der sich nicht an der Körperoberfläche manifestierenden Andersartigkeiten in Sichtbarkeit umwandeln können und zugleich für deren Normalität bzw. für einen Normalisierungswillen werben. Sichtbarkeit erhält im prozessual ausgerichteten Begriff der ›Sichtbarmachung‹ folglich eine doppelte Bedeutung: zum einen die Sichtbarmachung als Teil des kulturellen Bilderrepertoires, zum anderen die darin aufgehende Sichtbarmachung der Andersartigkeit (wie in den Bildbeispielen bis 1960 aufgezeigt). Durch die in die Massenmedien 174 An dieser Stelle ist ›image‹ zwar auch als Wort-Bild-Marke zu verstehen, W.J.T. Mitchell folgend kann dieser Begriff, der im Deutschen gleichbedeutend mit ›picture‹ als ›Bild‹ übersetzt wird, jedoch auch weit gefasst als mentales Bild erfasst werden. Vgl. Mitchell 2008.

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Eingang findenden visuellen Zeugnisse behinderter Menschen, seien es die großer Wohlfahrtsorganisationen oder jene der TV-Berichterstattung in Formaten wie »Die große Hilfe« oder »Danke schön … Die Aktion Sorgenkind berichtet« 175 oder der 1975 ausgestrahlten ZDF-Serie »Unser Walter« 176, aber auch die lokal und regional kursierenden Bilder wie jener der Liebenau, verändert sich dieses Repertoire und bringt Menschen mit Behinderung (und dabei insbesondere mit einer geistigen Behinderung) eine verstärkte mediale Aufmerksamkeit. Jedoch ist diese stellenweise (und hauptsächlich von nicht-behinderten Akteuren) euphorisch verhandelte ›neue‹ Sichtbarkeit aus mehrerlei Gründen kritisch zu betrachten: Wie Johanna Schaffer in ihrer Studie »Ambivalenzen der Sichtbarkeit« erläutert, gilt es der Zuweisung positiver Effekte an den Faktor der Sichtbarkeit und im Umkehrschluss die negative Beurteilung von Unsichtbarkeit dahingehend zu hinterfragen, ob sich ein ›Mehr‹ an Anteilen am kulturellen Bilderrepertoire tatsächlich als ein ›Mehr‹ an politischer Präsenz und gesellschaftlicher Geltung äußere, denn nicht jede Form der Sichtbarkeit bedeute Anerkennung. 177 Im Anschluss an Sabine Fuchs und Lisa Walker macht Schaffer deshalb deutlich, dass in der Annahme der metonymischen Verkürzung, dass Sichtbar175 Vgl. Lingelbach 2010, S. 129. 176 »Unser Walter« ist eine vom ZDF im Jahre 1974 ausgestrahlte mehrteilige fiktionale Serie und zeigt das Leben einer Familie mit einem Kind mit Down-Syndrom in einem Zeitraum von zwanzig Jahren. Neben außerordentlich hohen Einschaltquoten wurde die Sendung damals auch für den Grimme-Preis nominiert. Vgl. Böckem, Jörg: Unser Walter. In: Spiegel special (3) 1999, S. 106-112. 177 Unsichtbarkeit ist möglicherweise auch ein ›Überlebensgarant‹, insbesondere wenn es um Menschengruppen in/oder Subkulturen geht, welche die Grenzen des flexiblen Normalismus überschreiten und von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit als ›anormal‹ oder ›abnormal‹ bezeichnet werden und/oder rechtlich illegal und somit strafbar sind (vgl. Schaffer 2008, S. 54). Im Falle der medialen Unsichtbarkeit von Menschen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung, insbesondere wenn die Behinderung durch pränatale Diagnostik und deren medizinische Folgemöglichkeiten hätte ›verhindert‹ werden können, bietet diese Schutz vor der permanenten Diskussion um ihr Lebensrecht und ihren Lebenswert; im Umkehrschluss kann Sichtbarkeit von Behinderung durch extreme Präsentationsformen wie zum Beispiel Freak-Shows oder die Völkerausstellungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts auch das Gegenteil von gesellschaftlicher Anerkennung bedeuten, nämlich die Spektakularisierung der Schädigung und die ihr inhärente körperliche wie auch strukturelle Gewalt. Vgl. auch Grebe, Anna: »Inklusion heißt: …« Anmerkungen zur visuellen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. In: Augenblick. Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft (58) 2013c, S. 34-47.

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keit auch ›Erkennbarkeit‹ bedeute, Andersartigkeit oder Devianz stets implizit ins Bild gesetzt werden müsse, denn wenn Bilder keine visuelle Evidenz für diese Abweichung lieferten, so würden sie marginalisiert werden und ihre Subjekte dadurch in der Sphäre der ausgeschlossenen Minorisiertheit verbleiben. 178 Die Argumentationskette, die so entsteht, schließt von der Sichtbarkeit auf die Evidenz und von der Evidenz auf die Wahrheit – und findet in der fotografischen Eigenlogik eine machtvolle Komplizin, sodass durch den semiotischen Kurzschluss von ikonischer und indexikalischer Zeichenfunktion der Fotografie ihr ein Potenzial zugeschrieben wird, ihren Referenten im Bild und als Bild zu essentialisieren und dadurch ›wahr zu machen‹. 179 Die Liebenauer Fotografien sind so in Zusammenhang mit der seit den 1970er Jahren erstarkenden Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und der damit verbundenen erhöhten Zirkulation und Verbreitung von Bildern von Menschen mit Behinderung weniger als minorisierte oder subalterne Sichtweisen, sondern als unbewusste Problematisierung des Verhältnisses von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu verstehen. Sie wiederholen die Darstellungskonventionen verschiedener fotografischer Genres, die im kulturellen Bilderrepertoire bereits vorhanden sind und amalgamieren sie zu einem sich ständig neu selbst entwerfenden Vexierbild zwischen Normalität und Abweichung, immer verbunden mit dem zeigenden und das Sujet einfrierenden Gestus der Fotografie als Ausdruck des »Es-ist-so-gewesen«. Wenn es darum geht, gesellschaftliche Minderheiten visuell zu repräsentieren und deren Bilder in Umlauf zu bringen, so hat sich im Übrigen bisher zwar das Konzept der Stereotypisierung als erfolgreichstes, aber auch als diskursiv eingeschränktestes gezeigt. Die sich zwischen der Idee des super crip und der des bemitleidenswerten Wesens aufspannende Polarität in der (audio-)visuellen Repräsentation von Menschen mit Behinderung lässt wenige Variationsmöglichkeiten zu und hat dadurch für Bilder von Behinderung gesorgt, die lediglich auf einen sehr kleinen Prozentsatz der betroffenen Menschen zutreffen. 180 Die den beiden narrativen Figurationen inhärente Engführung der ›Behinderung‹ auf die aktive Überwindung auf der einen und das passive Verharren in ihr auf der anderen Seite ermöglicht so eine Reduktion der Komplexität des Phänomens von wahrgenommener Andersartigkeit und verhilft dem Betrachter zu einer einfache178 Schaffer bezieht sich auf Fuchs, Sabine: Feminität – Sichtbarkeit – Erkennbarkeit. Lesbische Körperstilisierungen und die Rhetorik der Visualität. In: Frauen – Kunst – Wissenschaft (33) 2002, S. 56-63 und Walker, Lisa: How to Recognize a Lesbian: The Cultural Politics of Looking Like What You Are. In: Signs 18 (4) 1993, S. 866890. 179 Vgl. Schaeffer 1987, zitiert nach Ochsner 2009, S. 96 bzw. Ochsner 2007, S. 186. 180 Vgl. Grebe/Ochsner 2013b.

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ren und weniger reflektierten Einordnung der Bilder im Feld der Sichtbarkeit. Gegen den mit Garland-Thomsons Bildrhetoriken als »rührselig« zu bezeichnenden Darstellungsmodus scheinen sich die im fotografischen Archiv vorgefundenen Aufnahmen zwischen 1970 und ca. 1995 zwar nicht ausdrücklich zu wehren, wenn sie auch Kinder und Jugendliche mit schweren und mehrfachen Behinderungen ins Bild setzen, die per Sonde ernährt werden, apallisch sind oder deren Körper aufgrund von Spastiken einen besonders angestrengten Eindruck erwecken. Nichtsdestotrotz aber eröffnen sie zugleich allein aufgrund der Tatsache, dass sie auch diese Aspekte menschlichen Lebens und so auch von Behinderung nicht in der Unsichtbarkeit verschwinden lassen, zumindest die grundsätzliche Möglichkeit eines Eintretens dieser Aufnahmen in das Feld der Sichtbarkeit oder das kulturelle Bilderrepertoire. 181 Eine Art von subalternem Blickregime von Behinderung bietet der jüngste Teil des Liebenauer Archivs jedoch ebenso wie die gerade eben beschriebene dominante Sichtweise: Die seit Mitte der 1980er Jahre kaum noch zu überschauende Menge an Knipserfotografien zu bestimmten Anlässen wie dem seit 1982 in Liebenau stattfindenden Stiftungsfest scheint sich ästhetisch jeglicher Trennung von Normalität und Nicht-Normalität zu verweigern, indem sie auf Nahaufnahmen und Porträts verzichtet und sich auf die Darstellung von Menschengruppen, meist in Bewegung, selten posierend, beschränkt, und so ihre Bildwürdigkeit voraussetzt, statt sie zwischen Bild und Betrachter erst herzustellen. Aufgrund der sehr hohen Anzahl an Bildern, die häufig in größerem Abstand zum fotografischen Referenten aufgenommen worden sind, verschwimmen innerbildliche Differenzierungen zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung und sperren sich gegenüber der Möglichkeit, die abgebildeten Personen ›eindeutigen‹ Kategorien zuzuordnen. Jedoch, und obwohl sie ebenfalls von Mitarbeiter_innen der neuen Öffentlichkeitsarbeit angefertigt wurden, verbleiben diese Aufnahmen in einer marginalisierten Position, da sie (auch aufgrund ihrer Qualität und ihrer Kleinteiligkeit) selten bis keinen Eingang in Publikationen der internen oder externen Kommunikation erhalten haben und so für jemanden, der nicht beim fotografischen Akt zugegen war, keine Anhaltspunkte für eine zugespitzte Bildaussage liefern. Ihre Sichtbarkeit außerhalb des Archives und die Wahrscheinlichkeit, ›scheinwerferartig‹ angestrahlt zu werden und dadurch die dominanten Sichtweisen von Behinderung kritisch zu begleiten und zu penetrieren ist folglich gering. 181 Um eine unhinterfragte Wiederholung eines medizinischen Blicks handelt es sich dabei ebenso wenig wie um ein Abdruck eines medizinischen Modells von Behinderung – die Sichtbarkeit von lebens- und alltagsunterstützenden Geräten allein weist noch nicht auf die Devianz des abgebildeten Subjekts hin.

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4.5 Z USAMMENFASSUNG Die hier vorgenommenen Bildanalysen haben Schillmeiers Ansatz des »Behindert-Werdens« bestätigen können: Versteht man ›Behinderung‹ als »das situative Ineinanderwirken und Verknüpftsein von menschlichen und nicht menschlichen Akteuren, Prozessen und Praktiken, welche die komplexen und kontingenten, guten wie schlechten Erfahrungen von Behinderung, von behindernden wie ermöglichenden (dis/abling) Szenarien aktualisieren« 182, so stellt die Fotografie den zeitlichen und räumlichen Rahmen dafür, diese Verschränkungen und ihre temporäre diskursive Stabilisierung beschreibbar zu machen. Die Praktiken der Insbildsetzung von Nicht-Normalität und Normalität als sich wechselseitig bedingende Kategorien des Denkens greifen gleichsam in die Praktiken des Sehens und in die rasante Entwicklung des fotografischen Mediums hinsichtlich seiner Technik und der damit verbundenen sozialen Verfügbarkeit des Materials (Kamera, Filme etc.) und können zugleich den Diskurs um die Fähigkeit der Fotografie, die ›Wirklichkeit‹ abzubilden, nicht vollständig ausblenden. Die tendenzielle Offenheit der gewählten Bildbeispiele aufgrund des Mangels an Informationen zum genauen Entstehungskontext hat hier die Möglichkeit eröffnet, sich den Aufnahmen abseits eines (medien-)historischen Determinismus zu nähern und so eben jene »(dis/abling) Szenarien« als Set an Praktiken, Techniken und Dynamiken des fotografischen Aktes vor und nach dem »Aussetzen des Codes« zu verstehen. Dabei hat sich gezeigt, dass die anhand der Aufnahmen aus den 1920er, den 1930er und den 1950er Jahren herausgearbeiteten Strategien der Sichtbar- und der Unsichtbarmachung von Behinderung, der Normalisierung und der Denormalisierung der fotografischen Referenten vor der Kamera, der Zuschreibung eines Subjektstatus an sie und dessen gleichzeitigem Entzug durch den fotografischen Akt immer gleichsam im visuellen Regime angelegt sind und sich keinesfalls gegenseitig ausschließen oder sich auf eine bestimmte Epoche oder historische Situation beschränken. Vielmehr scheint in dieser Analyse deutlich geworden zu sein, dass spätestens in den 1970er Jahren genau diese Strategien in den Dienst einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit gestellt wurden und so weniger als unbewusste Veräußerungen oder Insbildsetzungen einer gesellschaftlichen oder politischen Einstellung der Fotograf_innen oder der Auftraggeber_innen gegenüber ›Behinderung‹ zu verstehen sind. Sie sind stattdessen die zumeist reflektierte und bewusste Prämisse des fotografischen Aktes an sich und versuchen durch den wissenden Einsatz von bestimmten sozialen und technischen Voreinstellungen vor dem Auslösen des Apparates die Fotogra-

