Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur: Band II Vom Klassizismus bis zum 20. Jahrhundert [6th rev. Edition. Reprint 2010] 9783110954654, 9783484400993

Die »Geschichte der amerikanischen Literatur« von Walter F. Schirmer, die zuerst 1937 veröffentlicht wurde und 1954 in e

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German Pages 637 [640] Year 1983

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Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur: Band II Vom Klassizismus bis zum 20. Jahrhundert [6th rev. Edition. Reprint 2010]
 9783110954654, 9783484400993

Table of contents :
Abkürzungen
Fünftes Buch: DER KLASSIZISMUS
I. Die Versdichtung
II. Die Prosa
III. Das Drama
Sechstes Buch: DIE ROMANTIK
I. Die Versdichtung
II. Der Roman
III. Sonstige Prosa
Siebtes Buch: DIE VIKTORIANISCHE ZEIT
I. Die nicht-fiktionale Prosa
II. Die Versdichtung
III. Das Drama
IV. Der Roman
Achtes Buch: DAS ZWANZIGSTE JAHRHUNDERT
I. Kritische Prosa
II. Die Versdichtung
III. Das Drama
IV. Der Roman
Register

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WALTER F. SCHIRMER

GESCHICHTE DER ENGLISCHEN UND AMERIKANISCHEN LITERATUR BAND II

WALTER F.SCHIRMER

Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur Von den Anfängen bis zur Gegenwart BAND II Sechste, neubearbeitete Auflage Unter Mitwirkung von Ulrich Broich, Karl Heinz Göller, Dieter Mehl, Theo Stemmler, Erwin Wolff, Theodor Wolpers Herausgegeben von Arno Esch

MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N

1983

1. 2. 3. 4. 5.

Auflage: 1937 (einbändige Ausgabe) Auflage: Band I und II 1954 Auflage: Band I 1959, Band II 1960 Auflage: Band I 1964, Band II 1967 Auflage: 1968 (einbändige Ausgabe)

Leinenausgabe: Band I: Band II:

Von der altenglischen Zeit bis zum Barock Vom Klassizismus bis zum 20. Jahrhundert

ISBN 3-484-40098-6 ISBN 3-484-40099-4

Studienausgabe kart.: Band Band Band Band

1,1: Altenglische und Mittelenglische Zeit 1,2: Renaissance und Barock 11,1: Klassizismus und Romantik 11,2: Viktorianische Zeit und 20. Jahrhundert

ISBN 3-484-40101-x ISBN 3-484-40102-8 ISBN 3-484-40103-6 ISBN 3-484-40104-4

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband von Heinr. Koch, Tübingen

Die Bearbeiter der einzelnen Bücher: Erstes Buch:

Die Altenglische Zeit KARL HEINZ GÖLLER

Zweites Buch:

Die Mittelenglische Zeit THEO STEMMLER

Drittes Buch:

Die Zeit der Renaissance DIETER MEHL

Viertes Buch:

Die Zeit des Barock ARNO ESCH

Fünftes Buch:

Der Klassizismus ERWIN WOLFF

Sechstes Buch:

Die Romantik THEODOR WOLPERS

Siebtes Buch:

Die Viktorianische Zeit ULRICH BROICH

Achtes Buch:

Das Zwanzigste Jahrhundert ARNO ESCH

VII

INHALTSVERZEICHNIS Abkürzungen

XV

Fünftes Buch: DER KLASSIZISMUS

453

I.

Literatur

455

Das 18. Jahrhundert

457

Die Versdichtung 1. Theoretische Grundlagen der klassizistischen Dichtung und ihre Wegbereiter 2. Alexander Pope 3. Gay und die Schule Popes 4. Erweiterung des klassizistischen Rahmens 5. Das Werden einer neuen Dichtungsauffassung 6. Die Wegbereiter der vorromantischen Dichtung 7. Chatterton, Cowper, Burns und Blake

471 471 475 483 485 492 497 501

II. Die Prosa 1. Steele, Addison und die moralischen Wochenschriften 2. Satire und Roman bei Defoe und Swift 3. Der empfindsame Roman Richardsons und der realistische Roman Fieldings undSmolletts 4. Sterne, Goldsmith und die Nachfolge des großen Romans 5. Dr. Samuel Johnson 6. Briefe und Tagebücher 7. Geschichtsschreibung

III. Das Drama 1. 2. 3. 4. 5.

Lustspiel und Posse Die empfindsame Komödie Goldsmith und Sheridan Die klassizistische Tragödie Das bürgerliche Trauerspiel

Sechstes Buch: DIE ROMANTIK

I.

509 509 513 519 527 534 538 541

543 543 546 549 551 554

557

Literatur Der politische Hintergrund des romantischen Zeitalters Die veränderte literarische Situation und Dichtungsauffassung

559 561 566

Die Versdichtung

582

1. Nachspiel des Klassizismus und Übergänge 2. Coleridge 3. Wordsworth 4. Byron 5. Shelley 6. Keats 7. Kleinere englische Dichter und Dramatiker 8. Amerikanische Dichter in der europäischen Tradition

582 587 595 602 610 617 623 629

VIII

Inhaltsverzeichnis

II. Der Roman 1. Nachspiel des 18. Jahrhunderts: Der empfindsame Sittenroman 2. Der Schreckensroman 3. Scott 4. Zeitgenossen und Nachfolger Scotts 5. Der amerikanische romantische Roman: J. F. Cooper und seine Schule . . . 6. Die Anfänge der amerikanischen Kurzgeschichte: W. Irving und E. A. Poe . 7. Hawthorne und Melville

III. Sonstige Prosa 1. Romantische Kunstprosa: Landor und De Quincey 2. Die Essayisten Lamb, Hunt und Hazlitt 3. Emerson und die amerikanischen Transzendentalisten

Siebtes Buch: DIE VIKTORIANISCHE ZEIT

I.

637 637 643 650 657 665 672 679

688 688 692 698

711

Literatur Die Literatur und ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund

713 715

Die nicht-fiktionale Prosa

723

1. Grundzüge der nicht-fiktionalen Prosa im viktorianischen England 2. Carlyle und Ruskin 3. Matthew Arnold und Pater 4. Die viktorianische Geschichtsschreibung 5. Die nicht-fiktionale Prosa in den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

723 729 735 739

II. Die Versdichtung 1. Grundzüge der viktorianischen Versdichtung 2. Tennyson, Browning und die frühviktorianische Versdichtung 3. Die Präraffaeliten und die mittviktorianische Versdichtung 4. Die spätviktorianische Versdichtung 5. Die amerikanische Versdichtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts .

743

750 750 752 758 767 774

III. Das Drama 1. Das englische Drama bis zum Anfang der achtziger Jahre 2. Die Erneuerung des ernsten Dramas 3. Oscar Wilde und die Erneuerung der Komödie

780 780 782 784

IV. Der Roman 1. Der früh- und mittviktorianische Roman 2. Gattungen des früh- und mittviktorianischen Romans 3. Charles Dickens 4. Thackeray und Trollope 5. Die Brontes, George Eliot und Meredith 6. Der spätviktorianische Roman 7. Der amerikanische Roman nach dem Bürgerkrieg: Marktbedingungen, Themen und Gattungen 8. Mark Twain, Bret Harte und die Kurzgeschichte 9. Der soziale und psychologische Realismus im amerikanischen Roman . . . .

786 786 788 794 797 800 806 817 822 827

Inhaltsverzeichnis

IX

Achtes Buch: DAS ZWANZIGSTE JAHRHUNDERT I.

835

Literatur Der politische und geistesgeschichtliche Hintergrund

837 839

Kritische Prosa

842

1. Englische Literaturkritik, Historiographie, Biographie und Essaykunst 2. Amerikanische Literaturkritik

. . .

II. Die Versdichtung 1. W. B. Yeats und die keltische Renaissance 2. E. A. Robinson, R. Frost und die Vertreter des Mittelwestens 3. Von den 'Georgians' zu den Imagisten 4. Ezra Pound und T. S. Eliot 5. Die Zeitgenossen Pounds und Eliots in Amerika 6. Die englische Lyrik der dreißiger und vierziger Jahre 7. Die englische Lyrik seit den fünfziger Jahren 8. Die amerikanische Lyrik seit der Jahrhundertmitte

III. Das Drama 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Das englische realistische Schauspiel G.B. Shaw und die Komödie Das irische Drama Das nachrealistische und das poetische Drama in England Das englische Drama seit den fünfziger Jahren Die Anfänge des amerikanischen Dramas Das poetische und expressionistische Drama in Amerika Das neu-naturalistische Drama in Amerika Das amerikanische Drama seit den fünfziger Jahren

IV. Der Roman 1. Realismus und soziale Kritik im englischen Roman 2. Joseph Conrad 3. Ausklang des Realismus und Wandel 4. Der amerikanische naturalistische Roman 5. Der amerikanische Roman zwischen Realismus und Romance 6. D. H. Lawrence, J. Joyce und der Bewußtseinsroman 7. Aldous Huxley, Graham Greene und ihre Zeitgenossen 8. Der zeitgenössische englische Roman 9. Der amerikanische Neu-Realismus 10. Thomas Wolfe, William Faulkner und der Süden 11. Der zeitgenössische amerikanische Roman 12. Die englische und amerikanische Kurzgeschichte des 20. Jahrhunderts . . . .

Register

842 850

855 855 859 863 871 878 885 891 896

900 900 904 907 914 922 932 936 942 944

948 948 953 957 962 965 970 977 983 991 997 1002 1010

1027

INHALTSÜBERSICHT BAND I Vorwort Abkürzungen

Erstes Buch: DIE ALTENGLISCHE ZEIT Literatur I.

Historisch-kulturelle Grundlagen der altenglischen Literatur 1. Die keltischen Kirchen - 2. Die Angelsachsen - 3. Die angelsächsische Kirche 4. Die Literatur des christlichen Humanismus

II.

Wesenszüge der altenglischen Literatur 1. Überlieferung - 2. Produktion und Rezeption der altenglischen Dichtung - 3. Stil der altenglischen Dichtung - 4. Metrik

III.

Die niedere Dichtung 1. Zauberdichtung und Spruchdichtung - 2. Merkdichtung - 3. Rätsel

IV. Preislied und Erzähllied 1. Caedmons Hymnus und religiöse Lyrik - 2. Die Elegien-3. Germanisches Heldenlied und Erzähllied V.

Epos 1. Religiöse Epik der Caedmonschule - 2. Die weltliche Epik

VI. Epische Legendenerzählung 1. Judith - 2. Cynewulf - 3. Cynewulfschule VII. Religiöse Mahnung und weltliche Lehre 1. Weltuntergang und Tod - 2. Lehrhafte Dichtung VIII. Die altenglische Prosa 1. Alfred und seine Vorläufer - 2. Aelfric und Wulfstan - 3. Kleinere Denkmäler der kirchlichen und weltlichen Prosa

Zweites Buch: DIE MITTELENGLISCHE ZEIT Literatur

I.

Die zweite Hälfte des 11. und die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts 1. Die normannische Eroberung - 2. Anglolateinische Literatur des 11. Jahrhunderts 3. Die Entfaltung normannischer Kultur unter Heinrich I. und Stephan - 4. Anglolateinische Literatur in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts - 5. Anglonormannische Literatur 1100-1150

II. Die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts 1. Französische Literatur unter Heinrich II. und Richard Löwenherz - 2. Anglolateinische Literatur - 3. Englische Versdichtung - 4. Religiöse englische Prosa

Inhaltsübersicht

XI

III. Das 13. Jahrhundert 1. Der Verfall des Humanismus und die Historiographie - 2. Theologie und Philosophie - 3. Religiöse Lyrik - 4. Weltliche Lyrik und historisch-politische Gedichte 5. Spruchsammlungen und Streitgedichte - 6. Geistliche Büß- und Lehrdichtung 7. Geistliche Epik - 8. Feiern und Spiele - 9. Versroman und novellistische Unterhaltungsliteratur

IV. Das 14. Jahrhundert 1. Die politisch-soziale und philosophisch-religiöse Entwicklung - 2. Vordringen der Prosa - 3. Geistliche Epik und Lyrik - 4. Weltliche Lyrik - 5. Geistliche Spiele (Fronleichnamszyklen) - 6. Historisch-politische Gedichte - 7. Der Piers-Plowman-Kreis 8. Der Versroman in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts - 9. Entwicklung des Versromans 1350-1400 - 10. Pearl, Purity, Patience - 11. John Gower - 12. Chaucer

V. Das 15. Jahrhundert 1. Politik und Dichtung - 2. Volksballade und weltliche Lyrik - 3. Religiöse Lyrik 4. Die englische Chaucernachfolge - 5. Die schottische Literatur - 6. Ende des Versromans und imaginative Prosa - 7. Drama (Moralitäten und Interludien) - 8. Satire und Alltag - 9. Historiographie und wissenschaftliche Prosa - 10. Der englische Frühhumanismus

Drittes Buch: DIE ZEIT DER RENAISSANCE Literatur Die politische und soziale Entwicklung

I.

Die nicht-dramatische Literatur des 16. Jahrhunderts 1. Humanismus und Reformation - 2. Kritik und Übersetzungen - 3. Anfänge der höfischen Renaissancedichtung - 4. Spenser und die elisabethanische Lyrik - 5. Spenser und das Epos - 6. Der elisabethanische Roman

II. Das Drama im 16. Jahrhundert 1. Klassizistisches und Einheimisches - 2. Schauspieler, Theater und Bühne - 3. Die frühe elisabethanische Komödie - 4. Marlowe und die Tragödie - 5. Das Drama William Shakespeares

III. Das Drama in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts 1. Elisabethanisches und jakobäisches Drama - 2. Ben Jonson - 3. Die Entwicklung des Dramas nach Shakespeare - 4. Das Ende des Renaissancedramas

Viertes Buch: DIE ZEIT DES BAROCK Literatur Der zeitgeschichtliche Hintergrund

I.

Lyrische und satirische Dichtung l. Donne und die religiöse metaphysische Dichtung - 2. Jonson, Herrick und die weltliche Dichtung - 3. Vorspiel des Klassizismus - 4. Die Dichtung der Restaurationszeit

II. Die epische Dichtung und John Milton 1. Das religiöse Epos - 2. Das weltliche Epos - 3. Miltons frühe Dichtungen - 4. Miltons Streitschriften - 5. Miltons Epen und Samson Agonistes

XII

Inhaltsübersicht

III. Die Prosa 1. Die anglokatholische Predigt - 2. Die anglikanische Predigt - 3. Die puritanische Predigt - 4. Die Restaurationspredigt - 5. Burton und Browne - 6. Wissenschaftliche Prosa, Historiographie, Charakterliteratur - 7. Memoirenliteratur - 8. Allegorisch-didaktische Prosa - 9. Die Prosa der Restauration

IV. John Dryden und das Drama 1. Das lyrische und epische Werk Drydens - 2. Das heroische Drama-3. Die Komödie

XIII

ABKÜRZUNGEN AEP AFS ASPR AWS CBEL CC CCE CHEL CIS CS EETS EL ELH ELN EML ES EUL FDT FP JEGP LES LHUS LS MJ ML MLQ MP MS NAL NCBL NEL NM NMS NOES

Annotated English Poets Americans in Fiction Series The Anglo-Saxon Poetic Records, edd. G. P. Krapp and E. van Kirk Dobbie, 6 Bde. American Writers Series Cambridge Bibliography of English Literature Collins Classics Collection of Critical Essays Cambridge History of English Literature [Am.] Classics Series Casebook Series Early English Text Society Everyman's Library Journal of English Literary History English Language Notes English Men of Letters Series English Studies Everyman's University Library Fountainwell Drama Texts Faber Paperback Journal of English and Germanic Philology Longmans English Series Literary History of the United States, edd. R. Spiller et al. Literature Series Modern Judgments The Modern Library Modern Language Quarterly Modern Philology Mermaid Series New American Library New Cambridge Bibliography of English Literature New English Library Neuphilologische Mitteilungen New Mermaid Series New Oxford English Series

Oxford English Novels Oxford English Texts Oxford History of English Literature Oxford Paperback OP Oxford Standard Authors OSA Paperback pb. Penguin Books PB Patrologia Latina PL Papers on Language and LiteraPLL ture Publications of the Modern PMLA Language Association Philological Quarterly PQ Riverside Edition RE Review of English Studies RES The Revels Plays RP RRenDS Regents Renaissance Drama Series RRestDS Regents Restoration Drama Series Rolls Series RS Sociote des anciens textes franSATF gais SEL Studies in English Literature: 1500-1900 Shakespeare Jahrbuch ShJ SP Studies in Philology STS Scottish Text Society TCI Twentieth Century Interpretations Twentieth Century Views TCV Twayne's English Authors Series TEAS TPS Trans, of the Philological Society TUSAS Twayne's United States Authors Series The World's Classics WC York Medieval Texts YMT ZCP Zeitschrift für Celtische Philologie Zeitschrift für deutsches AlterZfdA tum und deutsche Literatur OEN OET OHEL

Hinweis zu den bibliographischen Angaben: (1) Der Erscheinungsort London wird nicht eigens angegeben. (2) Auf die Anführung von Spezialbibliographien, Forschungsberichten, Konkordanzen und News Letters zu den einzelnen Autoren mußte aus Raumgründen - außer bei den bedeutenden Dichtern - verzichtet werden, desgleichen auf Reihen wie die Critical Heritage Series, Penguin Critical Anthologies u. a.

FÜNFTES BUCH

DER K L A S S I Z I S M U S

455 LITERATUR

B i b l i o g r a p h i e : English Literature, 1660-1800: A Bibliography of Modern Studies, edd. R. S. Crane et al., 6 Bde. (Princeton, 1950-72), laufend ergänzt in der Zs. PQ u. d. Titel: Engl. Literature, 1660-1800: A Current Bibliography; für die herausragenden Autoren (Addison, Blake, Defoe, Fielding etc.) vergl. auch B. Fabian, Von Chaucer bis Pinter: Ausgew. Autorenbibliographien zur engl. Lit. (Königst./Ts., 1980). G e s c h i c h t e : Macaulay's History of England from the Accession of James II, 5 Bde (1849-61); W. E. H. Lecky, History of England in the 18th Century, 8 Bde. (1878-90 u. o.); D. Jarrett, Britain, 1688-1815 (1965 u. ö.); B. Williams, The Whig Supremacy, 1714-60 (Oxf., 1962 u. o.); J. H. Plumb, The First Four Georges (Lo./Glasgow, 1956 u. o.); ders., England in the 18th Century (Harmondsworth, 1950 u. o.) [Pelican History of England, Bd. VII, kurze Einführung]; K. Kluxen. Das Problem der polit. Opposition: Entw. u. Wesen der engl. Zweiparteienpolitik im 18. Jh. (Freibg./Mchn., 1956); I. Kramnick, Bolingbroke and his Circle, The Politics of Nostalgia in the Age of Walpole (Cambr., Mass., 1968). G e i s t e s g e s c h i c h t e : L. Stephen, History of Engl. Thought in the 18th Century, 2 Bde. (1876; repr., 1962); B. Willey, The Eighteenth Century Background (1940; repr. Harmondsworth, 1965); A. O. Lovejoy, The Great Chain of Being (Cambr., Mass., 1936; repr., 1970). K u l t u r - u. S o z i a l g e s c h i c h t e : L. Stephen, Engl. Lit. and Society in the 18th Century (1904); J. B. Botsford, Engl. Society in the 18th Century (1924); A. Beljame, Men of Letters and the Engl. Public in the 18th Century, ed. B. Dobree (1948); C. E. Mingay, Engl. Landed Society in the 18th Century (1963); A. S. Turberville, Engl. Men and Manners in the 18th Century (Oxf.,21929; N. Y. 41967); ders., Johnson's England: An Account of the Life and Manners of his Age, 2 Bde. (Oxf., 1933; repr., 1967); A. R. Humphreys, The Augustan World: Life and Letters in 18th Century England (1954); D. J. Greene, The Age of Exuberance: Backgrounds to 18th Century Engl. Lit. (N. Y., 1970); C. A. Moore, Backgrounds of Engl. Lit. 1700-60 (Minneapolis, 1953); H. Schöffler, Protestantismus u. Literatur: Neue Wege zur engl. Lit. des 18. Jhs. (Göttingen, 2 1958); W. P. Jones, The Rhetoric of Science: A Study of Scientific Ideas and Imagery in 18th Century Engl. Poetry (1966); R. Omasreiter, Naturwissenschaft u. Literaturkritik im England des 18. Jhs. (Nürnbg., 1971); J. Downey, The 18th Century Pulpit: A Study of the Sermons of Bentley, Berkeley, Seeker, Sterne, Whitefield, and Wesley (Oxf., 1969). L i t e r a t u r t h e o r i e u. K r i t i k : J. W. H. Atkins, Engl. Literary Criticism: 17th and 18th Centuries (1951 u. ö.); W. K. Wimsatt and C. Brooks, Lit. Criticism: A Short History, Bd. II: Neo-Classical Criticism (1957; repr., 1970); R. Wellek, A History of Modern Criticism, 1750-1950, Bd. I: The Later 18th Century (New Haven, 1955); Eighteenth Century Critical Essays, ed. S. Elledge, 2 Bde (Cambr., 1961) [Textsammlg.]. L i t e r a t u r g e s c h i c h t e : H. Hettner, Geschichte der engl. Lit. 1660-1770 (Braunschweig, 71913) [weitgehend veraltete, aber hist, interess. u. anr. ideengeschichtl. Darst.]; B. Dobree, Engl. Lit. in the Early 18th Century, 1700-40 (Oxf. 1959; repr. 1968) [OHEL VII]; A. D. McKillop, Engl. Lit. from Dryden to Burns (N. Y., 1948); G. Sherburn, The Restoration and 18th Century (1660-1789) in: A Literary History of England, ed. A.C. Baugh (21967). - Kurzgef. Einf.: J. Butt, The Augustan Age (1950); R. P. McCutcheon, 18th Century Engl. Lit. (1949); From Dryden to Johnson, ed. B. Ford (Harmondsworth, 1957 u. ö.) [The Pelican Guide to Engl. Lit., Bd. IV]; H.J. Mullenbrock u. E. Späth, Lit. des 18. Jhs. (Düsseldorf, 1977) [ohne Roman].

456

Literatur

A n t h o l o g i e n : Für die umfassenden Textsammlungen zur Dichtung s.u. S. 471, Anm. l, u. zum Drama s. u. S. 543, Anm. l; Minor Poets of the 18th Century in EL; Eighteenth Century Poetry and Prose, edd. L. I. Bredvold et al. (N. Y., 1939); 18th Century Prose by the Most Eminent Engl. Authors, edd. L. I. Bredvold et al., (N. Y., 1932); The Restoration and the 18th Century, ed. M. Price (N. Y./Lo., 1973) [Oxf. Anthology of Engl. Lit.].

457

DAS 18. JAHRHUNDERT Die englische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts ist in der ersten Jahrhunderthälfte durch die Blüte der klassizistischen Versdichtung, in der zweiten durch den Aufstieg des realistischen Prosaromans ('novel') gekennzeichnet. Im Vergleich zum 16. und 17. Jahrhundert spielt dagegen das Drama in dieser Zeit nur eine untergeordnete Rolle. Stärker als früher hat sich heute die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Verschiebungen innerhalb des traditionellen Gattungsgefüges, aber auch der Prozeß des Übergangs vom Hochklassizismus der Pope-Zeit über den Spätklassizismus des Zeitalters Dr. Johnsons bis hin zur Romantik der Lake-Poets tiefe Wurzeln in der allgemein- und sozialgeschichtlichen Entwicklung haben, die aus diesem Grunde einer ausführlicheren Darstellung bedarf, als dies bei der Betrachtung der vorangegangenen Perioden erforderlich war. Mit der Berufung Wilhelms von Oranien auf den englischen Thron war, wie sich bald in vielfältiger Weise zeigte, nicht nur ein dynastischer Machtwechsel vollzogen, sondern eine Umgestaltung des politischen Systems im Sinne der Errichtung einer konstitutionellen Monarchie. Gemäß den Ideen John Lockes kam eine Art von Vertragsverhältnis zwischen Parlament und Monarchen zustande, das an die Stelle des im Absolutismus des 17. Jahrhunderts gültigen Prinzips des 'jus divinum' des Königs trat. Die Krone nahm den Charakter eines Staatsamtes an, was sich z. B. darin zeigte, daß William den Thron gemeinsam mit seiner Gemahlin Mary, einer protestantisch gebliebenen Tochter Jakobs II., zugesprochen erhielt. Auf der gleichen Linie lag die durch eine Reihe von Gesetzen festgelegte Regelung der künftigen Thronfolge, die das Königsamt an die Bedingung des protestantischen Glaubensbekenntnisses band. Dies führte dazu, daß nach dem Tode Marys (1694) und Wilhelms III. (1702) Jakobs zweite Tocher Anne (1703-14) den Thron bestieg, die ihrerseits aufgrund derselben Regelung durch das Haus Hannover abgelöst wurde. Geistige Grundlage der 1688 in Kraft getretenen und während des ganzen 18. Jahrhunderts weiterentwickelten Staatsordnung war die uralte, schon in der Antike und in der Neuzeit von Machiavelli vertretene Idee einer „gemischten" Verfassung, durch die sich ein politisches Gleichgewicht der Kräfte einstellte, das Thron, House of Lords, House of Commons und später auch in wachsendem Maße die bürgerliche Öffentlichkeit in ein mehr oder weniger gut funktionierendes, aber praktikables und eine evolutionäre Entwicklung sicherndes Verhältnis zueinander setzte. Zugleich wirkte sich die Idee der Mischung der Kräfte auch im soziologischen Sinne aus, da sie ein Zusammenwirken von König, Adel und Bürgertum ermöglichte. Die Idee der 'balance of powers', die auch die Außenpolitik der kommenden Regierungen leitete, durchdrang während der ersten Jahrhunderthälfte weite Bereiche des öffentlichen Lebens. In der Literatur fand sie ihren gültigen Ausdruck in Popes Essay on Man. Sie verband sich mit der aus anglikanischem Denken

458

Fünftes Buch: Der Klassizismus

kommenden Idee der 'via media'. Gleichgewichtsdenken und Suche nach dem Mittelweg zwischen den Extremen schufen ein politisches und geistiges Klima, das die leidvollen und leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts beendete und die einander widerstrebenden Kräfte auf die Prinzipien des 'common sense' und der Praktikabilität verpflichtete. Wenn sich auch der Gedanke der Gewaltentrennung nicht sofort in der reinen Form durchsetzte, in der er von Locke vertreten worden war, so ging doch die weitere Entwicklung in diese Richtung. Der 'Regency Act' von 1705 erlaubte ein aus Parlamentsmitgliedern zusammengesetztes Kabinett neben dem von der Monarchin ernannten 'Privy Council'. Die Position des 'First Lord of the Treasury' entwickelte sich allmählich zu der des 'Prime Minister', was zur Zeit der 'Whig Supremacy' zum ersten Male deutlich wurde. Robert Walpole, der von 1721-42 die englische Innen- und Außenpolitik beherrschte, kann als der erste englische Premierminister im heutigen Sinne des Begriffs gelten. Die relative Fremdheit und Hilflosigkeit der beiden ersten Hannoveraner-Könige, Georgs I. (1715-27) und Georgs II. (1728-60), begünstigte den Machtzuwachs des Premierministers. Die Tatsache, daß die Regierung sich in wachsendem Maße durch geschicktes Taktieren und häufig auch durch Bestechung einer parlamentarischen Mehrheit versichern mußte, vergrößerte die Macht des Parlaments und der Parteien. Das uns heute geläufige Wechselspiel von 'Whigs' und 'Tories', die sich in der Ausübung der Macht abzulösen begannen, setzte ein. In dramatischer Form geschah dies zum ersten Male im Gefolge des Friedens von Utrecht (1713), der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, an dem England auf seilen der protestantischen Allianz teilgenommen hatte. Es war die Tory-Regierung unter Henry St.John, Viscount Bolingbroke, die durch geschicktes Verhandeln bei diesem Friedensschluß die Grundlage für den Aufstieg Englands zur Kolonial- und Weltmacht legte. Jedoch brachte die erneut aufflackernde Papisten-Furcht, die sich beim Tode Queen Annes (1714) und vor allem im Zusammenhang mit dem ersten Jakobitenaufstand (1715) einstellte, den Whigs bei den Wahlen von 1715 eine Mehrheit, die es ihnen ermöglichte, die Macht zu ergreifen und vier Jahrzehnte lang zu behalten. Das englische Parlament war während der ersten Jahrhunderthälfte noch ein Adelsparlament. Während die Angehörigen des Hochadels ('nobility') traditionell im 'House of Lords' vertreten waren, stellte der niedere Landadel ('gentry') die größte Gruppe im 'House of Commons'. Erst allmählich und im Laufe des Jahrhunderts zunehmend begann in Gestalt der 'City Merchants', der Londoner Kaufleute, die ihren Reichtum dem aufblühenden Südsee- und Ostindienhandel verdankten, auch das bürgerliche Element eine größere Rolle zu spielen. Diese Tatsache ist nicht nur in politischer, sondern auch in kultureller Hinsicht von großer Bedeutung. Während der Restaurationsperiode war das Leben der Aristokratie weitgehend auf den Hof ausgerichtet. Die dramatische Literatur dieser Zeit ('heroic play' und 'comedy of manners') spiegelt dies deutlich wieder. Das politische und soziale Verantwortungsbe-

Das 18. Jahrhundert

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wußtsein von 'nobility' und 'gentry' war gering. Nach 1688 wuchs die Aristokratie mit der zunehmenden Macht des Parlaments in eine neue Verantwortlichkeit hinein, die ihren literarischen Niederschlag in der moralistischen Komponente der klassizistischen Versdichtung fand. War die Literatur der Restaurationszeit weitgehend höfisch gewesen, so begann jetzt das Zeitalter der aufgeklärten aristokratischen Kultur, das mit der Lebenszeit Alexander Popes (1688-1744) fast genau gleichgesetzt werden kann. Erst in der zweiten Jahrhunderhälfte, die von der überragenden Figur Dr. Johnsons dominiert wurde, nahm auch im kulturellen Bereich der Einfluß des Bürgertums zu. Um die Zeit des Ausbruchs des Siebenjährigen Krieges (1756-63) wurde die Veränderung des politischen und sozialen Klimas deutlich. Außenpolitisch bewirkte der Krieg, der England auf die Seite Preußens brachte, eine entscheidende Festigung und Ausdehnung der imperialen Machtposition Englands in Nordamerika und in Indien auf Kosten Frankreichs. Innenpolitisch kündigte sich das Ende des unter Queen Anne und Walpole kunstvoll erhaltenen politischen und sozialen Gleichgewichts an. Die Spannungen zwischen Georg III. (1760-1820) und dem herausragenden Premierminister William Pitt d. ., seit 1765 Earl of Chatham, die das politische Leben in den 60er Jahren unruhig machten, waren in erster Linie auf den Willen des Königs zurückzuführen, die Macht des Throns gegenüber Regierung und Parlament wieder zu stärken. Georg III. strebte, nicht unbeeinflußt von Bolingbrokes Buch The Idea of a Patriot King (1738, gedr. 1749) nach 'personal rule'. Er wollte ein patriotischer König 'above all factions' sein. Erst der Verlust der amerikanischen Kolonien (Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776) und der unglückliche Ausgang des Krieges mit den Vereinigten Staaten (1775-83) führte zum Scheitern dieses Versuchs, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Die Berufung William Pitts d. J. (1783) und die Reformen von 1782 leiteten ein neues politisches Zeitalter ein, in dem der Wählerwille und mit ihm der Einfluß des kaufmännischen Bürgertums eine wesentlich größere Rolle spielen sollte. Während der napoleonischen Kriege konnte England seine Weltmachtstellung erfolgreich behaupten (Erwerbung Kaplands und Ceylons sowie Nelsons Sieg bei Aboukir 1798 und bei Trafalgar 1805). Im Wiener Kongreß (1815) wurde sie für ein Jahrhundert verbrieft. Die Ideen der Französischen Revolution stießen in England nach anfänglicher Begeisterung auf allgemeine Ablehnung. Die lang andauernde Vormachtstellung der Tories unter dem jüngeren Pitt (bis 1806) und darüber hinaus bis 1831 läßt sich mit der 'Whig Supremacy' unter Walpole im frühen 18. Jahrhundert vergleichen. Sie war ein Beweis für die Stabilität des 1688 geschaffenen politischen Systems. Die politische und sozialgeschichtliche Entwicklung verlief während des ganzen 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund tiefgreifender Veränderungen im Bereich der Wirtschaftsgeschichte. Schon zu Beginn des Jahrhunderts vollzog sich ein rascher Übergang vom Merkantilismus zum Freihandel (Freigabe des Wollhandels 1689, Abschaffung der Exportzölle auf Korn, Mehl und

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Brot 1699, Freigabe der Baumwolleinfuhr, Errichtung der Bank von England 1694). Die zunehmend unbehinderte Durchführung von 'enclosures' (Landeinhegungen zugunsten privatwirtschaftlicher Nutzung auf Kosten der Allmende) führte zu erheblicher Reduzierung des freien Bauerntums und zu stetigem Anwachsen des Großgrundbesitzes, der zum großen Teil in die Hände der Whig-Magnaten überging. Parallel zur 'agrarian revolution' verlief in der zweiten Jahrhunderthälfte die beginnende 'industrial revolution'. Eine Fülle von Erfindungen (Hargreaves 'spinning jenny' 1770, Watts Dampfmaschine 1769) ließ ab der Mitte des Jahrhunderts Industriegebiete entstehen, deren Erzeugnisse durch zahlreiche Straßen- und Kanalbauten schnelleren und vermehrten Absatz fanden. Dies führte zu Landflucht und Verödung der ländlichen Gebiete, während sich in den mittelenglischen Industriebezirken und im Großraum London die ersten Ansätze eines Industrieproletariats bildeten. Das Problem der 'rotten boroughs' (entvölkerte Wahlbezirke mit Überrepräsentation im Parlament auf der einen, volkreiche Städte mit Unterrepräsentation auf der anderen Seite) begann eine Rolle im politischen Leben zu spielen. Die verbesserte Geburtshilfe und -hygiene sowie der wachsende Ausstoß an industriell gefertigter Massenware (Baumwollstoffe) zu billigen Preisen führten zu einem erheblichen Bevölkerungswachstum. Für die Literaturgeschichte ist der Wandel im Buchproduktions- und Verteilungswesen von größter Bedeutung. Herrschte in der ersten Jahrhunderhälfte das aristokratische Patronatswesen vor und war in dieser Zeit die Literatur noch Privileg einer kleinen, mit klassischem Bildungsgut gesättigten Oberschicht, so trat schon im Zeitalter Dr. Johnsons der Buchdrucker und Verleger an die Stelle des aristokratischen Mäzens. Dichter und Schriftsteller orientierten sich mehr und mehr am Geschmack eines größer werdenden Leserpublikums, was besonders für die Romanschriftsteller des letzten Viertels des Jahrhunderts gilt. Das sich gegen Ende des Jahrhunderts ausdehnende Leihbüchereiwesen trug zu dieser Entwicklung bei. Es trat eine bis heute anhaltende Privatisierung des Leseerlebnisses ein, durch die der Einfluß der Clubs und Kaffeehausgesellschaften, die im frühen 18. Jahrhundert literaturbestimmend gewesen waren, allmählich zurückgedrängt wurde. Von Bedeutung für den Wandel des politischen wie des literarischen Klimas war schließlich das nach 1688 aufblühende Zeitungs- und Zeitschriftenwesen, das zum Hauptträger der politischen wie der literarischen Kritik wurde. Das politische Schrifttum des Jahrhunderts führt an die geistigen Wurzeln des äußeren Wandels heran, der sich um die Jahrhundertmitte bemerkbar machte. Die aristokratische Tory-Politik der Queen Anne-Zeit hatte einen charakteristischen Vertreter in HENRY Si.JoHN VISCOUNT BOLINGBROKE' 'Works, ed. D. Mallet, 8 Bde. (1809), 4 Bde. (Philad., 1841). Letters and Correspondence, ed. G. Parke, 2 Bde. (1798). - W. Bagehot, B. as a Statesman, in: Biographical Studies, ed. R. H. Hutton (1881 u. ö.); A. Hassall, Life of B. (Oxf., 1915); C. Petrie, B. (1937); W. M. Merrill, From Statesman to Philosopher ( . ., 1949); D. Harkness, B., the Man and his Career (1957); J. P. Hart, Viscount B.: Tory Humanist (1965).

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(1678-1751), der sich eines weltmännisch kühlen Tons bediente, gleichviel ob er in Verteidigung der eigenen Sache schrieb (Letter to Sir William Wyndham, 1717) oder den Disraelische Gedanken vordeutenden Zukunftsplan eines patriotischen, von der Zustimmung des Volkes getragenen Königtums entwickelte (A Letter on the Spirit of Patriotism, 1736; The Idea of a Patriot King, 1738, gedruckt 1749). Dieser distanzierten Haltung trat eine Gefühlspolitik leidenschaftlicher Überzeugung gegenüber, die schon in dem mitreißenden Redeschwung des älteren Pitt (1708-78) sich ankündigte und in der nächsten Generation beherrschend wurde. Das bezeichnende literarische Denkmal für diesen Wandel sind die vielleicht von SIR PHILIP FRANCIS (17401818) verfaßten Letters ofjunius,2 die 1769-72 im Public Advertiser erschienen und Aufsehen erregten, da sie Georg III. und führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens scharf angriffen. Doch ist ihr Ziel nicht Satire, sie sind vielmehr Ausdruck des Geistes, der die englische Verfassung schuf, und wurzeln in der Verteidigung der Wahlfreiheit, der freien Presse und der freien Gerichtsbarkeit. Aus derselben gefühlsmäßigen Rechtfertigung der Volksfreiheit erwuchs die Wirksamkeit des späteren Konservativen EDMUND BuRKE 3 (1729-97), dessen erste ironisch in Bolingbrokes Stil gehaltene Streitschrift Vindication of Natural Society (1756) durch den Beweis, daß die Übel der Menschheit in der Gesellschaft, den Gesetzen und der Regierung begründet seien, den Widerspruch zwischen Verfassungstheorie und -Wirklichkeit aufdeckte. Denn damit, daß ein Parlament bestehe, sei es nicht getan, es müsse dem Geiste der Verfassung von 1688 entsprechend der getreue Ausdruck und die kräftige Geltendmachung des Volkwillens sein. Dieses Prinzip sah er gefährdet (Thoughts on the Cause of the Present Discontents, 1770), und in unverrücktem Festhalten an der verfassungsmäßig geregelten Freiheitsidee, der zuliebe er von den Whigs zu den Tories überging (Appeal from the New to the Old Whigs, 1792), vertrat er die Lebensrechte der amerikanischen Kolonien gegenüber dem Buchstabenrecht der Besteuerung (On American Taxation, 1774; On Conciliation with America, 1775). Er befürwortete die irische Handelsfreiheit und Katholikenduldung (Letter to a Peer of Ireland, 1782), bekämpfte die Mißregierung der Ostindischen Gesellschaft (On the East India Bill, 1783; On the Nabob of Arcot's Debts, 1785; Schriften gegen Warren Hastings 1786 und 1794) und donnerte gegen das gottlose Jakobinertum der französischen Revolution (Reflections on the Revolution in France, 1790; Letter to a Member of the National Assembly, 1791; Letters on a Regicide Peace, 1796-97). Burkes leidenschaftliche, die Tatsachenfülle auf einen 2 3

ed. C. W. Everett, 2 Bde. (1928); Works, edd. F. Laurence and W. King, 16 Bde. (1803-27 u. ö.). Correspondence, ed. T.W. Copeland, 10 Bde. (Chicago/Lo., 1958-78); Notebook, ed. H. V. F. Somerset (Cambr., 1957). - Auswahl: B.'s Politics, edd. R. J. S. Hoffman and P. Levack (N. Y., 1949); The Philosophy of E. B., edd. L. I. Bred void and R. G. Ross (Ann Arbor, 1960); Selected Writings, ed. P. J. Stanlis (Garden City, 1963). - Biographie v. P. Magnus (1939); C. B. Cone, 2 Bde. (Lexington, 1957-65). G. W. Chapman, E. B.: The Practical Imagination (Cambr., Mass., 1967).

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Punkt hin ausrichtende Beredsamkeit brachte einen neuen Ton in die englische politische Prosa, und die über den unmittelbaren Zweck hinausgehenden denkspruchartigen Zusammenfassungen machten die aus der englischen Politik abgeleiteten Gesichtspunkte zum Ausdruck eines allgemein verbindlichen, politischen Rechtsempfindens. Neben dem politischen lieferte das theologische und philosophische Schrifttum den wichtigsten Beitrag Englands zur europäischen Aufklärung. Lockes Erkenntnistheorie, die das menschliche Erkenntnisvermögen auf das den Sinnen Zugängliche begrenzte, wurde zur eigentlichen Grundlage des Denkens und beeinflußte auch die Literatur des Jahrhunderts tiefgreifend. Herbert von Cherburys Versuch, die geoffenbarte Religion vernunftmäßig zu begründen, die bereits in Lockes Reasonableness of Christianity (1695) zu einer Trennung von Vernunft und Offenbarung führte, bewog die deistischen Vertreter der nächsten Generation John Toland (Christianity not Mysterious* 1696), Anthony Collins (Discourse ofFreethinking,5lll3) und Matthew Tindal (Christianity as Old as the Creation,6 1730), die Offenbarung völlig anzuschalten mit der Begründung, daß die Vernunft, das lumen naturale, als Instrument der Gotteserkenntnis und als Grundlage sittlichen Verhaltens ausreiche. Die sich daraus entwickelnde Naturreligion, wie sie in William Wollastons verbreitetem deistischen Handbuch Religion of Nature Delineated1 (1722) hervortritt, stellte ein rein moralisches Christentum dar, das einzig an Tugend, Unsterblichkeit und ein „höchstes Wesen" glaubte und sich so von der Moralphilosophie nicht mehr unterschied. Das bedeutete aber das Ende des religiösen Deismus, wie es die philosophischen Schriften Bolingbrokes dartun, die den Herrschenden Denkfreiheit zubilligen, während sie aus politischen Gründen für die Massen die Religion als notwendig erachten. Anderseits hatte schon John Locke in seinen Toleranz-Briefen (1689-92) die These vertreten, daß Religion eine Sache der persönlichen Überzeugung sei und daß der Staat jede religiöse Vereinigung zu schützen habe, solange sie keine Gefahr für die staatliche Ordnung darstelle. Es erschienen nun Verteidigungen des Christentums, von denen Bischof William Warburtons8 The Divine Legation of Moses (1737 und 1741) eine literarische Fehde hervorrief und Bischof Joseph Butlers9 (1692-1752) tiefer dringender Nachweis, daß die Naturreligion denselben Einwänden offen stehe wie die Offenbarung (Analogy of Religion, 1736), eine ernstliche Erschütterung des Deismus bedeutete. Butler suchte zwar in der Analogy eine große Weltharmonie auszubauen und durch 4

Repr., ed. G. Gawlick (Stuttg, 1965). Repr., ed. G. Gawlick (Stuttg., 1969). 6 Repr., ed. G. Gawlick (Stuttg., 1967). 7 Letzte Aufl. 1759). 8 Works, ed. R. Hurd, 7 Bde. (1788). A. W. Evans, W. and the Warburtonians (Oxf., 1932). 9 Works, ed. J. H. Bernard, 2 Bde. (1900); Analogy, ed. E. C. Mossner (Napierville, III., 1970). - E. C. Mossner, Bishop B. and the Age of Reason (1936); A. Duncan-Jones, B.'s Moral Philosophy (1952). 5

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den Nachweis der Zweckmäßigkeit und Schönheit des Alls zur Verehrung der unendlichen Güte, Weisheit und Allmacht, die dieses Universum geschaffen, hinzuführen, aber seine Beweisführung war im Grunde nicht theologisch, sondern moralphilosophisch und bewegte sich damit auf der gleichen Ebene wie die seiner deistischen Gegner. Seine Lehre vom Zusammenwirken von 'self-love', 'benevolence' und 'conscience' (Fifteen Sermons Preached at the Rolls Chapel, 1726) fand ihren Niederschlag in Popes Essay on Man (1732-34). Die Moralphilosophie wurde im England des 18. Jahrhunderts zum wichtigsten Zweig der Philosophie überhaupt. Soweit sie sich nicht, wie bei David Hume, auf den Bahnen des von Bacon, Hobbes und Locke begründeten Empirismus fortentwickelte, fand sie in Shaftesbury einen genialen Neubegründer, der sie zur Moralistik im Sinne Montaignes umgestaltete. Sie bot den besten Geistern einen Ersatz für den religiösen Glauben und strahlte auf alle Gebiete der Kultur und des Geisteslebens aus, auch und vor allem auf die Literatur. Die Essayisten der moralischen Wochenschriften, aber auch führende Romanciers wie Fielding und Richardson, verstanden sich als Moralisten und stellten die Literatur in den Dienst der natürlichen Sittlichkeit. Der pädagogische Optimismus, der durch Locke und Shaftesbury geweckt wurde, hat das Geistesleben des Jahrhunderts mehr als alles andere bestimmt. Wenn er auch in seinen späteren Ausprägungen manchmal flach und unbegründet anmuten mag, so setzte er doch ungeahnte Kräfte des Selbstvertrauens und des moralischen Fortschritts frei und wirkte sich auf vielen Gebieten auch praktisch aus (z. B. Sozialfürsorge, Strafvollzug, Bekämpfung des Alkoholismus). Erkämpft werden mußte er gegen den ethischen Pessimismus des 17. Jahrhunderts, der seine Wurzeln sowohl in der Philosophie von Thomas Hobbes (homo homini lupus) als auch in der altcalvinistischen Lehre von der Korruptheit der menschlichen Natur gehabt hatte. Moralphilosophie und Moralistik des frühen 18. Jahrhunderts wurzelten letztlich in der aristokratischen Geisteswelt und waren dem überlieferten Ideal des 'gentleman' verpflichtet, das sie an die aufkommende bürgerliche Welt weitergaben. Selbstverständlich wurde es im Prozeß der Weitergabe umgestaltet, aber sein Kern blieb erhalten, was sich bei den Essayisten und Romanciers des späten 18. Jahrhunderts, z. B. bei Dr. Johnson, Samuel Richardson oder Oliver Goldsmith, zeigen sollte. In Anlehnung an die neuplatonische Schule von Cambridge und im Gegensatz zu seinem Lehrer Locke stelle ANTHONY ASHLEY COOPER, THIRD EARL OF SHAFTESBURY10 (1671-1713) seine Moralistik auf den Boden der auch 10

Characteristicks, ed. J. M. Robertson, 2 Bde. (1900); Second Characters, or the Language of Forms, ed. B. Rand (Cambr., 1914); The Life, Unpublished Letters and Philosophical Regimen of S., ed. B. Rand (1900); A.A. Cooper, Third Earl of S., Sämtliche Werke, ausgew. Briefe und nachgel. Schriften, edd. G. Hemmerich u. W. Benda (Stuttg., 1981 ff., i. E.) [Bd. l, Stuttg., 1981, enth. Soliloquy, Letter cone. Enthusiasm u. Adept Ladies; Standard-Ausg.]. - T. Fowler, S. and Hutcheson (1882); C. F. Weiser, S. und das deutsche Geistesleben (Lpzg., 1916); R. L. Brett, The Third Earl of S. (1951); A. O. Aldridge, S. and the Deist Manifesto (Philad., 1951); E.

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von der stoisch-ciceronianischen Tradition vertretenen Lehre von den eingeborenen Ideen. Seine Schriften, die 1711 als Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times gesammelt erschienen, betonen die Selbstständigkeit der Moralphilosophie durch die Einführung des Begriffs 'moral sense', der ein unabhängiges, spontan wirkendes Seelenvermögen bezeichnete und den theologischen Begriff des Gewissens ersetzte. Zugleich verstand Shaftesbury den Begriff in Analogie zum ästhetischen Begriff des Geschmacks. Ethik und Ästhetik wurden auf eine gemeinsame Grundlage gestellt. Dies lief auf eine Erneuerung des Grundgedankens der antiken Ethik, des Ideals der Kalokagathie, hinaus und bereitete das in der deutschen Klassik, vor allem von Winckelmann, Wieland, Goethe, Schiller und W. v. Humboldt entwickelte bürgerliche Bildungsideal der „schönen Seele" vor. Die Ethik Shaftesburys, die sich auf die These von der 'benevolence' (natürliche Neigung zu altruistischem Verhalten) des Menschen im Natur- und Freiheitszustande gründet, ist vor allem in seiner Abhandlung An Inquiry Concerning Virtue or Merit (1699) niedergelegt, seine Ästhetik, die auf Gedanken der sittlichen Wirkung der kosmischen Harmonie beruht, die durch den Künstler vermittelt wird, in Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour (1709 und dem philosophisch-rhapsodischen Dialog The Moralists (1709). Die in Sensus Communis enthaltene Theorie von der reinigenden und sittlich heilenden Wirkung des Komischen ('test of truth') sollte einen starken Einfluß auf die komische Literatur des Jahrhunderts ausüben, besonders auf Fielding. Von besonders großem Einfluß war auch Shaftesburys Auseinandersetzung mit dem Begriff des Enthusiasmus (A Letter Concerning Enthusiasm, 1708). Ausgehend von der politischen Frage, wie man sich dem religiösen Fanatismus (Enthusiasmus im Sinne des 17. Jahrhunderts) gegenüber verhalten solle, gelangte er zu einer folgenreichen Wiederentdeckung des griechischen Enthusiasmus-Begriffs, den er im Sinne einer auf die göttliche Harmonie des Ganzen gerichteten Begeisterung auffaßte. Darin lag der Keim zu einer antiaufklärerischen, irrationalistischen Ethik und Ästhetik, die sich im England des 18. Jahrhunderts kaum entfalten konnte, dafür aber umso nachhaltiger im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise war es vor allem der schottische Philosoph FRANCIS HUTCHESON (1694-1746), der in seiner Schrift An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue (1725) die Philosophie Shaftesburys aufnahm und weiterentwickelte. Hutcheson war von 1729 bis zu seinem Tode Professor der Moralphilosophie an der Universität Glasgow und beeinflußte vor allem durch sein postum veröffentlichtes Buch A System of Moral Philosophy (1755) die den Empirismus bekämpfende schottische Philosophenschule, die als 'Common-Sense School' bezeichnet wird (T. Reid, D. Stewart, T. Brown, W. Hamilton u. a.) Daß Shaftesburys Philosophie in der Blütezeit von Empirismus und literarischem Klassizismus verfrüht war, erhellt aus der Gegenschrift The Fable of Wolff, S. und seine Bedeutung für die engl. Literatur des 18. Jhs. (Tübingen, 1959); S. Green, S.'s Philosophy of Religion and Ethics (Athens, Ga., 1967).

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the Bees, or Private Vices Public Benefits" (1714) von BERNARD MANDEVILLE (1670-1733), einer kurzen Lehrdichtung mit umfangreichem Prosakommentar, deren Autor, ein aus den Niederlanden gebürtiger, vom Skeptizismus Pierre Bayles beeinflußter ehemaliger Arzt, mit allen Theorien ins Gericht ging, die den optimistischen Glauben an den Altruismus zur Grundlage der menschlichen Gesellschaft machten. Hobbes' Egoismus-These fand in Mandeville einen Erneurer und erfolgreichen Popularisator. Sein rücksichtsloser Rationalismus wirkt gegenüber dem manchmal ein wenig schwülstigen Harmonie-Pathos Shaftesburys erfrischend und erinnert an den satirischen Realismus Swifts. Durch seine Theorie vom Eigeninteresse als der eigentlichen Grundlage ökonomischen Wohlstandes bereitete Mandeville den Boden für ADAM SMITH 12 (1723-90), den Begründer und ersten Klassiker der britischen Nationalökonomie. Smith war 1752-64 Professor der Moralphilosophie in Glasgow. Als Tutor des Herzogs von Buccleuch reiste er anschließend nach Frankreich, wo er Voltaire und Mitglieder der physiokratischen Schule (Quesnay, Turgot, Mirabeau d. Ä. u. a.) kennenlernte, die sich gegen den Protektionismus der merkantilistischen Schule wandte, das hedonistische Prinzip als Fundament des Ordre naturel' erkannte und eine Wirtschaftspolitik des laissez-faire forderte. Smiths Glasgower Vorlesungen, die unter dem Titel Theory of Moral Sentiments (1759) erschienen, standen noch unter dem Einfluß seines Lehrers Hutcheson und seines Freundes David Hume, der Shaftesburys 'moral sense'Lehre durch Einführung des Begriffs der „Sympathie" ergänzt hatte. In Smiths Moralphilosophie spielt die Fähigkeit des Sich-Einfühlens eine vermittelnde Rolle zwischen Egoismus und Altruismus. Umso erstaunlicher wirkt es, wenn Smith in seinem Hauptwerk Inquiry into Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) die Theorie der französischen Physiokraten übernimmt und weiterentwickelt, indem er den Mechanismus des Wirtschaftslebens zum ersten Mal systematisch untersucht und die uns heute geläufigen Zusammenhänge zwischen Arbeit, Profit und Kapital in einer klaren, luziden Sprache darstellt, die Bedeutung des Prinzips der Arbeitsteilung für den Wohlstand der Gesellschaft untersucht und die Freiheit des Handels von protektionistischen Fesseln fordert. Über die nationalökonomische Schule hinaus führten Adam Smiths Gedanken geradlinig zu den sogenannten Utilitariern JEREMY BENTHAM B (1748-1832), THOMAS ROBERT MALTHUS H (1766-1834), DAVID RiCARDO15 (1772-1823) und JAMES MiLL16 (1773-1836). Bentham prägte die berühmt ge11

ed. F. B. Kaye, 2 Bde. (Oxf., 1924); ed. I. Primer (N. Y., 1962). Works, repr. d. Ausg. v. 1811/12 (Aalen, 1963); Wealth of Nations in EL; Dt. Übers., emgel.v.H.C.Recktenwald(München,1974).-D.Stewart,BiographicalMemoirofA. S.(1793u.ö.);J.Rae,LifeofS.,1895,ed.J.Viner(N.Y.,1965);H.C.Recktenwald,A. S. (München, 1976). 13 Works, ed. J. Bowring, 11 Bde. (1838-43; repr. N. Y., 1962). 14 An Essay on the Principle of Population, ed. P. Appleman (N. Y., 1976); EL. 15 Works and Correspondence, edd. P. Scraffa and M. Dobb, 11 Bde. (Cambr., 1951-73); Principles of Political Economy and Taxation in EL. 16 Elements of Political Economy, repr. d. Ausg. v. 1844 ( . ., 1970).

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wordene Formulierung, wonach 'the greatest happiness of the greatest number' der oberste Maßstab politischen Handelns sei (A Fragment on Government, 1776; Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1789) und erklärte die Utilität zum Leitprinzip der Gesetzgebung. Malthus befaßte sich in An Essay on the Principle of Population (1798, erweitert und modifiziert 1803) mit dem Problem der Übervölkerung, was einen Sturm der Entrüstung hervorrief, aber im 19. Jahrhundert Charles Darwin einen Anstoß zur Entwicklung seiner Evolutionstheorie gab. In scharfem Kontrast zum ökonomischen und quantitativen Denken Smiths und der Utilitarier steht der Idealismus GEORGE BERKELEYS17 (1685-1753), der den Empirismus Lockes in einer unerwarteten Richtung weiterführte. Locke war wie Descartes von einer dualistischen Position ausgegangen. Er hatte zwar das menschliche Erkenntnisvermögen auf die über die Sinne in den Geist gelangenden „Ideen" (Bewußtseinsinhalte) beschränkt, aber an der Existenz einer materiellen Welt der „Substanzen", von denen die Sinneseindrücke ausgehen, nicht gezweifelt. Berkeley trieb die empiristische Erkenntnistheorie so weit, daß es für ihn keine abstrakte, sondern nur konkrete Erkenntnis gab (Essay Towards A New Theory of Vision, 1709). Daraus folgt, daß alle Erkenntnis individuelle Erkenntnis ist. Da aber die Idee der Substanz als konkrete Erfahrung nicht nachzuweisen ist, muß sie eine Schulfiktion sein: 'esse est percipi'. Die Leugnung abstrakter Allgemeinvorstellungen ließ nur Einzelvorstellungen übrig und die Einzelmenschen als die geistigen Wesen, die solche Vorstellungen haben. Die Wahrheit dieser Ideen, die noch Locke an ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit erprobte, sah Berkeley in ihrer Übereinstimmung mit den Ideen eines allbeherrschenden Geistes, d. i. Gottes, bestätigt (Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, 1710; Dialogue Between Hylas and Philonous, 1713). Wie der Deismus, gegen den sich diese Gedankengänge letztlich richteten, birgt doch auch Berkeleys Philosophie ein gefühlsgetragenes, optimistisches Bewußtsein von der guten Weltordnung. Nur ist es nicht auf rationale Erkenntnis der äußeren, materiellen Welt gegründet, sondern auf eine zur Mystik neigende Innenschau, die den Romantiker Coleridge beeindruckt hat. Wenn Berkeley in seiner letzten, inhaltlich wie sprachlich schwierigen Schrift Siris (1744) die Natur als Sprache Gottes deutete, so spricht daraus ein Sehnen nach etwas, das nicht auf Logik beruht, nach mystischer Schau, weshalb ihn Kant einen „Philosophen der Schwärmerei" nannte. Andererseits bezeichnete der bedeutendste und konsequenteste Vertreter des Empirismus, David Hume, sein Werk wegen der scharfsinnigen Kritik an Lockes Festhalten am dualistischen Weltbild als die beste Anleitung zum Skeptizismus und sah in ihm seinen Vorgänger. DAVID HuMEs 18 (1711-76) Schriften, der Treatise of Human Nature (1734-37, gedruckt 1739-40), dessen Gedanken in der meisterhaft ge17

Works, edd. A. A. Luce and T. E. Jessop, 9 Bde. (Edinb., 1948-57); A New Theory of Vision in EL. - A. A. Luce, Life of B. (1949). 18 Works, edd. T. H. Green and T. H. Grose, 4 Bde. (1874 u. ö.); repr. d. Ausg. v. 1882 (N. Y., 1964); Treatise, ed. L. A. Selby-Bigge (21978), rev. u. erg. v. P. H. Nidditch in

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handhabten Form der Essays Moral and Political (1741/2) leichter zugänglich gemacht wurden, und die Enquiry (zuerst genannt Philosophical Essays) Concerning Human Understanding (1748) bedeuten Zusammenfassung und Vollendung der empiristischen Philosophie. Das Gesamtwerk Humes, aus dem auch die Enquiry Concerning the Principles of Morals (1751), die Political Discourses (1752) sowie die History of Great Britain (1754-61) hervorragen, kann als der Gipfelpunkt der englischen Aufklärung bezeichnet werden. Vor allem die Political Discourses, die ins Französische übersetzt wurden, machten den Schotten Hume auf dem Kontinent bekannt. Der Lockeschen Unterscheidung zwischen 'sensation' und 'reflection' stellte Hume das Begriffspaar 'impressions' und 'ideas' zur Seite. Damit übernahm er den extremen Nominalismus Berkeleys, denn nur die 'impressions' (konkrete Sinneseindrücke) galten ihm als „ursprünglich", d. h. als Träger gesicherter Erkenntnis, während er die 'ideas' nur als Abbilder von 'impressions' anerkannte. Damit führte er nicht nur die schon bei Locke und vor allem bei Berkeley angebahnte Ausschließung der Metaphysik aus dem Kreise der Wissenschaften weiter, sondern versetzte auch dem religiösen Deismus den endgültigen Todesstoß. Sein erkenntnistheoretischer Skeptizismus führte jedoch keineswegs zu einer Leugnung des Begriffs der Erfahrung, den er durch Einführung des Begriffs 'belief' rettete: Wenn das erkennende Ich, die 'res cogitans', als ein „Bündel von Vorstellungen" ('bundle of perceptions') angesehen werden muß und damit auch der Begriff der Identität problematisch geworden ist sowie die Kategorien des Erkennens (Raum, Zeit, Kausalität) als bloße Erfahrungstatsachen entlarvt sind, so reicht doch der aus der Erfahrung gewonnene Glaube an einen gesetzmäßigen Zusammenhang der 'perceptions' für das praktische Leben völlig aus. Dementsprechend löste Hume auch das sittliche Handeln vom Begriff der Vernunft und gründete es, Kants „praktische Vernunft" vorausdeutend, auf den 'moral sense', wie vor ihm schon Shaftesbury und Hutcheson. Die Religionsphilosophie verwies er auf die historische und psychologische Betrachtung und Erklärung der positiven Religionen. Hume hielt seine Skepsis für gemäßigt; sie wirkte trotzdem umwälzend, was sich daran zeigt, daß Sternes Tristram Shandy (1760-67), das tiefsinnigste Erzählwerk des 18. Jahrhunderts, die von Locke und Hume aufgeworfenen Probleme (Ideenassoziationen, Identität, Kausalität, Zeit und Dauer) und die davon ausgehenden geistigen Erschütterungen auf weiten Strecken thematisierte. Eine revolutionäre Änderung der bestehenden kirchlichen, politischen und gesellschaftlichen Ordnung war indessen nicht das Ziel der englischen Aufklärung, und die greifbaren Ergebnisse sind eher auf Teilgebieten zu sehen, von denen die sogenannte Assoziationspsychologie für die Literaturtheorie von besonderer Bedeutung wurde, weil das individuelle Seelenleben und seine Darstellung in der Literatur (z. B. Richardsons Romane) das zunehmend EL; Essays Moral, Political and Literary (Oxf., 1974); Enquiry, ed. L. A. Selby-Bigge (Oxf., 21966). Letters, ed. J. Y.T. Greig, 2 Bde. (Oxf., 1932 u. ö.). - Biographie: J. Y. T. Greig (1931); C. E. Mossner (1954; Oxf., 21980).

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vom bürgerlichen Geschmack bestimmte Leserpublikum besonders interessierte. Dachte man Lockes Lehre von den Ideenassoziationen weiter, so gelangte man notwendig zur Betonung der physiologischen Grundlage der Psychologie. Eine konsequent mechanistische Seelenlehre entwickelte als erster DAVID HARTLEY19 (1705-57), der Shaftesburys und Hutchesons Theorie, wonach der 'moral sense' als „eingeboren" zu betrachten ist, scharf zurückwies und das sittlich-ästhetische Urteilsvermögen auf den Mechanismus der Ideenassoziationen zurückführte: Die gewohnheitsmäßige Verbindung von Gefühlen der „Lust" ('pleasure') oder der „Unlust" ('pain') mit bestimmten Sinneseindrücken führt zur Bildung fester Vorstellungen vom Guten und Schönen. Da Hartley die seelischen Asssoziationsvorgänge physiologisch zu lokalisieren versuchte und deren Widerspiegelungen in den „Vibrationen" der Nerven und des Gehirns finden zu können glaubte, geriet er in die Nähe einer materialistischen Psychologie, obwohl er am psycho-physischen Parallelismus festhielt (Observations on Man, his Frame, his Duty and his Expectations, 1749). Dieser „Materialismus" sollte den entrüsteten Widerstand der romantischen Dichtungstheoretiker, besonders Coleridges (Biographia Literaria) herausfordern. Der Eudämonismus der Ethik und Ästhetik Hartleys brachte ihn im übrigen in die geistige Nähe der Utilitaristen. JOSEPH PRIESTLEY20 (1733-1804) ging noch einen Schritt weiter und wollte die Physiologie ganz und gar durch Nervenphysiologie ersetzen. Folgerichtig leugnete er die Willensfreiheit (The Doctrine of Philosophical Necessity Illustrated, 1777). Er war zugleich auch Naturforscher, gilt als Entdecker des Sauerstoffs und befaßte sich mit dem Phänomen der Elektrizität (The History and Present State of Electricity, 1767). Dennoch lehnte er eine Übertragung des Materialismus auf religiöses und metaphysisches Gebiet ab. Bei ihm zeigt sich deutlich die allgemeine Neigung der englisch-schottischen Denktradition des 18. Jahrhunderts zum Pragmatismus, die Ablehnung alles Spekulativen zugunsten der praktischen Anwendbarkeit philosophischen Denkens auf das menschliche Leben, wie sie der Hauptvertreter der schottischen common-sense-Schule, Thomas Reid,21 mit seiner Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense (1764) gefordert hatte. Der Utilitarismus erfaßte schließlich sogar die Theologie. Der einflußreichste Vertreter dieser Richtung war William Paley,22 der in seinen Principles of Moral and Political Philosophy (1785) die Gedanken Abraham Tuckers23 (The Light of Nature Pursued, 1768-78) systematisierte und dessen Buch Evidences of Christianity (1794) lange Zeit als Standardwerk galt. Nach der Lehre des theologischen Utilitarismus sind 19

H.'s Theory of the Human Mind, on the Principles of the Association of Ideas, ed. J. Priestley (1775; repr. N. Y., o. J.); Observations, ed. J. Priestley, 3 Bde. (1801; repr. in 2 Bden., Gainsville, Fla., 1966). 20 Works, ed. J. T. Rutt, 25 Bde. (1817-32); Ausw., ed. J. A. Passmore (N. Y., 1965). - A. Holt, Life of P. (Oxf., 1931). 21 Works, ed. W. Hamilton, 2 Bde. (1846-63). 22 Principles, ed. R. Whateley (1859). 23 Ausg. mit Biographie v. Mildmay (1805).

Das 18. Jahrhundert

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das Glücksstreben des einzelnen und die Beweggründe seines Verhaltens dann gerechtfertigt und dem allgemeinen Glücke dienlich, wenn sie von der Religion bestätigt werden. Die große religiöse Erweckungsbewegung des Jahrhunderts, der Methodismus, kam aus ganz anderen Quellen. Angeregt durch den ernsten Pietismus von William Laws24 Buch Serious Call to a Devout and Holy Life (1729), trat im gleichen Jahr unter Führung des Anglikaners JOHN WESLEY25 (1703-91) und des Calvinisten George Whitefield in Oxford ein Kreis zusammen, dessen Mitglieder durch Selbstkasteiung und karitative Tätigkeit einen neuen Zugang zu religiösem Erleben zu finden suchten. Während eines Aufenthalts in Amerika traf Wesley mit der protestantischen Sekte der Böhmischen Brüder ('Moravians', in Deutschland seit 1727 als „Herrnhuter Brüdergemeine" konstituiert) zusammen, bei deren Londoner Zusammenkünften er 1738 sein persönliches Erweckungserlebnis hatte. Danach wurde Wesley zum Begründer und unbestrittenen Führer der rasch anschwellenden, straff organisierten religiösen Volksbewegung, die nach Wesleys Wahlspruch 'to live by rule and method' den Namen Methodismus erhielt. Ihre Anhänger blieben nach dem Willen Wesleys lange Zeit Mitglieder der anglikanischen Kirche. Erst 1784 brach Wesley unter dem Eindruck langjähriger Anfeindungen mit der 'Established Church'. Um diese Zeit waren schon weit über dreihundert methodistische Bethäuser an Orten errichtet, an denen es vorher keine Kirchen gab, vor allem am Rande der neu entstandenen Industriestädte. Der Methodismus war eine Religion der Armen. Wesley predigte harte Arbeit, Sparsamkeit und eine aktive, selbstlose christliche Lebensführung, verurteilte jedoch politischen Radikalismus. Seine Schriften (z. B. Character of a Methodist, 1942, und A Plain Account of the People Called Methodists, 1748) betonen die rechtfertigende Kraft des Glaubens und wenden sich gegen äußerliche Rechtgläubigkeit. Wesleys Wirkung beruht jedoch in erster Linie auf seiner unermüdlichen Tätigkeit als Wanderprediger. Man schätzt, daß er insgesamt etwa 40000 Predigten im Laufe von fünf Jahrzehnten gehalten hat, wofür seine und seines Bruders Charles26 Tagebücher aufschlußreiche Quellen sind. Heiße Beredsamkeit spricht aus John Wesleys Verteidigungen seines Glaubensbekenntnisses (Earnest Appeal to Men of Reason and Religion, 1743, und Further Appeal, 1745) sowie aus den Hunderten von Kirchenliedern, die namentlich Charles Wesley, dann aber auch andere Mitglieder der Familie, ferner Isaac Watts27, Philip Doddridge28, John Newton u. a. verfaß24

Works, ed. G. B. Morgan, 9 Bde. (1892/3); Auswahl: Liberal and Mystical Writings, edd. W. Scott Palmer and W. P. du Böse (1908); Selected Mystical Writings, ed. S. Hobhouse (1948); Serious Call, ed. N. Sykes (1955). "Works, ed. T. Jackson, 14 Bde. (1829-31; repr. Grand Rapids, Mich., 1958/9); Letters, ed. J. Telford, 8 Bde. (1931); Journals, ed. N. Curnock, 8 Bde. (1909-16); 44 Sermons on Several Occasions (Napierville, III., 1944). - Biographie von R. Southey, 2 Bde. (1820); von C. E. Vulliamy (1931); A. C. Outler (Oxf., 1964). D. Marshall, J. W. (Oxf., 1965); R. C. Monk, J. W.: His Puritan Heritage (1966). 26 Journal, ed. T. Jackson, 2 Bde. (1849); The Early Journal, 1736-9, ed. J. Telford (1909). 27 In: Johnson-Chalmers, The English Poets, Bd. XIII. 28 Scriptural Hymns, ed. J. D. Humphreys (1839). - Auswahl der Dichtung von J. und

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ten. Diese Hymnen, in denen sich vieles aus der Dichtung Cowpers fortsetzt, wollen zwar nicht Dichtungen, sondern Andachtslieder sein. Trotzdem bilden sie dichtungsgeschichtlich eine Brücke zwischen der religiösen Lyrik des 17. Jahrhunderts und der romantischen Lyrik. Sie beleuchten alle Stimmungen religiösen Erlebens: Verzweiflung, Kampf, Hoffnung, Rückfall, Neuerhebung und Glückseligkeit und haben Eingang in das Liederbuch der englischen Kirche gefunden. Wie ihre deutschen Vorbilder, die Lieder von Paul Gerhardt und Angelus Silesius, stellen sie in ihren vorzüglichen Stücken wertvolle Beiträge zur religiösen Dichtung überhaupt dar29. Insgesamt war das 18. Jahrhundert eine Periode des raschen Wandels und des Übergangs von einer letzten, in ihrer Geschlossenheit und ihrer rationalen Ausgeglichenheit imponierenden aristokratischen Kultur zum bürgerlichen Zeitalter, das mehr auf die Spontaneität individuellen Empfindens setzte, ohne allerdings die Erinnerung an das Ideal des vernünftigen Ausgleichs je ganz zu verlieren. In England kam es nicht, wie in Frankreich und allgemein auf dem Kontinent, zu revolutionären Umbrüchen. Die notwendigen Veränderungen wurden mit praktischem Sinn Schritt für Schritt, wenn auch keineswegs reibungslos vollzogen. Dies ist nicht zuletzt das Verdienst der Aristokratie des frühen 18. Jahrhunderts, die bereits im Zeitalter Ludwigs XIV. die drohende Gefahr des Absolutismus bannte und die ihr zufallende Verantwortung auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet übernahm. Deshalb war sie auch in der Lage, ihren Sinn für die an klare Formen gebundene Harmonie und für Freiheit in der Selbstbeherrschung an das aufsteigende Bürgertum weiterzugeben. Die auf kontinentale Verhältnisse passenden Stil- und Periodenbegriffe wollen auf das englische 18. Jahrhundert nicht so recht zutreffen. England hat zwar viel zur europäischen Aufklärung beigetragen, aber der Begriff „Aufklärung" allein vermag die englische Entwicklung der Zeit nicht voll zu erfassen. Die Begriffe „Barock" und „Rokoko" sind für das England des 18. Jahrhunderts nur unter Vorbehalt anwendbar. Dichtung, Baukunst und Malerei orientierten sich an der römischen Kultur des augusteischen Zeitalters, wie übrigens auch Verfassung und Gesellschaftsordnung ohne das Vorbild der römischen PrinzipatsVerfassung unter Augustus nicht denkbar sind. In England spricht man daher mit Recht vom 'Augustan Age', in Deutschland vom Zeitalter des Klassizismus bzw. des Neoklassizismus. Diese Begriffe lassen sich wegen der erstaunlichen Kontinuität der kulturellen Entwicklung auch auf das spätere 18. Jahrhundert noch anwenden, obwohl antiklassische, vorromantische Inhalte schon sehr früh, zur Zeit Popes, in die klassizistische Formenwelt einzudringen begannen.

C. Wesley, Watts, Doddridge, Cowper, Newton u.a. in: The Oxford Hymn Book, edd. Dr. Strong and Dr. Sanday (Oxf., 1908 u. ö.). - Vgl. H. N. Fairchild, Religious Trends in English Poetry, 3 Bde. (N. Y., 1949). 29 The Poetical Works of J. and C. Wesley, ed. G. Osborn, 13 Bde. (1868-72).

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I. DIE V E R S D I C H T U N G 1 1. Theoretische Grundlagen der klassizistischen Dichtung und ihre Wegbereiter Die Versdichtung des Klassizismus war im Unterschied zu der des 17. Jahrhunderts weder leidenschaftlich und selbstquälerisch wie die Dichtung der 'metaphysical poets' noch panegyrisch und idealisierend wie der auf den Hof und die Aristokratie ausgerichtete Teil der Poesie der Restauration, sondern lehrhaft, moralisierend und auf die Bewältigung des praktischen Lebens bedacht. Schon während der Restaurationszeit hatte Dryden die Poesie auf das Diesseits verwiesen und eine Dichtungssprache gefordert, die sich durch Klarheit, Verständlichkeit und Deutlichkeit auszeichnen sollte. Besonders gefördert wurde diese Entwicklung durch die Bestrebungen der 1662 gegründeten Royal Society. Der ständig zunehmende Bestand an empirisch und experimentell gewonnener Erkenntnis sollte auch und gerade mittels der Dichtung für das Leben nutzbar gemacht werden, was einen am Gegenstand und an der Gegenwartssprache orientierten sprachlichen Ausdruck erforderte. Der Begriff 'metaphysical' wurde zu einer pejorativen Bezeichnung. Er hatte sich ohnehin nie auf die 'metaphysischen' (= religiösen) Gegenstände der Dichterschule des frühen 17. Jahrhunderts bezogen, sondern auf deren von der „Natur", d. h. vom natürlichen Sprachgebrauch, abweichende, durch gesuchte und manchmal gekünstelte 'conceits' gekennzeichnete Dichtungssprache. Im Gegensatz dazu strebte man jetzt nach dem „natürlichen", d. h. der sprachlichen Wirklichkeit entsprechenden, dem Gegenstand angemessenen und dennoch poetischen Ausdruck. Der für den Klassizismus charakteristische Begriff der 'poetic diction' stand dazu keineswegs im Gegensatz. Er war Ausdruck des Strebens nach möglichst allgemeingültigen und dauerhaften Formulierungen, die den vernünftigen, hierarchisch gegliederten Aufbau der Schöpfung zum Ausdruck brachten. Das Universale und Überzeitliche war wichtiger als das Konkrete und Vergängliche. Die Nachahmung der Dichtungssprache römischer Dichter wie Vergil oder Lukrez war also nicht nur Ausdruck klassizistischer Verehrung der „Alten", sondern mindestens ebenso sehr sprachlicher Niederschlag des aufklärerischen Kults der Vernunft. Newtons Entdeckungen ließen die Natur als ein von Gesetzen beherrschtes, in sich ausgewogenes Gefüge erscheinen, an dessen vernünftiger Ordnung der Mensch sein individuelles und gesellschaftlich-politisches Verhalten orientie1

Vgl. J. Sutherland, A Preface to Eighteenth Century Poetry (Oxf., 21950; repr. 1970); G. Tillotson, Augustan Poetic Diction (1961); J. Arthos, The Language of Natural Description in Eighteenth Century Poetry (Ann Arbor, 1949; repr. N. Y., 1970); Chester F. Chapin, Personification in Eighteenth Century Poetry (N. Y., 1955). Texte: Johnson-Chalmers, The Works of the English Poets, Bd. VIII-XVI; The Oxford Book of Eighteenth Century Verse, ed. D. Nichol Smith (Oxf., 1926 u. o.).