182 Schillmeier 2007b, S. 91.

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fie als Produkt und als Zeichen für den Betrachter auf eine spezifische Art und Weise decodierbar zu machen. Jedoch ist es eben gerade ein Merkmal der Fotografie, eine vollständige Planbarkeit oder Voraussagbarkeit dieser Codes zu leisten und so den durch das Öffnen der Blende entstehenden Riss anhand von bestimmten Praktiken der Komposition, der Belichtung oder der Kadrierung zu füllen. Der Riss, die Unmöglichkeit der absoluten Kontrolle der chemischmechanischen Vorgänge in der Kamera, verbündet sich so mit dem kulturellen Sehen sowie dem damit verknüpften Bilderrepertoire und erwirkt, dass ein Bild nie allein das zu transportieren vermag, was ihm vor seiner Bannung auf lichtempfindliches Material an Bedeutung auferlegt worden ist. Das Unterlaufen der Strategien zum Beispiel von Normalisierung ist folglich kein Effekt einer behindertenfeindlichen Einstellung des Betrachters, sondern ein komplexes Zusammenwirken verschiedener Akteure im Werdungsprozess von Behinderung und Bild gleichermaßen und der sozio-technischen Determiniertheit der Fotografie – wenngleich dies nicht als ›Entschuldigung‹ für ins Bild gesetzte diskriminierende Handlungen dienen sollte. Vielmehr scheint dies meine These zu stützen, dass diese Fotografien nicht durch die Zuweisung einer einzigen sinnstiftenden Bedeutungslogik ›gezähmt‹ werden können und stattdessen danach verlangen, sie in ihrer eigenen Dynamik, in ihrer Widersprüchlichkeit und vor allen Dingen: in ihrer sozio-technischen Bedingtheit ernst zu nehmen. Ebenso wurde durch die Analyse deutlich, dass nicht von einer tatsächlichen ›Entwicklung‹ im Sinne einer Erfolgsgeschichte zu sprechen ist, wenn man dem chronologischen Zeitenlauf folgt und die Bilder jeweils in ihren historischen Kontext einbettet. Wenngleich sich Strategien der Insbildsetzung von Behinderung verändern und transformieren, durch sozio-politische Ereignisse oder Gegebenheiten neue Deutungsdimensionen erhalten oder neue stilistische Ausprägungen außerhalb von Liebenau sich auch in der fotografischen Praxis der Anstalt niederschlagen, so zeigen sich gleichsam Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten in der Insbildsetzung von Behinderung in der Fotografie von den 1920ern bis in die 1990er Jahre. Begreift man die so in den Vordergrund getretenen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Darstellung und Vorstellung von Behinderung in Abgrenzung zur Nicht-Behinderung nun als Versuch, das Archiv in seiner Zeitlichkeit (wenngleich auch nur punktuell) zu erfassen und zu ordnen, dann gilt es im letzten Kapitel, die ›horizontalen‹ Strukturen des Fotoarchivs zu erkennen und zu beschreiben. Serielle Bildformen und insbesondere jene im fotografischen Medium bringen ein Wissen hervor, das über das Einzelbild hinausgehend durch Prinzipien der Wiederholung und Differenz oder Varianz unter Annahme einer Vergleichsebene sich verfestigen kann und mit der Erfindung der Fotografie die (Aus-)Bildung visueller Regime von Behinderung besonders mo-

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tivierte und beeinflusste. Wie die Serialisierung von Bildern nicht nur ein Archiv zu bilden vermag, sondern gleichzeitig dieses zur Bedingung von Aussagemöglichkeiten über die Bilder selbst macht, ist nun im diese Arbeit abschließenden Kapitel zu beleuchten.

5. Anderes zeigen: Behinderung in Serie und als Archiv

5.1 E INLEITUNG Bis zu diesem letzten Kapitel habe ich zwei wesentliche Merkmale meines Forschungsmaterials aus der Analyse und Diskussion ausgespart und deren tatsächlicher Relevanz aus strategischen Gründen wenig Beachtung geschenkt: Erstens handelt es sich aufgrund verschiedener Eigenschaften und Kennzeichen, die ich im Folgenden genauer erläutern werde, um Fotografien, die unter dem Aspekt ihrer Serialität, technisch wie inhaltlich, betrachtet werden sollten. Dies wiederum bedeutet, dass jedes Einzelbild im Verhältnis zu den anderen Bildern innerhalb einer Serie untersucht werden muss. Zweitens enthält der Titel der vorliegenden Dissertation ganz selbstverständlich das Wort »Fotoarchiv«, als bezögen sich die hier bislang untersuchten Materialien auf die Idee einer klar definierten Institution, in der anhand von Findbüchern und Indices thematisch sortiert und kategorisiert auf einzelne Fotografien in Zusammenhang mit Daten wie dem Aufnahmedatum und Informationen zu den abgebildeten Personen oder Gebäuden zugegriffen werden könnte. Das Liebenauer Fotoarchiv ist jedoch nicht nur ein durch Verwaltungsakte und die Notwendigkeit eines zentralen Aufbewahrungsortes entstandener Raum für als historisch oder identitär wichtig erachtete Dokumente und so eine Art von Hybrid zwischen loser Sammlung und historischem Archiv (sowie in Anteilen einer Bibliothek). Vielmehr ist erst durch die im Rahmen dieses Forschungsprojektes vorgenommene Digitalisierung aller im Umfeld des Liebenauer Schlosses gefundener fotografischer Artefakte ein virtuelles System entstanden, das es ermöglicht, auf der Basis von Verschlagwortung und Sortierungsfunktionen nunmehr einzelne Fotografien suchen und zum Tab-

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leau oder als Serie angeordnet betrachten zu können. 1 Die Bezeichnung ›Archiv‹ wurde für diese Arbeit zwar zum einen von der Namensgebung eines konkreten Ortes in Liebenau durch die Institution selbst übernommen, bezieht sich aber am anderen Ende des Bedeutungskontinuums auf die u.a. von Michel Foucault ausgeführte Definition als Sammlung der Bedingungen der Möglichkeit und der Wirklichkeit des Wissens, aus welcher stabilisierte Aussagen und dadurch Wahrheiten über den Archivgegenstand hervorgehen. 2 So, wie im Anschluss daran das Archiv als »Dispositiv« aufgefasst werden kann, so gilt es auf der Grundlage dieser Annahme auch die Methodologie dieser Arbeit als an dispositiven Strukturen entlang argumentierend zu denken. 3 Neues Wissen über Behinderung wird u.a. in der Wechselbeziehung zwischen epistemischen Dichotomisierungen (normal/nicht normal, nicht behindert/behindert) und der technischen wie sozialen fotografischen Eigenlogik produziert. Bezieht man nun mit ein, dass es sich bei den Liebenauer Fotografien nicht nur um isolierte und kontextlose Einzelbilder handelt, sondern um Formen von Serien und um ein ganzes ›Archiv‹ – und das in mehrfachem Sinne –, so lässt sich in der Beschreibung dieser wechselseitigen Referenz erkennen, auf 1

Die Zugriffs- und Verarbeitungsmöglichkeiten von Informationen, ihre Kombination und Rekombination im und durch das Internet, immer schneller, besser und größer bzw. kleiner werdende Speicher und nicht zuletzt die immer gewaltiger werdende zu erhaltende Datenmenge erwirken, dass das Archiv immer noch »Konjunktur« hat (vgl. Warnke, Martin: Digitale Archive. In: Pompe, Hedwig/Scholz, Leander (Hrsg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln: DuMont 2002, S. 269281, hier S. 269). Untersuchungen, wo in einer digitalen Welt das Archiv beginnt und wo es aufhört, sind nicht Gegenstand dieser Studie. Ebenso wenig möchte ich die veränderte semiotische Qualität der digitalen Fotografie hier diskutieren, da sie für meine Einzelbildanalysen keine Rolle gespielt hat (vgl. dazu exemplarisch Lunenfeld, Peter: Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. In: Wolf, Herta: Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 158177; Schröter, Jens: Das Ende der Welt. Analoge vs. digitale Bilder – mehr und weniger Realität? In: Ders./Böhnke, Alexander (Hrsg.): Analog/digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung. Bielefeld: transcript 2004, S. 335-354; Schröter, Jens: Archive post/fotografisch, online verfügbar unter http://www.medienkunstnetz.de/themen/foto_byte/archiv_post_fotografisch/ (letzter ZuZugriff am 08.05.2016).

2

Zitiert nach Ebeling, Knut/Günzel, Stephan: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos 2009, S. 7-26, hier S. 14.

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Zum Dispositivbegriff vgl. Foucault 2003.

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welche Weise diachron und/oder synchron hergestellte Bildserien eine Ordnung produzieren, sie stabilisieren oder auch destabilisieren, indem Bilder miteinander verglichen werden und dadurch neue Erkenntnisse zutage treten, die man im Einzelbild so nicht bemerkt hätte. In dieser Verschränkung zeigt sich dann auch, dass fotografische Serien ein bestimmtes Menschenbild erzeugen können, das sich wiederum auf ein Individuum oder eine Gruppe von Menschen in Form von identifikatorischen, kontrollierenden und/oder selbstdisziplinarischen Strategien und Technologien auswirkt bzw. diese als ›Gemeinschaft‹ erst herstellt. So gilt es in diesem letzten Kapitel nun den beiden genannten ›Unschärfen‹ meiner bisherigen Analyse in mehreren Schritten zu begegnen und den Weg vom Einzelbild über die Serie zum Archiv und wieder zurück zum Einzelbild nachzuzeichnen und diesen Prozess auf seine Operationen und Strategien zu untersuchen, die letztendlich eine Unterscheidung zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung hervorbringen. Dabei wird ein wichtiger, durchaus als konstitutiv zu bezeichnender Akteur für das Archiv zwangsläufig in den Vordergrund treten: Ich selbst schaffe als Autorin und als Forscherin erst die Bedingungen, die die Serialität und das Archiv erst durch die Anordnung der Bilder und das damit verbundene vergleichende Sehen zurichten bzw. durch die Serialisierung etwas zu sehen geben, was im Einzelbild so nicht hätte auffallen können. Durch die Selektion der in Kapitel 4 besprochenen Fotografien habe ich so bereits diachrone Bezüge unter den Einzelbildern hergestellt, die, worauf ich auch bereits in der Einleitung hingewiesen habe, ebenfalls als Zurichtungen oder Rezeptionsanweisungen verstanden werden können. Die Kritik, dass ich selbst so erst Wissen bzw. Bilder von Behinderung produziere und durch Wiederholung in diesem Text und außerhalb essentialisiere, scheint dadurch insofern berechtigt, als ich im Falle der Liebenauer Porträtserien oftmals nur nachträglich rekonstruieren kann, dass die Aufnahmen als Serie angelegt waren oder zumindest Aspekte der Serialität eine Rolle gespielt haben. Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb schreiben sie sich in einen Diskurs ein, der mit der Erfindung der Fotografie selbst einsetzte und dann besonders anschwoll und deshalb für unser Sehen von Bildern und insbesondere das Sehen von Behinderung als Abweichung von einer historisch und diskursiv ausgehandelten Normalität von großer Relevanz ist und das kulturelle Bilderrepertoire in seinen Verknüpfungen und Verschränkungen massiv beeinflusst. Der Beschreibung dieser Wechselwirkungen nimmt sich dieses Kapitel nun an, wohl wissend um die eigene Rolle im Behinderung als sozio-medial produzierenden Dispositiv, und stellt verschiedene Sehweisen, Praktiken und Blickregime vor, die sich auf die Bedingungen des Liebenauer Archivs applizieren lassen.

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5.2 W AS IST EIN ARCHIV ? ARCHIVTHEORETISCHE G RUNDLAGEN Im alltäglichen und nicht-wissenschaftlichen Umgang wird unter ›Archiv‹ häufig ein Ort oder vielmehr ein tatsächlicher Raum oder mehrere Räume verstanden, in welchem bzw. welchen Dokumente und Artefakte einlagern, die aus bestimmten Gründen für wichtig erachtet wurden und deshalb an diesem Ort aufbewahrt werden, um zu einem späteren Zeitpunkt daraus eine besondere Erkenntnis zu gewinnen. 4 Ebenso dient der Begriff als Metapher für das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft wie auch für Bibliotheken und Museen. Damit zeigt er zugleich an, dass er als Speicherort materieller und materialisierter Daten und Informationen verstanden werden kann, ebenso wie als ein diskursives System, das durch Hervortreten und Zurücktreten seiner einzelnen Bestandteile Erzählung und so auch Geschichte produziert. »Das Archiv hat […] stets zwei Körper: Es ist ebenso Institution wie Konzeption, das heißt Arbeitsort und Methode. […] Genau dies ist das Verwirrende an der Archivtheorie: Es handelt sich um eine Theorie, deren Name zugleich eine konkrete Institution benennt.« 5 Das Archiv der Stiftung Liebenau ist folglich zunächst deshalb ein Archiv im Sinne des ersten ›Körpers‹, weil es Artefakte schriftlicher und fotografischer Art an einem konkreten Ort vereint und diese für eine mögliche Lektüre und Interpretation bereithält. Überdies handelt es sich um einen Ort, der von den in ihm aktiven Akteuren als ›historisch‹ gekennzeichnet wird, da dort nur jene Dokumente – und so auch jene Bilder – gesammelt und gelagert werden, die aus der

4

Die Literatur zum Archiv als Ort der Wissensproduktion ist vielfältig und über disziplinäre Grenzen hinweg angesiedelt. Für die Kultur- und Medienwissenschaften bieten folgende Werke einen guten Überblick: Ernst, Wolfgang: Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung. Berlin: Merve-Verlag 2002; Horstmann, Anja/Kopp, Vanina (Hrsg.): Archiv, Macht, Wissen. Organisation und Konstruktion von Wissen und Wirklichkeiten in Archiven. Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2010; Spieker, Sven/ Codognet, Philippe (Hrsg.): Bürokratische Leidenschaft. Kultur- und Mediengeschichte im Archiv. Berlin: Kadmos 2004 u.v.m. Aus der Sicht der historischen Bibliotheks- und Archivwissenschaften argumentiert zum Beispiel Schenk, Dietmar: Kleine Theorie des Archivs. Stuttgart: Steiner 2008. Für einen Archivbegriff im Dienste der Erinnerungs- und Gedächtnistheorie vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999; Dies./Gomille, Monika/Rippl, Gabriele (Hrsg.): Sammler, Bibliophile, Exzentriker. Tübingen: Narr 1998.

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Ebeling/Günzel 2009, S. 10.