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ren konnte. Das „Buch der Natur" trat gleichwertig neben Offenbarung und Tradition. Die 'poetic diction' trug dieser Überhöhung der natürlichen, mit der Vernunft gleichgesetzten Ordnung Rechnung. So erklärt sich die Neigung zur Personifikation der Abstrakta und ihre Belegung mit den Namen antiker Gottheiten, aber auch die Verwendung gewählter, von der Alltagssprache abgehobener Wörter ('mead' statt 'meadow', 'genial' statt 'mild'). Dahinter stand nicht das Bestreben, die Sprache der Dichtung esoterisch zu gestalten oder sich mit klassischem Bildungsgut zu schmücken, sondern der Versuch, die Würde des Menschen als eines Wesens zu unterstreichen, das sich aus freiem Entschluß in die vernünftige Ordnung der Schöpfung einfügte. Das in der Dichtung des Klassizismus beliebte Bild von der 'great chain of being' deutete die Schöpfung als ein gewaltiges System einander zugeordneter Gattungen, die sich, ineinander gefügt wie die Ringe einer unendlich langen Kette, von einem höchsten Wesen bis in das Nichts hinein erstreckten. Dieses System der Gattungen war nicht im Sinne der erst im 19. Jahrhundert aufkommenden biologischen Evolutionstheorie zu verstehen, sondern eher als ein logisches, nach den Prinzipien von 'genus', 'species' und 'differentia specifica' aufgebautes Gefüge. So erklärt sich die häufige Verwendung poetischer Umschreibungen der Art, wie sie schon Milton gebraucht hatte: Vögel bezeichnete man als 'plumy race', Nebel als 'cooling vapours', den Himmel als 'blue profound', ein Pferd als 'impatient courser' usw. Den Dichtern der Romantik, die ein neues, aus der Sehnsucht nach Individualität, Gefühl und Irrationalität lebendes Zeitalter verkörperten, erschien die „poetische Diktion" des Klassizismus als blutleer, verstaubt, starr und tot. Für die Menschen im Zeitalter Popes jedoch bedeutete sie Fortschritt und Freiheit in einem neuen „goldenen Zeitalter", das sich nach einem Jahrhundert ideologischer Verkrampftheit und daraus resultierenden Leidens endlich zu Klarheit, Ordnung und Vernunft durchgerungen zu haben schien. Das in der klassizistischen Dichtung vorwiegend verwendete 'heroic couplet', ein Paar von gereimten, fünfhebigen jambischen Versen mit regelmäßigem Wechsel von Hebung und Senkung sowie MittelZäsur, gab diesem Grundgefühl, das sowohl auf Würde wie auf Normalität bedacht war, seinen angemessenen rhythmischen Ausdruck. Einer der wichtigsten Grundgedanken der klassizistischen Dichtung, der sich sowohl formal wie inhaltlich auswirkte, zielte auf die Idee einer allumfassenden Harmonie. Man verstand darunter keineswegs ein Streben nach dem irdischen Paradies im Sinne späterer romantischer Utopien, sondern die kunstvolle, rational begründbare Herbeiführung eines prekären Gleichgewichts zwischen den Extremen. Die politische und soziale Entwicklung nach 1660 und besonders nach 1688 hatte gezeigt, daß eine relativ friedliche, an die große Zeit Elisabeths I. anknüpfende Epoche des Wohlstands und nationaler Größe nur auf dem Wege des Kompromisses zu erreichen und zu erhalten war. Vor allem die klassizistische Lehrdichtung versuchte diese Erfahrung gültig zu formulieren und einem möglichst weiten Leserkreis zu vermitteln. Man trachtete danach, naturwissenschaftliche Erkenntnis und geoffenbarten Glauben, die Ethik des Egoismus (Hobbes) und die Sittlichkeit des Altruis-

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mus (Shaftesbury), Festhalten an der Tradition und Fortschrittsstreben miteinander in Einklang zu bringen. Vor allem bei Pope erinnern diese Harmonisierungsversuche manchmal an die hochmittelalterliche Scholastik. Da sie jedoch von dem aufklärerischen Glauben an die Macht der Vernunft getragen sind und entsprechend der Lehre Lockes metaphysische Spekulationen möglichst ausschalten, wirken sie auf den heutigen Leser oft flach und naiv. Das gilt auch für die in der gesamten klassizistischen Dichtung verbreitete Diskussion des Theodizee-Themas. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen und der „Rechtfertigung Gottes" wird durchgehend mit dem Hinweis auf die Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens beantwortet. Damit wird die Existenz eines virtuell Bösen letztlich in allzu leicht widerlegbarer Weise geleugnet. Immerhin verweist diese Art der Argumentation eindringlich auf die moralische Verantwortung des Menschen und zwingt zum Vernunftgebrauch. In formaler Hinsicht führte der vorwiegend argumentative Charakter der klassizistischen Dichtung zu einem weder vorher noch nachher nachweisbaren Vorherrschen der formalen Rhetorik. Dichtung war in erster Linie Instrument der Überzeugung und der Kommunikation. Poetik und Rhetorik waren weitgehend identisch. Daß man sich dabei an die antiken Theoretiker der Rhetorik, an Cicero, Seneca und Quintilian anlehnte, entsprach also nicht nur der allgemeinen Mode des Antikisierens, sondern war eine Notwendigkeit, die sich aus den vorherrschenden Auffassungen von der Funktion der Dichtung ergab. Dichtung war nicht Ausdruck individueller Gefühle, sondern Diskussion von Gedanken, die als geeignet betrachtet wurden, das Handeln der Menschen in Politik, Gesellschaft und Privatleben zu lenken. Deshalb mußte der Dichter ein Meister der forensischen Rhetorik sein. Zugleich mußte er über einen möglichst großen Fundus an Wissen verfügen. Das Ideal des 'poeta doctus' erlebte eine neue Blüte. Der Begriff des Wissens umfaßte sowohl humanistische Gelehrsamkeit wie auch naturwissenschaftliche Erkenntnis. Beide Wissensquellen konnte man mit Locke unter dem Begriff der Erfahrung zusammenfassen. Dichtung war wie in der Antike Repositorium und Vermittlerin von gesicherter Erfahrung. Obwohl das rhetorische Können der klassizistischen Dichter und Schriftsteller sich zunehmend auch in den Dienst des Parteienwesens stellte, war es doch ursprünglich bedingt durch ein aus dem Harmonie-Gedanken folgendes Streben nach Objektivität und ausgewogener Darstellung einander widerstrebender Meinungen. Die neugefundene politische und soziale Harmonie zu pflegen und zu erhalten, indem man sie als Analogie zur kosmischen, auf Naturgesetzen und auf der Vernunft beruhenden Ordnung interpretierte, war oberstes Ziel. In diesem Bemühen sah der Klassizismus in der Restaurations-Dichtung seine Vorstufen. Besonders die von Waller eingeschlagene Richtung, die auf Harmonie des Verses und Klarheit der Sprache abzielte, wurde als vorbildlich empfunden. Bezeichnend ist auch, daß ein Reimpaarepos wie das von Sir Richard Blackmore (1650-1729), das unter dem Titel The Creation (1712) die Existenz Gottes zu beweisen suchte und die Macht der göttlichen Vorsehung

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pries, trotz seiner uns heute endlos anmutenden Beredsamkeit noch von Dr. Johnson als hochpoetisch geschätzt wurde. In seiner philosophisch-argumentativen Darstellungsweise und seiner gesuchte Metaphern vermeidenden Sprache wurde dieses Werk des Leibarztes der Königin Anna zu einem der ersten Beispiele in einer langen Reihe klassizistischer Lehrdichtungen. Die neue Dichtung war noch nicht da, aber den Weg zu ihr sah man in der Anlehnung an die lateinische Dichtung des augusteischen Zeitalters, die nicht nur die formalen Vorbilder lieferte. Man empfand die politische, soziale und kulturelle Situation Roms zur Zeit des Augustus als verwandt mit der eigenen. Die klassizistische Dichtung besonders der Pope-Zeit stand ähnlich wie die römische zur Zeit des Prinzipals unter dem Mäzenatentum einer reformierten, ihrer politischen, sozialen und kulturellen Verantwortung wieder bewußt gewordenen Aristokratie. Dies schien im Rahmen einer Ordnung, die aus monarchistischen, aristokratischen und demokratischen Elementen gemischt war, die gleichen poetischen Ausdrucksformen zu verlangen, wie man sie bei Vergil, Lukrez oder Horaz vorfand. So lehrte das Vorbild horazischer Episteln den zwanglosen, unaufdringlichen Gesprächston, den man auf Themen der zeitgenössischen Wirklichkeit anzuwenden lernte. Dies gelang etwa William Walsh (1663-1708) in Gelegenheitsgedichten, Epigrammen und Eklogen verstechnisch einwandfrei. John Pomfret (1667-1702) besang in The Choice (1700) das horazische Wunschbild eines Lebens in ländlicher Zurückgezogenheit auf einem von urbanem Leben nicht allzu weit entfernten Landsitz ('retreat'), das zu einem Lieblingsthema der aristokratischen Gesellschaft im Zeitalter des Klassizismus werden sollte. Insoweit die Dichtung der Zeit sich als Gesellschaftsdichtung im engeren Sinne (Gelegenheitsdichtung) verstand, fand sie ihre Vorbilder auch in der englischen Dichtungstradition des 17. Jahrhunderts. Herrick und andere Vertreter der Kavaliersdichtung hatten schöpferische Umsetzungen der anakreontischen Dichtung gezeitigt und bereits eine neue Gelegenheitsdichtung geschaffen, auf die man zurückgreifen konnte. Vielleicht der größte, sicherlich jedoch der geschickteste Meister solcher Gelegenheitsdichtung war im 2 18. Jahrhundert MATTHEW (1664-1721), dessen zierliche Schöpfungen noch heute bezaubern. Er trat zuerst mit Lobesoden in einem gemäßigten Cowley-Ton (Odepresented to the King; Carmen Saeculare} öffentlich hervor, fand aber bereits in seiner Verspottung der Namur-Ode Boileaus (1695) die ihm gemäße, leichte, ironische Art. Dieser französisch klare, leichte und leichtfertige Plauderton entspricht dem höfisch-aristokratischen Konversationsstil, wirkt aber dennoch nicht künstlich. Er klingt im Haager Diplomatenseufzer The Secretary (1696) zum ersten Mal an, wetteifert im Hans Carvel erfolgreicher als etwa Gay mit Lafontaine und erreicht in der Essexreise DownHall, a Bailad (1723) den Höhepunkt. Prior konnte lehrhaft und ernst schreiben, wie die drei monologischen Bücher Solomon on the Vanity of the World (1718) beweisen. Wenn er aber denselben Vorwurf in einen humorvollen Dia!

The Writings of M. Prior, ed. A. R. Waller, 2 Bde. (1905-07).

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log im Versmaß des Hudibras auflöst (Alma, or the Progress of the Mind, 1715 im Tower geschrieben), so ist er für unser Empfinden poetischer, wobei zugleich der melancholische Grundton seines Witzes deutlich hervortritt. Seine Melancholie ist jedoch nicht bitter wie die satirische Misanthropic Swifts, sondern seine Gedichte wollen Gelassenheit, Gleichmut und Heiterkeit bewirken und durch die Aufforderung zu einer aktiven Lebensführung die Melancholie überwinden. Die C/oe-Gedichte sind dafür ein Musterbeispiel. Horaz war sein Vorbild, auch in der charakteristischen Verbindung von Ironie und Pathos (To a Child of Quality). Er belustigte sich über die Torheiten der galanten Welt (The Lady's Looking-glass) und war ein Meister der kurzen Vers-Epistel (A Better Answer.. .; A Letter to Miss Cavendish). Im Genre des knappen und zugespitzten Epigramms blieb er unübertroffener Meister. Seine stoische Grundhaltung befähigte ihn dazu, gleichsam lächelnd die eigene Grabschrift zu schreiben (For my Own Monument). Seine Dichtung stellte, wie die seiner Zeitgenossen Walsh und Pomfret, eine neue, in weiterem Sinne philosophische Spielart der absichtlich unfeierlichen Art dar, die schon während der Restauration als Reaktion auf Pathos und Panegyrik der Barockdichtung eingesetzt hatte. Alle Ansätze der neuen Dichtung waren also gegeben. Es fehlte nur die Meisterhand, die sie zusammenfassend zur Vollendung führte.

2. Alexander Pope Es war die Sendung von ALEXANDER POPE3 (1688-1744), der neuen Dichtung auch das nötige Gewicht zu geben. Seine überragende Leistung überschattete die gesamte klassizistische Dichtung Englands. Die dichterische Schulung des Londoner Kaufmannssohnes, dem als Katholik die höheren Bildungsanstal3

B i b l i o g r a p h i e : R . H. Griffith, A. P.: A Bibliography, Bd. I, 2 Teile (Austin, 1922, 1927) [Pope-Kanon]; J. E. Tobin, A. P.: A List of Critical Studies Publ. from 1895 to 1944 ( . ., 1945); C. L. Lopez, A. P.: An Annotated Bibliography 1945-67 (Univ. of Florida Pr., 1970). - W e r k e : The Twickenham Edition of the Poems of A. P., edd. J. Butt et al., 11 Bde. (1939-69) [einschl. Homerübersetzung, diese auch in WC]; einband. Ausg. der Twickenham Edn. (New Haven, 1963 u. ö., pb.); Gespräche in J. Spence, Anecdotes, ed. S. W. Singer (1820), sowie J. M. Osborn, 2 Bde. (Oxf., 1966); Prose Works, ed. N. Ault, I (1711-1720) (Oxf., 1936); Correspondence of A. P., ed. G. Sherburn, 5 Bde. (Oxf., 1956). - Viele billige Ausgaben der poetischen Werke, z. B. ed. A. W. Ward, Globe Edition (1869 u. ö.); ed. B. Dobree, EL; ed. H. Davis, OS A (1966). - B i o g r a p h i e und K r i t i k : J. Warton, Essay on the Genius and Writings of P., 2 Bde. (1756, 1782); Dr. Johnsons Essay in: Lives of the Poets (und in Johnson-Chalmers, Bd. XII); R. Carruthers (1853,21857); W. J. Courthope (1889); A. Warren, P. as a Critic and Humanist (Princeton, 1929); E. Sitwell (1930); G. Sherburn, The Early Career of A. P. (Oxf., 1934) [grundlegende Darstellung der Zeit bis 1727]; R. K. Root, Poetical Career of A. P. (Princeton, 1938); N. Ault, New Light on P. (1949); R. A. Brower, A. P.: The Poetry of Allusion (Oxf., 1959); H. Erskine-Hill, The Social Milieu of A. P. (New Haven/Lo., 1975); M. Leranbaum, A. P. 's Opus Magnum' 1729-1744 (Oxf., 1977).

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ten verschlossen blieben, geschah in ländlicher Einsamkeit unter Büchern und Freunden, die einer anderen Altersstufe angehörten. Das machte zusammen mit der Bedrückung durch einen gebrechlichen, verwachsenen Körper bei einem durchdringend scharfen Geist ein empfindliches Selbstbewußtsein zum Grundzug seines Wesens. Seine ursprüngliche Veranlagung war weicher, und die Übersetzungen, mit denen er begann (Statius' Thebais Buch L, geschrieben etwa 1702-05, gedruckt 1712), sind nur in den lyrisch-elegischen Stellen und stimmungsschildernden Beschreibungen glücklich, weshalb auch Ovid eine bessere Vorlage bot (besonders Sappho to Phaon, geschrieben 1707, gedruckt 1712), während die Chaucerbearbeitungen (The Temple of Farne, January and May, The Wife of Bath, etwa 1709-12, gedruckt 1709, 1714, 1715) mehr ein Versuch sind, allen Sätteln gerecht zu werden und neben dem elegischen und heroischen auch den leichten Erzählton der Drydenschen Fabeln zu treffen. Nach dieser Lehrzeit veröffentlichte er als erste eigene Dichtung die Pastorais (1709), wie Thomsons berühmter gewordene Seasons eine Folge von vier die Jahreszeiten als Überschrift wählenden Gedichten. Den Wert dieser dem Vorwurf nach herkömmlichen Dichtungen sah Pope im Technischen, in der Versgestaltung des heroic couplet, des einzigen von ihm sicher beherrschten Versmaßes, das hier bereits glänzend und vorbildlich gehandhabt ist. Der Satz ist auf das Reimpaar beschränkt. Alltagswendungen und Füllwörter sind vermieden, der rhythmische Gang beruht auf genauester Erwägung der Pausenlänge und -Verteilung, der Klangwerte, Hiatusvermeidung und der wechselnden Silbenschwere. Vom Technischen abgesehen, bedeuteten die Pastoralgedichte den Höhepunkt der lyrisch-elegischen Dichtart, der Popes ursprüngliche Begabung so sehr zuneigte, daß er in dem Gedicht The Messiah (1712, im Spectator), das als Traum vom Goldenen Zeitalter den Pastorais gewöhnlich zugeordnet wird, die dem Jesajasthema anstehende epische Größe ins schmuckhaft Idyllische verkleinerte. Auch später hat er noch gerne auf diesen Ton seiner Jugendwerke zurückgegriffen, am glücklichsten in der Elegy to the Memory of an Unfortunate Lady (1717), die in ihrem rhetorischen Empfindungsüberschwang den Spott der klassizistischen Kritiker hervorrief, und in der leidenschaftlichen, von psychologischer Einsicht zeugenden Epistel Eloisa to Abelard (1717). In beiden stört die epigrammatische Natur des Reimpaars die Stimmung, und wohl aus dieser Erkenntnis heraus versuchten die Ode on St. Cecilia's Day (1717) und die erste Ode des vierten Buchs der Imitations of Horace (1736) eine freiere Versgestaltung, wie sie bereits die frühe Ode to Solitude (1709) angedeutet hatte, aber Popes einziges sicher beherrschtes Versmaß war und blieb das heroic couplet. Popes Experimentieren mit den verschiedenen lyrischen Gattungen (Pastoralekloge, Elegie, Heroiden-Brief, Horaz-Ode) kann jedoch nicht nur biographisch gedeutet werden. Die Planmäßigkeit, mit der er versuchte, die aus der Antike überkommenen Gattungsmuster in jeweils einem gültigen Modell nacheinander zu verwirklichen, läßt einen bewußten Aufbau seines poetischen Werks erkennen, der im Großen dem Vergilischen Dreischritt von der Pastoraldichtung über das 'Georgic' zum Epos (im Mittelalter 'rota Vergilii'

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genannt) folgt und andere lyrische Gattungen an passender Stelle einsetzt. Ungeachtet dessen ging der Übergang von den lyrischen Formen der frühen Periode zum kritischen Stil der späteren, seinen Dichterruhm begründenden Jahre, in denen er sich mit Vorliebe der Horazischen Form der Versepistel bediente, Hand in Hand mit menschlichen Enttäuschungen. Wie seine Sehnsucht nach Freundschaft sich mit literarischen Bekanntschaften von wechselnder Verläßlichkeit begnügen mußte (Philips, Addison) und das ritterliche, aber ungeschickte Eintreten für alle Bedrückten oft Mißdeutung erntete, so waren seine Beziehungen zu Frauen unglücklich: Lady Mary Wortley Montague spottete über seine Annäherungsversuche, und selbst das mehr schwesterliche Verhältnis zu der „unsterblichen Geliebten" Martha Blount war einmal schmerzlich gestört. Dazu kamen die Schriftstellerfehden, die durch Popes witzige, aber nicht ganz ehrliche Angriffsweise zu persönlicher Feindschaft ausarteten, wie im Falle Ambrose Philips'4 (l675-1749), der gleichzeitig mit Pope Pastoralgedichte veröffentlicht hatte, und in dem Streit mit dem angesehenen klassizistischen Kritiker John Dennis5 (1657-1734, vgl. The Advancement and Reformation of Modern Poetry, 1701; The Grounds of Criticism in Poetry, 1704), dessen Wort von der buckligen Kröte so tödlich traf wie Lady Montagus Lachen. Fortan verschloß Pope den empfindsamen Teil seines Ichs, das sich später in die seltsamen Rokokoschnörkel seines Gartens in Twickenham versteckte, und suchte eine neue, vom Persönlichen abgerückte Dichtart. Den Übergang dazu bildete der gleichsam vier Jahreszeitenpastorals in ein Gedicht zusammenfassende Windsor Forest (1713). Dieses Gedicht pries nach dem Vorbild von Vergils Georgica die ländlich-aristokratische Szenerie des Britannien der Queen Anne-Zeit und stand damit auch in der Tradition der Gattung des 'local poem'. Das uralte Königsschloß Windsor inmitten einer typisch englischen Parklandschaft wurde zum Sinnbild des Prinzips der Order in variety', das unter der Regierung der Königin Anna die politisch-gesellschaftliche Ordnung beherrschte und ein neues Goldenes Zeitalter heraufgebracht zu haben schien. Hier war nicht mehr Stimmungsmalerei und poetische Überhöhung des privaten Daseins das Ziel wie in den bukolischen Dichtungen der vorangegangenen Periode, sondern es wurde ein öffentlich-politischer Anspruch erhoben. Darin und in der Technik des kunstvollen Wechsels von Beschreibung, geschichtlichem Rückblick und reflektierender Anwendung auf die Gegenwart übertraf Windsor Forest die als Vorbilder dienenden Dichtungen Cooper's Hill von Denham und The Park von Waller. Popes Dichtung war nicht nur gegenwartsbezogener und inhaltreicher, sondern trotz des panegyrischen Grundtons auch kritischer und prosaischer geworden. Nach dem Muster der 'rota Vergilii' hätte auf das 'Georgic' das heroische Epos folgen müssen. Aber die heroischen Ideale der aristokratischen Tradi4 5

Poems, ed. M. G. Segar (Oxf., 1937). ed. E. N. Hooker, 2 Bde. (Baltimore, 1939, 1943). - Biographie von H. G. Paul (N. Y., 1911).

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tion erschienen in der Wirklichkeit der zeitgenössischen Gesellschaft auf das Galante reduziert. Dieser Gedanke war es wohl, der Pope dazu führte, sich mit dem Lockenraub im Genre des komischen Epos zu versuchen und damit eine neue Entwicklung der seit Boileaus 'Le Lutrin' (1674) beliebten Gattung einzuleiten. Nach Boileaus Muster hatte Sir Samuel Garth (1661-1719) in seiner Armenapotheke (The Dispensary^', 1699) den um den Arzneiverkauf entbrannten Streit der Ärzte und Apotheker aufgegriffen, um durch eine lustige Behandlung der Geschichte die Streitenden zur Ruhe zu bringen. Der Erfolg dieses Werkleins, das an Erfindungsmangel leidet, und ohne das witzige Mißverhältnis von Ursache und Wirkung auch sprachlich nicht sehr geschickt ist, beruhte mehr auf den eingestreuten politisch-whiggistischen Angriffen als auf künstlerischen Werten. Bedeutenderes im heroisch-komischen Stil leistete John Philips7 (1676-1709), der im Splendid Shilling (1701) in miltonschen Blankversen die Auswege besang, die ein armer Student versucht, um seinen Gläubigern und dem Gerichtsvollzieher zu entgehen, und im Cyder (1708) ein nicht ganz ernsthaftes Lehrgedicht über die Obstkulturen und die Herstellung des Apfelweins schrieb. Pope verwendete die Gattung des komischen Epos zu einem scherzhaften Interieurgemälde der Londoner Gesellschaft, indem er in seinem Rape of the Lock (I. Fassung 1712, II. Fassung 1714) die Schlichtung des um eine abgeschnittene Locke entstandenen Zwistes zweier Familien versuchte. Kurz, anmutig, mit spielerischer Auffassung aller Dinge, leicht ironisch und witzig geht die dicht zusammengefügte, Genrebildchen an Genrebildchen reihende Handlung von dem lächerlichen Ausgangspunkt bis zum glänzenden Schluß mit der Apotheose der Locke. Wie in der Ilias oder Aeneis rücken die Gegner auf, wobei allerdings der Kampf allegorisch gestaltet werden mußte; wie dort finden wir das selbstverständlich-natürliche Sich-Einfügen der Episoden, sei es des Levers der Schönen, des L'Hombrespiels, der Themsefahrt oder des Rats der Sylphen. Diese in der zweiten Fassung zugefügte olympische Leitung der Rokokogeister, die dem Kleinepos angemessen ist, verstärkt den Bau des Ganzen. Überdies ergeben sich reizvoll erfundene Einzelszenen: Einer dieser Sylphen bewacht am verhängnisvollen Tage den Fächer, ein anderer die Ohrringe, ein dritter die Uhr, ein vierter die Locke, während der oberste der Sylphen, Ariel, sich des Schoßhundes annimmt und und fünfzig weitere mit dem Schutz des Reifrocks betraut sind. Das Glitzern der sinnspruchartig zusammengedrängten Verse tut ein übriges, um diesem neugeschaffenen Rokokostil seine einheitlich zarte Anmut zu geben. Keiner der Nachfolger hat diesen Ton zu treffen gewußt, weder John Gay (The Fan, 1714) noch die mehr und mehr ins Ungezogene gehenden Kleinepen von 'Joseph Gay' (The Petticoat, 1716), Giles Jacob (The Rape of the Smock, 1727) u. a. m.8. 6

ed. W. J. Leicht (Heidelberg, 1905); Works in Johnson-Chalmers, Bd. IX u. XX. ed. M. G. Lloyd Thomas (Oxf., 1927) [mit Bibliographie u. wichtiger Einleitung]. 8 Vgl. F. Brie, Engl. Rokoko-Epik (München, 1927); U. Broich, Studien zum komischen Epos (Tübingen, 1968). 7

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Mit dem Windsor Forest und dem Lockenraub waren Muster klassizistischer Dichtung aufgestellt, und von den nunmehr gemeisterten Formwerten, die er Kleider der Dichtung nannte, richtete Popes Augenmerk sich jetzt auf den rationalen Kern, der ihm den Körper der Dichtung bedeutete, übereinstimmend mit der antiken Anschauung, daß vernünftig sein die Voraussetzung des rechten Stiles sei, und mit Boileaus Forderung: 'avant done d'ecrire apprenez ä penser'. In diesem Sinne unternahm es der von Dr. Johnson als eines der größten Werke Popes bezeichnete Essay on Criticism (geschrieben ab 1709, anonym veröffentlicht 1711, in endgültiger Fassung 1713) als ein Handbuch der Kritik die Grenzen des Geschmacks zu umreißen. Ein erster Teil (Z. 1-200) stellt den widersprechenden kritischen Maßstäben seiner Zeit den Grundsatz der Naturnachfolge entgegen, der auch Leitsatz der Antike gewesen sei. Dann folgt als wertvollster Teil eine Überschau der englischen Dichtung (Z. 201-559), worauf, als dritter Teil, eine Beschreibung des guten Kritikers mit einer geschichtlichen Skizze derer, die sich in dieser Kunst auszeichneten, das Ganze abschließt (Z. 560-744). Die einzelnen, an Kürze und Schlagkraft unübertrefflichen Formulierungen sind den begrifflich zugespitzten, kritischen Gedanken so völlig angemessen, daß aus dieser Vorbildlichkeit ein gesetzgebender Anspruch ersteht. Damit war der kritische Stil errungen, an den Pope auch in seiner späteren Zeit noch oft anknüpfte. So stellt die erst 1731 gedruckte Epistle IV aus der von Warburton zu Unrecht Moral Essays genannten Reihe trotz des Titels Of the Use of Riches eine Anwendung der im Versuch über die Kritik ausgesprochenen Anschauung auf Bau- und Gartenkunst dar. Der von Pope geforderte Garten ist eine aufgebaute Landschaft, in der anstelle geschnittener Taxushecken Bäumchen natürlichen Wuchses sich finden, anstelle gerader Wege gewundene Pfade, anstelle von Marmorfontänen natürlich sein sollende Wasserfälle und anstelle kleiner Lusthäuschen künstliche Ruinen - ein Garten, in dem man die Menschen des Lockenraubs lustwandeln sieht. Auch die folgenden Episteln sind keine Moral Essays. Die einen sind Huldigungsgedichte meist literarischer Art aus früherer Zeit (Epistle ¥ an Lord Oxford, 1721; Epistle VI an James Craggs, nach 1717; Epistle VII an Addison, 1721) oder Kunstbetrachtungen in der Art des Versuchs über die Kritik (Epistle VIII an seinen ehemaligen Mallehrer Jervas 1714, umgearbeitet 1716) oder Artigkeiten aus dem Empfindungskreis des Lockenraubs (Epistle IX: Young Lady, with the Works of Voiture, 1712; Epistle X: To the Same, zuerst 1717 gedruckt, beide ursprünglich an Theresa Blount gerichtet und nach dem Zerwürfnis mit ihr ihrer Schwester Martha gewidmet). Pope war nun zum führenden Dichter seiner Zeit aufgestiegen und konnte sich als solcher an die höchsten Aufgaben wagen, die diese Position ihm abverlangte. Dazu gehören die Homerübersetzung, die mit den Dichterlingen abrechnende Dummkopfiade und das aus geselliger Kultur hervorgehende Briefwerk. Die Ilias- (1715-20) und die mit Helfern unternommene Odysseeüberseizung (1725-26) ist - wie die Renaissanceübertragung von Chapman - weniger ein übersetzter als ein umgedichteter Homer9. Popes heroische 'Vgl. R. Sühnel, Homer und die englische Humanität (Tübingen, 1958).

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Reimpaare dürfen nicht mit den griechischen Hexametern verglichen werden, die ovidische Eleganz der Diktion nicht mit der Kraft Homers. Es ist ein selbständiges, die höchsten klassizistischen Anforderungen erfüllendes Kunstwerk. Die epische Palme, die Pope weder mit der Statiusübersetzung seiner Jugend noch mit der Rokokoepik des Lockenraubs errungen hatte, wurde ihm mit dem Homer endlich zuteil. Der Erfolg war so groß, daß er Pope Wohlhabenheit verschaffte und gesellschaftliches Ansehen für den Stand des freien Schriftstellers. Weniger Glück hatte er mit der Shakespeareausgabe (1725), die von der zeitgenössischen Kritik, insbesondere von dem gelehrten Lewis Theobald, angegriffen wurde und die in Angriff und Gegenangriff den Dichter unmittelbar in die Kämpfe der Dunciade hineinführte. Dabei hatte Pope die richtige Herausgebermethode, ihm fehlte nur die Ausdauer, und er gab folglich seine Anmerkungen willkürlich, bald ausführlich, bald leichtfertig, mit erstaunlicher Fühllosigkeit gegenüber der Musik der Shakespeareschen Verse. Eine Ehrenrettung der Ausgabe ist nicht möglich, aber Popes lange Einleitung, die eine klassizistisch gemäßigte Anerkennung der Größe Shakespeares darstellt, ist in der richtigeren Einschätzung der Zugeständnisse an das Publikum der romantischen Lehre vom unfehlbaren Genius überlegen. Die vielfachen Angriffe reizten Pope zu einer Entgegnung, was bei seiner Kunst, sich Feinde zu machen, kein unbedenkliches Unternehmen war, und nachdem er mit Swift zusammen eine lustige, das falsche Pathos verspottende Satire Peri Bathous, or The Art of Sinking in Poetry (1727) herausgebracht und auch darauf wütende Entgegnungen der angegriffenen Modedichter erhalten hatte, kam zuerst anonym und dann als eine Art Rechtfertigung The Dunciad (1728) heraus, die in jeder der zahlreichen Auflagen Änderungen erfuhr (z. B. den Ersatz des Dummkopfkönigs Theobald, der seine Shakespeareausgabe zerpflückt hatte, durch Colley Cibber, mit dem er neuerlich aneinander geraten war) und in der letzten Auflage (1743) um ein ganzes Buch, das umfänglichste vierte, vermehrt wurde. Damit wurde der ursprüngliche Plan, die Geschichte und Ausdehnung des Dummkopfreichs und das Fest der Königskrönung, endgültig verwischt zugunsten eines satirischen und oft böswilligen Um-sich-Schlagens, das nach dem Verblassen der Namen kaum einen Schatten der ursprünglichen Wirkung haben kann. Man möchte Mitleid haben mit den armen Schluckern, die Popes stahlharte Verse um Ruf und Verdienst brachten, aber Popes Diktum 'middling poets are no poets at all' steht zu Recht, und seine eigene Leistung zeigt den peinlichen Abstand zu den angegriffenen Skribenten. Ein günstigeres Bild der literarischen Welt als diese noch lange und immer erbitterter fortgesetzten Federkämpfe entfalten Popes Briefe. Popes Prosa, wie sie in den kritischen und satirischen Schriften erscheint, ist gut, klar, rhetorisch geschult, doch fehlt ihr zur Größe die Wucht der Persönlichkeit und die Fähigkeit, für feine Abschattungen Worte zu finden. Am ungünstigsten zeigt sich das in den dünn geratenen Scriblerusmemoiren (gedruckt 1742), die dem mit Swift, Gay, Dr. Arbuthnot u.a. gegründeten Scriblerus-

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Club (1713) entstammten; am günstigsten da, wo er zur Rechtfertigung seines sittlichen Rufes das Wort ergriff, wie in dem Letter to a Noble Lord [Hervey] (1733). Von den Briefen, aus deren unerfreulicher Veröffentlichungsgeschichte wir von Popes fälschenden Überarbeitungen wissen, darf kein seelenenthüllendes Belauschen des dichterischen Genius erwartet werden. Es sind unpersönliche Verstandesspiele, bald mehr im Rokokoton, bald mehr in der Art einer trockenen Abhandlung, aber in sorgfältiger, wohlüberlegter Sprache abgefaßt und auf den jeweils Angeredeten eingehend, so daß der Geist der Geselligkeit in glücklichster Weise gewahrt ist. Die letzte Phase der dichterischen Entwicklung Popes umfasst die „moralischen", d. h. philosophischen Werke. Lange Zeit hatte sich Pope mit dem Gedanken getragen, ein großes, umfassendes philosophisches Gedicht zu schreiben, das an die Stelle des in der modernen Zeit nicht mehr möglichen heroischen Epos hätte treten können und hinsichtlich seiner Thematik und seines Ranges mit Miltons Verlorenem Paradies vergleichbar gewesen wäre. Der aus vier Episteln bestehende Essay on Man (1733/4) war ursprünglich als Einleitung zu einem solchen größeren Werk geplant, und auch die darauf folgenden Moral Essays waren dafür bestimmt. Warum es nicht zur Fertigstellung dieses Opus Magnum kam, das in einem epischen Teil den BrutusArthur-Stoff enthalten sollte, ist nicht bekannt. Pope hielt jedenfalls bis zu seinem Tod an dem Plan fest und betrachtete den Essay on Man trotz seines umfassenden, die Grundthesen der englischen Aufklärung harmonisierenden Charakters als Fragment. Das Gedicht unternimmt den Versuch, die vernünftige Ordnung der Welt glaubhaft zu machen und die Stellung des Menschen im Rahmen dieser Ordnung zu bestimmen. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen, das mit der Idee einer vernünftigen Ordnung unvereinbar ist, umgeht Pope wie Locke, Shaftesbury und Bolingbroke mit dem Hinweis auf die begrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen, der nur die innerhalb der physischen und moralischen Welt sichtbare Ordnung und Zweckmäßigkeit, nicht aber den Sinn des Ganzen verstehen kann. Dennoch ist es vernünftig, an die Zweckmäßigkeit der Gesamtschöpfung zu glauben, und so erhebt sich die I. Epistel angesichts der unendlichen Weisheit eines gütigen Schöpfers zu einem hymnischen Schluss (Z. 267 ff.), ähnlich dem späteren Universal Prayer Deo opt. max. (1738). Nachdem so menschlichem Philosophieren die Aufgabe gestellt ist, wird erwiesen, daß die Selbstsucht und Leidenschaft menschlichen Tuns einem höheren Zwecke dienstbar ist (Epistel II), woraus dann die im Staate gipfelnde Gesellschaftslehre erwächst (Epistel III). Im Hinblick auf das Ganze und die Zukunft tritt das Unglück des einzelnen zurück, und so klingt die Dichtung mit der klassizistischen Glückseligkeitslehre aus, nach der alles Geschaffene gut ist, weil es dem einen großen Ziel der Vorsehung dient, und wonach unser Glück in Tugend, unsere Weisheit in Selbsterkenntnis besteht. Das abschließende Idealporträt des Viscount Bolingbroke, Popes Freund und Mäzen, den er als philosophischen Anreger und vorbildlichen Edelmann apostrophiert, zeigt deutlich, wie sehr der Essay on Man sich an der Denkwelt der Aristokratie des englischen Rokoko orien-

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tiert10. Mögen die philosophischen Voraussetzungen oft unrichtig und die daraus gezogenen Schlüsse gelegentlich unnötig sein, es ist das erste unmittelbar vom Deismus angeregte Lehrgedicht und der einzige dichterische Ausdruck der Rokokophilosophie, vor deren Hintergrund das ganze Dichten und Denken Popes zu sehen ist. Künstlerisch ist es eines der klassischen Lehrgedichte der Weltliteratur, das in geschickter Weise Gedanken und Bilder um eine Reihe Themen ordnet und, ohne allzulange sich bei philosophischer Zergliederung aufzuhalten, rednerisch vorwärtsdrängt. Die knappe, auf billigen Schmuck verzichtende und jedes Wort gewissermaßen unterstreichende Sprachfügung und das diamantharte Leuchten der Verse geben auch den alltäglichen Gedanken dauernde Prägung, und selbstbewußt konnte Pope jetzt den Rang des „Moralisten" für sich in Anspruch nehmen. In diesem Sinne müssen die Moral Essays als eine nähere Ausführung der im Versuch über den Menschen geäußerten Gedanken angesehen werden. Epistel I: Of the Knowledge and Characters of Men (1732) gibt als Richtschnur der Menschenkenntnis das Herausfinden der 'ruling passion' (der sich gleichbleibenden Temperamentsveranlagung), die offen oder versteckt in allen Lebensumständen wirksam sei, was in Epistel II: Of the Characters of Women (1732-33) eine zwar allgemein gehaltene, aber durch psychologisch beleuchtete Einzelfälle anschaulich gemachte Nutzanwendung erfährt. Trat hier schon der philosophische Ton zurück zugunsten eines lebenskritischen, so ist die Epistel III (1732) trotz der unpersönlich klingenden Überschrift Of the Use of Riches eine bittere Satire über die allmächtigen Geldinteressen seiner Zeit mit einer politischen Zuspitzung auf Walpole. Die ursprüngliche Fassung, die nachher in einen Dialog zwischen Pope und Lord Bathurst umgearbeitet wurde, war eine wirkliche Epistel. Der persönliche Plauderton deutete bereits die Kunst der Imitations of Horace an, die in ihrem Übergang von Übersetzung zu freiem Weiterspinnen des horazischen Fadens Pope vollendete Selbstaussprache ermöglichten. Das Glänzende und Gedrängte seines Stils, die Fähigkeit zu angreifenden Epigrammen und die warme Begeisterung den Freunden gegenüber, alles konnte in diesem horazisch vornehmen Sich-Gehen-Lassen Ausdruck finden, und in der Aussprache dieser Vorlieben und Abneigungen wird er selbst und das damalige literarische London so lebendig wie nie zuvor. Gewiß lagen ihm nicht alle horazischen Themen das Mäßigkeitsthema der 2. Satire II. Buch (1734-35), das 'nil admirari' der 6. Epistel II. Buch (1737) und der spöttische Stoizismus der 1. Epistel I. Buch (1737) bleiben folglich trotz glänzender Formung etwas blaß -, aber die Umprägungen der 1. Satire II. Buch (1733), worin er über seine Satiren plaudernd die ganze Schriftstellerwelt durchhechelt, sowie die 1. Epistel II. Buch (1737), worin in höchst ironischer Weise König Georg an die Stelle des römischen Augustus tritt (Höhepunkt 390ff.) und die eigene Dichtauffassung nochmalige Formulierung erhält, erweisen Pope wirklich als Herrscher im klassizistischen Dichterreich. 10

Vgl. G. Stratmann, Engl. Aristokratie u. klassizistische Dichtung (Nürnberg, 1965).

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Völlig persönlich und gleichsam die Krönung der Horaznachahmungen ist das vollendetste Stück klassizistischer Gesellschaftsdichtung, die Epistle to Dr. Arbuthnot (1735). Von seinem kritischen Stil ist Pope zu einem trotz aller Zusammendrängung und Zuspitzung natürlich anmutenden Gesprächsstil übergegangen, der besonders überzeugt, weil Pope hier eine Rechtfertigung seines Dichtens in Gestalt einer autobiographischen Abrechnung gibt. Das tief Empfundene und das satirisch Witzige stehen ohne gegenseitige Schwächung untrennbar nebeneinander, und diese in 400 Zeilen zusammengedrängte Selbstbiographie kann als unerreichtes Musterstück klassizistischer Verskunst das Popesche Vermächtnis genannt werden, denn die zeitlich letzten Dichtungen, die beiden Dialoge Seventeen Hundred and Thirty-eight (1738) sind durch die starken parteipolitischen Beimischungen von weniger allgemeiner Wirkung.

3. Gay und die Schule Popes Popes beherrschender Einfluß ist bei allen Zeitgenossen fühlbar, aber weil sein Dichten ein Vollenden, nicht ein Eröffnen neuer Wege bedeutete, konnte keiner seiner Freunde und Schüler ihm Vergleichbares schaffen. Auch JOHN GAY" (1685-1732), der in seiner Skepsis und seinem Scharfblick für menschliche Schwächen Pope ähnlich war, ist künstlerisch am wenigsten überzeugend, wenn er sich der Art seines Freundes fügte. Er begann mit beschreibenden Pastoralgedichten im Banne des Windsor Forest (Rural Sports, 1713) und setzte auf Popes Betreiben diese Richtung in den sechs Hirtengedichten der Shepherd's Week (1714) fort, die in spöttischer Nachbildung Ambrose Philips' Pastorals (1709) lächerlich machen sollten. Dieser parodierende Zweck lag Gay, und er führte ihn dichterisch weiter, denn die humorvolle Schilderung ländlicher Szenen mit Kuhhirten und Milchmädchen verlieh der ausgeleierten Gattung neue Frische. Pope verkannte Gays Eigenart, als er ihn auf den Rokokostil hinwies, was zur Abfassung von The Fan (1714) führte. Gay konnte weder mit der technischen Meisterschaft der Reimpaare des Lokkenraubs wetteifern noch mit der kunstvoll zierlichen Ausgestaltung des gesellschaftlichen Kleinepos. So blieb seine Darstellung von der Erfindung des Fächers, den Liebesgötter auf der Venus Geheiß mit mythologischen Szenen bemalen, eine heiter tändelnde, aber unbedeutende Kleinigkeit. Auch die dramatischen Versuche, insbesondere die Possenkomödien The Wife of Bath (1713) und The What D'ye Call it (1714), waren kein künstlerischer Erfolg. Sie zeigten aber, was dann die Beggar's Opera und Polly (s. S. 544) zu neuartigen Kunstwerken machte, Hinneigung zum Libretto und lyrische Befähigung. Während Gay in den Reimpaargedichten, den Eklogen "Poetical Works, ed. G. C. Faber (1926; repr. N. Y., 1969) [Standard]; Shepherd's Week, ed. H. F. Brett-Smith (Oxf., 1924); Trivia, ed. W. H. Williams (1922). Zu den Dramen und zur Kritik vgl. S. 544, Anm. 5.

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(The Birth of the Squire; The Toilette; The Funeral), den Episteln (To Bernard Lintott und, in der Ottava, To Mr. Pope), den Elegien und ernsthaften Stükken (Contemplations on Night) nicht über das Herkömmliche hinauskam, haben die vom Zwang des Reimpaars befreiten Lieder (Love in her eyes sits playing; O ruddier than the cherry) die Leichtigkeit und gelegentlich die Leichtfertigkeit der Restauration (Damon and Cupid; The Coquette Mother). Auch die Balladen ('Twas when the seas were roaring; Sweet William's Farewell; Black-eyed Susan; Molly Mog) haben einen neuen lyrischen Klang, der in dem herausfordernden Straßenton der in die Singspiele eingefügten Stücke seinen eigenartigsten Ausdruck fand. Herkömmlicher, aber neben und vor der Schäferwoche und den Fabeln als bedeutendste Dichtung Gays zu werten, sind die drei Bücher Trivia, or the Art of Walking the Streets of London (1716). Sie erinnern in der geistvoll-ironischen Haltung und im Plauderton der Reimpaare an Swifts 'City Shower'. Die kulturgeschichtlich einzigartigen Beschreibungen der Gefahren, Ereignisse und Gesichte der Londoner Straßen enthüllten einen scharfen Gesellschaftsbeobachter in La Bruyeres Art. Auch die erste Folge (1727) der in Achtsilblern geschriebenen Fables benützte die überlieferte Form der mit einer Moral schließenden Tiererzählung zu derartigen theophrastischen Charakterbildern, während die zweite (1738) in politischen Anspielungen stecken blieb. War schon Gay ohne Eigenart, wenn er im Popeschen Stil dichtete, so gilt das erst recht von den kleineren Talenten. Von allen Gelegenheitsgedichten THOMAS TiCKELLs12 (1688-1740), mit dem Pope wegen einer gleichzeitigen Iliasübersetzung (1. Gesang) verfeindet war, ist nur die Elegie To the Earl of Warwick, on the Death of Mr. Addison lebendig geblieben. Auch THOMAS PARNELL13 (1679-1718) ist mehr als Popes Freund und Verfasser der Einleitung zur Ilias bekannt als durch seine Gedichte, von denen die Reimpaarerzählung The Hermit Aufmerksamkeit fand und die Achtsilblerode A Night-Piece of Death als klassizistisches Vorspiel der Grayschen Elegie Erwähnung verdient. Es ist, als ob Popes Schatten die kleineren Dichter, gegen die er so abweisend war, hemme oder verscheuche. Auch sein Ideal der Satire, die Tagespolitisches mit ethischen Gesichtspunkten verbinden sollte, ließ sich nicht halten und sank bei den whiggistischen Beiträgern der Rolliad (ab 1784) zur politischen Flugschrift ab. Der letzte Satiriker der Dryden-Pope-Schule war CHARLES CHURCHILL'* (1732-64), der mit der Aufsehen erregenden Schauspielsatire The Rosciad (1761) und dem Angriff gegen den Premierminister Lord Bute (The Prophecy of Famine, 1763) berühmt und gefürchtet wurde. Churchill, dessen prosodisches Verdienst in einer Befreiung des Reimpaars aus der Antithesenfesselung zu einer blankversartig stürmenden Rhetorik zu 12

In: Johnson-Chalmers, Bd. XI. ed. G. A. Aitken (1894); auch in Johnson-Chalmers, Bd. IX, u. EL. 14 ed. J. Laver, 2 Bde. (1933); ed D. Grant, (Oxf., 1956); in: Johnson-Chalmers, Bd. XIV. 13

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sehen ist, besaß ungewöhnliche dichterische und satirische Kraft, aber er gab sich nicht die Mühe, die Verse über den satirischen Zweck hinaus bedeutsam zu machen, und von seinen zu ihrer Zeit geschätzten Collected Poems (1763-65) fesselt heute nur das durch aufrichtige Selbstkritik bestechende Gedicht The Conference (1763). Der klassizistische Rahmen bedurfte neuer Themen, um seine dichterische Geltung zu behaupten. Die ländliche Schilderung, die JOHN LANGHORNE IS (1735-79) in The Country Justice (1774-77) auf dem Wege von Goldsmiths Deserted Village zu Crabbe begriffen zeigt, erwies das ebenso wie der epische Bericht eines erlebten Schiffbruchs in WILLIAM FALCONERS16 (1732-69) The Shipwreck (1762, umgearbeitet 1764 und 1769). Aber Falconers selbstgeschultes Dichtertum fügte sich zu willig der herkömmlichen Dichtsprache, um bleibende Bedeutung zu haben. Er gab seinen Matrosen griechische Namen, flocht belehrende Abschweifungen ein, die der Erzählung nicht gemäß sind, und mied die Zustandsschilderung, die der zeitgenössische Roman so erfolgreich pflegte. Viel eigenartiger is MATTHEW GREENS I? (1696-1737) postum veröffentlichte Dichtung The Spleen (1737). Da wird in witzigen, flüssigen Achtsilbern ohne die Schärfe des 'Hudibras' und in knapper und treffender Wortgebung als Heilmittel gegen den „Spleen" Bewegung, Heiterkeit, gesundes Gutsleben und ironische Betrachtung der Mitmenschen vorgeschlagen. Aber obwohl der Ton frisch ist und der Sprecher ein unabhängiger Geist, mangelt des engen klassizistischen Rahmens wegen diesem Gedicht wirkliches Leben. Das gilt auch von den Versen, die er dem 1732 in Richmond Garden erbauten The Grotto widmete.

4. Erweiterung des klassizistischen Rahmens Schon frühzeitig nahm die klassizistische Dichtung auch Anregungen aus der älteren englischen Poesie auf, insbesondere von Spenser und Milton. Dies führte allmählich zu einer Erweiterung des klassizistischen Rahmens, so daß der Übergang vom Klassizismus zur Romantik sich über viele Jahrzehnte hinweg fast unmerklich vollzog. Dabei wandelte sich nicht nur die Sprache der Dichtung, sondern es traten auch konkurrierende Themen in den Vordergrund, vor allem Natur und Melancholie. Thomson und Young waren die Hauptvertreter dieser den klassizistischen Rationalismus überschreitenden Richtung, aber sie waren weder die einzigen noch die ersten. Die mit Pope befreundete ANNE FINCH, COUNTESS OF WINCHILSEA IS (1661-1720) veröffentlichte 1713 eine Gedichtsammlung Miscellany Poems, in der neben den herkömmlichen Titeln (Moral Song; Upon the Death of Sir William Twisden; 15

In: Johnson-Chalmers, Bd. XVI. ed. J. Mitford (1836); in Johnson-Chalmers, Bd. XIV. 17 ed. R. K. Wood (1925); auch in: Johnson-Chalmers, Bd. XV, u. EL. 18 ed. M. Reynolds (Chicago, 1903); auch in EL. 16

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Love Death and Reputation) und dem im Geschmack der Zeit geschriebenen pindarischen Gedicht The Spleen (1701) das starke Hervortreten eines allerdings oft gekünstelt-schwermütigen Tons auffällt (Ardelia to Melancholy; A Song of Griefe; On Affliction) und eine ebenfalls gefühlsselige, aber echte Naturliebe (Petition for an Absolute Retreat; To the Nightingale; The Tree und besonders A Nocturnal Reverie). Die klassizistische Haltung ist kaum in Frage gestellt: die Trauer wird nie Verzweiflung, und die Naturschwärmerei geht nicht bis zur Aufhebung des Ich; aber das Verweilen bei den zarten und flüchtigen Stimmungen, Nachtigallenlied, Abendfrieden, Mondschein auf Wasser und die liebevolle Beschreibung der Landschaft, die sich gelegentlich des miltonschen Blankverses bedient (Fanscomb Barn), hat einen Romantiker wie Wordsworth verwandt berührt. Ähnlich überraschend sind JOHN DYERS19 (1699-1758) landschaftsbeschreibende Gedichte Grongar Hill (1727) und The Country Walk, ersteres die Schilderung des weiten Blicks vom Grongar-Hügel über das walisische Towytal hin mit Höhen, Wäldern, Ruinen und Wiesen, das andere die noch anschaulichere Erzählung des Wegs zum Grongar-Hügel mit der morgendlichen Frische der blumigen Wiesen, der mittäglichen Rast im Moos am plätschernden Waldbach und der weiten, friedlichen Abendlandschaft. Beide Gedichte sind in heiteren Achtsilblern geschrieben, und etwas von dieser Leichtigkeit bleibt auch in den späteren, anspruchsvolleren und nach Thomsons Vorbild im Blankvers abgefaßten Dichtungen fühlbar: in den Gedanken des Rombesuchers The Ruins of Rome (1740) und der patriotisch-englischen, über Schafzucht und Wollhandel unterrichtenden Georgica The Fleece (1757), dem besten und einzig lebendig gebliebenen Beispiel der Mode gewordenen ländlichen Dichtungen im miltonschen Stil (vgl. Christopher Smart20, Hop Garden, 1752, und James Grainger21, Sugar Cane, 1764). Entscheidend bei dieser Poesie ist nicht der lehrhafte Inhalt, sondern das lebendige und genaue Sehen ländlicher Beschäftigungen und ihr landschaftlicher Hintergrund. In dieser Art hatte WILLIAM SoMERViLE22 (1675-1742) in den vier Büchern seines Gedichts The Chace (1735) Hasen-, Fuchs- und Otternjagd in die englische Landschaft hineingestellt, und solche Bilder beleben auch seine weniger bedeutenden, gleichfalls in miltonschen Blankversen geschriebenen Dichtungen über die Falkenjagd (Field Sports, 1742) und die ländlichen Spiele in Gloucestershire (Hobbino, 1740). All das ist JAMES THOMSON23 (1700-48) verpflichtet, dessen berühmte Seasons eine Neubelebung des Gefühls für Schönheit und Größe der Natur ein19

ed. E. Thomas (1903); auch in Minor Poets of the 18th Century, ed. H. l'Anson Fausset (1930) u. in Johnson-Chalmers, Bd. XIII; Grongar Hill, ed. R. C. Boys (Baltimore, 1941). 20 S. 503, Anm. 77. 21 In Johnson-Chalmers, Bd. XIV u. XX. 22 Poetical Works, 2 Bde. (Glasgow, 1766); Chace, ed. A. H. Higginson, (N. Y., 1929). 23 Works, ed. P. Murdoch, 2 Bde. (1762); Poetical Works, ed. J. L. Robertson, OS A (Oxf., 1908); Seasons, ed. O. Zippel, Bln. (1908) [Palaestra, Varianten-Ausg.]. - Biographie von G. C. Macaulay (1908); L. Morel (Paris, 1895); D. Grant (1951). - A. D. McKillop, The Background of T.'s Seasons, 1942; R. Cohen, The Art of Discrimination: T.'s The Seasons and the Language of Criticism (Los Angeles, 1964).

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leiteten. Die Absicht dieser Vierjahreszeitengedichte (Winter 1726, Summer 1727, Spring 1728, Autumn 1730, gesammelt 1730, letzte umgearbeitete Fassung 1746) ist der Art von Denham und Pope nicht fremd: „die Jahreszeiten mit den aus dem Vorwurf sich ergebenden Abschweifungen zu beschreiben." Dennoch ist, wie auch sonst in der klassizistischen Dichtung, überall die Zweckbeziehung auf den Menschen spürbar. Die poetische Redeweise, die London als Augusta, den Südwind als Zephir und die Forellen als kleine Najaden umschreibt, ist dem herkömmlichen Brauche gemäß, und die vielfältigen Deklamationen und Einschübe humanitärer, pathetischer, politischer und erzählender Art lassen die Jahreszeiten als eine durch Versverbindungen zusammengefügte Folge verschiedenartigster Gedichte erscheinen, deren Einheit im allgemeinen Naturthema sowie im Bezug auf das zugrundeliegende philosophische Theodizeeproblem gegeben ist. Insofern haben wir es immer noch mit einem klassizistischen Lehrgedicht zu tun. Es wird der Nachweis geführt, daß der Kreislauf der Jahreszeiten auf eine über allen Disharmonien (Winter, Gewitter, Erdbeben) waltende Harmonie verweist, die den Schöpfer „rechtfertigt". Die Existenz der Übel wird aus der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit erklärt, die allerdings durch die visionäre Kraft der dichterischen Einbildungskraft ('imagination') überwunden wird. Einige Passagen der Jahreszeiten klingen romantisch-pantheistisch, obwohl die gedankliche Grundstruktur des Gedichts sich durchaus im Rahmen des aufgeklärten Rationalismus hält. In jedem Falle bedeutete die Entschlossenheit, mit der erstmals genaue Naturbeobachtung und -beschreibung zum Hauptvorwurf gewählt ist, eine dichterische Belebung, und die weiten Fernsichten auf Land, Wasser, Wolken, die Vorliebe für laute Farben und der Sinn für die wilderen Ansichten der Natur in Winter und Sturm machen die Beschreibung zu wirklicher Naturdichtung. Diese neue Auffassung des Themas bedingte einen erhabeneren Vers als das damals schon zu vielseitig verwendete Reimpaar; so erneuerte Thomson Miltons Blankvers mit feinem musikalischem Verständnis, aber in so enger Anlehnung (mit lateinischem Wortschatz, Umschreibungen, Trennung von Epitheton und zugehörigem Wort), daß die Unnachahmlichkeit des Vorbilds sichtbar werden mußte. Neben Milton war Lukrez das Hauptvorbild Thomsons, und zwar sowohl im Hinblick auf den Stil ('compound epithets') als auch in Bezug auf die Behandlung des Naturthemas. Wie wenig sich Thomson im Gegensatz zu der klassizistischen Dichtlehre empfand, beweisen ebenso seine vieljährigen Bemühungen in der regelrechten Tragödie (s. S. 553) wie der Vorwurf seiner epischen Blankversdichtung Liberty (1734-36), in der die Freiheit ihre Leiden auf dem Wege durch die Zeitalter und Länder (Griechenland, Rom, Britannien) erzählt. Wie eigener und begrenzter Art sein Dichttalent tatsächlich war, zeigt das nächst den Jahreszeiten bedeutsamste und reifste Werk The Castle of Indolence (1748), das an der Spitze aller englischen Nachahmungen Spensers steht. Das Kleinepos ist namentlich in seinem ersten Gesang, der das Schloß des Zauberers Indolence und sein Verlocken der müden Erdenpilger schildert, dem Klang

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und der Sprache Spensers erstaunlich nahe. Je mehr aber Belehrung und vaterländische Töne - von Thomson stammt das 'Rule Britannia!' - sich eindrängen, besonders im zweiten Gesang mit seiner Zerstörung des Schlosses durch den Ritter Industry, um so betonter wird die klassizistische Sprachgebung, so daß also zwei Stilarten in diesem Werk abwechseln und nebeneinander herzulaufen scheinen. Dieser Eindruck erklärt sich jedoch wohl eher aus der heutigen, nachromantischen Perspektive. Die ursprüngliche Absicht war auf Ergänzung und Erweiterung der durch Pope vorgegebenen klassizistischen Themen und Ausdrucksformen gerichtet. Eine ähnliche Zwischenstellung kennzeichnet das Werk von EDWARD YouNG24 (1683-1765), der sich gleichfalls im Drama (s. S. 552) sowie in klassizistischen Satiren versuchte (The Universal Passion, später Love of Fame genannt, 1725-28), dann den Welterfolg seiner Nachtgedanken erlebte (The Complaint, or Night Thoughts on Life, Death and Immortality, 1742-45) und gegen Ende seines Lebens durch seine Prosaschrift Conjectures on Original Composition (1759) wesentlich zur Verbreitung der neuen Genie-Lehre beitrug. Die Nachtgedanken sind ein auf den heutigen Leser heterogen wirkendes Werk. Der äußeren Gliederung nach zerfallen sie in ein einleitendes erstes Buch, das des Dichters Grübeln in schlafloser Nacht berichtet, worauf als Hauptteil (Buch II bis VIII) die zu Glauben und Tugend ermahnende Predigt an den ungläubigen Lorenzo folgt und als Schluß im IX. Buch (The Consolation') das Gesicht des Jüngsten Tags und der Ewigkeit. Dem künstlerischen Gehalte nach sondern sich die vier ersten, echtes Leid besingenden Bücher von den vier späteren, mehr theologisch gehaltenen ab. Was Schule machte, war der starke Ausdruck des Vereinsamungsempfindens, das Grübeln über Tod und Unsterblichkeit und das Hinaufhorchen in den Sternenhimmel (im IX. Buch); was den schnellen Rückschlag in der Wertschätzung bedingte, war das Überspannen einer echten, aber kleinen Dichtbegabung; alles ist zu lange ausgesponnen, den dringlich lebendigen Reimpaaren der Satiren gegenüber wirken die 10000 Blankverse der Nachtgedanken unerträglich eintönig, und das allen Nachahmern Miltons eigene Streben nach dem erhabenen Stil erzeugte eine Manier, die Young zur zweiten Natur wurde. Auch in Prosa predigte er im selben Ton, gleichviel ob er wirkliche Briefe schrieb oder in Briefform gehaltene, ebenfalls an eine Art Lorenzo gerichtete Predigten (The Centaur Not Fabulous, 1754). Aber die Grabes- und Nachtberedsamkeit schlug die Zeitgenossen in Bann und zeitigte zahlreiche Nachahmungen, sowohl in Prosa (vgl. James Herveys25 Meditations among the Tombs, 1746-47) wie besonders in Versen. Einzelne dieser Gedichte, wie das später durch Blakes Illustrationen ausgezeichnete The Grave (1743) von ROBERT BLAIR26 24

Works (with Life), ed. J. Doran, 2 Bde. (1854, repr. Hildesheim, 1968); Poetical Works, ed. J. Mitford, 2 Bde. (1834, 1858); Conjectures, ed. E. J. Morley (Manchester, 1918). - W. Thomas, Le poete E. Y. (Paris, 1901); H. C. Shelley, Life and Letters of E. . (1914). C. V. Wickers, E. Y. and the Fear of Death (1952); I. St. John Bliss, E. Y. (N. Y., 1969). 25 Works, 8 Bde. (1825). 26 Poetical Works (zus. mit Poetical Works of Beattie u. Falconer), ed. G. Gilfillan

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(1699-1746), sind durch den Vorzug der Kürze (800 Blankverse) der Youngschen Abwandlung des Themas überlegen. Blair feiert den Tod, die Einsamkeit des Grabes, das Leid des Verlustes, ist aber nicht so überernst wie Young und zeigt eine wohl den frühen Dramatikern verpflichtete satirische Haltung dem Los der Sterblichkeit gegenüber. Auch seine Dichtung ist ungleich und gerät oft von dichterisch packendem Ausdruck in belehrenden Kanzelton. Insgesamt erinnert die Nacht- und Grabesdichtung vor allem in ihrer Bildlichkeit, manchmal aber auch in ihren Themen, an die religiöse Dichtung des 17. Jhs. Sie verdankt der fortlebenden Tradition des Kirchenliedes und der Liturgie sehr viel und kann als Wiedergeburt der religiösen Dichtung verstanden werden. Eher aus der literarischen und ästhetischen Tradition erklärt sich der nicht so erfolgreiche Versuch MARK AKENSiDEs27 (1721-70), den Stil und die Versgebung Miltons für ein philosophisches Thema in Anspruch zu nehmen. Er führt die Pleasures of Imagination (1744, Revision 1757) in Anlehnung an Addisons Spectatoraufsätze (Nr. 411-421) auf die Begriffe Größe, Neuheit und Schönheit zurück und leitet daraus die Funktion der Einbildungskraft ab, der in der Erkenntnistheorie Lockes eine negative, den Erkenntnisprozeß störende Rolle zugeschrieben worden war, Akenside löst sich noch nicht grundsätzlich von der Lehre Lockes, aber er führt die schon von Addison begonnene Neubewertung des Begriffs der 'imagination' weiter: Wenn auch die Einbildungskraft zum rationalen Erkennen wenig beitragen kann, so erzeugt sie doch Lustgefühle ('pleasures') und eröffnet damit einen Weg zu den nichtrationalen Aspekten der Wahrheit. Das Ganze findet seine Krönung durch das Bewußtsein der Schöpfung eines gütigen Gottes. Der Grundriß zeigt die enge Verwandtschaft zum Lehrgedicht Popes mit seiner Erweiterung der Sätze Lockes durch eigene Anschauungen; aber durch das Hereinspielen eigener Erinnerungen erhält der Gedanke der Erziehung durch die Natur, der später das Prelude Wordsworths beherrschen sollte, hier schon überzeugenden Ausdruck, und der berühmte Gesang auf die Naturschönheiten Nordhumbriens ( ye Northumbrian shades ...') entwickelte die Linie Thomsons weiter. In ähnlicher Weise zeigen die in vielerlei Versmaßen abgefaßten zwei Bücher Oden (1745) - die vollendetsten der horazischen Form, die bis dahin erschienen, vor Collins, Joseph Warton und Gray - auf der einen Seite eine kalte Glätte, insbesondere bei klassizistischen Themen {Affected Indifference; Against Suspicion; On the Use of Poetry}, auf der anderen eine vorwärtsweisende, dichterische Kraft, die bereits einer kommenden Zeit entgegeneilt (Edinb., 1854); in Johnson-Chalmers, Bd. XV; Grave, ed. W. Anderson (Glasgow, 1796) [mit Standard-Biographie]; Blakes Illustrationen, ed. G. Keynes (Cambr., Mass., 1927). - Zum Thema Melancholie vgl. auch A. L. Reed, The Background of Gray's Elegy (N. ., 1924) [Columbia Studies]. 27 Works, ed. J. Garnett, New Brunswick (1808); Poems, ed. H. Dyce (1835 u. o.) [Aldine Edition]; Poetical Works, ed. G. Gilfillan (Edinb./Lo., 1857); auch in JohnsonChalmers, Bd. XIV. - C. T. Houpt, M. A. (Philad., 1944); R. Marsh, Four Dialectical Theories of Poetry (Chicago, 1965).

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(Ode to the Cuckoo; Ode at Study; Ode to Sleep und besonders Ode to the Evening Star). Wie sehr das als Erweiterung und nicht als Sprengung des klassizistischen Rahmens aufzufassen ist, beweist die harmonische Vereinigung von Natur- und Verstandesdichtung in der reizvollen Hymn to the Naiads (1746). Auch WILLIAM SHENSTONE28 (1714-63), obwohl bezeichnend für die sich anbahnende neue Wertung der Natur, stellte sich nicht außerhalb der Dichttradition Popes, an dessen Gartenkünstlichkeit er anknüpfte. Seine bekannteste, Kindheitserinnerungen auswertende Dichtung The Schoolmistress (1736, umgeschrieben 1742 und 1748) verwendete Spensers Sprache und Strophe, um dem ernst-komischen Idyll von der prügelnden Dorflehrerin neue Darstellungsreize abzugewinnen, und diese Mischung von erlebtem Empfinden und spielerischer Künstlichkeit blieb für ihn und sein Werk kennzeichnend. Ohne das große Streben Akensides gab er sein Bestes in leichteren Versen mit hübscher Melodie und mildem, durch Humor gerettetem Pathos (The Landscape; Written at an Inn at Henley), besonders glücklich in der Pastoral Bailad (1743), deren leichte Anapäste dieser Porzellannippsache völlig angemessen sind. Als Elegiker (Elegies on several Occasions) steht er kaum höher als sein Freund und Nachbar LORD GEORGE LviTELTON29 (1709-73), dessen Dichtungen Blenheim (1728) und The Progress of Love (1732) heute wenig besagen. Als einem der ersten Nachahmer der alten Balladen (Jemmy Dawson, 1745) fehlte ihm der Griff für die Welt der Menschen. Er liebte die Zurückgezogenheit in der künstlichen Einsiedelei seines Landguts. Seinen Park, den die Description of the Leasowes in den Essays on Men and Manners beschreibt, machte er auf Grund seiner neuzeitlichen Ansichten (vgl. die Unconnected Thoughts on Gardening) zu einer Claude Lorrain-Landschaft, in der er in enttäuschtem Müßiggang mit der Einsamkeit spielte (vgl. die Ode Rural Elegance), selbstsüchtig bedacht auf die Anteilnahme der Freunde, und mit Empfindsamkeit sein echtes Empfinden ebenso überdeckend, wie er das Naturgefühl unter den Schnörkeleien seines künstlichen Naturgartens verbarg. Als Freund und Mäzen einer Reihe zeitgenössischer Dichter und Schriftsteller, darunter Pope, Fielding und Thomson, spielte er eine nicht zu unterschätzende Rolle. Diese damals modischen „pittoresken" Gärten, die den Bäumen ihre gewachsene Form beließen und in natürlich erscheinender Zusammenstellung von gewundenen Pfaden, kleinen Wasserfällen und Brücken das Bild eines 28

Works in Verse and Prose, ed. R. Dodsley, 3 Bde. (Edinb, 61791); Poetical Works, ed. G. Gilfillan (Edinb., 1854); in Johnson-Chalmers Bd. XIII; Letters, ed. M. Williams (Oxf., 1939). - A. A. Hazeltine, W. S. and his Critics (Menasha, Wise., 1918); E. M. Purkis, W. S., Poet and Landscape Gardener (Wolverhampton, 1931); M. Williams, W. S.: A Chapter in 18th Century Taste (Birmingham, 1935); A. R. Humphreys, W. S. (Cambr., 1937). 29 Works, ed. G. E. Ayscough (1774 u. ö.); Poetical Works (Glasgow, 1787 u. ö.); auch in Johnson-Chalmers, Bd. XIV. - S. C. Roberts, An 18th Century Gentleman (Cambr., 1930).

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Landschaftsmalers als Richtschnur wählten, sind die Übergangsstufe von dem geometrischen französischen oder italienischen Garten zu dem heutigen englischen Park. Nicht zufällig ist der Jahreszeitendichter Thomson als Vater dieses englischen Gartens anzusprechen, der die aufkommende Vorliebe für Vielfältigkeit und Abwechslung gegenüber der bisherigen strengen Regelmäßigkeit bezeugt. Er wurde nach Batty Langleys „Neuen Grundsätzen der Gartenkunst" von William Kent (1685-1748) in den 'fermes ornees' erst tastend und in Lord Lytteltons erwähntem Parke, wo Thomson oft zu Gast war, in eine reichere Wirklichkeit umgesetzt. Schon 1772 konnte William Mason30 von dem geometrischen Garten als von etwas Vergangenem sprechen (in der Blankversdichtung The English Garden, 1772-82), und für Shenstone (Thoughts on Gardening, 1764) wie für Richard Hurd (Letters on Chivalry, 1762) war der Claudesche Garten das selbstverständliche Ziel31. Man empfand das nicht als Abkehr von klassizistischen Anschauungen, höchstens als eine Erweiterung, und doch bereitete es einer neuen Art zu empfinden den Weg. Diese neue Empfindungswelt fand ungehemmten Ausdruck in der damals aufblühenden Landschaftsmalerei, die ja nicht wie der Garten an das Idyllische gebunden war, sondern das Großartige und vom Menschen Abgerückte viel sinnfälliger noch als die Dichtung darstellen konnte. Richard Wilsons Himmels- und Gebirgsdarstellungen, die zuweilen Turner vordeuten, die im Alpenbild erstrebte Großartigkeit bei John Robert Cozens und der aufkommenden Aquarellschule liegen zeitlich früher als entsprechende Darstellungen in der Dichtung. Sie haben aber eine Parallele in manchen Reiseberichten, aus denen sich eine ähnliche Erweiterung der Naturauffassung ablesen läßt. Eine Landschaft, die Addison und Boswell als unbehaglich empfanden, hatte Thomas Gray bereits bewundert. Seine Reiseaufzeichnungen und Briefe spiegeln die Farbigkeit der Landschaft, den Reiz des Wassers und die abweisende Größe der Alpen. Gleich ihm wertete William Gilpin die Schönheit nach den neuen, malerischen Maßstäben (Observations relative to Picturesque Beauty, 1789).

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Works, 4 Bde. (1811); in Johnson-Chalmers, Bd. XVIII. - J.W. Draper, W. M.: A Study in 18th Century Culture (N. Y., 1924). 31 Zu Gartenkunst u. Malerei: R. Bromfield, The Formal Garden in England (1901); E.W. Manwaring, Italian Landscape in 18th Century England (N. Y., 1925); vgl. auch die einschlägigen Kapitel in C. H. Collins Baker, British Painting (1933); M. Reynolds, Treatment of Nature in English Poetry (Chicago, 1909); J. Hagstrum, The Sister Arts (Chicago, 1958); P. Eichner-Dixon, Studien zum Verhältnis von Dichtung und Malerei im engl. Neoklassizismus des 18. Jhs. (Frkft./Bern, 1981).

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5. Das Werden einer neuen Dichtungsauffassung32 Die Dichtungstheorie des Klassizismus beruhte auf dem Gedanken einer rationalen Ordnung, der nicht nur der Mensch als Einzelwesen, sondern auch die menschliche Gesellschaft und die Natur unterworfen waren. Es war die Aufgabe des Dichters, die Vorherrschaft der Vernunft zu erhalten und zu fördern. Die irrationalen Kräfte des Gefühls, der Begeisterung und des über das Vernünftige hinausgehenden Sinnes für das Metaphyische konnten sich innerhalb des klassizistischen Rahmens nur bis zu der Grenze entfalten, an der sie der Kontrolle der Vernunft zu entgleiten drohten. Viele Faktoren trugen im Laufe des Jahrhunderts zunächst zur Erweiterung und schließlich zur Sprengung des vom Klassizismus gesetzten Rahmens bei. Schon die Veränderung der Naturauffassung, wie sie bei Thomson deutlich wird, hatte die ältere Wertung der Natur als rationaler Ordnung verwischt, indem sie eine hymnisch-enthusiastische Naturbegeisterung förderte, die dem Klassizismus an sich fremd war. Das Streben nach Ausdehnung des Spielraums für das Irrationale in der Dichtung, das nicht zuletzt auf die Erweiterung des Leserpublikums in die bürgerlichen Schichten der Gesellschaft hinein zurückzuführen ist, war zunächst meist unbewußt, so daß keine begriffliche Festlegung stattfand. Wohl aber lassen sich bereits in der klassizistischen Dichtungslehre Ansätze zu einer neuen aufzeigen, die sich vor allem aus der Diskussion der Begriffe des „Erhabenen" ('sublime'), des „Enthusiasmus" und der „Einbildungskraft" ('imagination') entwickelte, wobei der Begriff der Einbildungskraft zunächst noch synonym mit dem der Phantasie ('fancy') verwendet wurde. So machte es schon die Zeitgenossen aufhorchen, als Addison 1712 in seiner Essayreihe 'Pleasures of the Imagination' zugab, daß es eine aus der Phantasie kommende Dichtungsart gebe, die im Leser seltsame Gefühle der Ehrfurcht und sogar des Schreckens erwecke und die bangen Ahnungen und der Vernunft entzogenen Vorstellungen, denen der Mensch unterworfen ist, bestätige. Hand in Hand damit geht bei Addison eine Neuwertung Shakespeares, dessen 'noble extravagance of fancy' hervorgehoben wird. Shaftesbury verlieh dem Enthusiasmus-Begriff erstmals wieder eine positive Bedeutung (A Letter Concerning Enthusiasm, 1707) und verknüpfte ihn mit dem von ihm philosophisch definierten Sinn für Harmonie in Natur und Menschenwelt ('moral sense'). Die von Shaftesbury gemeinte natürliche Ordnung war nicht rational, sondern sinnlich-sittlich gedacht. Der Dichtung kam die Aufgabe zu, sie anschaubar zu machen und ihr über den ästhetischen Sinn Wirkungsmöglichkeiten zu eröffnen. Auch Dennis trat für eine Neubesinnung auf die moralische und religiöse Aufgabe der Dichtung ein, die sie am besten durch Weckung des Enthusiasmus und durch Beschäftigung mit 32

18th Century Aesthetics: A Bibliography, ed. J. W. Draper (Heidelberg, 1931). Zur Einführung in die neuere Forschung vgl.: Engl. u. am. Literaturtheorie: Studien zu ihrer historischen Entwicklung, edd. R. Ahrens u. E. Wolff, 2 Bde. (Heidelberg, 1978), Bd. I.

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metaphysischen Themen erfüllen könne (The Advancement and Reformation of Poetry, 1701). Die neuen Ansätze, von vielen aufgenommen und weitergeführt, wurden von EDWARD YouNG33 programmatisch ausgesprochen. Der Dichter, so sagte er in den Conjectures on Original Composition (1759), stehe vor der Wahl, entweder sich in die Höhen der Freiheit zu erheben oder in den bequemen Fesseln der Nachahmung zu verharren. Regeln seien Krücken, die den Starken nur behindern, denn der wahre Dichter sei aus sich selbst geboren, und die wahre Dichtung gebe Höheres als Lehren nüchterner Vernunft. Der aus der klassizistischen Rhetorik der 'Conjectures' springende Funke reichte weiter als der im Grunde altmodische Young ahnte; seine Wirkung war in der heranwachsenden Dichtergeneration stärker zu fühlen als in der philosophischen Kunstlehre, aber Young war keineswegs der einzige und nicht einmal der erste, der die Genie-Lehre vertrat. William Sharpe ging ihm mit seiner Dissertation on Genius (1755) voraus, und ähnliche Gedanken wurden später von William Duff (Essay on Original Genius, 1767), James Beattie (The Minstrel, or, The Progress of Genius, 1771) und vor allem von Alexander Gerard (An Essay on Genius, 1774)34 veröffentlicht. Auch sonst zeigte sich ein gesteigertes Bedürfnis nach theoretischer Besinnung, an dem ein Politiker wie Burke mit seiner Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1756)35 und ein Maler wie Reynolds (in seinen 15 an der Royal Academy gehaltenen Discourses,36 1769-90) ebenso teilnahmen wie die Philosophen und berufsmäßigen kritischen Lehrer Henry Home, Lord Kames (Elements of Criticism, 176237), George Campbell (Philosophy of Rhetoric, 1776) und Hugh Blair (Dissertations on the Poems of Ossian,™ 1763; Lectures on Rhetoric and Belles Lellres, 1783), aber für die Dichtung unmittelbar fruchtbare Gedanken ergaben sich eher aus der gelehrt-historischen Beschäftigung mit einzelnen Dichtern oder Dichtwerken. Eine so fachlich anmutende Untersuchung wie Bischof Robert Lowths Praelectiones Academicae de Sacra Poesi Hebraeorum39 (1753) war von großer Allgemeinbedeutung, weil zum erstenmal die Bibel als Dichtung behandelt wurde; die Gegenüberstellung hebräischer und klassischer Rhetorik geht auf Longinus zurück, der im 18. Jahrhundert eine Renaissance erfuhr. Er hat die oben genannten Theoretiker entscheidend beeinflußt und ebnete im Lager der Klassizisten den Weg für die Romantik.40 Die klassische Literatur der römischen Antike begann ihre Stellung als alleiniges Vorbild zu verlieren. Die Aufmerksamkeit wandte sich nun auch der damals als „runisch" oder „isländisch" bezeichneten nordischen Dichtung41 33

S. S. 488, Anm. 24. ed. B. Fabian (München, 1966) [mit ausf. Einl.]. 35 ed. J. T. Boulton (1958); s. S. 461, Anm. 3. 36 In EL u. WC. 37 Repr. 1824. 38 NewEdn., 2 Bde. (1806). 39 Übers, als Lectures on Hebrew Poetry von J. D. Michaelis (1793). 40 Vgl. T. R. Henn, Longinus and English Criticism (Cambr., 1934). 41 Über die nordischen Einflüsse vgl. CHEL X, Kap. 10; C. H. Herford, North Myth in 34

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zu, aus der Sir William Temple42 in seinen Essays Of Heroic Virtue und Of Poetry (1690) lateinische Proben gegeben hatte, die aber jetzt durch George Hickes' Thesaurus linguarum veterum septentrionalium (1703-05) in der Ursprache zugänglich gemacht und durch des Franzosen Paul Henry Mallet dänische Geschichte (1755, von Percy 1770 übersetzt) in den Brennpunkt des Interesses gerückt worden war. Runische Oden wurden Mode: Thomas Warton d. Ä. begann mit poetischen Übersetzungen (in Poems, die sein Sohn Joseph 1748 veröffentlichte), Bischof Percy ging zu ossianischer Prosa über (Five Pieces of Runic Poetry, translated from the Islandic, 1763), und Thomas Gray, der das isländische Darradarliod als The Fatal Sisters und die Vegtamskvida als The Descent of Odin übertragen hatte, schuf in ähnlichem Geiste Oden (The Bard), die in die ursprüngliche „Barden"-Zeit zurückversetzen, die er in der pindarischen Dichtung The Progress of Poesy als Ausgangspunkt der Dichtung darstellte (s. S. 499). Sowie diese neugeweckte Empfänglichkeit für ungewohnte dichterische Reize sich ebenso begeistert der älteren englischen Dichtung zuwandte, mußten die neben Pope geläufigen Vorbilder Spenser und Milton allmählich in einen Gegensatz zu diesen treten. Bischof RICHARD HuRD43 (1720-1808) zog in seinen erstaunlichen Letters on Chivalry and Romance (1762) neben Spenser und Milton, die er Homer vergleicht, auch die damals „gotisch" genannte Welt des mittelalterlichen Rittertums in den Kreis der Betrachtung und forderte, daß diese Dichtung nach eigenen Gesetzen, nicht nach fremden Regeln, zu beurteilen sei. Dieses Ausschalten klassizistischer Voreingenommenheit, das eine neue historische Betrachtungsweise einleitet, ermöglichte Hurd eine neue Würdigung Shakespeares und Chaucers; er sah Ähnlichkeiten zwischen heroischem und gotischem Zeitalter, erkannte den Unterschied von Epos und Versroman, und sein Bedauern, daß die Zeit des Rittertums vergangen sei, verriet im Zeitalter der Vernunft neuen Sinn für die Wunder der Phantasie. Damit war der Angriff auf die klassizistische Festung eröffnet; das Rüstzeug dafür lieferten die Brüder Warton, die neben allen herkömmlichen klassizistischen Wertungen von ihrem Vater eine entscheidende Liebe zu Spenser und Milton ererbt hatten. Die 1746 veröffentlichten Oden JOSEPH WARTONS44 (1722-1800) können wegen der kärglichen Erfindungsgabe nur als Kritikerwerk Beachtung finden; sie kennzeichnen aber die neue Richtung in einem Titel wie Ode to Fancy und in der Vorrede, die sich gegen das zu weit getriebene Moralisieren in der Dichtung wendet. Dem entsprechend geht der English Literature (Manchester, 1919) [Rylands Libr. Bulletin V]; F. E. Farley, Scandinavian Influences on the English Romantic Movement (Cambr., Mass., 1903); C. H. Nordby, Influence of the Old Norse Literature upon English Literature (N. Y., 1901) [Columbia Studies]. 42 S. S. 433, Anm. 68. 43 Works, 8 Bde. (1811); Letters on Chivalry, ed. E. J. Morley (Oxf., 1911); Correspondence (mit W. Mason und T. Gray), edd. E. H. Pearce and L. Whibley (Cambr., 1932). 44 The Three Wartons: A Choice of their Verse, ed. E. Partridge (1927); Essay on Pope (51806).

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zweibändige Essay on the Genius and Writings of Pope (1756 und 1782) bei aller Verehrung für Pope doch von der unklassizistischen Voraussetzung aus, daß als eigentlicher Gegenstand der Dichtung das Erhabene und als ihre wahre Triebkraft das Gefühl anzusehen sei. Damit war die moralistische und satirische Dichtung Popes als eine bloß didaktische in den zweiten Rang zurückversetzt. Für Warton war Popes Sprache „unanschaulich" und das heroic couplet allzu steif und würdevoll, weshalb er es durch den Blankvers ersetzt wissen wollte. Welcher Art die Dichtung sein sollte, die dafür auf den Schild gehoben wurde, erhellt aus den Observations on the Fairie Queene, die Josephs bedeutenderer Bruder THOMAS WARTON D. J.45 (1728-90) bereits 1754 veröffentlicht hatte, und in denen er vor Hurd die Spensersche Dichtung mit der allegorisierenden Ritterzeit und dem „gotischen" Versroman in Beziehung gesetzt hatte. Auch Thomas war kein umstürzender Kritiker; als Oxforder Professor betätigte er sich dichterisch aus Liebhaberei und betrachtete sein Ausgraben älterer Dichtung im Lichte der im 18. Jahrhundert üblichen „antiquarischen" Forschung. Aber die daraus erwachsende History of English Poetry from the close of the llth to the commencement of the 18th Century (I: 1774, II: 1778, III: 1781, IV unvollendet) ist als erste englische Literaturgeschichte46 epochemachend. Vorher gab es nur Listen und Kataloge, wie sie John Leland ("f 1552) mit seinen verdienstvollen Commenlarii de scriploribus Britannicis41 (1546) begonnen und John Bale (Illustrium Majori Britanniae scriptorum summarium,4* 1548 und 1557) von protestantischer Seite, John Pits (De illustribus Britanniae scriptoribus49 1619) von katholischer Seite aus fortgesetzt hatten. Auch die Sammlungen von Lebensabrissen, die Edward Phillips mit dem Theatrum Poetarum50 (1675) eröffnete, William Winstanley (Lives of the Most Famous English Poets,5{ 1687) und Anthony Wood (Athenae Oxonienses,52 1691) verbessernd fortsetzten, gaben nur Anhaltspunkte, wie auch die zeitgenössische Bibliotheca Britannico-Hibernica^ (1748) von Thomas Tanner nur ein lexikalisches Nachschlagewerk sein wollte. Thomas Wartons Literaturgeschichte aber will die innere organische Beziehung der Dichtung zu den gesamten 45

Für Poems s. S. 494, Anm. 44; Observations on the F. Q., 2 Bde. (1807); History of Engl. Poetry, ed. W. C. Hazlitt, 4 Bde. (1871) [mit nützlichen, aber störenden Berichtigungen], Neudruck der ersten Ausgabe, 1875. - Biographie von C. Rinaker (Univ. of Illinois, 1916) [mit Bibliographie]. 46 Vgl. R. Wellek, The Rise of English Literary History (Chapel Hill, N. C., 1941) [bis T. Warton einschl.]; J. G. O'Leary, English Literary History (1928) [bibliographisches Handbuch mit historischer Übersicht]. 47 ed. Hall, (Oxf., 1709). 48 Als Index Britanniae Scriptorum edd. R. L. Poole and M. Bateson (Oxf., 1902). 49 Das unter diesem Titel zitierte (nicht neugedruckte) Werk erschien 1619 in Paris als: Relationum Historicarum de Rebus Anglicis. Vol. I. 50 New Edn., 1856. 51 Kein Neudruck. 52 ed. P. Bliss, 4 Bde. (1813-20). 53 Kein Neudruck.