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Sicht von übergeordneten Verwaltungseinheiten als nützlich oder interessant für den Zugriff auf die Geschichte der Anstalt angesehen werden können. Überdies gibt es innerhalb des Archivs keine erkennbare Systematik, die regelt, welche Dinge im »Archiv« (und damit meine ich den konkreten Raum) gesammelt werden und welche nicht. Stattdessen wird außerhalb des Archivs entschieden, welches Material für die Geschichte und Identität der Liebenau von Bedeutung ist und was nicht und dieser Entscheidung folgend Eingang in den Archivraum findet. Nichtsdestotrotz muss man aufgrund dieser einfachen und sicherlich auch aus pragmatischen Gründen eingeführten Nomenklatur danach fragen, inwiefern hier nicht nur archivalische Strategien, sondern auch dokumentarische Ordnungs- und Zugriffsweisen zum Tragen kommen. Da das Liebenauer Archiv zwar durchaus aus der Verwaltung heraus entstanden ist und in seiner Form offen, jedoch weniger zum Zweck des Verhinderns von Vergessens als vielmehr als ein Ort begriffen wird, in dem die Archivmaterialien bereits analysiert, verdichtet und zur Weiterverarbeitung aufbereitet sind, wodurch ein themengebundener Zugriff jederzeit möglich erscheint, ist es jedoch fest an einige ›Wissende‹ geknüpft ist, die ohne Index Material aus dem Archiv zur Verfügung stellen können. 6 Der zweite Körper des Archivs tritt dann zutage, wenn man seine Medialität fokussiert und danach fragt, wie aus den Wechselwirkungen von Sichtbarem und Unsichtbarem, von eingeschlossenem und ausgeschlossenem Material, (neues) Wissen hervorgebracht wird, um daran anschließend im Sinne Michel Foucaults die »Bedingungen« dieses Wissens zu untersuchen. Foucault versteht unter ›Archiv‹ nicht eine Institution, einen tatsächlichen Ort, an welchem Texte oder Artefakte aufbewahrt werden, um aus diesen Narration zu produzieren. Stattdessen fasst er unter seinem Archivbegriff die Voraussetzungen für die Existenz von Aussagen innerhalb einer Kultur oder einen kulturellen Raumes. »Aussagen« sind, vereinfacht gesprochen, eine beliebige Abfolge von »Zeichen, von Figuren, von Graphismen oder Spuren« 7, aus denen sich eine Ordnung, nicht aber zwingend ein Sinn ableiten lässt. Das Archiv bildet den Rahmen für diese Aussagen bzw. für die Bedingungen, unter denen sie zum Vorschein treten, und präfiguriert sie zugleich. Das Instrument bzw. die Methode, anhand derer sich das Archiv beschreiben lässt, ist für Foucault in seinen frühen Schriften die Archäologie, mit welcher nach den Bedingungen für das Entstehen von Wissen gefragt werden kann, jedoch den ›Funden‹ zunächst keinen tieferen Sinn oder eine weitergehende Bedeutung zuweist. Vielmehr geht es bei der Beschreibung des Archivs darum, die »Gesamtheit von Regeln« zu bündeln, »die in einer bestimmten 6

Vgl. Ebeling/Günzel 2009, S. 8.

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Foucault 1988, S. 123.

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Epoche und für eine bestimmte Gesellschaft die Grenzen und Formen der Sagbarkeit definieren: worüber können wir sprechen?«8 Eine Problematik, die Foucault letztlich auch dazu bewogen hat, sein Konzept der Archäologie und des Archivs in Form der neu entwickelten Begriffe von Genealogie und Dispositiv zu aktualisieren, ist jene, dass die Archäologie die Regeln des Diskurses von innen heraus beschreibt, jedoch von ›außen‹ an sie herantretende Kräfte weitestgehend ignorieren muss. 9 Die Genealogie berücksichtigt deshalb auch die äußeren Bedingungen, die sich in Foucaults Begriff der »Macht« spiegeln lassen und so die Wechselbeziehungen zwischen dem Innen und Außen des Archivs als Aussagesystem, das nunmehr als »Dispositiv« aufgefasst werden kann, beschreibbar machen. Das Dispositiv als Zusammenschluss von Institutionen, Diskursen und Praktiken ist somit weniger eng gezeichnet als das Archiv und kann dadurch auch das berücksichtigen, was ›ungesagt‹ bleibt, zum Beispiel Institutionen oder Einrichtungen. Insofern ist es auch als Netz zu fassen, das zwischen seinen einzelnen heterogenen Elementen eine Struktur errichtet und so zu »Möglichkeitsräume[n] für gültiges, ›wahres‹ Wissen« wird. 10 Dieses Wissen wiederum ist deshalb nicht als Akkumulation oder Summe von Erkenntnissen zu verstehen, die dadurch statistisch-mathematisch verifizierte Aussagen über einen Gegenstandsbereich treffen, sondern es wird von diskursiven Praktiken konfiguriert und ist stets durch das Wechselspiel mit dem Machteffekten im Werden begriffen und wird als ›Wahrheit‹ stabilisiert. Worin liegt nun die Besonderheit eines genuin fotografischen Archivs? Ich folge hier Allan Sekulas These, dass das Archiv die »institutionelle Grundlage fotografischen Bedeutens« 11 sei und sich aus der semantischen Verknüpfung von unzähligen territorialisierten Archiven ergebe, welche wiederum ein »allgemei8

Foucault, Michel: Dits et écrits. Schriften, Band I, Nr. 58. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 869f.

9

Werner Schneider und Andrea Bührmann bezeichnen diesen Vorgang Francois Ewald folgend als »vagabundierendes Denken«: »Foucaults Werk zeichnet sich bekanntlich durch ein »vagabundierende[s] Denken« aus […]. Das krisenhafte bzw. vagabundierende Denken drückt sich u.a. darin aus, dass Foucault seine Bezeichnungen für die von ihm erarbeiteten Analysemethoden von ›Diskursanalyse‹ oder ›Aussagenanalyse‹ über ›Archäologie‹ und ›Genealogie‹ bis hin zur ›Machtanalyse‹ oder ›Dispositivanalyse‹ variiert und diese jeweils mit divergierenden methodischen Instrumentarien und unterschiedlichen Analysegegenständen verbindet […].« Bührmann, Andrea D./ Schneider, Werner: Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript 2008, S. 19f.

10 Vgl. Bührmann/Schneider 2008, S. 53. 11 Sekula 2003, S. 325.

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ne[s], allumfassende[s] Archiv« 12 bilden, das alle je angefertigten Fotografien umschließt. Dabei geht er ebenso von einem doppelten Körper des Archivs aus: »Strukturell gesehen ist das Archiv sowohl eine abstrakte paradigmatische Entität als auch eine konkrete Institution. In beiderlei Hinsicht stellt es ein riesiges Sortiment von Substituten dar, das es erlaubt, Bilder auf der Basis einer allgemeinen Äquivalenz zueinander in Beziehung zu setzen.« 13 Aus meiner Sicht erscheint es deshalb sinnvoll, das Liebenauer Fotoarchiv methodologisch gleichsam als Dispositiv aufzufassen, innerhalb dessen und von welchem ausgehend die Kräfteverhältnisse untersucht werden können, die für das Hervortreten von Aussagen über Behinderung und folglich als deren Stabilisierung in Form von Wahrheiten über Behinderung und Normalität verantwortlich sind. Es geht hier also weniger darum, das Archiv als Abbildung der Vergangenheit zu begreifen und somit als reinen Speicherort, sondern sein machtvolles Potenzial als »aktive[n] Vorgang« freizulegen, »welcher für eine permanente Umschichtung und fortlaufende Transformation« sorgt. 14 In diesem Sinne ist auch die Fotografie zu verstehen, da sie aufgrund der ihr zugeschriebenen mechanischen Objektivität als »Zeichenstift der Natur« ebenso als egalitäres Speichermedium diskursiviert wurde und ein »archivalisches Versprechen« abgibt, ihren Referenten so zu zeigen, wie er ›wirklich‹ ist. 15 Es scheint also das Besondere am Fotoarchiv zu sein, dass sich verschiedene Ebenen der archivalischen Wissensproduktion ineinanderschieben lassen und miteinander ein enges Wechselverhältnis eingehen, das es im weiteren Verlauf zu beachten gilt. Als topologischer Ort bietet das Archiv also seine Container-Funktion für das an, was das Archiv als Dispositiv als Möglichkeitsraum für das Sichtbarmachen und das gleichzeitige Unsichtbarmachen von Aussagen über das, was sozio-medial als ›behindert‹ aufgefasst wird und, wie die Analysen im vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, selbst als Wechselwirkung von Blick und kulturellem Sehen und Strategien der Ins-Bild-Setzung sich stets im Vollzug befindet und durch die fotografischen Eigenlogik temporär stabilisiert wird. Die diachrone wie auch die synchrone Serienbildung dienen dabei als Instrumente zur Herstellung von Erzählungen oder zur Erkenntnisproduktion und sind so nicht nur für das fotografische Archiv von großer Bedeutung, sondern gewissermaßen für 12 Sekula 2003, S. 279. 13 Ebd., S. 287. 14 Ebeling/Günzel 2009, S. 18. Dies schließt freilich auch die Praxis des Digitalisierens von Archivmaterial mit ein, die ein Bestandteil, wenn nicht sogar eine Grundbedingung der Vorarbeiten zu vorliegender Studie waren und die ebenso kritisch vor dem Hintergrund dieses Transformationsprozesses beleuchtet werden kann. 15 Vgl. Sekula 2003, S. 285.

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alle Archive konstitutiv. Durch die Produktion und die anschließende Anordnung der Bilder als Serie oder auf einem (imaginären) Tableau werden nicht nur die Grenzen dessen, was sich ähnelt und was nicht, markiert. Zugleich werden auch Grenzen nach außen hin gezogen, die wie die Anstaltsmauern selbst das Nicht-Normale vom Normalen trennen. So konstituiert sich das Liebenauer Fotoarchiv in Wechselwirkung der Einzelbilder miteinander sowie deren Formation als Serien und erschafft, etabliert und stabilisiert neues Wissen über Normalität und Behinderung, das in einer isolierten Einzelfotografie auf diese Weise nicht zutage getreten wäre und erst dann ›augenscheinlich‹ wird, wenn das Bild im Vergleich und in der Umgebung anderer Bilder zu sehen ist. Die Serie und die ihr zugrunde liegende Operation des Vergleichens dienen im Folgenden als Grundlage für die Untersuchung der das Archiv begründenden und konsolidierenden Elemente.

5.3 (F OTOGRAFISCHE ) S ERIALITÄT Wie schon an anderer Stelle angeklungen, scheint vom Porträt des Jungen von 1904 auch aufgrund dessen, dass nichts über ihn als Person noch über das Zustandekommen seines fotografischen Bildnisses bekannt ist, eine besondere Faszination auszugehen. So ist es jedoch gleichsam nicht unwahrscheinlich, dass obwohl im Liebenauer Fotoarchiv nur diese eine Aufnahme erhalten ist, sie Teil einer mehrere Aufnahmen umfassenden Serie gewesen ist. Die Vermutung, dass sie von einem Wanderfotografen aufgenommen wurde, der in einem improvisierten Atelier vor einer Bretterwand und auf begrüntem Untergrund seine Referenten arrangierte und ablichtete, lässt sich dahingehend weiterdenken, dass so auch von anderen Menschen außer diesem einen Jungen Fotografien angefertigt worden sind, die diese in ähnlichen Posen zeigen. Unter solchen Umständen würde es sich in mehrfacher Hinsicht um ein Beispiel fotografischer Serialität handeln: zum einen, weil so eine synchrone Reihe entstanden ist, die zwar verschiedene Menschen, jedoch in strukturhomologen Insbildsetzungen zeigt, zum anderen, weil die Fotografie an sich schon ein serielles Medium ist, das theoretisch unendlich viele Abzüge und Vervielfältigungen ein und des selben Bildes erlaubt. Doch welche Auswirkungen hätte diese mehrfache Serialität auf einen fotografisch ›festgehaltenen‹ Menschen?

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5.3.1 Das vergleichende Sehen als Ordnungsprinzip Serialität als allgemeingültige Aussagekategorie zu definieren erweist sich immer wieder als schwieriges Unterfangen, da die Eingrenzung serieller Eigenschaften in besonderer Weise vom jeweiligen Medium abhängig ist. 16 Für die Fotografie als chemisch-mechanisches und zugleich künstlerisches Verfahren können meines Erachtens zunächst u.a. folgende Merkmale festgehalten werden: Eine (Bilder-)Serie besteht zumeist aus einzelnen und gleichwertigen Elementen, die im Unterschied zu einer Sequenz keine lineare Abfolge haben, deshalb über keine feste Ordnung verfügen und so die Serie zunächst kein festgelegtes Ende und keinen unabänderlichen Beginn hat. 17 Die Maxime der Serie ist jene der Wiederholung und Variation, wobei das Gestaltungsprinzip einem übergeordneten Thema gehorcht und einen Zusammenhang zwischen den Einzelteilen der Serie herstellt. Etwas kann also folglich bereits im Produktionsprozess als Serie angelegt werden, zum Beispiel durch die sich auf ein in Raum und Zeit veränderndes, aber zugleich kontingentes Geschehen fokussierende Kamera (zum Beispiel die Chronofotografie von Eadward Muybridge), oder die Wiederholung von Modi der Inszenierung und Insbildsetzung (zum Beispiel in Porträtserien wie von Thomas Ruff oder die Werke von Bernd und Hilla Becher). 18 Es können

16 Insbesondere der Bereich der TV-Serie ist in den letzten Jahren wieder ins Zentrum medien- und kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt und hat spannende Fragen an die Möglichkeit eines medienübergreifenden seriellen Prinzips aufgeworfen. Vgl. exemplarisch Cuntz, Michael: Seriennarrativ. In: Bartz, Christina (Hrsg.): Handbuch der Mediologie. Signaturen des Medialen. München: Wilhelm Fink Verlag 2012, S. 242-252; Winkler, Hartmut: Technische Reproduktion und Serialität. In: Giesenfeld, Günter (Hrsg.): Endlose Geschichten. Serialität in den Medien. Ein Sammelband. Hildesheim/New York: Olms 1994, S. 38-45; Faulstich, Werner: Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Giesenfeld 1994, S. 46-54; Fahle, Oliver: Im Diesseits der Narration. Zur Ästhetik der Fernsehserie. In: Kelleter, Frank (Hrsg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert. Bielefeld: transcript 2012, S. 161-181. 17 Vgl. Schneider, Ulrike: Variationen über ein Thema. Überlegungen zur seriellen Portraitfotografie. In: Betancourt-Nuñez, Gabriele (Hrsg.): Portraits in Serie. Fotografien eines Jahrhunderts. Ausstellungskatalog. Bielefeld: Kerber Photo Art 2011, S. 22-33, hier S. 22. 18 Zu Eadward Muybridge vgl. Solnit, Rebecca: Motion Studies. Time, space and Eadward Muybridge. London: Bloomsbury 2004; zu Thomas Ruff vgl. Drück 2004; zu Bernd und Hilla Becher vgl. Lange, Susanne: Was wir tun, ist letztlich Geschichten