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Ausdrucksformen des Lebens auf sozialem, religiösem, politischem und allgemein künstlerischem Gebiete herausarbeiten. Diese große Schau der Literatur als Ausdruck einer Zeit - die erst Henry Hallam im nächsten Jahrhundert wieder erreichte - vereinigte Warton mit dem künstlerisch erlebten Empfinden für das Einmalige der großen Kunstwerke. Die Weite und Vielseitigkeit des Blicks bedingt die unerreicht hohe Stellung dieser ersten englischen Literaturgeschichte. Der neue historische Sinn trug auch auf dem Gebiet der gleichzeitigen metrischen Studien54 Früchte und eröffnete in Thomas Tyrwhitts Essay on the Language and Versification of Chaucer55 (1775) das Verständnis für die ältere englische Dichtung. Die bloße Aufzeichnung der geläufigen Verse englischer Dichtung (z. B. Edward Bysshes Art of Poetry,56 1702) und ihr Vergleich mit griechischer Silbenmessung (z. B. John Forsters Essay on the Different Nature of Quantity and Accent51 1762) war überwunden. Bereits in den Schriften Daniel Webbs58 (Remarks on the Beauties of Poetry, 1762; Observations on the Correspondence between Poetry and Music, 1769) zeigte sich das Empfinden, daß man mit derart rechnender Beschreibung den „unregelmäßigen" Vers Shakespeares und Miltons nicht erfassen könne. Man versuchte es durch die musikalische Aufzeichnung der Zeitwerte (Joshua Steeles Prosodia Rationalis59 1779) und kam damit zu einem Verstehen auch der älteren Dichtung und ihrer prosodischen Grundlagen. In William Mitfords Enquiry into the Principles of Harmony in Language6® (1804) war die erste historische Überschau der Geschichte der Prosodie geleistet, die bis zur History of English Rhythms^ (1838) von Edwin Guest maßgebend blieb. Auf allen Gebieten der Literatur hatte also geschichtliches Verstehen die starren Grenzsetzungen und Regeln des Klassizismus aufgehoben, und ohne daß ein neues Programm aufgestellt worden wäre, war eine unklassizistische Dichtung oder doch Empfindungsweise als gleichberechtigt neben die früher alleingültige Dichtung im Stile Popes getreten.

54

Zu den Versabhandlungen vgl. G. Saintsbury, History of English Prosody, 3 Bde. (21923), Bd. II; T. S. Omond, English Metrists (Oxf., 1921). 55 In: The Canterbury Tales of Chaucer, 5 Bde. (Oxf., 1775-78), 2 Bde. (Oxf., 1853). 56 2 Bde. (81737). 57 Beste Ausgabe, 1820. 58 W's Schriften in: Miscellanies by the late D. W. 1802, - H. Hecht; D. W., ein Beitrag zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts (Hamburg, 1920). 59 Kein Neudruck. 60 Kein Neudruck. 61 ed. with corrections and notes W. W. Skeat (1882).

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6. Die Wegbereiter der vorromantischen Dichtung Diese Sachlage wurde durch den Welterfolg des Ossian62 offenbar. Aus dem Sagenkreis der gälisch sprechenden Volksstämme Irlands und der schottischen Hochlande, deren Barden in epischen Liedern die Abenteuer des angeblich im 3. Jahrhundert lebenden irischen Führers Finn (Fingal) erzählten und die Wanderfahrten seines Sohnes Oisin (Ossian) feierten, der als blinder Greis zur Harfe die Taten und das Leid seines Stammes besang, veröffentlichte 1760 der Schotte JAMES MACPHERSON (1736-96) fünfzehn kürzere Stücke als Fragments of ancient Poetry, collected in the Highlands. 1762 und 1763 folgten zwei angeblich aus dem Gälischen übersetzte Epen Fingal und Temora, und die mit einleitenden Aufsätzen von Macpherson und Blair begleitete Gesamtausgabe von 1765 wurde später nochmals vermehrt, so daß die endgültige Fassung von 1773 zweiundzwanzig Dichtungen enthielt. Die begeisterte Aufnahme der ossianischen Dichtungen in allen europäischen Ländern weckte auch den Wunsch nach den Urtexten. Da Macpherson zögerte und sein Nachlaß Versuche zu gälischen Rückübersetzungen ans Licht brachte, galt er der Welt fortan als Fälscher, obwohl man besser von einer allerdings recht freien und ausweitenden Bearbeitung und willkürlichen Zusammenstellung einer tatsächlichen Sagenüberlieferung sprechen sollte. Die Dichtung besteht unbeschadet dieser Echtheitsstreitfrage; ihr Verdienst ist, dem klassizistischen Stil etwas Neues und Unerhörtes gegenübergestellt zu haben. Man kann die Eintönigkeit der sich stets wiederholenden, unbestimmt gehaltenen und künstlichen Kampfszenen in wildem Lande und die empfindsamen Klagen der von äußerem Unheil verfolgten Liebespaare bemängeln, aber wo war je in der Dichtung des 18. Jahrhunderts diese Landschaft und diese Empfindungswelt gegeben: das düstere, aufrauschende Meer, das weite, durch Grabsteine und Ruinen doppelt einsame Hochland, melancholisch überhangen von einem ewig grauen Himmel, in den nebelumbraute Berge hineinragen? Und wo war je zuvor der Verzicht auf den Vers, sein Ersetzen durch rhythmische Prosa, die trotz einfacher Syntax und Wortwahl schmiegsam genug war, um Leidenschaft, Pathos, dramatische Bewegung und lyrische Stimmung zu vermitteln? Die ossianischen Dichtungen hatten dem in Forschung und Dichten fühlbaren Erahnen eines Neuen Stimme geliehen, und indem sie das literarische Europa auf die instinktiven, ursprünglichen 62

Bibliographie: A. Nutt, Ossian and the Ossianic Literature, 1899; CHEL X, 487; Macpherson-Ossian, The Poems of Ossian, containing the Poetical Works of J. Macpherson, ed. M. Laing, 2 Bde. (Edinb., 1805); The Works of Ossian translated by J. M., ed. W. Sharp (Edinb., 1896); Kritische Ausgabe der Fragmente, ed. O. L. Jiriczek (Heidelberg, 1915); Faksimileausgabe von Fingal, Temora mit Einleitung, Varianten etc., ed. O. L. Jiriczek, 3 Bde. (Heidelberg, 1940). - Biographie von J. S. Smart (1905). Zum Einfluß vgl. P. van Tieghem, Ossian et l'Ossianisme dans la litterature europeenne au 18e siecle (Groningen, 1920). - Vgl. auch E. D. Snyder, The Celtic Revival in English Literature, 1760-1800 (1923); D. S. Thomson, The Gaelic Sources of Macphersons's Ossian (1952).

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Kräfte aller Dichtung hinwiesen, bereiteten sie einer empfindsameren, leidenschaftlicheren und kühneren Dichtung den Weg. Diese Quellen der Dichtung wurden in reinerer Gestalt dargeboten, als DR. THOMAS PERCY (1729-1811) nach einem ursprünglich mit William Shenstone vereinbarten Plan aus einer in seinen Besitz gelangten Handschrift des 17. Jahrhunderts, dem sog. Percy Folio, 45 Balladen druckte unter dem Titel Reliques of Ancient English Poetry6* (1765, vermehrt 1767, 1775, 1794). Hier war im Gegensatz zu der einen Ossianstimmung eine vielseitige Spiegelung einer vergangenen Welt, und die durch diese echten Proben angefeuerte Entdeckerlust der Percys Werk fortsetzenden Gelehrten und Dichter förderte allmählich eine vergessene Literatur zutage: Joseph Ritsons English Songs6* (1783), Thomas und Robert Evans' Old Ballads65 (1777 und 1784), George Ellis' Specimens of Early English Poets66 (1790) und Early English Romances61 (1805) und Scotts Border Minstrelsy™ (1802-03). Der Bedeutung dieser Literatur war sich Percy nicht bewußt, ihn erfüllte der „antiquarische" Forschertrieb, ungewöhnliche und abliegende Dichtungen auszugraben; sein Ziel war eine aus allen Ländern zusammengetragene Sammlung in der Art von Herders „Stimmen der Völker in Liedern". Er beschränkte sich auch nicht auf Volksüberlieferung, sondern untermischte die Balladen mit in Vergessenheit geratener Kunstdichtung der Renaissancezeit und fügte auch zeitgenössische Balladendichtung ein wie Shenstones Jemmy Dawson, des Thomsonschülers David Mallet69 Margaret's Ghost, Richard Glovers70 schwungvolles Stück Admiral Hosier's Ghost (das lebendiger blieb als sein Blankversepos Leonidas, 1737) u. a. m. Diese Buntheit steigerte den Eindruck einer Schatzhebung, und die vielfachen und willkürlichen Änderungen, die Percy an den alten Texten vornahm, erfolgten nur, um den Zugang zu ebnen. Künstlerisch wäre die Überarbeitung der schon so oft überarbeiteten Volksballaden nicht so schlimm, wie es dem Gelehrten scheinen möchte, wenn sie nicht Percys Fühllosigkeit für den Balladenstil zeigte: er glättete und besserte und glaubte, vor klassischem Geschmack entschuldigen zu müssen. Wie lebendig noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die klassizistische Dichttradition war, zeigt das Schrifttum THOMAS GRAYS71 (1716-71). 63

ed. M. M. A. Schröer, 2 Teile (Heilbronn, 1889-93) [beste Ausgabe]; ed. H. B. Wheatley, 3 Bde. (1876/7; repr. 1891); auch in EL; Bishop Percy's Folio MS, edd. J.W. Haies and F. J. Furnivall, 3 Bde. (1868), ed. I. Gollancz, 4 Bde. (1905); The Percy Letters, edd. D. N. Smith, C. Brooks et al. 7 Bde. (Louisiana, 1944-77). 64 3 Bde. (21813); Ancient Songs and Ballads, ed. W. C. Hazlitt, 2 Bde. (1877). - Biographie von B. H. Bronson, 2 Bde. (Berkeley, 1938). 65 ed. R. H. Evans, 4 Bde. (1810). 66 3 Bde. (41811). 67 ed. J. O. Halliwell (1848) [Bohn's Libr.]. 68 ed. T. F. Henderson, 4 Bde. (Edinb., 1932), einb. Ausg. (1931). "Ballads and Songs, ed. F. Dinsdale (1857); in Johnson-Chalmers, Bd. XIV. 70 In Johnson-Chalmers, Bd. XVII. 71 W o r k s , ed. E. Gosse, 4 Bde. (1884; rev. 1902-06); vgl. auch die annotierte Ausgabe der engl. Poems von D. C. Tovey (1911), der lat. und engl. Gedichte von J. Bradshaw (1891) und die Anthologien: Selections from the Poetry und Prose, ed. W. L. Phelps

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Seiner Grundhaltung nach war er Klassizist, aber feinhörig allen neuen Regungen offenstehend. So erweist die lustige Selbstverspottung in der Ode on the Death of a Favourite Cat (1747) sein Gefühl für die Gefahren eines Stils, der mittels Anrufung, Personifikation und Umschreibung Würde erstrebt. Noch freier von den Fesseln der 'poetic diction' sind seine Briefprosa und Aufzeichnungen im Journal in the Lakes (1768). Sein wenig umfängliches dichterisches Schaffen - die von ihm besorgte endgültige Ausgabe von 1768 enthielt 10 Gedichte - begann nach der Rückkehr von der mit seinem Freunde Horace Walpole unternommenen großen Festlandreise (1739-40), als er die Ode On the Spring seinem Jugendgefährten Richard West schickte, dessen plötzlicher Tod dann das klassizistisch formale Sonett In vain to me the smiling Mornings shine hervorrief (1742). Damit war bereits der fortan vorherrschende Grundton leidenschaftsloser Trauer angeschlagen, der halb dem literarischen 'Penseroso'-Herkommen entsprach, halb der Selbstaussprache des zurückgezogenen, die Einsamkeit liebenden Menschen war, vielleicht wesentlicher als die den Freunden gegenüber gezeigte Heiterkeit und Liebenswürdigkeit und als der bittere Spott, der sich in vielen Briefen findet. Jedes Überströmen des Gefühls ist jedoch von vornherein durch die straffe Gedankenführung und die strenge Disziplin der vorzugsweise gewählten Odenform verhindert. Denn die unregelmäßige Ode des 17. Jahrhunderts hat er nur einmal verwendet in der Ode for Music (1769), die schon stofflich eine freiere Behandlung erforderte. Die ihm anstehende Aufgabe war, die echte, nach Ben Jonson entartete Pindarode zu erneuern. Vorbildlich dafür sind die beiden Oden The Progress of Poesy (1754) und The Bard (1757), die das schwierige Thema geschichtlicher Überschau in lyrischer Form durch die ihm eigene Kunst einer in vollendete rhythmische Klänge gebannten, monumentalen Sprache bewältigen. Es sind Dichtungen, die vom Leser Mitarbeit erfordern, denn über das Inhaltliche hinaus verlangen Gedrängtheit des Ausdrucks, fehlerlose Anordnung der Vokalklänge und die Reimfolgen der langen, dem Ohr beim ersten Hören nicht in ihrer Zusammengehörigkeit erfaßbaren Perioden ein mehrfaches Lesen oder Auswendiglernen. Das gleiche gilt, wenn auch nicht in demselben Maße, für die kürzeren Oden, die wegen der an Horaz geschulten und durch eigene lateinische Dichtübung geläufigen Zusammendrängung rhetorisch zu werden drohen (To Adversity, 1742) und selbst im stärksten Gefühlsausdruck etwas Unpersönliches behalten (On a (1894); Poetry and Prose, ed. J. Crofts (Oxf., 1926); Poems with a selection of Letters and Essays, EL; Poems, edd. H. W. Starr and J. R. Hendrickson (1966). - Essays and Criticisms, ed. C. S. Northup (Boston, 1911) [Belles Lettres Series]. - B r i e f e : Correspondence, edd. P. Toynbee and L. Whibley, 3 Bde. (Oxf., 1935); Correspondence of R. Hurd and W. Mason and Letters of R. Hurd to T. Gray, edd. E. H. Pearce and L. Whibley, (Cambr., 1932) [in den Memoirs of the Life of Mr. Gray von W. Mason, 1775 u. o., sind die Briefe entstellt]. - B i o g r a p h i e und K r i t i k : R. Martin, Essai sur T. G. (Oxf., 1934); Chronologie de la vie et de l'oeuvre de T. G. (Oxf., 1935); Lord David Cecil in: Poets and Story Tellers (1949); R.W. Ketton-Cremer, TG. (1935); W. Powell Jones, T. G. Scholar (1937); M. Golden, T. G. (N. Y., 1964); G.'s Elegy: A Collection of Critical Essays, ed. H. W. Starr, TCI (Englewood Cliffs, 1968).

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distant Prospect of Eton College, 1742, und das Bruchstück Of the Pleasure arising from Vicissitude}. Das gilt auch für die besser Laissen als Oden zu nennenden Übersetzungen aus dem Nordischen und Walisischen, die eine ungewohnte Stoffwelt erschlossen (Fatal Sisters; Descent of Odin; Death of Hoel; Conan und Caradoc). Volkstümlich geworden ist nur die berühmte Elegy written in a Country Churchyard, deren allen zugänglicher Empfindungs- und Gedankenbereich in vieljährigem Feilen (erschienen 1750) eine derartige Endgültigkeit des Ausdrucks erreichte, daß dieses makellose Gedicht in die Weltliteratur einging, unerreicht in der rhythmischen Geschlossenheit der kreuzweise gereimten Vierzeiler, unfehlbar in den Klangformen der getragenen zehnsilbigen Verse und harmonisch im Einfügen des Landschaftsaquarells in die gedanklich strukturierte Abendstimmung. Man mag bedauern, daß die dichterische Begabung Grays sich nur in gelegentlichen Bruchstücken an philosophischer Dichtung versuchte, wie in den Lockes Philosophie zusammenfassenden lateinischen Versen De principiis cogitandi oder dem Montesquieuthema Alliance of Education and Government, oder daß er nicht mehr von den bezeichnenderweise der lateinischen Sprache anvertrauten Gefühlsregungen gab (z. B. die Verse auf West und die Strophen im Gastbuch der Grande Chartreuse). Seine geschichtliche Bedeutung ist aber so klar umrissen wie seine künstlerische: sein Eröffnen neuer Empfindungs- und Stoffbereiche, seine Hinwendung von der römischen zur griechischen Dichtung, seine in Rhythmus und Sprache fühlbare Empfindsamkeit weisen ebenso in die Zukunft, wie seine konservative und wählerische, resignierte Art den alten Formen anhing. Er war verwurzelt im Klassizismus, aber sein Dichten führte zu anderen Zielen. Entschiedener noch als Gray kann WILLIAM COLLINS72 (1721-59) der vorromantischen Dichtung eingereiht werden, wobei freilich auch bei ihm das Streben nach klassischer Endgültigkeit nicht außer acht gelassen werden darf. Die auffällig musikalischen Reimpaare der Persian Eclogues (1742, später Oriental Eclogues genannt) sind noch ganz im Tone Popes, die Epistle to Hanmer (1743), die das aus Gray bekannte Thema des 'Progress of Poesy' abwandelt, zeigt den Kampf der neuen Dichtart mit klassizistischer Sprachgebung, in den Odes on Several Descriptive and Allegoric Subjects (1746) ist dann der reine lyrische Klang erreicht. Die modische Form der Ode - wie die Pastoralform seines gleichfalls wenig beachteten Zeitgenossen John Cunningham (1729-73; Poems, chiefly Pastoral, 1766) - ist nur das Gefäß, das einen undeklamatorischen Liedvers und eine unklassizistische Thematik umschließt. Als sein Ziel zeigt die Ode to Simplicity nicht Zuspitzung und geschliffene Wortkunst, sondern die schlichte Reinheit und klare Linie der Griechen, und daß er deren englische Entsprechung bei Shakespeare und Spenser 72

Poetical Works, ed. A. L. Poole (Oxf., 31937; repr. 1966). - H. W. Garrod, The Poetry of C. (Proc. of the Br. Ac., 14, 1928); E. G. Ainsworth, Poor C: His Life, his Art, and his Influence (Ithaca, 1937); O. Doughty, W. C. (1964); O. F. Sigworth, W. C. (N. Y., 1965).

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sah, erweisen die Ode written in 1746 und Dirge in Cymbeline, in denen Nachahmung zu Neuschöpfung wurde. So ruft auch die „pindarische" Ode To Liberty neben der griechischen Anregung die Erinnerung an Milton wach, dessen L'Allegro in On the Poetical Character einen wirklich dichterischen Nachklang fand, vielfach glücklicher als die dem 'Alexander's Feast' Drydens nachempfundene „unregelmäßige" Ode The Passions. Collins' dichterische Bedeutung beruht auf der Neuwertung der lange vernachlässigten Phantasie: Pity, Peace, Passions, Liberty sind ihm nicht verkörperte Begriffe, sondern wirkliche Wesen, die er leibhaftig sieht und zu beschreiben sucht (vgl. To Pity; To Mercy), so gegenwärtig lebendig und plastisch, daß man die später den Dichter umnachtenden Wahngesichte vorausfühlt und in der unvollendeten Ode On the Popular Superstitions of the Highlands (1749, in Iangen siebzehn- bis achtzehnzeiligen Strophen) die einst von Addison zugestandene Kunst reiner Einbildungskraft wesenhafter als in den ossianischen Gestalten zu neuer Wirklichkeit erstanden sieht. Die Phantasie war Collins' Gegengewicht gegen Enttäuschung und Zufluchtsort vor der Melancholie der Zeit, ihr diente er mit einer vollendete Schönheit erstrebenden Kunst, die nicht zufällig an die klassische Ruhe und die reinen Umrisse der Bildhauerei gemahnt. Die „atmende Natur", die er ansprach, setzte er unwillkürlich in statuenhafte Bildlichkeit um und galt darum der Menge als kalt. Wie wach aber alle seine Sinne waren, zeigt die einzigartige Ode to Evening, die zu den größten reimlosen Gedichten der englischen Sprache zählt.

7. Chatterton, Cowper, Burns und Blake In der Dichtung der Klassizisten Gray und Collins hatten die vom Verstand in Fesseln gehaltene Phantasie und Gefühlskraft ihren Siegeszug angetreten. Ein neues Dichten wollte entstehen, blutvoller und unmittelbarer, aber unter Verlust des früheren Formsinnes, den auch spätere Zeiten kaum je wieder errangen. Den Auftakt dazu bildet die Dichtung THOMAS CHATTERTONs73 (1752-70), der im Streben nach der sinnlichen Schönheit, der Bildlichkeit und dem Klangreichtum Spensers sich in die mittelalterliche Welt der Percyschen Balladen zurückträumte und einen Mönch und Barden aus dem 15. Jahrhundert, Thomas Rowley, erfand, in dessen Gewandung gleichsam er fortan dichtete. Mit der Einfühlungsfähigkeit des Kindes dachte er sich in die gotischen Lettern, die Pergamente, die Wappen und die Architektur des alten Bristol hinein, macht sich aus dem Speghtschen Glossar zu Chaucer eine altertümliche Schreibung zurecht und bemalte auch selbst Pergamente, die er als angebliche Originale vorwies. Die bald beargwöhnte Fälschung verwehrte ihm den 73

Poems, ed. S. Lee, 2 Bde. (1906-09); vgl. die Abhandlung von W. W. Skeat in dessen Ausg. von 1871 [modernisierter Text]; Rowley Poems, ed. M. E. Hare (Oxf., 1911). Biographie von D. Wilson (1869), von E. H. W. Meyerstein (1930). Vgl. A. Rodway, The Romantic Conflict (1963).

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Erfolg, und der Enttäuschte und dem Hunger Preisgegebene schied siebzehnjährig aus dem Leben. Daß aber der Dichter Chatterton mehr bedeutet als ein rührendes Schicksal, erweist ein Vergleich mit James Beattie74 (1735-1803), der, gleichfalls von Percy angeregt und im Fahrwasser der Spensertradition, formvollendet in mannigfachen Ausdrucksweisen, aber eigentlich ohne Stil „die Geburt, Erziehung und Abenteuer eines dieser Barden" erzählte (The Minstrel, Teil I 1771, Teil II 1774). Anspruch auf historische Beachtung hat dieses Gedicht nicht nur wegen seiner Bedeutung für die Geschichte der Genie-Lehre (vgl. S. 493), sondern auch durch den Wordsworth vordeutenden Vorwurf des 'Growth of a Poet's Mind'. Künstlerisch gelangte Beattie nicht über die verflachte klassizistische Deklamation hinaus (vgl. besonders den zweiten Teil des Minstrel und die Dichtungen Retirement und Hermit}. Die scheinbare Kindlichkeit von Chattertons altertümlicher 'Rowley'-Sprache und -Schreibung bedeutete dagegen ein echtes Nachempfinden der vollblütigeren Renaissancekunst. Denn in Metrik, Bildsprache und Tonfall stehen die Rowleygedichte den Elisabethanern näher als Chaucer, obwohl Onn Oure Ladyes Chyrche den Reiz Chaucerscher Erzählkunst hat, der Freere of Orderys Whyte geradezu verblüffend das Mittelalter wachruft und die Storie of William Canynge die Legende der Kirche St. Mary Redcliffe mit allem Duft alter Handschriften gestaltet. Chatterton besaß eine erstaunliche Gabe, die Stimmung einer Dichtung heraufzubeschwören, der Romaunte of the Cnyghte hat das holpernde Metrum Lydgates, und die in Strophe und Sprachgebung der Volksballaden geschriebene Bristowe Tragedie, or the Dethe of Syr Charles Bawdin hat die Spreu- und Weizenmischung einer zersungenen Ballade. All das reichte weiter als Nachempfinden; die mit dem Auge der Phantasie gesehenen farbigen Aufzüge, die Buntheit der sinnlichen Welt, die an Draytons Kunst gemahnende Erzählfreude der beiden langen Balladen über The Battle of Hastings bedeuteten eine neue Poesie. Das Lieblingsversmaß der Zehnsilbler, die in Spenser ähnlichen Strophen zusammengefaßt sind, ist aller Popeschen Gesetzmäßigkeit entfremdet und klingt lyrisch. Die zahlreichen Naturbilder, insbesondere in dem Minstrelterzett der längsten Dichtung ALlla, a Tragycal Enterlude, lassen alle vorhergehende Naturdichtung blaß und dünn erscheinen, und jener andere Mynstrelles Songe aus ^Ella / synge untoe mie roundelaie' sowie die meisterhafte Ballade of Charitie sind Versprechen und erste Erfüllung einer neuen romantischen Lyrik. Als Hauptvertreter dieser vorromantischen Dichtung haben Cowper, Blake und Burns zu gelten, von denen WILLIAM CowpER75 (1731-1800) zeitlich und 74

Poetical Works, ed. A. Dyce (1891) [Aldine Edn.]; ed. G. Gilfillan (1854) [zus. mit Blair u. Falconer]; Johnson-Chalmers, Bd. XVIII. - Biographie: CA. Mallet, Memoire sur Beattie (Paris, 1863). 75 Life and Works, ed. R. Southey, 15 Bde. (1836/37; repr. in Bohn's Libr., 8 Bde., 1853-55); Poetical Works [ohne Homer], ed. J. C. Bailey (1905) [mit guter Einl.]; ed. H. S. Milford (Oxf., 41935) [maßgeblich]; The Poems of W. C., edd. J. D. Baird and C. Ryskamp, 2 Bde., OET(Oxf., 1980ff., i. E.). Letters, ed. T. Wright, 4 Bde. (1904), dazu Ergänzung: Unpubl. Letters, ed. T. Wright (1925); Letters and Prose Writings, edd. J.

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weil er dem Klassizismus noch am nächsten steht, zuerst zu nennen ist. Man hat den überzarten, mehrmals von religiöser Schwermut heimgesuchten und im Wahne endenden Dichter zu einseitig unter dem Gesichtspunkt der Krankheit gesehen. Gewiß ist das Wertvollste seines Dichtertums irgendwie mit dieser Gleichgewichtserschütterung seines Gefühlslebens verbunden, aber daneben war er ein geselliger und humorvoller Mensch, frohgemut und zu Unsinn aufgelegt und bei aller Scheuheit wirklicher Leidenschaft fähig. Seine Briefe, zumal an Frauen (Harriet, Lady Hesketh), die mit ungemeiner Lebendigkeit wie in einer Unterhaltung über häusliche Kleinigkeiten, Teeschwatz und andere den Verfasser angehende Alltagsdinge plaudern, zeigen eine nicht geringere Fähigkeit zur Selbstaussprache als der Bericht seiner krankhaft empfindsamen Gefühlserschütterungen in den Memoirs. In seinem Dichten, das weniger gleichmäßig ist als die ausgezeichnete Briefprosa, dafür aber neue Wege eröffnete, kommen Heiterkeit und Humor seltener und weniger selbständig zu Wort: gelegentlich in den altmodischen und seiner Welterfahrenheit wenig anstehenden acht Reimpaarsatiren (Table Talk; The Progress of Error; Truth; Expostulation; Hope; Charity; Conversation; Retirement, gedr. 1782), reiner und reizvoller in einigen leichten, der Schule Priors verpflichteten Versen (The Rose; The Dog and the Water-Lily; The Retired Cat u. a.) und am ausgelassensten in der Geschichte des John Gilpin (1782) aus Cheapside, dessen geborgtes Pferd durchgeht, so daß er vor den Augen seiner erschreckten Angehörigen den geplanten Ausflug nach Edmonton als Rennreiter hin und zurück macht. Die Gilpinballade stammt bereits aus der zweiten Epoche Cowpers (ab 1765), als er im Hause Morley Unwins in Huntingdon und nach dessen Tod mit Frau Mary Unwin in Olney in friedlicher Ländlichkeit lebte. Damals begann sein ernstes Dichten mit religiösen Versen, die er zu den Olney Hymns des dortigen Methodistengeistlichen Newton beisteuerte. Die Hymnen, von denen die zu Gemeindegesang geeigneten (Hark my soul! it is the Lord; God moves in a mysterious way} bekannter geworden sind als die persönlicheren (z. B. The Lord will happiness divine), ordnen sich dem vom Dissent ausgehenden Kirchenlieddichten ein, das Isaac Watts76 (1674-1748) in großartiger Weise begonnen hatte (Horae Lyricae, 1706; Hymns and Spiritual Songs, 1807; Psalms of David, 1719). Gegenüber der Orgelfeierlichkeit von Watts (vgl. Our God, our help in Ages past) und der noch überwältigenderen Wortkunst von Christopher Smart77 (1722-71), etwa im Song to King and C. Ryskamp (Oxf., 1979ff., i.E.); Auswahlen in EL u. WC. - Biographien von Lord D. Cecil, The Stricken Deer (31943); M. J. Quinlan (Minneapolis, 1953); C. Ryskamp (1959). 76 edd. D. Jennings and P. Doddridge, 6 Bde. (1753); 9 Bde. (Leeds, 1812/3). - Vgl. H. Escott, W. Hymnographer: A Study of the Beginnings, Development, and Philosophy of the Engl. Hymns (1962). "Coll. Poems, ed. N. Callan, 2 Bde. (1949) [Muses' Libr.]; Jubilate Agno, ed. W. H. Bond (1954). - E. G. Ainsworth and C. E. Noyes, S.: A Biographical and Critical Study (Columbia, Miss., 1943); C. Devlin, Poor Kit Smart (1961); M. Dearnley, The Poetry of S. (1968).

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David (1763), hielt sich Cowper zu der verhalteneren, aber künstlerisch blasseren Lieddichtung des Wesleykreises. Sein starkes Religionsbedürfnis neigte zu einer versöhnlichen Mystik; durch die starre Verdammnistheologie des Dissenters Newton wurde die weiche Veranlagung des Dichters zu erneuter Gefühlserschütterung gesteigert, aus der so ergreifende Gedichte wie das verzweifelte letzte The Castaway (1794?) entsprangen. Diese übergroße Empfindsamkeit ist das entscheidende Merkmal seiner Kunst und seines Lebens. Das gilt nicht nur für menschliche Beziehungen (To Mrs. Unwin; To Mary), sondern für das Mitfühlen mit allen lebendigen Wesen, ja mit der unbelebten Natur. The Poplar Field beklagt die gefällten Bäume in einer leisen, durch die anapästischen Vierzeiler flüsternden Melodie, und Yardley Oak (1791) erzählt von Geburt, Ruhm und Verfall eines Baumes. Die bei aller Begrenzung vielseitige Dichtbegabung Cowpers - man denke an die heroischen Verse Boadicea und besonders On the Loss of the Royal George - fand das glücklichste Thema, als Lady Austen vorschlug, ein Sofa als Vorwurf eines längeren Blankversgedichts zu wählen. Der Dichter, der die widersprechende Neigung zu miltonscher und zu einfacher Dichtsprache zu einen wußte, entledigte sich dieser Aufgabe (The Task, 1784), indem er mit einer lächelnd-miltonschen Enstehungsgeschichte des Sofas begann, dann aber ohne Plan und die Einheit nur in der vorausgesetzten Anteilnahme seiner eigenen Person sehend, alle Bilder, Gerüche und Klänge des ländlichen Lebens beschrieb und in lebhaften Zwischenstücken Einsprache erhob gegen die Laster der Zeit, gegen unberufene Geistliche, grausame Sportarten und Nachteile des Stadtlebens. Die Gattung des Lehrgedichts, das in äußerlicher Anknüpfung an eine Örtlichkeit „moralisierte", fand damit eine nicht spöttische, aber auch nicht ganz ernste Erneuerung, wie auch die alte „poetische Sprache" so weit gelockert ist, daß sie einen schlicht zu Herzen gehenden Ton annehmen kann. Die Dichtung faßt die seelischen Stimmungen von Cowpers dritter Epoche (etwa ab 1782) in glücklicher Weise zusammen. Die letzte Epoche beginnt mit der Übersiedlung nach Weston, wo er sich mit der dem Urbild getreu folgenden, aber als Dichtung der Popeschen unterlegenen Blankversübertragung Homers beschäftigte (1785-91) und wo er nach dem Tod von Mary Unwin in Schwermut versank. Wie Cowper haben die Romantiker ROBERT BURNS78 (1759-96) als Vorläufer und Gleichgesinnten empfunden. Mit Recht konnten sie Burns' offenes 78

Bibliographie von J. W. Egerer (1964), ergänzend G. R. Roy (1966). - Gesamtausg.: Variorum Edn., ed. W. Scott Douglas, 6 Bde. (Edinb., 1877-79) [I-III Poetry; IV-VI Prose]. - Poems, edd. W. E. Henley and T. F. Henderson, 4 Bde. (Edinb., 1896/7); ed. C. S. Dougall (1927) u. zahlr. andere Ausgaben (vgl. CBEL). Songs of R. B. with the Melodies, ed. J. C. Dick (1903). - Auswahlen: ed. G. S. Fräser (1960); Poems and Songs, ed. G. Wright (1977). - Letters, ed. J. de Lancey Ferguson, 2 Bde. (Oxf., 1931). - Biographien von A. Angellier, 2 Bde. (Paris, 1898); H. Hecht (Heidelberg, 1919) [engl. Neubearbeitung, Lo. 1936]; F.B. Snyder (N. Y. 1932); D. Daiches (1952). F. B. Snyder, R. B.: His Personality, his Reputation, and his Art (Toronto, 1936); T. Crawford, B.: A Study of the Poems and Songs (Edinb./ Lo., 1960); vgl. auch J. G. Lockharts klass. Biographie, seit 1959 in EL, ed. J. Kinsley.

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Auge für die Natur, seine Liebe für Farbe und Buntheit, das aus dem Herzen aufquellende Gefühl für Menschlichkeit, das sich herausfordernd äußernde Unabhängigkeitsbewußtsein und den mitreißend frischen metrischen Gang als der neuen Dichtung verwandt empfinden. Aber das alles war im Dichten Schottlands schon da, und der Bauernsohn Burns, der gar nichts vom Literaten hatte, bildete die Krönung dieser nationalen Überlieferung, die einst unter den „ruhmreichen alten Barden" der sogenannten schottischen Chaucerschüler geblüht hatte, und deren Schätze man nun, teilweise vor Percy, in Balladen- und Volksliedsammlungen zu neuem Leben erweckte. Allan Ramsay79 (1686-1758), selbst Dichter und Verfasser des Pastoraldramas The Gentle Shepherd (1725), sammelte, was er an schottischer Dichtung finden konnte, und veröffentlichte es, mit eigenen Dichtungen untermischt, in The Tea-Table Miscellany (1724-27?) und The Ever Green (1724). David Herd folgte 1769 mit seinen Ancient and Modern Scottish Songs™ Lord Hailes81 1771 mit Ancient Scottish Poems u. a. m. Von den alten Mustern angeregt, wagte man wieder in schottischer Sprache zu dichten. Allan Ramsay fügte zwei Gesänge zu der altschottischen Kirchweihbeschreibung Chrisiis Kirk on the Green, sein Mitbeiträger William Hamilton of Bangour82 schrieb in altertümlicher Sprache Braes of Yarrow, und in Robert Fergusson83 (1750-74) erstand ein begnadeter Dichter, der, Burns vorwegnehmend, in Volksszenen aus Wirtshaus und Straße die alte schottische Leidenschaft für alles Natürliche zum Ausdruck brachte und spöttisch, derb und zart zugleich Mensch wie Tier als Geschöpfe der Natur ansprach (vgl. Leith Races; Hallow Fair und The Farmer's Ingle, das Vorbild von The Cotter's Saturday Night). In dem lebensverbundenen, erdnahen schottischen Dichten herrscht wie in den Volksballaden eine von Scham freie Art, eine heidnische Natürlichkeit, der künstliches Herkommen und gesellschaftliche Rangstufung nichts gelten. Diese unklassizistische Gesinnung liegt dem Burnsschen Dichten zugrunde; jedoch bejahte er das wertvollste klassische Vermächtnis, das Streben zur formalen Vollendung. In manchen englisch geschriebenen Gedichten bediente sich Burns sogar der Stilmittel der Popeschule, aber er sah ein, daß diese Äußerlichkeiten ihn seinem eigensten schottischen Bereich entfremdeten. Wie es das Vorwort des ersten Gedichtbandes (Poems Chiefly in Scottish Dialect, 1786, nach dem Ort der Herausgabe 'Kilmarnock Edition' genannt) betont, mußte er schottisch schreiben, wenn er Leben und Fühlen der noch 79

Works, ed. G. Chalmers, 3 Bde. (1851) [mit Biographie, ergänzt in: A. Gibson, New Light on A. R., Edinb., 1927]; edd. B. Martin and J. Oliver, 2 Bde. (1951-53); edd. A. M. Kinghorn and A. Law, STS (Edinb., 1970, i. E.; Bd. IV, V u. VI ersch.); TeaTable Miscellany, 4 Bde. (1724ff. u. ö.; z. B. 2 Bde. 1871); Evergreen, 2 Bde. (21761). 80 Songs from Dr. Herd's MS., ed. H. Hecht (1904); Ancient and Modern Scottish Songs, Heroic Ballads, etc., 2 Bde. (1973) [Scot. Ac. P.]. 81 Sir David Dalrymple, Lord Hailes, kein Neudruck. 82 Poems and Songs, ed. J. Paterson (1858). 83 Poems, ed. M. P. McDiarmid, 2 Bde., STS (Edinb., 1954-56); Unpubl. Poems, ed. W. Gillis (1955); New Edn. der Ausg. v. 1807 (Edinb., 1970). - Vgl. A. H. MacLaine, R. F. (N. Y., 1965).

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bäuerlichen schottischen Hochlandbevölkerung erfassen wollte, gleichviel, ob er ganz in deren Sprache redete oder nur einzelne der unübersetzbaren, einen eigenen Stimmungsgehalt tragenden, schottischen Wendungen einfügte. Zumindest unter den Liedern finden sich nur wenige gute in der englischen Hochsprache (z. B. das Jacobitenlied Ye Jacobites by name ... und Mary M orison wie auch das bekannte My Heart's in the Highlands), denn die Lieder sind das heimatlichste was er schuf. Viele der besten und frischesten erschienen in James Johnsons Scots Musical Museum (1787-96), für das er, wie später für George Thomsons Scottish Airs (1792), zersungene Volksliedtexte von der Melodie her erneuerte oder ganz neu dichtete. Nur mit der Melodie, aus der sie herauswachsen, haben die Lieder ihr volles Leben; je mehr motivische Vorlagen ihn banden, etwa die dramatische Eingangssituation, die Klage des betrogenen Mädchens, der Tod der Geliebten usw., um so größer zeigt sich der Volkslieddichter, der oft durch kleine Änderungen einen ausgeleierten Text zu einem Liede gestaltete, in dem ganz Schottland sich selber fand. Das stolze Scots, wha hae wi' Wallace bled, Jacobitenlieder wie // was a' for our rightfu' king und Awa' Whigs, awa'!, das Auld Lang Syne, freche und zarte Liebeslieder (Duncan Gray; A red red Rose; John Anderson), selbst das Persönlichstes aussprechende O, wert thou in the cauld blast, sie alle haben den überpersönlichen Klang des echten Volkslieds. Dieselbe Vielseitigkeit zeigt Burns in den Gedichten, die nicht zu Melodien geschrieben sind; in unbegrenzter Aufrichtigkeit kommen alle Stimmungen seines unbekümmert frei atmenden Herzens zum Ausdruck. Die Natur ist überall sinnlich gesehen und nicht gefühlsselig wie bei Cowper (Ausnahme To a Daisy); sie ist die Wohnstatt der Kreatur und Hintergrund und Bühne für das sie bevölkernde Leben, das Burns leidenschaftlich, aber illusionslos liebte. Mit liebevollem, aber scharfem Blick sieht er das Tier (The Twa Dogs), selten ist er ihm gegenüber gefühlvoll ( To a Mouse), und auch den Menschen sieht er, wie er ist. Er höhnt die enge Kirchlichkeit in den streitenden Pfarrern der Twa Herds, den heuchlerischen Geistlichen in Holy Willie's Prayer; sein Unabhängigkeitssinn äußert sich in der demokratischen Trutzrede von The Cotter's Saturday Night ebenso wie in dem herausfordernden A Man's a man for a' that; ein faunisches Lachen klingt aus Tarn o' Shanter und der Satire Death and Doctor Hornbrook, und in The Jolly Beggars wird das freie Landstreicherleben zu einem förmlichen Bacchanal, zu einer ganzen Oper. Für alles fand er den rechten Ton, er ist echt auch im Schwulst, im Klagen und Prahlen. Mit der Kraft seines stets sinnlichen Ausdrucks und dem Schwung seiner dahinstürmenden Rhythmen preßte er eine unglaubliche Fülle von Leben in den knappsten Raum. Er hat nicht die Zeit eines Thomson, Gray oder Cowper zum Grübeln oder die Muße, ein Ding langsam von allen Seiten zu betrachten, alle seine Metren sind rasch: die reimenden Achtsilbler, die er für Erzählungen wählte (z. B. Tarn o' Shanter), die mit kehrreimartiger Kurzzeile beschlossene 'Halloween'-Strophe und sein Lieblingsmaß der auf zwei Reimen aufgebauten sechszeiligen Strophe (aaabab), aus deren kurzen b-Versen er die vielseitigsten Wirkungen herauszuholen vermochte.

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Der letzte Vertreter vorromantischer Dichtung, der zeitlich bereits ins neue Jahrhundert hinübergreifende WILLIAM BLAKE84 (1757-1827), teilte des schottischen Lyrikers Ichbewußtsein und bis zum Revolutionären gehende Freiheitsforderung, aber sein Blick ging über das Gegenwärtige und Endliche hinaus in eine Welt des Geistes und der Phantasie, die für ihn die wirkliche und ewige Welt war. Er war Maler und Dichter, er fand Gönner und verdiente durch Illustrationen, aber seine Verse schrieb er „auf Befehl seiner Geister", mit denen er sich in visionärem Kontakt fühlte, und wenn diese seine Handschrift gelesen, galt sie ihm als veröffentlicht. So brachte er nur wenig zum Druck, den ersten Gedichtband auf Drängen Flaxmans, oder aber er radierte Text und Bild und vervielfältigte von diesen Kupferplatten. Denn wie Burns die Melodie zum Text, so empfand er das Bild zum Wort gehörig und begründete so die Vorstellung vom Gesamtkunstwerk, an das die späte Romantik (Rossetti) wieder anknüpfte. Seine ersten Bändchen (Poetical Sketches, 1783, und die wie Bild und Gegenbild sich ergänzenden Songs of Innocence, 1789, und Songs of Experience, 1794) sowie vieles, was erst aus dem Nachlaß veröffentlicht wurde, gehören der reinen Lyrik an, auf der Blakes künstlerische Bedeutung vornehmlich ruht. Seit der Renaissance war dieser schlicht liedhafte Ton nicht mehr gehört worden, und er hatte jetzt einen kindlich-innigen Klang. Dennoch bergen diese Liedchen ein philosophisches Weltbild ('innocence' und 'experience' als 'the two contrary states of the human soul'). Blakes Kinderland ist die Schau einer neuen Erde, auf der alles Lebende in Frieden ist, das Tier des Menschen Freund und die Blumen seine Vertrauten. Sein Blick sieht durch dies Kinderland hindurch 'before and after': vorher die Einheit und Brüderschaft eines Reiches der Ewigen, nachher die wiedergewonnene Seligkeit. Das ist seine Religion, aus der das Glück dieser Lyrik klingt. Überall sieht er die Verkörperung seiner Phantasieschau; die Wolke, der Herbst, die Kinderfreude sind Gestalten, mit denen er spricht. Er sieht wirklich Engel zwischen den mä84

B i b l i o g r a p h i e von G. Keynes (N. Y., 1921; repr. 1969); ergänzend dazu G.E. Bentley and M. K. Nurmi (Minneapolis, 1964; rev. Oxf., 1976). W e r k e : ed. G. Keynes, 3 Bde. (1925), rev. OSA (Oxf., 31972) [vollst. Ausg. einschl. der Briefe]; Poetry and Prose of W. B., edd. H. Bloom and D. V. Erdman (N. Y., 1965); als Arbeitsausg. N. Y., 1974/Oxf., 1975); Prophetic Writings, edd. D. J. Sloss and J. P. R. Wallis, 2 Bde. (1926); ed. G. E. Bentley (Oxf., 1976ff., i. E.). - A u s w a h l e n : ed. S. Gardner (1962); ed. J. Bronowski (1958 u. ö.); ed. N. Frye (N. Y., 1953) u. v. a., auch in EL u. WC. - E i n f ü h r u n g e n : E. D. Hirsch, (New Haven 1964); R. Lister (1968); K. Raine (1970; repr. 1974) u. a. - B i o g r a p h i e und K r i t i k : A. Gilchrist, Life of W. B., 2 Bde. (1863 u. ö.), auch in EL [grundlegend]; A. C. Swinburne, W. B. (1868 u. ö.); J. M. Murry, W. B. (1933); M. Wilson, Life of B. (21948); H. M. Margoliouth, W. B. (Oxf., 1951); J. H. Hagstrum, W. B.: Poet and Painter: An Introd. to the Illuminated Verse (Chicago, 1964); P. Boutang, W. B. (Paris, 1970); D. Wagenknecht, B.'s Night: W. B. and the Idea of the Pastoral (Cambr., Mass., 1973); D. Bindman, W. B. as an Artist (1975); N. Nathan, Prince W. B.: The Philosophical Conceptions of W. B. (Den Haag, 1975). - B. als bildender Künstler: Zahlr. neuere Faksimile-Ausgaben (bes. zu empfehlen die 'Blake Trust Facsimiles'; s. dazu B. Fabian, Bibliographie, S. 455.

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henden Bauern gehen und nicht als Traum, sondern als selbstverständliche Wirklichkeit seiner inneren, wesentlichen Welt, der gegenüber die äußere Welt der Erfahrung häufig als negativer Einfluß erscheint. Komplementär steht der „Kinderfreude" das „Kinderleid" gegenüber, dem „Lamm"-Gedicht das vom „Tiger", dem „Ammenlied" des Kinderlandes ein anderes „Ammenlied" der Erfahrungswelt. Aus diesem bewußten Gegensatz entspringt eine neue Musik, die den kleinen Gedichten oft denkspruchartigen Wert verleiht, genau wie in seiner Prosa aus einzelnen sprichwörtlich gefaßten Wendungen sich weite Blicke eröffnen. Auf diesem Wege weitergehend entwickelte Blake die Symbolik seiner prophetischen Bücher, die der Deutung zahllose Rätsel aufgeben. Diese Blake eigene Phantasiewelt eröffnete das kurze Book of Thel (1789), das erstmals in dem Blakeschen Metrum der reimlosen langen (siebenfüßigen) Zeilen von meist trochäischem Charakter geschrieben ist. Später wandelte sich dieses Metrum zu einer Art rhythmischer Prosa, die oft an Ossian anklingt, und auch die kürzeren, eigentlich aus drei Amphibrachen (^-^) bestehenden Zeilen der Bücher 'Urizen', 'Ahania' und 'Los' lassen sich nur als dreifacher Hammerschlag einer metrischen Prosa lesen. 'Thel' gehört noch zur lyrischen Welt, die Klage der unschuldigen Seele, die in diese tote Wirklichkeitswelt geboren werden soll, und ihre Tröstungen durch die kleinen demütigen Wesen Maiblümchen, Wolke, Wurm, Erdklumpen haben noch etwas von den Liedern der Unschuld. Wie der Gegensatz aus der Welt der Erfahrungslieder ist das darauffolgende von Feuer und Zorn durchglühte, in Vers und Prosa abgefaßte Buch The Marriage of Heaven and Hell (1790). Hier beginnen die Bezeichnungen rätselhaft zu werden, der Sinn der Worte Tod und Leben, Himmel und Hölle ist vertauscht. Seine Dichtung Europe, a Prophecy (1794) schildert den langen Schlaf Europas unter der bedrückenden Herrschaft der Kirchen, und der rücksichtslose Angriffsgeist verstärkt sich noch in den folgenden Dichtungen Visions of the Daughters of Albion (1793), America (1794), sowie in dem Book of Urizen (1794), Book of Ahania (1795), Book of Los (1795). In den letzten langen prophetischen Büchern The Four Zoas oder Vala (1797), Jerusalem und Milton (1804), die den epischen Ehrgeiz Miltons nachahmen und die gegensätzlichen Heere der Guten und Bösen in ihren Kämpfen und Reden aufeinanderstoßen lassen, ist der Sinn schwer zu entwirren. Der Mensch ist vierfach gespalten in Humanity, Spectre, Emanation, Shadow, und diesen endlichen Verkörperungen entsprechen im Bereich der Ewigkeit die vier Zoas: Los, die Freiheit; Urizen, das Gesetz; Luvah, die geistige, und Tharmaz, die körperliche Liebe. Aus diesen wiederum entspringen ihre Emanationen: Enitharmon, das göttliche Mitleid; Ahania, der mildeste Teil von Urizens Macht; Vala, der Liebeskörper, und Enion, die bloß fortpflanzende Erregung. Die in mystischer Art den Körper-Seele-Gegensatz aufhebende Lehre der Emanation enthielt den neuen Gegensatz der Trennung des Menschen von seinem Ideal, aus dem die glühende Sehnsucht der Emanationen entspringt, mit dem Ding selbst, aus dem sie fielen, wieder vereinigt zu werden. So stehen dem Menschen zwei Wege offen, der Weg in die irdische Welt, den die vielen

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gehen, und der Weg der Phantasie, den die Rebellen gegen autoritäre Normen und Vernunftherrschaft und die Künstler beschreiten, denn die Kunst ist das Leben, und Christus, der wahre Künstler, ist Erfüllung. Blakes Visionen, überraschend dinglich in der bildlichen Darstellung, fehlt in der dichterischen Vorstellung die Klarheit; was er mit dem Griffel umreißt, bleibt in Worten verschwommen. So muß man ihm den Vorwurf machen, daß er die mythisch-philosophische Substanz seiner Epen nicht klarer auszudrücken vermochte, aber wer sich durch Blake den englischen Romantikern nähert, wird geheilt von dem Wahn, daß ihr Dichten ein harmloses Spiel mit ungewohnten Gedanken in ungewohnten Formen sei. Dies Dichten setzt sich in Widerspruch zu aller klassizistischen, überkommenen, sittlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung.

II. DIE PROSA 1 l. Steele, Addison und die moralischen Wochenschriften Im Jahre 1709 gründete der Herausgeber des amtlichen Regierungsblatts 'Gazette', Sir RICHARD SxEELE2 (1672-1729), den Tatler, eine dreimal wöchentlich erscheinende Zeitschrift von einer Druckseite Umfang, die sich belehrend und unterhaltend an jene Kreise wandte, deren puritanisches Schicklich1

Die Forschung galt vorzugsweise dem Roman: E. A. Baker, History of the English Novel, Bd. III-V (1930-34); Kürzere Darstellungen: W. Raleigh, The English Novel (1894 u. o.); W. L. Cross, Development of the English Novel (N. Y., 1899 u. ö.); G. Saintsbury, The English Novel (1894 u. ö.); W. Phelps, Advance of the English Novel (1919); A Kettle, An Introduction to the Engl. Novel. 2 Bde. (1951-53); I. Watt, The Rise of the Novel: Studies in Defoe, Richardson, and Fielding (1957 u. ö.); R. D. Mayo, The English Novel in the Magazines 1740-1815 (Evanston, 1962); D. Spearman, The Novel and Society (1966); E. Wolff, Der engl. Roman im 18. Jh. (Göttingen, 1964,31980); L. Borinski, Der engl. Roman des 18. Jhs. (Frkft., 1968); Der engl. Roman: Vom Mittelalter zur Moderne, ed. F. Stanzel, 2 Bde. (Düsseldorf, 1969) [Einzelinterpretationen]; The Novel in Letters: Epistolary Fiction in the Early Engl. Novel 1678-1740, ed. N. Würzbach (1969); K. Otten, Der engl. Roman vom 16. zum 18. Jh. (Berlin, 1971); K. H. Göller, Romance and Novel: Die Anfänge des engl. Romans (Regensburg, 1972); The 18th Century Engl. Novel: A Compendium of Modern Studies, ed. B. Fabian, 2 Bde. (Hildesheim, 1979); D. Mehl, Der engl. Roman bis zum Ende des 18. Jhs. (Düsseldorf, 1977); H. Reinhold, Der engl. Roman im 18. Jh. (Stuttgart, 1978). 2 Political Writings (1715, 1723); Tatler, ed. G. A. Aitken, 4 Bde. (1898-99); Spectator, ed. D. F. Bond, 5 Bde. (1965) [Standardausg.]; beide Wochenschr. auch in EL;Tracts and Pamphlets (darunter Christian Hero), ed. R. Blanchard (Baltimore, 1944). Dramen, s. S. 547, Anm. 21). - Correspondence, ed. R. Blanchard (Oxf., 1941). -Biographie von G. A. Aitken, 2 Bde. (1889); W. Connely, Sir R. S., (1934); J. Loftis, S. at Drury Lane (Berkeley, 1952); C. Winton, Captain S., 2 Bde. (Baltimore, 1964 u. 1970).

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keitsempfinden durch Jeremy Colliers Mund die Restaurationsliteratur abgelehnt hatte. Dieses Landadel, Geistlichkeit, Armee und Handel umfassende Publikum, das nur wenig ins Theater ging, wie Steele am geringen Erfolg seiner moralisch vorbildlichen Komödien ( The Funeral, 1701; The Lying Lover, 1703; The Tender Husband, 1705, s. S. 547) erfahren hatte, sollte im Tatler einen einheitlicheren Geschmacksstandpunkt finden als in den bisher die öffentliche Meinung bildenden Kaffeehausklubs. Deshalb mußte der Inhalt dieser sog. moralischen Wochenschriften vielseitig sein, sie sollten nicht nur die Steele liegende moralische Abhandlung (vgl. seinen Christian Hero, 1701) pflegen, sondern, wie der Name sagte, auch Plaudereien über Alltagsdinge wie Modefragen und Vergnügungen einflechten. Und als Steele mit dem Sturz der Whigs (1710) die Gazette verlor und damit die Quelle, aus der er seine Neuigkeiten schöpfte, und als er folglich mit seinem Beiträger Joseph Addison die gänzliche Ausschaltung der Politik vereinbarte, war die einheitliche Note gefunden. Der Inhalt war noch mannigfaltig genug: Szenen aus Marlboroughs Kriegslager wechselten mit solchen aus Wills Kaffeehaus, schöngeistige Literatur und humanistische Gelehrtengespräche mit Bildern des häuslichen Lebens; und die vom Autor angenommene Maske des Mr. Bickerstaff, einer seit Swift allgemein bekannten komischen Figur, Vorbild des Punch, gab ebenso Freiheit zur Schilderung von Sitten, Gewohnheiten, Tugenden und Torheiten der Menschen, wie Anlaß zu romanartiger Ausgestaltung, indem die angebliche Hochzeit von Bickerstaffs Schwester und ähnliche Familienereignisse beispielhafte Geschichten über die richtige Ehe, weibliche Tugend und das Idealbild des Gentleman geradezu herausforderten. Neben der Bedeutung, die solchen genrebildlichen Sittenschilderungen für die Erzählkunst des Romans zukommt, hatte Steele in seinem Tatler eine neue Form des Essays eröffnet, die nicht wie die Essays von Bacon ein Mosaik von Sinnsprüchen, Zitaten und Anweisungen sein wollte, und nicht wie die Montaignes eine unbegrenzt fortlaufende Kette von Erwägungen, sondern ein Kleinkunstwerk von genau umrissenem Rahmen, einheitlichem Thema und Ton und künstlerisch abgestimmter Ausgeglichenheit der Teile. Der unbestrittene Meister dieser Kunst wurde JOSEPH AooisoN3 (1672-1719), der zusammen mit Steele anstelle des 1711 abgebrochenen Tatler den Spectator herausgab (1711-12) mit Beiträgen von Pope, Tickell, Eustace Budgell, A. Philips u. a. Addison hatte bis dahin nur einige lateinische und englische Verse geschrieben (z. B. The Campaign auf den Sieg bei Blindheim), ein Gespräch über Münzen (Dialogues upon the Usefulness of Ancient Medals) und eine anmutige, aber ziemlich bedeutungslose italienische Reisebeschreibung (Remarks on Italy). 3

Works, ed. G. W. Greene, 6 Bde. (N. Y., 1856); Miscellaneous Works ed. A. C. Guthkelch, 2 Bde. (1914/5) [unvollst.]; Essays, ed. J. Frazer, 2 Bde. (1915) [Auswahl]; Letters, ed. W. Graham (1941); Studienausg. des Spectator (mit Register), ed. G.G. Smith, 8 Bde. (1907); auch in EL, 4 Bde.; ed. D. F. Bond, 5 Bde. (1965) [Standardausg.]. - Biographie von P. Smithers (Oxf., 1954; rev. 1968). Vgl. auch F. Rau, Zur Verbreitung u. Nachahmung des Tatler u. Spectator (Heidelberg, 1980).

II. Die Prosa

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Die Essays machten ihn seiner eigentlichen Begabung bewußt, und der große Erfolg des nun täglich erscheinenden Spectator verschaffte ihm einen unberechenbaren Bildungseinfluß auf weiteste Kreise. Der „Zuschauer" gestaltete den novellistischen Rahmen des „Plauderers" stärker aus. Die Zeitschrift wurde angeblich von einem Klub herausgegeben, dem Sir Roger Coverley als Vertreter des Landadels angehörte und Sir Andrew Freeport, Captain Sentry, Will Honeycomb als Vertreter des Handels, der Armee und der Stadt. Die Unterhaltungen dieses Kreises sollten berichtet werden; dieses Spiel wird auch bis ans Ende aufrechterhalten, wo sich der Kreis durch Coverleys Tod, Honeycombs Heirat und Sentrys Weggang aufs Land auflöst. Mr. Spectator selbst, der die Aufsätze schreibt, ist ein gereister und wohlunterrichteter Mann, der London als Zuschauer besucht, aber an den politischen Kämpfen keinen Anteil nimmt. Die Stoffe sind dieselben wie in den späteren Nummern des Tatler, sie befassen sich vorwiegend mit Fragen menschlichen Verhaltens, teils in moralischen Abhandlungen, teils in Bildern und Erzählungen aus dem englischen Leben; das Samstagblatt ist oft einer erbaulichen Sonntagsbetrachtung vorbehalten (z. B. Nr. 201, 387, 483). Addisons Beiträge sind wieder die besten, besonders die gegenständlichen Beschreibungen Sir Roger Coverleys in seiner Häuslichkeit, in der Stadt, beim Besuch des Theaters, wobei die Damenmoden erörtert werden, und andere humorvoll-satirische Plaudereien, wie sie im „Vierten Leitartikel" der Times fortlebten. Berühmt sind die zwei Besuche in der Westminsterabtei (26 und 329), der Besuch auf der Börse (69), das Tagebuch des zur Ruhe gesetzten Bürgers (317) und der Modedame (323), die Gesichte Mirzas (159), die Seelenwanderungen des Affen Pug (343) und der Tod Sir Rogers (517). Dazu werden Fragen des künstlerischen Geschmacks erörtert an Shakespeare, Homer, der Poesie der Bibel, den Balladen und besonders Milton (in einer großen Reihe von Samstagblättern ab 267). Die Unerschöpflichkeit der Erfindung, die warme Wahrheitsliebe und die humorvoll verstehende Kenntnis des menschlichen Herzens machen die Bände des „Zuschauers" noch heute ebenso lesbar wie zu ihrer Zeit. Es ist kein Wunder, daß, als die Herausgeber die Reihe als abgeschlossen abbrachen, der Wunsch nach ähnlichen Zeitschriften 4 bestehen blieb. Schon wenige Wochen später eröffnete Steele The Guardian (1713), aber das Eindringen der Politik erwies sich als wenig günstig, und es erfolgte eine Teilung in ein rein politisches Blatt The Englishman (1713), das den Kampf mit Swifts toryistischem Examiner aufnahm, und eine The Lover (1714) genannte Zeitschrift, die eine moralische Wochenschrift sein sollte, aber zu einseitig das Empfindungsthema pflegte und keine lange Lebensdauer hatte. Noch einmal griff Addison, der auch zum „Vormund" die wertvollsten Beiträge geliefert 4

Fast alle Zeitschriften abgedr. in: The British Essayists, ed. J. Ferguson, New Edn. (1819), einige auch in Buchform erschienen, z. B. The Guardian, 2 Bde. (1713 u. ö.); The Lover, ed. W. Levin (1887) [Camelot Ser.]; The Rambler, ed. S. C. Roberts, in EL.

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hatte, mit einer Erneuerung des Spectator (1714) ein, aber die politischen Parteikämpfe waren der Besinnlichkeit der moralischen Wochenschriften nicht günstig. Die mannigfachen Vorbilder, die Steeles und Addisons Essaykunst gegeben hatten: die dem Durchschnittsleser angepaßten ethischen Abhandlungen, die leichte Verspottung schlechten Benehmens und kleiner Charakterschwächen, die Charakterbeschreibung unter lateinischen Namen (Callisthenes, Acetus usw.), die literarische Würdigung und besonders die trauliche Beschreibung städtischen und ländlichen Lebens fanden indessen erneut Nachfolge, als in den fünfziger Jahren die Essaykunst sich wiederbelebte. Beispiele sind Zeitschriften wie The Student (1751) von Thomas Warton d. J. und Christopher Smart, The Rambler (1750-52) und die Idler-Essays (s. S. 535) von Dr. Johnson, The Bee (1759) von Goldsmith, The Adventurer (1752-54) von John Hawkesworth, The World (1753-56) von Edward Moore, The Connoisseur (1754-56) von George Colman d. Ä. u. a. m. Von allen diesen Herausgebern und Beiträgern sind nur die Arbeiten von Goldsmith der Essaykunst Addisons ebenbürtig. Seine Beiträge, die gegenüber der schweren Prosa Johnsons die gelassene Einfachheit der früheren Meister von Dryden bis Bolingbroke vertreten, hat man Blättern aus einem Skizzenbuch verglichen. Nichts Schweres oder Bitteres ist in diesen Plaudereien, die gefällig und nie langweilig die reizvollen Gespräche des Spectator fortsetzen und abschließen. Die moralischen Wochenschriften waren die beste Frucht des seit der Lokkerung der Zensur (1679) entstandenen Zeitungs- und Zeitschriftenwesens. Ihre Bedeutung erstreckt sich nicht nur auf den Beitrag, den sie zur Fortentwicklung der Kunstprosa und der Formen des Erzählens lieferten. Sie waren das wichtigste Organ der seit 1688 möglich gewordenen „bürgerlichen Öffentlichkeit" und trugen wesentlich zu deren Institutionalisierung bei. Ihre Herausgeber und Beiträger verstanden sich größtenteils als Erzieher und zugleich als Sprachrohre dieser neuen Öffentlichkeit. Inhaltlich kann ihr Erziehungsideal nicht als schlechthin bürgerlich bezeichnet werden. Es zielte auf eine Heranführung immer weiterer Kreise des städtischen Bürgertums an Auffassungen, die letztlich aus der aristokratischen Tradition stammten. Um dies zu ermöglichen, mußte das Gentleman-Ideal von den Exzentrizitäten und der Immoralität der Restaurationszeit gelöst werden. Es wurde mit christlich-protestantischen und aufgeklärt-moralischen Inhalten neu aufgefüllt und dem Geist des auf die Lebenspraxis gerichteten Empirismus angenähert. Steeles „Christlicher Held" hatte dazu Vorarbeit geleistet. Die Wochenschriften trugen das neue, aus aristokratischen und bürgerlichen Inhalten zusammengesetzte Ideal in alle Lebensgebiete und in immer breitere soziale Schichten hinein.

II. Die Prosa

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2. Satire und Roman bei Defoe und Swift Die im frühen 18. Jahrhundert neu entstehende Form des realistischen Prosaromans unterschied sich von allen bis dahin bekannten Formen des Romans, auch von den Vorbildern, denen sie am ehesten verpflichtet war, dem spanischen und französischen pikaresken Roman sowie dem Don Quijote des Cervantes, durch ihren Wirklichkeitssinn, ihre moralistische Zielsetzung und eine von Anfang an vorhandene Neigung zur psychologischen Beobachtung. Auch der Roman verdankte seine erste große Blüteperiode der Journalistik und diente ähnlichen Zielen wie diese. Sein erster Vertreter ist der Journalist DANIEL DEFOES (16597-1731), der in einem vielfach umhergetriebenen Leben eine erstaunliche Fülle der verschiedenartigsten Schriften abfaßte. Er begann mit politischen Flugblättern, die ihn gelegentlich ins Gefängnis brachten, wie dem für den landfremden König eintretenden True-born Englishman (in Versen, 1701) und der Kampfschrift gegen Unduldsamkeit in Glaubensdingen The Shortest Way with the Dissenters (1702); er gründete Zeitschriften mit Handelsblatteinschlag (Weekly Review, 1704-13, und Mercurius Politicus, 1716), schrieb den belehrenden Family Instructor (1715), versuchte sich in Geschichtsschreibung (History of Charles XII, 1715; History of Peter the Great, 1722), veröffentlichte einen dreibändigen Reiseführer (Tour through the Whole Island of Great Britain, 1724-27) und beschloß seine schriftstellerische Laufbahn mit stark patriotisch gefärbten Büchern wie The Complete English Tradesman (1726), Augusta Trimphans (1728), A Plan of English Commerce (1728), The Complete English Gentleman (1728-29). Aus alledem spricht der Berichterstatter, der treffend und vielseitig, aber ohne vorherigen Plan in völlig schmuckloser Umgangssprache drauflosschreibt, einzig bedacht, seine Leser zu fesseln und ihre Neugier durch klare Tatsachendarstellung zu befriedigen. Merkwürdige Fälle wie die Geistererscheinung in der True Relation of the Apparition of one Mrs. Veal (1706) mußten besonders wirksam sein. Defoes Kunst, durch Einfügung genauer Orts- und Zeitangaben, scheinbar unwichtiger Nebenumstände und Einzelbeschreibungen ('circumstantial method') den Eindruck 5

B i b l i o g r a p h i e : A Checklist of the Writings of D. D. (Bloomington, Ind., 1960;rev. Hamden, Conn., 1971); An Annotated Bibliogr. of Works about D.D. in: Biogr. Bulletin. - W e r k e : Novels and Miscell. Works, 20 Bde. (Oxf., 1840-41; repr. N. Y., 1973); Shakespeare Head Edn. of the Novels and Selected Writings, 14 Bde. (Oxf., 1927-28; repr. N. Y., 1974); Einzelromane in OEN, EL, WC u.a. Reihen; Review [Faks.Ausg.], 9 Bde. (1938; repr. N. Y., 1965). - The Letters of D. D., ed. G. H. Healey (Oxf., 1955). - B i o g r a p h i e und K r i t i k : W. Lee, D. D.: His Life, and Recently Discovered Writings (1869; repr. Hildesheim, 1968); J. Sutherland, D. D. (Oxf., 1937; rev. 1950); J. R. Moore, Citizen of the World (Chicago, 1958); vgl. auch P. Dottin, D. D. et ses romans, 3 Bde. (Paris, 1924); ders., La vie et les aventures de D. D. (Paris, 1925); R. Stamm, Der aufgeklärte Puritanismus D. D. s (Zürich, 1946; repr. Bern, 1974); M. E. Novak, Economics and the Fiction of D. D. (1962; repr. N. Y., 1975); J. Sutherland, D. D.: A Critical Study (Boston/Cambr., Mass., 1971); P. Earle, The World of D. D. (1976). - Einführung: R. Weimann, D. D. (Halle, 1962).

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des Augenzeugenberichts zu erwecken, weist schon in diesen frühen Schriften auf die für den Roman neue Art realistischen Erzählens voraus, die seinen Romanen ihre charakteristische Prägung verleihen sollte. Es ging dabei nicht darum, Fiktionen als Tatsachenberichte auszugeben, sondern um eine künstlerische Umsetzung des neuen Verhältnisses zur Realität, das sowohl durch den Puritanismus als auch durch den philosophischen Empirismus heraufgeführt worden war. Damit eröffnete er der Romankunst neue Wege, wie es der erste seiner eigentlichen Romane, Robinson Crusoe (1719), mit durchschlagendem Erfolg dartat. Die Erzählung, die zeitgenössische Berichte über die Schicksale des schottischen Abenteurers Alexander Selkirk auswertet und mit Hilfe anderer Reiseberichte ausmalt, ist in das Gewand einer Serie von fiktiven Reiseberichten und Tagebuchauszügen gekleidet, die zusammen das Leben des Helden erzählen, das als eine einzige Folge von Schiffbrüchen und Errettungen durch Gottes Hand erscheint. Neben der Gnade Gottes, deren Wirken im kalvinistisch-puritanischen Sinne gedeutet wird, sind es vor allem die persönlichen Eigenschaften Robinsons, die sein Überleben und schließlich auch seinen materiellen, kaufmännischen Lebenserfolg bewirken: Gottvertrauen, Zähigkeit, Ausdauer und Arbeitswille, Geschicklichkeit, Beobachtungsgabe. Robinson verkörpert den Typus des wagemutigen und fleißigen britischen Kaufmanns der Zeit, der Handelsinteressen mit seiner missionarischen und zivilisatorischen Mission zu verbinden weiß. Sein wohlwollend patriarchalisches Verhältnis zu dem Kannibalen Freitag enthält das Selbstverständnis des britischen Kolonialismus der Frühzeit in paradigmatischer Weise. Man kann den Roman jedoch auch als eine Parabel der Menschheitsgeschichte, ein großes Epos vom Menschen lesen, der sich in eine unwirtliche, ihm feindlich gegenüber stehende Wirklichkeit verstoßen sieht, die er sich, dem göttlichen Auftrag folgend, unterwirft. Daß der Roman auch diese Lesart nahelegt, hat ihm wohl seinen dauerhaften Welterfolg, auch als Kinderbuch, gesichert. Daß Robinson tätig, praktisch, irdisch gerichtet ist wie Defoe selbst und sein Trueborn Englishman', dessen vom Prinzip der Nützlichkeit abgeleitete ethische und religiöse Empfindungen oft pharisäisch anmuten mögen, erscheint daneben zweitrangig. Wie sich besonders in der berühmten Insel-Episode zeigt, verstand es Defoe, erstmalig im Roman Elemente miteinander zu vereinigen, die für die gesamte nachfolgende Romantradition wesentlich blieben: die Kunst der Darstellung der reinen, nur noch für sich selbst stehenden Realität, die Zurückführung der Wirklichkeit auf das Elementare und der Sinn für die Abenteuerlichkeit der in diesem Sinne entmythisierten Wirklichkeit. Der Erfolg reizte zu weiteren Versuchen in dieser Gattung der fiktiven Reiseberichte. Eine Fortsetzung, The Farther Adventures of Robinson Crusoe, die einen zweiten Inselbesuch Robinsons und Freitags erzählen, erschien noch im selben Jahr und bald darauf (1720) Captain Singleton, worin gleichfalls im Ichbericht, der allerdings mehr als Verkleidung kenntlich ist, ein abenteuerliches Leben abrollt: als Kind geraubt, als meuternder Schiffsjunge

//. Die Prosa

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auf Madagaskar ausgesetzt, durchquert Singleton ganz Afrika, findet Gold, das er vergeudet, wird Seeräuber auf allen Meeren und erreicht schließlich das glückliche Ende mit Reichtum und Heirat. Dieselbe Ereignisfülle und Unterordnung der Menschendarstellung zeigen A New Voyage round the World (1724) und The Four Voyages of Captain George Roberts (1726) mit der dem späteren Defoe eigenen Unterstreichung englischen Anrechts und englischer Handelswege. Ähnlich lebendig wie Robinson und lange als echter Bericht des 1608 geborenen Hauptmanns Andrew Newport angesehen, sind die Memoirs of a Cavalier (1720) gelegentlich als früher historischer Roman bezeichnet worden. Auch bei dieser vom Offiziersstandpunkt aus erzählten Militärgeschichte überzeugt die Genauigkeit, mit der z. B. taktische Einzelheiten berichtet werden, und sie gelingt künstlerisch, weil das Interesse von der unvollkommenen und nur flüchtig angedeuteten Charakterzeichnung auf die Erlebnisse des Erzählers in den Heeren Gustav Adolfs und Karls I. verlagert ist, womit die berühmten Schlachten von Edgehill, Newbury, Marston Moor und Naseby die Intensität eines Augenzeugenberichts gewinnen. Noch unmittelbarer, weil durch die kleinbürgerliche Erzählerfigur dem Defoeschen Erlebnisbereich angenähert, wirkt das Journal of the Plague Year (1722), dessen geradezu statistische Form annehmende Aufzählung der Schrekken, Abhilfemaßnahmen, Beerdigungen, Wirtschaftszustände zusammen mit den erzählten einzelnen Krankheitsgeschichten einen grausig überwältigenden und völlig zeitgenössisch wirkenden Eindruck erzielen. Auch die ein Soldatenleben in den Armeen des Prinzen von Oranien und Jakobs II. erzählenden Memoirs of Captain George Carleton (1728) klingen geschichtlich echt und verbinden durch Einbeziehung von Lord Peterboroughs spanischem Feldzug mit der Belagerung Barcelonas die Reize von Reisebericht und Geschichtsschreibung. Ein weiteres und für den Roman der unmittelbaren Folgezeit noch wichtigeres Feld eröffneten die Romane Defoes, in denen er sich der Form der fiktiven Autobiographie bediente, die ein gewisses Maß an Intimität und Seelenanalyse erlaubte. Es handelt sich dabei um Moll Flanders (1721-22), Coloneljack (1722), Roxana (1724). Moll ist die uneheliche Tochter einer nach Virginien verschifften Diebin, und nach Verführung, zahllosen Liebschaften und Taschendiebereien wird auch sie nach Virginien verbannt, beginnt aber dort mit einem ihrer früheren Gatten ein bürgerliches Pflanzerleben, wird wohlhabend und bereut - ein Schicksal, das sich in den gegen den Schluß ziellos verlaufenden Abenteuern des Colonel Jack ziemlich genau wiederholt. Roxana ist die Tochter eines französischen protestantischen Flüchtlings und nach unglücklicher Ehe in England und nach einträglichem, von England nach Frankreich und Holland führendem Dirnenleben heiratet sie dort einen Kaufherrn, wird aber durch dessen Tod ins Schuldgefängnis gebracht und stirbt in Reue. In der unvermittelten Ereignisfolge und der sie verbindenden autobiographischen Achse erinnern diese Bücher an den Schelmenroman, wie ihn die Sammlung The English Rogue6 (1665) von Richard Head und 6

Repr. 1928.

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Francis Kirkman repräsentierte. Sie unterscheiden sich aber von den 'criminal biographies' durch den inneren Zusammenhang, den die pikaresken Episoden vor dem Hintergrund der deutlich durchschimmernden kalvinistischen Prädestinationslehre gewinnen. Der Roxanaroman erreicht die Eindringlichkeit der Darstellung hochgespannter Empfindungen, die später das bürgerliche Trauerspiel auszeichnen sollte. In Moll Flanders wird die robinsonartige Selbstbehauptung eines armen, nur auf sich angewiesenen Wesens gegen die verderblichen Einflüsse einer verfehlten Erziehung und des Verbrechermilieus geschildert, in dem zu leben sie durch die Umstände gezwungen ist. Moll bleibt keineswegs unberührt von der sie umgebenden Unmoral. Sie ist eine Dirne wie Roxana und nach den Maßstäben der Zeit eine Diebin. Dennoch hofft sie nicht vergeblich auf die göttliche Gnadenwahl. Mag auch die Psychologie der weiblichen Seele im Vergleich zu Richardson noch sehr einfach wirken und mögen die moralischen Reflexionen aufgesetzt erscheinen, so bedeutete doch Defoes Kunst der realistischen Milieuschilderung und der Darstellung eines Frauenlebens den Beginn der großen Tradition des realistischen Romans des 18. und 19. Jahrhunderts. JONATHAN Swirr7 (1667-1745) kritisierte wie Defoe die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Ansichten und Zustände seiner Zeit, wenn auch mit besserer Bildung, schärferem Geist und feinerem Stil. Im Gegensatz zum aufgeklärten Optimismus anderer augusteischer Satiriker tendiert Swift zu geißelndem Spott aus dem resignierten Bewußtsein heraus, daß die Wirkung der Satire zu schwach sei, um den bestehenden Mißständen abzuhelfen oder die Menschheit zu bessern. Doch wäre es verfehlt, Swift uneingeschränkt als einen Misanthropen zu bezeichnen. Er selbst verwahrte sich gegen eine solche Etikettierung, als er an Pope schrieb: "Principally I hate and detest that animal called man, although I heartily love John, Peter, Thomas and so forth." Swift sah einen Unterschied zwischen derjenigen Satire, die sich verallgemeinernd gegen den Menschen als 'animal rationale' oder als Vertreter von Nationen, Berufen, Institutionen richtet, und derjenigen anderseits, die sich an den Menschen als privates Individuum wendet. Im persönlichen Bereich 7

B i b l i o g r a p h i e von H. Teerink (The Hague, 1937) [vorzügl., auch die biographischen u. kritischen Schriften über S. verzeichnend]. - W e r k e : Prose Works, ed. H. Davis, 16 Bde. (Oxf., 1939-74) [Standard-Ausg. mit Index]; Poems, ed. H. Williams, 3 Bde. (Oxf., 1937; rev. 1958). - Gulliver's Travels in zahlr. Einzelausg., z. B. in EL u. WC; Journal to Stella, ed. J. K. Moorhead in EL. - Auswahlen: The Portable S. eingel. v. C. van Doren (N. Y., 1948; repr. 1968); Tale of a Tub and other Satires, ed. K. Williams in EL. - B r i e f e : Correspondence, ed. F. E. Ball, 6 Bde. (1910-14), erg. durch Vanessa and her Correspondence with J. S., ed. A. Martin Freeman (1921), und Letters of J. S. to C. Ford, ed. D. N. Smith (Oxf., 1935); The Correspondence of J. S., ed. H. Williams, 5 Bde. (Oxf., 1963-65) [endg. Ausg.]. - B i o g r a p h i e und K r i t i k : H. Craik, Life of J. S., 2 Bde. (21894); L. Stephen, J. S. (1882); C. van Doren, S. (N. Y., 1930); R. Quintana, Mind and Art of J. S. (N. Y., 1936); J. M. Murry (1954); I. Ehrenpreis, S.: The Man, his Works, and the Age (1967ff.) [Standardbiographie, bish. zwei Bde. ersch.]; C. J. Rawson, Gulliver and the Gentle Reader: Studies in S. and our Time (1973); A. Löffler, The Rebel Muse: Studien zu Swifts kritischer Dichtung (Tübingen, 1981).

H. Die Prosa

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maß Swift der Satire am ehesten eine begrenzte moralische Wirkung zu, hier war er zu einem versöhnlicheren, wenngleich nicht einfach gütig-heiteren Ton bereit. Swift veröffentlichte 1704 A Tale of a Tub (entstanden zwischen 1696 und 1699), die den Leviathanen und Skeptikern ein Spielzeug sein will, damit sie Staat und Kirche in Ruhe lassen, so wie die Matrosen dem Walfisch ein Faß hinwerfen, damit er ihr Schiff verschone. Es ist die Geschichte dreier Brüder, die die katholische Kirche, den gemäßigten lutherischen Protestantismus und den radikalen Kalvinismus verkörpern. Sie laufen den Dirnen Stolz, Reichtum und Ehrgeiz nach und putzen die ererbten Kittel mit Silberspitzen und Goldlitzen auf, was das wiedergefundene Vermächtnis des Vaters verbot. Peter kehrt sich nicht daran, Martin trennt ab, was ohne Schaden des Rocks zu entfernen ist, und Jack reißt alles herunter und zerreißt damit den Stoff. Die Geschichte ist lebendig erzählt, dabei umrankt von einer Fülle witzig geistvoller Abschweifungen in schlichter, aber kunstvoller Prosa. Schon in diesem Buch, das im Hause des Diplomaten Sir William Temple entstand, erwies sich Swift als eine starke geistige Kraft und als einer der bedeutendsten Prosaautoren seiner Zeit. Dies wird auch deutlich an The Battle of the Books (entstanden 1697-98, veröffentlicht 1704); in dieser Prosasatire wird die Position Temples in der Streitfrage um den Vorrang der antiken und der modernen Autoren gegen Bentley und Wotton durch die Bücher selbst ausgefochten, ohne daß Swift, der sich durch Berufung auf den verdorbenen Zustand der Handschrift zu decken weiß, eine eigene klare Stellungnahme gibt. Der heitere Ton ist noch ungetrübter in den zur Unterhaltung der Damen von Lord Berkeleys Haushalt geschriebenen Bagatellen, The Humble Petition of Frances Harris (1701) oder A Meditation upon a Broomstick (ca. 1703). Nach Temples Tod (1699) kehrte Swift in seine Geburtsstadt Dublin zurück, wo er eine kleine Pfründe erlangte; Flugschriften im Geiste der Whigs wie der Discourse of the Contests and Dissensions in Athens and Rome (1701) verraten politischen Ehrgeiz, aber mit wenig Aussichten, da er als anglikanischer Geistlicher die den Whigs entgegenstehende Sache der Hochkirche vertrat (vgl. den gegen die irischen Presbyterianer gerichteten Letter concerning the Sacramental Test, 1708). Von diesen Enttäuschungen lenkten ihn die Londoner Freunde Addison, Steele, Arbuthnot ab, in deren Kreis die heitere literarische Fehde mit dem Sterndeuter John Partridge entstand, gegen dessen astrologische Kalender Swift seine Predictions for the Year 1708 stellte, in denen er Partridges Tod auf den 29. März voraussagte; am 30. März veröffentlichte er einen fiktiven Account of Partridge's Death, dessen Wahrheit er durch die Vindication gegen Partridges Einspruch erhärtete. Der Bund mit Arbuthnot wurde enger, als Swift 1710 zu den Tories überging. Neben die Erzeugnisse dichterischer Laune, zu denen die Parodien A Description of the Morning (1709) und A Description of a City Shower (1710) gehören, trat die Herausgabe des von Bolingbroke gegründeten antiwhiggistischen Examiner (1710-11) und ähnliche politische Literatur (The Conduct of the Allies; Some Remarks on the Barrier Treaty), die in den Jahren bis 1714 entstand und die

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ihm das Dekanat von St. Patrick's in Dublin eintrug (The Importance of the Guardian, 1713; The Public Spirit of the Whigs, 1714). Aber beim Fall des Tory-Ministeriums und dem Tode der Königin Anna gab Swift alle ehrgeizigen politischen Aspirationen auf und kehrte verzweifelt nach Irland zurück. Damit endet auch die briefliche Aussprache mit der Freundin Esther Johnson {Journal to Stella, 1710-13), die er einst in Temples Haus kennengelernt hatte und in der er wohl den einzigen Menschen sah, dem er sich ganz anvertrauen konnte, 'the truest, most virtuous and valuable friend, that I, or perhaps any other person, ever was blessed with'. In den tagebuchähnlichen Briefen an Esther Johnson ist Swift freier und offener als in seiner Korrespondenz mit Bolingbroke, Pope, Gay oder Arbuthnot. Swift enthüllt hier seine private Persönlichkeit, seine Gedanken, Probleme und Sorgen, deren Preisgabe er in seinen Schriften und Gesprächen sorgfältig zu vermeiden suchte. Fortan griff er, zunächst weniger aus Liebe zu Irland als aus Feindschaft gegen die Whigs, in die irische Politik ein und erreichte mit seinen Drapier's Letters (1724), die er in der Persona eines irischen Tuchwarenhändlers geschrieben hatte, die Zurückziehung des angefeindeten Kupfermünzenmonopols. 1726 veröffentlichte er sein Hauptwerk Travels into several Remote Nations of the World in Four Parts by Lemuel Gulliver in Form eines fiktiven Reiseberichts nach dem Vorbild Defoes. Dessen Genauigkeit und Tatsachenfülle parodierend, schildert dies jedes Alter ansprechende, berühmteste satirische Buch der englischen Literatur die Erlebnisse eines Schiffsarztes. Er erzählt von der Zwergeninsel Lilliput, deren kirchliche und politische Parteiungen ebenso geringfügig erscheinen wie der Prunk des Zwergenkönigs lächerlich, von den Riesen von Brobdingnag, deren Größe menschliche Körperlichkeit in erschrekkender Vergrößerung zeigt, von der fliegenden Laputainsel, deren Philosophen alle Befähigung für praktisches Leben verloren haben und Sonnenschein aus Gurken destillieren, und von den klugen Pferden im Lande der Houyhnhnms, denen die widerlichen, menschengestaltigen Yahoos dienstbar sind. In das dritte Buch hat Swift allzu verschiedenartige Satiren hineingetragen, und im letzten Buch zerstört der Menschenhaß die künstlerische Glaubhaftigkeit. Mitten im Zeitalter der Vernunft entstand hier ein Buch, das den Glauben an den Menschen als 'animal rationis capax' in Frage stellte. Vom ersten bis zum vierten Buch fortschreitend, verlagert Swift seine satirischen Angriffe, die sich im ersten und zweiten Buch noch vorwiegend gegen konkrete politische und gesellschaftliche Mißstände seiner Zeit richten, immer mehr auf den Menschen schlechthin, seinen lächerlichen Hang zur Wichtigtuerei, seine Selbstüberschätzung und sein Ausgeliefertsein an den animalischen Teil seiner Natur. Die Einkleidung in die Form des fiktiven Reiseberichts bedeutet zugleich auch einen Seitenhieb auf die geistige Grundlage der von Defoe erfundenen Romanform, die Philosophie des Empirismus: Gullivers „Erfahrung" läuft darauf hinaus, daß die Erfahrung eines ganzen Lebens nur zur Misanthropie führen kann. Stellas Tod 1728 brachte eine fortschreitende Verdüsterung und eine Verschlimmerung seines Leidens, das schließlich zu geistiger Umnachtung

II. Die Prosa

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führte. Swifts späte Satiren resultieren aus einem elementaren Erlebnis der Frustration, vor allem im Hinblick auf die fehlenden Möglichkeiten wirksamer Einflußnahme im öffentlichen Leben. Swift macht seiner ohnmächtigen Wut immer wieder in zynischer Heiterkeit und grimmigem Spott Luft. Die „Peitsche der Alekto" ist sein Emblem, und seine Devise lautet: 'Still to lash, and lashing smile'. Beispielhaft für die bissige Satire des Alters ist A Modest Proposal (1729), wo Swift zur Linderung der irischen Not die Kinder der Armen zu schlachten empfahl. In den Jahren nach der Veröffentlichung von Gulliver's Travels widmete er sich aber auch wieder in verstärktem Maße der Versdichtung, und es entstanden einige seiner bedeutendsten satirischen und literaturkritischen Gedichte, unter ihnen Slrephon and Chloe (1731) und Verses on the Death of Dr. Swift (1731), The Beasts' Confession to the Priest (1732) und On Poetry: A Rapsody (1733). Diese Gedichte tragen keineswegs Spuren eines mit der Welt zerfallenen Geistes, wie in der Swift-Kritik gelegentlich behauptet wurde. Swift zeigt sich hier als kämpferisch engagierter Moralist und Satiriker, der die Literatur und den literarischen Betrieb, die Geisteshaltungen und die gesellschaftlichen Verhaltensweisen seiner Epoche kritisiert. Er stellt in seinen Gedichten die modischen und traditionellen Konventionen „romantischer" und „sublimer" Dichtung bloß. Das Ergebnis ist jedoch mehr als eine Parodie der Themen und Methoden zeitgenössischer Dichtung; es ist eine prosaische Form der Dichtung, die es Swift erlaubt, die vielfältigen Aspekte und Probleme der menschlichen Erfahrungswirklichkeit unbeschönigt darzustellen, wobei er den Bereich des Häßlichen und des Unästhetischen keineswegs ausspart.

3. Der empfindsame Roman Richardsons und der realistische Roman Fieldings und Smolletts Mit Defoes und Swifts Erscheinen war der Strom der unwirklichen Schäferromane versickert, und ohne daß es eines Scarronschen Aufbegehrens bedurfte, war in England ein neuer Wirklichkeitsroman entstanden, dessen Tatsachenwelt aber nicht allen Bedürfnissen eines bürgerlichen Leserkreises genügte. Eine heimliche Sehnsucht hing an der Schilderung liebender und duldender Herzen, die einst Madame de la Fayette in der Princesse de Cleves (1678) so beredt gegeben, und diese in der sentimentalen Komödie bereits vollzogene Wendung mußte auch im Roman erwartet werden, zumal dessen Beliebtheit gerade damals das Theater zu übertreffen begann. Dieser von SAMUEL RICHARDSON® (1689-1761) geschaffene empfindsame Roman verwandte wie der Schäferroman die Fülle der in die Handlung einge8

Novels, ed. L. Stephen, 12 Bde. (1883); ed. W. L. Phelps, 18 Bde. (N. Y., 1901-03); 19 Bde. (1902); 19 Bde. (Oxf., 1930; repr. N. Y., 1971); edd. W. King and A. Bott, 18 Bde. (Oxf., 1929-31) [Shakespeare Head Edn.j; zahlr. Einzelausg., z. B. Pamela u. Clarissa in EL; Grandison, ed. J. Harris in OEN; Familiar Letters on Important Occasions ( Richardsons Briefsteller), ed. B. W. Downs (1928). - Correspondence, ed. A. L. Barbauld, 6 Bde. (1804) [mit grundl. Biographie]. - Biographien von P. Dottin

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Fünftes Buch: Der Klassizismus

flochtenen Episoden und Personen, die Liebesintrigen, Entführungen, Duelle und steigerte noch das stete Gefühlszergliedern und die Verherrlichung guter Sitte. Dabei blieb er aber auf dieser Welt und schilderte Personen, die innerhalb des Erfahrungs- und Empfindungsbereichs der Leser lagen. So mußte Richardson zum Lieblingsautor vor allem der Frauen werden, obwohl er zeitlebens mehr erbauliche als künstlerische Absichten hatte und noch 1755 eine Collection of the Moral and Instructive Sentiments aus seinen Romanen zusammenstellte. Er kam aus dem Bürgertum, war von Beruf Drucker und druckte und verlegte seine Romane selbst. Sein Publikum war das aufgeklärtpuritanisch gesonnene Bürgertum, aber seine Wirkung ging weit darüber hinaus. Die Entstehung seines ersten Romans ist charakteristisch: Man hatte ihn um einen Briefsteller und moralischen Ratgeber für einfache Seelen gebeten er erschien 1741 unter dem Titel Letters written To and For Particular Friends Directing... How to Think and Act Justly and Prudently in the Common Concerns of Human Life -, und aus diesem puritanischen Führungsbuch (conduct-book) erwuchs beinahe zufällig Pamela, or Virtue Rewarded (1740-41). Es ist die in Briefen erzählte Geschichte eines Dienstmädchens, das den Verführungen des Sohnes ihrer Herrschaft widersteht, bis er sie heiratet, und das dann in würdevoller Geduld ihrem leichtfertigen Gatten ein Vorbild gibt. Man kann dem puritanischen Musterbild Pamela Andrews vorwerfen, daß ihre Tugend mehr eine Politik der Ehrbarkeit darstelle, aber man kann die Lebenswahrheit dieses bis in alle Einzelheiten ausgemalten Charakterbildes ebensowenig bestreiten wie die Richardson selbst nicht bewußte Neubetonung der von den Philosophen nahezu aufgelösten Persönlichkeit. Der meist an Merediths Namen geknüpfte Persönlichkeitsroman, der den Charakter eine entscheidende Feuerprobe durchmachen läßt, ist bereits mit Richardson geschaffen, wenn auch in der engen, auf eine Keuschheitsprüfung begrenzten Art. Die seiner Begabung entsprechende Briefform erweiterte die persönliche Lebendigkeit des naturgemäß rückblickenden Defoeschen Ichberichts um die Zukunftsspannung, die auch die Bühnenkunstgriffe vertauschter und entdeckter Briefe nicht verschmähte, und ersetzte den e i n e n Blickpunkt der Selbstbiographie durch die verschiedenen Einstellungen der um die Heldin gruppierten Briefschreiber. Auf diese Weise konnte das gleichsam durch ein Vergrößerungsglas gesehene Gemüts- und Empfindungsleben bis in alle Verästelungen nachgezeichnet werden mit derselben Genauigkeit, mit der Defoe die äußere Tatsächlichkeit aufzählte. Zugleich spiegelte und förderte dieser Roman den für England charakteristischen Prozess des Ausgleichs zwischen den Ständen. Der junge Gentleman wird durch das aus dem Kleinbürgertum kommende Mädchen an die rigorosen Normen der bürgerlichen Moral, besonders der Sexualmoral, herangeführt. Umgekehrt wächst Pamela wie selbst(Paris, 1931); A. D. McKillop (Chapel Hill, 1936); A. Dobson (1902); W. M. Säle, S. R.: Master Printer (Ithaca, 1950); T. C. Duncan Eaves and B. D. Kimple, S. R.: A Biography (Oxf., 1971) [Standardbiogr.]. M. A. Doody, A Natural Passion: A Study of the Novels of S. R. (Oxf., 1974); G. Engel, Individuum, Familie u. Gesellschaft in den Romanen R.'s (Frkft., 1974).

11. Die Prosa

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verständlich in den verfeinerten Lebensstil der oberen Sozialschichten hinein und wird zu einer Zierde der Gesellschaft. Die „Karte des weiblichen Herzens" gestaltete sich noch detaillierter und umfangreicher, allerdings auch ermüdender zu lesen, in der siebenbändigen Clarissa Harlowe (1747-48), die Richardsons europäischen Ruhm begründete. In Briefen der Heldin an ihre Freundin Miss Howe und des sie bedrängenden Verführers Lovelace an seinen Freund John Beiford entwickelt sich die Liebesgeschichte, die sich in vier großen Akten abspielt: Liebe und Entführung, Ehrbarkeit und Vergewaltigung, Selbstbehauptung und Tod und schließlich Sühne des Verbrechens. Das Thema greift höher als in Pamela, deren Tugend nicht uneigennützig war und ihren Lohn erhielt; Clarissa erwartet nur Himmelslohn, und ihre Sittlichkeit besteht weniger in der Abwehr des Verführers als in der Überwindung irdischer Schande durch Seelenreinheit. Wenn auch der erbaulichen Zwecken dienende zweite Teil des Romans unerträglich lang ist, das einfühlende Sichhineinversetzen in die handelnden Personen ist unvergleichlich und erklärt das Urteil Johnsons, der in einem Briefe Richardsons mehr Kenntnis des menschlichen Herzens sah als im ganzen Tom Jones. Daß andererseits Clarissas Gegenspieler Lovelace konstruiert erscheint, war bedingt durch die unmögliche Forderung, ihn so gut zu machen, daß er eine Clarissa betören, und so schlecht, daß er schändlich an ihr handeln konnte. Richardson kannte die männliche Seele nicht, und unter den zweiunddreißig scharf gezeichneten Personen, die Umwelt und Hintergrund des Geschehens bilden, sind die Frauen vielfältiger und sicherer erfaßt als die Männer. Das heißt aber nicht, daß seine Schilderung auf enge Bezirke weiblicher Umwelt begrenzt bliebe; die gegensätzlichen Szenen im Dirnenhaus sind mit der grellen Deutlichkeit eines Hogarth dargestellt und mit der eindringlichen Breite des späteren naturalistischen Romans ausgeführt. Da aber die Zeit die Wertungen verschob, überzeugt die Wahrheit des letzten und technisch besten Romans Sir Charles Grandison (1753-54) heute weniger als ehemals. Dabei ist die Handlung, die mit einer an Clarissa anklingenden Entführung der Heldin Harriet Byron beginnt und an deren Ende die Vermählung mit ihrem Erretter Grandison steht, voll lebendiger Einzelzüge und rührender Auftritte und fast überreich an handelnden Personen. Aber die Hauptfiguren reichen nicht an den menschlichen Reiz Clarissas oder auch Pamelas heran, die Heldin Harriet, so fein sie ausgeführt ist, dient in der Hauptsache dazu, die Vorzüge Grandisons, des vollkommenen Gentleman, ins Licht zu setzen, und die Selbstverständlichkeit ihrer Tugendhaltung läßt beide farblos erscheinen. Nur Clementina, die hindernd zwischen dem Paare stand, dann aber ihre Liebe der religiösen Überzeugung opfert, vertritt echte Leidenschaft. Während Clarissa Harlowe mehr einer puritanischen Heiligengestalt gleicht und ihr tragisches Schicksal auf bloßer Standhaftigkeit gründet, ist Clementina die einzige wirklich tragische Figur Richardsons, deren Untergang sich aus inneren Konflikten mit Notwendigkeit ergibt. Sie reicht damit in ein Gebiet, das jenseits seines Wollens und wohl auch seiner Fähigkeit lag.

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Die moralische und künstlerische Enge Richardsons überwand sein völlig anders gearteter und für die Geschichte des Romans noch bedeutsamerer Zeitgenosse HENRY FIELDING' (1707-54), der sich gleichfalls zufällig zu epischer Darstellung gedrängt sah. Weltfroh und belustigt vom satirischen Federkampf hatte er mit der Abfassung von Possen begonnen, von denen die heitere Verspottung des heroischen Dramas in The Tragedy of Tragedies, or the Life and Death of Tom Thumb the Great (1730) am lebendigsten geblieben ist. Er verfolgte damit keinen künstlerischen Ehrgeiz, und je mehr er, nach weniger glücklichen Versuchen im ernsteren Lustspiel (z. B. The Modem Husband), Bühnenerfolge für das von ihm geleitete Little Theatre in Haymarket erstrebte, um so stärker kam die politische Satire zu Wort. Die Angriffe auf Walpole in Pasquin (1736) gingen noch durch, aber nach dem Historical Register for 1736 (1737) setzte der allmächtige Minister den Licensing Act durch, demzufolge Fieldings Theater geschlossen wurde. Er setzte nun sein Rechtsstudium fort, wurde auch 1740 in die Advokatenzunft aufgenommen, aber das politische Interesse gewann bald wieder die Oberhand, und in der 1739-41 von ihm geleiteten Zeitschrift 'Champion' setzte er sich als Captain Hercules Vinegar aus eigener Machtvollkommenheit zum Zensor Großbritanniens ein. Jetzt begann die Formung seines epischen Stils, denn der Champion brachte vorzugsweise Geschichten, deren bekannteste, die lukianische Journey from this World to the Next, erzählt, wie Fieldings Geist mit anderen in der Postkutsche nach Elysium fährt, wo Minos jeden der Einlaß Begehrenden prüft, was natürlich Anlaß zur Satire gab, und der Aufmarsch der Toten Homer im Gespräch mit Mme Dacier, Vergil Arm in Arm mit Addison - ließ den burlesken Ton des Däumlings wieder anklingen. Die Journey wurde in die 1743 erscheinenden Miscellanies-Bändchen aufgenommen, die offenbar frühere Arbeiten zusammenfassen. Jedenfalls muß die erste Fassung der History of the Life of the late Mr. Jonathan Wild the Great vor Walpoles Fall 9

ed. A. Chalmers, 10 Bde. (1882); ed. L. Stephen, 10 Bde. (1882); ed. G. Saintsbury, 12 Bde. (1893) [ohne die kleineren Dramen]; ed. E. Gosse, 12 Bde. (1898/9) [ohne Dramen]; ed. W. Henley, 16 Bde. (N. Y./Lo., 1903; repr. N. Y., 1967); Romane allein, 10 Bde. (Oxf., 1926) [Shakespeare Head Edn., zuverlässig]; The Wesleyan Edn. of the Works of H. F., edd. W. B. Coley, F. Bowers et al. (Oxf., 1967ff., i. E.) [Standardausgabe ; Joseph Andrews, Tom Jones u. a. liegen bereits vor]; zahlr. Einzelausgaben, darunter Joseph Andrews mit Shamela, ed. A. R. Humphreys in EL, ebenso Tom Jones u. Amelia, Jonathan Wild, zus. mit Voyage to Lisbon in EL; The Criticism of H. F., ed. I. Williams (1970) [umfangr. Auswahl]. - Biographie von W. L. Cross, 3 Bde. (New Haven, 1918; repr. N. Y., 1963). - Kritik: A Digeon, The Novels of F. 1925); F. T. Blanchard, F. the Novelist (New Haven, 1926); H. K. Banerji (Oxf., 1930) [den Dramatiker u. Journalisten behandelnd]; F. H. Dudden, H. F.: His Life, Works, and Times, 2 Bde. (Oxf., 1952); M. C. Battestin, The Moral Basis of F.'s Art: A Study of Joseph Andrews (Middleton, Conn., 1959); A. Wright, H. F.: Mask and Feast (1965); B. Harrison, H.F.'s Tom Jones: The Novelist as Moral Philosopher (1975); J. Ducrocq, Le theatre de F. (1728-37) et ses prolongements dans l'oeuvre romanesque (Paris, 1976). H. F. u. d. engl. Roman des 18. Jhs., ed. W. Iser (Darmstadt, 1972).

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geschrieben sein (1742), denn diese ironische Verbrecherbiographie vereinigt eine tödliche Satire Walpolescher Regierungsformen mit der weiteren philosophischen Bedeutung, daß eine Erfolgsanbetung ohne jede Unterscheidung von gut und groß die ärgste menschliche Torheit sei. Fieldings sittliches Empfinden, das hier unter der Maske eines kühlen Berichts so vernichtend angriff, daß man an Swift gemahnt wird, sah sich auch von der berechnenden Tugend Pamelas zu einer, wenn auch gutmütigen Entgegnung herausgefordert, und so entstand sein erster Roman The History of the Adventures of Joseph Andrews and of his Friend Mr. Abraham Adams (1742). Ließ Richardson die Keuschheit Pamelas gefährdet sein, so Fielding die ihres Bruders, und in der reichen Abenteuerfolge mit ihren vielen Figuren werden Geziertheit und Dünkel durch rauhe Natürlichkeit lächerlich gemacht. Aber es handelt sich weniger um Satire als um einen neuen komischen Roman, der, wenn er auch Ernst und Feierlichkeit beiseiteschiebt, am Ende alle Gestalten mit dem gewissenhaften Können des erfahrenen Lustspieldichters zusammenführt. Fielding wies auf Don Quijote hin, und das Mißverhältnis zwischen idealem Wollen und tatsächlichem Verhalten in der Wirklichkeit des Lebens, das den meisten Figuren dieses Romans ihren Charakter verleiht, läßt das Cervantes-Vorbild deutlich erkennen. Es äußert sich bei dem liebenswerten und gutherzig belächelten Pfarrer Adams in seiner Weltfremdheit, bei Mrs. Slipslop, Peter Pounce, Parson Trulliber u. a. in schlecht und recht bemäntelter Eitelkeit und Heuchelei, die der Erzähler wohlwollend entlarvt. Das Vorwort zu Joseph Andrews ist eines der frühesten und wichtigsten Dokumente der Romantheorie in England. Fielding definiert hier den Roman als „komisches episches Gedicht in Prosa" und weist ihm damit seinen Platz in der klassizistischen Gattungssystematik zu. Das bedeutete für die neue Gattung literarische und gesellschaftliche Anerkennung, enthielt aber auch einen hohen Anspruch, dem Fielding in seiner Erzählpraxis gerecht wurde, indem er den Kontrast zwischen Ideal und Wirklichkeit formal durch den Gegensatz zwischen den hohen epischen Stilmitteln und der banalen Realität unterstrich. Er war der erste englische Romanschriftsteller, der das Stilmittel der Ironie konsequent auf den Roman übertrug, wobei der allwissende Erzähler, den er in ironischer Anlehnung an das alte Epos ebenfalls als erster einführte, eine wichtige Rolle spielte. Da die Ironie den Erzähler miteinschloß, überließ er es der Überzeugungskraft seiner erfundenen Gestalten, den Eindruck der Wahrheit zu vermitteln, ein Wagnis, das hier zum ersten Mal im realistischen Roman gelang. Fieldings Meisterwerk The History of Tom Jones, a Foundling (1749) ist in die Weltliteratur eingegangen und gehört zu den klassischen Werken der englischen Romanliteratur. Er erzählt das Leben des Tom Jones von seiner Geburt bis zum Eintritt in das Mannesalter und kann als das erste klassische Beispiel eines Erziehungsromans (nicht mit dem späteren Entwicklungsroman zu verwechseln) bezeichnet werden. Gedanklich beruht der Roman auf der optimistischen Philosophie Shaftesburys und anderer Vertreter der 'benevolence'-Lehre, die davon ausging, daß der Mensch von Natur aus gut,

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d. h. mitmenschlich veranlagt sei. Alle Abweichungen von der ursprünglichen Güte waren demnach entweder der Unerfahrenheit oder aber der „Verstellung" ('affectation') zuzuschreiben, die sich in den Grundformen von Eitelkeit ('vanity') und Heuchelei ('hypocrisy') äußerte. Dem entsprach ein pädagogischer Optimismus, der an die Möglichkeit der Erziehung des Menschen durch Erfahrung und helfende mitmenschliche Liebe glaubte. Aber Fielding war kein Anhänger einer romantischen „Zurück zur Natur"-Theorie. Er erkannte die Notwendigkeit gesellschaftlichen Rollenspiels im „großen Welttheater" durchaus an und entlarvte lediglich die Bosheit und Unechtheit des Verhaltens von Personen wie Blifil oder Lady Bellaston und von Erziehern wie Square und Thwackum. Die Fehler Toms erscheinen im Licht der Toleranz und der Gutherzigkeit des Erzählers als durch Unerfahrenheit und Mangel an Weltklugheit ('prudence') entschuldbar. Allerdings muß er sie ablegen und lernen, sich in das von der Gemeinschaft mit Recht erwartete Rollenverhalten einzufügen, ehe er Aussicht hat, seine geliebte Sophia, die Tochter des typischen Landjunkers Squire Western, zu gewinnen. Sophia ist eine der anziehendsten Frauengestalten der Romanliteratur. Durch weibliche Klugheit und liebevoll-listiges Verhalten verhilft sie Tom auf den richtigen Weg. Insgesamt vermittelt der Roman durch seine Gestaltenfülle und durch die geschickte Typisierung von Personen und Ereignissen (der Jakobitenaufstand von 1745 steht im Zentrum des Mittelteils) ein farbiges Kultur- und Sittenbild der Jahrhundertmitte. Für die Romangeschichte wichtig war die Tatsache, daß Fielding einen neben Defoe und Richardson dritten Weg für die Romanform gefunden hatte. Die Zusammenhanglosigkeit des pikaresken Romans (vor allem Lesage hat als Vorbild gewirkt) war endgültig überwunden durch die Anknüpfung an das alte Epos und an Cervantes, durch die Bindefunktion einer fast romantischen Liebesgeschichte, den durchgehend ironischen Erzählton und durch die Weitläufigkeit einer aufgeklärt-optimistischen Philosophie. Wie bewußt diese literarhistorische Leistung vollbracht wurde, zeigen die einleitenden Essays zu den 18 Büchern des Romans. Das Duldsamkeitsevangelium blieb, aber die langjährige Erfahrung Fieldings als Friedensrichter (ab 1748) änderte den Ton. Das Streben nach Besserung der sozialen Lebensumstände und nach Beseitigung von Übeln und Mißständen, wie es seine Denkschriften erwiesen (Charge to the Grand Jury, 1749; Enquiry into the Causes of the Late Increase of Robbers, 1751) ließ seinen letzten Roman Amelia (1751) zu einer Sozialreformen fordernden „Lebenskunst" werden, weniger zeitlos und allgemeingültig als das komische Epos Tom Jones, aber ebenso lebendig in der Sittenschilderung und noch vollständiger in der Menschendarstellung. Amelia, deren starkes Dulden an der Seite ihres gutherzigen, aber charakterschwachen Gatten das Hauptthema bildet, ist in Richardsons Art über die anderen Figuren hinausgehoben und intuitiv von innen heraus gestaltet; und die ihr gegenüberstehende grundsatzlose Welt erwächst aus dem Irrgarten des Geschehens zu solcher Lebenswirklichkeit, daß die Beweggründe der leichtfertigen Miss Matthews und das Hin und Her ihrer Liebschaft mit Amelias Mann ebenso verständlich werden wie

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die edlen und allzumenschlichen Regungen der Hauptleute Bath und James und des Wachtmeisters Atkinson u. a. Allerdings zeigt der Allworthys Stelle in Tom Jones vertretende Dr. Harrison einen christlichen Ernst, der trotz aller Wärme die jugendliche Unbekümmertheit und Erzählfreude des früheren Werks nicht aufwiegt. Fieldings letzte Arbeiten waren das Covent Garden Journal (1752) und das hinterlassene Journal of a Voyage to Lisbon, worin er in mustergültigem Essaystil auch über seine Kunst plaudert. Aus dem realistischen Material, das Defoe unter Betonung der äußeren, Richardson unter Betonung der inneren Welt dargeboten hatte, fügte Fielding die vorbildliche Romanform, aus der so gut wie alle Abarten der Folgezeit sich entfalten konnten. Diese Bedeutung haben die Zeitgenossen nicht erkannt. Mittlerweile war der Roman die beliebteste Literaturgattung geworden und für die Verfasser so einträglich wie das Drama zu Shakespeares Zeit. Das machte sich ein geborenes Erzählertalent wie TOBIAS GEORGE SMOLLETT10 (1721-71) zunutze und verwob seine eigenen Londoner und Schiffarzterfahrungen zu einer Abenteuerfolge im Gil Blas-Stil unter dem Titel The Adventures of Roderick Random (1748). Die Figur des sich im Leben durchschlagenden Helden und Erzählers bindet seine vielfältigen See-, Kriegs- und Liebeserlebnisse zu einer durchgehenden Handlung, die mit dem Wiederfinden eines reichen Vaters eine äußerliche Lösung findet. Unbeschadet dieses Plans kommen und gehen die Charaktere, wie es ihnen beliebt, und die Ereignisse werden um ihrer selbst willen erzählt. Denn Smolletts Stärke lag nicht in tiefdringender Charakterdeutung und kunstvollem Aufbau, sondern im rasch hingeworfenen Gegeneinandersetzen menschlicher Temperamente und Lebensarten und in schwungvoll erzählten, aufregenden oder possenhaften Geschehnissen. So sind die Bilder aus dem Seemannsleben in ihrer derben Erzählweise das Eindrucksvollste dieses flott geschriebenen Romans, der um ihretwillen als erster Seeroman gelten kann, vorbildlich in den oft nachgeahmten Seebären und Käuzen, wie etwa dem Leutnant Bowling und Jack Rattlin mit ihrer rassigen Redeweise. Der Erfolg ermutigte Smollett zu einem zweiten, diesmal auch den Picarohelden wählenden Roman Peregrine Pickle (1751, umgearbeitet 1758), der folglich im Bericht der Verführungen, Abenteuer und Betrügereien einen gröberen Ton hat und auch im Aufbau, z. B. durch die eingeschobenen Memoirs of a Lady of Quality [Viscountess Vane], lockerer ist, aber wiederum durch köstliche Gestalten wie den Commodore Trunnion und den Bootsmann Pipes sich auszeichnet. Damit hatte Smollett sein Seemannsgarn ausgesponnen und 10

Works, edd. W. E. Henley and T. Secombe, 12 Bde. (1899-1901); ed. G. Saintsbury, 12 Bde. (1895 u. ö.); ed. G. H. Maynadier, 12 Bde. (N. Y., 1902 u. ö.); Novels, 11 Bde. (Oxf., 1925-26; repr. St. Clair Shores, Mich., 1971) [Shakespeare Head Edn.]; Iowa Edn. i. V.. - Zahlr. Einzelausg. in OEN (P. Pickle, Count Fathom, Launcelot Greaves); in EL (Rod. Random, H. Clinker) u. a. Serien. - Letters, ed. L. M. Knapp (Oxf., 1970) [Standardausg.]. - L. M. Knapp, T. S.: Doctor of Men and Manners (Princeton, 1949; repr. N. Y., 1963) [Standard-Biographie]; P. G. Bouce, Les romans de S.: Etude critique (Paris, 1971; engl. Übersetzung: The Novels of S., 1976).

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war fortan, und nicht zum Vorteil, auf freie Erfindung angewiesen. So wiederholte er die Schurkengeschichte in The Adventures of Ferdinand, Count Fathom (1753), deren Held jedoch weder durch Mut noch durch Witz besticht und nur im satirischen Licht ironischer Bewunderung wie Fieldings Jonathan Wild erträglich wäre. Statt dessen schwankt Smolletts Anteilnahme zwischen den Schurkereien und den Opfern, und der rührselige Schluß tut der künstlerischen Wahrheit Abbruch. Die Kraft der Erzählung, die besonders in den neuartigen Schreckensszenen fesselt, kann die Uneinheitlichkeit des Ganzen nicht wettmachen. Immerhin kündigt sich hier das Kommen der romantischen Form des Schreckensromans an. Smollett, der nicht nur einen ausgeprägten Sinn für kommerziellen Erfolg hatte, sondern auch Gespür für den sich wandelnden Publikumsgeschmack, hatte die Zeichen der Zeit erkannt und folgte ihnen in einer Weise, die Scott vorausdeutete. Nach Count Fathom verausgabte sich Smollett in vielgestaltiger Schriftstellertätigkeit, er gab Zeitschriften heraus (CriticalReview, 1756; The Briton, 1762), schrieb eine Posse (The Reprisal, 1757) und verfertigte umfängliche Werke halbwissenschaftlicher Art (History of England, 1757; A Compendium of Authentic and Entertaining Voyages, 1760; The Present State of All Nations, 1768-69). Schließlich kehrte er mit Sir Lancelot Greaves (1760-62), einer kurzen, satirischen Don-Quijote-Geschichte, zum Roman zurück, der aber außer der Erscheinungsform in Fortsetzungen der Zeitschrift British Magazine und dem weitgehenden Ersatz der Erzählung durch Dialoge nichts Neues bot. Schicksalsschläge und erschütterte Gesundheit lasteten auf Smollett; eine Auslandsreise, die er in den kritischen Travels in France and Italy (1766) beschrieb, brachte keine Erholung, und die bissige und geschmacklose Betrachtung englischer Verhältnisse in der Zeit von 1754-65 in den Adventures of an Atom (1769) verriet einen verbitterten Geist. Sein letzter, in Italien geschriebener, aber heimatliche Reiseerinnerungen verwertender Roman The Expedition of Humphry Clinker (1771) zeigte einen unerwarteten Aufstieg. In Briefen, die einzelne Humours gegeneinander ausspielen, werden die Erlebnisse des gutherzigen, obwohl äußerlich menschenfeindlichen Junggesellen Mr. Bramble auf seiner Reise durch England und Schottland beschrieben. Mit ihm sind seine mannhafte, heiratssüchtige Schwester Tabitha, sein stutzerhafter Neffe Jery Melford, dessen Schwester Lydia und die Magd Mrs. Jenkins. Unterwegs dingen sie den Stallknecht Humphry Clinker als Postilion. Lustige Abenteuer wechseln mit Sittenschilderungen und politischen Gesprächen. Es ist ein witziges und Smolletts reifstes Werk.

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4. Sterne, Goldsmith und die Nachfolge des großen Romans Durch Defoe, Richardson, Fielding und Smollett waren die Grundformen des realistischen Prosaromans begründet und eine große Entwicklung eingeleitet, die sich bis in das 19. und 20. Jahrhundert fortsetzen sollte. Umso bemerkenswerter ist es, daß schon in dieser ersten Phase der englischen Romangeschichte ein Werk entstand, das eine Art von Anti-Roman darstellt und die Romanform auf den Kopf zu stellen scheint. Der Verfasser LAURENCE STERNE U (1713-68) war anglo-irischer Abkunft und von Beruf Pfarrer, zunächst in Sutton-in-the Forest (bis 1759), dann in Coxwold, wo er das Amt eines Domherren von York innehatte. Sein Roman The Life and Opinions of Tristram Shandy, der in neun Büchern 1760-67 erschien, beginnt nicht mit der Geburt des Titelhelden, die erst im vierten Band erfolgt, sondern mit seiner Zeugung. So chaotisch die Erzählweise des Ich-Erzählers Tristram auch erscheinen mag, sie gehorcht einer Gesetzmäßigkeit, allerdings nicht den Regeln der Logik und der Kausalität, sondern den Prinzipien der von Locke begründeten Assoziationstheorie. Dementsprechend befindet sich Tristrams schreibende Feder in ständigem Widerstreit mit der Zeit (von Locke 'time' genannt) und folgt nicht der Uhr- und Kalenderzeit, sondern dem subjektiven Zeitempfinden ('duration')· So erlebt der Leser die Figurenwelt von Shandy Hall (Sterne gab seinem Haus in Coxwold denselben Namen), zu der Tristrams Vater Walter, seine Mutter, sein Onkel Toby, der Diener Obadiah und Tobys, eines pensionierten Offiziers, Bursche Corporal Trim gehören, ausschließlich als Bestandteile des Bewußtseins Tristrams. Dort lösen sie sich in „Bündel von Ideen" (Hume) auf. Locke hatte zwischen „richtigen", d. h. in der Realität begründeten, und „falschen", durch falsche Erziehung oder Krankheit verursachten Ideenassoziationen unterschieden. Da bei Sterne die objektive Welt ins Unfaßbare abgleitet, gibt es in seinem Roman eigentlich nur noch „falsche" Ideenverbindungen im Sinne Lockes. So kreist das ganze Buch um die Frage, was „richtig" und was „falsch" ist, anders ausgedrückt, ob die Welt des Verstandes, der Logik, der Uhrzeit und der Geographie die „wahre" Welt ist, oder eher die der Empfindung, des Sentiments, der Subjektivität, womit sich ein breites Tor für die Darstellung des Gefühls und sogar, meist nur notdürftig verschleiert, der Triebe, vor allem der Sexualität, öffnet. Letzteres 11

ed. W. L. Cross, 12 Bde. (N. Y., 1904; repr. 6 Bde., N. Y., 1970); 7 Bde. (Oxf., 1926-27) [Shakespeare Head Edn.]; Sentimental Journey, ed. G. D. Stout (Berkeley, 1967) [zuverl. Text]; Tristram Shandy, ed. J. A. Works (N. Y., 1940 u. ö.); Sentimental Journey u. a, ed. I. Jack, OEN; auch in EL; Tristram Shandy in EL. - Letters, ed. L. P. Curtis (Oxf, 1934; repr. 1965 u. 67) [Standard-Ausg, einschl. Journal to Eliza], - W. L. Cross, Life and Times of L. S., 2 Bde. (N. Y., 1909; rev. 1929); H. Fluchere, L. S. (Paris, 1961); neue Standard-Biographie v. A. H. Cash i. E, Bd. I (1975). - J. Traugott, Tristram Shandy's World: S.'s Philosophical Rhetoric (Berkeley, 1954); D. Rolle, Fielding u. S.: Untersuchungen ü. d. Funktion des Erzählers (Münster, 1963); R. Warning, Illusion u. Wirklichkeit in Tristram Shandy u. Jacques le Fataliste (München, 1965); H. Moglen, The Philosophical Irony of L. S. (Gainesville, Fla, 1975); T. Nonner, Identität u. Idee: L. S. s Tristram Shandy (Heidelberg, 1975).

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äußert sich in der Geschichte von dem Werben Onkel Tobys um die Witwe Wadman, aber auch in der Sorge Vater Shandys um den „richtigen" Verlauf von Tristrams Geburt, in der Metaphorik der „Nasen" und anderen Metaphern, deren sexualsymbolische Bedeutung auf der Hand liegt. So modern anmutende Themen wie die der Frustration oder der Identität (hier schöpfte Sterne ebenfalls aus Locke) ziehen sich durch das ganze Werk und verleihen ihm eine komplexe Einheit, die von Zeitgenossen wie Dr. Johnson oder Horace Walpole nicht erkannt wurde und auch heute noch nicht ganz entschlüsselt ist, während die Anleihen Sternes bei der literarischen und philosophischen Tradition, z. B. bei Robert Burton oder bei Pope (Lehre von den 'ruling passions'), geklärt sind. Kein anderes Buch zerstörte mit dieser Konsequenz den aufklärerischen Mythos der Vernunft. An seine Stelle setzte Sterne einen von ihm selbst wohl nicht ganz ernst gemeinten, aber überall in Europa begeistert aufgenommenen Kult des Irrationalen. Dem entsprach ein neuer, höchst bewußter Stil, der durch feinste Charakterdarstellung eine unmittelbare Beeinflussung von Herz und Gefühl bewirkte. Die menschliche Komödie mit ihrer unlösbaren Verschlingung von Torheit und Verständigkeit ist tiefer erfaßt als es der robuste Fielding vermochte, bei dem das feine Gefühlsspiel nicht zum Ausdruck kam. Das engmaschige Netz von Ironie, erklärendem Dreinreden des Verfassers und humorvoller Anteilnahme, mit dem Sterne alle Szenen umspann, umgreift auch des Lesers Empfinden, weil des Dichters Empfindsamkeit für leiseste Gefühlsregungen unablässig das Mitfühlen das Lesers zu erwecken sucht. Diese Darstellungsart, für die Sterne den Ausdruck 'sentimental' prägte, wie es seine unvollendete Sentimental Journey through France and Italy (1768) am deutlichsten dartut, gewann die Herzen Europas um so mehr, als der durch Tränen lächelnde Humor nach Goethes Worten die Seele befreite und neben dem Duldsamkeits- und Mitleidsevangelium eine Herzensweisheit offenbarte und eine Freiheit des Geistes, die auch das Feierlichste dem Burlesken anzunähern wagte und eine kecke Lüsternheit in das anscheinend harmlose Wort hineintrug. Im Besitz solcher Fähigkeiten brauchte sich Sterne vor keinen Entlehnungen zu scheuen (z. B. aus Burtons Anatomy), denn er verwandelte alles Übernommene zu einem Eigenen und sagte es in einer Prosa, die in Beschreibung und Dialog die Congrevesche Vollendung erreichte, wenn nicht übertraf. Auch die Briefe und Predigten dieses seltsamen Geistlichen (vgl. Sermons of Mr. Yorick, 4 Bde., 1760-67) sind in demselben Stil; und wie völlig sich Sterne in einen von ihm geschaffenen Charakter einlebte, zeigt der angenommene Name Yorick, den er aus Shakespeares Hamlet entlehnte. Bei Shakespeare ist dies der Name des Hofnarren, dessen Totenschädel in der Totengräberszene (V, l) Anlaß zu tiefsinnigem Philosophieren gibt. Wie Shakespeares „Narr des Königs" ('a fellow of infinite jest, of most excellent fancy') die eigene Zeit, so stellte Sterne die Welt seines aufgeklärten Jahrhunderts auf den Kopf und sah auf diese Weise manches, wovon sich die Schulweisheit der Aufklärung nichts träumen ließ. Wie stark sich Sterne mit dem Charakter des Yorick identifizierte, erhellt daraus, daß er diesen Namen auch in per-

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sönlichen Schriftstücken wählte, wie dem Journal to Eliza (1767), dessen Umarbeitung als Letters of Yorick to Eliza [Draper] 1775 erschien. Goethe faßte seine Wertung dahin zusammen, daß Sterne „in nichts ein Muster, und in allem ein Andeuter und Erwecker" gewesen sei, und die Wahrheit dieses Lobes und dieser Warnung erwiesen die Nachbeter des sentimentalen Romans, die viel zahlreicher waren als die Gefolgschaft des Fieldingschen Wirklichkeitsromans. Die kleinen Romanciers legten weniger Wert auf epische Darstellung und sicheren Romanbau als auf die komischen Ereignisse und Charaktere. Das entsprach ihrer vorwiegend satirischen Haltung. So verspottete Mrs. Charlotte Lennox,12 die in Henrietta (1758) sich als gelehrige Schülerin der Marivauxschen Art erwies, in The Female Quixote, or the Adventures of Arabella (1752) den heroischen Roman, indem die Heiding, durch La Calprenede- und Scudery-Lektüre verdreht, die Taten und Beweggründe dieser künstlichen Welt in die Wirklichkeit überträgt; und Richard Graves belächelte in seinem an Joseph Andrews erinnernden Roman mit dem sprechenden Titel The Spiritual Quixote^ (1772) den Methodismus. Düsterer und den Kunstgriff von Smolletts „Abenteuer eines Atoms" nutzend, ist Charles Johnstones Chrysal, or the Adventures of a Guinea*4 (1760), ein Buch, das Satire in der Art von Lesages Hinkendem Teufel geben möchte, ohne doch dessen horazische Haltung zu erreichen. Eine mittlere Stellung zwischen Richardson und Fielding nehmen die Romane von Fieldings Schwester Sarah ein: David Simple*5 (1744) und The History of the Countess of Dellwyn (1759). Meist aber herrschte die Empfindsamkeit Richardsons vor, gelegentlich mit einigen Zusätzen der französischen Prevostschule wie in Mrs. Frances Sheridans Memoirs of Miss Sidney Bidulph16 (1761), die in einer übergefühlvollen Darstellung weibliche Herzensregungen in feiner Form bloßlegen. Weniger sinnvoll erscheint das Eindringen der Empfindsamkeit in eine Crusoegeschichte, wie den Peter Wilkins^ (1751) von Robert Paltock, oder in den Erziehungsroman für Kinder, von dem Henry Brookes Fool of Quality™ (1766) das erste Beispiel ist (Sandford and Merton*9 von Thomas Day erschien erst 1783-89). Brookes Roman - der in der Form so bunt zusammengewürfelt ist wie die in 12

Henrietta, letzte Aufl., 2 Bde. (1787); Female Quixote, letzte Aufl., 2 Bde. (1799), u. in: The British Novelists Bd. 24/5, 1820 [beide ins Deutsche u. Französische übers.]; Female Quixote, ed. M. Dalziel, OEN (Oxf., 1970). 13 ed. C. Wibley, 2 Bde. (1926); ed. C. Tracy, OEN (Oxf., 1967). 14 ed. E. A. Baker (1908) [mit Einl.]. 15 Öfter gedr., z. B. 1782, u. in: E. A. Baker, Half-forgotten Books (1903); ed. M. Miles Kelsall, OEN (Oxf., 1969); vgl. auch S. F.'s Roman f. Kinder: The Governess, or Little Female Academy (1749 u. ö.), ed. J. E. Grey (Oxf., 1968) [Faks.]. 16 Auszüge in: Memoirs of the Life and Writings of Mrs. F. S., by Her Granddaughter A. Lefanu (1824). 17 ed. H. Bullen (21925); ed. C. Bentley, OEN (Oxf., 1973). 18 ed. E. A. Baker (1906). 19 Vielfach neugedruckt, z. B. 1910; vgl. G. W. Gignilliat, The Author of Sandford and Merton (1932); S. H. Scott, The Exemplary Mr. Day (1935).

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ihrer Absonderlichkeit mit Tristram Shandy wetteifernde Geschichte The Life and Opinions of John Bunde Esq.20 (1756) von Thomas Amory - ist ein ernst gemeinter Versuch, das empfindsame Glaubensbekenntnis zu einer Theosophie zu erweitern, aus der ein dem Emile ähnlicher Erziehungsplan erwachsen sollte. Aber vieles in dieser Herzenserziehung, die in Juliet Grenville (1774) ebenso erbaulich, noch rührungsvoller und in krasser Scharzweißzeichnung fortgesetzt wurde, wirkt heute unfreiwillig komisch. Die damalige Zeit empfand anders, sonst hätte HENRY MACKENZIE21 (1745-1831), der gleichfalls ernst ist, wo Sterne spielerisch war, nicht solchen Erfolg gefunden. Sein Man of Feeling (1771), dem er später den Man of the World (1773) gegenüberstellte, ist ein Held der Empfindsamkeit, ein scheuer, vor der Welt zurückschreckender Mensch, dessen leidvolle Lebensgeschichte vor dem Leser ausgebreitet wird. In dem auf Richardsons Briefstil zurückgreifenden Roman Julia de Roubigne (1777) steigerte Mackenzie die rührselige Unglücksschilderung bis zur quälenden Bedrückung und offenbarte die Grenzen der empfindsamen Kunst, denn die mit spitzem Pinsel bis in alle Einzelheiten ausgeführten Seelengemälde der Briefe passen schlecht zu dieser häuslichen Tragödie, die von starken Leidenschaften bedingt sein soll. All diese Autoren minderen Ranges sind jedoch insofern von romangeschichtlicher Bedeutung, als sich in ihren Werken ein Verschmelzungsprozeß vollzog, bei dem sich die verschiedenen Formen und Themen, die von den Großen ausgebildet worden waren, miteinander verbanden. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die zweite große Blüteperiode des englischen Romans, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Jane Austen beginnen sollte. Große Bedeutung in dieser Hinsicht kommt auch dem literarischen Werk von OLIVER GOLDSMITH22 (1730-74) zu. Sein Leben mit mannigfachen Beschäftigungen und Wanderungen in Holland, Frankreich, Italien und der Schweiz erscheint selbst wie ein Abenteuerroman. Er konnte über alles schreiben, aber wohin seine eigentliche Begabung ging, zeigte bereits die (von der Übersetzung der Memoirs of a Protestant, 1758, abgesehen) erste Schrift An Enquiry into the Present State of Polite Learning (1759). Dem Vorwurf nach ist es eine gelehrte Abhandlung, die ihm wenig liegen konnte, der leichten Darstellungsart nach jedoch eine Reihe von Essays, die in den verschiedenen europäischen Ländern, insbesondere in England, den Verfall der schönen 20

ed. E. A. Baker (l904). Works, 8 Bde. (1808); Man of Feeling, ed. H. Miles (1928); in OEN (1967). Letters to Elis. Rose of Kilravock, ed. H. W. Drescher (Münster, 1967). 22 Works, ed. J. W. M. Gibbs, 5 Bde. (1885-86); ed A. Friedman, 5 Bde. (1966) [maßgebl. Ausgabe]; Poems, ed. A. Dobson (Oxf., 1906 u. ö.); Poems and Plays, ed. T. Davis (1975) in EL; New Essays, ed. R. S. Crane (Chicago, 1927). - Plays, edd. A. Dobson and G. P. Baker (Boston, 1905); ed. C. E. Döble (1909). - Zahlr. Einzelausgaben, bes. des Vicar of W., z. B. ed. C. E. Döble (Oxf., 1909); ed. E. Doughty (1928); ed. A. Friedman, OEN (1974); Citizen of the World in EL. - Collected Letters, ed. K. G. Balderston (N. Y., 1969). - Biographie und Kritik von J. Prior, 2 Bde. (1837) [maßgeblich]; J. Forster, 2 Bde. (1854 u. ö.); A. Dobson, 1888; R. M. Wardle, 1958 [ergänzt Prior]; vgl. auch C. M. Kirk, O. G. (N. Y., 1967).

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Wissenschaften beleuchten. Bald wählte er sich weniger gewichtige Themen und veröffentlichte in seiner Zeitschrift The Bee sowie in anderen Wochenschriften Essays, die an Addisons Kunst gemahnen: A Reverie in the Boar's Head Tavern, Adventures of a Strolling Player und einzelne der dann im Citizen of the World (1762) zusammengefaßten Chinese Leiters. Goldsmiths berühmtestes Werk ist der Roman The Vicar of Wakefield (1762, gedr. 1766), der die an das Buch Hiob erinnernde Geschichte des Landpfarrers Dr. Primrose und seiner Familie erzählt. Zu Beginn lebt die achtköpfige Familie in der ländlichen Idylle des Pfarrhauses, die Goldsmith mit feiner Ironie und gütigem Humor zeichnet. Die ironische Distanz Fieldings zu seinen Figuren ist hier durch eine zart empfindsame Stimmung so sehr gemildert, daß sich die beiden Grundhaltungen, die bei Fielding und Richardson einander unversöhnlich gegenüber standen, nicht mehr zu widersprechen scheinen. In die Idylle bricht Zug um Zug immer schwerer werdendes Unheil ein: Verlust des Vermögens, Verführung der Tochter Olivia durch den schurkischen Squire Thornhill, Abbrennen des zweiten Domizils, Verhaftung Dr. Primroses wegen Zahlungsunfähigkeit. Der Vikar, dem zweifellos ein starker Mangel an Fieldingscher 'prudence' nicht abzusprechen ist, erträgt alle Schicksalsschläge mit unerschütterlichem Gottvertrauen. Als Deus ex machina führt des Landjunkers Onkel Sir William Thornhill, der das Schicksal des Landpfarrers und seiner Familie unter dem Namen Mr. Burchell die ganze Zeit überwacht hat, schließlich alles zu einem guten Ausgang. Mit unnachahmlicher Grazie bewegt sich dieser kleine Roman auf der Grenze zwischen bürgerlichem Trauerspiel und moralistischer Komödie, ohne eines von beiden zu sein. Auf Goethe machte er einen tiefen Eindruck, nicht nur im Zusammenhang mit seinen Sesenheimer Erlebnissen, sondern auch wegen „jener ironischen Gesinnung, die sich über die Gegenstände, über Glück und Unglück, Gutes und Böses, Tod und Leben erhebt und so zum Besitz einer wahrhaft poetischen Welt gelangt" (Dichtung und Wahrheit, II, 10). Als Dichter, als welcher er sich im Vicar mit der eingefügten romantischen Ballade The Hermit, or Edwin and Angelina, der humorvoll-spöttischen Elegy on the Death of a Mad Dog und dem Lied Olivias When lovely Woman stoops to folly ... bereits ausgewiesen, trat er 1764 mit der längeren Reimpaardichtung The Traveller hervor, die ihm Lord Cläre zum Schutzherrn gewann. Der Inhalt ist lehrhaft: der von Alpenhöhen Ausblick haltende Dichter vergleicht die soziale und politische Lage der geschauten Länder und erweist, daß das Glück nicht an eine bestimmte Regierungsform gebunden ist; die dichterische Wirkung beruht aber auf Humor und Mitgefühl und der ungesucht einfachen Darstellung des Tatsächlichen. Auch die zweite größere Reimpaardichtung The Deserted Village (1770), welche die Überlegenheit der Landwirtschaft über den Handel erweisen und auf das um diese Zeit dringlich gewordene Thema der Landflucht hinweisen wollte, lehnt sich formal an die Lehrdichtung des Klassizismus an, aber dadurch, daß Goldsmith das Einst und Heute seines heimatlichen Dorfes anläßlich eines Besuches vergleicht,

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erhält sie einen stärkeren Erlebniston. Die in vollendeter Form gegebenen Beschreibungen ländlicher Szenen und Menschen sind nicht blasse Verallgemeinerungen, sondern dinglich und frisch. Freilich zeigt sich auch hier wie im Landpfarrer die verschönende Färbung des Wunschbildes, was dann Crabbe mit seiner die idyllische Deutung hinwegfegenden Wirklichkeitsschilderung The Village (1783) beantwortete. Aber die Dichtung war für Goldsmiths Berufsschriftstellertum nur von untergeordneter Bedeutung; daneben betätigte er sich in der Komödie (s. S. 549) zunächst mit mäßigem Erfolg {The Goodnatur'd Man, 1768), während She Stoops to Conquer (1773) sehr erfolgreich war, und begann eine Reihe von Schriften, die um des Brotes willen geschrieben, unterhaltsam gemachte Belehrung darboten, lesbar und anziehend, aber ohne Selbständigkeit und Tiefe. So schrieb er eine englische, römische und griechische Geschichte (History of England in a Series of Letters, 1764, woraus dann die History of England, 1771 erwuchs, Roman History, 1769, Grecian History, 1774), ein naturbeschreibendes Werk (An History of Earth and Animated Nature, 1774) und eine Folge von Lebensbeschreibungen. Unter diesen ist das lehrhaft gezeichnete Bildnis des bekannten Beau Nash (The Life of Richard Nash, of Bath, 1762) wohl die gelungenste Leistung und den blassen Biographien Parnells ( The Life of Thomas Parnell, 1770) und Bolingbrokes (The Life of Henry St. John, Lord Viscount Bolingbroke, 1770) vorzuziehen. Mit besonderer Verehrung schrieb Goldsmith die Memoirs of M. de Voltaire (1761 erschienen in The Lady's Magazine). Voltaire mag ihn auch zu den oben genannten 'Chinese Letters' angeregt haben, denn sein Roman 'Zadig' (1748) war in England übersetzt und bekannt geworden. Die spielerische Verwertung fernöstlicher Motive war mit Antoine Gallands französischer Übersetzung von Tausendundeine Nacht und deren englischer Übertragung (1704-17) aufgekommen und Mode geworden23 - den chinesischen Tempeln der klassizistischen Parks entsprechend. Sie wurde von Montesquieu in den 'Lettres persanes' (1721) zu satirischer Beleuchtung westlicher Zustände benutzt. In diesem Zusammenhang ist die erste englische Nachahmung von Voltaires Zadig, DR. JOHNSONS Rasselas24 (1759), einzuordnen. Allerdings ist diese Geschichte des abessinischen Prinzen, der sich, des Wohllebens überdrüssig, nach Ägypten zurückzieht, dort die verschiedenen Lose menschlichen Lebens studiert und dann enttäuscht zurückkehrt, nur ein dünner Vorwand zu einer Reihe von Predigten über die Eitelkeit menschlicher Wünsche. Der schwere Ernst, mit dem Johnson den damals üblichen Gemeinplatz von der Unmöglichkeit ungetrübten Glücks in dieser Welt abwandelte, bildet einen großen Gegensatz zu der gleichzeitigen Behandlung des Themas in Voltaires Candide. Obwohl Rasselas also mehr ein philosophischer Lehrroman ist als eine orientalische Erzählung, fesselte die fremdländische Einkleidung, und eine Reihe von Nachahmungen entstanden (z. B. 23 24

Vgl. M. P. Conant, The Oriental Tale in England in the 18th Century (N. Y., 1908). ed. R. W. Chapman (1927) u. a., auch in EL; edd. G. Tillotson and B. Jenkins, OEN (1971).

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Almoran and Harriet,25 1761 von John Hawkesworth, und The History of Nourjahad,26 1767 von Mrs. Frances Sheridan). GOLDSMITHS irisches Temperament wußte die Geschichte seines Mandarins, der ohne kaiserliche Erlaubnis das Land verließ, dadurch Unglück über sich und seine Familie brachte und nun aus London an seinen Pekinger Freund Briefe schreibt, launiger zu behandeln. Der Kunstgriff, durch einen neuen Blickpunkt die Dinge aus ihrer unbesehenen Alltäglichkeit in eine ihren wirklichen Wert zeigende Beleuchtung zu rücken, gab ihm Anlaß zu lächelnden oder satirischen Betrachtungen über englisches Leben, Sitte und Schrifttum. Dabei sind so prächtige Charakterskizzen wie der Man in Black und Beau Tibbs eingestreut, und gelegentlich gerät die Einkleidung im humorvollen Drauflosplaudern in Vergessenheit. Der geistreich spielerische Einfall orientalischer Gewandung bekam im Laufe der Entwicklung einen anderen Sinn, was schon ein Titel wie Clara Reeves The Progress of Romance (1785) und die darin enthaltene History of Charoba, die Quelle von Landors 'Gebir', zum Ausdruck brachte, und der bereits als romantisches Werk geltende Roman Vathek (in französischer Sprache 1783 geschrieben, gedruckt 1787, englische Übersetzung 1786) von WILLIAM BECKFORD27 (1759 bis 1844) vollendete. Der inmitten seiner Kunstsammlungen auf dem phantastischen Schloß Fonthill lebende Beckford, dessen Reisebücher einen unvergänglichen Reiz haben (Dreams, Walking Thoughts, and Incidents, 1783, und Recollections of an Excursion to the Monasteries of Alcobaca and Batalha, 1835), begann nämlich seine Geschichte des Kalifen Vathek in dem leicht spöttelnden Ton Voltaires. Aber seine faustische Natur war vom Geheimnisvollen seltsam angezogen. So wird die Schilderung der Größensucht des Kalifen - anders als in den Voltaireschen orientalischen Romanen - ernsthaft; insbesondere der Zaubereinfluß der Kalifenmutter und die Teufelsverschreibung, die Entdeckungsfahrt in Eblis' unterirdische Gewölbe und das sühnende, qualvolle Ende des unersättlichen Suchers schlagen die Phantasie des Lesers in Bann (vgl. auch die erst 1912 veröffentlichten Episodes of Vathek).

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Letzte Aufl. 1796; Abdr. in: The British Novelists, Bd. 26 (1820). Letzte Aufl. 1828; repr., ed. . V. M.' (1927). 27 Vathek [französ.], ed. S. Mallarme (Paris, 1876 u. 1893) [gute Einl.]; desgl. mit Episodes of Vathek, ed. G. Chapman, 2 Bde. (1929); The Episodes of Vathek [frz. u. engl.], ed. 'L. Melville' (1912); Vathek [engl.], übers, v. S. Henley [dem unautorisierten ersten Übersetzer], ed. R. Garnett (21900); übers, v. H. B. Grimsditch (1929); versch. weitere Ausgaben, z. B. ed. E. Giddey (Lausanne, 1962) [nach der Pariser Ausg. v. 1787]; ed. R. Lonsdale, OEN (Oxf., 1970) [nach der engl. Übers, v. 1816]; zus. mit Rasselas u. Castle of Otranto in EL. - Travel Diaries, ed. G. Chapman, 2 Bde. (1928); Journal in Portugal and Spain, ed. B. Alexander (1954). - Biographie v. G. Chapman (1937); v. A. Parreaux (Paris, 1961); B. Alexander, England's Wealthiest Son (1962).

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5. Dr. Samuel Johnson Hatte DR. SAMUEL JOHNSON28 (1709-84) in England auch den Anstoß zu der beliebt werdenden fernöstlichen Einkleidung literarischer Motive gegeben, so erscheint seine Betätigung auf diesem etwas abseitigen Gebiet als ein Randergebnis seines Schaffens. Im Urteil der Zeit überschattete seine bis zur Schwerfälligkeit gewichtige Art die Persönlichkeit und das Schriftstellertum eines Goldsmith. Johnson hat sich eine beherrschende Stellung in der damaligen literarischen Welt erarbeitet. Es war ein mühsamer, aber beharrlich verfolgter Weg, der mit einer Lernzeit begann (1735-48), in der sich Johnson auf allen Gebieten, denen seine spätere Tätigkeit galt, versuchte und seinen Stil wie seine Lebensanschauung formte. Ein Versuch, seine umfassende und größtenteils selbsterworbene Bildung in der Führung einer Privatschule in der Nähe seines Geburtsorts Lichfield zu verwerten, schlug fehl; so zog Johnson 1737 nach London, um sein Brot als Schriftsteller zu erwerben und kam dort in den Klubs mit allen Gleichgerichteten zusammen. Er schrieb Aufsätze für Zeitschriften (wie das 1731 von Edward Cave gegründete The Gentleman's Magazine'), Lebensbeschreibungen (wie das später den 'Lives of the Poets' eingegliederte Life of Mr. Richard Savage, 1744) und Berichte über Parlamentsdebatten, die ihm freilich unter der Feder zu eigenen Abhandlungen über politische Tagesfragen wurden (Debates in the Senate of Lilliput, 1738-44). Er versuchte sich auch in lateinischen und englischen Versen, wo28

B i b l i o g r a p h i e : edd. J. L. Clifford and D. J. Greene S. J., A Survey and Bibliography of Critical Studies (Minneapolis, 1970). - W e r k e : ed. A. Murphy, 12 Bde. (1762 u. ö.); ed. F. B. Walesby, 9 Bde. (Oxf., 1925); The Yale Edition of the Works of S. J., edd. A. T. Hazen, später J. H. Middendorf (New Haven, 1958ff.) [i. E., Standard-Ausgabe, bish. erschienen Bd. I-X]; Poems, ed. D. Smith (1941; rev. D. Fleeman, Oxf., 1974); Debates, ed. F. B. Walesby (Oxf., 1925); Dictionary, ed. R. G. Latham, 2 Bde. (1866-70; Faks. Nachdr. d. Erstausg. v. 1755 mehrfach, z. B. Hildesheim, 1968); Lives of the Poets, ed. G. B. Hill, 3 Bde. (Oxf., 1905), auch in EL u. WC; Rambler, ed. A. Chalmers, The Brit. Essayists, Bd. 19-22 (1802 u. ö.); auch in Bd. III-V der Yale-Edn.; ed. S. C. Roberts in EL; The Idler u. The Adventurer ebenf. bei Chalmers sowie in Bd. II d. Yale-Edn.; Prefaces and Dedications, ed. A. T. Hazen (New Haven, 1937); Journey to the Western Islands of Scotl., ed. M. Lascelles in Bd. IX der Yale-Edn. - Letters, ed. R. W. Chapman, 3 Bde. (Oxf., 1953), Ausw. in WC - Biographie:!. Boswell, Life of S. J., ed. G. B. Hill, rev. L. F. Powell, 6 Bde. (Oxf., 1934-64); Leseausg. in OSA, ed. C. D. Tinker, rev. J. D. Fleeman; ed. R. Ingpen, 2 Bde. (1925) [reich illustriert]; ed. A. Glover, 3 Bde. (1925), auch in EL; Tour through the Hebrides, ed. G. B. Hill in Boswells Life of J.; ed. R. W. Chapman, 2 Bde. (Oxf., 1924, 1930). - Johnsonian Miscellanies, ed. G. B. Hill, 2 Bde. (Oxf., 1897) [Biographien v. Johnsons Zeitgenossen]; L. Stephen, S. J. (1876); J. L. Clifford, Young S. J. (N. Y./Lo., 1955) [Standard-Biogr. bis 1750]; J. Wain, S. J. (1974). - Krit i k : W. Raleigh, Six Essays on J. (1910); J. Wood Krutch, S. J. (N. Y., 1944 /Lo., 1948); W. J. Bate, The Achievement of S. J. (N. Y./Oxf., 1955 u. ö.); R. Voitle, S. J. the Moralist (Cambr., Mass., 1961); C. F. Chapin, The Religious Thought of S. J. (Ann Arbor, 1968); P. Fussell, S. J. and the Life of Writing (1972); C. Mclntosh, The Choice of Life: S. J. and the World of Fiction (New Haven, 1973); R. B. Schwartz, S. J. and the Problem of Evil (Madison, 1975); L. Damrosch, The Uses of J.'s Criticism (Charlottesville, 1976).

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von die Ode Friendship und die Dichtung London (1738), die über die Entartung der Zeit, die Anmaßung des Reichtums und die Bedrückung der Armen zu Gericht sitzt, größere Beachtung fanden. In Johnsons Dichtung lebt der Geist des Klassizismus, der nach antiken Vorbildern Allgemeingültiges geben will, unter bürgerlichen Vorzeichen noch einmal kräftig auf. Als Humanist und Moralist will er dem sittlichen und kulturellen Verfall entgegenwirken und die alten Werte in das neue Zeitalter hinüberretten. So scheint unter dem englischen Gewand überall das lateinische Vorbild durch, und der kraftvolle Stil und würdevolle Vortrag bewirkt insbesondere im langsamen Gange einen eigenen Klang. Vollendet zeigte sich das in Johnsons zweiter Epoche (1748-60) in seiner längsten und besten Dichtung The Vanity of Human Wishes (1749), die in glänzender Moralberedsamkeit, so wie sie nach dem Vorbild Juvenals Dryden und Pope gepflegt hatten, die Eitelkeit der politischen Macht, des soldatischen Ruhms und des gelehrten Ansehens am Falle ihrer großen und einst gefeierten Vertreter aufzeigte. Diesen Dichtungen ist auch der Tragödienversuch Irene (1736 geschrieben, 1749 aufgeführt) anzureihen als eine Folge poetischer Gespräche über ethische Themen, wie sie sich in ungebundener Sprache im Lehrroman Rasselas (s. S. 532) und in leichterer Form im Märchen The Fountains (1766) wiederholten. Diese Laienpredigten der Lebensweisheit, die in zahlreichen Besprechungen, Vorreden und Zeitschriftenaufsätzen - im Rambler 1750, Adventurer 1753-54 und den 'Idler'-Artikeln der Universal Chronicle 1758-60 - ihre ansprechendste Gestalt fanden, zeigen das Wesen von Johnsons Lebenshaltung und Stil. In ihnen tritt uns der körperlich und seinem Benehmen nach ungeschlachte Mann entgegen, der in den schweren Gemütsbedrückungen das Alleinsein fürchtete, in Geselligkeit und Freundschaft Trost suchte und immer wieder im Vertrauen auf Gott den letzten sicheren Halt fand. Und von daher erklärt sich seine Prosa, die, wenn sie auch gelegentlich vertraute Wendungen wählt und in mancher anschaulich geschilderten Szene an Addison, Hogarth oder Fielding erinnert, doch in mühsamem Suchen nach dem Wort, nach gedrängter, klarer Fassung etwas Schweres und feierlich Eindrucksvolles behält. Umstellungen, Gegensätze, Auswägungen, sowie des Nachdrucks wegen gewählte, fremd klingende, gelehrte oder altfränkische Wörter kennzeichnen diesen gehobenen Stil, dessen Rhetorik jedoch der natürlichen Art des Mannes entsprach, dessen langsame und überlegte Sprechweise auch im Satzbild durch Kommata und andere Pausenzeichen ersichtlich bleibt. Fester noch als durch diese Tagesschriftstellerei wurde Johnsons Ansehen durch das große englische Wörterbuch gegründet, dessen Plan er bereits 1747 in einem an Lord Chesterfield gerichteten Briefe veröffentlicht hatte, das er aber ohne jede geldliche Unterstützung, nur auf sich selber angewiesen, in übermenschlicher Arbeit 1755 fertigstellte als A Dictionary of the English Language, wovon 1756 eine gekürzte Ausgabe, ebenfalls in zwei Bänden, erschien. Johnsons Ziel, das die majestätische Vorrede verkündet, war nicht eine historische Beschreibung der englischen Sprache, er wollte vielmehr festsetzen, was gutes Englisch sei und Aussprache und

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Gebrauch regeln. Er setzte sich mit seinen Urteilen auch durch, und auf Menschenalter hinaus bildete sein Wörterbuch den Gerichtshof in Fragen des Geschmacks und der Sprachrichtigkeit, und das mit gutem Grund, besaß er doch ein feines Sprachgefühl und ausgedehntes Wissen um das Wachsen der Sprache und ihren Wandel. Trotz solcher Berühmtheit blieb Johnsons Einkommen kärglich; erst in seiner dritten Epoche (1760-72) verschaffte ihm eine Pension die Muße, die in den Unterhaltungen des 1763 gegründeten 'Club' - zu dessen Mitgliedern Reynolds, Burke, Goldsmith, Garrick und Boswell zählten - ihren schönsten Ausdruck fand und wofür er in der großen Shakespeareausgabe von 1765 ein wissenschaftliches Gegengeschenk an die Nation erstattete. Johnsons 1763 mit JAMES BoswELL29 (1740-95) geschlossene Freundschaft wurde auch für die Nachwelt von Bedeutung durch die einzigartige Lebensbeschreibung, die dieser seit seiner Jugend schriftstellerisch ehrgeizige Jurist von seinem verehrten Freunde verfaßte (Life of Samuel Johnson, 1791). Diese Biographie verwob Gespräche, Anekdoten und Briefe in den fortlaufenden, nicht nach Kapiteln, sondern nach Jahreszahlen eingeteilten Ereignisbericht. Boswell, der sich unter Johnsons Augen zum Schriftsteller bildete - man denke an den Account of Corsica, Journal of a Tour to that Island and Memoirs of Pascal Paoli (1768) und das 1785 veröffentlichte Journal of a Tour to the Hebrides with Samuel Johnson - suchte das umfängliche Werk unterhaltsam zu gestalten und drängte den predigenden Johnson deshalb etwas zurück. Um so lebendiger sind die Gespräche wiedergegeben, sie sind, wie aus Tristram Shandy gelernt, mit allen Gesten und Pausen, mit dem Grunzen und Nasenputzen hörbar gemacht und zeichnen mit Forschergenauigkeit auch das nicht gerade Löbliche auf. Alles wird in das genaue Bildnis des hingebungsvoll geliebten Mannes hineingewoben und belebt durch eine erheiternde Freude am Grotesken und Anekdotischen, auch wo es sich auf Boswells eigene Person bezieht. Der Biograph wird geradezu zu einem Teil der Johnsonschen Welt, und aus seinem Mund, sowie aus den Berichten der Zeitgenossen Reynolds, Burke, Garrick, Robertson, Langtön, Fanny Burney, ja selbst aus den Gegenstimmen wie den Anecdotes (1786) von Mrs. Thrale (Mrs. Piozzi)30 und der 29

Life of Johnson, s. S. 534, Anm. 28; Journal of a Tour to Corsica, ed. G. B. Hill in: Letters between Erskine and Boswell (1879); ed. S. C. Roberts (Cambr.. 1923); The Hypochondriack [für das London Magazine geschr. Essays], ed. M. Bailey (Stanford, 1928); Letters, ed. C. B. Tinker, 2 Bde. (Oxf., 1924); The Private Papers of J. B. from Malahide Castle, edd. G. Scott and F. A. Pottle, 18 Bde. (N. Y., 1928-34); die 'Yale Editions of the Private Papers', edd. F. A. Pottle et al., bestehen aus zwei parallelen Serien: Die seit 1950 erscheinende 'trade edition', auf ca. 30 Bde. gepl., enthält ausgewählte Texte, die 'research edition' (ca. 40 Bde.), seit 1966 i. E., den vollst. Text. C. B. Tinker, Young B. (1922); F. A. Pottle, Literary Career of J. B. (Oxf., 1929); D. B. W. Lewis, The Hooded Hawk (1946, i. Lo. ersch. als: B.: A Short Life, 1952); vgl. auch W. H. Irving, The Providence of Wit in the English Letter-Writers (Durham, N. C., 1955). 30 Hester Lynch Thrale (später Piozzi), 1741-1821: Anecdotes, ed. S. C. Roberts (Cambr., 1925); ed. G. B. Hill in: Johnsonian Miscellanies, Bd. I (1897) [mit Anmerkungen]; The French Journals of Mrs. Thrale and Dr. Johnson, edd. M. Tyson and H.

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Biographie von Hawkins 31 (1787) erhellt, daß Johnsons Schau visionäre Kraft besaß, auch wenn seine apodiktischen Urteile manchmal verschroben oder kauzig anmuten. Die Gespräche gehören mit zu Johnsons Werk. Sie ergänzen die politischen Schriften der letzten Epoche (1772-84) - z. B. The False Alarm (1770), Thoughts (über die Falkland Islands, 1771), The Patriot (1774) und Taxation No Tyranny (1775) - zum Bild eines eingewurzelten Tory, und sie stellen neben den abhandlungsartigen Bericht über ein wenig bekanntes Land (Journey to the Western Islands of Scotland, 1775) die lebendige Persönlichkeit. Gerade weil Johnson unter dem Gesichtspunkt der Gemeingültigkeit soviel Persönliches zurückhielt, Boswell aber hier wie in seinen Briefen, insbesondere den an seinen vertrautesten Freund Rev. William Johnson Temple gerichteten, von rückhaltloser Offenheit und Mitteilsamkeit war, ergänzen sie sich so vollständig. Das Werk, in dem Johnson sich am Vollendesten aussprach, war sein letztes, die Lives of the English Poets (ab 1777, gedr. 1779-81). Er hatte das vom Buchhändler angeregte Thema in der Absicht übernommen, kleine Vorreden zu schreiben, es wurde ihm unter der Hand zu seinem Hauptwerk. Er fügte sich der vom Verleger getroffenen Dichterauswahl, die indessen so war, daß diese „Vorreden" zusammengenommen einen Bericht der Dichterschule darstellen, der Johnson selber angehörte: Dryden und Pope in erster Linie, mit den kleineren Beiträgern Butler und Prior, dann Waller, Denham, Tickell, Garth und das ganze klassizistische Heer. Die Anlage der einzelnen Essays ist von übersichtlicher Einfachheit, voran steht die Biographie mit der äußeren Geschichte der Werke, dann folgt das Bild der Persönlichkeit des Dichters und seiner geistigen Haltung und schließlich die Besprechung der Werke in zeitlicher Folge, wobei die einzelnen, in sich abgeschlossenen Abschnitte durch nachdrückliche Abschlüsse hervorgehoben sind. Gegen die kritischen Urteile, als deren Maßstab der gesunde Menschenverstand gilt, gibt es keinen Einspruch, aber sie kommen aus dem Munde eines die Dichtung verstandesund empfindungsmäßig sorgsam abwägenden Kritikers, der selbst in den ablehnenden Essays über Milton, Gray und die unter Cowleys Namen zusammengefaßten metaphysischen Dichter wertvolle Hinweise und Bemerkungen gibt. Als Prosakunstwerk zeichnen sich die Lives durch größere Biegsamkeit aus, der grammatische Bau der Sätze ist weniger abgezirkelt und darum freier im Rhythmus, aber nach wie vor Von unnachahmlicher persönlicher Prägung. Es ist in Stil und Denkhaltung das letzte Werk des englischen Klassizismus.

Guppy (Manchester, 1932); Thraliana: The Diary of Mrs. Thrale 1776-1809, ed. K. C. Balderston, 2 Bde. (Oxf., 1942; rev. 1951). - Autobiography, Letters, and Literary Remains, ed. A. Hayward, 2 Bde. (1861). - Biographie v. J. L. Clifford (1941). 31 Sir John Hawkins, 1719-89: The Life of S. J., in Bd. I seiner Johnson-Ausgabe (1787); Auszüge in: Johnsonian Miscellanies, ed. G. B. Hill, Bd. II (1897).

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6. Briefe und Tagebücher Das 18. Jahrhundert schätzte die Kunst des Briefs, aber nicht als Herzensergießung, sondern als geistreiche Lebenskritik, die neben dem geistigen Bildnis des Schreibers inhaltliche Mitteilung und allgemeingültige Wertung enthielt. Beispielhaft dafür sind die Briefe des Staatsmannes und Diplomaten LORD CHESTERFIELD32 (Philip Dormer Stanhope, fourth Earl of Chesterfield, 1694-1773), die hauptsächlich an seinen natürlichen Sohn und dann an seinen Enkel gerichtet sind. Sie stellen eine Anleitung zum gesellschaftlichen Erfolg dar, ein Handbuch des guten Tons und des Umgangs mit Frauen, vollendet in der Kunst des Gefallens, der Gedanken- und Gefühlsverhüllung, des eleganten Lebensspiels, des glatten Ausdrucks und der anmutigen Selbstliebe. Der Ton und die Kenntnis menschlicher Schwächen erinnern an La Rochefoucauld. Am Französischen, das Chesterfields zweite Muttersprache war, und an Addison ist die geschmeidige Prosa geschult, die fast stets eine gesellschaftliche Note hat und sich nur gelegentlich, wie in den reizvollen Briefen an Lady Suffolk, lässiger gibt. Inhaltlich stellen Chesterfields Briefe ein unvergleichliches Lehrbuch des aristokratischen Gentleman-Ideals dar und sind von daher ein wichtiges Dokument zum Verständnis der geistigen und sittlichen Grundlagen der klassizistischen Literatur. Ähnlich bewußt sind die Briefe der Lady MARY WORTLEY MONTAGU" (1689-1762), deren wichtigste aus der Türkei, wo ihr Gatte Gesandter war, an geistreiche Männer und Frauen der englischen Gesellschaft gerichtet sind. Hier verschlingt sich die erste wirklichkeitstreue Mitteilung orientalischen Lebens in Beschreibung und vorzüglich erzählten Geschichten mit weltklugen, das geistige Bildnis der Schreiberin offenbarenden Urteilen über Literatur, Gesellschaft und Bildung. Am Ende ergibt sich ein Eindruck unbedingter Wahrhaftigkeit; die Briefe sind die unverblümte Aussprache eines klaren, den Enttäuschungen gewachsenen Geistes, der zwar ohne große Phantasie und Feinheit, aber witzig und scharf ist und gelegentlich eine gewisse durchschaubare Fühllosigkeit zeigt, die übrigens in den letzten, von Italien an ihre Tochter, Lady Bute, gerichteten Briefen zurücktritt. Die stets persönlich gefärbten literarischen Kontroversen hatten ja die Verspottung des Gefühls schon immer überspitzt. Davon bot auch die Auseinandersetzung Lady Marys mit Pope eine Probe, bei der ihr Freund LORD HERVEY34 (1696-1743) sie mit den Verses addressed to the Imitator of Horace und der Epistle to a Doctor of 32

The Letters of P. D.S., ed. B. Dobree, 6 Bde. (1932); Letters to his Son, ed. Mrs. Eugenia Stanhope, 2 Bde. (1774); edd. C. Strachey and A. Calthrop, 2 Bde. (1901); ed. R. K. Root in EL. 33 Letters and Works, ed. Lord Wharncliffe, 2 Bde. (1893; repr. N. Y., 1970), auch in EL; Essays and Poems and 'Simplicity', a Comedy, ed. R. Halsband (Oxf., 1977); vgl. 'L. Melville', Life and Letters of Lady M. W. M. (1925); Biographie v. R. Halsband (1956 u. ö.). 34 Memoirs, ed. J. W. Croker, 3 Bde. (21844); vgl. R. Halsband, Lord Hervey: 18th Century Courtier (Oxf., 1973).