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aber auch aus verschiedenen Bildern, die in keinem räumlichen, zeitlichen oder gar inhaltlichen Zusammenhang stehen, erst nachträglich durch Kuration und Präsentation Serien entstehen, die die tendenzielle Offenheit und Erweiterbarkeit einer Serie verändern oder aussetzen. Als synchrone serielle Verfahren wären demzufolge jene Serialisierungen zu verstehen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes unter denselben Bedingungen angewendet werden, zum Beispiel die bereits analysierte Porträtserie aus dem Josefshaus der 1950er Jahre. Diachrone Serialität würde hergestellt werden, indem über einen längeren Zeitraum hinweg Bilder miteinander in Beziehung gesetzt werden würden, um daraus eine historische Entwicklung ablesen zu können, wie ich es beispielsweise hinsichtlich der Bilder aus der frühen ›Öffentlichkeitsarbeit‹ im Prospekt von 1930 aus Rosenharz und den neueren fotografischen Erzeugnissen aus Liebenau angedeutet habe. Durch eben jene Prinzipien der Wiederholung bieten Serien »Orientierung in unserer Alltagswelt«, indem sie sie unter bestimmten Gesichtspunkten vorstrukturieren. 19 Insofern sind sie auch im Sinne eines Tableaus zu verstehen, auf welchem anhand von »synchronisierender Gegenüberstellung […] heterogene Inhalte so strukturiert [werden], dass sie auf einen Blick erfassbar werden«. 20 Das Tableau ist damit sozusagen Grundlage und Methode der Serie in einem und veräußert sich als Machttechnik, indem sie einzelnen Elementen einen Platz in einer Ordnung zuweist. Die vornehmliche Operation der Serie wie auch des Tableaus ist folglich das vergleichende Sehen, das nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Einzelteile sucht. 21 Als Kulturtechnik ist es nicht nur im Rahmen der Kunst- und Kulturwissenschaften ein wirkmächtiges Instrument zur Gewinnung neuer Erkenntnisse über einen Gegenstand, sondern bildet vor dem Hintergrund der bereits skizzierten und sich auf die Psychoanalyse stützenden Theorie Kaja Silvermans eine der Grundlagen unserer (Selbst-)Wahrnehmung und unserer Identitätsbildung. 22 Die Kombination und damit auch das virtuelle oder tatsächliche Gegenerzählen… Bernd und Hilla Becher. Einführung in Leben und Werk. München: Schirmer/Mosel 2005. 19 Winkler 1994, S. 39. 20 Ruoff 2009, S. 204. 21 Für die moderne Kunst- und Bildwissenschaft hat Felix Thürlemann diese Operation unter dem konzeptuellen Begriff des »hyperimage« zusammengefasst: Thürlemann, Felix: Vom Einzelbild zum ›hyperimage‹. Eine Herausforderung für die kunstgeschichtliche Hermeneutik. In: Neschke-Hentschke, Ada (Hrsg.): Les herméneutiques au seuil du XXIème siècle. Évolution et débat actuel. Paris: Löwen 2004, S. 223-247. 22 Vgl. Geimer, Peter: Vergleichendes Sehen oder Gleichheit aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen. In: Bader, Lena/Gaiser, Martin/

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überstellen von Einzelbildern ist infolgedessen ein durch den Fotografen oder die Kuration forciertes Gestaltungsprinzip, welches das Sehen dazu anregt, unter formalen und inhaltlichen, manchmal auch unter gattungsspezifischen Aspekten zu einer differenzierten und zugleich differenzierenden Aussage über die Einzelbilder wie auch über das übergeordneten Thema zu kommen. Gleichsam, so warnt Peter Geimer, kann diese »intellektuelle Operation« des Vergleichens aber auch das Spezifische an den einzelnen Elementen eines Vergleichs oder einer Serie »schlucken« und somit insbesondere im Falle der Fotografie aufgrund ihrer Eigenlogik Variationen und Differenzen zugunsten einer verobjektivierten Durchschnittlichkeit zum Verschwinden bringen, wie sich später noch an verschiedenen Beispielen aufzeigen lassen wird. 23 Die Fotografie ist im Gegensatz zur Malerei als eine in erhöhtem Maße auf seriellen Prinzipien basierende Technologie zu verstehen: Die Möglichkeit, nahezu beliebig mehrfach hintereinander den Auslöser zu betätigen und dadurch schnell und ohne großen Aufwand viele Bilder zu produzieren und diese in ebenso beliebiger Anzahl zu vervielfältigen, ist eines der Hauptmerkmale der Fotografie und dies schon seit ihrer Erfindung. Parallel zum chemischmechanischen Verfahren, das Daguerre bzw. Talbot entwickelten, um die Natur auf der fotografischen Platte zu bannen, wurde zum Beispiel in den 1820er Jahren von Niépce eifrig nach einer Möglichkeit gesucht, bereits existierende Bilder vervielfältigen zu können. 24 In Verbindung mit der Zuschreibung von Objektivität und Abbildgenauigkeit wurde so die Fotografie zu einem Aufzeichnungsinstrument oder »Aufschreibesystem« 25, das alle seine Referenten unter gleichen Bedingungen abzubilden und somit auch die vermeintlich ideale Grundlage zum Vergleich zwischen Einzelbildern und deren Sujets darzustellen scheint. Gerade die Porträtfotografie ist seit dem 19. Jahrhundert nicht nur starken formalen und kompositorischen Merkmalen verpflichtet, die sie zu einem idealen Ausgangspunkt für den Vergleich ihrer Referenten bzw. deren Körper macht. Darüber hinaus bietet sie aufgrund der Annahme, dass die Fotografie den inneren Kern, die Essenz eines Menschen durch das richtige Arrangement vor dem Objektiv erfasWolf, Falk (Hrsg.): Vergleichendes Sehen. München: Wilhelm Fink Verlag 2010b, S. 45-69, hier S. 46. 23 Vgl. ebd., S. 65 (Geimer zitiert hier Thürlemann 2004, S.230f). 24 Vgl. Holschbach, Susanne: Foto/Byte. Kontinuitäten und Differenzen zwischen fotografischer und postfotografischer Medialität, online verfügbar unter http://www. medienkunstnetz.de/themen/foto_byte/kontinuitaeten_differenzen/ (letzter Zugriff am 08.05.2016). 25 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. München: Wilhelm Fink Verlag 1995, S. 519.

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sen könne, den idealen Nährboden für Experimente und Projekte zum Feststellen einer Diagnose im Sinne von Speicherung oder Aufzeichnung bzw. zur nachträglichen Feststellung von Typen und anthropologischen Kategorien. Daraus wiederum haben sich historisch wie zeitgenössisch immer wieder Konsequenzen für den Umgang mit bestimmten (dadurch erst konstituierten) Gruppen von Menschen ergeben, wie es gleich ein Blick auf frühe fotografische Archivierungsprojekte nahe legen wird. Der Bedeutung von seriell-fotografischen Verfahren für diese machtvollen Praktiken des Ein- und Ausschließens von Menschen aus einem Normalfeld auf der Basis ihres fotografischen Bildnisses lässt sich insbesondere an den Strategien und Mechanismen der fotografischen Erfassung von als ›deviant‹ markierten Subjekten nachspüren, wie sie von frühen Kriminalisten, in der Anthropologie, aber auch in der psychiatrischen Patientenfotografie vorgenommen wurde. 26 Die Annahme, dass in der Anatomie und Physiognomik des menschlichen Gesichtes sich etwas verberge, das über den Charakter seines Trägers Auskunft geben könne, traf hier auf die frühe foto-euphorische Einschätzung, dass die Fotografie dazu in der Lage sei, einen Mehrwert an Sehen zu generieren, und findet in der einfachen, günstigen und schnellen Reproduktion von fotografischen Menschenbildern den idealen Nährboden für zahlreiche Versuche, den Menschen in ein technisches wie auch soziales Ordnungssystem zu überführen. So bedienten sich Wissenschaftler wie auch Praktiker der Methode der seriellen bildlichen Erfassung von Individuen, um entweder Erkenntnisse oder Diagnosen fotografisch festzuhalten oder um Diagnosen erst nachgängig anzustellen. 27 Wie bereits im zweiten Kapitel zum medizinischen Blick in Zusammenhang mit fotografischen Praktiken ausgeführt, hatten Ärzte des 19. Jahrhunderts wie beispielsweise Hugh Welch Diamond, der in dem von ihm geleiteten Surrey County Lunatic Asylum die dort lebenden psychisch erkrankten Menschen in Einzelporträts ablichtete, die so entstandenen Bilder auch unter der Prämisse des vergleichenden Sehens als Instrument zur Erforschung von Krank26 Vgl. Edwards, Elizabeth: Andere ordnen. Fotografie, Anthropologien und Taxonomien. In: Wolf 2003, S. 335-355. 27 Der diagnostische Bereich beschränkt sich natürlich nicht nur auf die Psychiatriefotografie, sondern ist gerade für Objektivierungsstrategien in der Naturwissenschaft und Medizin von großer Bedeutung und schlägt sich in der sich immer weiter verfeinernden Entwicklung sogenannter bildgebender Verfahren nieder, die von den Bild- und Medienwissenschaften wiederum als Bildpraktiken untersucht werden. Vgl. Burri 2008; Friedrich, Kathrin/Stollfuß, Sven (Hrsg.): Blickwechsel. Bildpraxen zwischen Wissenschafts- und Populärkultur. Marburg: Schüren Verlag 2011; Heintz, Bettina/Huber, Jörg (Hrsg.): Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten. Zürich: Voldemeer 2001 u.v.m.

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heitsbildern verwendet. Dazu ließ Diamond in regelmäßigen Abständen Aufnahmen von seinen Patienten anfertigen, die dadurch entweder unter dem Thema einer bestimmten Erkrankung beliebig angeordnet und präsentiert wurden oder in Form einer (sequenziellen) Serie über den Krankheitsverlauf mit dem Endziel einer möglichen Entlassung Auskunft geben sollten. 28 Überführt in Lithografien auf der Basis der Fotografien, von denen mehrere nebeneinander angeordnet wurden, entfaltete sich so die Möglichkeit eines direkten Vergleichs der Einzelbilder miteinander (Abb. 47). Im Zuge dessen konnte der Fokus auf bestimmte Körperteile oder Gesichtszüge gelenkt werden, die auf der Basis der Annahme, dass es sich um »semiotisch relevante Struktur[en]« 29 handle, ihr eigenes Varianzspektrum bildeten und für Vergleiche zur Verfügung stellten. 30 Dabei ist dieses Hervorheben oder auch künstliche Herausarbeiten von individuellen Körpermerkmalen keineswegs nur institutionalisierten und erkennungsdienstlichen Abbildung 47: »Seated woman with bird«

Quelle: Hugh Welch Diamond, The J. Paul Getty Museum, ca. 1855

28 Vgl. Gilman 1976, S. 59ff. 29 Macho 2003, S. 36. 30 Dieser Vergleich wird wiederum beispielsweise in der Zusammenstellung und Veröffentlichung des Psychiaters James Conolly noch durch die Beigabe einer textuellen Beschreibung der Krankheitsverläufe oder der sozialen Umstände der Patienten unterstützt.

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Politiken vorbehalten gewesen, sondern durchaus als eine im Bild selbst verortete Strategie der bürgerlichen Porträtfotografie im Atelier des 19. und 20. Jahrhunderts anzusehen. Wenn es darum geht, das fotografische Produkt seinem Referenten vor der Kamera nicht nur so ähnlich wie möglich werden zu lassen, sondern zugleich »die unverwechselbare Individualität des Portraitierten als Kern der Darstellung« 31 zu erfassen, dann orientiert sich der Fotograf nahezu automatisch einerseits an der Komposition anderer Bilder, um sein Bild bzw. den Referenten nicht als von der Mehrheit über die Maße abweichend zu inszenieren, ihn aber andererseits so auszuleuchten und so zu arrangieren, dass dessen Gesichtszüge und Körpermerkmale vorteilhaft und sichtbar ins Bild gesetzt werden. Zugleich wird der Körper durch die fotografische Arretierung und die Pose selbst zum Bild und nimmt bereits vor dem Auslösen des Apparates das Foto vorweg. 32 So nobilitiert das Porträt zwar einerseits seinen Referenten, setzt ihn aber zugleich einem repressiven System aus, das ihn zwischen Subjektivierung und Objektivierung verhandelt. 33 Insofern ist dem Porträt schon eine Form von Serialität eingeschrieben, die sich nicht nur auf synchroner Ebene abspielt, sondern ihm ist auch durch die unbewusste Orientierung an Bildern aus dem Feld der Sichtbarkeit inhärent, wodurch jede Porträtfotografie auch potentiell Teil einer diachronen Serie werden kann. Dabei hat das Subjekt, wie Silverman es betont, beim Posieren vor der Kamera aufgrund des herrschenden Blickregimes keinen oder nur sehr wenig Einfluss auf die Wirkung des Bildes, da es sich durch die Pose wiederum in das kulturelle Bilderrepertoire einschreibt und jegliche forcierte Inszenierung unterlaufen kann. 34 Gerade die Serienbildung und die ihr inhärente Operation des Vergleichs eröffnet die Möglichkeit dieser widerständigen Subversion von vermeintlichen Bildintentionen eines Subjektes oder eines Fotografen, sodass, wie sich nun wieder an den Liebenauer Bildern zeigen lässt, Abweichungen von der Vorstellung einer porträtfotografischen Normalität aufgrund der ihnen eingeschriebenen Serialität in den Vordergrund der Wahrnehmung treten.

31 Betancourt-Nuñez 2011, S. 8. 32 Vgl. Silverman 1996, S. 47; siehe auch: Owens, Craig: Posieren. In: Wolf (Hrsg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 92-114; Barthes 2008, S. 18f. 33 Vgl. Sekula 2003, S. 273. 34 Vgl. Silverman 1996, S. 49f.