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Divinity (1733) unterstützte. Die Gabe bösartiger Bildniszeichnung kennzeichnet auch seine Memoirs, die eine wichtige Quelle für das Hofleben unter Georg II. bilden. Literarisch bedeutsamer ist der umfängliche Briefwechsel von HORACE WALPOLE35 (1717-97), der als Sohn des großen Staatsmannes Sir Robert einen weiten Freundeskreis hatte und hauptsächlich aus der Welt der vornehmen Whigs plauderte. Er neigte weniger zu Verallgemeinerungen als zu den 'minutiae' des menschlichen Lebens, und was seinen Briefen an Reflexion abgeht, gewinnen sie durch das Erhäschen der flüchtigen Kleinigkeiten des Alltags. Fast jeder Schriftsteller von Bedeutung ist mit kurzen und oft treffenden Worten erwähnt. Berichte über Verbrechen, Wetten, Zechen, Glücksspiel und eine aufrichtige, wenn auch gelegentlich ungerechte Vorliebe, die großen Leute in Pantoffeln zu sehen, machen seine Briefe zu einem unterhaltsamen Begleittext des Zeitgeschehens, durch den Grazie erstrebenden Stil leicht und flüssig lesbar. Vor diesem Hintergrund sehen wir Walpoles Leben abrollen: von der mit Thomas Gray unternommenen Italienreise und dem politischen Leben seiner Abgeordnetenzeit zu der Beschäftigung mit Dichtung und Kunstgeschichte auf seinem Landsitz Strawberry Hill - dessen selbstgeschaffene „Gotik" vom Klassizismus ebenso abrückt wie sein Roman The Castle of Otranto (1764, s. S. 643) und die Tragödie The Mysterious Mother (1768) - bis zu der letzten durch den Tod Grays und seiner Freundin Mme. du Deffand vereinsamteren Londoner Zeit, in der seine Neigung zur Schwermut stärker hervortrat. Walpoles dreitausend Briefe sind nach Umfang und Gewicht das wichtigste Selbstzeugnis aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Daneben gibt es eine Fülle von Tagebüchern36 aus allen möglichen Lebenskreisen. Neben der Schilderung des ereignislosen Daseins des Landpfarrers und seiner Umgebung in den Aufzeichnungen des Rev. James Woodforde37 (1740 bis 1803) stehen die Reiseberichte eines Cook,38 Forster39 oder Bruce40 35

Works, edd. M. Berry et al, 9 Bde. (1798-1825); Letters, ed. P. Toynbee, 16 Bde. (Oxf., 1903-05), mit 3 Supplementbänden (Oxf., 1918-25); The Yale Edition of W.'s Correspondence, edd. W. S. Lewis et al., (New Haven, 1937ff.), [über 30 Bde. ersch., ca. 50 Bde. geplant, definitive Ausgabe]; Auswahlen, ed. W. S. Lewis, 2 Bde. (N. Y., 1926) [illustriert]; ed. W. Hadley (1926 u. ö.) in EL; Mysterious Mother and Castle of Otranto, ed. M. Summers (1924); Castle of Otranto, s. S. 643, Anm. 11. - A. Dobson, H. W.: A Memoir, ed. P. Toynbee (Oxf., 1927); P. Yvon (Paris, 1924); R. W. KettonCremer (21946); W. S. Lewis, (N. Y., 1960); ders., Rescuing H. W. (New Haven, 1978). 36 Vgl. A. Ponsonby, Engl. Diaries (N. Y., 1927; repr. Detroit, 1971); More Engl. Diaries (1927; repr. Norwood, 1978); R. A. Fothergill, Private Chronicles: A Study of Engl. Diaries (1974); 37 Diary of a Country Parson, ed. J. Beresford, 3 Bde. (Oxf., 1924-27); auch in WC. 38 James Cook, Journal during his first Voyage, ed. W. J. L. Wharton (1893); Journals on his Voyages of Discovery, 3 Bde., ed. J. C. Beaglehole (Cambr./N. Y., 1968). 39 George Forster, Voyage round the World (1777). 40 James Bruce, Travels to Discover the Sources of the Nile, (1790; repr. Amersham, 1971).

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Fünftes Buch: Der Klassizismus

und die Berichte aus der literarisch-akademischen Welt Alexander Carlyles41 (1722-1805), in der Robertson und Hume, Thomson, Blair und Macpherson verkehrten. Am zahlreichsten sind immer noch die Berichte über höfisches und städtisches Leben (vgl. die Tagebücher von Elizabeth, Duchess of Northumberland 42 [1716-76] und Mrs. Mary Delany43 [1700-88]), wobei die engere Welt der „Blaustrümpfe" genannten, schriftstellernden Damen besondere Beachtung fand. Die umfänglichen Tagebücher und Briefe von Mrs. Elizabeth Carter44 (1717-1806) schildern das Leben dieser Kreise, als deren Königin Mrs. Elizabeth Montagu45 (geb. Robinson, 1720-1800) galt, die auch bei der geistigen Männerwelt, deren Größen sie alle kannte, Ansehen genoß. Aber ihr berühmter Witz ist in den wortreichen Briefen vergraben, und ihrem einst geschätzten Urteil kann die Nachwelt nicht Ungewöhnliches zubilligen. Einen neuen Ton in diese Memoirenliteratur bringt das erste klassische Buch Amerikas, die leider unvollendete Autobiography46 von BENJAMIN FRANKLIN (1706-90). Sie stellt der aristokratischen Alt-England-Kultur eines Chesterfield den dieser Kultur fernstehenden 'self-made-man' der Neuen Welt gegenüber. Obwohl Franklin diese Erinnerungen niederschrieb, als er auf der Höhe seines Ruhmes stand - 1771 als Vertreter der amerikanischen Kolonien in England, 1784 als Gesandter der Vereinigten Staaten in Paris, 1789 als Mitglied des Verfassungskonvents in Philadelphia - erzählt er nur von seiner einfachen Herkunft und dem eigener Tüchtigkeit zu verdankenden Aufstieg als Drucker und Zeitungsverleger, als Verfasser des bei den Siedlern größte Verbreitung findenden Kalenderjahrbuchs Poor Richard's Almanac, als Gründer der ersten Leihbücherei bis zum wohlhabenden Kaufmann. Dies In-Reichweite-Rücken des Erfolgs, die Fülle praktischer Lebensweisheit und die klare, humorgewürzte, jedermann verständliche Sprache machten das Buch in Amerika zum Volksbuch. Ebendarum wurde es, als Stimme aus der Neuen Welt, auch für Europa bedeutsam, um so mehr als die mangelnde seelische Weite wettgemacht wird durch eine humanitäre Lebensanschauung und die Botschaft, wie weit es der einfache Mann in einer freien Welt bringen kann. 41

Autobiography, ed. J. H. Burton (Edinb., 1860; repr. 1910). The Diaries of a Duchess, ed. J. Greig (1926). 43 Autobiography and Correspondence, ed. Lady Llanover, 6 Bde. (1861-62); gute Auswahl: R. B. Johnson, Mrs. D. at Court and among the Wits (1925). "Memoirs, 2 Bde. (1808); Letters, 4 Bde. (1809); Letters to Mrs. Montagu, 3 Bde. (1817);sämtl. ed. M. Pennington. 45 Briefe in: E. J. Climenson, E. M., the Queen of the Blue-stockings, 2 Bde. (1906), fortges. v. R. Blunt, Mrs. M., Queen of the Blues, 2 Bde. (1923). 46 ed. O. S. Coad (N. Y., 1927 u. 1932); ed. H. S. Commager (N. Y., 1944); in EL u. WC; The Writings of B. F., edd. A. H. Smyth et al., 10 Bde., (N. Y., 1905-07; repr. Brooklyn, 1969); Papers, 20 Bde., edd. W. B. Willcox et al. (New Haven, 1955-77). Biographie und Kritik: C. van Doren (N. Y., 1938); T. Hornberger (1962); A. E. Aldridge (1965). 42

77. Die Prosa

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Als Gegenpol gegen den Rationalismus der Aufklärung, der bei Franklin fühlbar ist, gab es auch in den nordamerikanischen Kolonien eine starke pietistische Strömung. Sie fand ihren reinsten literarischen Ausdruck in dem Tagebuch des Quäkers JOHN WooLMAN47 (1720-72). Die menschliche Wärme und Lauterkeit seines Stils machten es zu einem Lieblingsbuch von Charles Lamb.

7. Geschichtsschreibung Die Vorliebe für Memoiren hatte auch die Geschichtsschreibung beeinflußt, wie nach Clarendons Vorgang Burnets Geschichte seiner Zeit bewies. Damit trat die Möglichkeit weitschauender historischer Darstellung zurück, und die Anregungen, die Bossuet, Montesquieu und Voltaire gaben, fanden erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in England Widerhall. HUME, als Philosoph bereits angesehen, begann 1754 eine den Franzosen ebenbürtige englische Geschichtsschreibung mit dem ersten Bande seiner History of England** (1754-61). Zwar ist das schnell geschriebene Werk flüchtig in der Quellenbenutzung und durch Toryvorurteile getrübt, aber es ist die erste große englische Geschichte, die nach den leitenden Ideen im historischen Geschehen fragte, und der erste Versuch, die geistige und soziale Lage des Landes in den einzelnen Zeitabschnitten ebenso zu betonen wie die Chronik der politischen und religiösen Kämpfe. Die Ausführung ist noch unvollkommen, die kulturhistorischen Abschnitte sind nicht eingearbeitet, sondern jeweils in einen Anhang abgesondert. Das Ziel, die Stufen aufzuzeigen, auf denen England zur gegenwärtigen Regierungsform gelangte, ist zu eng und zu sehr mit dem aufklärerischen Fortschrittsglauben verbunden, um die älteren Epochen ebenso fesselnd zu gestalten wie die Stuartzeit, mit deren Darstellung er sein Werk begann. Schon vor dem Abschluß war ein zweiter, ebenfalls schottischer Historiker, WILLIAM ROBERTSON** (1721-93), aufgetreten (History of Scotland, 1759), Hume in sorgfältiger Forschung überlegen, als Künstler aber trotz lebendiger und volkstümlicher Erzählgabe ohne den erprobten Stil des philosophischen Meisters, der ernst und doch mit leichter Hand Bericht, Geschichtchen und Erörterung zu verbinden vermochte. Robertsons Verdienste zeigen sich besonders in seinem zweiten Werk, History of Charles F(1769), das in Fortsetzung der Humeschen Methode die Gleichgewichtsschwankungen zwischen Frankreich und dem Kaiserreich von philosophischer Warte aus überblickte und in dem Vorspiel View of the Progress of Society in Europe eine erste Verwertung von Bossuets 'Histoire Universelle' (1681) und Voltaires 'Essai sur 47

The Journal of J. W., ed. J. Whitney (Chicago, 1950); Journal and Major Essays, ed. P. M. Phillips (N. Y., 1972). 48 History, 8 Bde. (Oxf., 1826); ed. R. W. Kilcup (Chicago, 1975), [Ausw.]. S. auch S. 466, Anm. 18. 49 Works, ed. D. Steward, 12 Bde. (1817).

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Fünftes Buch: Der Klassizismus

les Moeurs' (1753) bewies. Neue Wege öffnete die unvollendete History of America (1777-96), die im epischen Bericht über die Fahrten von Columbus, Cortez und Pizarro auch künstlerisch sein bestes Werk darstellt. Allerdings heißt das nach einem Maßstab werten, der einem Gibbon nicht ausreichend schien. Das größte Verdienst der schottischen historischen Schule besteht jedoch darin, daß sie den Bereich der Geschichtsschreibung, der sich bis dahin auf die politische Geschichte beschränkte, auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte ausdehnte, was zu einem nicht geringen Teil dem Einfluß Adam Smiths zu verdanken ist. Nach dem Beispiel von Hume und Robertson schrieb der in Boston gebürtige royalistische Staatsbeamte und letzte Gouverneur von Massachusetts Bay, THOMAS HUTCHINSON (1711-80), seine dreibändige History of the Colony of Massachusetts Bay (I, 1764; II, 1767; III, 1828). Ohne die philosophische Perspektive Humes und ohne die Darstellungskunst Robertsons, ist er vor allem ein kritischer und nüchterner Sammler von Details, die er mit politischer Urteilskraft auswertet; sein Verdienst liegt mehr auf historischer als auf literarischer Ebene. Dagegen gehört EDWARD GiBBON50 (1737-94) zur Weltliteratur. Sein Leben berichten die Briefe und die von Lord Sheffield aus sechs autobiographischen Bruchstücken zusammengestellten Memoirs (1796). Ein wechselvoller, zur Hälfte unter dem Einfluß der französischen Kultur am Genfer See verbrachter Bildungsgang hatte ihn nach eigener Wahl mehr und mehr dem römischen Altertum zugeführt; und angesichts der im römischen Jupitertempel die Vesper singenden Mönche faßte er 1764 den Plan zu der sein Leben ausfüllenden History of the Decline and Fall of the Empire, die in drei Etappen 1776, 1781 und 1788 erschien. Was man diesem größten englischen Geschichtswerk vorwarf, ist, abgesehen von einzelnen Irrtümern, die erst spätere Erforschung, namentlich des byzantinischen Reiches, richtigstellen konnte, die einseitige, dem historischen Christentum feindliche geschichtsphilosophische Haltung, die von deistischen, dem aufgeklärten Despotismus zuneigenden Vernunftanschauungen bestimmt war. Gibbon blieb politischen und religiösen Begeisterungen gegenüber kühl, er hatte keinen metaphysischen Hintergrund, und das Wesen der mittelalterlichen Welt blieb ihm verschlossen. Trotzdem ist die Geschichte des Verfalls und Untergangs des römischen Reichs ein großartiges, einem Epos vergleichbares Werk. Es will die Brücke schlagen von der Alten zur Neuen Welt. Ausgangspunkt ist die glückliche Zeit der Antonine, auf die das lange Schattendasein der menschlichen Kultur folgte. Diese Zeit wird in drei mächtigen Bogen umspannt, von Trajan 50

History, ed. J. B. Bury, 7 Bde. (1909-13 [mit Biographie]; repr. N. Y., 1975), auch in WC [vollst., mit Anm.]; Autobiography, ed. J. Murray (1896); ed. G. A. Bonnard (1966); ed. M. M. Reese (1971); Journals, ed. D. M. Low (1929), Forts, ed. G. Bonnard (Lausanne, 1945); Letters, ed. J. E. Norton, 3 Bde. (1956). - Vgl. Sainte-Beuve, Causeries du Lundi, VIII (1853); D. M. Low (1937); H. L. Bond, The Literary Art of E. G. (Oxf., 1960); J. B. Black, The Art of History (1965); L. B. Braudy, Narrative Form in History and Fiction (1970).

///. Das Drama

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bis zur Eroberung Roms durch die Barbaren, vom 6. Jahrhundert bis zum Reiche Karls des Großen, und von da bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453. Der kunstvolle Bau, der in der Abstufung vom Ganzen zum Teil, vom Buch zum Kapitel und von da zum Abschnitt und dem einzelnen Satz die Einheitlichkeit des Riesenwerkes bezeugt, hat seine Entsprechung in der künstlerischen Darstellung und im Stil. Anschauliche Schilderungen Roms, Konstantinopels, der Germanen, Hunnen, Araber beleben den Bericht des großen Weltgeschehens. Zusammenfassungen wie die Darstellung der persischen Religion und die von Bayleschem Geiste berührte Erörterung der christlichen Häresien, insbesondere der arianischen Streitfrage, der verschiedenen Inkarnationslehren und des Bildersturms vollenden das kulturgeschichtliche Gesamtbild. Gibbon dachte in Jahrhunderten und Herrschergeschlechtern, er liebte die großen Räume und Massen, die gewaltigen Häufungen und den östlichen Prunk. Dementsprechend liebte er auch stilistisch einen langen Atem, die großen und langen Worte und die prunkhafte Einkleidung alltäglicher Dinge und Gedanken. Seine Sätze wurden langsam unter stetem Sich-Vorsprechen geformt, sie sind kunstvoll zu langen, dem Latein nachempfundenen Perioden verknüpft, die aber im Gegensatz zum scharfen Taktieren der Johnsonschen Sätze einen unaufhaltsam weiterwogenden Rhythmus besitzen. Im Stil wie in der Gesamtauffassung schuf Gibbon ein Werk eigener Art, das auch Schiller als seinen Begriff der Universalhistorie erfüllend anerkannte. In England kann ihm trotz der reichen Nachfolge von George Lyttelton, Adam Ferguson und William Mitford bis zu John Lingard, Sharon Turner und Henry Hallam höchstens Macaulay verglichen werden.

III. DAS D R A M A 1 1. Lustspiel und Posse Im Zeitalter der Königin Anna, welche die Vorliebe der Stuarts für die Bühne nicht teilte, mischten sich wieder Bürgerliche ins Theaterpublikum, dessen 1

A. Nicoli, History of Early 18th Century Drama, 2 Bde. (Cambr., 1925); ders., History of Late 18th Century Drama, 2 Bde. (Cambr., 1927) [grundlegend]; G. H. Nettelton, Engl. Drama of the Restoration and 18th Century (N. Y., 1914); F. S. Boas, An Introduction to 18th Century Drama, 1700-1800 (Oxf., 1953); E. Bernbaum, The Drama of Sensibility: A Sketch of the History of Engl. Sentimental Comedy and Domestic Tragedy 1696-1780 (Boston/Lo., 1915); F. W. Bateson, Engl. Comic Drama 1700-1890 (Oxf., 1953); L. Hughes, The Drama's Patrons: A Study of 18th Century London Audience (1971); C. Price, Theatre in the Age of Garrick (Oxf., 1973). - Textsammlungen: Bell's British Theatre, 36 Bde. (1791-1802); Mrs. Inchbald, The British Theatre, 25 Bde. (1808); dies., The Modern Theatre, 10 Bde. (1809); R. Cumberland, The British Drama, 14 Bde. (1817); 18th Century Plays in EL; Burlesque Plays of the 18th Century, ed. S. Trussler (Oxf., 1969).

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regen, wenn auch uneinheitlichen Wünschen ein vielseitiges, aber meist für den Tag bestimmtes Angebot der Dramatiker entgegenkam. Das Lustspiel blieb im Vordergrund unter Betonung der bereits in den 'manners'-Stücken von Vanbrugh und Farquhar deutlichen possenhaften und empfindsamen Züge. Die Vorliebe für Possen, die in den dreißiger Jahren mit den, ernsten Stücken nachgesetzten, 'afterpieces' ihren Höhepunkt erreichte, und der auch Arbuthnot, Gay und Pope in dem gemeinsam verfaßten Three Hours after Marriage2 (1717) ihren Beitrag zollten, ließ die literarische Satire von der Art des Buckinghamschen Rehearsal neu aufleben. Fieldings Tom Thumb3 folgten Henry Careys Chrononhotonthologos* (1734) und andere übermütige Stükke bis zu Sheridans The Critic (gedr. 1781, s. S. 550). Der Spott, der in diesen Burlesken ausgegossen wurde über schwülstige Trauerspiele und die durch Schauprunk, Tanz und Pantomime entarteten Opern, fand den künstlerisch reizvollsten Ausdruck in der Beggar's Opera5 (1728) von JOHN GAY (s. S. 483). Gay erweiterte die in Komödien üblichen Gesangseinlagen zu einem ganz aus Liedtexten mit begleitender Prosa bestehenden Singspiel. Seine Opernparodie erhielt mit der ins Verbrecherviertel Londons verlegten Handlung eine revolutionäre Färbung. Das freche, geschickte und widersprechende Empfindungen durcheinanderwirbelnde Stück hatte einen durchschlagenden Erfolg, und die neue Gattung der 'ballad-operas' wurde Mode. Gay selbst schrieb eine Fortsetzung Polly (1729), deren politische Anspielungen ihm zwar Walpoles Verbot, aber doppelte Publikumsgunst eintrugen. Colley Cibber6 folgte mit Danton and Phillida (1729), Fielding mit The Welsh Opera, or The Grey Mare the Better Horse (1731), Henry Carey mit The Dragon of Wantley (1737) und Robert Dodsley7 mit The King and The Miller of Mansfield (1737) und The Blind Beggar of Bethnal Green (1741). Ende der dreißiger Jahre verebbte die Mode, empfindsame Züge mischten sich ein (Careys Nancy, or the Parting Lovers, 1739); und als Sheridan ein Menschenalter später die Gattung wieder aufnahm (The Duenna, 1775), war das Singspiel zur Operette geworden. Sie wurde von Isaac Bickerstaffe8 (1753? 2

edd. R. Morton and W. M. Peterson (Painsville, O., 1962). ed. J. T. Hillhouse (New Haven, 1918; repr. St. Clair Shores, Mich, 1971); auch in EL u. WC; The Author's Farce, ed. C. B. Woods (1966). 4 Carey, Dramatic Works (1743). 5 The Plays of J. G., 2 Bde. (1923); Singspiele, ed. G. Sarrazin (Heidelberg, 1898); Beggar's Opera, ed. McLeod (1921) [mit Noten]; ed. F. W. Bateson (1934); J. G., The Beggar's Opera: A Critical Edition (Ph. D. Thesis, Yale Univ, 1966); edd. E.V. Roberts and E. Smith, RRestDS. (1969). - W. E. Schultz, G.'s Beggar's Opera (New Haven, 1923); W. H. Irving, J. G.: Favorite of the Wits (Durham, N. C., 1940; repr. N. Y., 1962); S. M. Armens, J. G.: Social Critic (N. Y./Lo., 1966); G. Stratmann in: Das engl. Drama, ed. D. Mehl, 2 Bde. (Düsseldorf, 1970), Bd. II, S. 46-70. - S. auch S. 483, Anm. 11. 6 S. S. 546, Anm. 20. 7 Blind Beggar, letzte Aufl. (Glasgow, 1761); Miller in: Collection of Farces and Afterpieces, ed. Mrs. Inchbald, 7 Bde. (1815). - Vgl. R. S. Strauss, R. D.: Poet, Publisher, and Playwright (1910) [mit Biographie]. 8 Love in a Village in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 17, und Bell's Brit. Th, Bd. 13; Maid of the Mill in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 17, Bell's Brit. Th., Bd. 8, Cumberland, Bd. 8. 3

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bis 1812) weiter gefestigt (Love in a Village, 1763; Love in the City, 1767; The Maid of the Mill, 1765) und dem 19. Jahrhundert vererbt, in dem sie mit Gilbert und Sullivan nochmals die alte Anziehungskraft erreichte. Dem Singspiel Gays und Careys gegenüber konnte sich die aufs Wort gestellte Posse erst mit DAVID GARRiCK9 (1717-79) behaupten. Seine mit der Bühnenkenntnis des Schauspielers gebauten 'afterpieces', unterstützt durch die Gabe leichten Reims in den eingestreuten Liedern, war ab 1742 Erfolg beschieden (The Lying Valet, 1742; Miss in Her Teens, 1747; The Irish Widow, 1772). Die hochentwickelte Schauspielkunst, deren Vertreter sich in Garricks Briefwechsel ein Stelldichein geben, mußte in so flott geschriebenen Possen wie Double Deceit, or The Cure for Jealousy (1735) von William Popple10 mit den Herrschaft und Dienerschaft vertauschenden Doppelrollen und dem ähnliche schauspielerische Aufgaben stellenden, lange unter Garricks Namen gehenden High Life below Stairs (1759) von James Townley11 Beifallsstürme hervorrufen. Vielfach findet man Schauspieler als Verfasser, die auch als Bühnenautoren Erfolg einheimsten: außer Garrick Susannah Centlivre12 (The Busy Body, 1709; A Bold Stroke for a Wife, 1718), Charles Macklin13 (Love a la Mode, 1759; The Man of the World or The True-Born Scotchman, 1766) und vor allem die im 5. Jahrzehnt hervortretenden SAMUEL FooTE14 (1720-77) und Arthur Murphy 15 (1727-1805). Footes boshafte und oft gewöhnliche Stücke sind ein Bilderbuch von Londoner Sonderlingen, Sitten und Unsitten. Ob er satirische Possen schreibt (The Author, 1757; The Bankrupt, 1776; A Trip to Calais, umgearbeitet als The Capuchin, 1778), die Figuren des Frankreichhassers und des englischen Französlings auf die Bühne bringt (The Englishman in Paris, 1753; The Englishman returned from Paris, 1756), oder Kulturanmaßung verspottet (The Patron, 1764; The Nabob, 1778) und ausgelassen lacht (The Liar, 1764), immer ist er durch starken Bühnensinn ausgezeichnet. Gewiß ist vieles verblaßt wie die zeitgenössische Wahlgeschichte The Mayor of Garrat t (1764), aber Stücke wie The Maid of 9

Dramatic Works, 3 Bde. (1798; repr. Amersham, 1969); Lying Valet u. Miss in Her Teens in: Inchbald, Coll. of Farces, Bd. 4; Irish Widow, ibid., Bd. 5. - Private Correspondence, 2 Bde. (1831). Diary, ed. R. C. Alexander (N. Y., 1928). - Biogr. v. M. Barton (1948); v. C. Oman (1959) [Standard]; vgl. C. Price, Theatre in the Age of Garrick (Oxf., 1973). 10 Kein Neudruck. 11 In: Inchbald, Collection of Farces, Bd. 5. 12 Dramatic Works, 3 Bde. (1872) [einzeln: Busy Body in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 16, Cumberland, Bd. 10; Bold Stroke in Inchbald, Brit. Th., Bd. 12, Cumberland, Bd. 10]. 13 Love ä la Mode in: Inchbald, Coll. of Farces, Bd. I; Man of the World in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 14; True-born Scotchman 1766 u. o. 14 Works, ed. J. Bee [= Badcock], 3 Bde. (1830) [einzeln: Author and the Old Maid, in: Inchbald, Collection of Farces, Bd. 7; Minor, Mayor of Garratt, The Liar, ibid., Bd. 5], 15 Works, 7 Bde. (1786) [einzeln: Way to Keep Him, in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 15, Bell's Brit. Th., Bd. 17, u. ed. A. Nicoll (Oxf., 1926); Apprentice in: Inchbald, Collection of Farces, Bd. 3; Citizen ibid., Bd. 4]; The Way to Keep Him and Five other Plays, ed. J. P. Emery (N. Y., 1956).

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Bath (1778) und The Minor (1760) sind trotz solch persönlicher Anspielungen lebendig geblieben. Das gilt auch für manche der Stücke von ARTHUR MURPHY. Sein The Way to Keep Him (1760), der Ehemänner und Ehefrauen zur guten bürgerlichen Sitte zurückfinden läßt, gehört zu den besten Lustspielen der Zeit. Selbst der nur in Zitaten redende bühnenwütige Apprentice (1756), der Murphys erster Theatererfolg war, hat nicht allen Witz eingebüßt, und das Bühnengeschick der nur für den Tag geschriebenen Farcen ist unleugbar (The Citizen; The Old Maid usw.). Literatur ist das nicht, aber zugkräftiges Theater, und die Zahl der Talente ist erstaunlich. Benjamin Hoadlys unverschämt lustiger Suspicious Husband^6 (1747), Edward Moores Intrigenkomödie Gil Blas11 (1751), Bickerstaffes The Hypocrite (1769) u. ä. lesen sich heute noch gut. Andere Stücke vermitteln zumindest ein fesselndes kulturgeschichtliches Bild wie Dodsleys Lustspiel Toyshop (1735), das die städtische Gesellschaft geißelt, und das dramatische Werk von GEORGE COLMAN D. Ä.18 (1732-1794). Seine Leihbibliotheksverspottung Polly Honey combe (1760) ist aufschlußreich für den Lesegeschmack der Zeit, und seine Figuren aus der Londoner Bürger- und Geschäftswelt haben das wirkliche Leben des damaligen Bürgertums bewahrt (vgl. The Jealous Wife, 1761; The English Merchant, 1767; The Man of Business, 1774 und besonders The Clandestine Marriage, 1766). Alle diese Stücke sind technisch gut, alle haben sie das Lachen zum Ziel und vermeiden empfindsame Töne.

2. Die empfindsame Komödie19 Empfindsamkeit jedoch, verbunden mit Rücksichtnahme auf die sittlichen Werte des zunehmend bürgerlichen Theaterpublikums, war das Hauptmerkmal der literarischen Ansprüche erhebenden Komödie geworden. Seit Collier sich zum Sprecher des grollenden Bürgertums gemacht hatte, wurde das leichtfertige Spötteln der gefühllos-witzigen Comedy of Manners vermieden. Schon Stücke wie Shadwells The Royal Shepherdess (1669), Ravenscrofts Dame Dobson (1683), Southernes The Disappointment (1684), manche Lustspiele von Aphra Behn und das ihre Art aufnehmende Stück The Gamester (1705) von Mrs. Centlivre hatten Fragen der Sittenlehre auf die Bühne gebracht; und COLLEY CiBBER20 (1671-1757), dessen zwei Zeitalter verbindende Rolle 16

In: Inchbald, Brit. Th., Bd. 13, Bell's Brit. Th., Bd. 4, Cumberland, Bd. 3. In: Poems, Fables, and Plays (1756; repr. Amersham, 1969), u. in: The Dramatic Works (1788). 18 Dramatic Works, 4 Bde. (1777) [einzeln: Jealous Wife, in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 16, Bell's Brit. Th., Bd. 20, u. WC; English Merchant in: Inchbald, Modern Th., Bd. 9; Clandestine Marriage, in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 16, Bell's Brit. Th., Bd. 14, u. EL). Biogr. v. E. R. Page (N. Y., 1935). 19 E. Bernbaum, Drama of Sensibility (Cambr., Mass., 1915); J.W. Krutch, Comedy and Conscience after the Restoration ( . ., 1924); A. Sherbo, Engl. Sentimental Drama (East Lansing, Mich., 1957). 20 Dramatic Works, 5 Bde. (1777; repr. St. Clair Shores, 1977); Careless Husband in: 17

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seine Theatererinnerungen erzählen, die von Betterton bis Garrick reichen (An Apology for the Life of Colley Cibber, 1740), entwickelte daraus das volkstümlichem Geschmack entgegenkommende Lustspiel mit moralischem Ende (Love's Last Shift, 1696). Man kann den sittlichen Wert eines Lustspiels, das zweideutige Charaktere und anstößige Handlung durch eine Nutzanwendung gutmachen will, in Zweifel ziehen, aber in der „moralisch" wirkenden Figur des Sünders mit gutem Herzen, der fehlt, verurteilt wird und schließlich Verzeihung erlangt, liegt der Ursprung der empfindsamen Komödie. Ihre Mitleidslehre und ihr Vertrauen auf die Güte der menschlichen Natur lebt von dem Humanitätsglauben der klassizistischen Zeit. Vorbild und Muster dieser Komödie ist Gibbers Careless Husband (1704), dessen Held seine Frau vernachlässigt und ein doppeltes Verhältnis mit deren Zofe und Lady Graveairs unterhält. Er bereut schließlich, da er seiner Gattin Güte als nicht auf Unkenntnis seiner Treulosigkeiten, sondern auf Tugend und Pflichtgefühl beruhend erkennt. Die Sünderin Lady Modish wird, durch Eifersucht zu einem bürgerlichen Ehebund mit Lord Morelove gebracht, während der Frauenheld Lord Foppington leer ausgeht. Immer wieder machte sich Cibber zum Anwalt des Friedens und Glücks in der Ehe. Auch The Lady's Last Stake (1707) predigte, daß Liebe, nicht Eifersucht, die Gattin an den Gatten binde, und noch im Provoked Husband, or a Journey to London (1728) bewahrte er mit viel Lärm die Keuschheit der Dame. Cibber, der den Poeta laureatus ebensowenig verdiente wie den Thron der Dunces, war kein humorloser Mensch, und unbeschadet dieser Sittenpredigten sind seine bühnenkundigen Lustspiele nicht langweilig, sie versuchen wenigstens, die Lehre nicht vorzutragen, sondern dramatisch darzustellen. Erfolgreicher darin war Cibbers Bundesgenosse im empfindsamen Feldzug, Sir RICHARD STEELED (s. S. 509), dessen Komödien The Funeral, or Grief a la Mode (1701), The Lying Lover, or the Ladies Friendship (1703), The Tender Husband, or The accomplished Fools (1705) nicht so sehr geschickt gezimmerte und zu vorgezeichnetem Ende laufende Theaterstücke sind als überzeugende Darstellung des festen Glaubens an häusliches Glück, an Treue, Liebe und die Güte des menschlichen Herzens. Gerade deshalb löste Steele die Komödie nahezu auf, denn solches Ersetzen der komischen Kraft durch ethische Werte verschob den Ton vom Lachen auf Mitleid und Entrüstung. Auch sein letztes auf Terenz' Andria gegründetes Stück The Conscious Lovers (1722) gönnte der Heiterkeit weniger Raum als den Angriffen auf Geldheirat, Zweikampfunwesen, Fehler der Rechtsprechung, leichtfertige Denkart u. a. m. Inchbald, Brit. Th., Bd. 9, Bell's Brit. Th, Bd. 18, Cumberland, Bd. 6. - Apology, ed. R. W. Löwe, 2 Bde. (1889) u. in EL; ed. B. R. S. Föne (Ann Arbor, Mich., 1968). Vgl. F. D. Senior, Life and Times of C. C. (1928); D. M. E. Habbema, An Appreciation of C. C. (Amsterdam, 1928; repr. N. Y., 1967) [in beiden Abdr. v. The Careless Husband]. 21 Dramatic Works, ed. G. A. Aitken, MS (1894, 1903); The Plays of R. S., ed. S. S. Kenny (Oxf., 1971).

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In dieser schon die Grenze zum ernsten Drama berührenden Form griffen die Franzosen die sentimentale Komödie auf und entwickelten sie durch Steigerung der gesellschafts- und sittenkritischen Zwecke zur Zwischengattung des 'drame', das John Kelly22 mit der Destouches-Bearbeitung The Married Philosopher (1732) in England ein- oder wiedereinführte. Daraus erfolgten neue Themenstellungen wie der Einspruch gegen eine überspannte Eheauffassung in Mrs. Elizabeth Griffiths 23 Platonic Wife (1765) oder die Frage, ob man einem sittlich minderwertigen Herrn die Treue schulde in School for Rakes (1769) von derselben Verfasserin; im allgemeinen beschränkte man sich aber darauf, mehr rührende Szenen als scharfe Wirklichkeitsbeobachtung zu bieten und die für edelmütige Reden und Taten unbrauchbaren Gestalten aus dem niederen Volke durch künstlich zurechtgemachte Figuren zu ersetzen. HUGH KELLY24 (1739-77) hatte großen Erfolg mit False Delicacy (1768), dessen drei schlecht zusammenpassende Liebespaare durch übergroßes Zartgefühl mit sich nicht ins reine kommen können und statt befreiender Heiterkeit beim Zuschauer die Überzeugung hervorrufen möchten, daß die Bühne eine Schule der Tugendlehre sei. Dabei wird dem sittlichen Empfinden Gewalt angetan durch die ein gutes Ende herbeizwingende, unverdiente Verzeihung, die z. B. Kellys School for Wives (1773) entstellt, oder die Handlungsträger werden unwahr wie der zum Schlüsse edelmütig werdende Schürzenjäger in A Word to the Wise (1770). Auch ohne solche Verbiegungen neigte das edelmütige Spiel zur Verzerrung: William Whiteheads School for Lovers25 (1762) zeigt einen reichen, ältlichen Herrn, der in edlem Verzicht seiner jugendlichen Braut einen anderen Gatten suchen will, was diese dann zum Geständnis ihrer uneigennützigen Liebe bringt. Der Geschmack der Zeit Richardsons ertrug dergleichen, und RICHARD CUMBERLAND 26 (1732-1811) setzte die Art Kellys einfach fort, obwohl er ein guter Beobachter war und Menschen und Auftritte wohl lebendig machen konnte. Sein Ziel, das die etwas eitlen und planlosen Erinnerungen (Memoirs, 1806/07) ebenso enthüllen wie die schwerfälligen, Fielding nachahmenden Romane (Antndel, 1789; Henry, 1795), war die unterhaltsame Darstellung liebenswerter Charaktere und die Ehrenrettung derer, die Zielscheiben des Lustspielspottes gewesen. So gewann er in The Brothers (1769) dem Pantoffelhelden Anteilnahme und machte die 22

Keine Neudrucke. Keine Neudrucke. 24 Works with Life (1778); School for Wives in: Bell's Brit. Th., Bd. 7, Cumberland, Bd. 2. - H. K. 's Roman Memoirs of a Magdalen, or: The History of Louisa Mildmay, 2 Bde. (1767; repr. in: Novels in England, 1700-1775, 1974). 25 In: Bell's Brit. Th., Bd. 7. 26 Posthumous Dramatic Works, 2 Bde. (1813). Alle gen. Dramen in Inchbald, Brit. Th., Bd. 18, u. in: Dick's Standard Plays, 1883; The Brothers außerdem in Bell's Brit. Th., Bd. 12; West Indian in Bell's Brit. Th., Bd. 19 u. EL. - Romane in: Ballantyne's Novelists Libr., Bd. 9 (1824). - Memoirs, 2 Bde. (N. Y., 1807); ed. H. Flanders (Philad., 1856). - Biographie von S. T. Williams (New Haven, 1917) [mit Bibliographie]. 23

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Frau unliebenswert, im vielgespielten West Indian (1771) trat er für den Neureichen ein und in The Jew (1794) für die verunglimpften Juden. Überall siegt die Tugend, die oft mehr im rauhen Pflanzerleben zu Hause ist als in bildungsstolzen städtischen Kreisen, sie strahlt rührend aus den zur Belebung der Familiendarstellung eingeschalteten Bildern aus der Gosse; und gelegentlich erinnert die Zeichnung der guten, schlichten Seele an das Wiener Volksstück. Aber die Wirklichkeit ist zu sehr versüßt. Auch The Wheel of Fortune (1795), das den stärkeren Farbenauftrag Kotzebues anwendet, wird durch die Künstlichkeit der Gefühle und Unwahrheit der Charaktere entstellt. Dies, sowie das verlorene Lachen führte das Ende der empfindsamen Komödie herauf. 1772 forderte Goldsmith in seinen Essays on the Theatre, or A Comparison between Laughing and Sentimental Comedy, daß die Komödie unterhaltsam sei, und in diesem Sinne suchten bescheidenere Talente den früheren lustigen Ton neu zu beleben, wie General John Burgoyne27 in Maid of the Oaks (1774) und The Heiress (1786) und Mrs. Hannah Cowley28 in The Belle's Stratagem (1780), A Bold Stroke for a Husband (1783) und der Intrigenkomödie The Town Before You (1794). Auch Thomas Morton (1764-1838: Speed the Plough,29 1798) und die begabten, im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts die Bühne beherrschenden George Colman d. J.30 (1762-1836: The Heir at Law, 1791; The Poor Gentleman, 1802) und John O'Keeffe31 (1746-1833: Wild Oats, 1791) fügten sich dem herrschenden Brauch. Eine wirkliche Blüte des Lustspiels im 18. Jahrhundert ist jedoch nur an die Namen Goldsmith und Sheridan geknüpft.

3. Goldsmith und Sheridan OLIVER GOLDSMITH,32 der mit dem Essay über den Verfall der schöngeistigen Gelehrsamkeit und der Vorrede seines ersten Lustspiels den Kampf gegen die empfindsame Komödie aufgenommen hatte, wandte sich nicht gegen das Gefühl an sich, sondern gegen die rührselige Empfindelei, wie sie die comedie larmoyante im Gefolge Nivelle de la Chaussees auch auf der englischen Bühne üblich gemacht hatte. Titel und Handlung des Goodnalur'd Man (1768) haben noch genug davon, und die abschließenden Tugendausführungen des Helden Honeywood erinnern vollends an den bekämpften Stil der 27

Dramatic and Poetical Works, 2 Bde. (1808; repr. Delmar, N. Y., 1977); Maid of the Oaks in: Inchbald, Collection of Farces, Bd. 6. 28 Works, 3 Bde. (1813); Belle's Stratagem u. Bold Stroke in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 19. 29 In: Inchbald, Brit. Th., Bd. 25, u. WC. 30 Dramatic Works, 4 Bde. (Paris, 1827); Poor Gentleman u. a. Stücke in: Inchbald, Br. Th., Bd. 21. - Biogr. v. J. F. Bagster-Collins (N. Y., 1946). 31 Dramatic Works, 4 Bde. (1798); Wild Oats u. a. Stücke in: Inchbald, Br. Th., Bd. 22 (vgl. auch: Inchbald, Collection of Farces, Bd. 2); Wild Oats, ed. C. Williams (1977) [Hereford Plays]. 32 S. S. 530, Anm. 22; She Stoops to Conquer, ed. A. N. Jeffares (1965). - Vgl. A. N. Jeff ares, A Critical Commentary on G.'s She Stoops to Conquer (1966).

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Kelly und Cumberland. Vorherrschend ist aber gesunde Heiterkeit und natürliches Empfinden. Dafür konnte sich Goldsmith mit Recht auf Colman d. Ä. (s. S. 546) berufen, der, von Hogarths Marriage a la Mode-Bildern angeregt, in The Clandestine Marriage' ein lustiges Sittenstück geschrieben und die Fieldingsche Figur des Squire Western in The Jealous Wife' auf die Bühne gebracht hatte. Verstehender Humor sollte, ähnlich wie es kurz zuvor Fielding in seinen Romanen getan hatte, den in jedem Menschen steckenden Kern des Menschlichen hinter den verkrusteten Masken des Allzu-Menschlichen sichtbar machen. Auch Figuren aus den unteren sozialen Schichten, deren Verspottung für längere Zeit verpönt gewesen war, erlebten ihre Wiedereinführung ins Lustspiel. Gewiß zeigten Handlung und Dialog dieses Erstlings noch Schwächen; sowie Goldsmith aber in She Stoops to Conquer (1773) die Bühnenerfordernisse meisterte, bewies er eine Congreve verwandte komische Kraft. Die Welt dieses Lustspiels ist weiter und menschlich freier als die eng eingekreiste der Comedy of Manners, und wenn auch Dr. Johnson die Verwechslung des schwiegerväterlichen Landsitzes mit einem Wirtshaus als der Farce nahe bezeichnete, so stehen Figuren wie Hardcastle, Diggory und der dem Falstaffgeschlecht angehörige Tony Lumpkin in einer ganz anderen Welt. Die den Handlungsablauf auslösende Possensituation wird nicht als solche empfunden, weil die Frage nach Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit nicht gestellt wird in einem Spiel, das wie Shakespeares romantische Komödien dem freien Walten der Phantasie gehorcht. Noch wirkungsvoller in der Abwehr der empfindsamen Schule war die im übrigen von Goldsmith völlig verschiedene Komödie RICHARD BRINSLEY SHERiDANs33 (1751-1816). Seine Rivals (1775) bedeuteten eine im Congreveschen Geiste vollzogene Vereinigung einer empfindsamen Intrigenhandlung mit schon durch die Namen herausgestrichenen 'humours' (Sir Anthony Absolute, Sir Lucius OTrigger, Lydia Languish, Mrs. Malaprop). Wenn diese Zusammenfügung kein einheitliches Kunstwerk ergab, was gerade die Vorzüglichkeit einzelner Szenen verrät, so war durch die scharfe, klare Luft der Restaurationskomödie doch eine alle Szenen verbindende Stimmung geschaffen, deren Herzenskälte allerdings stärker als Goldsmiths Humor das Possenhafte hervortreten ließ. Der unmittelbare Theatererfolg blieb Sheridan auch bei seinen anderen Werken treu, von der Farce St. Patrick's Day (1775), der Balladenoper The Duenna (1775) und der Vanbrughbearbeitung A Trip to Scarborough (1777) bis zur der Literatursatire The Critic, or A Tragedy Rehearsed (1779) und der Kotzebuebearbeitung Pizarro (1799); den künstlerischen Höhepunkt bedeutete aber die bis heute auf dem Spielplan gebliebene School for Scandal (1777). Trotz des moralischen Zieles, gesellschaftliche 33

ed. R. C. Rhodes, 3 Bde. (Oxf., 1928; repr. N. Y., 1962); ed. I. A. Williams, (1926); ed. J. Knight (Oxf., 1906); auch in EL u. WC.; ed. C. Price, OSA (Oxf., 1975). - Speeches, 3 Bde. (1842; repr. 1969). - Letters, ed. C. Price, 3 Bde. (Oxf., 1966). - W. Sichel, S., 2 Bde. (1909); R. C. Rhodes, Harlequin S.: The Man and the Legends (Oxf., 1933); L. Gibbs, R. B. S.: His Life and Theatre (1947); W. A. Darlington, S., 1751-1816 (1951); M. Bingham, S.: The Track of a Comet (1972).

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Lüge und Heuchelei bloßzustellen, fehlt der Lästerschule alle Predigtbeschwerung, weil wie bei Congreve das Komische nicht im Menschen, sondern nur in seinem gesellschaftlichen Gebaren gesehen wird und ein beständiges Funkeln des immer geistvollen Witzes die rasche und leichte Handlungsführung begleitet. Es ist die letzte Äußerung klassizistischen Geistes in einer bereits unter anderen Leitsternen stehenden Zeit.

4. Die klassizistische Tragödie Gegenüber der oft sprudelnden Lebendigkeit der Komödie wirkt die Tragödie des 18. Jahrhunderts verstaubter, trotz Garricks Theaterbemühungen und trotz eines reichen und vielerlei versuchenden dramatischen Schaffens. Das Tragische hatte im Weltbild der Aufklärung keinen Platz, weil es auf der Annahme der Möglichkeit von Konflikten beruht, deren Wurzeln im Bereich des Metaphysischen zu suchen sind. Philosophie und Theologie der Aufklärung neigten dazu, das Böse aus der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu erklären und die Schicksalhaftigkeit menschlichen Handelns und Leidens zu leugnen. So reduzierte sich die Thematik der Tragödie häufig auf die Darstellung heroischen, moralischen oder politischen Verhaltens. Das Theater wurde zur moralischen Anstalt. Dennoch ist das ernste Drama ein besserer Ausdruck des klassizistischen Kunstwollens als die nur dem Tagesbedürfnis dienende Komödie, deren literarische Bedeutsamkeit auf die Betonung der Empfindsamkeitsrichtung beschränkt blieb. Die Zahl der bedeutenden Dramen ist gering, um so mehr als die von Dryden und Otway vererbte Form des englischen Blankversdramas nur einzelne Nachzügler fand. Charles Gildons Love's Victim (1701) läßt das Vorbild Otways deutlich erkennen, macht aber, da Gildon strenger Klassizist war, einen künstlerisch unbefriedigenden Eindruck. In ähnlicher Weise ist John Dennis' Rinaldo and Armida (1699) eine Kreuzung zwischen Oper und Tragödie. Fortan versuchten sich die Dramatiker nur vereinzelt in heroischen Dramen, wofür Colley Gibbers Drydennachahmung Xerxes (1699) und Alexander Fyfes The Royal Martyr, or King Charles I (1705) Beispiele sind. Doch im Gefühl, daß im englischen heroischen Drama keine großen Leistungen gezeitigt wurden, überließ man sich nun völlig dem Vorbild des französischen Klassizismus. Der erste entscheidende Schritt war Ambrose Philips'34 ausgezeichnete Racinebearbeitung The Distrest Mother (1712). Ein Jahr darauf folgte Addisons begeistert aufgenommener Cato, womit die klassizistische Richtung sich durchsetzte. Alle dieser Richtung zuzurechnenden Dramen erklären nach dem Muster der Alten die Einheiten für verbindlich - mit gelegentlich zugelassenen Erleichterungen -, sie beschränken den Szenenwechsel und ebenso Nebenhandlungen und Personenzahl. Die als Richtschnur verkündeten Leit34

Three Tragedies (1725); Distrest Mother in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 7., Bell's Brit. Th., Bd. 6, Cumberland, Bd. 11.

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begriffe 'decency, propriety, order, common sense' führten dazu, daß an die Stelle der in der französischen Tragödie beliebten leidenschaftlichen Reden und Wortgefechte Texte von rationaler Klarheit und Ausgewogenheit traten. Die Handlungsdauer wurde entsprechend gekürzt. Allerdings wurde auch im klassizistischen Drama die heimische Tradition nicht ganz verdrängt. Obwohl beispielsweise Mord, Gewalt und Blut gemäß der Vorschrift des Horaz und dem Prinzip des Decorum auf der Bühne nicht dargestellt werden durften, verlegte man die entsprechenden Szenen auf die halb vom Vorhang verdeckte Hinterbühne und ließ gleichzeitig mittels Botenbericht oder Mauerschau von ihnen auf der Vorderbühne berichten. Bei den vom Publikum geliebten Kampfszenen verfuhr man nicht viel anders. Wenn nun JOSEPH ADDisoNs35 Cato (1713) solchen Erfolg erlangte, daß er wie von Gottsched ins Deutsche, so in fast alle europäischen Sprachen übersetzt wurde, so lag das nicht ausschließlich an den künstlerischen Werten. Der leidenschaftslose Dialog ist streckenweise öde, und die gemäß dem Liebe-Ehre-Konflikt der heroischen Tragödien eingesprengten Liebesszenen (des Catobewunderers Juba Liebe zu Catos Tochter Marcia und die in einer Freundschaft-Liebe-Spannung endende Neigung der zwei verschieden gearteten Söhne Catos zu Lucia) sind ebenso blaß wie die moralische und politische Grundsätze verkörpernden Hauptfiguren. Aber der Sinn des Stücks lag in erster Linie in der republikanischen Gesinnung, die es verkündete. Es war ein politisches Propagandastück im Sinne der Whigs, das vor dem Hintergrund der kurzen, von 1710 bis zum Tode Queen Annes (1714) dauernden Tory-Herrschaft gesehen werden muß. Addison und seine politischen Freunde hielten die Freiheit im whiggistischen Sinne für gefährdet, und der Jakobitenaufstand von 1715 schien die Berechtigung dieser Sorge nachträglich zu bestätigen. Da sich die Whigs ab 1714 politisch und kulturell für mehrere Jahrzehnte durchsetzen konnten, gewann Addisons Stück dennoch eine gewisse Allgemeingültigkeit, die es zum Ausdruck des politisch-ethischen Glaubensbekenntnisses der Zeit Walpoles erhob. So konnte dies sich nur an den Verstand richtende Trauerspiel durch seine oft unbewußte Gefühlswirkung zum Tragödienmuster werden, und zusammengehend mit dem aufkommenden Einfluß Voltaires, der sich in den Übersetzungen von Aaron Hill36, dem Verfasser von Athelwold (1731), spiegelt, das dramatischere, aber nie ganz verstandene Racinevorbild verdrängen. Vergeblich suchte der seltsam ungleiche EDWARD YouNG37 (s. S. 488), sich aus den klassizistischen Fesseln zu befreien (Busiris, King of Egypt, 1719) 35

S. S. 510, Anm. 3; Dramatic Works (Glasgow, 1750); Cato in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 7, Bell's Brit. Th., Bd. 6, Cumberland, Bd. 11; auch in WC u. EL. - Vgl. H.-J. Müllenbrock, Whigs kontra Tories: Studien z. Einfluß d. Politik auf die engl. Lit. des frühen 18. Jhs. (Heidelberg, 1974). 36 Dramatic Works, 2 Bde. (1760). 37 S. S. 488, Anm. 24; Dramen in: Compl. Works, ed. J. Doran, 2 Bde. (1854; repr. Hildesheim, 1968); Revenge in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 12, Bell's Brit. Th., Bd. 8, Cumberland, Bd. 7.

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und im Othellothema mit Shakespeare zu wetteifern (The Revenge, 1721); sicheren Boden fand er erst in Gefolgschaft der Franzosen in der 1753 veröffentlichten Bearbeitung von Thomas Corneilles 'Persee et Demetrius' The Brothers. Auch die zahlreichen, ein melodramatisches Echo heldischer Leidenschaften wahrenden Geschichtsdramen blieben zumeist Addison und den Franzosen verpflichtet, was sich schon in den Titeln ausspricht. John Hughes,38 der Freund Addisons, schrieb The Siege of Damascus (1720). Elijah Fenton, einer der Mitarbeiter an Popes Odyssee, verfaßte eine Marianne^ (1723), Benjamin Martyn schrieb einen Timoleon40 (1730) und David Mallet41 eine Eurydice (1731). Der nächst Addison bedeutsamste Klassizist der Zeit war der Jahreszeitendichter JAMES THOMSON42 (s. S. 486), der den auch von Lee abgewandelten Stoff der Sophonisba (1730) als Racinestück geben wollte. Aber er schuf nur ein kaltes Kunstwerk, da er aus der Liebenden eine Patriotin machte, wofür diese Figur weniger geeignet sein mußte als der philosophische Cato. Auch seinen anderen klassischen Vorwürfen Agamemnon (1738) und Coriolanus (1749) fehlte es an Blut, und der Erfolg von Edward and Eleonora (gedr. 1739) und Tancred and Sigismunda (1745) beruhte auf dem „gotisch"mittelalterlichen Stoff, dessen wilderes Geschehen einer rhetorischen Leidenschaftlichkeit gemäßer war. In diesen Gegensätzen einer würdevollen Kälte (Beispiel: Dr. Johnsons Irene?3 1749) und eines ungereimten Geschehens (Beispiel: Robert Dodsleys Cleone,44 1758) bewegte sich die von Garrick ermunterte Tragödienflut nach der Jahrhundertmitte. Dazu gehören auf der einen Seite die Horatia in den Mittelpunkt stellende Corneillebearbeitung The Roman Father (1750) von William Whitehead45 und Robert Jephsons Braganza46 (1775), auf der anderen Horace Walpoles47 anspruchsvolle und durch einen Doppelinzest schrecklich sein sollende Mysterious Mother (1768) und Hannah Mores48 melodramatischer Percy (1777). Die Form ist in allen Fällen klassizistisch nach französischem Muster, nur William Mason49 nahm die griechische Tragödie mit Chören zu seinem Vorbild (Elfrida, gedr. 1752; Caractacus, gedr. 1759). 38

Poetical Works, 2 Bde., 1779; Siege of Damascus in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 10, Bell's Brit. Th., Bd. 12. 39 Letzte Aufl. (Dublin, 1760); in Bell's Brit. Th., Bd. 26. 40 Kein Neudr. 41 Works, 3 Bde. (1759): Eurydice, letzte Aufl. 1780. 42 S. S. 486, Anm. 23; Dramen in: The Works, 3 Bde. (1802); Tancred, in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 13, Bell's Brit. Th., Bd. 14, Cumberland, Bd. 12. 43 S. S. 534, Anm. 28. 44 In Bell's. Brit. Th., Bd. 5. 45 S. S. 548, Anm. 25; Roman Father in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 14 u. Bell's Brit. Th., Bd. 3. 46 In: Inchbald, Mod. Theatre, Bd. 6 (vgl. auch Brit. Th., Bd. 20). 47 S. S. 539, Anm. 35; ed. M. Summers (1924) [zus. mit Castle of Otranto]. 48 Works, 11 Bde. (1830); 6 Bde. (1833/4); Percy in: Inchbald, Mod. Th., Bd. 7. - Vgl W. Roberts, Memoirs of the Life and Correspondence of H. M., 4 Bde. (31838); M. G. Jones, H. M. (Cambr., 1952). 49 S. S. 491, Anm. 30; Elfrida (Edinb., 779); Caractacus (York, 1777) [letzte Auflagen].

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5. Das bürgerliche Trauerspiel Wie die lebensferne heroische Tragödie im 17. Jahrhundert führte auch die klassizistische Tragödie des 18. Jahrhunderts zu künstlerischer Unwahrheit, und wie damals das Dryden-Otwaysche Blankversdrama eine englischer Art gemäßere Kunst einleiten wollte, so suchte jetzt die von NICHOLAS RowE50 (1674-1718) ausgehende pathetische Schule ein stärkeres menschliches Mitfühlen zu erreichen. Schon die Vorrede seines schwachen Erstlings The Ambitious Stepmother (1700) erklärte die Absichten des Dichters und den Publikumserfolg; Rowe berief sich auf Otway, dessen Blankversmuster das Stück übernahm, und auf Banks, dessen 'she-tragedy' mit der in den Vordergrund gestellten weiblichen Titelfigur er fortführte. Daß dies in neuem Geiste geschah, bewies The Fair Penitent (1703), das Massingers Fatal Dowry vollständig umgestaltete, indem der Nachdruck auf den bemitleidenswerten Kampf einer Frauenseele gelegt ist: Calista, das Opfer Lotharios und die Verlobte des ahnungslosen Altamont, wird von Reue und geteilter Liebe zerrissen und stirbt, als ihr Liebhaber die Wahrheit erkannt und den Verräter getötet hat. Von diesem, dem bürgerlichen Trauerspiel schon nahestehenden Stoff wandte sich Rowe in Anlehnung an Shakespeare zu englischen Geschichtsstoffen, die er mit seiner Gabe für rührende Szenen und ebenfalls unter Betonung der weiblichen Heldin volkstümlich gestaltete (The Tragedy of Jane Shore, 1714). Als Rowe in seinem letzten Stück The Tragedy of Jane Grey (1715) die bis dahin mangelnde Abstufung der Charaktere meisterte und zu der Mitleidshandlung eine politische in der Gegenüberstellung der protestantischen Jane und der katholischen Maria hinzufügte, war er der künstlerisch angesehenste und beliebteste Dramatiker. Er gab den Anstoß zur Wahl der vaterländischen und geschichtlichen Themen (vgl. Ambrose Philips51 : The Briton, 1722, und Humphrey, Duke of Gloucester, 1723; Aaron Hill52: Elf rid, 1710, und King Henry the Fifth, 1723; Henry Brooke53: Gustavus Vasa, 1739) und machte die auch von den strengen Klassizisten übernommene, um eine weibliche Hauptfigur aufgebaute Dramenart zur Mode. Seine äußerlich klassizistischen Dramen wurden durch das dramatische Ziel des Mitleids und den ausgesprochenen Theatersinn zu Wegbereitern des lebenswahren, die wirkliche Alltäglichkeit gestaltenden, bürgerlichen Trauerspiels. Auch John Home54 (1722-1808) kann wegen der erstrebten natürlichen „Sprache des Her50

Works, ed. Dr. Johnson, 2 Bde. (1792); alle gen. Stücke in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 10, Penitent auch in: Bell's Brit. Th., Bd. 3, Cumberland, Bd. 11, WC; Shore, in Bell's Brit. Th„ Bd. 3, Cumberland, Bd. l, EL; Jane Grey in Bell's Brit. Th., Bd. 15; Penitent u. Shore auch in RRestDS. - Vgl. O. Intze, N. R. (Lpzg., 1910); P. R. Kleitz, N. R.: Development of the Drama of Sympathy (Ph. D. Thesis, Univ. of Minnesota, 1967). 51 S. S. 477, Anm. 4; Distrest Mother, Briton, Humphrey, in: Three Tragedies (1725). 52 S. S. 552, Anm. 36; "Collected Works, ed. C. Brooke, 4 Bde. (1778 u. ö.); Gustavus Vasa auch in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 7. 54 Works, ed. H. Mackenzie, 3 Bde. (Edinb., 1822); Douglas in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 16; Bell's Brit. Th., Bd. 3; Cumberland, Bd. 12. - Vgl. A. E. Gipson, J. H. (Caldwell, Idaho, 1917).

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zens" in diesen Zusammenhang eingeordnet werden. Allerdings hat er nur im Douglas (1756) eine große Leistung aufzuweisen, während die Gefühlsüberladung in The Siege of Aquileia (1760) und die Ungereimtheiten der Fatal Discovery (1769) geradezu zur Parodie einladen. Inzwischen war aber schon ein neues, dem Geschmack des kaufmännischen Bürgertums entsprechendes Drama entstanden, das mit der Abkehr vom heroisch-aristokratischen Ideal auch den Vers verwarf und Themen aus der gleichen Alltagswelt wählte, aus der auch der Roman seine Stoffe bezog. Zugleich wurden die vergessenen elisabethanischen Vorbilder des bürgerlichen Trauerspiels wieder aufgegriffen. Lillo bearbeitete Arden of Feversham, und unter dem Einfluß der Yorkshire Tragedy schrieb Aaron Hill, noch im Blankvers, in The Fatal Extravagance (1721) die Geschichte eines zahlungsunfähigen Verschwenders, der seinen Gläubiger im Zweikampf tötet, die Schwester, die den Gläubiger durch ihre Hingabe befriedigen will, ersticht und schließlich sich selbst vergiftet. Dieser Verbindung von Schicksals- und Bürgertragödie lieh Charles Johnsons55 das Clarissathema vorwegnehmende Caelia, or the Perjured Lover (1732) die angemessenere Prosaform. Auf den Höhepunkt gebracht wurde diese Gattung von ihrem erfolgreichsten Vertreter GEORGE LiLLO56 (1693-1734) mit seinem London Merchant, or The History of George Barnwell (1731). Über das bürgerliche Freundschaftsidyll zweier Handlungsgehilfen im Hause des Kaufmanns Thorowgood, dessen Tochter Maria den einen der beiden, Barnwell, im stillen liebt, bricht das Verhängnis herein, als dieser die Bekanntschaft einer Dirne macht, die sein gutes Herz zu betören weiß, und unter deren Willen er seinen Dienstherrn bestiehlt und seinen Onkel ermordet. Das Schicksal geht nun seinen Weg zu Verhaftung, Gefängnis und Todesurteil. Der ganz der Rührung und Reue gewidmete fünfte Akt erreicht durch die tränenweckenden Szenen zwischen dem Verbrecher und der nun ihre Liebe bekennenden Maria die beabsichtigte moralische Wirkung. Die offensichtlichen Fehler - mangelnde Einheit, in Versrhythmus umschlagende Prosa, Schwarzweißzeichnung der Charaktere, aufdringliche Moral und widerwärtig rührselige Darstellung der Sünde traten durch die packende Bühnenwirkung wenig in Erscheinung oder wurden von der empfindsamen Zeit sogar als Vorzüge gewertet. Dies neuartige Thema befriedigte mitleidverbrämte Lüsternheit und heimliche Sensationslust ebenso, wie es Bürgerstolz und Haß gegen Bevorrechtete zum Ausdruck brachte. Es bedurfte gar nicht der Lobreden auf den Kaufmannsstand, um den Herrschaftsanspruch der bürgerlichen Schichten zu rechtfertigen; ein neues Publikum war herangewachsen, und die unbürgerliche Kunst der heroischen und klassizistischen Tragödie hatte ausgespielt. Lillos zweites bedeutsames Stück Fatal Curiosity (1736), das ein aus Armut begangenes schreck55 56

Kein Neudruck nach 1733. Works, ed. T. Davies, 2 Bde. (1810); The London Merchant u. Fatal Curiosity, ed. A. W. Ward (1906); Merchant in Bell's Brit. Th., Bd. 14, Cumberland, Bd. l ; auch in EL.

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Fünftes Buch: Der Klassizismus

liches Verbrechen zum Vorwurf hat, steht künstlerisch höher, da ihm die darüber lastende Schicksalsluft und der diesmal gewählte Blankvers eine größere Einheitlichkeit verleihen. Lillos Erfolg machte Schule, und unter den zahlreichen bürgerlichen Trauerspielen, die nun über die Bretter gingen (u. a. John Hewitt: Fatal Falsehood, 1734, und Thomas Cooke: The Mournful Nuptials, 1739), ragte EDWARD MOORES" (1712-57) an Hogarth gemahnende Geschichte eines zu Verbrechen und Tod getriebenen Glückspielers (The Gamester, 1753) durch scharfe Beobachtung, dramatische Kraft und tragische Eindringlichkeit noch über Lillo hinaus. Aber die Zeit wollte die Rührung ohne den niederdrückenden traurigen Ausgang; es reizte wohl, über The Road to Aw/«58 (1792) von Thomas Holcroft Tränen zu vergießen, der Ausgang sollte jedoch die eigene Lebensfreude nicht erschüttern. So starb das bürgerliche Trauerspiel erstaunlich schnell, und seine Anregungen wurden nicht in England, sondern in Frankreich und Deutschland zu künstlerischer Höhe weitergeführt.

"Dramatic Works (1788); Gamester in: Inchbald, Brit. Th., Bd. 14, Bell's Brit. Th., Bd. 10, Cumberland, Bd. 12. - Vgl. J. H. Caskey, Life and Works of E. M. (New Haven, 1927). 58 In: Inchbald, Brit. Th., Bd. 24, u. zahlr. Einzelausg. bis 1883 (desgl. The Deserted Daughter u. a.). Zu Holcroft s. S. 627 u. 647.

SECHSTES BUCH

DIE ROMANTIK

559 LITERATUR

B i b l i o g r a p h i e : J ä h r l i c h e Ü b e r s i c h t e n : The Romantic Movement: A Selective and Critical Bibliography, ed. D. V. Erdman (N.Y./Lo., 1980ff.) [alle Literaturen umfassend, teilweise m. Besprechungen; ab Berichtsjahr 1979]; Berichtsjahre 1936-78 in ELH (1937-49), PQ (1950-64), ELN (1965-79), daraus Zeitraum 1936-70 als Reprint in: The Romantic Movement Bibliography 1936-1970, edd. A. C. Elkins, Jr., and L. J. Forstner, 7 Bde. (Ann Arbor, Mich., 1973) [mit Index-Band]. Ergänzende Hinweise: The Wordsworth Circle (Philadelphia, 1970 ff.) [Wordsworth, Coleridge, Hazlitt, De Quincey, Lamb, Southey, Landor, J. Austen, Scott und kleinere Dichter]; Keats-Shelley Journal (N. Y., 1952 ff.), daraus Zeitraum 1950-62 in: Keats, Shelley, Byron, Hunt, and Their Circles, edd. D. B. Green and E. G. Wilson (Lincoln, Nebr., 1966). A u s w a h l : s. „Lit. geschichte"; R. H. Fogle, Romantic Poets and Prose Writers. Goldentree Bibliographies (N. Y., 1967). - H a n d b ü c h e r : E. Bernbaum, Guide through the Romantic Movement (N. Y., 21949); H. V. D. Dyson and J. Butt, Augustan and Romantics, 1689-1830 (31961) [Introduction to Engl. Lit. Series, ed. B. Dobree, Bd. III]. - Fors c h u n g s b e r i c h t e : The Engl. Romantic Poets: A Review of Research and Criticism, ed. F. Jordan (N. Y., 31972, ed. M. Raysor '1950, 21956) [Gesamtepoche, Wordsworth, Coleridge, Byron, Shelley, Keats]; The Engl. Romantic Poets and Essayists, edd. C. W. and L. H. Houtchens (N. Y., 21966) [Blake, Lamb, Hazlitt, Scott, Southey, Campbell, Moore, Landor, Hunt, De Quincey]. Für A m e r i k a : C. Gohdes, Bibliographical Guide to the Study of the Lit. of the U. S. A. (Durham, N. C., 31970) [annotierte Auswahl]; Lit. Hist, of the U. S., edd. R. E. Spiller, W. Thorp et al., 2 Bde. (N. Y., rev. 1974), Bd. II, "Bibliography" [auch zum histor. Hintergrund; Standard]; J. N. Blanck, Bibliography of Am. Lit. (New Haven, 1955 ff.) [alphabet, nach Autoren]; L. Leary, Am. Lit.: A Study and Research Guide (N. Y., 1976) [zu Lit. geschichten, Bibliographien, Quellenmaterial usw. der letzten 40 Jahre]; ders., Articles on Am. Lit., 1900-1950 (Durham, N. C, 1954; repr. 1970); ders., Articles on Am. Lit., 1950-1967 (Durham, N. C., 1970). - Jährl. Aufsatz-Bibliographien in Zeitschrift "Am. Literature", dazu T. F. Marshall, Analytical Index to "Am. Lit.", Vols. 1-30 [1929-59] (Durham, N. C., 1963). - Eight Am. Authors: A Review of Research and Criticism, ed. J. Woodress (N. Y., 21971, ed. F. Stovall, 956) [Forschungsberichte zu Poe, Thoreau, Emerson, Hawthorne, Melville, Whitman, James, Twain]; R. A. Rees and E. N. Harbert, Fifteen Am. Authors Before 1900 (Madison, 1971) [Forschungsberichte u.a. zu Bryant, Cooper, Irving, Longfellow, Lowell, Whittier]; Am. Literary Scholarship: An Annual (Durham, N. C., 1965 ff.) [Jahresforschungsberichte 1963ff.]. G e s c h i c h t e der p o l i t i s c h e n und s o z i a l e n B e w e g u n g e n : E. Halevy, Histoire du peuple Anglais au XIXe siecle, 4 Bde. (Paris, 1913 ff.), engl. Übersetzung von E. I. Watkin u. D. A. Barker, A History of the English People 1815-1915, 6 Bde. (21949); D. Thomson, England in the 19th Century (1950, 41955; Pelican History of England, Bd. VIII); J. S. Watson, The Reign of George III 1760-1815 (Oxf., 1960) und L. Woodward, The Age of Reform 1815-1870 (Oxf., 21962) [Oxf. Hist, of England, Bde. XII u. XIII]; H. Perkin, The Origin of Modern Engl. Society, 1780-1880 (1969). - S. E. Morison and H. S. Commager, The Growth of the Am. Republic, 2 Bde. (N. Y., 61969); R. R. Palmer, The Age of Democratic Revolution, 2 Bde. (Princeton, 1959-64, dt. Frankfurt, 1970) [Vgl. zw. Europa u. Am.]; A. M. Schlesinger, The Age of Jackson (Boston, 1945 u. o.); Die Vereinigten Staaten von Amerika, ed. W. P. Adams (Frankfurt, 1977). - Harvard Guide to Am. Hist., edd. O. Handlin et al. (Cambr., Mass., 1954; rev. F. Freidel and R. K. Showman, 1974); The Oxford Companion to Am. Hist., ed. T. H. Johnson (N. Y., 1966); Concise Dictionary of Am. Hist., ed. J. T. Adams (N. Y., 1963); Encyclopedia of Am. Hist., ed. R. B. Morris (N. Y., 51976) [kurze Übersichten].

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Literatur

G e i s t e s g e s c h i c h t e : W. J. Bate, From Classic to Romantic: Premises of Taste in 18th Century England (Cambr., Mass., 1946; N. Y., 1961); Backgrounds to British Romantic England, ed. K. Kroeber (1968); P. Quennell, Romantic England (1970).- M. Curti, The Growth of Am. Thought ( . ., M964); S. E. Ahlstrom, A Religious History of the Am. People (New Haven/London, 1972); H. N. Smith, Virgin Land: The Am. West as Symbol and Myth (Cambridge, Mass., 21970); R. B. Nye, The Cultural Life of the New Nation 1776-1830 (N. Y., 1960); E. Fussell, Frontier: Am. Lit. and the Am. West (Princeton, 1965); E. H. Foster, The Civilized Wilderness: Backgrounds to Am. Romantic Lit., 1817-1860 (N. Y./Lo., 1975). L i t e r a t u r g e s c h i c h t e : H. Dyson and J. Butt (s. „Bibliographie"); W. L. Renwick, Engl. Lit. 1789-1815 (Oxf., 1963) [OREL IX]; I. Jack, Engl. Lit. 1815-32 (Oxf., 1963) [OHEL X]; From Blake to Byron, ed. B. Ford (Harmondsworth, 21962) [The Pelican Guide to Engl. Lit., Bd. V, mit gut ausgewählter Bibl.]. - Romanticism Reconsidered, ed. N. Frye (N. Y., 1963) [N. Frye, M. H. Abrams, L. Trilling u. R. Wellek; letzterer stellt gegen F. O. Lovejoys These der Heterogenität die des Zusammenhangs der europ. romant. Bewegungen]; M. H. Abrams, Natural Supernaturalism: Tradition and Revolution in Romantic Lit. (N. ., 1971); M. H. Abrams, The Mirror and the Lamp: Romantic Theory and Critical Tradition (N. Y., 1953 u. ö.) [engl. Entw., Standard]; zum Vgl. zwischen dt. u. engl. Romantik S. 569, 575. - F. O. Matthiessen, The Am. Renaissance (N. Y., 1941) [grundlegend, über Emerson, Hawthorne, Melville, Thoreau u. Whitman]; The Romantic Movement in Am. Writing, ed. R. H. Fogle (N. Y., 1966); R. D. Richards, Myth and Lit. in the Am. Renaissance (Bloomington, 1978). - Gesamtdarstellungen: R. E. Spiller, W. Thorp et al. (s. „Bibliographie"); A. H. Quinn, The Lit. of the Am. People: An Historical and Critical Survey (N. Y., 1951); M. Cunliffe, The Lit. of the U. S. (Harmondsworth, 31967) [beste einband. Darstellung]; Am. Lit. to 1900, ed. ders. (1973) [Sphere Hist, of Lit. in the Engl. Language, Bd. 8]. A n t h o l o g i e n : Engl. Romantic Writers, ed. D. Perkins (N. Y., 1967 u. ö.) [beste Sammlung, mit Einführungen, Komm. u. Bibliogr.]; "Romantic Poetry and Prose", edd. H. Bloom and L. Trilling (N. Y./Lo., 1973) [Oxf. Anthology of Engl. Lit.]; "The Romantic Period", in: The Norton Anthology of Engl. Lit., edd. M. H. Abrams et al., 2 Bde. (N. Y., 3 1974), Bd. II; The American Tradition in Lit., edd. S. Bradley et al., 2 Bde. (N. Y., 4 1974); Anthology of Am. Lit., edd. G. McMichael et al., 2 Bde. (N. Y., 1974). - Documents of Am. History, ed. D. S. Commager ( . ., 973).

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DER POLITISCHE H I N T E R G R U N D DES R O M A N T I S C H E N ZEITALTERS Es verwundert nicht, daß das romantische Zeitalter durch leidenschaftliche Anteilnahme an der französischen Revolution gekennzeichnet war; denn mit dieser Umwälzung verband sich nun auch für Europa die Hoffnung auf Verwirklichung jener Menschenrechte und Freiheitsideale, die von den erlauchten Geistern der Aufklärung schon längst befürwortet worden waren und die mit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika erstmals politische Gestalt angenommen hatten. Der Glaube an den Anbruch einer neuen, besseren Zeit ließ die englischen Dichter der ersten Romantikergeneration (Wordsworth, Coleridge und ihr Kreis), für die wie für viele Zeitgenossen der Sturm auf die Bastille (1789) zum Symbol geworden war, zunächst begeistert für die französische Sache Partei ergreifen,1 und auch die Masse des englischen Volkes war ihr anfangs durchaus günstig gesonnen. Als aber die Macht von den gemäßigteren Girondisten auf die Jakobiner überging und die Schreckensherrschaft begann (1793), entstanden im englischen Bürgertum Besorgnis und Abneigung, die wohl zunächst in Befürchtungen um den eigenen Besitz begründet waren, dann aber zu einer tiefgreifenden Scheidung der Geister führten. Auch die meisten englischen Dichter wandten sich nun - obwohl wie Wordsworth nach seelischen Krisen - dem neu erstarkenden Konservatismus zu. Als BURKE (s. S. 460 ff.) gegen den ersten Minister Pitt (d. J.) und die eine Verfassungsreform begünstigenden Whigs auftrat, verkündete er mit leidenschaftlicher Beredsamkeit die neue politische Philosophie.2 Der Staat war für ihn ein in Generationen gewachsener, lebendiger Körper, so daß jede Änderung seiner Einrichtungen einen verwundenden Eingriff von unabsehbaren Folgen bedeutete, zumal wenn sie namens einer Staats- und Gesellschaftslehre erfolgte, die, den konkreten Menschen und seine überlieferte Kultur ignorierend und deshalb zutiefst gefährdend, alles aus abstrakten und radikal vertretenen Vernunftbegriffen ableitete. Seinen konservativen Staatsgedanken verfocht er, als er im Parlament keinen Widerhall fand, in dem bedeutenden, noch vor der Schreckensherrschaft erschienenen und deshalb für viele aufreizenden Buch Reflections on the French Revolution3 (1790), dessen großer Erfolg die Wandlung der Volkstimmung zeigte. Dadurch fühlten sich die Gegner zu schärferer Betonung ihrer Ideen gedrängt, und die Letters to Mr. Burke (1791) von Joseph Priestley, die Vindiciae Gallicae (1791) von Sir 1

M. H. Abrams, in: Romanticism Reconsidered, ed. N. Frye (s. S. 560); C. Woodring, Politics and English Romantic Poetry (Cambr., Mass., 1970). 2 A. Cobban, E. B. and the Revolt Against the Eighteenth Cent. (['1929]; N.Y., 1976); R. Kirk, The Conservative Mind: From Burke to Santayana (Chicago, 1953; dt. Zürich, 1959); B. T. Wilkins, The Problem of B.'s Political Philosophy (Oxf., 1967). 3 Ed. C. C. Brien, PB; EL.

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Sechstes Buch: Die Romantik

James Mackintosh und Thomas Paines grundlegende Rights of Man4 (1791 und 1792) forderten vollständige Änderung, ja Umstürzung der bisher gültigen Regierungsformen. Die für die englische Dichtung einflußreichste Darlegung dieser neuen politischen Theorie brachte WILLIAM GODWINS Buch Enquiry concerning Political Justice* (1793), worin in folgerichtiger Beweisführung der einzelne dem als Tyrannei bezeichneten Mehrheitswillen gegenübergestellt ist. Selbst der Contrat Social Rousseaus wird verworfen, da er einer persönlichen Selbstentwicklung, so wie sie der Emile befürwortete, Gewalt antat, und die letzten Folgerungen der Anarchie und des Atheismus werden mit herausfordernder Kühnheit verfochten. Das in seiner trockenen Vernünftigkeit so unromantisch anmutende und heute ermüdende Buch las noch der junge Shelley mit glühender Begeisterung. In der breiten Masse aber war der Stimmungsumschwung bereits zur Forderung eines Krieges gegen Frankreich gediehen. Die wenigen Republikaner, die sich in „Verfassungsgesellschaften" zusammenfanden und in herausfordernder Sprache oder törichten Kundgebungen an den französischen Nationalkonvent einen bevorstehenden Umsturz in England ankündigten, beschleunigten nur den Gegenschlag, der mit der Gründung einer 'Association for Preserving Liberty and Property against Republicans and Levellers' die strafrechtliche Verfolgung aufrührerischer Literatur durchsetzte. Burkes Bemühungen, „den Schrekken zu verbreiten", hatten Erfolg gehabt; in sinnloser Angst vor einer Revolution wurden die Habeas Corpus-Akte und die Versammlungsfreiheit aufgehoben, die Presse, besonders die radikalen Wochenschriften, darunter John und Leigh Hunts Examiner (s. S. 695), geknebelt und ein System der Bespitzelung eingeführt. Ein Umschwung erfolgte, als mit Napoleons Alleinherrschaft der Krieg gegen die Revolution zu Ende kam, den Pitt seit 1793 trotz verschiedener Friedensbemühungen (gegen die Burkes Letters on a Regicide Peace [1796] gerichtet waren) hatte führen müssen, denn nun erschienen die demokratischen Ideen eher in England als in Frankreich lebendig. In den folgenden Kriegen der Verbündeten gegen den 1815 bei Waterloo endgültig bezwungenen Franzosenkaiser stieg England zur ersten See- und Handelsmacht auf, aber mit dem Aufhören des äußeren Drucks traten innere, auf Verfassungsreform drängende Nöte hervor. Zwar hatten die Union mit Irland (1800) und die Einleitung der Gleichberechtigung der Katholiken Gefahren gebannt, aber in den Jahren zwischen dem Frieden von Amiens (1802) und der Schlacht von Waterloo begann der das 19. Jahrhundert kennzeichnende soziale Klassenkampf. Der Krieg hatte die Fabrik- und Grundherren und alle Besitzenden bereichert, die Armen aber noch ärmer gemacht. Dazu kam in der Nachkriegszeit mit plötzlich sinkender Güternachfrage die erste moderne Wirtschaftsrezession. Vor allem hatte sich das jahrhundertelang vorwiegend agrarische England mit fortschreitender Industrialisierung in die erste Industrienation der Welt verwandelt. Trotz Fortbestehens eines starken 4 5

EL;PB;s. auch S. 565. Ed. F. E. L. Priestley, 3 Bde. (Toronto, 1946); ed. I. Kramnick, PB.

Der politische Hintergrund des romantischen Zeitalters

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ländlichen Bevölkerungsanteils und unberührter, von den Romantikern gern aufgesuchter Landschaften stand es damit als erstes Land, und ohne auf Lösungsvorbilder zurückgreifen zu können, der mit den besitzlosen Arbeitermassen geschaffenen sozialen Frage gegenüber. Der tiefgreifendste, von den Dichtern besonders empfundene Wandel war der Übergang vom relativ harmonischen, patriarchalischen Landleben alten Stils zu einer von wachsender Spannung und Gegnerschaft zwischen arm und reich bestimmten Gesellschaft. In London und besonders in den neuen Industriestädten im mittleren und nördlichen England standen sich Unternehmer und Arbeiter gegenüber, und es kam bei ungenügenden Löhnen und Wohnverhältnissen anfangs sogar zu sklavenartiger Frauen- und Kinderarbeit in den Fabriken und Bergwerken. Auf dem Lande brachten die zunehmenden Einhegungen (enclosures) des nun oft als Privateigentum genutzten alten Gemeinde- und Ödlandes, das bisher von allen Dorfbewohnern als Weide genutzt werden konnte, zwar volkswirtschaftlich wichtige Verbesserungen von Anbau- und Viehzuchtmethoden, führten aber zunächst auch zu einer weiteren Verelendung der Besitzschwachen. Zudem machten die mit Wasser- oder Dampfkraft arbeitenden, billig produzierenden kleinen Textilfabriken, die bis in die stillsten Flußtäler vordrangen, das früher in Heimarbeit betriebene Spinnen, Weben und Stricken weithin überflüssig, womit die Kleinpächter und Tagelöhner eine wichtige zusätzliche Einnahmequelle verloren. Für viele blieb nur die Möglichkeit, entweder ein kümmerliches Landarbeiterleben zu fristen - wie etwa John Cläre (s. S. 624) - oder in die Industriestädte abzuwandern, wo sich das Heer der Arbeit- und Wohnungsuchenden ständig vergrößerte und die Häßlichkeit und Rücksichtslosigkeit des Lebens in engen, unzureichend gebauten Slumgebieten und rußigen Fabriken zunahm. Das Wort 'town', früher oft auf ein stadtbürgerlich-korporatives Leben verweisend, bekam bei den Dichtern einen schlechten Klang, und in dem alten literarischen Motiv des Stadt-Land-Gegensatzes wurde die Stadt nicht mehr mit dem königlichen Hof und der anspruchsvollen städtischen Gesellschaft assoziiert, sondern mit Unnatur und Häßlichkeit, denen als notwendige Gegenkraft die Natur als Inbegriff der All-Einheit und als belebender Quell alles Schönen und Reinen entgegengesetzt wurde. Wie schon O. Goldsmith in The Deserted Village (1769) beklagten die Dichter außerdem - der konservative Southey ebenso wie der revolutionäre Shelley und der von Verlusten konkret betroffene John Cläre - die Einhegung und Entvölkerung in den Dörfern und den oft zur Entstehung riesiger Güter und Parks führenden Landkauf durch Fremde, zumal durch emporgekommene Fabrikherren und in Indien reich gewordene Nabobs - was ironisch selbst in Jane Austens Emma anklingt.6 In den Städten wiederum konnten durch Einführung neuer Maschinen ganze Gruppen von Arbeitern brotlos werden. 1811 zerschlugen verzweifelte Arbeiter ihre Maschinen (Ludditen-Aufstände, vgl. Byrons Song for the Lud' Vgl. zum Ganzen: R. W. Harris, Romanticism and the Social Order (1969).

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Sechstes Buch: Die Romantik

dites, 1816, publ. 1830), 1816 verbrannten sie Getreide als Protest gegen die Teuerung verursachenden Korngesetze, 1819 wurde eine Reformen verlangende Massenversammlung auf dem St. Peter's Field in Manchester durch Militär zersprengt, wobei einige Personen getötet und Hunderte verletzt wurden (oft als "Peterloo" in Anlehnung an Waterloo bezeichnet, vgl. Shelleys Mask of Anarchy). Diese Zeit der Enttäuschungen und des vergeblichen Aufbegehrens ist die glaubenslosere und den inneren Menschen haltloser machende Zeit der zweiten Romantikergeneration. Der Wiener Kongreß, der wenig Gefühl für Freiheitsideen und Nationalbewußtsein der Völker bewies, und die Heilige Allianz, die ihrer Bestimmung zuwider ein Schutz alles Rückständigen wurde, vertieften die Verbitterung, mit der man nun einstige, auch durch Napoleons Besiegung neubelebte Hoffnungen betrachtete. Aber die Ideen waren nicht tot. Unaufhörlich mahnte WILLIAM COBBETTT (1762-1835), der Essayist, Politiker und Verfasser der die englische Landwirtschaft erkundenden und heute noch lebendigen Rural Rides (1830), in seinem Weekly Political Register (1802-35) zur Abstellung von Mißständen und zu Verfassungsreformen. Von Canning wurden dann nach Georgs III. unbetrauertem Tod unter dem gleichfalls unbedeutenden Georg IV. (1820-30), der schon als Prinzregent (Regency Period, 1811-20) wegen seines dandyhaften Genußlebens oft verspottet worden war (vgl. Hunt, S. 695), mancherlei Änderungen durchgesetzt. Der außenpolitische Grundsatz der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Völker stützte Griechenland, Portugal und die selbständig gewordenen spanischen Kolonien in Südamerika; und in der Innenpolitik leiteten die Anerkennung der Gewerkschaften und die 1828 durchgeführte Gleichberechtigung der Katholiken eine neue Zeit der sozialen Machtansprüche ein, die, in der Wahlrechtsreform von 1832 nur unvollkommen befriedigt, die treibenden Kräfte der innenpolitischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts wurden, In Amerika,8 das in diesem Zeitraum politisch erstmals in den Vordergrund trat, fanden die Ideen der französischen Aufklärung einen besonders fruchtbaren Boden. Die neue Welt bot sich ihnen geradezu als ein ideales Versuchsfeld. Gleichzeitig vergrößerten die unzeitgemäßen Bevormundungsversuche der englischen Krone und die traditionsgebundene Haltung des Mutterlandes gegenüber den Eigenverwaltungsbestrebungen der selbstbewußten amerikanischen Kolonisten die Spannungen mit England. Sie fanden beredten Ausdruck in der flammenden Streitschrift Common Sense Addressed to the Inhabitants of America (1776) des oben als Burkegegner genannten THOM7

Works, 12 Bde. (1801); Selections, ed. A. M. D. Hughes (Oxf., 1923); G. D. H. and M. Cole, The Opinions of Cobbett: Selections from Political Register 1802-35 (1944). Rural Rides, ed. G. D. H. Cole, 3 Bde. (1930 u. ö.); PB. - Letters, ed. G. Duff (Salzburg, 1974). - Biographie von L. Melville [einschl. Briefe], 2 Bde. (1913), J. Sambrook (1974). 8 Vgl. Harvard Guide to American History, edd. O. Handlin et al. (Cambr., Mass., 954; rev. F. Freidel and R. K. Showman, 1974).

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AS PAINE9 (1737-1809). Der von weltbürgerlichen Freiheitsgedanken erfüllte Paine, der auf Betreiben Franklins nach Amerika gekommen war, sah den englisch-amerikanischen Gegensatz unter neuem Gesichtspunkt. Die in den amerikanischen Kolonien entstandene Gesellschaft betrachtete er als Hüterin der Menschenrechte, die in der veralteten monarchischen Verfassung Englands unterdrückt wurden. Die Trennung von England sei also moralische Verpflichtung. Paines Publizistik (The American Crisis, 1776-83) wirkte als Schrittmacher des Unabhängigkeitskrieges, der mit der Declaration of Independence der dreizehn Staaten vom 4. Juli 1776 entfesselt wurde, mehr als ein Jahrzehnt vor der französischen Revolution. Der schließliche Sieg der Kolonisten und ihre die Freiheit betonende Verfassung ermutigten auch in England die Gruppen, die auf eine Schwächung der sich autokratisch gebenden hannoverschen Dynastie und der aristokratischen Vorherrschaft hofften. Die Formulierung der Unabhängigkeitserklärung, stilistisch und politisch ein Meisterwerk, geht auf Paines Gönner und Gesinnungsgenossen THOMAS JEFFERSON10 (1743-1826) zurück, der das neue Staatswesen bewußt in dem liberalen und humanitären Geiste der Aufklärung aufbaute. Sein Republikanertum war nach altrömischem Muster agrarisch orientiert, nur weit individualistischer, nach dem Vorbild der eigenständigen Pioniere an der offenen Grenze seiner Heimat. Mit Rousseau sah er im Freibauern die ideale menschliche Existenz. Die Autorität des Staates wollte er auf das Nötigste beschränkt wissen. Er war ein Gegner des Zentralismus. So wurde Jefferson der Theoretiker des amerikanischen Freiheitsbegriffs. Darüber hinaus macht ihn seine Universalität zu einem der größten Repräsentanten des frühen Amerika. Seine philosophische und musische Bildung, sein Enthusiasmus für klassische Architektur und seine technischen Interessen, seine Universitätsgründung (Virginia), seine Tätigkeit als Gesandter in Frankreich, Außenminister unter Washington und Präsident der USA, all dies findet seinen Niederschlag in zahllosen Schriften, Traktaten und Briefen - darunter vor allem in dem Altersbriefwechsel mit John Adams -, und ihre erst heute in Angriff genommene Sammlung wird diesen großen Humanisten ins richtige Licht rücken. Während Jeffersons 'Republicans', auf die die heutige Demokratische Partei zurückgeht, agrarwirtschaftlich, demokratisch und frankreichfreundlich orientiert waren und sich auf den Süden und Westen stützten, fanden die konservativen 'Federalists', aus denen die heutige Republikanische Partei hervorging, ihren Rückhalt bei den wohlhabenden, handeltreibenden, england9

S. S. 562; Writings, ed. M. D. Conway, 4 Bde. (N.Y., 1894-96); Complete Writings, ed. P. S. Foner, 2 Bde. (N.Y., 1945; repr. 1969); Representative Selections, ed. H. H. Clark (N.Y., 1961 [ 944]) [mit Einl. u. Bibliogr.]. - Biographie von M. D. Conway, 2 Bde. (N.Y., 1892), von A. O. Aldridge (Philad., 1959). 10 The Writings, ed. P. L. Ford, 10 Bde. (N.Y., 1892-99); große Neuausgabe in ca. 50 Bdn.: The Papers of T. J., ed. J. P. Boyd (Princeton, 1950 ff.) [i. E.]. Auswahlen: Life and Selected Writings, edd. A. Koch and W. Peden (N.Y., 1941); The Portable T. J., ed. M. D. Peterson (N. ., 1975). - Biographie: M. D. Peterson, T. J. and the New Nation (N.Y., 1970).

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Sechstes Buch: Die Romantik

freundlichen Kreisen des Nordostens, vor allem in Boston und New York. Ihr überragender Stimmführer war der Jurist ALEXANDER HAMILTON (1757 bis 1804), Hauptverfasser der Aufsatzreihe The Federalist" (1787/8), einem klassischen Dokument politischer Theorie von mehr als historischer Bedeutung. Nach dem zweiten, im wesentlichen um Kanada und Louisiana geführten Krieg mit England (1812-14) und der Beendigung der napoleonischen Kriege trat die Außenpolitik zurück (1823 Monroedoktrin an Europas Adresse).Die nächste Aufgabe war die Ordnung der Staatsfinanzen und der Bau von Verkehrswegen und Eisenbahnen zur Erschließung des Mittleren Westens und des von Frankreich erworbenen Mississippigebietes. Aus dem Westen stammten denn auch die beiden bedeutendsten Präsidenten der Folgezeit - Jackson, mit dem nochmals im Sinne Jeffersons die demokratische „Grenze" in ihr Recht tritt, und Lincoln, der die - durch den Bürgerkrieg zwischen den sklavenhaltenden agrarischen Südstaaten und den industrialisierten sklavenfreien Nordstaaten - bedrohte Einheit Amerikas zu erhalten suchte. Lincolns Ermordung hatte tragische Folgen für den Süden mit seiner kulturellen Tradition, da in Lincoln ein mäßigender Mittler ausschied und nach dem Bürgerkrieg das Gesicht Amerikas für zwei Generationen ausschließlich von den kommerziellen Interessen des Nordens bestimmt wurde.

DIE VERÄNDERTE LITERARISCHE SITUATION U N D D I C H T U N G S A U F F A S S U N G Das in England im Gefolge der französischen Revolution allseits erstarkende politische und geistige Interesse und der sich steigernde Kampf der Geister fanden nicht nur in der Dichtung und der oben genannten Pamphlet- und Traktatliteratur ihren Ausdruck, sondern auch in den neuen Zeitschriften,12 die wesentlich zur Veränderung der literarischen Situation beitrugen bzw. selbst deren Symptome waren. Auflagenstärker und vielseitiger als die älteren Blätter, die whiggistische Monthly Review (1749-1845) und das Blatt der Tones, die Critical Review (1756-1817), ermöglichte dieses neue Medium eine wesentlich schnellere und breitere Gedankenvermittlung und -diskussion als das Buch und erreichte im ganzen Lande auch beträchtlich größere Leserzahlen als die damals erst in kleinerem Umfang erscheinenden Tageszeitungen, deren bedeutendste, die Times (gegründet 1785, unter ihrem jetzigen Namen seit 1788), bis 1815 unter einer Auflage von etwa fünftausend blieb. Vorwie11

Ed. P. L. Ford (N.Y., 1898); auch EL, ML. - Biographie Hamiltons J. T. Morse, 2 Bde. (Boston, 1876); L. M. Hacker, A. H. in the Am. Tradition (N.Y., 1957); G. Stourzh, A. H. and the Idea of Republican Government (Stanford, 1970). 12 Vgl. die Bibliographie in der NCBL III, 1839 ff. (Magazines and Reviews); über die Zeitschriften CHEL XII, Kap. V [mit Bibliographie].

Die veränderte literarische Situation und Dichtungsauffassung

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gend mit den Streitfragen der Parteien verknüpft und deshalb - im Gegensatz zu ihren amerikanischen Entsprechungen - mehr politisch und weltanschaulich als literarisch ausgerichtet, übten die Zeitschriften dennoch einen erheblichen literarischen Einfluß aus, sowohl durch ihre überwiegend klassizistisch wertende, oft bissig gegen die neuen Dichter polemisierende Literaturkritik 13 als auch durch eine entsprechende Literaturauswahl, wobei die hohen Honorarzahlungen von zehn bis zwanzig Pfund pro Bogen (sechzehn Seiten) einen besonderen Anreiz boten. Es wäre wohl nicht zu einer so bedeutenden, von fast allen zeitgenössischen Talenten getragenen Essayistik gekommen, auch nicht zur Umwandlung des alten Wochenschriften-Essays in die persönlicheren Formen des „Artikels" und des 'familiar essay', wenn nicht gerade dafür die Zeitschriften einen großen Bedarf gehabt hätten. Natürlich wurden daneben geeignete Erzählungen und Gedichte aufgenommen, aber nicht in dem Umfang wie in den amerikanischen Zeitschriften, die schon wegen des anfänglichen Fehlens eines ausgedehnten heimischen Büchermarktes und Romanschaffens mehr die erzählende Kurzprosa begünstigten. Das Interesse der großen englischen 'reviews', die meist als Monats- oder buchähnliche Vierteljahresschriften erschienen, galt, ihrer Bezeichnung gemäß, vornehmlich den kritisch wertenden Überblicken und Analysen im politischen und wissenschaftlichen, aber auch im weiteren kulturellen und literarischen Bereich, vorzugsweise in Verbindung mit Rezensionen der wichtigsten Neuerscheinungen. Die wöchentlich oder monatlich erscheinenden 'magazines' dagegen verlegten sich, ebenfalls im Sinne ihrer - allerdings bald verwischten - Gattungsbezeichnung, mehr auf eine bunte Ansammlung vielseitig informierender und in zunehmendem Maße literarischer und unterhaltsamer Beiträge. Als erste der beiden im politischen und geistigen Leben des 19. Jahrhunderts führenden englischen Zeitschriften ist die straff geleitete und geistvolle Edinburgh Review zu nennen, die 1802 von Francis Jeffrey, Henry Brougham und Sydney Smith gegründet wurde und bis 1929 erschien. Obwohl sie politisch ganz in whiggistisches Fahrwasser geriet, vertrat sie literarisch einen klassizistisch-konservativen Standpunkt, besonders durch FRANCIS JEFFREY H (1773-1850), der mit seinem Spott u. a. eine schnellere Anerkennung Wordsworths verhinderte, und durch SYDNEY SMITH15 (1771-1845), der eine besondere Begabung für den damaligen rauhen und witzig-scharfen Zeitschriftenton hatte und sich hauptsächlich politische Themen wählte (vgl. die Leiters of Peter Plymley, 1807, zugunsten der Katholiken-Emanzipation; zur Kritik am amerikanischen Anspruch auf eine eigene Literatur s. S. 580). Als Gegenstück auf der Toryseite entstand auf Anregung von Scott die umsturz13

Sammlungen s. S. 582; J. Clive, Scotch Reviewers: The Edinburgh Review, 1802-1815 (Cambr., Mass., 1957); J. O. Hayden, The Romantic Reviewers, 1802-1824 (1969). 14 Jeffrey's Literary Criticism, ed. D. N. Smith (1910). - Biographie J. A. Greig, F. J. (Edinburgh, 1948); R. Eisner, F. J. und seine kritischen Prinzipien (Berlin, 1908). 15 Works, 4 Bde. (1839-40 u. ö.). Selected Writings, ed. W. H. Auden (N.Y., 1956); Letters, ed. N. C. Smith, 2 Bde. (Oxf., 1953). - Biographie von O. Bürde« (1934).

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feindliche, nicht ganz so brillante Quarterly Review (1809), zu deren literarischen Beiträgern Scott und vor allem Southey gehörten und die zuerst von William Gifford, dann von John Taylor Coleridge (dem Neffen des Dichters) und besonders von John Gibson Lockhart geleitet wurde, der - z. T. aus politischer Abneigung gegen Hunt und seine Freunde - Keats' Endymion 1818 in verletzender, den Dichter tief treffender Weise angriff. Als Blatt der jüngeren Tories folgte das amüsantere, oft satirisch und im Ton respektlose Blackwood's Edinburgh Magazine (1817), das von Anfang an auch unpolitische Unterhaltung bot. Darunter fallen populäre Gedichte und vor allem Erzählungen, die, teilweise von so geschickten Erzählern wie Lockhart und James Hogg verfaßt, im ganzen 19. Jahrhundert in mehrbändigen Sammlungen (Tales from Blackwood) ein breites Publikum fanden - was Poe zu seiner Satire auf die dort erscheinenden Schreckensgeschichten herausforderte (How to Write a Blackwood Article, 1838) -, und die (jahrelang als eigene Spalte erscheinenden) Noctes Ambrosianae, im wesentlichen von William Maginn und JOHN WiLSON16 (1785-1854, Deckname 'Christopher North'), der dichterische Empfindungen hatte und für Wordsworth eintrat. Ganz anders nimmt sich daneben die anspruchsvolle Intellektualität der philosophisch-radikalen, von Bentham und James Mill 1824 gegründeten Westminster Review aus, die jedoch auf die romantische Literatur nicht mehr einwirken konnte. Dagegen setzte sich das durch den schnellen Erfolg von Blackwood's angeregte, aber nur kurzlebige London Magazine (1820-29) für die romantischen Autoren (und politisch für die Whigs) ein. Einige Gedichte von Keats, Cläre und Hood, De Quinceys Confessions of an English Opium Eater, Lambs Essays of Elia und Teile von Hazlitts Table Talk wurden in ihm zuerst veröffentlicht. Zu einem seiner Hauptkonkurrenten wurde das schon 1814 gegründete New Monthly Magazine, das nacheinander von Campbell, Bulwer, Hook und Hood herausgegeben wurde und Mary Russell Mitford und Hazlitt als Beiträger gewann; seine zunehmende Popularität hing wohl damit zusammen, daß es bald gänzlich, der allgemeinen Entwicklung folgend, auf eine politische Linie verzichtete. Schon die widerstreitenden Aktivitäten dieser Zeitschriften zeigen, daß die romantische Bewegung in England keineswegs eine einheitliche, alle Kulturbereiche durchdringende Kraft war. Zwar sprach sie sich auch in der Malerei stark aus (Henry Fuseli [Heinrich Füssli], John Constable, William Turner), aber insgesamt nicht in dem Maße wie in Deutschland, wo auch Geschichtsund Naturwissenschaften, sogar die Politik, besonders aber die Philosophie und Musik von ihr ergriffen wurden. Den vielen meisterhaften Vertonungen deutscher romantischer Texte läßt sich in England nichts Vergleichbares gegenüberstellen, allenfalls Thomas Moores und vorher Burns' schlichtes Eingehen auf heimatliche Melodien. Und während die Romantisierung deutscher 16

Works, ed. J. F. Ferner," 12 Bde. (Edinburgh, 1855-58); Noctes Ambrosianae, ed. R. S. Mackenzie, 5 Bde. (N.Y., 1866), l Bd. (N.Y., 1904), Auswahl edd. J. S. Moncrieff and J. H. Millar (1904). - Vgl. E. Swann, Christopher North (Edinburgh, 1934).

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Universitäten sich bis in die Lebensweise von Professoren und Studenten auswirkte, stießen junge englische Dichter wie Coleridge und Wordsworth in Cambridge oder Shelley in Oxford auf Unverständnis. Dem entspricht es, daß im englischen Roman zwar auf der meist niederen Ebene des Schauerromans romantische Gefühlsströmungen zum Ausdruck kommen, nicht aber etwa im Werk Jane Austens, die - in deutlichem Gegensatz zum romantischen deutschen Künstler- und Bildungsroman - am klassizistischen Ideal des vernunftkontrollierten und gesellschaftskonformen Verhaltens festhielt, freilich in Verbindung mit einem neuen Sinn für private Gefühle und persönliche sittliche Entscheidungen. Auch Scotts typisierende Figurenauffassung knüpfte trotz pittoresker Geschichts- und Landschaftsdarstellung an das 18. Jahrhundert an, und der eigentlich romantische, die neue Erlebnisintensität voll aufnehmende Roman wurde erst in viktorianischer Zeit von den Brontes geschrieben. Dennoch wandelte sich in der Zeit der großen geistigen, sozialen und politischen Umwälzungen auch die englische Literatur von Grund auf, wobei aus literatur- und wirkungsgeschichtlicher, nicht aus vorherrschender zeitgenössischer Sicht - die Führung eindeutig an die Lyrik überging, die im klassizistischen Gattungskanon hinter Epos und Drama zurückstand. Trotz starken Nachwirkens der Tradition trat die Literatur Englands damit in ihre eigentlich moderne, die Unabhängigkeit, Erfahrungsfülle und ungeahnte Schöpferkraft, aber auch die Instabilität und Selbstgefährdung des Individuums betonende Phase ein. Freilich blieb sie zunächst auf die Besonderheiten der dichterischen Sensibilität und eines umfassenden ästhetischen Erlebens, vornehmlich auf die (dem Neuplatonismus der Elisabethaner verpflichtete) Erfahrung des Wahren im Schönen, konzentriert. Dies führte zu einer Stärkung des poetischen Sinns und der Naturdichtung, jedoch - trotz Einfühlung in abnorme und krankhafte Bewußtseinszustände - auch zu einer Einengung des Menschenbildes und der alten humanistischen Themen, was einer Schwächung der Allgemeinverbindlichkeit beim Publikum gleichkam. In alldem nahm die englische Literatur teil an der gesamteuropäischen, auch Amerika einbeziehenden romantischen Bewegung, die von Land zu Land unterschiedlich, aber in Wechselbeziehungen verlief, wobei von Deutschland, in dem die Bewegung ihren Ausgangs- und Höhepunkt fand, wichtige Impulse auf ganz Europa ausgingen. Der im Klassizismus vorherrschende französische Einfluß wurde damit erstmals abgelöst, und an die Stelle einer vorwiegend vernunftbestimmten und gesellschaftlich verantworteten Lebens-, Kunst- und Naturauffassung mit ihren Kriterien des Normalen, Gesunden, Geordneten und moralisch Verbindlichen trat der - in England allerdings nur von wenigen Geistern vertretene - Kult des Subjektiven, Irrationalen und Dynamischen in allen diesen Bereichen.17 17

P. van Tieghem, L'Ere romantique: Le Romanticisme dans la litterature europeenne (Paris, 1948); M. Praz , The Romantic Agony (Oxf., 21951 [ 933]) [Pathologisches u. Exotisches in d. europ. Romantik]; E. C. Mason, Deutsche u. engl. Romantik (Göttingen, 21966 [ 957]); H. Oppel, The Sacred River (Frankfurt, 1959) [u. a. Vgl. zw.

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Die neue Bewegung, die sich in der Naturdichtung der englischen Vorromantik angebahnt und in der geistigen und politischen Erregung seit der französischen Revolution weitere Impulse aufgenommen hatte, trat erstmals 1798 mit Wordsworths und Coleridges Lyrical Ballads eindrucksvoll in Erscheinung und hielt etwa bis zum Todesjahre Scotts (1832) an. Jedoch ist die Grenzziehung gegenüber dem weiteren 19. Jahrhundert schwierig. Einerseits war schon in den zwanziger Jahren eine Phase der Erschöpfung eingetreten, was mit dem frühen Tod Keats', Shelleys und Byrons sowie mit Coleridges Rückzug aus der Dichtung zusammenhängen mag. Andererseits dauerte das Schaffen Wordsworths und einiger romantischer Essayisten sowie ihres geistesverwandten Nachfahren Carlyle bis weit in die viktorianische Zeit an, in der - neben den romantisierend erzählenden Brontes - sogar ein Dickens das realistische Wirklichkeitspostulat mit einer spätromantischen, allerdings vereinfachten Poetisierung verband. Angesichts der genannten heterogenen Strömungen überrascht es nicht, daß die Epoche in England damals noch nicht die „romantische" genannt wurde. Zu groß waren die Kontraste zwischen dem öffentlichen Denken zumal den auf Breitenwirkung zielenden Zeitschriften, in denen sich das demokratische Jahrhundert ankündigte - und dem gesellschaftlichen Rückzug der Dichter auf das Private. Im Gegensatz zu Deutschland, wo das Wort schon in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zur Kennzeichnung der neuen Dichterschule aufkam - was in England zum Zweck der leichteren historischen Einordnung erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich nachgeholt wurde -, behielt es für die englischen Dichter die alte Bedeutung des Romanzenhaft-Fabulösen und Geheimnisvoll-Irrationalen und wurde so - freilich positiv, nicht mehr aufklärerisch-abschätzig verstanden - vornehmlich auf wilde Landschaften oder Phänomene mit pathetischer Gefühlswirkung (vgl. Coleridges "deep romantic chasm", Kubla Khan) und entsprechend empfundene Gefühlszustände bezogen. Es wurde nicht zum höchsten Kunstbegriff, obwohl Coleridge, Hazlitt und Byron wußten, daß A. W. Schlegel (Vorlesungen über dramat. Kunst u. Lit., publ. 1809-11, engl. 1815) im kunsttypologischen Sinne zwischen „klassisch" und „romantisch" unterschieden hatte - unter Verwendung der Gegensatzpaare mechanisch-organisch, plastisch-malerisch und Vollendung und Unendlichkeitssehnsucht -, womit er über die nur historisch gemeinten Abgrenzungen der „romantischen" Epoche (Mittelalter und Renaissance) hinausgegangen war, wie sie z. B. schon bei Thomas Warton und Hurd vorlagen (s. S. 494 f., dort oft „gotisch" statt „romantisch"). Der Verzicht der englischen Romantiker auf eine gemeinsame Losung hängt vielleicht damit zusammen, daß sie sich nicht wie die deutschen mit einer so bedeutenden zeitgenössischen Literatur wie der Weimarer Klassik Goethes und Schillers messen mußten. Sie brauchten nur den längst als unengl. u. deutscher Romantik]; Die europäische Romantik, ed. E. Hehler (Frankfurt, 1972) [Begriffsbestimmung u. Übersichten].

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zureichend empfundenen und veralteten Klassizismus Popes und Dr. Johnsons endgültig zu überwinden, also in etwa das nachzuholen, was im deutschen Sturm und Drang vorbildgebend schon geschehen war. Das Gefühl, an einem völligen Neubeginn mit noch allen Möglichkeiten zu stehen, ließ wohl auch umfassende theoretische Begründungen, die über allgemeine Programmerklärungen (wie Wordsworths Preface zu den Lyrical Ballads) hinausgingen, überflüssig erscheinen. Erst in den späteren Schriften Coleridges wurde unter deutschem Einfluß einiges davon nachgeholt. Trotz der fehlenden gemeinsamen Bezeichnung bestand jedoch zwischen vielen englischen Romantikern - im Gegensatz zu den meist in stärkerer Isolation schreibenden Amerikanern - ein persönlicher Kontakt, der sich schon durch die Häufigkeit der formlosen Begegnungen bei Verlegern oder Charles Lamb im gemeinsamen Zentrum London, das nur von Scott und Jane Austen gemieden wurde, herstellte. Dies führte bei allen Unterschieden fast beiläufig zu einer gewissen Homogenität der Auffassungen und Sprache, außerdem zu Gruppierungen, die - zum Teil aus der spöttischen Sicht klassizistisch urteilender Zeitschriften - mit heute noch verwendeten Namen wie Lake School (Wordsworth, Coleridge, Southey), Satanic School (Byron, Shelley u. a.) und Cockney School (L. Hunt, Hazlitt, Keats u. a.) belegt wurden. Mit dem Erfolg der Zeitschriften, aber auch einzelner Lyrikbände (Byron, Thomas Moore) und besonders Romane (Scott) zeichneten sich die wirtschaftlichen Voraussetzungen für das Entstehen eines neuen Standes freier Schriftsteller ab, die ohne Stütze durch einen traditionellen Beruf, einen Mäzen oder ein größeres Vermögen nur der Literatur und von der Literatur lebten. Fast alle bedeutenden Lyriker, Essayisten, Kritiker und Zeitschriftenherausgeber wählten diesen Weg, wenn man von Ausnahmen wie dem über Titel und Familienbesitz verfügenden (aber in der selbstgewählten Emigration lebenden) Lord Byron, den als Buchhalter in London tätigen Charles Lamb oder den an sein Landarbeiterdasein gebundenen John Cläre absieht. Erstmals in England trat, fast für eine ganze Autorengeneration kennzeichnend, der von der übrigen Gesellschaft sich distanzierende Typus des neuen Intellektuellen in Erscheinung, freilich - bis auf Shelley - in einer durch fortbestehende bürgerliche Bindungen gemäßigten Spielart, die sich von dem philosophisch begründeten, radikalen Freiheitsanspruch vieler deutscher Romantiker unterschied. Bezeichnenderweise blieben jedoch die beiden bedeutendsten Romanciers, Jane Austen und Sir Walter Scott, den herkömmlichen Lebensformen eng verbunden, obwohl Scott als Romanschriftsteller ein gewaltiges Vermögen erwarb. Mit dem Berufsschriftstellertum wuchs allerdings auch der Einfluß einzelner Verleger. Wie etwa John Murray, der im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts viele Arbeiten der Hauptautoren publizierte und diese in Nachmittagstreffen um sich versammelte, übernahmen sie etwas von der Funktion der früheren Mäzene und der in England fehlenden literarischen Salons, mußten aber auch marktbezogen denken. Wegen der extrem hohen Buchpreise ein neuer Roman kostete in dreibändiger Duodezausgabe ca. eineinhalb

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Pfund (damaliger Währung) - ging auch von den zahlreichen privaten Leihbüchereien ein beträchtlicher Einfluß aus, der jedoch meist auf den anspruchslosen Sensations-, Schauer- und romanzenhaften Liebesroman wirkte; die in den Jugenderinnerungen mancher Romantiker erwähnte Minerva Press nahm als Verlagsunternehmen mit eigenem landesweiten Bibliotheksnetz eine marktbeherrschende Stellung ein. Geistig brachte der gesellschaftliche Rückzug des romantischen Lyrikers einerseits eine Begrenzung seiner Weltkenntnis, was sich in der Unausgewogenheit mancher ethisch-sozialer und politischer Aussagen zeigt, die - wie die schnell scheiternden sozialromantischen Experimente - zwar leidenschaftliche Hoffnung und schwärmerische, edle Gesinnung, selten aber ein auf Erfahrung gründendes Verantwortungsdenken erkennen lassen. Andererseits ergab sich mit der Selbstbefreiung und Verselbständigung der Dichter eine dem allgemeinen Zeitbedürfnis entsprechende, auch von den Gegnern gesehene Verinnerlichung von Subjektivität und Idealität, die von vielen Lesern als Bereicherung und sogar Hilfe empfunden wurde, so von John Stuart Mill bei seiner Lektüre Wordsworths (s. S. 596). Die Selbstaussprache geht in der Lyrik so weit, daß Coleridge und Keats in ihren Gedichten ebenso bekenntnishaft formulieren können wie in Briefen und Tagebüchern. Wordsworth stellt im Prelude das Wachsen des eigenen dichterischen Geistes und die Bildung des Selbst in eposhafter Länge und Erhabenheit dar. In Byrons poetischen Dramen und Verserzählungen wird dem Leser die Gleichsetzung des Helden mit dem Autor nahegelegt. Oft werden wie in Wordsworths und Coleridges 'conversation poems' die privaten Entstehungsanlässe - zum Spott klassizistischer Kritiker - in die Gedichte einbezogen oder in Anmerkungen erläutert. Jedoch ist das nur eine Seite des neuen romantischen Dichtens. Zwar geht es wesentlich um die Originalität und den höchsten Grad seelischer Aktivität, die Wordsworth das „spontane Überströmen kraftvoller Gefühle", Hazlitt die Expressivität und Blake und Shelley das Visionäre nannten. Coleridge aber nannte sie die schöpferische Imagination und hob damit als das wohl wesentlichste Dichtungsprinzip der englischen Romantik die kreative Erkenntnisfähigkeit und einende Kraft hervor, durch die der dichterische Geist in das Wesen der Dinge und damit in die tiefere, auch transzendente Wirklichkeit eindringen und sie durch Gestaltung andeutungsweise erfahrbar machen kann. Damit wird aber auch - wie überhaupt in der englischen romantischen Dichtung - die für die empiristische Erkenntnistheorie und Psychologie des 18. Jahrhunderts charakteristische Unterscheidung zwischen wahrnehmbarem Objekt und - freilich stärker betontem - erfahrendem und reflektierendem Subjekt gewahrt, ohne wie oft bei deutschen Romantikern durch schrankenlose subjektive Phantasie und idealistische Philosophie aufgelöst zu werden. Der reflexionsbegleitete Erkenntnis- und Einfühlungsanspruch richtet sich dabei sowohl auf letzte Prinzipien wie das Schöne, Natürliche, Gerechte was der englischen romantischen Lyrik einen „philosophischen", aber an einen Erlebnisprozeß gebundenen, nicht rein spekulativ werdenden Zug ver-

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leiht - als auch auf bisher unbeachtete seelische Erfahrungen: auf die Welten der Kindheit, des Traums, des Unbewußten, der Wahnvorstellungen, auf das Wesen der Kunstgegenstände und literarischen Werke (vgl. Keats' Griechische Urne und Chapman-Sonett), der Mythen, des Exotischen und Wilden, der fernen Geschichtsepochen, aber auch des scheinbar ganz Alltäglichen und Unbedeutenden, z. B. der schlichten, bäuerlichen Menschen und einfachen Gegenstände, die von den klassizistischen Kritikern als unpoetisch zurückgewiesen wurden. Besonders tritt immer wieder die Landschaft - nicht in ihrer betonten Typik und prospektartigen Weite wie im 18. Jahrhundert, sondern in ihrer faszinierenden und persönlich erlebten Einmaligkeit - in den Mittelpunkt. In Parallele zur neuen Art des romantischen Reisens gilt das Interesse nicht mehr den auf der 'grand tour' des 18. Jahrhunderts aufgesuchten großen Kulturstätten Europas, sondern der geheimnisvollen, auf ihr Wesen zu befragenden Natur, besonders ihren pittoresken und stimmungsintensiven Aspekten, wobei der Reiz sowohl des Fernen und Entlegenen wie des Nahen und Vertrauten betont werden kann. Im Gegensatz zu klassizistischen Gedichten werden kleine, scheinbar unbedeutende, aber ausdrucksintensive Objekte - einzelne Blumen am Bach, Wasserströmung, im Sprühregen eines Wasserfalls erzitternde Blätter, ein magisch im Mondschein aufleuchtender Eiszapfen - liebevoll aus der Nähe betrachtet. In dieser Naturdichtung kann die Vorstellung zur Wesenserfassung vertieft, die Erfahrungsebene durch Phantasie und Reflexion erweitert, die Gegenstandsfolge zu komplexer Sprachbildlichkeit verdichtet werden. Die Natur selbst wird - von Blakes biblischer Vorstellung der gefallenen Natur abgesehen - meist animistisch und mythisierend als eine vom Geist bewegte, auch im Menschen wirkende Kraft und All-Einheit verstanden, bei Wordsworth und dem späten Coleridge auch im Sinne einer metaphysisch fundierten Naturphilosophie.18 Aus der besonders bei Keats ausgeprägten Konzentration auf das gedanklich unvermittelte, für sich selbst sprechende Detail konnte sich später ein leichter Übergang zur Wirklichkeitsauffassung des Realismus ergeben (vgl. Tennyson, Browning, aber auch Dickens). Jedoch war für die Romantiker dies alles zugleich Anlaß und Medium poetischer Selbsterfahrung, nicht regelkonforme oder realistische Nachahmung - ein Totalitätsanspruch, vor dem die Gedichte im Gegensatz zum klassizistischen Vollendungsideal fragmentarisch und faszinierend zugleich erscheinen. In den oft poetologisch werdenden, das Wesen der Dichtung umschreibenden Versen stehen dafür Bilder wie nächtliches Herdfeuer, aus dem Dunkel quellender, Gärten und Höhlen durchfließender Fluß, verzauberte Landschaft, Westwind, Lerche, verströmender Nachtigallengesang, Äolsharfe, geheimnisumwobene griechische Vase usw. 18

J. W. Beach, The Concept of Nature in Nineteenth Cent. Engl. Poetry (N.Y., 1936; repr. 1966).

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Entsprechend ändert sich der Dichterbegriff. An die Stelle von Dr. Johnsons kühler Feststellung, daß bei stetigem Bemühen jeder zu jeder Zeit schreiben könne, trat die Bewunderung für das Genie. Blake und Shelley sahen in ihm wie gelegentlich schon das 18. Jahrhundert göttliche Inspiration, die anderen Dichter, besonders Coleridge, im Sinne eines romantischen Seelenmythos das integrative Zusammenwirken aller höchsten Seelenkräfte in einer einzigen Schöpfertätigkeit, zu der auch das Seherische und Visionäre gehört. Der große Dichter wird deshalb als Prophet oder Vates verehrt. Er ist verpflichtet, sich ganz dieser hohen Aufgabe zu weihen, mag ihn dies einsam machen oder anderen Menschen als wahnsinnig erscheinen lassen. Gelegentlich kann der in dieser Weise heroisierte romantische Dichter wie Prometheus den Triumph empfinden, den Menschen eine höhere Wahrheit gebracht zu haben. Er kann aber auch, wenn er sein Ziel verfehlt, in tiefe Verzweiflung stürzen oder sich schuldig fühlen als derjenige, der (wie Byrons Manfred) die Grenzen des Erlaubten überschritten hat. Es ist kein Zufall, daß aufbegehrende, aber meist tragisch scheiternde Heroen wie Prometheus, Satan, Kain, Don Juan und Napoleon mehrfach behandelt werden. In der Lyrik wird deutlicher als im Roman - aber in einer gewissen Parallele zur Essayistik und Memoiren- und Briefliteratur - eine dem neuen Dichtungsverständnis entsprechende Formauffassung und Sprachgebung entwickelt. An der verallgemeinernden Begrifflichkeit und typisierenden Deskription der 'poetic diction' und den logischen Anordnungsschemata des 18. Jahrhunderts halten nur einige konventionelle Dichter wie Southey und Moore, aber auch Byron fest, dessen klarer und ausmalender Mitteilungsstil deshalb leicht übersetzbar blieb, was zu seiner europäischen Wirkung beitrug. Sonst aber ging es um eine Dichtungssprache, in der die Erfahrungsfülle intensiv und sinnvertiefend vergegenwärtigt werden konnte. Hauptmittel sind Versuche mit unregelmäßigen Strophengebilden, Dominanz des Sprechrhythmus über das Metrum, Klangmalerei, vielfältige synästhetische Fügungen und immer neue Verwebungen von Gefühlen, Gedanken und Bildern, wobei zahlreiche Antinomien wie die zwischen Leben und Kunst, Ich und Welt, Dauer und Wechsel spannungsreich aufgenommen, aber auch zu höheren Synthesen geführt werden. Dies geschieht nicht so sehr durch geistvoll-spielerische Dialektik wie bei manchen deutschen Romantikern, sondern durch die einfachere Vorstellung wechselnder Erfahrungen im Laufe zeitlicher Prozesse - etwa des Wachstums oder (neuplatonisch) des beglückenden Aufschwungs und schmerzlichen Niedersinkens der Seele. Vor allem wird das symbolische Sehen zum Instrument des explorativen Dichtens. Es geht nicht mehr darum, wie vor allem Coleridge im Anschluß an deutsche Romantiker und Goethe erläuterte, abstrakte Begriffe in Bilder umzusetzen (wie in der älteren Allegorie), sondern umgekehrt um die Andeutung einer allgemeineren, aber nicht eindeutig definierbaren Bedeutung im Besonderen und Konkreten, das dadurch zum Symbol wird. Sprache ist nicht mehr wie im Klassizismus ein bereitliegendes Kommunikationsmittel für vorher festgelegte Inhalte, sondern ein zu bearbeitendes Material mit eigener Ausdruckspotenz, die erst im Gestaltungsprozeß aktualisiert wird.

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Diese Züge finden sich nicht nur in Ode, 'conversation poem' und Sonett, sondern auch in Balladen, romanzenhaften Erzählgedichten und eposartigen Versuchen, die alle in hohem Maße lyrisiert werden, was etwa schon im Titel Lyrical Ballads angedeutet wird. Andererseits werden durch Hinwendung zur mittelalterlichen, elisabethanischen und volkstümlichen Dichtung lange Zeit ungenutzte Möglichkeiten poetischer Konkretisierung gesucht, besonders in Shakespeare, der als der Inbegriff alles Dichterischen gefeiert wird. Daneben wird zeitweilig ein romantischer Hellenismus wirksam, der, vielleicht von Landor abgesehen, nichts Klassizistisches mehr hat, sondern (bei Byron, Shelley und Keats) eine hochpoetische Wiederbelebung und Nachempfindung antiker Mythen, Kunst und Geschichte bringt.19 Trotz vieler Affinitäten blieb der direkte Einfluß der deutschen Romantik auf die bedeutende englische Lyrik gering, auch wenn man aus europäischer Sicht, wie es in England und Frankreich üblich war und z. T. heute noch ist, den - seinerseits von der englischen Vorromantik beeinflußten und auf England zurückwirkenden - Sturm und Drang und die frühe Weimarer Klassik (etwa Bürgers Lenore, Schillers Räuber oder Goethes Werther, Götz oder Faust I) der romantischen Bewegung zuordnet. Die Lyrical Ballads erschienen unbeeinflußt von den fast gleichzeitig publizierten ersten Werken der deutschen Frühromantiker, obwohl Wordsworth und Coleridge noch Ende desselben Jahres für ein paar Monate nach Goslar bzw. Göttingen reisten, wo Coleridge Anregungen dichtungstheoretischer Art empfing. Stärkere deutsche Einflüsse, teils von Deutschlandreisenden wie H. C. Robinson vermittelt, gingen zunächst auf geringere Dichter und Kritiker aus. Sie machten sich insbesondere auf der niederen Ebene der Schauerromantik und des melodramatischen Bühnenstücks bemerkbar (vgl. Kotzebues Rührstücke und Werners und Müllners Schicksalsdramen in London). Wichtigere literarische Anregungen ergaben sich erst durch A. W. Schlegel und - obwohl weniger heftig als im übrigen Europa diskutiert - durch Mme. de Staels De l'Allemagne (Lo., 1813, engl. im selben Jahr), in dem das Ideengut der deutschen Romantik dargestellt wurde.20 Der romantischen Subjektivierung in der Lyrik entsprechen in der Prosa die geistigen Autobiographien wie Coleridges Biographia Literaria, De Quinceys Confessions of an English Opium Eater und Carlyles dem deutschen Bildungsroman nachempfundener Sartor Resartus (s. S. 730), die zahlreichen Briefe und Memoiren, in denen fast alle Dichter und Kritiker viel von sich und ihren Zeitgenossen sprechen, sowie die neue, besonders von Lamb, Hazlitt und Hunt gepflegte Form des 'familiar essay', der sich durch ungezwungen-vertrauliche Tonlage und Gegenstandswahl vom förmlicheren 'peri19

D. Bush, Mythology and the Romantic Tradition in English Poetry (Cambr., Mass., 1969['1937]). 20 Über die Beziehungen der engl. Romantiker zu Deutschland vgl. F. W. Stokoe, German Influence in the English Romantic Period (Cambr., 1926); W. F. Schirmer, Der Einfluß der deutschen Lit. auf die englische im 19. Jahrhundert (Halle, 1947); K. S. Guthke, Engl. Vorromantik u. dtsch. Sturm u. Drang (Göttingen, 1958). 2

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odical essay' des 18. Jahrhunderts unterschied und über die zahlreichen neuen Zeitschriften ein großes Publikum erreichte. Daneben wurden erstmals öffentliche Vorlesungsfolgen - nicht wie in Deutschland an den dazu noch nicht bereiten Universitäten, sondern auf privater Basis in London - zum Medium persönlicher Literaturdeutung (Coleridge, Hazlitt). Die für die deutsche Romantik charakteristischen Erzählformen des Kunstmärchens und der Novelle fehlen so gut wie ganz, wohl wegen der hohen Geltung des Gesellschaftsromans. Das anspruchsvolle Drama fiel trotz Publikumsinteresses bis auf einige poetisierende, bühnenunwirksame Versuche praktisch aus, was mit dem Rückzug der meisten Dichter aus dem gesellschaftlichen Leben zusammenhängen mag. Daß der Roman bis auf die sensationellere Form des Schauerromans zunächst der im 18. Jahrhundert geschaffenen Formtradition verhaftet blieb und das romantische Lebensgefühl nur gebrochen spiegelte, zeigt einmal mehr, daß die neue Strömung in England nicht volle Geltung gewann. Es liegt auf der Hand, daß das klassische amerikanische Schrifttum zu Beginn unseres Zeitraums weitgehend in den S. 564-566 genannten politischen Traktaten und in den Briefen der Gründerväter zu suchen ist. Daneben kam eine besondere Bedeutung, zumal vor der Massenverbreitung der Tageszeitung, der politischen Rede zu, die in bewußter Anlehnung an die Antike gepflegt wurde und bestimmend blieb bis zu Whitman. Durch die Predigt und durch öffentliche Vorträge in den der Erwachsenenbildung dienenden Lyzeen - besonders in Boston, dem kulturellen Mittelpunkt Neuenglands - war eine Fähigkeit des rednerischen Ausdrucks und des aufnehmenden Zuhörens entwickelt worden, wie sie selbst im zeitgenössischen England nicht mehr vorhanden war. Dazu kam seit dem Unabhängigkeitskrieg die Verlagerung der Rhetorik von der Theologie auf die Politik, wobei neben Blairs Lectures on Rhetoric (1783) Burke das große englische Vorbild für den erhabenen und persönlich engagierten Stil wurde. Redeanlässe waren die bedeutenden Debatten im Senat über Streitfragen zwischen den Nord- und Südstaaten, Gerichtsverhandlungen, Wahlfeldzüge, patriotische Gedenktage wie die alljährlichen Feiern des 4. Juli, die leidenschaftliche Erörterung der Sklavenfrage u. a. Neben dem klassisch gebildeten Staatsmann und Rhetorikprofessor in Harvard JOHN QUINCY ADAMS21 (1767-1848) sowie HENRY CLAY22 (1777-1852), dem volkstümlichsten Redner der Zeit und politischen Sprecher des Westens, und JOHN C. CALHOUN23 21

Memoirs, ed. C. F. Adams, 12 Bde. (1874-77); The Adams Papers, ed. L. H. Butterfield (Cambr., Mass., 1961 ff. [i. E.]). - J. R. Howe, The Changing Political Thought of J. A. (Princeton, 1966); P. Shaw, The Character of J. A. (Chapel Hill, 1976). 22 Works, ed. C. Colton, 7 Bde. (N. ., 1896); The Papers of H. C., ed. J. F. Hopkins (Lexington, Ken., 1959 ff. [i. E.]). - G.G. van Deusen, The Life of H. C. (1937; Boston, 21963); vgl. auch C. Schurz, H. C., 2 Bde. (Boston, 1887). 23 Works, ed. R. K. Cralle, 6 Bde. (N. ., 1851-56; repr. 1968); The Papers of J. C. C, edd. R. L. Meriwether et al. (Columbia, S. C., 1959 ff. [i. E.]); R. Current, J. C. C. (N.Y, 1966). - Biographie von C. M. Wiltse (Indianapolis, 1944).

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(1782-1850), dem bedeutendsten konservativen Staatsmann der Südstaaten und Websters größtem Gegner im Kongreß, ist der im Senat und vorübergehend als Außenminister äußerst einflußreiche DANIEL WEBSTER24 (1782-1852) als größter Redner seiner Zeit zu nennen, dessen Bedeutung noch heute nachempfunden werden kann. Emerson sah in ihm den Hauptrepräsentanten der amerikanischen Nation. Obwohl er keinen literarischen Ehrgeiz hatte und nur für seine politische Sache sprechen wollte, zeigt sein Stil die antike Schulung und die parlamentarische Tradition des englischen 18. Jahrhunderts und erinnert in den ausgewogenen Perioden an Dr. Johnsons Prosa. Zu den berühmtesten seiner Reden gehört die in der Senatsdebatte vom 26.727. Januar 1830 über die Rechte der Einzelstaaten, in der er, aus dem Stegreif sprechend, die klassische Formulierung seiner politischen Ideen gab. Unter den vielen Sternen zweiter Größe ist der in Harvard als Professor für Griechisch sowie als Herausgeber der North American Review und in hohen Staatsämtern wirkende EDWARD EVERETT" (1794-1865) hervorzuheben, der als erster Amerikaner 1817 in Göttingen promoviert wurde. Im Gedächtnis der Nation ist aber nicht er der große Redner, sondern der als Verkörperung der amerikanischen Demokratie empfundene ABRAHAM LINCOLN 26 (1809-65), der bei der Einweihung des Soldatenfriedhofs in Gettysburg (1863) nach Everetts zweistündiger, rhetorisch glänzender Rede wenige Sätze von bezwingender Einfachheit sprach, die - wie seine Antrittsrede als Präsident (1865) - ein neues, der forensischen Rhetorik kühler gegenüberstehendes Zeitalter einleiten. Die reine Literatur konnte sich in Amerika erst allmählich entwickeln, wobei wegen der zunächst noch geringen Verbreitung von Büchern den nach englischem Muster eingerichteten Vierteljahrs- und Monatsschriften eine größere literarische Bedeutung zukam als in England. In ihnen wurde nicht nur die Kritik zu einer führenden Stellung ausgebildet27 - interessanterweise unter dem Einfluß der Lehre Coleridges von der „organischen Form" -, sondern fast alle Schriftsteller gingen über das neue Medium der weit verbreiteten literarischen Zeitschriften und Magazine den Weg an die Öffentlichkeit. 28 Selbst die von Deutschland über England nach Amerika übergreifende Jahr24

Writings and Speeches, ed. J.W. Mclntyre, 18 Bde. (Boston, 1903); Representative Speeches, ed. B. Perry (N.Y., 1898); The Papers of D. W., edd. C. M. Wiltse et al. (Hanover, N. H., 1974-80). - Biographie von C. M. Fuess, 2 Bde. (Boston, 1930); Speak for Yourself, Daniel: A Life of W. in His Own Words, ed. W. Lewis (Boston, 1969). 25 Orations and Speeches, 4 Bde. (1836, 1850-65). - Biographie von P. R. Frothingham (Boston, 1925). 26 Auswahl: A. L: His Speeches and Writings, ed. P. Basler (Cleveland, 1946); EL; The Essential L., edd. G. E. Steam and A. Fried (N.Y., 1962). - Biographien von C. Sandburg, 6 Bde. (N. ., 1926-39); von J. G. Randall, 3 Bde. (N.Y., 1946-52). 27 Vgl. The Development of Am. Literary Criticism, ed. F. Stovall (Chapel Hill, 1955). 28 F. L. Mott, A History of Am. Magazines, 5 Bde. (Bd. 1: N.Y., 1930; Bde. II-V: Cambr., Mass., 1938-68); Magazines in the United States, ed. J. P. Wood (1971). - F. L. Mott, American Journalism: A History of Newspapers in the United States (N. ., 1962).

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buch- oder Almanachmode muß erwähnt werden.29 Diese ungeheure Verbreitung findenden und als 'Souvenirs' und Geschenkartikel auf den Markt geworfenen literarischen Jahrbücher - deren Zahl von den ersten (The Atlantic Souvenir, 1826, und The Token, 1828) schon in den vierziger Jahren bis zu 60 pro Jahr anstieg - konnten durch die hohen Honorare Irving, Cooper, Bryant, Poe, Longfellow, Emerson u. a. zu Mitarbeitern gewinnen. Deren Beiträge stehen in der seltsamen Gesellschaft kitschig-sentimentaler Geschichten und Bilder mit so bezeichnenden Titeln wie 'We part no more', The heart's best dream' und dergleichen. Die große kritische Zeitschrift stellte Neuengland mit der aus der Bostoner literarischen Gesellschaft 'Anthology Club' hervorgegangenen, zur Hebung der amerikanischen Literatur gegründeten Monthly Anthology (1803-11), der Vorläuferin der großen North American Review (1815-1940), der wichtigsten amerikanischen Zeitschrift des 19. Jahrhunderts. Als Zweimonatsschrift gegründet, dann zur Vierteljahrsschrift umgebildet, erschien sie später abwechselnd monatlich und vierteljährlich. Das bei ihrer Gründung formulierte Ziel, Amerika aus der literarischen Abhängigkeit von England zu befreien, wurde erreicht durch die Mitarbeit der besten amerikanischen Schriftsteller, Kritiker und Politiker und durch den auf Dichtung, Erzählungen und Kritik ausgerichteten Inhalt. Andere, mehr philosophisch ausgerichtete Zeitschriften, von denen die in Philadelphia erscheinende American Quarterly Review (1827-37) genannt sei, dienten demselben Ziel. Ebenso bedeutend für die amerikanische Literatur waren die 'Magazines' und Wochenschriften. Die Tradition geht zurück auf die englischen moralischen Wochenschriften, nach deren Muster schon James und Benjamin Franklin ihren wöchentlich erscheinenden New England Courant (1721-26) eingerichtet hatten. Andere Wochenschriften, oft mehr politischen Inhalts, folgten in anderen Teilen des Landes. Den enzyklopädischen Inhalt der ersten Magazine bezeichnet schon ein Titel wie The Christian 's, Scholar's and Farmer's Magazine (1789), zu dem neben angesehenen Journalisten Charles Brockden Brown beisteuerte, der später als Herausgeber mehrerer Zeitschriften fungierte. Anfang des 19. Jahrhunderts nahm die literarische Originalbeiträge bringende Magazinliteratur einen großen Aufschwung. Das angesehenste Monatsblatt im ersten Jahrzehnt war das der „eleganten Literatur" gewidmete, aber viel Politik enthaltende Port Folio (1801-27). Auch die aufkommenden illustrierten Zeitschriften brachten wertvolle literarische Beiträge. Zwischen den Modeblättern und sentimentalen Geschichten von Godey's Lady's Book (1830-98) stehen Beiträge von Poe, Holmes, Mrs. Stowe, Longfellow und Emerson. Zu dem illustrierten Graham's Magazine (1826-51), das es bis auf 40000 Abonnenten brachte, steuerten Lowell, Willis, Cooper, Longfellow u.a. bei, und Poe, der diese Zeitschrift 1842/43 leitete, veröffentlichte dort seine berühmtesten Kurzgeschichten und Gedichte. Poes Name ist auch mit 29

E. B. Kirkham and J. W. Fink, Indices to Am. Lit. Annuals and Gift Books, 1825-65 (New Haven, 1975).

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einer Südstaatenzeitschrift verknüpft. Nach der kurzlebigen, in Charleston erscheinenden Southern Review (1828-32), die ihres gelehrten Inhalts wegen wenig Verbreitung fand, wurde in Richmond The Southern Literary Messenger (1834-64) gegründet, die berühmteste literarische Zeitschrift des Südens, deren Leitung Poe 1835-37 innehatte. Die führende Zeitschrift des Westens war das zuerst in Illinois, dann in Cincinnati erscheinende Western Monthly Magazine (1830-37), das wie die Southern Review einen mehr wissenschaftlichen Charakter hatte und trotz des Titels weniger den Magazinen als den kritischen Monatsschriften zuzuzählen ist. Die erste wirklich populäre allgemeine Zeitschrift mit literarischem Niveau ist The Knickerbocker, or, New York Monthly Magazine, das 1835-65 erschien und alle bekannten Schriftsteller als Mitarbeiter gewann. Amerikanische Dichter und Romanciers von Brockden Brown und Irving über Bryant und Poe bis zu Whittier und Emerson waren alle als Journalisten und Herausgeber tätig - Poe galt als glänzendster Journalist seiner Zeit -, so daß die Zeitschriften wesentlich zur Entwicklung der Essay-, Skizzen- und Short Story-Literatur beitrugen. Trotz dieser reichhaltigen publizistischen Tätigkeit behielt in der literarischen Entwicklung zunächst noch das englische Mutterland die Führung, bis in den Transzendentalisten zuerst eine charakteristisch amerikanische Schule entstand, in der sich der demokratische Freiheitsbegriff und der ethische Subjektivismus der Romantik auf eigenartige Weise verknüpften. Damit trat der ehemals puritanische Nordosten aus seiner langen Zurückhaltung hervor, in der er seit Jonathan Edwards verharrt hatte, und lieferte wieder einen entscheidenden Beitrag zur Weiterentwicklung der amerikanischen Kultur. Im Transzendentalismus erneut sich in romantischer Zeit der religiöse Impuls des Puritanertums, das seit dem 17. Jahrhundert - neben den Ideen der französischen Aufklärung - wurzel- und formbildende Kraft der amerikanischen Geschichte wurde. Der Transzendentalismus ist die amerikanische Entsprechung der europäischen - nicht nur der englischen - Romantik, und wenn er eine Generation später liegt, so ist dieses Nachkommen eine charakteristische Erscheinung des ganzen Jahrhunderts, die in den Gegebenheiten des großen ehemaligen Koloniallandes liegt. Mit der kulturellen Verzögerung bot sich aber auch die Gelegenheit, zeitlich und räumlich weit auseinanderliegende Anregungen gleichzeitig aufzunehmen: gesamteuropäische - neben englischen und französischen vor allem deutsche30 - und solche aus den heimischen Traditionen (bes. Siedlungsgeschichte, Puritanismus, Aufklärungsphilosophie) und Gegenwartserfahrungen. So entstand eine eigentümlich gemischte Stilformation, zumal in der Erzählliteratur, die Amerikas wichtigsten Beitrag zur Epoche darstellt. Bei Irving und Poe überschichten sich, jeweils anders ausgewählt, klassizistische und romantische Züge; bei Hawthorne und Melville erscheinen 30

Vgl. dazu H. A. Pochmann, German Culture in America 1600-1900: Philosophical and Literary Influences (Madison, Wise., 1957).

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stark romantische und beginnende realistische Elemente, jedoch im Zusammenspiel mit älteren Denkweisen teils biblisch-theologischer und puritanischer, teils wissenschaftlicher und psychologischer Art. Mit Recht sind die Hauptleistungen dieser Zeit, unter Einschluß Emersons und Whitmans, als 'American Renaissance' (F. O. Matthiessen) bezeichnet worden; jedoch scheinen die Erzähler ihre besondere Ausdruckskraft, einschließlich der gelegentlichen Unausgeglichenheiten bei Hawthorne und Melville, oft den eigenwilligen, so in Europa nicht möglichen Kombinationen von kulturell verschiedenartigen und dennoch sich befruchtenden Elementen zu verdanken. Bei mehreren Autoren fällt das Gefühl der Einsamkeit auf, was die noch ungefestigte Stellung des Schriftstellers in der Neuen Welt zu beleuchten scheint, obwohl es zu kleineren Gruppierungen wie den Hartford Wits und Transzendentalisten kommt. Auch schwankten die Autoren anfangs, ob sie mehr für ein englisches oder ein amerikanisches Publikum schreiben und ob sie überhaupt nach einem eigenen amerikanischen Stil suchen und heimische Sujets behandeln sollten. Zunächst waren sie, da nur ein geringes amerikanisches Publikum interessiert war, vor allem auf die englischen Verleger und Leser angewiesen. Zudem führte das Fehlen von Copyright-Bestimmungen (bis 1891) dazu, daß englische Erfolgsautoren wie Scott und später Dickens in zahlreichen amerikanischen Raubausgaben nachgedruckt wurden. Das bedeutete nicht nur eine Benachteiligung und Entmutigung für heimische Schriftsteller, sondern auch eine lange Zeit der Beeinflussung der amerikanischen Leser und Autoren durch die englische Literatur - was noch in Mark Twains erfrischender Parodie auf Scott in Huckleberry Finn deutlich wird. Washington Irving, der zunächst etwas von den alltäglich-einfachen Lebensverhältnissen und einen das Erhabene unbekümmert herabsetzenden Ton anklingen ließ - den Mark Twain später zu einer typisch amerikanischen Sehweise entwickelte -, zog sich bald auf eine kosmopolitische Perspektive und einen klassizistisch-eleganten, stimmungsvoll unterhaltenden Stil zurück, der in Europa, wo Irving sich oft aufhielt, mehr Erfolg brachte. Selbst der so stark in amerikanischen Traditionen wurzelnde Hawthorne suchte Verbindungen zu englischen und kontinentaleuropäischen Überlieferungen. In polemischer Übertreibung klagte schon Blackwood's Edinburgh Magazine (1819) über das Fehlen alter Traditionen, Sagen, historischer Denkmäler und Ruinen in Amerika, weshalb amerikanischen Stoffen das Poetische, Geschichtliche und Heroische abgehe. Mit ähnlichen Argumenten war auch Jeffrey in der Edinburgh Review gegen das vermeintlich Unpoetische der von Wordsworth behandelten Gegenstände zu Felde gezogen, und in derselben Zeitschrift hatte der streitsüchtige Sydney Smith 1818 spöttisch bemerkt, daß es eine eigene amerikanische Literatur weder gebe noch zu geben brauche, weil eine sechswöchige Schiffahrt genüge, um englische Sprache, Vernunft, Wissenschaft und Literatur ballen- und faßweise nach dort zu importieren. Eine Rückwirkung der amerikanischen Literatur auf die englische und kontinentaleuropäische setzte in dieser Epoche nur zögernd ein. Irving, der selbst von Scott beeinflußt worden war, konnte für ländliche Skizzen und

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Dorfgeschichten, wie Mary Russell Mitford sie schrieb, Vorbild sein. Poes Ästhetizismus, Formperfektion und - bei E. T. A. Hoffmann vorgeformte Neigung zum Abnormen faszinierten besonders Baudelaire, der in dem Amerikaner einen Wegbereiter der Moderne sah. Vor allem einflußreich wurde später die von Poe und Hawthorne gepflegte Kurzgeschichte, die zum Teil an die deutsche romantische Novelle und das deutsche Kunstmärchen anknüpfte, sie aber, meist schon mit Rücksicht auf die Publikation in Zeitschriften und Almanachen, zu einer knapperen, psychologisch wirkungsintensiveren Form umwandelte. Eine interessante gattungsmäßige Sonderleistung ist auch der amerikanische Roman, der nicht dem Muster des großen englischen Sitten- und Gesellschaftsromans, sondern dem des romanzenhaften Erzählens folgte, das in eigenständiger Weise zu einer Art philosophischem Ideenroman vertieft wurde. Herkömmliche Romanzenelemente wie Abenteuer, Gefahr, Liebe, heroische Tugendbewährung und typenhaft einfache Charaktere wurden angereichert mit stimmungsvollen Beschreibungen der romantischen Einsamkeitserfahrung, moralisch-psychologischen Problemstellungen und einer auf Grundfragen gerichteten philosophischen Spekulation, wobei etwa (unter Scotts Einfluß) bei Cooper Wildnis und Zivilisation oder bei Hawthorne und Melville Schuldverstrickung und Erlösung gegenübergestellt wurden. Dieser Typus ist die amerikanische Spielart des romantischen Romans. Daß es zu seiner Vormachtstellung kommt, hängt zum einen damit zusammen, daß in ihm mit romantischer Steigerung gewisse Grundideen - aus Puritanismus, Aufklärungsglauben oder vertiefter Natur- und Schicksalsauffassung - in einer die Realität überbietenden Weise absolutgesetzt wurden. Zum anderen fehlte im damaligen Amerika, auch in den östlichen Städten, noch die komplexere Sozialstruktur, die ein geeigneter Vorwurf für einen anspruchsvolleren - so erst bei Howells erscheinenden - Gesellschaftsroman gewesen wäre. Vielmehr wies die amerikanische Wirklichkeit mit ihren auffälligsten, in Europa jetzt für die schwärmerischen Cooper-Leser durchaus literaturwürdigen Zügen mit den unberührten weiten Landschaften, der großen, nach Westen führenden Bewegung der Landnahme und des Grenzerlebens, der von Pionierromantik umgebenen Welt des Abenteuers, der elementaren Bewährungen und Erfahrungen, einschließlich der Konfrontation mit dem indianischen Naturmenschen - in die Richtung der Romanzentradition. Die Zeitverschiebung der amerikanischen Literatur gegenüber der europäischen läßt sich auch an außerliterarischen Daten ablesen. Erst der Bürgerkrieg (1861-65) brachte in der Geschichte der USA einen ähnlich markanten Einschnitt, wie man ihn in Europa etwa dreißig Jahre früher ansetzt: 1832 mit der ersten Reform Bill und dem Tode Goethes und Scotts, 1830 mit der Julirevolution oder 1837 mit dem Regierungsantritt der Königin Victoria.

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I. DIE V E R S D I C H T U N G 1 1. Nachspiel des Klassizismus und Übergänge Die englische Romantik drückt sich von vornherein am vollständigsten in der Versdichtung, nicht im Roman aus. Schon aus Blakes (s. S. 507 ff.) rätselhaften Visionen und Prophetien, auch aus der intensiven Bildlichkeit seiner einfacheren frühen Gedichte, spricht eine Phantasie, die mit ihrer komplexen Spannung zwischen Natürlichem und Visionärem und mit ihrer symbol- und mythenbildenden Kraft der romantischen Imagination zuzurechnen ist und sogar zum Ausgangspunkt bei deren Bestimmung gemacht werden kann.2 Allerdings gibt es auch in der Versdichtung klassizistische Nachläufer, besonders in der satirischen Gattung, wo das erprobte Vorbild des 18. Jahrhunderts bis zu Byrons Englischen Barden und darüber hinaus Gültigkeit behält. So zeigt sich Popes Schule in der Rolliad3 (1795), die, dem parlamentarischen Parteienkampf entsprungen, einen unvorsichtigen Sprecher namens Rolle zum Prügeljungen für die Torypartei ausersah und unter dem Motto 'jouez bien votre role' ein gewaltiges, bis auf den Ahnherrn Fürst Rollo zurückgehendes Epos aufbaute. Die Satire besitzt keine über das Angriffsziel hinausgehende Bedeutung, aber sie war schlagkräftig und lustig für den Augenblick. Unter diesem Gesichtspunkt sind auch die flotten und lauten Verse von JOHN WoLCOT4 ('Peter Pindar', 1738-1819) zu bewerten. Sein leichtes Schaffen - er ' B i b l i o g r a p h i e n u. Forschungsberichte: s.S. 559. - K r i t i k (s. auch S. 560): M. Bowra, The Romantic Imagination (1950 u. ö.) [ausgewogene Einführung]; G. Wilson Knight, The Starlit Dome: Studies in the Poetry of Vision (21959 u. ö.) [kontrovers, aber anregend über Symbole und Visionen]; F. Kermode, Romantic Image (1957) [Kontinuität zw. rom. u. mod. Dichtung]; D. Perkins, The Quest for Permanence: The Symbolism of Wordsworth, Shelley, and Keats (Cambr., Mass., 1959); K. Kroeber, Romantic Narrative Art (Madison, 1960); E. E. Bostetter, The Romantic Ventriloquists (Seattle, Wash., 1963) [Konflikt zw. Subjektivität und Realität]; H, Fischer, Die romantische Verserzählung in England (Tübingen, 1964); P. Fry, The Poet's Calling in the English Ode (New Haven, 1980); A. S. Gerard, Engl. Romantic Poetry (Berkeley, 1968) [ausgewogen]; H. Bloom, The Visionary Company (Ithaca, N.Y., 21971) [an Blake orientiert];!. R. Jackson, Poetry of the Romantic Period (Routledge Hist, of Engl. Poetry, Bd. IV) (Lo./Boston, 1980). - S a m m l u n g e n : Engl. Romantic Poets: Modern Essays in Criticism, ed. M. H. Abrams (Lo./N.Y., 21975 ['I960]). - Zeitgenöss. Rezensionen: Romantic Bards and Brit. Reviewers, ed. J. O. Hayden (1971); The Romantics Reviewed: Contemporary Reviews of Brit. Rom. Writers, ed. D.H. Reiman, 4 Bde. (N. ., 1972). - I n t e r p r e t a t i o n e n : Versdichtung der engl. Romantik: Interpretationen, edd. T. A. Riese u. D. Riesner (Berlin, 1968). - G e d i c h t a n t h o l o g i e n : s. S. 560. 2 Vgl. besonders H. Bloom (s. Anm. 1); zum Gesamtproblem: K. Raine, B. and the New Age (1979). 3 Bis 1812 in 22 Auflagen. - Vgl. C.W. Previte-Orton, Political Satire in English Poetry (Cambr., 1910). 4 Works, 5 Bde. (1812); 4 Bde. (1816) [mit Bibliographie]; Selections, ed. J. H. P. Hunt (1890). - T. Reitterer, Leben und Werke P. P. s (Wien, 1900); T. Girtin, Doctor with Two Aunts: A Biography of P. P. (1959).

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schrieb Oden, Epigramme und Balladen ebenso gut wie die heroischen Reimpaare der Epen - erreichte bei dankbaren Vorwürfen wie der Johnsonbiographie Boswells (Bozzy and Piozzi) oder der Schilderung des Hofs König Georgs III. {Peeps at St. James} sowie in der epischen Lousiad (1786) anhaltendere Erfolge. Aus dieser politischen und gesellschaftlichen Sphäre führte WILLIAM GIFFORDS (1756-1826), der Herausgeber der umsturzfeindlichen Quarterly Review und Übersetzer von Juvenal und Persius, die Satire wieder auf das literarische Gebiet, als er mit der Baviad (1794) unter dem Vorwand, eine 'Delia Crusca'-Schule anzugreifen, romantische und revolutionäre Dichterlinge, meist weiblichen Geschlechts, verspottete. Der Erfolg reizte zur Fortsetzung (Maeviad, 1795). Wenn auch das satirische Ziel erreicht wurde, der Missionsanspruch dieses Pope-Nachzüglers verstärkte nur das Mißverhältnis von wütendem Angriff und geringfügigem Gegenstand. Besser bewährte sich Giffords unzweifelhaftes Formtalent in der zusammen mit Canning, Frere und George Ellis geschriebenen Wochenschrift Anti-Jacobin6 (1797-98), denn die hier bekämpften Gedanken der französischen Revolution, deren umstürzende Kraft die Verfasser aufs stärkste empfanden, boten dem Witz und Zorn der Satire ein würdigeres Ziel (vgl. Parodien auf Southey und die französische 'New Morality')· Fortschrittlicheren Inhalten wurde die klassizistische Dichtform dienstbar gemacht durch ERASMUS DARWIN ? (1731-1802), der in seinen naturwissenschaftlichen Lehrgedichten in Reimpaaren The Botanic Garden (Teil I: Economy of Vegetation, 1791; Teil II: Loves of the Plants, 1789) Linnes botanisches System in Verse brachte und in Zoonomia (1794) und Phytologia (1800) bereits die Erblichkeits- und Zuchtwahllehrsätze seines berühmten Enkels Charles Darwin vordeutete. Trotz verstechnischen Geschicks ist der ganze Plan ein Geschmacksirrtum, den Cannings die Pflanzenliebschaften parodierendes Loves of the Triangles im Anti-Jacobin tödlich lächerlich machte. Dagegen kann GEORGE CRABBE8 (1754-1832) als letzter wirklicher Dichter der klassizistischen Schule gelten. Stets die Form des heroischen Reimpaars beibehaltend, begann er rein nachahmend mit den allgemeinen, Büchern gewidmeten Bildungsbetrachtungen The Library (1781). Dann reizte ihn das die Realität verfälschende Dorfidyll Goldsmiths zur Entgegnung in The Village (1783), und mit der getreuen Schilderung der unerfreulichen Wirklichkeit des dörflichen Alltags, in dem er zugleich Schicksalhaftes spürbar werden ließ, 5

Baviad and Maeviad, New Edition (1797 u. ö.); Autobiography (1802, repr. 1827). Vgl. R. B. Clark, W. G., Columbia Studies (N. ., 1930). 6 2 Bde. (41799; repr. Hildesheim, 1970); Auswahlen: Poetry of the Anti-Jacobin, ed. C. Edmonds [mit Kommentar] (1852 u. ö.); ed. L. Rice-Oxley (1924, Percy Reprints). 7 Poetical Works [Botanic Garden, Temple of Nature], 3 Bde. (1807); Prosa: Zoonomia, 2 Bde. (1794 u. ö.); Phytologia (1800). - Biographie von D. King-Hele (1963); D. M. Hassler, E. D. (New Haven, 1974). 8 Poetical Works with Letters, Journals and Life by his Son, 8 Bde. (1834) [grundlegend]; Poetical Works, edd. A. J. and R. M. Carlyle (Oxf., 1908, 1914). - Selections, ed. A. C. Deane (21932); ed. G. Grigson (1950). - Biographie u. Kritik: T. E. Kebbel, Life of G. C. (Port Wash./Lo., 1972); P. New, G. C.'s Poetry (Lo./N.Y., 1976).

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fand er das ihm liegende Thema. Seiner Neigung zu den alten Balladen folgte er in Sir Eustace Grey, The World of Dreams und The Hall of Justice. Aber seine Stärke lag nicht in romantischer Phantasie, sondern in der Fähigkeit, durch zwingende Wirklichkeitsabbildung zu zeigen, wie ein einfaches Leben verrinnt und verkümmert. Als er nach langer Pause mit The Parish Register (1807) diese Dichtart wieder aufnahm, zeigte sich als Gewinn die Einschmelzung der früher vereinzelten Bilder in eine Erzählung gedrängter Lebensgeschichten, wie sie weiter ausgeführt in dem das Kleinstadtleben schildernden Borough (1810) und den die Einzelheiten ausmalenden Tales in Verse (1812) und Tales of the Hall (1819) erschienen. Dabei herrscht die Tragikomödie vor, das Mischen der Gefühle, das der Dichter mit gelegentlich grimmigem Humor unterstreicht, während er die frühere Zustandsschilderung mehr durch Charakterzeichnung ergänzt. Crabbes Anspruch, der Popeschen Dichtüberlieferung eine inhaltliche Erweiterung gegeben zu haben, besteht zu Recht. Sein Werk vermag realistisch gerichtete Zeiten anzusprechen, in der Romantik konnte er nicht viel gelten. Der in seinem Dichtertum bescheidenere SAMUEL ROGERS9 (1763-1854), der in seinem klassizistisch-gefälligen Frühwerk Pleasures of Memory (1792) glückliche Erinnerungsbilder in Reimpaaren aufgezeichnet hatte, fand als feingebildeter Kenner den ihn und seine Zeitgenossen, auch die großen Geister der Romantik, interessierenden Stoff in den beiden Folgen seiner Reisebildersammlungen Italy (1822, 1828), die das Reimpaar zugunsten des Blankverses verließen. THOMAS CAMPBELLI() (1777-1844) schließlich, der sich trotz seiner Revolutionsbegeisterung gegen die neue Dichtung abweisend verhielt, stand im Grunde mehr zwischen den Zeiten als Rogers. Zwar sind seine Pleasures of Hope (1799) ein letzter Beitrag zu einer altmodischen Gattung, unpersönlich und unbildlich in den Rogers' Glätte erstrebenden Reimpaaren, und auch die „häusliche Erzählung" Gertrude of Wyoming (1809) steht nur in den flüssigen Spenserstrophen und dem ausländischen Schauplatz Pennsylvania romantischen Bestrebungen nahe; aber seine kürzeren lyrischen Stücke haben einen eigenen Klang, der glücklicher noch als in der elegischen Tonart (Lines on Revisiting a Scene in Argyllshire) in den Balladen hervortrat (z. B. Lord Ullin's Daughter), auch in dem metallischen Hammerschlag der Kriegsgesänge Hohenlinden; The Battle of the Baltic; Ye Mariners of England, alle durch die Deutschlandreise (1802) angeregt, und im Song of the Greeks. Ihre vereinfachte, dem Durchschnittsempfinden zugängliche Gefühlsansprache wurde schnell populär. Mit ROBERT SOUTHEY" (1774-1843) beginnt die Reihe der eigentlichen Romantiker. Aber obwohl er zeitweilig eng mit Coleridge und Wordsworth ver9

Poetical Works, ed. E. Bell, Aldine Edition (1875 u. ö.); von Turner illustrierte Ausgabe von Italy (1838); Reminiscences and Table-Talk, ed. W. H. Powell (1903); Recollections of the Table-Talk of S. R., ed. M. Bishop (1952). - Vgl. R. E. Roberts, S. R. and his Circle (1910). 10 Complete Poetical Works, ed. J. L. Robertson (Oxf., 1907); Selections, ed. L. Campbell (1904). - Life and Letters, ed. W. Beattie, 3 Bde. (1848, 1850). 11 K. Curry, R. S.: A Reference Guide (Boston, 1977). - Poetical Works: Collected by himself, 10 Bde. (1837/38 u. ö.; repr. Hildesheim, 1977); Poems, ed. M. H. Fitzgerald

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bunden war, ist er mehr eine Übergangserscheinung als einer der bedeutenden Geister seiner Zeit. Als Dichter vergessen, als Prosaiker mehr ein großer Name als eine lebendige Kraft, war er der geringste der drei, die man nach ihrem Hauptwohnsitz im Seengebiet Cumberlands als Seeschule (Lake School) zusammenfaßt. Dennoch hat er als erster das Programm und die umstürzende Gesinnung der neuen Dichtung vertreten. Als Kind bereits wegen eines die Ideen der französischen Revolution bejahenden Aufsatzes von der Schule gewiesen, faßte er mit Coleridge, den er bei dessen Besuch in Oxford als Gesinnungsgenossen kennenlernte, den abenteuerlichen Plan einer irgendwo zu gründenden „Pantisokratie", d. h. einer idealen ländlichen Lebens- und Dichtergemeinschaft, in der es keine Vorrechte und kein Eigentum geben und die Befreiung von Selbstsucht gefunden werden sollte, ein Plan, für den u. a. auch Wordsworth und Lovell gewonnen wurden. Nach dem Vorbild des seiner freigeistigen Ansichten wegen emigrierten Theologen Joseph Priestley wählte man Amerika (die Ufer des Susquehanna in Pennsylvania) als Ort dafür, und als erforderliche gleichgesinnte Kameradinnen heirateten Southey, Coleridge und Lovell die drei Schwestern Fricker. Der Plan, dessen Unausführbarkeit Southey schon nach der Rückkehr von seiner spanischen Reise (1796) einsah, wurde zu nichts, aber die schwärmerischen Ideen blieben in seinem Schaffen lebendig, zum Teil auch nach seiner Wandlung zum „Reaktionär". Die ganz im Bann der französischen Revolution stehenden Jugendwerke Joan of Arc (1793), ein Blankversepos, Wat Tyler, ein unveröffentlichtes, 18i7 von seinen Feinden ans Licht gezogenes Versdrama auf den Bauernaufstand von 1381, und das mit Coleridge verfaßte Drama The Fall of Robespierre (1795), das die umstrittene Gegenwart kühn auf die Bühne bringen sollte - sind literarisch unbedeutend, aber als Zeugnisse eines bis zur Umsturzforderung gesteigerten Menschheitsglaubens interessant, der nun nicht mehr wie bei Blake vereinzelt war, sondern von einem ganzen Kreis begabter Dichter geteilt wurde. Etwas von dem Feuer dieser jugendlichen Begeisterung ist in den meist 1797-98 geschriebenen Balladen, die schlicht volkstümlich und mit einer besonderen Begabung für das schreckhaft Groteske das Höchste darstellen, was Southey gelang (St Michael's Chair; The Well of St. Keyne; Jaspar; The Old Woman of Berkeley; The Battle of Blenheim und 1799, mit Coleridge zusammen verfaßt, aber später ausweitend verwässert, The Devil's Walk). Von den Balladen ging Southey wie Scott, aber ohne dessen Können, zu epischem Schaffen über. Keines seiner vier Epen Thalaba (1801), Madoc (1909) [ausreichende Auswahl]. - Wichtigste Prosa [Gesamtausgabe fehlt]: Life of Wesley, ed. M. H. Fitzgerald, 2 Bde. (1925); Life of Nelson, ed. E. R. H. Harvey (1953), EL; Lives and Works of the Uneducated Poets, ed. J. S. Childers (1925); Commonplace Book, ed. J. W. Warter, 4 Bde. (1849-51). - Briefe: Life and Correspondence, ed. C. C. Southey, 6 Bde. (1849-50); New Letters, ed. K. Curry, 2 Bde. ( . ., 1965). Auswahlen: ed. J.W. Warter, 4 Bde. (1856); WC. - Biographie: G. Carnall, R. S. and his Age: The Development of a Conservative Mind (Oxf., 1960); K. Curry, S. (N.Y./Lo., 1975) [präzise].