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5.3.2 ›Behinderung‹ in Serie? Statt nun wie zuvor eine Einzelbildanalyse vorzunehmen, gilt es an dieser Stelle unter dem Fokus der Serialität danach zu fragen, wie durch das vergleichende Sehen bestimmte Merkmale und Einzelheiten erst in den Vordergrund der Wahrnehmung treten und in ihrem Zusammenspiel mit der fotografischen Eigenlogik Behinderung bzw. Nicht-Behinderung erst hervorbringen. Dafür bietet es sich an, wieder auf das Bilderkonvolut des ›unbekannten Fotografen‹ zurückzugreifen, welches ich in Kapitel 4.3. einer Analyse unterzogen habe und dessen seriellen Charakter ich bereits habe anklingen lassen. Bewohner des Josefshauses, ferner Mitglieder der »Knabenabteilung« von Sr. M. Luise, wurden in Form von Ganzkörperporträts und in feiner Kleidung, Requisiten in den Händen haltend, vor einem neutralen Hintergrund inszeniert und abgelichtet. Es besticht hier insbesondere die gleichförmige Inszenierung, die ähnliche Kadrierung der Referenten und die Pose vor dem Objektiv, die dazu führen, die Bilder als seriell zugerichtet aufzufassen. Überdies ist den Aufnahmen kein konkreter Anfang und kein festgelegtes Ende zu entnehmen, da sie aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit keine lineare oder Absicht zu haben scheinen, wie dies bei einer Sequenz Abbildung 48: Assemblage der Liebenauer Porträts aus dem Josefshaus

Quelle: N.N., Fotoarchiv Stiftung Liebenau, um 1960

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als zeitliche Abfolge der Fall wäre. 35 Eine strukturelle oder auch kompositorische Homologie entfaltet sich dann, wenn man die Bilder auf einem Tableau angeordnet betrachtet. Auf den ersten Blick sind sie sich ähnlich, zum Beispiel aufgrund der Kadrierung, der Art der Ganzkörperaufnahme, der Farb- und Lichtgebung, der Pose und der vergleichbaren Kleidung. Die Differenz der Bilder untereinander ergibt sich zum einen freilich dadurch, dass es sich auf jedem Bild um unterschiedliche Jungen und Männer handelt, zum anderen aber auch aus kleinen Details wie Requisiten oder der Kleidung (Abb. 48). Der Betrachterblick stellt nun mit Hilfe des vergleichenden Sehens Beziehungen zwischen den Einzelbildern eines Bildsystems her, indem er sie zuerst voneinander unterscheidet und sie dann auf ihre Familienähnlichkeit 36 auf der Basis einer dritten, gemeinsamen Kategorie hin untersucht, ohne dabei einen vorgängigen Urtypus oder ein Urbild festzustellen oder feststellen zu müssen, da die Serie dahingehend zunächst zwischen ihren gleichberechtigten Bestandteilen nicht hierarchisiert. 37 Das doppelte Werden von Bild und Behinderung, das durch den reinen und nur einen Sekundenbruchteil anhaltenden indexikalischen Moment arretiert wird, trifft so auf der Vergleichsebene auf eine machtvolle Praxis der diskursiven Stabilisierung durch Wiederholung, die dazu führt, dass Zuschreibungen an die Identität des fotografischen Referenten verfestigt und gleichsam ontologisiert werden. Die Präsentationsform des ›Nebeneinanders‹ von einzelnen Elementen in Form von Bildern geht dementsprechend eine Allianz mit der indexikalisch-ikonisch verschränkten funktionalen Zeichenfunktion der Fotografie ein, die den Charakter des ›Einfrierens‹ von sich im Prozess der Bildwerdung und des Behindert-Werdens befindenden Ereignissen verstärkt bzw. vervielfacht: Wenn durch die von Schaeffer beschriebene semiotische Verbindung der fotografische Referent im Einzelbild nicht nur als seinem Bild ähnlich, sondern als singulär, authentisch und wahrhaftig wahrgenommen wird, so wirkt sich dies in einer Zusammenstellung mehrerer Bilder zu einer Serie inso35 Da die Aufnahmen nicht nummeriert sind und gestapelt in einem Umschlag aus Papier gefunden wurden, stützt so natürlich dieses Argument, dass sie keinen erkennbaren Anfang und kein erkennbares Ende gehabt haben, wenngleich dies von dem Fotografen unter Umständen anders vorgesehen war. 36 »Familienähnlichkeit« ist auch ein Konzept, das Ludwig Wittgenstein als Vergleichsund Beschreibungskategorie verwendete. Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Werkausgabe, Band 1, §65-67. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 276-278. 37 Vgl. Dobbe, Martina: Fotografische Bildanordnungen. Visuelle Argumentationsmuster bei Francis Galton und Bernd & Hilla Becher. In: Ganz, David/Thürlemann, Felix: (Hrsg.): Das Bild im Plural. Berlin: Reimer Verlag 2010, S. 331-350, hier S. 340.

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fern auf dieses eine als auch auf alle anderen fotografierten Subjekte dahingehend aus, dass ihnen allen dieser Status der Singularität und Authentizität zugesprochen wird – jedoch nicht für jedes einzelne Bild, sondern für alle zusammen. Dementsprechend wird durch das vergleichende Sehen von Fotografien auf der Basis einer dritten, gemeinsamen Kategorie, von einem Bild auf das andere geschlossen, sodass die Wahrnehmung einer Wiederholung von Merkmalen oder Besonderheiten sich als ordnendes Prinzip stabilisiert und wiederum von der Serie auch auf das Einzelbild zurückwirkt. Der Bildvergleich scheint dabei einer »visuellen Überrumpelungskommunikation« 38 zu gehorchen und zwingt den Betrachter geradezu zur Konstruktion von Vergleichskategorien. Die sich dem Auge aufdrängenden Gemeinsamkeiten der Bilder verschwimmen mit den individuellen Körpern und Physiognomien der fotografischen Referenten und zeigen zugleich in einer Art Doppelbewegung zwischen Reduktion und Variation die relative Deutungsbreite innerhalb der Zuschreibung »Josefshaus« – und ebenso »männlich, schick gekleidet, behindert« – auf. Die Person im Einzelbild wird ihrer Einzigartigkeit beraubt und zugunsten einer allgemeinen Aussage über alle Bilder des Vergleiches entindividualisiert. Während einerseits also die Details zugunsten einer allgemeinen Aussage verschwinden, treten andererseits die besonderen und individuellen Eigenschaften im Vergleich erst in ihrer Differenz zutage. Diese wechselseitige Referenz von Einzelbild und Serie oder Tableau ebenso wie die zwischen Einzelbild und Archiv kann sich Sekula folgend auf zwei Arten vollziehen: Das Bild wird in ein Archiv eingebunden – oder das Archiv wird in ein Bild eingebunden. 39 Beide Operationen lassen sich an der Serie aus dem Josefshaus aufzeigen und als Blickregime von Behinderung deuten. 5.3.3 Fotografische Typen – das Archiv im Bild Die sich an der Erfindung der Fotografie entzündende Debatte um ihre Abbildfähigkeit und Naturtreue korrespondierte im 19. Jahrhundert durchaus auch mit dem Wunsch nach einem Habhaftwerden dessen, was der Gesellschaft sonst eher zu entgleiten schien: das Kriminelle, das Deviante, das Abweichende, das Wahnsinnige, verkörpert durch den Verbrecher, den Krüppel, das Monster, den Irren. 40 Das ›Andere‹ erfassen zu können und vom ›Normalen‹ scheiden zu können, 38 Leggewie, Claus/Mühlleitner, Elke: Die akademische Hintertreppe. Kleines Lexikon des wissenschaftlichen Kommunizierens. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2007, S. 70f. 39 Vgl. Sekula 2003, S. 325. 40 Vgl. ebd., S. 274.

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wurde so zum Projekt vieler Wissenschaftler und brachte zahlreiche Versuche der Typologisierung und Taxonomisierung der Menschheit in und durch die Fotografie hervor, denen Operationen der Produktion, des Vergleichens und des Kategorisierens (und des erneuten Präsentierens) eingeschrieben sind. Gleichsam war ihr Anspruch, anhand von fotografischen Verfahren und Vergleichen allgemeine Aussagen über Individuen oder Gruppen von Menschen zu treffen. Die Hoffnung, durch das Anfertigen vieler Bilder eine entsprechend große Menge an ›Daten‹ erheben zu können und daraus ein hohes Maß an Objektivität abzuleiten, spiegelt sich nicht nur in der Entwicklung von technischen Bildgebungsverfahren wider, sondern begleitet die Porträtfotografie von Beginn an als ideologischer ›Schatten‹. Der englische Wissenschaftler Francis Galton, der im 19. Jahrhundert mit Hilfe von Kompositfotografien versuchte, aus einer größeren Menge an Einzelbildern ein Destillat zu erzeugen, verfolgte damit das Ziel, verdichtete und transindividuelle Typen für eine Gruppe von Menschen, zum Beispiel Soldaten oder Ärzte, zu erhalten. 41 Die Mehrfachbelichtung des fotografischen Materials und die anschließende Retusche sollten so das Individuum zugunsten eines allgemeingültigen Typus in den Hintergrund treten lassen (Abb. 49). Die Voraussetzung dafür ist die Zuschreibung an die Fotografie, Dinge für das menschliche Auge sichtbar machen zu können, die ohne diese unsichtbar geblieben wären. Die damit produzierte Durchschnittlichkeit zeitigt so innerhalb von Galtons Logik nicht nur realistische Effekte, sondern ist gleichsam als eine Methode der Objektivierung zu verstehen, die darauf abzielt, Individuen auf der Grundlage ihrer äußeren Merkmale in Kategorien einzuordnen. Was Ian Hacking als »making up people« 42 beschreibt, ist somit tief in der Diskursgeschichte der Fotografie verankert und äußert sich bei Galton in seinem eigenen Anspruch, die Kompositfotografie in den Dienst von Rassenhygiene und Eugenik zu stellen, um so wiederum auf das Individuum außerhalb der Fotografie wirken zu können. Das disziplinarische Potenzial, das der Fotografie inne zu liegen scheint, beruht somit zum einen auf der Zuschreibung von chemisch-mechanisch induzierter Objektivität und zum anderen auf dem damit verbundenen und in den im 19. Jahrhundert erstarkenden naturwissenschaftlichen Objektivierungsverfahren durch

41 Vgl. Stiegler, Bernd: Albert Renger-Patzsch. Über die Grenzen unseres Metiers. Kann die Photographie einen Typus wiedergeben? Text, Kontexte und Dokumente. In: Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft (Hrsg.): Hofmannsthal-Jahrbuch zur Europäischen Moderne. Freiburg i. Br.: Rombach Verlag 2009, S. 89-146, hier S. 98. 42 Hacking, Ian: Making Up People. In: London Review of Books 28 (16) 2006.

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Abbildung 49: Francis Galton: Komposit-Tafel

Quelle: Te Heesen, Anke: Das Archiv. Die Inventarisierung des Menschen, in: Lepp, Nicola/Roth, Martin/Vogel, Klaus (Hrsg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Ostfildern: Cantz Verlag 1999, S. 124, Ende 19. Jh.

Statistiken und Versuchsreihen. 43 Nicht zuletzt beschrieb Galton selbst seine Methode als »Bildstatistik«, als »Äquivalente jener umfangreichen statistischen Tabellen, deren durch die Anzahl der Fälle geteilten und unter dem Strich eingetragenen Gesamtsummen des Mittelwert bilden.« 44 Das Kompositbild liefere demnach auf einer wissenschaftlichen Grundlage Auskünfte über den Durchschnittsmenschen, so seine Hoffnung. Doch auch zeitlich spätere und vor allen Dingen künstlerische fotografische Typologisierungsversuche wie jene von August Sander scheinen auf der Basis eines vergleichenden Sehens von Einzelbildern und der Anordnung als Serie oder Tableau und der vorausgehenden oder auch erst anschließenden Verdichtung im Typus als verschleierter Ausdruck eines Mittelwertes zu funktionieren. Sander hatte seine von Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre aufgenommenen und gesammelten Porträts als grundsätzlich immer wieder neu und 43 Vgl. Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objektivität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 133-200. 44 Zitiert nach Sekula 2003, S. 314.

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demgemäß seriell ordnungsfähig angelegt. Dadurch hat er die Vergleichbarkeit einzelner Bilder seines Werks insofern impliziert, als dass er mit seinem auf einem zyklischen System beruhenden Mappenwerk bereits Vergleichsebenen in sozialpolitischer Hinsicht eingezogen hatte, indem er die abgelichteten Menschen in Stände und Gruppen einteilte. Diese Einteilung erfolgte auf der Basis der Zuschreibung von bestimmten Typen, die Sander Walter Benjamin zufolge durch »Beobachtung« entdeckt habe und die er fotografisch lediglich festhielt. 45 Für sein Anliegen, mit Hilfe eines typologisch-enzyklopädischen Ansatzes eine rein visuelle Aussage über die deutsche Gesellschaft in Form eines Kollektivporträts treffen zu können, bediente er sich der Fotografie mit Bruno Latour gesprochen als »immutable mobile« 46, indem er aus seinem eigenen Bildarchiv heraus immer neue Anordnungen, Serialisierungen und Präsentationsformen für seine Werke kreierte. Durch die Möglichkeit, seine Einzelwerke immer wieder neu anordnen zu können, produzierte Sander jedoch auch immer wieder neue typologische Bezüge und antizipierte so ein vergleichendes Sehen insofern, als er den Betrachter zum Zweck einer politischen Aussage Gemeinsamkeiten wie auch Differenzen zwischen den Einzelbildern entdecken lassen wollte. Die abgebildeten Menschen, die Sander nach eigenen Aussagen so vorurteilslos wie möglich habe zeigen wollen (jedoch nur im Rahmen des ihnen zugewiesenen Typus!), bewegen sich entsprechend zwischen Subjektivierung und Objektivierung, da sie einerseits als Porträtierte eine Art von Bildwürdigkeit haben verliehen bekommen, andererseits aber zugleich für etwas anderes stehen, das sich nur in ihrer Einordnung in ein serielles System ausbildet: »Bei der Photographie ist es wie bei einem Mosaikbild, das erst dann zur Synthese wird, wenn man es in der Zusammenballung zeigen kann.« 47 Sander ging es somit zwar nicht dezidiert um den Beweis für die Existenz oder um die Produktion von devianten und nicht-devianten Subjekten anhand seiner fotografischen Studien, jedoch durchaus um das Zurücktretenlassen individueller Merkmale seiner Referenten zugunsten einer Durchschnittlichkeit, die durch das Betrachten der Serien, zum Beispiel in »Antlitz der Zeit«, sich demjenigen, der die Einzelbilder miteinander in Verbindung bringt, erschließt und in den Eindruck einer typologischanthropologischen Bestandsaufnahme überführen soll. Durch das ›Verdichten‹ 45 Zitiert nach Stiegler 2009, S. 93. 46 Latour versteht darunter ein mobiles Objekt, das zugleich aber zeichenkonstant ist. Vgl. Latour, Bruno: Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente. In: Belliger, Andréa/Krieger, David J.: ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript 2006, S. 259-307, S. 275f. 47 Schneider 2011, S. 27.