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(1805), Curse of Kehatna (1810) und Roderick the Last of the Goths (1814) ist lebendig geblieben, aber motivlich und thematisch steckt in ihnen die ganze damalige Romantik: wilde Phantasien, abenteuerliche Ereignisfolgen, Freiheitsbegeisterung gegen die Unterdrücker der Menschenrechte und Schwelgen in fremdländischem Leben und fernöstlichem Prunk. Revolutionär gibt sich auch die Prosodie: die Blankverse von Madoc und Roderick wie die strophenähnlichen Vershaufen von Thalaba und Kehama verwischen den ordnenden Zeilenabsatz und zerstören durch steten Wechsel und unerwartete logische Einschnitte (Zäsuren) das früher herrschende Gleichmaß. Die Sprache selbst ist jedoch einfach und rein, was auch für das bis heute lebendig gebliebene Kindergedicht The Cataract of Lodore (1823) gilt, das in klangmalenden Wortkaskaden einen Bachlauf von der Quelle bis zum stürzenden Wasserfall veranschaulicht. Dieser Vorzug eines Stils, der sich bei aller romantischen Farbigkeit klassizistisch der Aufgabe der klaren Mitteilung unterordnet, konnte in der Prosa besser zur Geltung kommen, blieb jedoch das immer gleichartige Instrument: in den historischen Werken (u. a. History of Brazil, 1810-1819; Life of Cromwell, 1821), im Reisebericht (Letters from Spain and Portugal, 1797), in der satirischen Zeitkritik (Letters from England by Don Espriella, 1807) und der politischen Flugschrift (Essays, Moral and Political, 1832), sogar in der erträumten Unterhaltung mit dem Geiste von Sir Thomas More (Colloquies on the Progress and Prospects of Society}. Dieser schematisierende Zug weist eher auf das 18. Jahrhundert zurück. Auch Southeys literarkritische Schriften und Notizensammlungen - Lives of the Uneducated Poets (1829), Omniana (1812) und das nachgelassene Commonplace Book - bleiben ohne den persönlichen, durchdringenden Blick und die belebende sprachliche Expressivität der eigentlich romantischen Kritik. Was als Ganzes Geltung behielt, ist wenig: das im Heldenkult Carlyle vordeutende Life of Nelson (1813), ein für Matrosen gedachtes Handbuch, das mit seiner schlichten Sprache das überzeugendste Buch über den Nationalhelden geblieben ist; das in der sicheren historischen Grundierung weniger romanhafte und trotz des anglikanischen Standpunkts weniger parteiische Life of Wesley (1820) und schließlich das trotz der Weitschweifigkeit reizvolle und mit Güte geschriebene Leben Cowpers (in: Life and Works of Cowper, 1833-35). Sein wertvollstes Vermächtnis sind vielleicht die Briefe. Nach Landors Worten zeigen sie seinen wahren Charakter, sie sind die beste Einführung zum Verständnis des Menschen. Mit einer Natürlichkeit und einem Humor, die das dichterische Werk oft schmerzlich vermissen läßt, zeigt Southey sich in seinem Alltag, in seinen Schwächen wie auch als treuer Freund, in seinen dichterischen und gelehrten Bemühungen, gänzlich aufrichtig und frei von Pose. In der brief- und memoirenfreudigen Zeit kommt dem 1811 einsetzenden Diary des Juristen HENRY CRABB ROBINSON 12 (1777-1867) wegen seines Einge12

The Diary: Reminiscences and Correspondence, ed. T. Sadler, 3 Bde. (1869), 2 Bde. (1872) [Teildruck aus 102 MS.-Bänden]; Correspondence of H. C. R. with the Words-

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hens auf die geistigen Bewegungen, namentlich die Dichtung, besondere Bedeutung zu. Formal hat dieses Tagebuch den Reiz vertraulicher, zur Weitschweifigkeit neigender Memoiren, in denen auf künstlerische Gestaltung verzichtet wird. Robinson, der mehrmals in Deutschland war, berichtet über Gespräche mit Herder und Goethe, eine Vorlesung bei Schelling, seine KantLektüre und über Goethes Bildungsideal, das er als einziger Engländer seiner Zeit richtig verstand.

2. Coleridge SAMUEL TAYLOR COLERIDGE13 (1772-1834) ist der vielseitigste, seiner Zeit als Genie erscheinende Vertreter der englischen Romantik: als Dichter faszinierend und anregend, als brillanter Gesprächspartner von vielen gesucht, als hochsensibler, die neuen Ideen der deutschen Romantik selbständig aufgreifender Literaturkritiker und -theoretiker bis heute von starker Wirkung, besonders auf die moderne Shakespearekritik und Dichtungsauffassung, und im 19. Jahrhundert auch als Verfasser politischer und religiöser Schriften (J. S. worth Circle, ed. E. J. Morley (Oxf., 1927); H. C. R. in Germany, ed. E.J. Morley (Oxf., 1929); H. C. R. on [English] Books and their Writers, ed. E. J. Morley, 3 Bde. (1938) [beste Auswahl]. - Biographie von J. M. Baker (1937); H. Marquardt, H. C. R. und seine deutschen Freunde, 2 Bde. (Göttingen, 1964-67). Vgl. S. 575. 13 B i b l i o g r a p h i e : V. W. Kennedy u. M. N. Barton, S. T. C.: A Selected Bibliography (Baltimore, 1935; repr. N.Y., 1969); R. and J. Haven and M. Adams, S.T. C: An Annotated Bibliography of Criticism and Scholarship (Boston/Lo., 1976 ff. [i. E.]); J. D. Caskey and M. M. Stapper, S. T. C.: A Selective Bibliography of Criticism, 1935-1977 (1968/78). - C o l l e c t e d W o r k s , ed. K. Coburn, ca. 16 Bde. (Lo./Princeton, 1969 ff. [i. E.]). - D i c h t u n g e n : Complete Poetical Works, ed. E. H. Coleridge, 2 Bde. (Oxf., 1912); Auswahl EL, WC u. a. - Prosa [Gesamtausgabe fehlt]: Biographia Literaria, ed. J. Shawcross, 2 Bde. (1962 [ 907]); EL; Lectures on Shakespeare, ed. T. Ashe, Bonn's Libr. (1883 u. o.); C.'s Shakespearean Criticism, ed. T. M. Raysor, 2 Bde., (Cambr., Mass., 1930); EL; WC; Table-Talk and Omniana, ed. T. Ashe, Bonn's Libr. (1884); Anima Poetae, ed. E. H. Coleridge (1895); C.'s Miscellaneous Criticism, ed. T. M. Raysor (Cambr., Mass., 1936); Inquiring Spirit, ed. K. Coburn (Toronto, 1979 [ 951]). - A u s w a h l e n : Selected Poetry and Prose, ed. S. Potter (1933, erw. 1950); The Portable C., ed. I.A. Richards (N.Y., 1950 u. o.). - B r i e f e : Collected Letters, ed. E. L Griggs, 6 Bde. (Oxf., 1956-71). - T a g e b ü c h e r : The Notebooks of S. T. C., ed. K. Coburn (1957 f f. [i. E.]). - B i o g r a p h i e : Ältere Standardbiographie von J. D. Campbell in Ausg. d. Poetical Works (1893), als Buch (1894); W. J. Bäte, S. T. C. (N.Y., 1968). - K r i t i k (vgl. auch S. 582): J. L. Lowes, Road to Xanadu (Boston, 21930) [dichterischer Schaffensvorgang]; I. A. Richards, C. on Imagination (1934 u. o.); B. Willey in seinen 19th Cent. Studies (1949); H. House, C. (1953); J. Beer, C. The Visionary (1959, 21970); J. A. Appleyard, C.'s Phil, of Lit. (Cambr., Mass, 1965); R. Parker, C.'s Meditative Art (Cornell UP, 1975); J. R. Barth, S. J, C. and the Symbolic Imagination (Princeton, 1977); K. Cooke, C. (1979) [einführende Übersicht]. - S a m m l u n g e n : C., ed. K. Coburn (Englewood Cliffs, N.J., 1967); C, ed. J. R. de J. Jackson (N.Y./Lo, 1970) [zeitgen. Urteile]; New Perspectives on C. and Wordsworth, ed. G. H. Hartman (N.Y./Lo., 1972); C.'s Variety: Bicentenary Studies, ed. J. Beer (1974).

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Mill, M. Arnold, F. D. Maurice). Er war entscheidend an der im 19. Jahrhundert sich vollziehenden Umbildung des literarischen Geschmacks und der Literaturkritik beteiligt (Einfluß auf Lamb, Hazlitt, Hunt, Carlyle, Arnold), obwohl seine eigene philosophische Position zwischen der von ihm (vor Shelley und Keats) vollzogenen Wiederbelebung des Neuplatonismus und der Philosophie des deutschen Idealismus nie ganz klar war und seine Äußerungen der Form nach oft bruchstückhaft blieben und wie Selbstgespräche wirken. Aber diese Splitter fügen sich zu einem imposanten Werk. Es läßt sich nicht absehen, auf wie viele Geister es zündend wirkte, und nur schwer läßt sich die Struktur des Geistes abschätzen, aus dem es hervorging. Als Dichter hat Coleridge nur wenig ganz Großes geschaffen, und das meiste davon blieb fragmentarisch. Aber in fast allen, auch den mittelmäßigen Gedichten zeigt er sich als Meister des Übersinnlichen und der Halluzination, außerdem als Künstler eines subtilen Rhythmus und einer schlichten, jedoch feinnervig bewegten und sich intensiv steigernden Dichtungssprache und Bildlichkeit, die immer wieder in expressiven konkreten Details von verzaubernder, auch das Unterbewußtsein ansprechender Wirkung ihre Höhepunkte sucht. Lebensgeschichtlich lassen sich vier Epochen abgrenzen, deren erste bis zum Zusammenleben mit den Wordsworths in Somersetshire reichte (1797). Es war seine Bildungszeit, in der er das Jakobinertum als Idee radikaler Gesellschaftserneuerung schwärmerisch aufgriff und in Southeys sozialutopischem Plan der Pantisokratie (vgl. S. 585) und seinem eigenen Gedicht Pantisocracy (1794) verfolgte, außerdem in revolutionären Vorträgen, die er nach Streitigkeiten mit seiner Cambridger Universitätsbehörde in Bristol hielt. Aber schon mit der Übersiedlung nach Nether Stowey trat das Politische hinter dem Metaphysischen zurück. Obwohl er einmal den Beruf eines unitarischen Predigers ergreifen wollte, neigte er zum Pantheismus und versenkte sich bewundernd in Spinoza und Böhme, was in der zweiten Epoche (1797-1802) zum dichterischen Ausdruck reifte (vgl. Lyrical Ballads, 1798); es war die Zeit seiner großen Dichtungen, während die politische, jetzt aber schon revolutionsfeindliche Tätigkeit der Prosa zugewiesen wurde (Artikel für die Morning Post). Neben der Dichtung, die mit dem Weggang von Nether Stowey versiegte, trat die Philosophie mehr und mehr in den Vordergrund. Zwei Jahre lang weilte er in Deutschland, meist in Göttingen, las Lessing und Schiller, übersetzte auch den Wallenstein (1800) und studierte Kant und Schelling. Sein Traum wurde die erhoffte Wiedervereinigung von Philosophie und Theologie. In der dritten Epoche (1802-16) umdüsterte sich sein Lebensschicksal, und als die Wedgwoods starben, die ihm, der sich in keinen Beruf schicken konnte, eine Pension ausgesetzt hatten, geriet der nie willensstarke Dichter, der seit 1800 an chronischen Nervenschmerzen litt, vorübergehend in den Bann eines als normal geltenden Opiumpräparats (Laudanum), dessen unheilvolle Folgen nicht hinreichend bekannt waren. Vier Jahre lang wohnte er im Seendistrikt nahe bei Wordsworth und Southey, zwei Jahre lang suchte er Gesundheit in Malta und Italien. Diese Epoche, in der er wenig Dichtung schrieb, war die große Zeit der Ästhetik und Kritik. Er hielt

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Vorlesungen (1808, 1811/12, 1813/14, 1818), gab eine Wochenschrift heraus (The Friend, 1808-10) und schrieb 1815 sein größtes, jedoch unausgeglichenes und zunächst wenig beachtetes Prosabuch, die Biographia Literaria (1817 erschienen). In der letzten Epoche (1816-34) sah er den Traum eines bald als Logik, bald als Kompendium der Wissenschaften gedachten Opus magnum' wie alles andere Bruchstück bleiben. Er wohnte bei Freunden, seit 1816 bei dem gütigen Arzt James Gillman in Highgate, der ihm durch starke Reduktion des Opiumgenusses half, seine frühere Spannkraft weitgehend zurückzugewinnen. Er schrieb jetzt meist Theologisches, einen Lay Sermon (1817), Aids to Reflection (1825) und Notes on the English Divines (erschienen 1855). Die lebenslang gesuchte Vereinigung eines dreifach gerichteten Strebens, das Lamb in die Formel 'Logician, Metaphysician, Bard' faßte, ist nicht gelungen, und die Besprechung des Dichters hat sich fast nur mit der zweiten Epoche zu befassen. In dem revolutionären Sturm und Drang der Frühzeit ist der politische Stoff nicht gemeistert; er liegt unverarbeitet im Robespierre-Drama (gemeinsam mit Southey 1794) wie in den 1794-95 geschriebenen politischen Sonnets on Eminent Characters, die in lockerem Bau und rhetorischem Stil Godwin und Priestley feierten, Pitt angriffen und Burke begrüßten. Das Vorbild Milton blieb unerreicht, aber die Beschäftigung mit der in klassizistischer Zeit nur wenig gepflegten Sonettform, die ihm die Sonnets (1789) von William Lisle Bowles14 (1762-1850) in die Hände spielte, wurde bedeutsam. Bowles hatte nach Grays, Wartons, John Bampfyldes und Egerton Brydges' Vorgang, die alle an Miltons Allegro-Penseroso-Stimmungen anknüpften, die Naturdichtung zum Gehalt seiner Sonette gemacht. Stimmungsgetriebenes Sich-Hinwenden zur Stille, zur Einsamkeit der Natur, die stärkenden Trost gewährt in menschlichem Leid (z. B. im zeittypischen Motiv der erinnerungsvoll wiederbesuchten schönen Landschaft), schuf einen Einklang von Naturbild, Melancholie und Vergangenheitskult (Bamborough Castle; To the River Cherwell; At Dover Cliffs; At Ostend), der zwar gefühlsüberlastet war, aber echt im Empfinden und frei von der künstlichen Dichtsprache der Popeschule. Coleridge, der auch Bowies' Reimfolge (abba cddc eff egg) gelegentlich nachbildete, empfand die oft kühne Bildlichkeit der Sprache als Offenbarung eines natürlichen Dichtstils und fühlte seine eigene Natur- und Schönheitsliebe erweckt. So ging er von dem deklamatorischen und wie im 18. Jahrhundert begrifflichen Stil der Monody on the Death of Chatterton (1790) über zu dem schlichten, Wordsworth ähnlichen Ton in den Gedichten Happiness (1791); To the River Otter; On an Autumnal Evening (beide 1793); The Sigh (1794); To the Nightingale (1795). Dann aber suchte er die revolutionäre und die elegische Dichtung zusammenzufassen in der aus den Religious Musings (1794-96) hervorgegangenen Vision The Destiny of Nations (1796). Es han14

Poetical Works, ed. G. Gilfülan (Edinb., 1855); Fourteen Sonnets u. Poems (repr. N.Y., 1978/79). O. Rietmann, W. L. B. (Basel, 1940); vgl. Coleridge, Biogr. Lit. I, Kap. 1.

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delt sich um eine teils an Jeanne d'Arc gerichtete, die Gleichberechtigung aller Geschöpfe verkündende Hymne auf die mehr platonisch als christlich gesehene Gottheit und um eine metaphysische Rechtfertigung der Revolution als Triumph unendlicher Liebe über Unterdrückung. Es ist seine letzte Dichtung, in der kühne gedankliche und sprachliche Fügungen (allegorische Personifikationen von miltonischer Erhabenheit ebenso wie gefühlsintensive Augenblicksbilder neuer Art) hart nebeneinanderstehen, allerdings in ihrer mystifizierenden Wirkung (auf Jeanne d'Arc) auch wieder erlebnismäßig verbunden werden. Fortan, von lyrischen Stücken wie Songs of the Pixies (1793) vorgedeutet und in der Eolian Harp (1795) erstmals gemeistert, bekommen die Dinge etwas Traumhaftes, sie sind gleichsam durchscheinend, voller Halblichter und Ahnungen. Coleridge hatte Worte für das bisher Unaussprechbare gefunden, er war zum Dichter geworden. Auch das Politische konnte er jetzt poetisch bewältigen. Anders als Wordsworth, der nach einigen ärgerlichen Ausbrüchen der Enttäuschung schwieg, hat Coleridge der großen Geschichtswende zwei Oden gewidmet, deren erste, To the Departing Year (1796), nicht mehr, wie in The Destiny of Nations', eine erzählend beschriebene, sondern eine seherisch erlebte Vision ist. In der für Coleridge charakteristischen Odenform hat dies Gedicht die vom Dichter geforderten stürmischen Übergänge und die überquellende Phantasie und Empfindung. Die zentralen Bilder - die blutbefleckte Gestalt des vergangenen Jahres, der zur Rache aufrufende Erdgeist und ein Drachentier (allegorisch für Hunger, Blut und Zerstörung) verfließen mit einem Appell an die Menschheit zum Umdenken, einer Sympathieerklärung für die Revolution trotz anfänglicher Greueltaten, einer Anklage der grausamen Zarin und des selbstsüchtigen, schuldig gewordenen Albion sowie mit dem überraschenden Rückzug des Läuterung suchenden, betrachtenden Geistes auf sich selbst. Gedämpfter und verklärter ist die Ode France (1798); nach dem schockierenden Einmarsch der angeblich die Menschenrechte verteidigenden Franzosen in die seit Menschengedenken republikanisch-freie Schweiz (1798) wendet sich hier der junge Dichter von der politischen Freiheitsbegeisterung, zu der ihn einmal seine Schöpfungsliebe inspiriert hatte, ab, leiht aber trotz aller Enttäuschung seinem Glauben an die Unvergänglichkeit einer in der Naturverehrung wurzelnden Freiheit Worte. Belebend wirkt eine Coleridge auch sonst eigene spiralenförmige Bewußtseinsbewegung, die vom konkret Vorgestellten über Reflexionen in die anfängliche, aber nun visionär erhöhte und symbolisch durchscheinende Bildwelt zurückführt - wohl mit ein Grund dafür, daß Shelley dieses Gedicht die schönste englische Ode nannte. Ausdrucksstärker jedoch als diese politischen Stücke ist die Gruppe der beseelten Landschaftsgedichte. Sie nähern sich odisch bewegter Feierlichkeit, sind aber vorwiegend im persönlichen Gesprächston von 'conversation poems' - als imaginäre Hinwendung an gleichgestimmte Freunde - gefaßt, wobei der im Klassizismus geforderte feste Kompositionsplan von einer Folge frei sich entfaltender, das Gedicht als „organische Form" erst aufbauender Assoziationen abgelöst wird. This Lime Tree Bower My Prison (1797 entstan-

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den, nachdem ein kleiner Unfall den Dichter daran gehindert hatte, Freunde beim Spaziergang zu begleiten) flicht die Freundschaftsbeteuerung und die mit allen Sinnen erfühlte Natur in der göttlichen Immanenzerklärung zusammen. Das Penseroso-Gegenstück Frost at Midnight (1798), gleichfalls in reich modulierten Blankversen geschrieben, erlauscht am Bettchen des schlafenden Kindes aus der Stille und den Geräuschen der Nacht, den Bewegungen des verglimmenden Kaminfeuers und dem Kindheitserinnern ein Ewigkeitsahnen, das sich abschließend zum Symbol des tauenden Schnees und der im Mondlicht leuchtenden Eiszapfen verdichtet. Fears in Solitude (1798), im gleichen Metrum, nimmt ein Gerücht von einer französischen Invasion Englands zum Anlaß, um, von einem Landschaftsbild ausgehend und die veredelnde Wirkung der Natur betonend, Englands moralische Schuld anzuklagen und das ganze Menschengeschick unter das Urteil des Ewigen zu stellen. Damit waren die vom Klassizismus dem Menschen gezogenen Grenzen endgültig überschritten; die Lyrical Ballads (1798), jene mit Wordsworth veröffentlichte Sammlung, die aller Welt die neue Dichtung vorführte, erhielten in zweiter Ausgabe (1800) ein im wesentlichen von Wordsworth verfaßtes programmatisches Vorwort, in dem, wohl nach Coleridges Einsicht, die dichterische Darstellung alltäglicher Dinge (Wordsworths Bereich) und die natürlich-wirkliche Gestaltung des Übernatürlichen (Coleridges Feld) auf die eine Grundanschauung zurückgeführt wurden, daß das Wunderbare und das Vertraute, das Übernatürliche und das Natürliche nur verschiedene Ansichten eines und desselben Seins darstellen. Den ihm eigensten Ton fand Coleridge in drei hochimaginativen Visionsund Erzählgedichten, die das romantische Urthema der ergebnislosen Suche nach letzter Wahrheit so intensiv gestalten, daß sie im Leser einen alles Nichtglauben ausschaltenden, aber auch rätselhaften Traumzustand hervorrufen, in dem diese zwischen dem Sinnlichen und Übersinnlichen schwebenden Gedichte zu lesen sind - "silent with swimming sense", wie es im Lindenlaubengefängnis hieß. Kubla Khan: or, a Vision in a Dream (1798, veröffentlicht 1816, unvollendet, nach dem Vorwort unter Einwirkung von Opium und nach Lektüre entlegener Reisebücher entstanden) ist ein Gedicht, dessen Inhalt Wort gewordene Musik ist, ein Ineinanderfließen aller Sinneswahrnehmungen, die von scheinbar unzusammenhängenden, teils orientalischen, teils englischen (auch von Miltons Garten Eden beeinflußen) Park- und Landschaftsvorstellungen wachgerufen werden. Diese fügen sich jedoch zu einem grandiosen romantischen Landschaftsbild zusammen, das über Bäche, Schlucht und Fluß bis zum Meer reicht und in dem der Fluß, der sich durch geheimnisvolle, unsichtbare Felshöhlen in die Bucht ergießt, eine die verschiedenen Bereiche zur All-Einheit zusammenführende Bewegung bewirkt, während die Kuppel des sonnigen Lustschlosses sich ruhig im schattigen Meereswasser spiegelt. Dies alles ist nicht nur als Bildfolge aus dem Unterbewußten deutbar, sondern auch als poetologisches Gedicht der Romantik, wobei der Gegensatz und das Komplementärverhältnis zwischen natürlicher Urgewalt (der aus der tiefen Schlucht emporschießenden, Felsbrocken wie

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gebärend aufwirbelnden Springfontäne) und erlesenster Kunst (dem Park und dem vollendeten Schloß) eine besondere Rolle spielt. Auf den dichtungsbestimmenden Sinn des Ganzen weist auch der zweite Teil, in dem das harfenspielende abessinische Mädchen an die Stelle des Schloßerbauers Kubla Khan tritt und die Kuppel nunmehr als ein Bauwerk aus Klängen synästhetisch erstehen läßt. Der im ganzen fließenden Konzeption entspricht das unregelmäßige Metrum: fünf-, vier- und dreihebige, meist jambisch-trochäische Zeilen wechseln ohne äußerlich erkennbares Gesetz mit anscheinend willkürlich verteilten Reimen. Die über das Durchschnittsvermögen verfeinerte, die Ahnung des Metaphysischen einbeziehende Sinnlichkeit stellte zweifellos einen Höhepunkt romantischen Dichtens dar, sie barg aber in dem Auskostenkönnen des Seltenen und Erlesenen die Gefahr der Entartung, der minder bedeutende Dichter verfielen. Zugänglicher ist das gleichfalls in den Lyrical Ballads veröffentlichte epische Balladengedicht The Rime of the Ancient Mariner (1797), denn hier ist eine Handlung gegeben, und das wunderbar Übernatürliche erscheint als mögliche Erfahrung, da es auf der Psychologie des unter einem überwältigenden Eindruck stehenden, seine Geschichte erzählenden alten Matrosen aufgebaut ist. Die Traumwelt ist in unmittelbare Beziehung zu menschlichem Empfinden gebracht, wodurch seelische Werte wie Güte, Mitleid, Reue einbezogen werden. Andererseits ist die grobe Stofflichkeit - die Geschichte von dem abergläubisch getöteten Albatros, das Gespensterschiff, und der platte, von Wordsworth stammende Schuld-StrafeGedanke - durch Coleridges verfeinerte Sinneswahrnehmung und das stete Hinaufgreifen ins Übernatürliche ihrer lastenden Schwere enthoben. Der Eindruck ist um so stärker, als das Gedicht, fast als einziges, planvoll aufgebaut ist, ohne den Eindruck der Spontaneität zu verlieren. Jeder der sieben Teile kehrt zu dem Thema zurück. Der Volksballade, von der Coleridge dies ImVordergrund-Halten der Geschichte gelernt hatte, verdankte er auch die archaisierenden Wendungen, die gelegentliche formelhafte Alliteration, die Wirkung der Wiederholung und das sorgsam nachgebildete, aber auch den lässigen Sprechton des Matrosen imitierende Metrum. Das dritte der visionsartigen Erzählgedichte, die Ballade Christabel (1797), baut wieder mehr auf lyrischer Stimmung auf; es sind drei musikalisch ineinandergeschlungene Märchenbilder: der Wald, in dem Christabel, die für den Geliebten betet, die Zauberin Geraldine findet, die Schloßhalle, durch die sie den bösen Gast ahnungsvoll geleitet, das Schlafgemach, wo sie den Schlangenleib Geraldines mit schwindenden Sinnen erblickt. Der fragmentarische Charakter läßt eine eindeutige Bestimmung der Zentralthematik nicht zu, aber im Vordergrund steht eine Verbindung erotischer und religiöser Elemente mit dem Motiv des Todes. Wie in Kubla Khan werden Traumstimmung und Bildaufbau durch den eigenartigen Klang einer neuen Metrik unterstützt, hier sind es, was Scott vordeutete, strophenartige Gesätze ungleich langer Zeilen, die bei einem Grundmaß von vier Hebungen eine wechselnde Zahl von Senkungen aufweisen. Mit dieser freien Versfüllung ist die musikalische Wertung durchgeführt, die bei wechselnder Silbenzahl zeitlich gleiche Versfußlänge erreicht,

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was für alle spätere Metrik grundlegend blieb. Das letzte der größeren Gedichte Coleridges ist die Ode Dejection (1802), die sich im Empfinden mit Wordsworths großer Immortality Ode berührt, von deren ersten vier Strophen sie inspiriert wurde. Beide beklagen den Verlust eines lange gehegten inneren Schatzes, der von der Natur auf den Dichter überströmenden Einbildungs- und Schaffenskraft, aber Coleridges Vergegenwärtigung dieses komplizierten, in jähen Bewegungen sich wandelnden Bewußtseinszustandes und der geheimnisvoll expressiven Einzelheiten des zunächst friedlichen, dann stürmisch aufgewühlten Nachthimmels ist intensiver als bei Wordsworth, und seine Auffassung der dichterischen Einbildungskraft (wir empfangen von der Natur nur, was unser ihr verwandter Geist ihr gibt) ist aktiver als die Wordsworths von der Rezeptivität der Seele gegenüber der sie bereichernden Natur, was in To William Wordsworth (1807, nach Anhörung des vollendeten Prelude, als Huldigung an den Dichterfreund) präzisiert wird ("thy soul received/The light reflected, as a light bestowed"). Danach drängte es Coleridge nur gelegentlich zu lyrischer Aussprache. To Two Sisters (1807), Recollections of Love (1807), Work without Hope (1825) sind Früchte dieser Herbstzeit. In den Notebooks finden sich 1817, die Stimmung der Dejection Ode zu absoluter Verdüsterung steigernd, zwei ins Endzeitliche projizierte, alptraumartige Phantasmagorien. In Limbo, das nicht als Ort der ungetauften Gerechten, sondern eines qualvollen, halbwirklichen Schattendaseins erscheint, gehen die leidenden Geister unrettbar der Hölle der völligen Negation entgegen, weil sie die Wahrheit zwar hören können, aber das Licht fliehen müssen, das selbst von den blinden Menschen in beseligender Ahnung gesucht wird. In Ne plus ultra beruht die totale Verzweiflung auf einem Interdikt, der Ausschließung des allbelebenden Gebets. Einmal, angeregt von der heiteren Welt, die Coleridge im Dekameron fand, dichtete er in ganz anderer Art The Garden of Boccaccio (1828) im alten heroischen Reimpaar, das ungewohnt schnell dahingleitet. In diese Zeit fällt auch die Umarbeitung der Jugendtragödie Osorio (1797) zu Remorse (1812). Schillers Geisterseher und Räubern entnommene Motive sind in Shakespeares Stil und Vers, aber mehr lyrisch als dramatisch behandelt und ohne die Fähigkeit, komplizierte Charaktere darzustellen. Mit der stärkeren Hinwendung Coleridges zu Kritik, Philosophie und Theologie wurde sinngemäß die Prosa sein bevorzugtes Aussprachemittel, aber wie vordem sein Dichten einen starken Einschlag philosophischen Denkens zeigte, so blieb jetzt seine Prosa poetisch beschwingt. Da die klare, logische Sprache, die das 18. Jahrhundert sich geschaffen hatte, seiner geistigen Haltung nicht angemessen war und Dr. Johnsons Rhetorik ihm als äußerliche Kunst der Worte erschien, ging er zurück auf die großen Prediger des 17. Jahrhunderts, Taylor, Barrow, Leighton, deren ihm gleichgestimmte Neigung zu Farbigkeit, zu bildlichem Denken, zu musikalischem Satzbau er persönlicher gestaltete und noch steigerte. So schuf er eine neue romantische Prosa, deren Sätze statt des lateinisch-klassizistischen Auswägens gleich schwerer Teile eine wellenartig durchlaufende, durch mehrmaliges Ansetzen und Verebben

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reich gegliederte Bewegung aufweisen. Kühne Neubildungen, klangvolle, seltene Wörter und vielfach ein Verschieben des Verstandesanspruchs auf den des Gefühls steigerten die Ausdrucksmöglichkeiten der neu beweglich gemachten Prosa. In dieser Sprache konnte er seine neuen Erkenntnisse gestalten, die jeweils zu einer gemeinsamen metaphysischen Grundlage vorzudringen versuchen. So wie er im Gebiet des spekulativen Denkens auf eine Verschmelzung von Philosophie und Theologie ausging, versuchte er auf politischem Gebiet die gegensätzlichen Grundsätze von Fortschritt und Ordnung (von Rousseaus Individualismus und Burkes Relativismus) in höherer Einheit zusammenzufassen, überall nachdrücklichst angeregt von der deutschen romantischen Philosophie. Auf dem hier in erster Linie interessierenden Gebiet der literarischen Kritik bedeutete das eine aus nacherlebendem Einfühlen in das jeweilige Werk fließende persönliche Aussprache, zwanglos Stimmung schaffend, selbst Kunstwerk. Nacherleben des künstlerischen Schöpfungsvorganges trat an die Stelle klassizistischer Wertnormen, Würdigung des Kunstwerks an die Stelle einer geschichtlichen Darstellung der Literatur. Bis heute ist deshalb Coleridge durch momentane Einsichten in zentrale Fragen der Kunst und brillante Formulierungen ungemein anregend geblieben. Er hat aber auch, inspiriert von Schelling, im Nacherleben des Kunstwerks neue Gesichtspunkte für literarische Werturteile gefunden. Im Gegensatz zur klassizistischen Nachahmung der in der Natur erfahrbaren Regeln geht er vom dichterischen Schaffensprozeß aus, für den er die Fülle und das lebendige Zusammenwirken der schöpferischen Kräfte fordert, die vom Wahrnehmen und Empfinden über tiefere Gefühle und Ahnungen bis zur Imagination und visionären, prophetischen Wahrheitserkenntnis reichen. Letzter Wertmaßstab, nach dem etwa ein King Lear über ein kurzes Gedicht gestellt werden muß, ist eine Vielheit in der Einheit, in der die ganzheitliche seelische Aktivität sich in einer entsprechenden Rangfolge und Reichweite von Elementen (wie Bildern, Charakteren, Handlungen) äußert (vgl. Biographia Literaria, Kap. XIV, Shakespeare-Vorlesungen, On the Principles of Genial Criticism, 1814, und die von Schelling beeinflußten Notizen zu der Vorlesung On Poesy or Art, 1818). Allerdings fehlt in Coleridges ästhetischer Theorie, in der es mehr um die Gestaltungskraft des Künstlers als um das Kunstwerk geht, eine nähere Bestimmung dieser Einheit. Coleridge als Kritiker bedurfte auch des großen Vorwurfs, an dem sein Geist sich schöpferisch entzündete, und bei einem ihm naheliegenden Thema hat er sich ein einziges Mal zu abgerundeter Darstellung zwingen können, im Wordsworth-Aufsatz der Biographia Literaria., der seine reifste Leistung in literarischer Kritik darstellt. Ein zweiter Versuch, die Vorlesungen über Shakespeare von 1818, nähert sich wieder, wenigstens in der auf uns gekommenen Form, der auch in der deutschen Romantik beliebten „Fragmenf-Sammlung, wenn sie hier auch um ein Thema gruppiert ist. Im Grunde ging es ja auch nicht um literarische Kritik, diese war vielmehr nur Mittel, um zum Metaphysischen vorzustoßen. Im Untertitel der Biographia ('biographical sketches

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of my literary life and opinions') erscheint als erhofftes Ziel ein Sichklarwerden über das Verhältnis des Künstlers zum Leben und damit das Aufstellen einer romantischen Kunstphilosophie. Von Lessing, der ihn von den Glaubensartikeln des 18. Jahrhunderts befreite und zeigte, daß Shakespeare nicht „unregelmäßig" und „kunstlos" war, ging er, um von der Aufklärung loszukommen, zu Schillers Lehre vom Naiven des Genies und von Schiller zu Kants interesselosem Gefallen der reinen Betrachtung und weiter zu Schellings Auffassung, daß die Tätigkeit des Künstlers der schaffenden Natur gleich sei. Die Kunst ist die höchste Form der Natur, die ungehinderte Aussprache der schöpferischen Kräfte, die in der organischen Welt nach Ausdruck ringen. Damit wird aber der Dichter zum weltanschaulichen Propheten. Coleridge hat das nicht klar ausgesprochen, zu oft gab er sich einem uferlosen Spinnen von Gedanken aus Gedanken hin. Auch die von Jean Paul angeregte und bis zu Ruskin erörterte Unterscheidung von 'imagination' und 'fancy', die ihm ein zentrales Anliegen war, vermochte er nicht mit unmißverständlicher Klarheit zu formulieren. Was er wollte, war die Scheidung des echten Symbols, das die Ordnung einer übersinnlichen Welt im sinnlich vorstellbaren Phänomen sichtbar macht, von einer reinen Phantasieschöpfung. In einem moralphilosophischen Werk, The Statesman's Manual (1816), geht er beiläufig darauf ein, daß künstlerische Einheit in einem System von konkreten Symbolen bestehe, durch die der Geist die Ideen betrachten könne, nicht in unpoetischen Allegorien, die nur Übersetzungen abstrakter Begriffe in eine Bildersprache seien. Coleridge war kein Systematiker. Sein Traum, ein systematisches Werk zu schaffen, der in dem Programm einer geplanten Enzyklopädie nochmals greifbare Form annahm (Essay on Method, 1818), zerfließt in den monologischen Gesprächen seiner Alterszeit. Er hat kein Werk hinterlassen, das für uns das Denken seines reichen Geistes zu einer Summe gestaltete; Empfinden, Erleben waren seine Leitworte und lebendige Wirkung sein Ziel. Diese Wirkung hat er gehabt, wie schon das Dichten Wordsworths erweist.

3. Wordsworth WILLIAM WORDSWORTH15 (1770-1850), der Hauptvertreter der erlebnishaften, mit philosophischer Reflexion verbundenen Naturdichtung der englischen 15

B i b l i o g r a p h i e : J. V. Logan, Wordsworthian Criticism: A Guide and Bibliography (Columbus, 1947), Fortsetzung: E. F. Henley and D. H. Stam (1965), D. H. Stam (N.Y., 1974). - P o e t i c a l W o r k s , edd. E. de Selincourt and H. Darbishire, 5 Bde. (Oxf., 1940-49), Bde. 1-4 (21952-58) [definitive Ausgabe der letzten Fassungen]; ed. T. Hutchinson, OSA (21936 u. ö.) [beste einbändige Ausgabe]; Poems, EL. - Auswahlen WC; El; Selected Poetry and Prose, ed. J. Butt (Oxf., 1971). - Einzelausgaben: The Cornell Wordsworth, ed. S. M. Parrish (Ithaca, N.Y., 1975 ff.) [Erstfassungen u. volle Textgesch., i. E.]; Lyrical Ballads, ed. W. J. B. Owen (Oxf., 21969); Prelude, edd. E. de Selincourt and H. Darbishire (Oxf., 1970 [ 959]) [Paralleldruck der beiden Fassungen]. - Prose W o r k s , edd. W. J. B. Owen and J. W. Smyser, 3 Bde. (Oxf., 1974). - Literary Criticism, ed. P. M. Zall (Lincoln, Nebr., 1966). - L e t t e r s of W.

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Romantik, nahm stärker, als er selbst sah, manche klassizistischen Elemente auf, fand aber seinen unverwechselbaren eigenen Ton in der Erhöhung der Psychologie des dichterischen Ich zum zentralen Thema und Gestaltungsprinzip, wobei ein imaginativ vertieftes Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen und eine religionsähnliche Naturgläubigkeit, außerdem eine Bevorzugung einfacher Sprache und Gegenstände entscheidend mitwirkten. Sein Einfluß auf seine Zeit und das weitere 19. Jahrhundert war beträchtlich, für viele Leser offensichtlich in einem erbaulichen und therapeutischen Sinne, wie John Stuart Mill in seiner Autobiographie 1873 bezeugt, der seinen seelischen Zusammenbruch 1828 durch Teilnahme an Wordsworths emotionaler Spontaneität und Kraft überwand. Für die repräsentative Geltung Wordsworths spielten auch sein Wandel von anfänglicher Parteinahme für die französische Revolution zum konservativen politischen Denken und seine Erhebung (seit Southeys Tod 1843) zum 'poet laureate' eine Rolle, was einige seiner Freunde freilich als Verrat an der gemeinsamen Sache der Freiheit empfanden und selbst Browning zu seinem Gedicht The Lost Leader veranlaßte ("Just for a handful of silver he left us.. .He alone sinks to the rear and the slaves.") Wordsworths dichterische Bildungszeit - die Kindheit in Nordengland, die Cambridger Studentenjahre, die große Fußreise durch Frankreich in die Schweiz (1790) und der zweite längere Aufenthalt in Frankreich (1791-92) war eine Zeit leidenschaftlichen Erlebens. Die späteren autobiographischen Dichtungen verdeutlichen, wie tief das frühe Naturerlebnis war, das im Mittelpunkt seines ganzen Dichtens steht, dessen Sinn ihm erst allmählich aufging und das er im Alter als einen verlorenen Schatz betrauerte. Heftiger noch war das revolutionsbegeisterte Freiheitserlebnis, aus dem heraus er nach Frankreich zog, für die Gironde kämpfen wollte und einen später verschwiegenen, gesetzlosen Liebesbund mit einer Französin einging (Annette Vallon). Diesem romantischen Erleben wurden die gleichzeitigen Dichtungen nicht gerecht. An Evening Walk (1787-89) ist eine Reihe schlecht verand Dorothy W., ed. E. de Selincourt, 6 Bde. (Oxf., 1935-39); edd. C. L. Shaver et al. (1976 ff. [i. E.]). Auswahl WC. - B i o g r a p h i e : M. Moorman, W. W., 2 Bde. (Oxf., 1957-65); M. L. Reed, W. Chronology, I: Early Years, II: Middle Years (Cambr., Mass., 1967-75) (III: angekündigt) [für Werkgenese wichtig]. - K r i t i k : Einführungen: D. Perkins, W. and the Poetry of Sincerity (Cambr., Mass., 1964); G. H. Hartman, W.'s Poetry: 1787-1814 (New Haven, 1971 [ 964]) [mit Forschungsbericht]; C. Woodring, W. (Cambr., Mass., 1968); W.: A Collection of Critical Essays, ed. M. H. Abrams (Englewood Cliffs, N.J., 1971 u. ö.) [„einfache" und „komplexe" Interpretationsrichtung]. - J. Jones, The Egotistical Sublime: A History of W.'s Imagination (1954); W. J. B. Owen, W. as Critic (Toronto, 1969); P. D. Sheats, The Making of W.'s Poetry: 1785-1798 (Cambr., Mass., 1973); M. Jacobus, Tradition and Experiment in W.'s Lyrical Ballads (1798) (Oxf., 1976) [dichtungsgesch. Stellung]; F. Ferguson, W.: Language as Counter-Spirit (New Haven, 1977). - D o r o t h y W.: Journals, ed. E. de Selincourt, 2 Bde., WC (Oxf., [ 941]; rev. M. Moorman, 1971); Recollections of a Tour Made in Scotland, ed. J. C. Shairp (Edinb., 1874 u. ö.); Biographie von E. de Selincourt (Oxf., 1933); A. M. Ellis, Rebels and Conservatives: D. and W. W. and Their Circle (Bloomington, 1967).

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knüpfter, wenn auch echt empfundener Heimatbilder im Stil und Versmaß der topographischen Dichtung des 18. Jahrhunderts, und die von der Schweizer Reise erzählenden Descriptive Sketches (1791-92) im selben Metrum zeigen wohl lebhaften Sinn für Naturschönheit, aber außer kraftvoller, mitunter gewaltsamer Sprache keinerlei Eigenart. Erst rückschauend formte sich ihm das Erleben zur Dichtung, was er verallgemeinernd in die Formel prägte: "poetry takes its origin from emotion recollected in tranquillity". Das zeigte sich bereits in seiner zweiten, in äußerer Ruhe in Dorset und Somerset verbrachten Epoche (1792-97), in der unter Coleridges befruchtendem Einfluß das politische Erleben dichterischen Niederschlag fand. In einer melodramatischen, später oft revidierten Verserzählung Guilt and Sorrow (1791-94), in der schwieriger zu handhabenden Spenserstrophe abgefaßt, machte er sich zum Sprecher der Armen und Ausgestoßenen, deren Menschenwert in der düsteren Geschichte eines um sein Leben betrogenen und deshalb zum Verbrecher gewordenen ehemaligen Matrosen zum Ausdruck kommen sollte. Ähnlich läßt das Schillers Räubern und dem Schrekkensroman verpflichtete Blankversdrama The Borderers (1795-96) Marmaduke, den Beschützer der Unschuldigen, aus edelsten Beweggründen zum Mörder werden. Wie Coleridge hat auch Wordsworth nichts von Schillers Dynamik und Beherrschung der dramatischen Form; die Charaktere bleiben leblos, die Verwicklung ist unmöglich und die Blankverse sind matt. Im Drama wie in Guilt and Sorrow war es dem jungen Dichter um die Idee zu tun. Aber vernehmlicher als die Gedanken der französischen Revolution sind jetzt schon Godwins Lehren, denen zufolge auch Menschen mit ursprünglich besten Charakteranlagen zu Gesetzesbrechern werden, wenn sie unter dem Einfluß widriger äußerer Umstände nur noch ihrem leidenschaftlichen Gefühl, nicht dem Verstand folgen und deshalb eigentlich nicht für ihr Handeln verantwortlich sind. Diese Dichtungen bedeuten trotz ihrer Unvollkommenheiten die Eroberung dichterischen Neulands. Idealistischer als Crabbe wollte Wordsworth das Leben einfacher, erdverbundener Menschen mit ihren ergreifenden Schicksalen zum Ausdruck seines Menschheitsglaubens machen und mit der diesem Thema angemessenen schlicht-natürlichen Sprache eine Erneuerung der Dichtung anbahnen. Zur Tat wurde das in Wordsworths dichterisch reichster, dritter Epoche (1797-1807), die - nach dem Vorspiel der mit Coleridge unternommenen Deutschlandreise nach Hamburg und Goslar (1798) - in der heimatlichen Zurückgezogenheit des Seendistrikts in äußerer Ereignislosigkeit verlief. Das für Wordsworths Dichten so aufschlußreiche Tagebuch seiner Schwester Dorothy berichtet von dem einsiedlerischen Haushalt zu dritt - Wordsworth hatte 1802 geheiratet-, von den langen Märschen, die der Dichter so liebte, und seiner erstaunlichen Schaffenskraft. Das Wertvollste seiner Dichtung entstand in diesen zehn Jahren, die Lyrical Ballads (1798 und 1800), die Poems in two Volumes (1807), das Prelude (1798-1805), die Margaretengeschichte des Excursion (1800), das Bruchstück The Recluse (1800) und die ersten und besten Sonettreihen.

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Was dieser Dichtung ihre Eigenart verleiht, drückte das so stark mit dem Sprachlichen beschäftigte, mehrfach umgearbeitete Preface der Lyrical Ballads (1800, revidiert 1802, 1815 und für die Poems von 1849-50) nur zwischen den Zeilen und unvollkommen aus. Statt der als künstlich empfundenen poetischen Diktion des Klassizismus fordert Wordsworth für die Dichtung ein spontanes und leidenschaftsbewegtes, dabei aber natürliches und einfaches Sprechen - ein von Coleridge trotz seiner Beteiligung an den Vorgesprächen später in Biographia Literaria kritisierter Punkt -, weshalb er sich zum schlichten, bäuerlichen Menschen und seiner Sprache bekennt, in dem er - anders als in der korrumpierenden städtischen Welt der Oberklassen - die gesuchte Menschenwürde und Natürlichkeit zu sehen vermeint, was ihn bis in Gegenstands- und Wortwahl beeinflußt. Aber wichtiger ist, daß das Betonen der moralischen Einwirkung der Natur auf den Menschen in Wordsworths pantheistischem Immanenzglauben wurzelt, nach dem „die Seele des Alls ihre erhabenen Lehren durch die reine Luft und die unbeschmutzte Erde ausspreche, und daß diese Sprache dem menschlichen Herzen verständlich sei". So wird die Natur im buchstäblichen Sinne zum stärkenden, belebenden Einfluß; der sinnliche Eindruck einer Naturerscheinung erzeugt eine Stimmung, die das Betrachtete aus der „Fessel der Gewohnheit" löst und zur Quelle einer geheimnisvollen Verzückung macht. Die Schau ist also wesenhafter als das Ding selbst, und die Wordsworthsche Dichtformel besagt, daß Phantasie und Gedanken und besonders Augenblicksempfindung und Erinnerung im "spontaneous overflow of powerful feelings" zusammenwirken und zu einer leidenschaftserregten Meditation werden, die durch Zerstörung des Unwesentlichen das Leben der Dinge oder die platonische Idee erfahrbar macht. Dazu befähigte Wordsworth eine dem Durchschnittsmenschen unmögliche Erinnerungsfähigkeit, die im „Auslöschen der Sinne" die höchsten Eingebungen vermittelte (= 'imagination'). Eine derartige romantische Dichtung hob alles auf, was dem Klassizisten Ziel und Bedingung war. Was dem Romantiker Welt hieß, war mit dem Verstande nicht erfaßbar, sie offenbarte sich als ein Erahnen des Übersinnlichen. Diese metaphysische Dimension ist von Anfang an in Wordsworths Dichtung gegeben. Natur ist nicht Ordnung, sondern das große Werden, die zeugende Urkraft, deren Wirken nicht beschrieben, sondern nur als Gegenwart von etwas Göttlichem erschauernd gefühlt werden kann. Unbewußtes, Geheimnis und im letzten Sinne Unaussprechbares bilden also den tiefsten Gehalt der Dichtung. Demzufolge mußte der Dichter mehr auszudrücken versuchen, als eine festgefügte Form gestattete, und ein verstandesmäßiger Regelung nicht unterworfenes freies Kunstschaffen für sich fordern. Wordsworth nahm sein Selbst als Beispiel eines solchen Dichters und gab dem epischen Blankversgedicht Prelude (1798-1805, in Umarbeitung veröffentlicht 1850),16 das ein dreiteiliges, The Recluse genanntes Epos On Man, on Nature, and on Human Life' einleiten sollte, den Untertitel 16

Vgl. H. Lindenberger, On W.'s Prelude (Princeton, 1963); R. J. Onorato, The Character of the Poet: W. in The P. (Princeton, 1971).

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'Growth of a Poet's Mind'. In seiner erlebnishaft beschreibenden und meditativen Methode, die trotz Gefühlsintensität einen bemerkenswerten Realismus bewirkt, geht er jeweils vom konkreten Gegenstand, Bild oder Ereignis zur Reflexion und zur leidenschaftserfüllten Glaubensaussage über. Buch I erzählt die ersten zehn Kindheitsjahre, deren in der Natur gefühltes Glück nur in seltenen Lichtblicken die Weisheit und den Geist des Alls erfaßte. In dem bewußten Suchen dieses Glücks (Buch II: 10.-17. Lebensjahr) enthüllt sich dann das Schöpferische der Sinne. In der Betrachtung verliert das Ding seine volle Abhängigkeit von der Wahrnehmung, wird etwas, das im Dichter selbst ruht, ein 'prospect in the mind', bleibt aber - im Gegensatz etwa zu Coleridges Visionen - den Sinnen verhaftet. Diese dem Leben Sinn gebende und von Gott dem Dichter verliehene Gabe mag zeitweilig verdunkelt sein, wenn die geschichtliche Welt und das Denken gewaltig auf den Menschen einstürmen (Buch III-VII: Cambridger Jahre und London), rückblickend zeigt sich doch die alle Verzagtheit überwindende Erkenntnis 'Love of Nature leading to Love of Mankind' (Buch VIII). Nun folgt die Geschichte des Kampfs und Siegs, die Jahre in Frankreich mit der großen Enttäuschung (Buch IX-X, zweite Fassung auch Buch XI), die aber durch die 'imagination' überwunden werden (Buch XI-XII, bzw. XII-XIII), so daß der Dichter zu dem wenn auch gewandelten, so doch wiedergewonnenen Paradies der Kindheit zurückfindet (Buch XIII, bzw. XIV). Von dem geplanten epischen Gedicht ist außer dem jetzt The Recluse (1800) benannten Bruchstück, das als I. Buch des ersten Teils zu denken ist, nur der zweite Teil, The Excursion (1814), vollendet worden, während der abschließende dritte Teil ein Plan geblieben ist. The Excursion fällt bereits in Wordsworths letzte Epoche (1807-50), in der seine Dichtkraft allmählich erlahmte. Es ist eine Art Lehrgedicht, in dem Wordsworth eine allen Zweifel besiegende Lebensphilosophie entwickelt, die er durch eine Reihe von Geschichten zu rechtfertigen sucht. Ein schottischer Hausierer, der „Wanderer", erzählt dem Dichter von einer armen, trotz aller Schicksalsschläge ungebeugten Frau. Diese das erste Buch füllende Margaretengeschichte weist in Stimmung, Schilderung und poetischer Kraft auf die südenglische Zeit. Im zweiten Buch wird der Schauplatz in den Seendistrikt verlegt, Dichter und Wanderer gehen über einen Paß, um den Einsiedler aufzusuchen, der - er erzählt es selber im dritten Buch - sich von der enttäuschenden Welt zurückgezogen hat. Vergebens sucht der Wanderer diese Niedergeschlagenheit durch den Hinweis auf das Wordsworthsche Naturevangelium zu bekämpfen (Buch IV), vergebens bemüht sich zunächst auch der Pfarrer, in dessen Haus in Grasmere die drei eingekehrt sind, den Enttäuschten vom Gedanklichen her zu überzeugen (Buch V); dann aber erzählt der Geistliche von seinen Pfarrkindern, und dieser schlichte Bericht ergreift den Einsiedler (Buch VI und VII). Danach wendet sich das Gespräch (in Buch VIII und IX) der Naturwissenschaft zu, erörtert darauf Ackerbau, Industrie, Schulpflicht und schließlich Religion. Zum Schluß nimmt der Einsiedler bewegt und dankend Abschied. Damit hatte Wordsworth wie schon im Prelude seine Grundeinsichten in

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ausführlichster Weise poetisch formuliert. Besonders sein Glaube an die Gegenwart Gottes in der Natur sollte in dem oft durch engen Bibelglauben und zunehmenden Rationalismus gekennzeichneten 19. Jahrhundert befruchtend wirken, auch sein Vertrauen auf die Imagination als die wahre Quelle der menschlichen Freude. Im Grunde sind die umfangreichen episch-lyrischen Gebilde nur eine mit Lehrwerk ausgeweitete Wiederholung der Naturoffenbarung, die schon vor dem Prelude die Lines composed above Tintern Abbey (1798) vollendet aussprachen. Denn in diesen vibrierenden Blankversen wird der göttliche Zusammenhang von Mensch und Natur nicht gelehrt, sondern erlebt. Obwohl der Dichter nur von sich spricht, fühlen wir uns miteinbezogen in sein Glück und seine Schau. Sie weckt beim Wiederbesuch des geliebten Wye-Tals Erinnerungen an die verlorene Erlebniskraft der Kindheit und Jugend, bringt aber auch die läuternde und inspirierende Wirkung der Natur, so daß „halb-schöpferische" Kräfte den enthusiasmierten "worshipper of Nature" reichlich entschädigen. Auch dem Biographischen ferner stehende epische Dichtungen Wordsworths kreisen um dies Erlebnis, können freilich mitunter einseitig wirken. Peter Bell (1798, veröffentlicht 1819), in balladenartigen, fünf zeiligen Strophen geschrieben, zeigt die Wandlung eines hartherzigen Menschen durch die Berührung mit der Natur - repräsentiert durch einen um den ertrunkenen Herrn klagenden Esel - in einer durch falschen Humor entstellten Belehrung, die zu spöttischer Kritik und Parodien herausforderte (etwa in Shelleys Peter Bell the Third). Dagegen überzeugt die Blankverserzählung Michael (1800), die vom Schicksal des über den geliebten Sohn trauernden, bis zum Tode seine schwere Arbeit verrichtenden Schafhirten berichtet, durch besonders reine und natürliche Diktion und Erzählweise, eine eindrucksvoll einbezogene einsame Bergwelt und, wie schon Matthew Arnold betonte, ein noch unverschüttetes Ethos der einfachen, primären Gefühle und Pflichten (wie das der leidüberwindenden Liebe), die z. T. sprichwortartig hervorgehoben werden. In wiederum anderer Weise läßt The White Doe of Rylstone (1807-10, gedr. 1815) - wie der Song at the Feast of Brougham Castle (1807) im Stil der Scottschen Lays geschrieben und auf die Ballade The Rising of the North gegründet - die Hindin einem armen Menschenkinde Trost verleihen. Dies seine Religion darstellende Naturerlebnis ist glück- und kraftspendend, es ist dem Heroischen näher als dem weich Empfindsamen, und man tut Wordsworth Unrecht, wenn man die Männlichkeit nicht betont, die aus den Kampfszenen und Gesängen der Lays ebenso spricht wie aus dem elisabethanischen Character of the Happy Warrior (1806), der mehr horazischen Ode to Duty (1805) und den miltonischen Sonetten To the Men of Kent (1803) und To Milton (1802). Lyrisch intensiver als die längeren Erzählgedichte sind die das Erinnerungs- und Augenblicksempfinden verschmelzenden Bilder einfacher, meist in einsamer Natur lebender Menschen, die nicht mehr wie im 18. Jahrhundert mit allgemeinen Vorstellungen und Empfindungen gekennzeichnet werden, sondern durch ihre persönlichen Besonderheiten den Dichter anspre-

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eben, was Francis Jeffrey, der scharfe Kritiker Wordsworths in der Edinburgh Review, als Verstoß gegen das poetische Dekorum tadelte. Beispiele sind die auf wenige Situationsaspekte konzentrierten und schlichte Naturmetaphern verwendenden Lwcy-Gedichte (1799), im zarten Totengedenken auf ein geliebtes Mädchen geschrieben (z. B. She dwelt among the untrodden ways; I travelled among unknown men), und die Ma//Aew-Gedichte (1799) auf einen verstorbenen, einst fröhlichen und gottesfürchtigen Dorfschullehrer, in denen sich die Erinnerungsbilder des alten Mannes und des jungen Dichters überlagern. In diese Gruppe gehören auch so bekannte Verse wie I wandered lonely as a cloud (1804), She was a phantom of delight (1804) und The Solitary Reaper (1805), das Gedicht auf die im schottischen Hochland einsam in unverstehbarer (gälischer) Sprache singende Schnitterin, deren klagende Melodie der Dichter lange Zeit in sich bewahrt. Wordsworth bewegte sich sicher in vielen poetischen Formen, in Lied und Ballade, die schon im Titel der Lyrical Ballads zusammengezogen werden, in Blankverserzählung und meditativem Gedicht, im Reimpaar und Sonett. Er vermochte auch die dichterischer Willkür freie Hand lassende, unregelmäßige Ode des 17. Jahrhunderts in den Intimations of Immortality (1802-06) zu einem Höhepunkt lyrischer Architektur zu gestalten. Die ersten vier Strophen variieren die das Thema abgebende Tatsache, „daß ein Glanz von dieser Erde schwand", und stellen die Frage nach dem Warum. Die Strophen 5-8 geben die Erklärung durch die auch früher schon anklingende Lehre von der 'prenatal reminiscence', der zufolge nur dem Kinde ('The Child is father of the Man") jenes übernatürlich stärkende Glücksgefühl noch unmittelbar lebendig ist. Und die Strophen 9-11 suchen in der Imagination ("heart of hearts") den Wert eines Lebens zu rechtfertigen, aus dem diese Erinnerung geschwunden ist. Schließlich ist Wordsworth seit Milton der bedeutendste Sonettdichter. Wie dieser suchte er den Ton erhabener Einfachheit, vermied das Liebesthema und nützte die Möglichkeiten der Form für patriotische Appelle und prophetische Mahnung. Daneben begründete er, was Bowles begann, das naturbeschreibende Sonett. 1801-02 schrieb er, beim Vorlesen Miltonscher Sonette für die Form gewonnen, eine erste Reihe, darunter das auf den Untergang der Venetian Republic, das um Kraft gegen Frankreich flehende September, 1802. Near Dover und die den Erwecker Milton zurückrufende Zeitklage auf den moralischen Niedergang Englands London, 1802 sowie die in feierlicher Stille die göttliche Gegenwart erahnenden Landschaftsvisionen // is a beauteous evening und Composed Upon Westminster Bridge (1802). 1803-04 folgte eine zweite Reihe meist politischer Sonette, darunter solche, die in vaterländischer Gesinnung England als das Bollwerk der Sache der Menschheit (When I have borne in memory) und Hort eines unversiegbaren Stroms der Freiheit (It is not to be thought) preisen, zur Verteidigung englischen Bodens gegen den Angreifer aufrufen (To the Men of Kent) oder die Matthew Arnoldsche Kritik an moderner Verlorenheit und Kraftlosigkeit vorwegnehmen (The world is too much with us). 1809-10 kamen die Freiheitssonette für Tirol

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und Spanien gegen Napoleon, schließlich, bei ermattender Dichterkraft, die großen Reihen: das dem Flußlauf von der Quelle in den Bergen bis zur Mündung ins Meer folgende The River Duddon (1806-20), die über die englische Kirchengeschichte reflektierenden Ecclesiastical Sonnets (1821) - darunter Inside of King's College Chapel, Cambridge (über die der Ewigkeit dienende Schönheit der Architektur und Musik) und das wehmütige Mutability (über den Verfall der Kirchen und die Auflösung der Klöster unter Heinrich VIII.) und 1840 Upon the Punishment of Death. Diese Vorwürfe bedingten, daß Wordsworth - wie oft Milton, dem er bis in die Verwendung von Enjambement und langen Reimvokalen folgte - der Form des Sonetts nicht ganz gerecht wurde; denn sie gaben, da ihnen Problemstellung und pointierte Gedankenentwicklung fehlten, weder Anlaß noch Berechtigung zu der 'volta', jenem Einschnitt zwischen Oktave und Sestett, den das von Wordsworth fast durchgehend angestrebte italienische, ein Fluten und Zurückfluten darstellende Sonett verlangte. Unbeschadet dieser Mängel, die auch als eigener, freier Umgang mit der Form aufgefaßt werden können, ist Wordsworth der größte Sonettdichter des 19. Jahrhunderts, ein Dichter, der sich wirklich im Sonett aussprach; während die anderen Romantiker nur vereinzelte Sonette schrieben (Coleridge, Byron, Shelley, Hunt, selbst Keats) und die Zahl der Dichter eines einzigen Sonetts in England groß ist (von Gray zu Blanco Whites To Night [1827] und zu Merediths Lucifer in Starlight), hat Wordsworth über 500 Sonette geschrieben. Wordsworths Prosa - die kritischen Schriften (Vorreden der Lyrical Ballads, Poetic Diction, Of Poetry as Observation and Description) ebenso wie seine Briefe an Familienangehörige und Freunde und der Letter on the Kendal and Windermere Railway und der Guide to the Lakes (1835) - fügt sich dem Schlichtheit und Poesie vereinigenden Dichtwerk ein, sie ist durch dieselben Eigenschaften gekennzeichnet, ist Ausdruck der ungekünstelten Natur Wordsworths, nüchterner als die Prosa der anderen Romantiker und wurde darum von der jungen Romantikergeneration als steif und langweilig empfunden. Nicht ganz zu Recht, denn bei einem ihn innerlich ergreifenden Vorwurf wie dem Tract on the Convention of Cintra (1809), der sein politisches Bekenntnis aus seiner Auffassung vom Wesen der menschlichen Natur zu begründen versucht, erweist er sich in der Tiefe des Gehalts wie in der Macht der Sprache als der einzige wahre Erbe Miltons.

4. Byron GEORGE GORDON LORD BYRON I? (1788-1824) hat ausschließlicher als alle Romantiker sein Leben zum Gegenstand seines Dichtens gemacht und mit 17

B i b l . u. Forschungsber. s.S. 559. W e r k e : Works, 13 Bde., ed. E.H. Coleridge (Poetry); R.E. Prothero (Letters and Journals) (1898-1904; N.Y., 21966). Poetical Works, edd. F. Page and J. Jump (Oxf., 1974 [ 970]) [modernster Text]; Poems EL; Selected Poems WC; Child Harold's Pilgrimage, EL (1975, Jump); Don Juan, edd. T. G. Steffan and W. W. Pratt, 4 Bde. (Austin, Tex./Edinb., 21971) [m. Werkgesch.],

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dieser Verwischung der Grenzen zwischen Leben und Kunst ein Zeichen gesetzt, von dessen Faszination die Zeit nicht mehr loskam und das die romantische Dichtung Europas, die nach einer ihre Gefühlswelt verkörpernden Gestalt suchte, zum Vorbild verallgemeinerte. Wenn dieses Bild auch einseitig war, den Gesellschafter, den Spötter und den Freund nicht zeigte, die Bestimmtheit des Dichters von Zerrissenheit, Vereinsamung und Weltschmerz war mit seiner ererbten Veranlagung, Erziehung und frühen Liebesenttäuschung (Mary Chaworth) gegeben, und das Vergessen-Suchen in Ausschweifungen und ein trotziges Aufbegehren fügten weitere Züge zum „byronischen Charakter". Dieser verband sich freilich mit literarischen Prototypen - den dunklen Helden des Schreckensromans, Chateaubriands Rene, den romantisch gesteigerten Vorstellungen von Napoleon und Miltons Satan und wurde vor allem durch Byrons eigene Dichtungen (Childe Harold, The Corsair, Manfred, Cain) weiter differenziert und stilisiert. So erscheint in der Literatur und Philosophie des 19. Jahrhunderts der „byronische Held" als ein Mensch, der alle anderen an Leidenschaftlichkeit und geistiger Autorität, aber auch an Leiderfahrung und nihilistischer Hoffnungslosigkeit ("Self-exiled Harold.. .With nought of hope left") übertrifft und der geheimnisvoll undurchsichtig ist, da er von einem ihn selbst und andere zerstörenden Dämon zu ruheloser Suche getrieben wird und durch eine ungeheure Sünde schwere Schuld auf sich geladen hat. Seinem qualvollen Schicksal des Ausgestoßenseins begegnet er mit verächtlichem Lächeln (vgl. Napoleon in Childe Harold, III, 39-41), Hochmut und geheimem Triumphgefühl über seine glänzende Selbstbeherrschung noch angesichts des Untergangs, und wie in Manfred und dem als Symbol angerufenen Prometheus (1816) findet er die seinem zerrissenen Wesen gemäßen Entsprechungen nur in einer wilden und heroisch gesteigerten Natur - in den Berggipfeln, Felsen, Schluchten und Gletschern der Alpen und in der gewaltigen Ausdehnung des Ozeans oder wie in Childe Harold auch in den umdüsterten großen Schlachtfeldern der Geschichte. als Leseausgabe PB; Letters and Journals, ed. L. A. Marchand (N.Y./Lo., 1973 ff. [i. E.]) [vollst. Texte, Komm., Indices]; Auswahl EL. - B i o g r a p h i e n : Zeitgen. Berichte: L. Hunt, Lord B. and Some of His Contemporaries (1828; N.Y., 21966); T. Moore, Letters and Journals of Lord B. (1830 u. o.) [s. S. 623]; T. Medwin, Journal of the Conversations of Lord B. (1824), ed. E. J. Lovell (Princeton/Lo., 1966); E. J. Lovell, His Very Self and Voice: Coll. Conversations of Lord B. (N.Y., 1954). - L. A. Marchand, B.: A Biography, 3 Bde. (N. ., 1957) [Standard; Zusammenfassung: B.: A Portrait (1971)]; B.C. Robinson, Shelley and B. (Baltimore, 1976). - K r i t i k : A. Rutherford, B.: A Critical Study (Edinb./Lo., 1961);P. L. Thorslev, The Byronic Hero: Types and Prototypes (Minneapolis, 1962); L. A. Marchand, B.'s Poetry (Boston/Lo., 1965); J. J. McGann, Fiery Dust: B.'s Poetic Development (Chicago, 1968) [grundlegend]; D. G. Trueblood, Lord B. (N.Y., 1969) [nützl. Zusammenfass. kritischer Ansichten]; J. D. Jump, B. (Lo./Boston, 1972); G. Hoffmeister, B. u. d. europ. Byronismus (Darmstadt, 1983). - S a m m l u n g e n : B.: A Collection of Critical Essays, ed. P. West (Englewood Cliffs, N.J., 1963); TCI 'Don Juan', ed. E. E. Besteller (Englewood Cliffs, N.J., 1969).

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Bezeichnenderweise herrschte in dem ersten, in stolzer Bescheidenheit Hours of Idleness (1807) genannten Gedichtband der schwermütige Ton vor, und auch in den reiferen Hebrew Melodies (1815) blieben die heroischen Versuche (Belshazzar; Sennacherib) Deklamation, während die elegischen Stücke eigene Prägung auf wiesen (O! snatched away. ..; My soul is dark...), Das gilt für Byrons Lyrik überhaupt, eine Auswahl des Besten zeigt immer wieder den ergreifend echten Schwermutsklang, seien es kürzere Stücke wie das Mary Chaworth zugeeignete When we two parted... (1808), das an Moore gerichtete Gedicht So we'll go no more a-roving (1817) und die letzten in Missolunghi geschriebenen Zeilen ' Tis time this heart should be unmoved (1824), seien es in epischer Breite ausgeführte Gedichte wie The Dream (1816) und das den Menschheitsuntergang nach dem Verlöschen der Sonne in schrecklichen Bildern ausmalende Darkness (1816), oder seien es lyrische Stellen in den Epen: Childe Harolds Abfahrt (I), die Einsamkeitsstrophen (11,25-26; 111,113-114) und das wehmütige Ave Maria im Don Juan (III, 101-109). Diese Stimmung ist immer um einen ganz bestimmten Gedankeninhalt gleichsam kreisend herumgesponnen (vgl. auch To Thyrza, 1811), wie überhaupt eine klassizistische Empfindungsweise haltlosem Zerfließen entgegenwirkte. Auch der metrische Gang hat etwas Geregeltes, Festes und ist bisweilen von erstaunlicher Wirkung (vgl. außer den genannten Zeilen an Mary Chaworth und Moore das Gedicht There be none of Beauty's daughters von 1816). Das Jugendwerk zeigte allerdings wenig davon und fand eine scharfe Kritik in der Edinburgh Review. Als Antwort arbeitete Byron einen älteren kritischen Entwurf British Bards zur Satire English Bards and Scotch Reviewers (1809) um, deren Pope-Nachklang in Metrum, Vorwurf und Auffassung vom Dichter durch das Lob der klassizistischen Nachzügler (ab Zeile 789) innere Berechtigung erhielt. Byron, der über sein eigenes Dichtschaffen sich romantisch ausließ, von Qual, Raserei und aufgewühlter Leidenschaft sprach, hat in seinen kritischen Äußerungen, in Gesprächen, Tagebüchern und Briefen wie in der Verteidigung Popes gegenüber Bowles (Letters and Journals, V, 522 ff.) stets einer nüchtern klassizistischen Dichtauffassung das Wort geredet. Darin mag sich der Geltung suchende Drang zum tätigen Leben verbergen, der erstmals in dem Notbehelf einer Orientreise (1809-11) Befriedigung fand. Der menschliche Gewinn dieser Reise, die Befreiung von engherzigem Vorurteil und die Fähigkeit, das Fremde zu verstehen und zu achten, fand dichterischen Ausdruck in den ersten zwei Gesängen von Childe Harold's Pilgrimage, die er als „eine Reihe Spenserstanzen von geringem Wert" auf Freundeszureden hin 1812 veröffentlichte. Mit diesem poetischen Reisetage buch, das durch den Mund des gesellschaftsmüden jungen Adligen ("Childe" = Junker, mittelalterlicher Titel des ältesten Sohnes vor Übernahme des väterlichen Titels) Betrachtungen und Eindrücke des Dichters von seiner Reise durch Portugal, Spanien, die Ionischen Inseln und Albanien berichtete, war Byron plötzlich zum berühmten Dichter geworden. Der Erfolg führte zur Fortsetzung, die in derselben lockeren, autobiographischen Art die Reise

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durch Belgien, den Rhein hinauf zu Alpen und Jura schilderte (Gesang III, 1816). Später (Gesang IV, 1818), in eigener Person sprechend und Kunst und Geschichte stärker heranziehend, schilderte er die Eindrücke der italienischen Städte Venedig, Ferrara, Florenz und Rom. Die Folge der Bilder ist frisch geblieben. Mit unbestechlichem, für Bewegung, Farbe, Licht empfänglichem Malerauge erfaßte Byron, seinen Mangel an innerer Schau vergessen machend, das Wesentliche des äußeren Eindrucks, den er, der brillante Sprecher, in wenige Zeilen zusammenpreßte und zugleich ins Vehemente und Grandiose, mitunter auch, das Extreme um seiner Selbst willen suchend, ins Melodramatische steigerte ("Still must I on; for I am as a weed/Flung from the rock, on Ocean's foam to sail/Where'er the surge may sweep, the tempest's breath prevail" III, 2). Das führt aber nicht zu billiger Theatralik, sondern reißt den Leser gleichsam in den Strom großer Gefühle. Die Sprache verdichtet sich dabei nicht zu der Expressivität der anderen großen Romantiker, sondern bleibt als gedankengelenktes, deskriptives Mitteilungsinstrument klassizistischer Herkunft leicht verstehbar und übersetzbar, was zu Byrons europäischer Wirkung beitrug. Die Verse fließen in leicht faßbaren, verallgemeinernden Formeln dahin, die schnell gelesen werden wollen und keine besondere Aufmerksamkeit oder Interpretationsbemühung beanspruchen, jedoch die wechselnden Stimmungen und Bilder sehr genau treffen und sogar einen persönlichen Sprechton vernehmen lassen. Beispielhaft für Byrons Verfahren sind das Augenblicksbild vom Stierkampf (I, 75), das nächtliche Suliotenlager (II, 71), der Morgen der Schlacht von Waterloo (III, 21 ff.) und die gleich berühmten Städte- und Landschaftsbilder aus Spanien und Italien, anschaulich auch im Lied (nach III, 56), in weicher Stimmungslyrik (III, 99) und oft durch ein Kulturerinnern eindringlich geschmückt (IV, 48). Was aber die Zeit bezauberte und Byron später (nach Matthew Arnolds Wort) am „unbezwinglichen Philistertum" des- englischen Bürgers scheitern ließ, war die freimütige Aussprache des Menschen, die rückhaltlose Preisgabe und Inszenierung der Erlebnisse und Gefühle, der zufolge das schöpferisch-gesetzlos sich entwickelnde Ich zur großen Persönlichkeit gesteigert wurde, der die Welt nur zum Hintergrund diente. Welch ein Schatten war Scotts Minstrel gegen Harold! Jetzt fanden die erregenden Zeitereignisse Wort, und zwar jeweils zum flammenden Freiheitsaufruf gewendet: der französische Feldzug in Spanien (I, 35 u. 37), das Fortbringen der Parthenon-Metopen durch Lord Elgin (II, 15), die türkische Beherrschung Griechenlands (II, 73 u. ö.), der Fall Napoleons und die Bedrückung Italiens (IV, 12, 42, 96). Begeistert jubelte die Jugend Europas dem neuen Dichter zu, sie glaubte sich selbst zu erkennen bei der Aussprache des Byronschmerzes (I, 9 ff., 83 u. ö.) und der weltflüchtigen Natursehnsucht (II, 25 f.), empfand des Dichters Gefühlsbeichten mit (den Abschied von England, nach I, 13, und die Liebe zu Ada, III, 1) und erzitterte vor der großartigen Anrufung des Meeres (IV, 179). Diese Wirkung, bei den letzten Haroldgesängen noch heute verständlich obwohl spätere Leser wie Thackeray dem Dichter Unaufrichtigkeit und

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theatralische Wirkungsabsicht vorwarfen -, ist in den griechisch-türkischen Erzählungen verblaßt. Von diesen erschienen 1813 The Giaour und The Bride of Abydos in der Scottschen Lay- und Versform; 1814 The Corsair und dessen Fortsetzung Lara, beide in heroischen Reimpaaren; 1816 wieder in freien, meist vierhebigen Zeilen The Siege of Corinth und Parisina. Die erste, sprunghaft durch den Bericht eines türkischen Fischers und die Beichte des Giaour („der Ungläubige", türkischer Spottname der Christen) erzählte Geschichte spielt in Griechenland und schildert die schuldige Liebe des Giaour zu Hassans Lieblingssklavin, die daraufhin von den Türken gebunden und ins Meer geworfen wird. Der Giaour tötet Hassan, um sie zu rächen, wird aber von Schuldbewußtsein getrieben und endet in einem Kloster. Die späteren Erzählungen erreichen gelegentlich - wie z. B. im Korsaren - durch Überraschungstechnik, Veränderung des Schauplatzes und rätselvollen Ausgang einen für den Leser zusätzlichen Reiz. Die thematisch einander ähnelnden Verserzählungen sind im Gegensatz zu Wordsworths einfachen und rührenden Geschichten alle erfüllt von heftigem Geschehen, Seeräubertum und Kampf, Grausamkeit und schuldiger Liebe, alle beherrscht von einer grell beleuchteten Mittelfigur, die das Geheimnis einer grauenvollen Schuld mit bitterer Schwermut überschattet, alle ein Bild von Byrons eigenem bis zum Wahnsinn zerrissenen Gefühlsleben, dessen Gründe die Briefe deutlich erkennen lassen (Liebesverhältnis mit seiner Stiefschwester Aurora Leigh, Ehe mit Anne Milbanke und Scheidung, gesellschaftliche Ächtung). Das unwahr Melodramatische, das sich auch im Hineintragen autobiographischer Züge in die orientalischen Figuren äußerte, das Zu-kurz-Kommen der Erzählung sowie das Fehlen von Maß und Form wurden zu seiner Zeit nicht empfunden. Dagegen fühlte man - was auch den Fortschritt gegenüber den ersten Haroldgesängen darstellte - die Scotts blasser Ritterwelt überlegene Glut und Farbe wirklicher Leidenschaft, die den Dichter zur Niederschrift hetzte und den Leser mitreißt. Wenn diese Kleinepen auch in Byrons späterem Schaffen noch nachklangen, stürmisch und mit einer bildliche Wiedergabe herausfordernden Anschaulichkeit in Mazeppa (1818, in jambischen Vierhebern), zum Rousseauidyll gemildert in The Island (1822, in Reimpaaren), so begann doch ein neuer Lebens- und Dichtabschnitt, als er 1816 England verließ. Am Genfer See lernte er Shelley kennen, dessen Einfluß in den pantheistischen Zügen des dritten Haroldgesanges fühlbar ist, und bei einem Besuch Chillons entstand die kürzeste und ruhigste seiner Verserzählungen, The Prisoner of Chilian (1816). Dann ging er mit seinem Freund Hobhouse nach Venedig, wo die Verzweiflungsstimmung des Manfred von ihm abfiel und seine eigenartige und künstlerisch bedeutsame italienische Schaffenszeit begann. Das äußere Leben blieb ruhelos. Nach drei ausschweifenden Jahren in Venedig folgte er der jungen Gräfin Guiccioli nach Ravenna, wo er in Verbindung mit dem patriotischen Geheimbund der Carbonari trat; dann siedelte er auf Shelleys Vorschlag nach Pisa über und schließlich nach Livorno. Mancherlei Mißhelligkeiten trübten das Verhältnis zu Shelley, der sich wohlmeinend für Ciaire

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Clairmont und für ihre und Byrons Tochter Allegra einsetzte und die Herausgabe einer kurzlebigen Zeitschrift The Liberal (1822-23) betrieb, zu deren Leitung Leigh Hunt aus England gerufen wurde, dessen Unterstützung Byron bald als Last empfand. Nach allerhand unklaren Reise- und Zukunftsplänen ging Byron mit Trelawny nach Griechenland, und sein Tod für die griechische Freiheitsbewegung verklärte im Nachruhm sein Los. Dichterisch waren die italienischen Jahre die Zeit der Dramen und Satiren. Byron hatte mehr Beziehungen zum Theater als die anderen Dichter der Hochromantik, aber nach einem ersten Versuch, für die Bühne zu schreiben (Werner, 1. Fassung 1815), wandte er sich von der herrschenden Mode ab und erstrebte ein „geistiges Theater" der Zukunft. Er besaß die stürmende Leidenschaft, die dramatisches Geschehen braucht, aber er konnte sein eigenes Selbst nie ganz abtun. So blieben die „regelrechten" Tragödien, die in Nachfolge Alfieris eindrucksvolle Geschichtsszenen dramatisieren, im DiesseitigMenschlichen der Historic stecken. Marino Faliero (1820) vergegenwärtigt die Verschwörung des betagten Dogen gegen die venezianische Regierung im 14. Jahrhundert. Trotz sorgfältiger Beachtung der aristotelischen Einheiten widerstrebt das Stück der Aufführung. Die imponierende Gestalt des Dogen ist das erhöhte, auf geschichtliche Ebene übertragene Heldenbild von Byrons eigener Teilnahme an der Carbonariverschwörung gegen die Österreicher. Dem Dogen erwächst in Steno, dem Werkzeug der Gegenpartei, kein ebenbürtiger Gegenspieler. Außerdem senkt Byron die tragische Wirkung, indem er mit der Opferbereitschaft für die Freiheit Venedigs ein persönliches Rachemotiv des beleidigten Aristokraten verbindet und diese Schuld dem Helden (bis auf den Monolog vor der Enthauptung, V, 3) nicht bewußt werden läßt. Das Lokal- und Zeitkolorit Venedigs traf Byron ebenso gut in der historischen Tragödie eines anderen Dogen und seines unglücklichen, heimwehkranken Sohnes The Two Foscari (1821). Der stoisch dem Gesetz des Vaterlandes gehorchende treue Staatsdiener Francesco Foscari stimmt für die Verbannung des eigenen Sohnes und stirbt, vom Schlag getroffen, am gleichen Tag wie der Verurteilte. Der Dichter hat den Einheiten zuliebe, aber der Wahrscheinlichkeit Gewalt antuend, die Verbannung des Sohnes mit der Absetzung des Vaters, die dessen Tod verursacht, zusammengelegt. Byron, der über die Technik des Dramas nachdachte, wollte in diesem zweiten klassizistischen Versuch eine Schwäche seines ersten Dramas vermeiden. In Marino Faliero stand der fünfte, nach der Gefangennahme des Helden spielende Akt außerhalb der Handlung und schleppte nach. In The Two Foscari, die erst mit dem Prozeß einsetzen, ist der fünfte Akt zwar voll zur Handlung gehörig, dafür liegt aber die gesamte Vorgeschichte, d. h. der Gegensatz zwischen dem jungen Foscari und Venedig, seine Verbannung, sein Entschluß zur Rückkehr, seine Gefangennahme, dem Stück voraus - ein nicht ganz geglückter Versuch im rein analytischen Drama. Eine Meisterung der konventionellen Form erreichte Byron in seinem dritten klassizistischen Drama, dem einzigen, das ein vielseitiges Charakterbild zeichnet, Sardanapalus (1821). Hier reizte es Byron, eine lächelnd verspielende, das Bacchantische suchende und nicht meistern kön-

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nende Herrschernatur des Altertums zu zeigen. Als aber der Stimmungen unterworfene König von den Ereignissen zur Tat aufgerufen wird und in seinen letzten Lebensstunden sich heldisch aufrafft, kämpft er für etwas, das mehr ist als sein eigenes Ich, für etwas, das nicht wie in den anderen Freiheitsstücken durch „Venedig" oder „Demokratie" umschrieben werden kann, sondern über das Verkörperbare hinaus zur Idee der Freiheit hinaufreicht, die Myrrhas menschlicher Liebe tragisch unerreichbar bleiben muß. Nach diesen klassizistischen Versuchen erfolgte eine Rückwendung zu der schon im Manfred (1817) gefundenen romantischen Form. Im Manfred hatte Byron darauf verzichtet, die menschliche Liebe darzustellen. Sie bleibt nur ahnbar als ein bereits geschehener Inzest, der als innere Begründung dieses Reuedramas eines weltmüden, fluchbeladenen Helden dient. Mindestens der Eingangsmonolog ist nach einer Stegreifübersetzung von Goethes Faust (durch 'Monk' Lewis) konzipiert worden. Während aber der Faust ein Bild der erlösungssehnsüchtigen Menschheit wurde, blieb Manfred, obwohl ihm die Geisterwelt dienstbar ist (vgl. am Höhepunkt des Dramas, II, 4, die Erscheinung Astartes), der Gejagte, der im 1. Akt, als er sich von schwindelnden Alpenklippen in die Tiefe stürzen will, von einem Gemsenjäger äußerlich gerettet wird und im letzten Akt vor seinem Tode den Bekehrungsversuchen des Abtes trotzig widersteht. Die auftretenden Gestalten sind lediglich Folie für Manfred, der als Grenzgänger zwischen Geisterwelt und romantisch überhöhter, wilder Bergwelt Anlaß zu einem ungewöhnlichen, Byrons eigene Züge aufnehmenden Seelengemälde bot. Noch stärker in die gedankliche Auseinandersetzung drängt das Blankversmysterium Cain (1821), denn hier wird im Gegensatz zum Manfred, dessen Erlösung dem Tod gleichkommt, die Auflehnung des Menschen gegen den Fluch des Todes dramatisiert. Byron hat zwei tragische Motive miteinander verschlungen: Einmal bringt der Held den von ihm gefürchteten Tod selbst in die Welt, und zum ändern kreist der Empörer um das Rätsel der Erbsünde und des Gewissensfluches ohne Lösungsmöglichkeit. Dem Zweifler Cain sollte in Lucifer ein Widerspiel erstehen, aber der gefallene und besiegte Gegner Gottes wird zum Gefährten des ersten Menschen, ihm verwandt in Zweifel und Zwiespalt. Gott erscheint als Tantalusschöpfer, der die Welt erschuf, um sie immer wieder durch den Tod zu zerstören. Der kosmische Glanz der von Cain und Lucifer erblickten Welten, die verzweifelten Hymnen des Glücklosen, der lyrische Zauber idyllischer Szenen und der dem Alten Testament nachgedichtete Ausgang sind wesentlicher als eine echt dramatische Anlage der Charaktere. Sowohl im Manfred wie im Cain wird der Gegensatz von herkömmlichem Glauben und modernem Denken und das trotzige und ergebnislose Forschen nach den Mächten von Gut und Böse zum Thema, und die Summe des menschlichen Wissens als Bewußtsein der eigenen Nichtigkeit wird gleichzeitig ohnmächtig und empört gezogen. Nach Goethes Urteil hatte Byron mit der Dramatisierung biblischer Szenen ein eigenes Feld eröffnet. Formal war er auch hier der romantischen Dramenform gefolgt. Sie wurde fortgesetzt in Heaven and Earth (1821), und nach der er-

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neuten Behandlung des Werner (2. Fassung 1822) versuchte Byron eine Vereinigung der klassizistischen und der romantischen Art der Tragödie in dem gänzlich mißglückten The Deformed Transformed (1822). In den Dramen gelangte die tragische Idee der zwecklosen Auflehnung nicht zu reiner künstlerischen Darstellung. Byrons Wesen gemäßer war die burleske Abwandlung. Angeregt durch John Hookham Frere,18 dessen Epos Monks and Giants (1817-18) italienische Vorbilder (Pulci, Berni, Casti) nachahmt, übertrug Byron den ironischen Plauderton und die lebenssprühende Wirklichkeitswelt seiner Briefe in die Dichtung. Dies geschah erstmals in den geschickt gereimten Ottaven seines Beppo (1818), der eine lachende Karnevalsdeutung des Lebens gibt. Damit hatte er seinen eigensten Ton und die größte künstlerische Freiheit gewonnen. Von überlegener Höhe verspottete er das königliche Himmelsgeleite für Georg III., das der arg konservativ gewordene und gegen Byrons „satanische Schule" zu Felde ziehende Southey als 'poet laureate' verfaßt hatte, in dem (den Southeyschen Gedichttitel übernehmenden) Vision of Judgment (1822), das Goethe „toll! ganz grob! himmlisch! unübertrefflich!" nannte. Im Don Juan (1819-24) schuf er ein komisches Menschheitsepos, das in seiner gewollten Planlosigkeit die restlose Aussprache seiner vielfach wechselnden Stimmungen gestattete. Hier spricht der Erzähler und Kommentator nicht mehr als „byronischer Charakter", sondern als amüsierter, welterfahrener und illusionsloser Lebemann, der witzig drauflos plaudert und mit gelassen ausgespielter Kennerschaft die entlegensten Dinge relativierend zusammenbringt - etwa romantisches Liebesidyll mit Trivialitäten ("Well - Juan, after bathing in the sea/Came always back to coffee and Haidee", II, 171) oder heuchlerischen Tugendanspruch mit Schlüpfrigkeiten und Gerührtheit mit Gelächter. Auch der Held ist nicht der große Verführer der Don JuanTradition, sondern ein den Versuchungen erliegender Durchschnittsmensch mit konventionellen Empfindungen und Bedürfnissen, der aber weder von Gewissensbissen noch Erinnerungen gequält wird, sondern allen Wechselfällen des Lebens mit neuer jugendlicher Unbekümmertheit entgegentritt. Unter diesen Umständen kommt es weder zu einer tieferen Charakterzeichnung noch zu einem Charakterwandel. Aber die Figuren wirken durch ihre wechselnden Leidenschaften, und die in einer amüsanten Szenenfolge eingefangene Welt gibt dem Ganzen eine lebendige Farbigkeit. Die spielend gemeisterten Ottaven machten Byron frei von den der Prosaäußerung gezogenen Grenzen; hier konnte er in kühnem Sprunge von gewagtem Spott zum erhabenen Hymnus auf den Stern des Lebens übergehen (XV, 99), vom Haideeidyll zu dem Freiheit verkündenden Sang The Isles of Greece' (III), von grausiger Schiffbruchsschilderung zu lyrischem Ausströmen weichen Empfindens. Hier konnte er ehrfurchtslos, aber nicht undichterisch die Narr18

Works, ed. B. Frere, 3 Bde. (21874); The Monks and the Giants, ed. R. D. Waller (1926) [kommentiert]. - A. v. Eichler, F.: Sein Leben u. seine Werke, sein Einfluß auf B. (Wien, 1905).