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von Einzel- und Besonderheiten seiner Sujets reduziert er sie auf einen bestimmten Typus, der wiederum stellvertretend für alle Menschen dieser Kategorie steht und als ›pars pro toto‹ Aussagen über diese trifft – und sie so miteinander vergleichbar macht. Sein Wunsch nach einer »Synthese« von Einzelbildern entspricht einem typologischen Verfahren, wie es Galton in der Kompositfotografie ausdrückte: Er lässt, wenngleich auch in Gedanken und nicht als tatsächliche technische Praxis, viele Aufnahmen zu einem einzigen Bild verschmelzen. Das Gegenüberstellen und Abgrenzen dieser einzelnen Synthesen voneinander zeigt sich dann auch in der dramaturgischen Anordnung der Mappen, die zwischen der Stammmappe und der letzten Mappe der »letzten Menschen« allein schon durch die Nomenklatur ihre diametralen Positionen innerhalb seiner Typologie anzeigt. 48 In welchem Verhältnis stehen nun die Experimente Galtons, die Typenbildung Sanders und die Liebenauer Bilder? Meine These ist, dass letztere zum einen den ausformulierten Typus im Sinne Sanders darstellen, also das, was der von ihm angestrebten Synthese vorausgeht, und zum anderen so als einem Kompositbild Galtons vorgängig gedacht werden können. Indem ich die Porträts des ›unbekannten Fotografen‹ miteinander und nicht als Einzelbilder präsentiere und sie dadurch in einen Vergleich setze, treten bei der Betrachtung der Bilder im Anschluss an das sich über die Serialität entfaltende skizzierte visuelle Regime die individuellen, sich auf der Körperoberfläche manifestierenden Eigenschaften der abgebildeten Liebenauer Bewohner aufgrund der strukturellen und kompositorischen Gemeinsamkeiten der Bilder hinter die selbige zurück. So entsteht lediglich durch das Sehen eine Art ›Meta-Bild‹, das dem Anliegen Sanders, ein »physiognomisches Zeitbild« zu schaffen, sehr nahe kommt und durch Wiederholung und Variation Eingang in das kulturelle Sehen findet. Nicht der ›individuelle Kern‹ des Einzelporträts, sondern seine durch das vergleichende Sehen forcierte Reduktion auf jene Eigenschaften, die es mit den anderen Bildern in seinem als Serie oder Tableau gestalteten Umfeld gemein hat, bewirkt, dass die Aufnahmen ineinander überzugehen scheinen und in einem inneren Kompositbild konvergieren, das die Essenz der Serie bildet. Dieses nur durch das Sehen und Vergleichen der Bilder entstandene Destillat als Gedankenbild verweist folglich nicht mehr auf die hinter ihr stehenden Einzelbilder, sondern lediglich auf die Operation des Verdichtens und Synthetisierens. Was bleibt, ist die Zuschreibung, die durch die Grenzen der Serie und die Grenzen des Archivs definiert wird: Es ist der oder ein Typus von Nicht-Normalität und im Rahmen der und im Wissen um die Anstalt ein Typus von Behinderung, der dem Außen dieser Grenzen, der Normalität, gegenübergestellt wird. 48 Vgl. Kapitel 4.2.

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Wenngleich, wie bereits betont, die Intention einen Typus von Behinderung erschaffen zu wollen dem Fotografen aus dem Josefshaus nicht nachgewiesen werden kann und soll, so wird hier doch deutlich, dass dem Ansatz der Visual Studies folgend gerade nicht die historischen Umstände, die Ideologie des Künstlers oder exakte Daten notwendig sind, um ein Bild auf die Praktiken des Sehens befragen zu können bzw. das Sujet im kulturellen Bilderrepertoire zu verorten. Es ist eben jenes Sehen, welches die Einzelbilder jeweils für sich als Ereignis konstituiert, und der naturwissenschaftlich-statistische Blick als eine von vielen Praktiken, der zwischen den Ereignissen Beziehungen und Referenzen herstellt und sie gleichsam unter diesem Einfluss als Blickregime zurichtet. Typologie, verstanden als Bezugssystem äußerer Erscheinung auf ein unsichtbares Inneres, weist den Subjekten einen Platz in einer (visuellen) Ordnung zu und muss deshalb zwangsläufig auf einer Verquickung von Index und Ikon beruhen, um dem fotografisch festgehaltenen Referenten einen klaren Typus zuordnen und ihn so in Beziehung oder Abgrenzung zu anderen Typen setzen zu können. August Sanders Anspruch, die »Menschen des 20. Jahrhunderts« so zu zeigen, wie sie ›wirklich‹ sind, läuft folglich hier dem zuwider, was er mit dem »Mosaik-Bild« 49 ausgedrückt hat – und zwar nicht nur, weil Benjamin Sander bescheinigt hat, die Typen im Vorfeld des Fotografierens auf der Basis von Beobachtungen festgelegt zu haben. Galtons Vertrauen in die Objektivität der Fotografie als wissenschaftliches Aufzeichnungsverfahren operiert mit ähnlichen Zuschreibungen und referiert dadurch nicht nur auf die Tradition der Physiognomie. Vielmehr lässt es sich gleichsam als von anderen Blickregimen zugerichtetes Blickregime verstehen, das im Anschluss an das medizinische Modell von Behinderung das Subjekt auf der Grundlage seiner äußerlichen Merkmale definiert, verdichtet und mit Hilfe der Fotografie zu verobjektivieren versucht, es dabei aber geradezu gegenläufig mit einer starken Bedeutung auflädt. Sowohl Galton als auch Sander beriefen sich dadurch weder auf einen indexikalischen noch auf einen ikonischen Zeichenstatus der Fotografie, sondern auf einen symbolischen, durch welchen anhand eines fotografischen Erzeugnisses eine allgemeine Aussage über den Gegenstand möglich werden sollte. 50 Folglich zeigt sich ein interessantes Wechseloder gar Spannungsverhältnis zwischen der Produktion von Behinderung im Einzelbild und der Herstellung derselbigen in der Serie, das deren semiotischen Status wesentlich verändert: Die Fotografie als ikonisch-indexikalisches Zeichen wird in ein symbolisches Zeichen transformiert, das nun die Bildung eines Codes zulässt und infolgedessen die Aufnahmen mit einer Bedeutung versieht. So ist 49 Schneider 2011, S. 27. 50 Vgl. Sekula 2003, S. 324.

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der Blick auf die Bilder der jungen Männer aus dem Josefshaus, wie ich im ihnen gewidmeten Analysekapitel zeigen konnte, im Einzelbild durch eine innerbildliche wie auch sozial erzeugte Infantilisierung geprägt, die als Index mit ikonischer Funktion verobjektiviert und authentifiziert wird. Im Anschwellen zur strukturhomologen Serie und dem gleichzeitigen Zusammenfallen zu einem Typus, nämlich dem von ›Behinderung‹, schließt sich der Riss«, den der Index hinterlassen hat – und öffnet zugleich einen neuen (Be-)Deutungshorizont. 51 Die individuelle Infantilisierung verwandelt sich in eine alle Bilder umfassende Aussage über die visuelle Unterscheidung zwischen Normalität und Nicht-Normalität und bringt dadurch die Zuschreibung als ›behindert‹ hervor. Das Blickregime umfasst diese semiotische Wechselbeziehung und macht sie sich als Strategie der visuellen Hegemonialisierung zu Eigen. 5.3.4 Objektivierung durch Vereinheitlichung – das Bild im Archiv Um die zweite Möglichkeit, Bild und Archiv miteinander in Verbindung zu bringen, zu diskutieren, gehe ich noch einmal zurück zum ›Anfang‹ und der Serie der jungen Männer aus dem Josefshaus: Der Fotograf, der die Bewohner der »Knabenabteilung« derart gleichförmig arrangiert hat, mochte damit etwas bezweckt haben, das hier nicht mehr zu rekonstruieren ist. 52 Jedoch ist es genau jene Gleichförmigkeit, die nahezu exakt wiederholte Kadrierung und Einstellungsgröße, die darauf schließen lässt, dass es ihm durchaus um eine Art von Vergleichbarkeit gelegen war, die sich meines Erachtens jedoch nicht gesichert auf eine statistisch-registrierende Intention wie bei einer Patientenfotografie in der Krankenakte zurückführen lässt, da die bereits angeführten Merkmale der Familienfotografie, wie sie Bourdieu skizziert, zu überwiegen scheinen. Nichtsdestotrotz ist durch eben jene kompositorische Ähnlichkeit den Bildern eine synchrone Serialität eingeschrieben, die nicht nur wie bereits ausgeführt eine typologische Lesart zulässt, sondern auch die Frage nach ihrer tatsächlichen archivalischen

51 Vgl. Dubois 1986, S. 55. 52 Möglich und denkbar ist so durchaus, dass der Fotograf die zu besonderen Anlässen entstandenen Aufnahmen an die Familien des jeweiligen Bewohners des Josefshaus übermittelt hat und diese so von der seriellen Anlage der Bilder nicht tangiert wurden, sondern lediglich das ihnen geschickte Foto als isoliertes Einzelbild und als individuelles Erinnerungsstück wahrnahmen.

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Abbildung 50: Alphonse Bertillon: Signalement

Quelle: Te Heesen, Anke: Das Archiv. Die Inventarisierung des Menschen, in: Lepp, Nicola/Roth, Martin/Vogel, Klaus (Hrsg.): Der Neue Mensch. Obsessionen des 20. Jahrhunderts. Ostfildern: Cantz Verlag 1999, S. 123), 1888

Funktion aufwirft. Ist nicht nur die Fotografie an sich, sondern auch die fotografische Serie als Archiv zu verstehen – und wenn ja: Welches Verhältnis zwischen den einzelnen Bildern, ihrem Auftreten als oder im Archiv und dem Sehen von Behinderung/Nicht-Behinderung kann so beschrieben werden? Dazu bietet es sich an, einen Zeitgenossen Galtons und immer wieder mit diesem verglichenen Akteur als Beispiel heranzuziehen: Alphonse Bertillon, Leiter des Erkennungsdienstes bei der Pariser Polizei, stand mit seinem Verfahren im foto-euphorischen 19. Jahrhundert zwar nicht auf der Seite jener, die der Fotografie als »Zeichenstift der Natur« zujubelten, gleichsam aber schrieb er ihr durchaus zu, individuelle menschliche Erkennungsmerkmale erst zum Vorschein bringen zu können – wenngleich nicht wie bei Galton im Komposit-, sondern bereits im sorgfältig arrangierten Einzelbild (Abb. 50). Er entwickelte um 1880 ein fotografisch-anthropometrisches Erkennungs- und Erfassungssystem für Kriminelle, das in erster Linie auf der Vermessung des Menschen, dem Vergleich der so erhaltenen Daten und der Berechnung einer Durchschnittlichkeit basierte. Dazu vermaß Bertillon zunächst die ihm vorgeführten Beschuldigten (Bertillonage), fertigte dann eine detaillierte schriftliche Personenbeschreibung an (portrait parlé), berücksichtigte dabei besondere Kennzeichen (zum Beispiel Tätowierungen etc.) und schoss abschließend Fotografien mit standardisierter Brennweite, gleicher Beleuchtung und vor neutralem Hintergrund, um diese Fotografien dann mit Messwerten in Verbindung zu bringen und daraus mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnung aus körperlichen Zeichen wieder Text werden zu lassen und in ein Karteikartensystem zu überführen. 53 Mit diesem vereinheitlichten

53 Vgl. Regener 1999, S. 131.

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Verfahren reagierte er auch auf seine Vorgänger in der Fotografie von Kriminellen, die ihre ›Modelle‹ zu nah an den Darstellungskonventionen der bürgerlichen Atelierfotografie inszeniert und abgelichtet hätten und denen er vorwarf, dadurch von ihrem eigentlichen Fokus, dem der naturgetreuen Abbildung zur Wiedererkennung devianter Subjekte, zu weit abzurücken. 54 Der Liebenauer Fotograf scheint mit seinem Verfahren hinsichtlich des fotografischen Aktes zumindest nicht weit von Bertillon entfernt zu sein. Auch er arrangierte die jungen Männer vor einheitlichem Hintergrund, bei gleichbleibender Beleuchtung und wählte stets denselben Ausschnitt für seine Aufnahmen. Zwar ist nicht bekannt – und es erscheint auch eher unwahrscheinlich aufgrund der familiären Atmosphäre, auf die ich in Zusammenhang mit seinen Bildern hingewiesen habe – ob zusätzliche Daten in Form von Messwerten etc. zu den Aufnahmen existieren. Dies ist aber auch nicht von Relevanz, wenn man sich darauf konzentriert, die Fotografie und insbesondere ihr Auftreten als Serie selbst als archivalisches Medium, abseits der sie häufig begleitenden Datierung zu verstehen. Indem der Liebenauer Fotograf seine fotografischen Subjekte derart gleichförmig im Setting und dann auch fotografisch komponiert, bindet er sie in ein »segmentiertes Ganzes« 55 ein, das gleichsam als ein von anderen Archiven abgegrenztes Archiv zu verstehen ist: ein Archiv von Behinderung. Auch Bertillon verfährt nach dieser Prämisse. Da es ihm nicht darum ging, vom Verbrecherkörper auf die Disposition seines Charakters zu schließen, sondern auf der Basis fotografischer Abbildgenauigkeit »endgültige, unwiderlegbare Zeichen im Prozess der Identifikation« festzustellen, versteht er das einzelne Bild bereits selbst als Archiv und ordnet es wiederum in das Dispositiv des Karteikartensystems ein, das gleichsam als Archiv von Verbrechern, von devianten Subjekten zu verstehen ist. 56 Damit schied er den Kriminellen vom Nicht-Kriminellen durch die vermeintliche Objektivität des fotografischen Verfahrens und ergänzte diese noch zusätzlich durch das portrait parlé, um diese Grenzen noch unumstößlicher zu stabilisieren. Diese Grenze ist in Liebenau aber auch durchaus eine sichtbare, nämlich die Anstaltsgrenze, die die Differenz zwischen Normalität und NichtNormalität materiell markiert. Die Konsequenz ist in beiden Fällen die fotografische Produktion einer sozialen Ordnung diesseits und jenseits einer sozial ausgehandelten Normalitätsgrenze. Schließlich beruht die Anwendung serieller Verfahren bei Bertillon wie auch beim Fotografen aus dem Josefshaus auf der technischen Produktionsweise, dem gestalterisch-kompositorischen Prinzip sowie in der sichtbar-materialisierten oder auch geistigen Präsentation der fertigen Bilder 54 Vgl. ebd., S. 148. 55 Sekula 2003, S. 300. 56 Vgl. Sekula 2003, S. 302.

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in der Zusammenstellung als Tableaus. 57 Das Rückbinden der durch das Aufnahmeverfahren entstandenen Fotografien an alle anderen in diesem Zusammenhang aufgenommenen und gesammelten Bilder von Delinquenten oder Menschen mit Behinderung ergeben so nicht nur in materieller Hinsicht ein Archiv dessen, was als ›abweichend‹ und folglich ›deviant‹ gilt und deshalb in den Aktenschränken der Pariser Polizei bzw. den Schachteln und Kisten des Liebenauer Archivs verwahrt wird. Vielmehr werden die Bilder und mithin die Fotografie als »virtueller Zeuge wissenschaftlicher Beobachtung« 58 Teil eines panoptischen Prinzips, welches das Subjekt einer Macht unterwirft, die nicht allein auf einer bestimmten Architektur gründet, sondern es in Techniken und Praktiken der Selbstbeobachtung und Selbstführung einbindet. Diese Wechselbeziehungen von Archiv, Serie und fotografischem Einzelbild können nach diesen Vergleichen mit Sander, Galton und Bertillon folgendermaßen zusammengefasst und auf das Liebenauer Archiv übertragen werden: Galtons fotografisches Kompositverfahren, Bertillons erkennungsdienstliche Fotografie des 19. Jahrhunderts und Sanders sozialdokumentarische Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts wie auch die Liebenauer Aufnahmen beruhen allesamt auf den Prinzipien von Serialität und Vergleich. Alle Fotografen geben das Arrangement vor der Kamera vor, welches bei Bertillon und Galton durch im Vorfeld errichtete Apparaturen und Messvorgänge determiniert ist, bei Sander durch die Positionierung seiner Referenten vor einem für sie ›typischen‹ Hintergrund oder in einer standesgemäßen Pose. Durch diese Vorkehrungen rechtfertigen sie auch den objektivierenden Anspruch, den sie damit formulieren, nämlich ihre Referenten so zu zeigen, wie bzw. wer sie ›wirklich‹ sind. Dem Liebenauer Fotografen, der die jungen Männer aus dem Josefshaus derart gleichförmig arrangiert hat, kann nur unter großem Vorbehalt zugeschrieben werden, dass eben jene Insbildsetzung der Vergleichbarkeit der Referenten diente. Vielmehr ergibt sich der serielle Charakter hier besonders aus der Wahrnehmung und dem vergleichenden Sehen als Kulturtechnik. Alle vier Fotografen eröffnen neben dem seriellen Gestaltungsprinzip und der fotografischen Eigenlogik der technischen Reproduzierbarkeit noch eine Dimension von Serialität, indem die Aufnahmen mit dem Ziel, neue Erkenntnisse über das jeweilige gerahmte Subjekt zu gewinnen, beliebig rekombiniert werden konnten, um durch das vergleichende Sehen 57 Zum Zwecke der Verobjektivierung der Kriminellen wurden sie alle auf eine gleichförmige und einheitliche Art und Weise fotografiert, Details ihrer Bilder miteinander verglichen und diese dann zu Serien und Tableaus angeordnet, um auf die Ausgeprägtheit bzw. Abweichung eines oder mehrerer der Details, zum Beispiel die Nase oder das Ohr, aufmerksam zu machen. Vgl. Regener 1999, S. 134ff. 58 Edwards 2003, S. 337.

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eine permanente Neuformulierung dieser Beobachtungen ermöglichen. Aufgrund des sich daraus ableitenden taxonomischen Prinzips können Entwicklungszusammenhänge erklärbar gemacht und eine Ordnung geschaffen werden, die sich letztlich nur durch sich selbst und das eigene ihr zur Verfügung stehende Archiv als Sammlung der Bedingungen von Aussagemöglichkeiten stabilisiert hat. Durch die entsprechenden technischen Methoden und ideologischen Prämissen stellt die jeweilige visuelle Ordnung zugleich ein Versprechen archivalischer Natur dar, das die Dichotomie von Normalität und Nicht-Normalität in sich trägt, durch Strategien der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung verhandelt und wiederum zurückwirkt auf eine vor-archivalische gesellschaftliche Ordnung, die so immer wieder neu verfasst wird. 59 Die Aufnahmen aus Liebenau stellen im Anschluss an Allan Sekulas Vergleich von Galton und Bertillon in ihrer Neu-/ An-/Um-Ordnung ein Archiv dar, das durch Abgrenzung zu anderen Serien und Archiven in sich eine Kohärenz erzeugt und »die Zonen der Devianz und der Ehrbarkeit klar voneinander« trennt.60

5.4 D IE F OTOGRAFIE

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IM

ARCHIV

Von diesen Überlegungen ausgehend möchte ich das daran entwickelte fotoarchivalische Prinzip noch einmal zusammenfassen: Die Fotografie als unterschiedslos und bedeutungslos aufzeichnendes Medium ist bereits in ihrer materiellen Inkarnation oder Manifestation als eine Fotografie insofern als ein Archiv zu begreifen, da sie als Einzelbild in einem Rahmen das festhält, was sonst verschwunden wäre. Der fotografische Referent, der im fotografischen Akt stillgestellt wird, wird zum Träger archivalischer Zeichen und Aussagen, die durch Strategien der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung preisgegeben werden, die wiederum durch das kulturelle Sehen mit Bedeutung aufgeladen werden können und so Narration produzieren. Die fotografische Serie macht sich ebenso wenig nur die indexikalische oder die ikonische Zeichenqualität oder deren Verbindung im »Kurzschluss« zu eigen, sondern stattet sie vielmehr zusätzlich mit einer symbolischen Lesart aus, die über den Fingerzeig des »es-ist-so-gewesen« hinaus anhand des vergleichenden Sehens Bedeutung generiert, indem sie auf der Ebene einer gemeinsamen Vergleichskategorie agiert. Sie ist damit insofern zum einen selbst Archiv, als dass sie unendlich viele kleine Archive in Form von Einzelbildern in sich vereinigt. Zum anderen aber ist die Serie auch deshalb als

59 Vgl. Sekula 2003, S. 239. 60 Sekula 2003, S. 284.

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Archiv aufzufassen, da sie durch das Hervortreten ihrer Elemente unter bestimmten Fragen oder Gesichtspunkten Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten regelt und eine sich immer wieder neu verfassende Ordnung produzieren kann. Die Verschränkung von fotografischen Serien diachroner und synchroner Art zu einem dichten Netz, das durch Kombination und Rekombination regelt, welche Erzählungen überhaupt produziert werden können, lässt sich somit ebenfalls als ein archivalisches Dispositiv verstehen, das sich erst durch diese Verbindung seiner Elemente konstituiert. Gerade das fotografische Archiv ist deshalb besonders als »Schatzkammer des Wirklichen« 61 zu begreifen: Es wird zugleich und dementsprechend zum mehrfachen »Zeugen wider Willen« 62, da es durch die Verknüpfung von Einzelbild, Serie und Archiv als jeweils in sich funktionierende und willenlos aufzeichnende, registrierende und ordnende Aussagesysteme immer wieder neue Erzählungen produzieren kann, die durch das Sehen mit Bedeutung aufgeladen und in einen größeren Kontext rückgebunden werden. Die ›Schätze‹, die es so immer wieder neu aus der »Schatzkammer« entbirgt, stabilisieren sich aufgrund der Zuschreibung eines Index mit ikonischer Funktion dahingehend, dass sie als Zeugen der Objektivität und Authentizität einer fotografischen Aufnahme die doppelte Ereignishaftigkeit von Behinderung und Bild aussetzen und das fotografische Produkt rückwirkend als Instrument und Methode des Erkenntnisgewinns konstruieren. Dieser epistemologische Schatz wird infolgedessen nicht als Produkt von sozialen Praktiken und technischen Bedingungen und somit als von Blickregimen konstituiert erkannt, sondern essentialisiert und als Erzählungen von Behinderung und Nicht-Behinderung in das kulturelle Bilderrepertoire zurückgespeist und beeinflusst das Sehen in einem sich so immer wieder neu verfertigenden hermeneutischen Prozess. Das fotografische Archiv offenbart sich als ein ›Schachtelprinzip‹ gedacht, das in dem Maße, wie es Informationen zur Verfügung stellt, diese auch in seinen Untiefen verschwinden lässt. Dadurch wird es zur machtvollen Technik und zugleich zu einem Akteur in der Praxis der gesellschaftlichen Grenzziehung – und bringt diese Gesellschaft(en) zugleich erst hervor. 63 61 Ebeling, Knut: Das Gesetz des Archivs. In: Ebeling, Knut/Günzel, Stephan (Hrsg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos 2009, S. 61-88, hier S. 84. 62 Zitiert nach Ricœur, Paul: Archiv – Dokument – Spur. In: Ebeling, Knut/Günzel, Stephan (Hrsg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin: Kadmos 2009, S. 123-137, hier S. 136. 63 Vgl. Hacking, Ian: The Looping Effects of Human Kinds. In: Sperber, Dan/Premack, David/James Spermack, Anne (Hrsg.): Causal cognition: a multi-disciplinary debate. Oxford: Clarendon Press 1995, S. 351-383.

6. Behinderung (nicht) zeigen? Schluss.

Die Liebenauer Bilder sind »Bilder, die noch fehlten«. 1 Ihre Analyse schließt eine historische als auch medienwissenschaftliche Lücke zwischen medizinischpsychiatrischer Fotografie sowie zeitgenössischer Werbe- und Kunstfotografie und macht so deutlich, dass Bilder am ableism von Menschen mit Behinderung zwar beteiligt sind, ihre mediale und gesellschaftliche Schlagkraft jedoch nicht allein einer diskriminierenden Haltung des Fotografen oder des Betrachters zugewiesen werden kann. Als Produkte von Praktiken und Techniken der Visualisierung und des Sehens beeinflussen sie das gesellschaftliche Bild von Behinderung in gleichem Maße, wie gesellschaftliche Sichtweisen ihren Weg in die Bildproduktion finden und verändern dadurchpermanent das kulturelle Bilderrepertoire durch ihre wechselseitige Referenznahme. Wenngleich ihre präzise historische Rekontextualisierung nicht umfassend möglich ist, so legen die Aufnahmen aus Liebenau in ihrer Konstitution als fotografische Erzeugnisse offen, dass die Unterscheidung zwischen ›behindert‹ und ›nicht behindert‹ anhand von Strategien ins Bild gesetzt wird, die zwischen Sichtbarmachung und Unsichtbarmachung, zwischen Normalisierung und Denormalisierung oszillieren. Die Bedingung für die Beschreibung dieser Bewegungen ist das Stillstellen des Sujets in der Kadrierung einerseits und andererseits die Reflexion des semiotischen Status der Fotografie zwischen natürlichem Abdruck und sozialer Konstruktion. So hat sich gezeigt, dass eine Verknüpfung der Annahmen eines kulturwissenschaftlichen Verständnisses von Behinderung innerhalb der Disability Studies mit einem dynamischen Bildbegriff der Visual Studies insbesondere dann zu einer ›Fest-Stellung‹ von Normalität und Nicht-Normalität als Kategorien führt, wenn die Fotografie als Sammlung von Praktiken und Techniken der Insbildset-

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Bilder, die noch fehlten. Zeitgenössische Fotografie. Ausstellungskatalog zur gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum vom 6. September bis 8. Oktober 2000. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2000.

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zung ernst genommen wird und ihr diskursiv essentialisierendes Potenzial in den Fokus der Betrachtung rückt. Eben weil der Fotografie (immer noch) zugeschrieben wird, sie könne etwas zeigen, das ohne sie nicht sichtbar wäre und vor allen Dingen: nicht ›wahr‹ wäre, wirkt sich dies auf den gesamten fotografischen Akt aus, der trotz seiner sozialen, kulturellen und technischen Codierung vor und nach dem Auslösen der Kamera im Lichte dieser Zuschreibung decodiert wird. Diese Studie hatte es sich dabei mitnichten zum Ziel gesetzt, auf eine normative Art und Weise für eine Notwendigkeit einer veränderten Bildpraxis zu sprechen und Handlungsanweisungen für das ›richtige‹ oder »realistische Bild« 2 von Behinderung abzugeben. Stattdessen sollte anhand von dicht am vorgefundenen Bildmaterial argumentierenden Beschreibungen deutlich gemacht werden, dass (fotografische) Visualisierungsstrategien existieren, die das Verhältnis von Behinderung und Nicht-Behinderung als sich gegenseitig konstituierende Kategorien im Bild selbst verhandeln und so diese Unterscheidung erst hervorbringen. Das Aufzeigen dieser Strategien impliziert den Betrachter als konstitutiven Teil von ›Behinderung‹ produzierenden Blickregimes, und macht dabei deutlich, dass die theoretische Verschränkung von doing dis/ability und doing images besonders im fotografischen Medium aufgrund von dessen Eigenlogik auf Widerstände stößt, das ›Werden‹ von Behinderung in der Wahrnehmung in ein ›Sein‹ überführt und es zu einer essentiellen Gegebenheit oder Eigenschaft werden lässt. Damit wird keineswegs die Modellbildung der Disability Studies obsolet, noch soll negiert werden, dass auch und gerade Bilder zur Diskriminierung von Menschen mit Behinderung beitragen können, indem sie durch gezielte Anwendung ausgrenzender Strategien auf ihre ›Devianz‹ reduziert werden. Gerade die immer lauter werdenden (und durchaus berechtigten) Rufe nach einer nicht diskriminierenden, angemessenen und weniger spektakularisierenden medialen Darstellung von Menschen mit Behinderung zeitigen dabei aber durchaus Effekte der Exklusion, und das nicht nur aus dem Bildfeld, sondern auch aus der sogenannten ›Normalgesellschaft‹. 3 Dabei scheinen auch immer wieder Argumente gegen den »klinischen Blick« eine Rolle zu spielen, zum Beispiel wenn Portale wie leidmedien.de darauf aufmerksam machen, dass in der Berichterstattung Menschen mit Behinderung nicht anhand der Zuschreibung einer (körperli2

Mürner/Sierck 2011, S. 7.

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Die erfolgreiche und preisgekrönte Initiative leidmedien.de, gegründet von den Sozialhelden e.V. in Kooperation mit der Aktion Mensch e.V., nimmt sich seit einigen Jahren auf ihrer Homepage der Beratung von Journalist_innen an, die über Menschen mit Behinderung berichten. »Hintergrund ist die Beobachtung, dass behinderte Menschen oft einseitig dargestellt werden.« Vgl. http://leidmedien.de/uber_uns/ubermenschen-mit-behinderung-berichten/ (letzter Zugriff am 08.05.2016).

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chen) Schädigung identifiziert werden und damit als defizitär gekennzeichnet werden sollen, sondern »mit der Normalität ihres Lebens gesehen« werden möchten. 4 Nun stellt sich jedoch im Hinblick auf die beispielsweise in der Einleitung angeführten Projekte zeitgenössischer fotografischer Praxis die Frage, ob es diesen tatsächlich gelingen kann, anhand alternativer oder neuer Strategien ›Behinderung‹ nicht wieder als radikalen Gegenpol zu ›Normalität‹ herzustellen und ins Bild zu setzen, sondern ihrem eigenen (politischen) Anspruch gerecht werden können, eine inklusive Gesellschaft auch visuell zu repräsentieren. Das von Anastasia Umrik (Studentin, Aktivistin und selbst mit einer Behinderung lebend) initiierte Fotoprojekt »anderStark. Stärke braucht keine Muskeln«, das inzwischen als vielbeachtete Wanderausstellung durch Deutschland zieht, hat es sich zum Ziel gemacht, »der Öffentlichkeit zu zeigen, dass die Frauen mit ihrer starken körperlichen Einschränkung im Leben stehen, keine Angst vor Herausforderungen haben und das Leben in vollen Zügen genießen«. 5 Die »außergewöhnliche« Inszenierung von Frauen und Mädchen mit einer Muskelerkrankung soll »auf ästhetische, künstlerische, provokative und ironische Art und Weise die scheinbar unterschiedlichen Welten – die der Behinderten und der Nichtbehinderten – einander näher bringen.« Diese Zielsetzung ist insofern interessant und irritierend zugleich, da sie in jenem Moment, in dem sie die Differenzierung zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung als nicht existent entlarven will, diese zugleich erst hervorbringt, indem sie sich vornimmt, die Unterscheidung dieser beiden Kategorien durch künstlerische Verfahren aufheben oder zumindest hinterfragen zu wollen. Das im Zuge dessen aufgebrachte Argument, dass Frauen mit einer Behinderung ›auch‹ schön, sexy und begehrenswert seien und deshalb zu bildwürdigen Subjekten werden würden, geht so bereits von der Prämisse aus, dass es innerhalb einer Normalitätszone ›schöne‹ = ›normale‹ Menschen gibt, zu denen jene, die außerhalb dieser Zone angesiedelt werden, zunächst nicht zählen, aber von dieser Position ausgehend sich das Recht nähmen, sich Zutritt zu dieser exklusiven Sphäre zu verschaffen. Die Problematik solcher Rhetoriken ist nicht nur, dass sie vermutlich von den Projektbeteiligten so nicht intendiert war, sondern auch, dass sie durch die fotografische Insbildsetzung und die Verbreitung im Netz ein Bild von Behinderung stabilisiert, das durchaus nicht von Anleihen an Konventionen der Porträtfotografie und gleichsam ihres ›stillen Begleiters‹, der Psychiatrie- und Monsterfotografie, befreit ist. Vielmehr ist es eben jene Doppelbewegung des Sich-Einschreibens und Sich-Abgrenzens 4

Vgl. http://leidmedien.de/journalistische-tipps/superkruppel-trotzdem-menschen-undhelden/ (letzter Zugriff am 08.05.2016).

5 www.melanie-frehse.de/blog/prominente-unterstuetzung-durch-mellie/ (letzter Zugriff am 08.05.2016).

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von diesem Bilderrepertoire, die sich gleichsam im Anschluss an die in den Liebenauer Bildern herausgestellten Strategien der Sichtbarmachung und der Unsichtbarmachung von Alterität auch in den Fotografien von »anderStark« vollzieht und so auch dem Vorsatz der All-Inklusion zumindest unbewusst und vor allen Dingen visuell zuwiderlaufen zu scheint. Auch neuere Kampagnenfotografien wie jene der Aktion Mensch können sich der ›Notwendigkeit‹, Behinderung als Andersartigkeit zu markieren, nicht entziehen, da sie, um für Inklusion werben zu können, zunächst eine Bewegung der Exklusion vollziehen müssen. 6 Wird Inklusion dort als Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der als nicht-behindert markierten Gesellschaft beschrieben, so wird das vorgängige Nicht-Teilhaben zur Voraussetzung für die durch einen gesellschaftlichen als auch visuellen Einschluss erfolgende Teilhabe. Im Plakatmotiv »Inklusion heißt: Zusammen Pause machen« wird beispielsweise durch das Zusammenspiel von Schrift, Bild und Grafikelemente die abgebildete Frau erst als ›behindert‹ produziert und verfestigt so die sozio-historisch stabilisierte Dichotomie von ›Behinderung‹ und ›Nicht-Behinderung‹, indem es sie als Spannungsverhältnis zwischen ›Mehrheit‹ und ›Minderheit‹ hervorbringt (Abb. 51). Die Repräsentationsstrategien, die in diesem Teil der Inklusionskampagne von 2012 angewandt werden, sind zwar mitnichten von derselben Rigidität wie jene anderer und früherer Kampagnen, doch auch sie reproduzieren die Zuschreibung an Menschen mit Behinderung als ausgeschlossene Minderheit und wenden sich innerbildlich so implizit und unbewusst gegen das Konzept von Inklusion, das die Aktion Mensch im Anschluss an die Behindertenrechtskonvention zu transportieren versucht. Dabei ist in Referenz auf die analysierten Liebenauer Aufnahmen ab den 1970er Jahren freilich nicht zu vernachlässigen, dass es sich nicht um Schnappschüsse oder Familienfotografien handelt, sondern um gezielt inszenierte Studioaufnahmen, deren Absicht es ist, auf ein bestimmtes Problemfeld aufmerksam zu machen und es auf diese Art und Weise in die Öffentlichkeit zu tragen. Einige große Wohlfahrtorganisationen verzichten in ihren Plakatkampagnen inzwischen auf jene »karitativ verbrämte[n] Ikonographien« 7 und infolgedessen auf stereotypisierende Menschenbilder und arbeiten stattdessen mit Symbolbildern und Grafiken, um nicht immer wieder beispielsweise die mitleiderregende Differenz zwischen ›arm‹ und ›reich in Form einer Darstellung an Hunger leidender afrikanischer Kinder zu wiederholen und damit erst zu pro-

6

Vgl. Grebe 2013c.

7

Schaffer 2008, S. 21.

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duzieren. 8 Dies bedeutet nicht, dass der behinderte Körper wieder in den Sphären der Unsichtbarmachung verschwinden soll, um dem Problem der Differenzproduktion zu entgehen. Vielmehr muss für zeitgenössische Fotoprojekte wie auch für Kampagnenbilder mitreflektiert werden, dass der Vorsatz ›andere Bilder‹ und damit minorisierte Sichtweisen produzieren zu wollen bedeutet, diese langfristig eben nicht als ›anders‹ und ›besonders‹ hervorzuheben, sondern durch ihre perpetuierende Wiederholung und Sichtbarmachung ohne Hinweis auf ihre Besonderheit das kulturelle Bilderrepertoire jenseits der dichotomisierenden Kategorien von ›Normalität‹ und ›Nicht-Normalität‹, von Stereotypsierungen zwischen »Batman oder Bettler« 9 verändert werden kann. Abbildung 51: Plakatmotiv »Inklusion heißt: Zusammen Pause machen«

Quelle: Grebe, Anna: »Inklusion heißt: …« Anmerkungen zur visuellen Teilhabe von Menschen mit Behinderung. In: Augenblick. Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft (58) 2013c, S. 39

8

Als Beispiel genannt sei hier die Kampagne der NGO »Brot für die Welt«, die durch eine groß angelegte Plakataktion, auf der lediglich Gegenstände, wie zum Beispiel leere Reisschalen, abgebildet waren.

9

Radtke 2003, S. 6.

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Die Aufnahmen aus dem Liebenauer Fotoarchiv sind nicht nur deshalb neue oder ›andere‹ Bilder von Behinderung, weil sie bislang noch nicht unter diesen Gesichtspunkten analysiert bzw. größtenteils nicht veröffentlicht worden sind. Vielmehr ist das, was die Kisten und Ordner aus dem Liebenauer Fotoarchiv entborgen haben, in höchstem Maße Ausdruck einer Widerständigkeit gegen die Zuordnung zu nur einem Endpunkt eines Kontinuums. Die Anschlussfähigkeit der Bilder an verschiedene fotografische, künstlerische als auch soziale und politische Diskurse hat deutlich gemacht, dass die Blickregime von Behinderung und die Blickregime von Nicht-Behinderung sich gegenseitig so stark bedingen, dass sie gleichzeitig in einem Bildfeld zutage treten können und so das subvertieren bzw. dekonstruieren, was an sie als Medien der Speicherung und Dokumentation herangetragen wird: das Sein von Behinderung und das Nicht-Sein von Normalität.

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Danksagung

Als ich im Herbst 2009 einer leisen Ahnung folgend den Bodensee überquerte und nach Liebenau in Oberschwaben fuhr, um dort die für das Liebenauer Archiv zuständige Mitarbeiterin zu treffen und mit ihr über den fotografischen Bestand der Stiftung zu sprechen, hatte ich mir noch nicht im Geringsten ausgemalt, wie viele Bilder ich tatsächlich zum Ende meines damals noch eher vage geplanten Projektes zur Verfügung haben würde. Nach vielen Monaten der Sichtungs- und Digitalisierungsarbeiten, trotz aller Widrigkeiten der aufgrund von Asbestbefall geschlossenen Universitätsbibliothek in Konstanz, bin ich vielen Menschen sehr dankbar, dass sie mich währenddessen und auch noch danach in vielerlei Hinsicht unterstützt haben und daran geglaubt haben, dass es sich lohnt, tausende Fotografien einzeln in die Hand zu nehmen und daraus eine medienwissenschaftliche – und eben keine historische Arbeit zu machen. So gilt mein Dank zunächst den Menschen, die mit mir Kisten geschleppt, Bilder gescannt und verschlagwortet haben (Larissa Bellina, Sandra Heger, Veronika Pöhnl, Michel Schreiber und Carola Schneider) sowie der Universitätsbibliothek Konstanz, die uns und den Scanner in den ersten Monaten bis zur Schließung beherbergt hat. Die ›gute Fee‹ des Liebenauer Archivs, Susanne Brüstle, stand mir unermüdlich mit guten Ratschlägen und den besten stiftungsinternen Kontakten zur Seite; der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, ferner Helga Raible, sei für das große Interesse und die vielfache Unterstützung gedankt, ebenso wie dem Stiftungsvorstand, Dr. Berthold Broll, der von Beginn des Projektes an besonders interessiert an den historischen Dimensionen des Fotoarchivs war. Ich danke meinen Kolleg_innen und Freund_innen, insbesondere Sven Stollfuß und Amber Griffioen für das kritische und zugleich wertschätzende Lektorat, die guten Ideen und die unermüdlichen Warnungen vor Bandwurm- und Schachtelsätzen. Javiera Contardo und Carola Schneider danke ich für ihre Mühen hinsichtlich des Layouts der Arbeit als auch dieses Buches. Besonders danke ich Christiane Trenker-Reichert, deren gutes Zureden, ihre Strukturiertheit und

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Hilfsbereitschaft mein Chaos im Kopf immer wieder geordnet hat. Meinen Betreuer_innen, Prof. Dr. Beate Ochsner (Universität Konstanz) und Prof. Dr. Thomas Macho (Humboldt-Universität zu Berlin/IfK Österreich) danke ich für erleuchtende Gespräche, das Durchhaltevermögen, das sie an mir und mit mir gezeigt haben und eine wissenschaftliche Betreuung, die nicht von strikten Promotionsordnungen und universitären Vorschriften, sondern von aufrichtigem Interesse und akademischen wie auch persönlichem Verantwortungsbewusstsein geleitet war. Ebenso danke ich meinem Drittgutachter Prof. Dr. Bernd Stiegler und Prof. Dr. Isabell Otto und PD Dr. Steffen Bogen für ihr Koreferat meines Rigorosums. Ohne meine Freund_innen in Konstanz, in meinem Berliner und meinem chilenischen Schreib-Exil wäre diese Arbeit ebenso wenig zustande gekommen wie ohne meine Familie. Deshalb sei zuletzt und wie immer: am meisten, meinen Eltern und meinem Bruder gedankt, die es mit mir als erster Akademikerin in der Familie nicht immer leicht hatten und stets an mich geglaubt haben. Sie haben mir ein Studium ermöglicht, mich immer bedingungslos unterstützt und für jeden Erfolg sich mit mir gefreut und jeden Misserfolg mit aufmunternden Worten, Taten und viel Liebe begleitet. Danke. Gewidmet ist die Arbeit Verena Z., die mir seit 14 Jahren und am meisten während der Promotionszeit gefehlt hat.

Image Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Mai 2018, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0

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Begeisterung und Blasphemie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2015 Dezember 2015, 304 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3162-3 E-Book: 14,99 €, ISBN 978-3-8394-3162-7 Begeisterung und Verdammung, Zivilisierung und Verwilderung liegen nah beieinander. In Heft 2/2015 der ZfK schildern die Beiträger_innen ihre Erlebnisse mit erregenden Zuständen und verletzenden Ereignissen. Die Kultivierung von »anderen Zuständen« der Trance bei Kölner Karnevalisten und italienischen Neo-Faschisten sowie begeisternde Erfahrungen im madagassischen Heavy Metal werden ebenso untersucht wie die Begegnung mit Fremdem in religiösen Feiern, im globalen Kunstbetrieb und bei kolonialen Expeditionen. Der Debattenteil widmet sich der Frage, wie wir in Europa mit Blasphemie-Vorwürfen umgehen – und diskutiert hierfür die Arbeit der französischen Ethnologin Jeanne Favret-Saada. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 18 Ausgaben vor. Die ZfK kann – als print oder E-Journal – auch im Jahresabonnement für den Preis von 20,00 € bezogen werden. Der Preis für ein Jahresabonnement des Bundles (inkl. Versand) beträgt 25,00 €. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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