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heit des Menschseins predigen in dem nachlässigen Gesprächston, der alles Geschehen wie selbstverständlich zu seinem Ich herabzieht und in dem prikkelnden Reimspiel des kurzen, zugespitzen Abgesangs das Allzumenschliche als witzige Auflösung herkömmlicher Werte herauskehrt. Ein auflösendes Buch gewiß, und ein gefährliches Vermächtnis der Romantik, aber das nicht veraltende Bekenntnis eines freien Geistes.

5. Shelley In eine höhere, aber menschlich weniger zugängliche Welt führt das Dichten von PERCY BYSSHE SHELLEY19 (1792-1822), das mit zwei kindlichen Schrekkensromanen (Zastrozzi, 1810; St. Irvyne, 1811) und den Gedichtfolgen Original Poetry by Victor and Cazire (1810) und Posthumous Fragments of Margaret Nicholson (1810) wenig verheißend begann. Aber aus dem Tyrannenhaß, der Kriegsverwünschung und dem Preis der Revolutionshelden der Nicholsonfragmente sprach schon das Shelleys Dichten zeitlebens erfüllende Hoffen auf ein goldenes Zeitalter, das er unter Godwins Einfluß zunächst durch einen Kampf der Vernunft gegen die Vorurteile herbeiführen wollte. Die Flugschrift The Necessity of Atheism (1811) führte jedoch zur Verweisung von der Universität, was ihm als hassenswerter Sieg der Unduldsamkeit erschien, wie er sich stets bei menschlichen Enttäuschungen als Opfer empfand (Miss Hitchener und seine erste Frau Harriet Westbrook, die er exzentrischerweise zu ihrem Schutz vor Verfolgung, nicht aus Liebe geheiratet hatte). Als auch politische Flugschriften, die Address to the Irish People und der 19

B i b l i o g r a p h i e : C. Dunbar, A Bibl. of S. Studies 1823-1950 (Folkstone, 1976); N. Fogarty, S. in the 20th Cent. (Salzburg, 1976) [engl. u. amerik., 1916-71]. - Comp l e t e W o r k s (Julian Edn.), edd. R. Ingpen and W. E. Peck, 10 Bde. (1926-30; N. Y., 2 1965). - C o m p l e t e P o e t i c a l W o r k s , ed. N. Rogers, 4 Bde. (Oxf., 1972 ff. [i. E.]) [neue Textgestaltung mit Textgeschichte]; Poetical Works, ed. T. Hutchinson ([1904] u. ö., G. M. Matthews, 1970) [beste einbändige Ausgabe]; EL, WC. - S.'s Prose, ed. D. L. Clark (Albuquerque, N. Mex., 1954; Folcroft, Pa., 21969); Defence auch ed. J. E. Jordan (Indianapolis, 1965) u. in Engl. Crit. Essays, WC; S.'s Political Writings, ed. R. Duerksen (Arlington, 1970). - Selected Poems and Prose, ed. G. M. Matthews (Oxf., 1964); Selected Poems, EL; Poetry and Prose, edd. D. H. Reiman and S. B. Powers, Norton Crit. Edn. (N.Y., 1977). - L e t t e r s , ed. F. L. Jones, 2 Bde. (Oxf., 1964). - B i o g r a p h i e : Zeitgenössische Berichte: Peacocks Memoirs (s.S. 664); S. and his Circle: 1773-1822, edd. K. N. Cameron and D. H. Reiman, 6 Bde. (Cambr., Mass., 1961-73). - N. I. White, S., 2 Bde. (N.Y., 31972) [Kurzfassung: A Portrait of S. (N. ., 1945,21959)]; E. Blunden, S.: A Life Story (1946 u. ö.) [beste Kurzbiographie]; R. Holmes, S.: The Pursuit (Lo./N.Y., 1974). - K r i t i k : C. Baker, S.'s Major Poetry: The Fabric of a Vision (Princeton, 1948 u. ö.; N. ., 1961); R. H. Fogle, The Imagery of Keats and S. (Chapel Hill, 1949); J. A. Notopoulos, The Platonism of S. (Durham, N. C, 1949; N.Y., 21969); N. Rogers, S. at Work (Oxf., 1967 [ 956]); H. Bloom, S.'s Mythmaking (New Haven, 1959; Ithaca, N.Y., 1969 u. ö.); K. N. Cameron, S.: The Golden Years (Cambr., Mass., 1974); F. Delisle, A Study of S.'s Defence of Poetry', 2 Bde. (Salzburg, 1974); D. H. Reiman, P. B. S. (1976) [gute Einführung]. - S.: A Collection of Critical Essays, ed. G. M. Ridenour (Englewood Cliffs, N.J., 1965).

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Letter to Lord Ellenborough (beide 1811), ergebnislos blieben, verkündete er das Godwinsche Vernunftevangelium in der Dichtung, überwand es aber dabei allmählich. Queen Mab (1813, 1816 teilweise umgearbeitet als The Daemon of the World) ist weniger ein philosophisches Gedicht als ein Sehnsuchtstraum, dargestellt an dem Erlebnis der körperlosen Menschenseele lanthe, die in einer von der Feenkönigin vermittelten Schau der historischen Reiche und der Gegenwart die Bedrückung des Menschen durch Necessity (Könige, Priester, Religion, Handel) erkennt, aber die Hoffnung auf Liebe, Frauenemanzipation und ein Reich der Brüderlichkeit vorausfühlt. Immer wieder fällt die fiebrig erregte Sprache vom belehrenden Blankvers in freiere Rhythmen, und der ganze Lehrstoff mußte in Anmerkungen untergebracht werden. Im Sichwund-Stoßen am Leben (Ereignisse im Gefolge seiner Entführung von Godwins Tochter Mary), aber auch aus Verzweiflung über die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit erstand dann ein neuer Grundakkord seiner Dichtung, eine hoffnungslose Trauer (vgl. Mutability; ; Summer Evening Churchyard, 1815-16), die das kleine, in gleichsam atemlosen Blankversen geschriebene Epos Alastor (1815, veröffentlicht 1816) deutend gestaltete. Wissend, daß sein Herz zu ewiger Unbefriedigung verdammt sei, setzte er sich dem jungen Dichter gleich, der einst in der Schau des entschleierten Mädchens eine Offenbarung erlebte, aber dessen menschliche Liebe ignorierte und nun, vom Einsamkeitsdämon Alastor gehetzt, über Land, Meer und Flüsse dem Traumbild (einer idealen Steigerung seines Selbst) liebeglühend nachjagt, bis er schließlich, der langsam sterbenden Natur gleich, sein Leben verströmt. Schon hier drücken sich die metaphysischen und psychologischen Aspekte der von Shelley in vielen späteren Gedichten verdeutlichten Liebes- und Dichtungsauffassung aus: die rastlose Suche nach einem Ideal, dem die Realität nie entsprechen kann, führt zum Scheitern und zum Tod, und doch erhält das Leben von dieser Schönheitssehnsucht Sinn und Wert; sie zu künden, heißt Dichten in der von Shelley geforderten visionären Art, und des Dichterjünglings Sterben ist wie in der Liebesverzückung ein Auflösen des Ichs ins All. Körperlichkeit und Vergeistigung sah Shelley gleich wirklich; um sie miteinander in Verbindung zu setzen und sich der transzendenten Wahrheit zu nähern, brauchte er eine Sprache, die in schneller Folge und oft synästhetisch eine Vielfalt von Vorstellungen und Gedanken mischt - vorwiegend solche des Strömens und atmosphärischen Schwebens - und in der die Bilder nicht Selbstzweck sind, sondern als Sinnbilder Mittel zum Erleben eines Grenzenlosen, nicht mit endlichen Namen zu Belegenden. Was im Alastor unbestimmte Ahnung war, erstrebt unter dem zerfließenden Bild eines Weibes, wurde ein Jahr später unter der Offenbarung der großen Natur der Alpen zur wesenhaften Gestalt der geistigen Schönheit (Hymn to Intellectual Beauty, 1816). Die Dichtung gab, was die Vernunft nicht leistete; in ihr erstand Shelleys neuplatonisch bestimmtes Weltbild. Er wußte jetzt, daß die im Alastor erstrebte dauernde Verzückung unmöglich war, daß es nur Augenblicke des Entzückens gibt und daß diese 'moments of

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delight' Abbilder der göttlichen Schönheit (Ideen) vermitteln. Diese geistige Macht kann nur in ihren sinnlichen Offenbarungen, im Schönen der Natur, Kunst, Freundschaft und Liebe, gefühlt werden. So erlebte er ekstatisch den heißersehnten mystischen Einklang mit der Gottheit im Anblick des Monl Blanc (1816), dessen eisige, aber faszinierende Gewalt über der wilden Schlucht des Bergflusses in symbolischen Bildern ewiger Ruhe und Bewegung und in leidenschaftlicher Spekulation vergegenwärtigt wird. Die hier schon ersehnte Steigerung des Ichs zur Menschheitserfahrung versuchte Shelley in seinem längsten Werk, dem Epos Laon and Cythna (1817, die zweite, die Geschwisterliebe beseitigende Ausgabe erschien 1818 als The Revolt of Islam), mit einer Erzählung, in welcher der hochstrebende Mann, gestützt durch die Liebe der gleichgesinnten Frau, im Kampfe gegen die Tyrannei das goldene Zeitalter heraufführt. Dieses von der Vorrede unterstrichene Thema, das die Leser zu selbstloser Begeisterung für die Freiheit und das Gute der menschlichen Natur erwecken soll, erinnert an die Vernunftforderungen der überwundenen Godwinzeit, und das ausführliche Verweilen bei den Rechten der Frau gegenüber der Gesellschaft ist ein Echo der Rights of Woman (1792) von Mary Wollstonecraft-Godwin (s. S. 639), deren Leitsätze die gleichzeitig begonnene, aber erst später vollendete kurze Reimpaardichtung Rosalind and Heien (1819) durch die Erzählung zweier Frauenschicksale nochmals herausstellte. Im Revolt of Islam wird die Belehrung jedoch von der Dichtung zurückgedrängt. Die Erzählung löst sich auf in stets zu neuen Formen zusammenfließende Bilder; der Gang der Spenserstrophen wird zu unaufhaltsamem Strömen, in dem sich jede Umrißlinie verwischt; die Metaphern reißen alle zwischen den Empfindungsweisen der verschiedenen Sinne bestehenden Schranken ein, so daß der Leser sich taumelnd in eine Phantasiewelt versetzt fühlt und oft vergeblich dem Dichter, der mit anderen Sinnen begabt scheint, zu folgen versucht. Mit der Übersiedlung nach Italien (1818) wurde Shelleys Kunst zwar durch Anschauung geklärter, aber dennoch nicht greifbarer. Es vertiefte sich die schon früher mit dem Zukunftshoffen wechselnde, unsagbare Melancholie, die erstmals in der Stanza written at Bracknell (1814) das wollüstig erlebte Leid in schrill wehklagendem Tone ausgesprochen hatte. Doppelt befremdend klingt dieser Ton in der Gesprächsdichtung Julian and Maddalo (1818, in heroischen Reimpaaren), die in der Beschreibung des abendlichen Ritts des fortschrittsgläubigen, atheistischen Engländers Julian (Shelley) mit dem genialen venezianischen Adligen Maddalo (Byron) auf dem Lido weit abgerückt ist von der gänzlich entkörperten und unsteten Gefühlswelt jener Bracknell-Strophe. Als im Prince Athanase (1817), der ein zweiter Alastor werden sollte, das Autobiographische sich zu sehr vordrängte, ließ Shelley die hundert Terzinen als Bruchstück liegen, in Julian and Maddalo aber machte er die Erzählung zu einer das vergangene Leid auskostenden Beichte und kommt so wenig von seinem Ich los, daß er es zweimal, in Julian und in dem eine tiefe Sanftheit bewirkenden Wahnsinnigen, verkörpert. Eine künstlerisch reinere Aussprache dieser Seite Shelleys gelang in den Stanzas written in

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Dejection near Naples (1818), worin die leuchtende, aus einem Meer von Licht auftauchende Landschaft dem traurigen Herzen des Einsamen und Hoffnungslosen gegenübergestellt ist im vollkommenen Gleichgewicht je zweier Strophen, bis dann in der fünften mit schrillem Schrei die persönliche Klage hereinbricht. Dasselbe Grundthema behandelt The Skylark (1820) als Gegensatz zwischen jubelndem Vogellied und ruhelosem Menschenherzen in einem so dünnen, durchdringend hohen Ton, daß das Leid in Jubel übergeht. Das Gedicht ist ein Muster der Shelleyschen Metaphernsprache und Prosodie; denn alle Bilder wollen Gefühlseindrücke erwecken, gehen aber über die Anschauung hinaus oder verneinen sie durch Häufung vorstellungsmäßig unvereinbarer Vergleiche. Gleichzeitig suchen Rhythmus und Strophenstruktur in den vier emporkletternden Kurzzeilen mit dem wiederkehrenden Schweben der doppellangen Schlußzeile die Schwerelosigkeit des Lerchenlieds zu vergegenwärtigen. Das in diesem Gedicht unerfüllbar scheinende Verlangen, von der Last des Menschseins befreit zu werden, wird in der großen Ode to the West Wind (1819) zur prophetischen Verkündigung. In den fünf sonettartig zusammengefaßten Terzinen-Strophen wiederholt sich in steter Steigerung und stets von der Anschauung zur Idee aufsteigend - auf der Erde, am Himmel und im Meer, in Shelleys eigenem Herzen und für die ganze Menschheit - das Thema vom Zerstörer und Erhalter Westwind, der sowohl als präzise beobachtetes Naturphänomen wie als mythische Gestalt erfaßt wird. Er wird der Wind des Alls, den der Dichter durch sich hindurchgehen fühlt, der das Feuer in den Seelen der Menschen entzündet und jenseits des Winters den Menschheitsfrühling erwecken wird. Dieselbe für Shelley kennzeichende Themaentfaltung in der Art sich weitender Kreise oder gesteigerter Aufeinanderfolge herrscht in The Cloud (1820), die erdabgerückt das ewige Sein in allem Wechsel zum Thema hat. Im Rhythmus dieses Gedichtes (Schweifreimstrophen) wird uns die stets fließende Wolkenveränderung so nahegebracht wie in der Arethusa-Ode (1820) das stürzende Wasser des Bergbachs, aber nicht gekünstelt, sondern notwendig aus dem Streben nach einer musikalischen, aus dem jeweiligen Vorwurf geborenen Form. Die musikalische Haltung Shelleys zeigt sich auch in der Auflösung fester Formen wie Reimpaar, Spenserstrophe, Terzinen, während ein gegebener Rahmen, wie ihn die Architektur der Ode darstellte, ihm eine Fessel bedeutete (vgl. die Ode to Naples, 1820, und als Gegenbild sein Erlebnis der Musik in Thus to be lost... und My spirit like a charmed bark ...). Die ausgeglichenste, weil des Dichters Schwermut und Prophetenglauben umfassende und eine sensible Beschreibungskunst verwendende, Dichtung der italienischen Zeit sind die Lines written among the Euganean Hills (1818), in kurzen Reimpaaren und im Gegensatz zu den Oden in konkreter Sprache und kurzen Sätzen geschrieben. Einsetzend in verzweifelter Trauer, wird ihm die zuvor als Bild gebrauchte grüne Insel im Meer des Leids zur Wirklichkeit: sie wird zum Berggipfel, von dem der Dichter, mit dem Geschauten einswerdend, in sich weitenden Kreisen den Himmel, das Meer, den Apennin und

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Venetien erblickt. So wie die wirkliche Sonne wird die Sonne der Freiheit aufsteigen; dann wird die Insel, vielleicht das Symbol der Dichtung, zur Insel der Seligen, die der ganzen Menschheit wartet. Die Freiheitsbegeisterung verleitete Shelley zu politisch-satirischen Dichtungen, deren beste, The Mask of Anarchy (1819, gegen Castlereagh), der allgemeinen Empörung über das Massaker von Manchester (s. S. 564) Stimme gibt. Shelley klagt nicht nur, sondern stellt in einem visionsartigen Maskenzug der Anarchie die wahre politische Freiheit gegenüber, die zu erträglichen Bedingungen für die Arbeiter führen soll, und die Hoffnung, daß das friedliche Eintreten für die alten englischen Freiheiten und der Tod Unschuldiger die Nation zu der Bereitschaft erweckt, die Ketten abzuschütteln. Die Verse haben einen ungewohnt festen metrischen Gang, während der Wordsworth angreifende Peter Bell the Third (1819) und die gegen den König gerichtete aristophanische Komödie Oedipus Tyrannus, or Swellfoot the Tyrant (1820) sich im Ton vergreifen. Ganz anders steht es bei den lyrischen Dramen, die, nicht für die Bühne gedacht, das politisch Erhoffte im Reiche der Phantasie und Vision gestalten. Am überwältigendsten geschieht das in dem von Yeats als eines der heiligen Bücher der Welt bezeichneten und von Marx und Engels wegen seiner geschichtsdialektischen Aspekte bewunderten Prometheus Unbound (1818-19, veröffentlicht 1820), das in sinnbildlicher, aber auch die Stile mischender Darstellung das von Shelley erwartete zukünftige Reich des Friedens und der Freiheit erleben läßt. In erhabenen Landschaftsvisionen und idealen Beispielen moralischer Vollkommenheit wird ein neues, utopisches Weltzeitalter entworfen. Der romantische Prometheus unterwirft sich nicht wie bei Äschylus dem Zeus (Jupiter), sondern überwindet den Haß auf den Tyrannen und leitet dadurch dessen Vernichtung ein. So haben heldisches Dulden und ein Gesinnungswandel von Feindseligkeit zu Liebe die Gewaltherrschaft zunichte gemacht, und mit der Entfesselung des Prometheus ist das Leben der ganzen Erde freigeworden. Asia, die lange getrennte Braut, vereint sich mit ihm, und im Jubelgesang des 4. Akts strömt das unermeßliche Glück der befreiten Erde ins All über. Waren früher in den Menschen oder menschengleichen Phantasiebildern Thesen dargestellt, so sind sie in den übermenschlichen Figuren reine lyrische Stimmen geworden, selbstgenügsam und dem Bereich einer Verstandesforderung entrückt. Auch das zweite lyrische Drama Shelleys, Hellas (1822), das den griechischen Aufstand von 1821 gegen die Türkenherrschaft feiert, knüpfte an Äschylus an. Es spielt wie dessen Perser auf der Gegenseite, am Hof des Sultans in Konstantinopel, und die Verherrlichung der griechischen Unabhängigkeit und eines goldenen Weltzeitalters, das den Krieg durch Liebe überwunden hat, hören wir nur als Zukunftshoffen aus dem Chor der gefangenen Griechinnen. Hellas ist gegenüber dem Prometheus verhalten, und die auch als Einzelgedichte ausdrucksstarken Chöre auf den Wandel des Lebens und der Weltzeitalter sind verstandesmäßig klar erfaßbar. Noch weiter in der Selbstbeherrschung ging Shelley in den Cenci (1819, veröffentlicht 1820), die als Bühnendrama gedacht sind. Wenn sie das Theater nicht eroberten, so liegt das mehr

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an der über menschliches Maß hinausgehenden Tragik als an der Bindung an das Renaissancevorbild, das in den Monologen, dem Fehlen der Ortseinheit und dem grausigen Vorwurf - Ermordung des unerträglich frevelnden Grafen Cenci (der die eigene Tochter geschändet hat) durch ein Familienkomplott unter Anführung der dafür später hingerichteten Tochter - erkennbar wird. Der Zuschauer nimmt hin, daß entgegen der Vorrede die Dichtung das Geschichtsbild nur zur Veranschaulichung heldischen Widerstands gegen Tyrannei verwendet; er nimmt auch hin, daß der moralische Sieg auf keinerlei Rechtfertigung irgendwelcher Ordnung, sondern einzig auf Beatricens Standhaftigkeit gegründet ist, nicht aber, daß ihre Rache schuldhaft sein soll, weil die Besudelung nur ihren irdischen Körper, nicht ihre innere Freiheit berührt habe. Ergreifend ist aber die Empfindung des Ausgangs, daß der Geist über dem Schicksal stehe. Um diese Zeit kam, wiederum Shelleys stilistische Vielfalt verdeutlichend, ein neuer Ton in Shelleys Dichten, eine klassische Ruhe und Heiterkeit, die sich in den Briefen schon seit dem Jahre 1817 ankündigte. Jetzt erhielt das Alastor-Thema, das die Sensitive Plant (1820) erneut aufgriff, einen die Ewigkeit des Schönen im Vergänglichen betonenden Schluß. Der Letter to Mary Gisborne (1820) brachte zum erstenmal den Alltag in die Dichtung, ungemein reizvoll in der zarten und etwas abrückenden Art Shelleys, die von der Byrons so verschieden ist. Die Übersetzungen The Cyclops und Hymn to Mercury zeigen einen unerwarteten Sinn für griechischen Humor, der in den Ottaven der Märchendichtung The Witch of Atlas (1820) eine ganz neue Entwicklung ankündigte. Gesichte und Gedanken bei der Besteigung des Monte Pellegrino spinnt der Dichter in unwillkürlicher Verknüpfung aus zu einem Mythos von einer schönen, gütigen Fee, der Tochter Apolls, die wilde Tiere zähmt, in ihrem Zauberboot unter den Wolken ihr Spiel treibt und in den Herzen der Menschen liest. Die Guten segnet sie, den Schlechten schickt sie böse Träume. Gegenüber diesem Neuansetzen muten die großen lyrischen Schöpfungen des Jahres 1821 abschließend an. Das Emilia Viviani, der „Seele aus meiner Seele" (dem Schönheitsideal des Titels), gewidmete, stark rhapsodische Epipsychidion ist die letzte der Beichten, die irdische Liebe und Verklärung nebeneinanderstellen und Idee und Erscheinung mit den glühenden Farben der Leidenschaft in eins binden. Von dem teils predigthaften, teils ekstatischen Bekenntnis zur Notwendigkeit Freier Liebe, die durch Teilen nicht verlieren, sondern wie die Imagination nur gewinnen und so die Einengungen der Ehe überwinden könne, bewegen sich die Verse auf eine Apotheose der vollkommenen Liebeseinheit zu. Shelley erreicht eine Steigerung über die Ausdruckskraft der Bilder hinaus in den hervorgestoßenen einzelnen Worten, die in bebendem Entzücken des Todestaumels Vereinigung und völliges Sich-Verhauchen zugleich erleben lassen: "I pant, I sink, I tremble, I expire!" Diese höchste Steigerung des Gefühlsausdrucks, die bereits die der Wortkunst gesetzten Grenzen berührt, wird zur Summe des Shelleyschen Erlebens. Als gedankliche Zusammenfassung der platonisch bestimmten Liebesauffassung

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stehen ihr die heroisch klingenden Spenserstrophen des Adonais zur Seite. Dieses Gedicht, der Form nach eine Pastoralelegie mit Klage der Natur, Trauerzug und Gegenüberstellung von wiederkehrendem Frühling und bleibendem Schmerz, ist mehr als eine herkömmliche und in ihrer kunstvollen Vollendung zunächst kalt anmutende Totenklage um Keats, vielmehr wird es mit der Verklärung des Toten (ab Strophe 39) zum dichterischen Ausdruck der Shelleyschen Bemühungen, Philosophie und Kunst zu verbinden. Mit den Gedanken an den verklärten Adonais stellt sich der romantische Gedanke an den Tod als Befreier ein, der den Menschen dem All wieder vereint. Die dem Ewigkeitswert und der Spiritualität der Dichtung höchsten Ausdruck gebende Schlußstrophe ist die poetische Zusammenfassung der Prosaschrift Defence of Poetry (1821), die als Antwort auf Peacocks The Four Ages of Poetry und in absichtlichem Anklang an Sidney Shelleys Philosophie der Kunst darlegt. Dichtung ist Ausdruck der Einbildungskraft und als solche mit dem ursprünglichen, inneren Wesen des Menschen, seiner synthetischen Fähigkeit, verwachsen, lange vor der zunehmenden Macht des analytischen Denkens entstanden und in den großen Dichtern aller Zeiten bis zur Gegenwart gleich stark geblieben. Im Bild des Lebens drückt sie im platonischen Sinne die ewige Schönheit und Wahrheit der unzerstörbaren Seinsordnung aus. Ihr kommt also in der Menschheitskultur, zumal in Zeiten gesellschaftlichen Niedergangs, eine prophetische Bedeutung zu, und in einem großen Geschichtsüberblick erweist Shelley die sittliche Bedeutung der Poesie, die alle aufbauenden Kräfte der Gesellschaft stützt, ohne in einem engeren Sinn moralisch zu sein. Als schöpferische Macht belebt und bereichert sie vielmehr den Geist und ist der Ausgleich zu den rein rechnerischen und wissenschaftlichen Kräften, die des Menschen Herrschaftsbereich über die äußere Welt erweiterten, die innere aber verengten. Die in der Dichtung wirkende Imagination ist eine Form der Liebe, die, wie Keats es ähnlich formulierte, die einfühlende Einswerdung mit den Freuden und Schmerzen, besonders mit dem Schönen in anderen Menschen und in den Phänomenen vollzieht. Durch diese gleichsam sakramentale Wirkung der Kunst sieht der Mensch das Weltall neu und wird in seinem Sinn für das Göttliche bestärkt. Die Dichtkunst schafft ein Sein in unserem Sein und macht uns zu Bewohnern einer wahreren Welt. Wie andere große Dichter sah Shelley den Menschen eine bestimmte Aufgabe gestellt. Lessing nannte sie Erziehung des Menschengeschlechts, was Shelley gleichbedeutend ist mit Erlösung des Menschengeschlechts zu dem Zwecke, die Wirklichkeit dessen zu gewinnen, was im Evangelium Jesu Reich Gottes heißt. Die letzte Dichtung, The Triumph of Life (1822), ist nur ein Bruchstück, das bei aller Großartigkeit der Bilder und Vergleiche keine endgültige Ideenführung erkennen läßt. Jedoch wird die schon in Alastor ausgedrückte antithetische Haltung gegenüber den natürlichen Empfindungen verstärkt. Im taumelnden, gierigen Tanz der Menschheit um den Triumphwagen des Lebens, der alle, auch die Mächtigen der Welt und des Geistes, selbst den als Deuter und Wecker romantischer Gefühle sprechenden Rousseau, zu Gefan-

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genen und Sterbenden macht, vermögen nur einige wenige zu widerstehen: neben den Frühverstorbenen (wie Keats) Sokrates und Jesus, die in ihrer großen Lehre das Leben überwanden.

6. Keats Shelley starb vor der Verwirklichung all seiner dichterischen Möglichkeiten. In der Tasche des im Golf von Spezia Ertrunkenen fanden sich die Gedichte eines anderen Unvollendeten, der ein Jahr zuvor in Rom gestorben war: die von JOHN K.EATS20 (1795-1821), dessen stark sinnenhaftes, bis zu spirituellen Wirkungen gesteigertes Vorstellungs- und Einfühlungsvermögen in deutlichem Kontrast zu Shelleys spannungsreicher Wechselbeziehung von Intellektualität und Bildlichkeit steht und dessen natürliche Dichtergaben, auch im Sinne mythenbildender Kraft, wohl die jedes anderen englischsprachigen Dichters des 19. Jahrhunderts übertreffen. Hätte er länger gelebt, so wäre die Geschichte der ohnehin von ihm stark beeinflußten viktorianischen Lyrik (Tennyson, Präraffaeliten, M. Arnold) vielleicht anders verlaufen. In das kurze, ereignislose und von Entbehrungen und Krankheit überschattete Dasein drängte Keats eine Fülle von innerem Erleben und künstlerischer Leistung. Sein erstes Buch, die Poems von 1817, für das auch eine begeisterte Spenser-Lektüre und Leigh Hunts üppige Diktion Anregung waren, enthält nicht nur vollendete Stücke, wie das Chapman- und das Heimchensonett (The poetry of earth is never dead), es gibt schon in dem Eröffnungsgedicht / stood tiptoe upon a little hill sein künstlerisches Glaubens20

B i b l i o g r a p h i e : J. R. MacGillivray, K.: A Bibliography and Reference Guide (Toronto, 1949) [Standard für Primärlit.; Sek.lit. bis 1946]; P. M. Rice, J. K.: A Classified Bibliogr. 1947-61, in: Bulletin of Bibliography 1965; Forschungsbericht von H. Viebrock (Darmstadt, 1977). - C o m p l e t e W o r k s , e d . H. B. Forman, 5 Bde. (Glasgow, 1900-01), rev. M. B. Forman, 8 Bde., Hampstead Edn. (21970 [N.Y./Lo., 938/39]).-Poetical Works,ed.H. W. Garrod,OET(Oxf.,21958)[langeStandardtext, jetzt ersetzt durch:] Poems, ed. J. Stillinger (Cambr., Mass., 1978) [mit voller Textgeschichte]; ed. E. de Selincourt (21935 [ 905]) [wegen lit. Kommentare noch interessant]; ed. M. Allot (21972 [ 970]) [guter Kommentar]; EL; WC; PB. - Selected Poems and Letters, ed. R. Sharrock (Oxf., 1964, 1971). - L e t t e r s , ed. H. E. Rollins, 2 Bde. (Cambr., Mass., 1958);The Keats Circle: Letters and Papers, ed. H. E. Rollins, 2 Bde. (Cambr., Mass., 21965). - Auswahlen: WC, EL; R. Gittings (Oxf., 1970). B i o g r a p h i e : A. Ward, J. K.: The Making of a Poet (N.Y./Lo., 1963) [psychoanalyt.]; R. Gittings, J. K. (1968 u. ö.), PB (1971) [maßgeblich]. - K r i t i k : Einführungen: H. W. Garrod, K. (Oxf., 21939 u. ö.); D. Bush, J. K.: His Life and Writings (Boston/Lo., 1966); M. Dickstein, K. and His Poetry (Chicago/Lo., 1971) [Entwicklung]; C. L. Finney, The Evolution of K.'s Poetry, 2 Bde. (Cambr., Mass., 1936; N.Y., 2 1963) [detaillierte Analysen]; R. H. Fogle (s. S. 610); E. C. Pettet, On the Poetry of K. (Cambr., 21970 [ 957]); D. Perkins (s. S. 582); W. J. Bate, J. K. (Cambr., Mass., 1963; Lo., 1967) [grundlegend]; I. Jack, K. and the Mirror of Art (Oxf., 1967) [Verhältnis zur Kunst]; S. M. Sperry, K., the Poet (Princeton, 1973); R. M. Ryan, K.: The Religious Sense (Princeton, 1976); S. A. Ende, K. and the Sublime (New Haven, 1976). K.: A Collection of Critical Essays, ed. W. J. Bate (Englewood Cliffs, N.J., 1964 u. ö.).

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bekenntnis; in romantischem Vermischen der Künste und Sinnesempfindungen und in der für Keats charakteristischen Einfühlung in die Phänomene werden alle Reize schönheitsdurstig aufgenommen. Keats sah in der rhythmischen Bewegung eines Verses und dem Im-Winde-Schwanken einer Bergfichte Entsprechungen; er setzte die von einer gehörten Erzählung und einer geschauten Schlehdornlichtung erweckten Empfindungen einander gleich. So empfand er Dichten als schöpferisches Intätigkeitsetzen aller Sinne; und die im Bereich der sinnlichen Phantasie verwirklichte Schönheit war ihm eine Offenbarung, die der verstandesmäßigen Deutung nicht bedarf. Darum warf er den Verfassern der Lyrical Ballads vor, daß sie ihrer eigenen Lehre, wonach die Dichtung ihren Ursprung in den Sinnen habe, zuwiderhandelten und noch eine zusätzliche Verstandesdeutung erstrebten. Daher sein Ausruf: "O for a life of sensations rather than of thoughts!" - Auch im Bau der Gedichte zeigte schon der Erstlingsband eine Sonderart von Keats in der Neigung zum Sonett und zur kreisförmigen Vorstellungsfolge ( To Hope), die in Bewegung und Wandel das Bleibende und die Wiederkehr betonte und später der Ballade La Belle Dame sans Merci (1820) wirkungsvolle Geschlossenheit verlieh. Keats' poetische Kraft wuchs an der nie ermüdenden Lektüre Shakespeares und an Milton, dessen epische Größe er bewunderte, aber auch an Wordsworths verinnerlichter Dichtung, die er bewußt suchte ("Milton... did not think into the human heart, as Wordsworth has done", Brief vom 3. 5. 1818 über das 'Chamber of Maiden-Thought'), obwohl er ihre Grenze in der zu starken Subjektivität ("egotistical sublime", Brief vom 27. 10. 1818) sah. Sein Wunsch war, die Weite und Kraft der älteren Dichtung mit der Sensibilität der neuen zu verbinden. Vor allem in Shakespeare sah er - hierin zunächst von Hazlitts Lectures on the English Poets beeinflußt - die Vollendung der dichterischen Fähigkeit zu objektivierender, das Ich negierender Einfühlung und zu imaginativ offener, auch Ungewißheiten ertragender Wahrheitsfindung ("negative capability", 21.-27.12.1817; "the poetical character... has no self - it is everything and nothing - It has no character", 27. 10.1818). Eine erste Erfüllung des in den frühen Gedichten enthaltenen Versprechens ist das romanzenhafte Epos Endymion (1818), das in der Liebe des griechischen Hirtenfürsten und der Mondgöttin die Suche der Dichterseele nach der Schönheit erzählt. Die lyrische Bilderreihe wird in üppiger Ausmalung beschrieben und ist vorwiegend sinnlich, nicht sinnbildlich gemeint, obwohl Pan als "symbol of immensity" angerufen wird. Die Sprache läuft mit der Natürlichkeit ungebundener Rede über die Reime hinweg, und unerwartete Pausen lösen die einst epigrammatische Art des 'heroic couplet' völlig auf, wodurch die in ihrer Besonderheit erfühlten Einzelheiten mehr Gewicht erhalten, was von der noch stärker gegenstandsorientierten Lyrik der Viktorianer nachgeahmt wurde. Die abfällige Kritik Lockharts in der Quarterly Review hob Fehler in Sprache und Ton hervor und tadelte mit Recht, wenn auch unnötig verletzend, des Dichters unglückliches Streben, aus einer Reihe lyrischer Bilder ein großes Epos zu machen; sie verkannte

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aber Eigenart und Bedeutung der Dichtung. Während Shelley vermittels der Bilder dachte und das Wirkliche durch Phantasiezüge vergeistigte, beschrieb Keats das imaginativ Vorgestellte als etwas tatsächlich Erfahrenes und zugleich in seinem Wesen Erfaßtes, wodurch auch das Entlegene zum gegenständlich-wirklichen Bild verdichtet wurde. Solcher Veranlagung mußte die bildende Kunst nachhaltige Anregung sein; so sind die lyrischen Höhepunkte des Endymion, der Pan-Hymnus (I, 232-306) und das Lied des indischen Mädchens (Bacchuszug, IV, 145-290), wie auch andere Dichtungen (LeanderSonett und die Oden On a Grecian Urn und Indolence) ein schöpferisches Umschaffen des von einer Kunst empfangenen Eindrucks in eine andere, eine Durchführung des romantischen Vermischens der Künste. Letztes Glück liegt im göttlichen Einssein des Geistes mit der „Essenz" der Dinge ("Wherein lies happiness?", I, 777-802). Keats' Ehrgeiz ging weit über Endymion hinaus. Seine leidenschaftliche Entschlossenheit, sich der großen poetischen Aufgabe zu weihen und sich dafür durch die ältere Dichtung vorzubereiten (On First Looking into Chapman's Homer, 1816; On Seeing a Lock of Milton's Hair; On Sitting Down to Read 'King Lear' Once Again;To Homer, alle 1818), aber auch die Furcht, zu früh zu sterben (When I have fears, 1818) und die zunehmende Erfahrung von Leid (Tod des Bruders durch Tuberkulose, Anzeichen derselben Erkrankung bei sich selbst) bewirkten in erstaunlich kurzer Zeit eine einmalige, durch mehrere Stilwechsel führende Intensitätssteigerung. Die erste der kurzen Verserzählungen Isabella, or the Pot of Basil (1818) überwand das Zuviel an üppiger Beschreibung und die gelegentliche Künstlichkeit oder Gewöhnlichkeit des Ausdrucks, die im Endymion störten. Die Erzählung ist klar, wenn auch der Quelle (Boccaccios Decamerone IV, 5) nachstehend; die Versmusik der Ottaven übertrifft die als Vorbild dienende Tassoübersetzung von Fairfax. Das Bezeichnendste aber ist, daß diese romantische Schreckensgeschichte von Mord, Verwesung und Leichenküssen von Keats mit Schönheit und menschlicher Empfindung gefüllt wurde. Er besaß jetzt die goldene Feder, um die er einst gebeten (Give me a golden pen ...), und Lamb und das späte neunzehnte Jahrhundert liebten dies Stück am meisten. Trotz dieses Urteils ist das in Spenserstrophen abgefaßte Eve of St. Agnes (1819) als Erzählung besser. Das lyrische Volksglaubenmotiv vom Erblicken des Liebsten in der Agnesnacht ist, an Shakespeares Romeo and Juliet und Mrs. Radcliffes Italian anknüpfend, durch Verbindung mit dem Familienstreit der feindlichen Häuser zur episch tragfähigen Handlung gemacht, die ständig ansteigt bis zum Höhepunkt (Eindringen des Freiers in die feindliche Festhalle) und nach dem Glühen von Farbe und Musik fröstelnd und winterlich ausklingt, wie sie begann. Der Stimmungseindruck ist einheitlich und unvergleichlich, auch das Unbelebte scheint zu atmen in einer neuartigen, schon im Hyperion erkennbaren konzentrierten und vielfarbig-konkreten Dichtersprache (Detailfülle, reich modulierte, den Phänomenen nachempfundene Musikalität, intensive Verschmelzung von Licht und Dunkel, von Vorgänglichkeit und Zuständlichkeit, letzteres auch an Partizipialbildungen

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wie garlanded, diamonded, deep-damask'd erkennbar). Das in schlichten Kurzreimpaaren geschriebene und auf stillere Wirkungen angelegte Eve of St. Mark (1819) erweckt im Prolog den vom Dichter gewollten Eindruck, am Abend durch die Straßen einer kleinen Stadt zu gehen; aber die Dichtung blieb ein kurzes, stimmungsvolles Bruchstück. Keats genügte jetzt die Romanzenerzählung der reinen Phantasie- und Schönheitswelt nicht mehr, und er suchte sie wie schuldbewußt um die Erfahrung des Leides zu ergänzen. So sollte Lamia (1819), die Versgeschichte vom Liebesglück der den Lycius betörenden Schlangenjungfrau und ihrer Entlarvung durch die kalte Weisheit des Apollonius, den feindlichen und schmerzlichen Zusammenstoß von Dichtung und Philosophie, Sterblichkeit und Unsterblichkeit sowie von aktivem und zurückgezogenem Leben darstellen. Der Versuch schlug fehl, aber der Stoff mit dem Gegensatz von düstergeheimnisvollem Märchen und heiter belebtem Schauplatz Korinth bot der Keatsschen Kunst reiche Möglichkeiten (vgl. das Murmeln auf den Straßen bei Nacht), und die Geschichte ist zügig erzählt, diesmal in flüssigen heroischen Reimpaaren drydenscher Art. Geheimnisvoller und zarter wird die romantische Suche nach Teilhabe am Unsterblichen in der kurzen Ballade La Belle Dame sans Merci (1820), wiederum einer für Keats neuen Form, dargestellt. Keats wollte Epos und Drama meistern; wie wenig aber der Dichter zum Dramatiker taugte, zeigt die Entstehungsgeschichte des Dramas Otho the Great (1819), von dem Keats nur die Reden der Personen schrieb, während Handlung, Aufbau, Szenenentwürfe seinem Freunde Brown zufielen. So ergab sich ein Feuerwerk von Worten, das wie die ins Mittelalter zurückverlegte wilde Handlung von Verunehrung, Verleumdung, Tod und Wahnsinn an untergeordnete elisabethanische Dramatiker erinnert. Das Renaissancevorbild zeigt auch das verheißendere, aber kurze Bruchstück King Stephen (1819). Bruchstück blieb auch das ehrgeizigste epische Unternehmen von Keats, Hyperion (1818-19), in dem erzählt werden sollte, wie der olympische Lichtgott Apoll den letzten Titanen, den Sonnengott Hyperion, stürzt. Aber nur die intensive Ausgangssituation, in der Hyperion sich als einziger des besiegten Göttergeschlechts behauptet, wurde ausgeführt, wobei Keats versucht, Miltons epische Größe mit wordsworthschem Gefühlsausdruck zu verbinden, möglicherweise um als allgemeines Thema das Wachsen des Bewußtseins darzustellen. Miltons Vorbild jedoch wurde in Bild und Vers übermächtig, und der Dichter brach ab. Wie in Paradise Lost oder auf einem Götterfries ziehen die riesigen Gestalten vorüber und halten ihre großen Reden: Saturn, szepterlos und niedergeschlagen im dunklen Tal, der zürnende Hyperion im Flammenpalast in seiner Milton gleichen Beredsamkeit, Okeanos mit seiner für Keats charakteristischen Mahnung zur gelassenen Annahme des naturgegebenen Rhythmus von Leben und Tod ("We fall by course of Nature's law, not force") und schließlich Apoll, hier weniger Gott des Lichtes als des Gesanges und der Künste, dessen durch umfassende Erinnerungskraft bewirkte schmerz-

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voll-beglückende Verwandlung vom unwissenden, schwermütigen Jüngling zum unsterblichen, von episch großem Wissen durchströmten Gott zugleich ein Sinnbild der von Keats erstrebten höchsten dichterischen Vollendung ist. Die Gottheiten selbst bleiben leblose, schmückende Figuren, aber die Poesie der Sinnenschönheit verklärt und überstrahlt alles. Gerade das zerstörte die Umarbeitung The Fall of Hyperion: A Dream (1819), die im Bestreben, das Dichten nun ganz zum Thema zu machen und philosophisch zu deuten, ein Traumgesicht erzählt, das von einer überirdischen Begleiterin (Moneta) von Art des Danteschen Vergil erklärt wird. Diese fordert vom Dichter, der die Stufen des geheimnisvollen Altars erklimmen will, statt fiebriger Selbstdarstellung (Wordsworth) und Traumwelten (eigene Romanzen) die in die Lebenswirklichkeit anderer Menschen sich voll einfühlende Dichtung der Seher ("They seek no wonder but the human face") und läßt ihn dann, dem der Aufstieg plötzlich leicht wird, die skulpturenhaften Gestalten seines großen Gegenstandes sehen, mit eindrucksvoller Konzentration auf das Wesenhafte. Keats war künstlerisch am sichersten, wenn er in der Schönheit Wahrheit fand und sich weder um Denken noch um die tätige Wirklichkeit kümmerte. Das Ringen des Künstlers und Menschen machen seine äußerst lebendigen, schon oben berührten Briefe offenbar. Sie gewähren auch Einblick in die Erlebnisgrundlage seiner Kunst, in die qualvoll-leidenschaftliche Beziehung zu Fanny Brawne, der er sein schöpferischstes Jahr (1819) verdankt. Das Verlangen, das gegenständlich Vorgestellte in seinem Wesen zu erfassen und mit dem erlebenden Selbst zu verbinden, also einen poetischen Weg zwischen der „objektivierenden" Darstellung Shakespeares und Miltons und der „subjektivierenden" Methode Wordsworths zu finden und so vorher Unaussprechbares zum Ausdruck zu bringen, erfüllte sich in den Sonetten und Oden. Das Sonett in seiner italienischen, von Keats wie von Wordsworth vorgezogenen Form bot im Neuansetzen des Sestetts die Möglichkeit zu solcher Steigerung, was Keats gern in einem abschließenden Phantasiebild ausdrückte, am glänzendsten in On first looking into Chapman's Homer (1816), wo die Entdeckung Homers in der Vision des den Pazifik erblickenden Cortez beschworen wird. Dann aber ging er mit dem Lear-Sonett (1818) zur shakespeareschen Form über, die in der lang hingezogenen Spannung eine ähnliche Sinnerhöhung gestattete ( When I have fears ..., 1818). Ganz befriedigte ihn auch diese Form nicht, und so behielt er entweder dem äußeren Reimschema zum Trotz die innere italienische Gliederung bei (Bright star! would I were steadfast..., 1820) oder machte allerhand Änderungsversuche (Sonnet to Sleep, 1819; Fame like a wayward girl..., 1819). Aus diesen Versuchen entstand seine Form der Ode. Sie wird eingeleitet von dem die Kraft älterer Dichtung erflehenden / / -Bruchstück (1818), das er Ode nannte, das aber eine Art Sonett mit vorangestelltem Sestett und teilweise verkürzten Zeilen darstellt. Voll in Erscheinung trat die Keatssche Odenform in der Ode to Psyche (1819). Sie ermöglichte eine reicher modulierte Entfaltung des Themas, hier die poetische Erschließung neuer Bewußtseinsbereiche im Ich ("some untrodden region of my mind") in Verbindung mit

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gegenständlicher Einfühlung ("I see, and sing, by my own eyes inspired"). Jede der beiden Strophen (im Druck von 1820 in vier zerlegt) beginnt mit einer shakespeareschen Oktave und läßt eine freie Ausgestaltung des PetrarcaSestetts folgen; sie bewahrte sich damit die Vorzüge der Sonettbegrenzung und der in den einzelnen Strophen nachgebildeten Folge, vermied aber die Enge, die das strenge Sonett für englische Art bedeutet. Das Grundmaß dieser frühesten Ode bleibt auch in den kürzeren und regelmäßigeren Strophen der späteren erkennbar. Zwar hatte die Dramenform die Kräfte des jungen Keats überfordert, aber seine Oden gewinnen ihre volle Intensität aus einem in ihnen wirksamen dramatischen Prinzip: dem Einfühlungsprozeß und der Erlebnisbewegung, die sich zwischen den Gemütszuständen des Ich und dem Eigenwesen der betrachteten Gegenstände abspielen. Dazu kommt die von jeher der Odenform eigene Tendenz, gegensätzliche Aspekte eines Themas zu beleuchten. So spiegeln die Oden des Jahres 1819 auf vielfältige Weise das schwermütige Bewußtsein des selten glücklichen Dichters und sein Zufluchtsuchen in der Kunst. Die biographischste ist die in halbem Wachen geschriebene Ode to a Nightingale, die zugleich die in der neuplatonischen Tradition geläufige Grundbewegung - ekstatischen Aufschwung zur Wahrheitsschau im Schönen, dann Wiederniederfallen - erkennen läßt, sie aber kontrastreich moduliert. Das Sommerlied der Nachtigall, das Symbol vollkommener Kunstschönheit, erweckt ein aus dumpfer Benommenheit aufsteigendes Übermaß des Glücks, das in Todessehnen übergeht aus Verlangen nach Vollendung und aus Angst vor dem Rückfall in die Qual der Erde und des eigenen Fiebers. Vogel und Lied sind als verzaubernde Kunst unsterblich, aber als der Vogel davonfliegt und der Gesang verhallt, sinkt der Dichter in die Einsamkeit zurück. Die Ode on Melancholy wiederholt deutlich, daß nicht Schrekkensbilder, sondern die Bilder reicher Schönheit die Trauer beherbergen, daß sie mit jeder Freude verknüpft ist und in ihr wohnt. Die hier fehlende Versöhnung durch die Kunst bildet das Hauptthema der ihr entgegengesetzten Ode on a Grecian Urn. Die grundsätzliche Erkenntnis, daß das Leben seine Wirklichkeit mit dem Preis des Reifwerdens und Vergehens bezahlen muß, führt beim Nachsinnen über die auf einem griechischen Vasenfriese erstarrte Lebensbewegung zu der höheren Erkenntnis, daß die Kunst das Werden überwindet und durch Schönheit zum Sein erhebt ("beauty is truth"), wenn diese Verewigung auch des warmen Lebens entbehrt. Auch in der schwächeren Ode on Indolence klingt das wehe Streben der Seele nach einer dauernden Schönheit. Auch sie ist wie alle Oden der stets gegenwärtigen, sinnlichen Schönheitsbetrachtung entsprungen. Abgeklärter, herber und gelassener, ohne jeden biographischen Bezug steht gesondert To Autumn. Die für den künstlerischen Eindruck entscheidende Dichte der Bestimmungswörter, deren jedes, lange in Gedanken geliebkost, eine außerordentliche Sinnesfülle in sich aufgesogen hat, erreicht hier ihren Höhepunkt. Der Herbst wird ohne symbolisierende Deutung als gestaltgewordenes irdisches Leben erkannt. Diese griechisch zu nennende Dinglichkeit eröffnet Blicke in eine neue Kunstwelt, mit deren Schau Keats starb.

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7. Kleinere englische Dichter und Dramatiker Den großen Dichtern der Romantik ist eine Reihe kleinerer Talente anzugliedern, die, an sich beachtenswert, doch keine bestimmende Rolle in der Geschichte der Dichtung spielen. Der zu seiner Zeit angesehenste war Byrons Freund THOMAS MooRE21 (1779-1852), dessen geistige Beweglichkeit sich in seinem vielseitigen Schaffen kundtat. Er schrieb einen historischen Roman (The Epicurean, 1827), geschichtliche Werke und Biographien (History of Ireland, 1846; Lebensbeschreibungen von Sheridan, 1825, Fitzgerald, 1831, und Byron, 1830), eine Reihe Satiren von bescheidener Qualität (u.a. The Twopenny Post Bag, 1813, und The Fudge Familiy in Paris, 1818), zwei epische Gedichte (Lalla Rookh, 1817, und Loves of the Angels, 1823) sowie die europäische Geltung erlangenden 7mA Melodies (1807-34, in Fortsetzungen). Sein dichterisches Können erweisen die vier unter dem Namen der indischen Prinzessin Lalla Rookh („Tulpenwange") zusammengefaßten orientalischen Idyllen, die metrisch den Übergang von Scott zu Byron vermitteln. Außer von diesen erhielt Moore noch von Beckford und Southey Anregungen und benutzte unzählige Bücher als Quellen, woraus er, der selbst nie im Orient gewesen war, farbenreiche Gemälde schuf mit geschickt vorgetäuschter fremdländischer Sinnenpracht, aber ohne jeden Funken echter Leidenschaft. Die rhythmische Geschicklichkeit und der ausgesprochene Sinn für Musik, die diesem epischen Gedicht etwas Einschmeichelndes verleihen, äußerten sich günstiger in der Lyrik der Irischen Melodien, in denen die zu Moores Natur gehörende spielerische Künstlichkeit weniger hervortrat. Wie Burns, an den er gelegentlich erinnert, benutzte er heimatliche Melodien, zu denen er einen neuen Text dichtete, komponierte einiges aber auch selbst. Viele dieser Lieder (z. B. At the midhour of night...; Oft in the stilly night...; I saw from the beach . . . ) haben einen so musikalischen Fluß, eine derartige metrische Sicherheit und dabei doch schwebende Stimmung und einfache Sprache, daß sie für irische Volkslieder gehalten und selbst von Shelley wegen ihrer Formbeherrschung bewundert wurden. Wirkliche Eigenart zeigte Moore so wenig wie Leigh Hunt (s. S. 694ff.) oder Felicia Hemans22 (1793-1835) und die vielen anderen Talente, die das an Lyrik so reiche Zeitalter hervorrief (vgl. auch Charles Wolfes23 The Burial of Sir John More, 1816). Neue Ansätze finden sich eher bei einer Gruppe von 21

Poetical Works collected by himself, 10 Bde. (1840/41; repr. Boston, 1930); ed. A. D. Godley (1910); Auswahl: Lyrics and Satires, ed. S. O'Faolain (Dublin, 1929). - The Epicurean, ed. J. Hannaford (1900); Sheridan (31827); Fitzgerald, ed. M. MacDermott (1897). - Memoirs, Journals, and Correspondence, ed. J. Russell, 8 Bde. (1853-56); Auswahl von J. B. Priestley (Cambr., 1925); Letters, ed. W. S. Dowden, 2 Bde. (Oxf., 1964); Journal 1818-41, ed. P.C. Quennel (N.Y., 1964). - Biographie: H. M. Jones, The Harp That Once (N. ., 1937) [auch Kritik]; H. H. Jordan, Bolt Upright: The Life of T. M., 2 Bde. (Salzburg, 1975). 22 The Works, ed. W. M. Rossetti (1873; repr. Oxf., 1914). 23 Poems (l903, 1909).

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Männern, die in bitterem Kampf gegen die Armut die Anfänge der sozialen Lyrik schufen. Zwei standen mehr oder weniger im Banne der Crabbeschen Dichtüberlieferung: Henry Kirke White24 und Robert Bloomfield,25 zwei andere weisen eher in die Zukunft: Cläre und Elliott. Der weitaus bedeutendere ist der erst heute voll gewürdigte Natur- und Bauerndichter JOHN CLÄRE26 (1793-1864), nach Burns wohl der bemerkenswerteste unter den um die Jahrhundertwende gefeierten „Originalgenies", der als Landarbeiter und Sohn eines Dreschers und dörflichen Balladensängers in Armut, aber auch im Kontakt mit dem Volkslied lebte und schließlich einem jahrelangen Wahnsinn verfiel, der jedoch seine enorme Produktivität nicht beeinträchtigte. An sich war er eine zage, auch in seinem späteren Schicksal an Cowper erinnernde Natur, die gar nichts mit der ländlichen Realistik gemein hatte; aber seine Dichtungen (Poems descriptive of Rural Life and Scenery, 1820; The Village Minstrel, 1821, und viele andere, meist erst im 20. Jahrhundert publizierte) sind mit der Scholle verknüpft, die er bearbeiten mußte, und lassen sich dem Stil nach einem eigenwilligen lyrischen Realismus zuordnen. Er hatte die Gabe der frischen und pointierenden, dabei liebevoll verlebendigenden Beschreibung, die zusammen mit dem Ton leiser Wehmut und einer rührenden Unbeholfenheit den Gedichten den Reiz unverfälschter Menschlichkeit verleiht (The Vixen, The Badger, beide 1835-37; The Nightingale's Nest). Später ging Cläre mit an Blake erinnernden visionären Gedichten (A Vision, 1844, das im Geistigen die Befreiung von den Enttäuschungen sucht) über den engen Rahmen seiner Naturbilder hinaus. Insgesamt erreichte er in seiner Einfachheit nicht die Ausdruckskraft und Tiefe der großen Romantiker, kommt ihnen aber in seinen besten Gedichten nahe. Zu diesen zählen auch die teils erschütternden, teils von vertrauender Naturliebe gemilderten Klagen und Rückblicke aus dem „Irrenhaus-Gefängnis" ( Written in Prison, nach 1842; Child Harold; I am; Remembrances) und die ironische Anschuldigung des Winters, der die Landarbeiter für die hochmütigen Grundherren zwar frieren lassen, aber demjenigen nichts mehr nehmen kann, der nichts als Not gesammelt hat (Impromptu on Winter, 1809-10). Ganz anders sind die vorübergehend berühmt gewordenen Corn Law 27 Rhymes (1828) von EBENEZER (1781-1849), die zwar nicht sein Bestes darstellen, aber die soziale Dichtung der nächsten Zeit entflammten. Zu nennen sind Verse wie The Fox Hunters (über die auf ihren Ländereien nur 24

Poems, Letters and Prose Fragments, ed. J. Drinkwater, Muses' Library (1907). Poetical Works, ed. W. B. Rands (1855); Poems (repr. Farnborough, 1971). 26 The Poems, ed. J. W. Tibbie, 2 Bde. (1935); Later Poems, edd. E. Robinson and G. Summerfield (Manchester, 1964); Bird's Nest, ed. A. Tibbie (Manchester, 1973); The Midsummer Cushion, ed. A. Tibbie (Manchester, 1979); Auswahlen: Poems, ed. D. Powell (1965); EL. - Prose, edd. J. W. and A. Tibbie (1951); Letters, edd. dies. (1951). - Biographie und Kritik: J. W. and A. Tibbie, J. C: The Life and Poetry (1956) [Standard]; J. Barrell, The Idea of Landscape and the Sense of Place (Cambr., 1972); M. Storey, The Poetry of J. C.: A Critical Introduction (N.Y., 1974) [grundlegend]. "Poetical Works, ed. E. Elliott, 2 Bde. (1876; repr. Hildesheim, 1975). - Biographie von J. Watkins (1850). - L. James, Fiction for the Working Man (Oxf., 1963). 25

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noch Fuchsjagden veranstaltenden und außer Haß nichts mehr säenden Grundherren) oder Epigram, das die Drohung eines Ausbeuters, er sei der König der Schrecken, in die gleichlautende, aber dunklere Drohung des in Not lebenden Armen wendet. Auf sie folgten die Fabriklieder der Carolina Elizabeth Sarah Norton,28 die von Empfindsamkeit zu echtem Pathos sich erhebenden Gedichte von THOMAS Hooo29 (1799-1845) wie The Song of the Shirt (auf die zu pausenloser Arbeit gezwungene hungernde und zerlumpte Näherin) und The Bridge of Sighs (auf den Tod eines verlassenen, vor Verzweiflung in den Fluß gesprungenen Mädchens), Mrs. Brownings eindringliche Rufe zur Umkehr und die bittere Dichtung der neuesten Zeit. Was sonst an Dichtung da ist - Länder ausgenommen - zeigt eher Rückkehr zu alten Mustern; die romantische Lyrik hatte sich erschöpft. Auch Hoods Dichtungen Ruth; The Two Swans; Lycus the Centaur und das der Keatsschen Herbstode nachgebildete Autumn liegen auf der von Keats zu Tennyson hinführenden Linie, andere (A Parental Ode to my Son Aged Three Years and Five Months; Ode to Madame Hengler; Tim Turpin; Sally Simpkin 's Lament) auf der eines volkstümlich-anspruchslosen, mitunter jedoch grimmigen Humors. Winthrop Praed30 (1802-39), dessen Grotesken (The Bridal of Belmont; The Red Fisherman) die Ingoldsby Legends^ (1840 von Richard Harris Barham) vordeuten, vertrat die unromantische Gentlemanhaltung eines Addison, und seine Gesellschaftsdichtung (The Country Ball; The Bachelor) ruft klassizistische Beispiele in Erinnerung. Eine ganze Gruppe von Dichtern versuchte ein Wiederanknüpfen bei den Elisabethanern. George Datley32 (1795-1846) schien vor Tennysons Auftreten ein versprechendes Talent (Errors of Ecstasie, 1822; das erstaunliche, Shelleys Alastor und Keats Endymion nacheifernde Nepenthe, 1835), verstummte aber, an seiner Vereinsamung als Stotterer leidend, bald (vgl. Therefore, unlaurelled Boy). Dem bereits zum Drama überleitenden, originellen THOMAS LOVELL BEDDOES33 (1803-49, durch Selbstmord endend), der als Mittler zwischen Shelley und Browning steht, gelang eindrucksvoller als Poe die Wie28

A Voice from the Factories (1836); Poems (Boston, 1833). Works, edd. by his son and daughter [F. F. Broderip], 11 Bde. (1882-84; repr. Hildesheim, 1970); Selected Poems, ed. J. Clubbe (Cambr., Mass., 1970); WC. Letters, ed. P. F. Morgan (Toronto, 1973). - Biographie und Kritik: J. C. Reid, T. H. (1963); J. Clubbe, Victorian Forerunner: The Later Career of T. H. (Durham, N.C., 1968). 30 Poems, 2 Bde. (N. ., 1885); Selected Poems, ed. K. Allott, Muses' Library (1953). Biographie von M. Kraupa (Wien, 1910); D. Hudson, A Poet in Parliament (1939). 31 Ed. J. B. Atlay, 2 Bde. (1903), WC; M. Elwin, Victorian Wallflowers (N.Y., 1978). 32 Poetical Works, ed. R. Colles, Muses' Library (1908); Selection, ed. R. A. Streatfeild (1904). - C. C. Abbott, Life and Letters of G. D. (Oxf., 1928). 33 Works, ed. H. W. Donner (Oxf., 1935); Plays and Poems, ed. ders., Muses' Library (1950); Selected Poems, ed. J. Higgins (Manchester, 1976); Letters, ed. E. Gosse (1894).- B i o g r a p h i e u. K r i t i k : R. H. Snow, T. L. . ( . ., 1928); H. W. Donner, T. L. B.: The Making of a Poet (Oxf., 1935); C. A. Hoyt, Themes and Imagery in the Poetry of B. (Uppsala, 1963). 29

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derbelebung alptraumartiger gotischer Schauermotive in der Lyrik. Beddoes, der mit einem Gedichtband begann (Improvisatore, 1821), war von dramatischem Ehrgeiz erfüllt, aber seine Bride's Tragedy (1822) ist nur eine schwache Nachahmung der Art Websters und Tourneurs, und Death 's Jest Book, or the Fool's Tragedy (1850), an dem er seit 1825 während seines mehrjährigen Anatomiestudiums in Deutschland arbeitete und änderte, ist nicht als Drama bedeutend, sondern als Sammlung lyrischer Stücke, die Stilzüge der elisabethanischen Zeit und des 17. Jahrhunderts (mythologische Figuren, Personifikationen), aber auch hochromantische Themen aufgreifen. Wie der Titel andeutet, herrschen Totentanzphantasien und das Schrecklich-Groteske vor (Old Adam the Carrion Crow; Lord Alcohol). Daneben gibt es grobianischzotenhafte Parodien wie The New Cecilia, das in grimmiger Weise auf die Anatomie und die physiologischen Vorgänge bei einer alten Säuferin eingeht, aber auch hymnische Verse (Write it in gold) auf den Tod Shelleys, der als "Intellect ablaze with heavenly Thoughts" gefeiert wird, und ergreifende Gedichte der Todessehnsucht (The Swallow leaves her nest; If thou wilt ease thine heart), die gleich den bekannten Far away und Dream Pedlary einen eigenen Ton haben und zum bleibenden Schatz von Gedichtsammlungen gehören. Die kirchliche Dichtung der romantischen Zeit fand keine eigene Note. Die Hymnen von Reginald Heber34 (1783-1826) und James Montgomery35 (1771-1854) sind trotz Aufnahme romantischer Züge in die Überlieferung des Wesleykreises einzuordnen, sowohl aus formalen Gründen (sie sind technisch einwandfrei, aber eher volltönend als poetisch) wie aus inhaltlichen: sie geben mehr einem Gemeinschaftsempfinden Ausdruck als inbrünstigem, persönlichem Gefühl. Das ist anders im Christian Year (1827) von JOHN K.EBLE36 (1792-1866), obwohl diese Hymnen der Kirchendichtung im engeren Sinne zuzuweisen sind. Aber sie gehören zur nächsten Zeit; das in ihnen zum Ausdruck kommende persönliche Empfinden entsprang einer seelischen Gleichgewichtslage, die der Romantik fremd war. Im Drama37 trat die Romantik keine gute Erbschaft an, denn die Vergrößerungen der beiden dem Schauspiel vorbehaltenen Theater Covent Garden (1787) und Drury Lane (1794 und 1812) hatten die von Garrick vom Festland (1765) mitgebrachten Neuerungen - Rampenlicht, Pariser Inszenierung, Musik - zum Brauch der langlaufenden Schau- und Ausstattungsstücke gestei34

Poetical Works (1841 u. ö.). Poetical Works, 3 Bde. (1819 u. ö.); ed. R. Carruthers, 5 Bde. (Boston, 1860); Auswahl: ed. R. A. Wilmot (1860). 36 The Christian Year and Other Poems (1914). Vgl. S. 725, Anm. 4. 37 A. Nicoll, Early Nineteenth Cent. Drama 1800-1850 (Cambr., 21955) (= Hist, of English Drama 1600-1900, Bd. IV); R. M. Fletcher, English Romantic Drama, 1795-1843 (N. ., 1966); J. Donohue, Dramatic Character in the English Romantic Age (Princeton, N.J., 1970); P. R. Purkayastha, The Romantics' Third Voice: A Study of the Dramatic Works of the English Rom. Poets (Salzburg, 1978). 35

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gert. Die dafür geeigneten Dramen waren selten künstlerisch bedeutend, aber darauf kam es nicht mehr an; man ging ins Theater, um die großen Schauspieler zu sehen, und die Mrs. Clive und Siddons, die Garrick, Barry, Foote, Kemble, Kean, Elliston, Munden und Yates vermochten auch eine schattenhafte Rolle mit Leben zu erfüllen. Von einem Theater, das doch nur Schaustücke annahm, wurden die ernsten Dramatiker abgedrängt, und sie verloren folglich das Gefühl für die Erfordernisse der Bühne, mit dem Ergebnis, daß schon 1790 eine vorher unbekannte Scheidung in Bühnen- und Lesedramen vollzogen war. Verhältnismäßig wenig davon berührt wurde die Komödie, sowohl in ihrem possenhaften wie dem empfindsam-melodramatischen Zweig, dafür machte sich eine Verstärkung der Lehrhaftigkeit bemerkbar. So predigte Thomas Holcroft (s. S. 556 u. 647) in seinen Rührstücken Menschheitsglauben und Wahrheit (The Road to Ruin, 1792; The Deserted Daughter'*', 1795), und Mrs. Inchbald39 (s. S. 639) benutzte die Gattung, um die Ehe (Everyone has his Fault, 1793) oder Besserungen der Gefängnisse (Such Things are, 1788) zu erörtern und glaubte ihrem Roman A Simple Story durch Dramatisierung (Wives as they are, 1797) eine größere Wirkung zu geben. Ungünstiger stand es mit der Tragödie, die nach einem klassizistischen Erneuerungsversuch durch John Delap (Hecuba,40 1761, u. a.) mit dem Ossianstück The Fatal Discovery (1769) von John Home41 und dem Percy (Mil) von Hannah More42 (s. S. 640) in vorromantische Bahnen geriet. Denn nun kamen Bearbeitungen melodramatischer deutscher Stücke, insbesondere des zeitweilig das englische Theater beherrschenden Kotzebue, was der Übertragung des Schreckensromans auf die Bühne die Wege bereitete (Lewis: Castle Spectre43 1797; William Dimond: The Foundling of the Forest,,44 1809; Maturin: Bertram45 1816, und Fredolfo,^ 1819; Scott: The House of Aspen, gedruckt 1830). Die höhere Ansprüche stellenden Stücke der romantischen Dichter Southey, Coleridge und Wordsworth näherten sich dem bühnenfremden „poetischen" Drama, das vornehmlich JOANNA BAiLLiE47 (1762-1851) vertrat. Ihre 38

Beide in: The British Theatre, ed. E. Inchbald, 25 Bde. (1808; repr. Hildesheim, 1970), Bd. 24; auch in: The Plays of T. H., 2 Bde., Garland Series (repr. N.Y., 1980); Road to Ruin, ed. R. I. Aldrich (Lincoln, 1968). 39 Alle genannten Stücke in: The British Theatre, ed. E. Inchbald, Bd. 23; Everyone has his Fault auch in: Lesser Engl. Comedies of the 18th Cent., ed. A. Nicoll (WC). 40 (Dublin, 1762, 1782; kein Repr.). 41 Works, 3 Bde. (Edinb., 1822) [mit Biographie von H. Mackenzie]. 42 Works, 6 Bde. (1833/34); Percy (41812) [mit Prolog u. Epilog von Garrick]. 43 (Dublin, 1798/99; kein Repr.) 44 (l809; Philadelphia, 1810); Abdruck in Cumberland, British Theatre (1826-61), Bd. 40. 45 ("l884). 46 Kein Repr. 47 Dramatic and Poetical Works (1851; repr. Hildesheim, 1976) [mit Memoir]; Repr. der Plays, Garland Series (N. ., 1977).Vgl. A. Badstuber, J. B.'s Plays on the Passions, Wiener Beiträge (Wien, 1911); M. S. Carhart, Life and Work of J. B. (New Haven, 1923) [mit Bibliogr.].

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Plays on the Passions (1798, 1802 und 1812) wählten sich einzelne Leidenschaften (Zorn, Reue, Eifersucht u. a.), zu deren Darstellung sie entsprechende Personen und Handlungen erfand, ein für Kunst und Bühne gleich ungeeigneter Weg. Nur eines dieser poetisch ansprechenden, aber dramatisch mittelmäßigen Stücke, De Montfort, hat den Weg zur Bühne gefunden. Es ist eine Mischung von französischem Klassizismus und englischem Sensationstheater, das, von Scott patronisiert und mit großartigem Schauprunk inszeniert, einen Achtungserfolg errang. Mit der von Baillies Themen nahegelegten literarischen Anknüpfung an elisabethanische Vorbilder kam man völlig zum Buchdrama. Auch die Dramen bühnenkundigerer Autoren führten keine Erneuerung des Theaters herbei. Ein dichterisch bemerkenswerter Versuch war Fazio (1815) von HENRY HART MiLMAN48 (1791-1868). Es ist die Dramatisierung einer in Italien lokalisierten romantischen Geschichte von Räuberei, Mord, Kurtisanentum und treuer ehelicher Liebe, aber dies wilde und rührende Geschehen ist verhalten dargestellt und hat sich als gut spielbares Theaterstück erwiesen. Milmans spätere Dramen (Belshazzar, 1822; Anne Boleyn, 1826) waren dagegen enttäuschend. Auch die Dramen von MARY RUSSELL MiTFORD49 (1787-1855; Julian, 1823; The Foscari, 1826; Rienzi, 1828) sind Epigonenwerke, die nur einzelner poetischer Szenen wegen nennenswert sind. Selbst der bedeutendste der Reihe, JAMES SHERIDAN KNOWLES50 (1784 bis 1862), der mit Caius Gracchus (1815) wirkungsvoll begann und auch in seinen übrigen Stücken (Virginius, 1820; Teil, 1825; The Wife: a Tale of Mantua, 1833) über das herrschende Bühnendrama emporragte, erwies sich nicht als eine lebendige Kraft und schrieb später fast nur noch dem populären Geschmack entgegenkommende Melodramen. Damals allerdings und gegenüber einem Publikum, das an den Schwulst der romantischen Schreckensdramen gewöhnt war, bedeuteten die an die Elisabethaner erinnernden Verse von Knowles und seine durch große Schauspieler überzeugend dargestellten Charaktere eine Rückkehr zu Natur und Wahrheit, und die ungezwungen aus Charakteren und Umständen sich ergebenden Situationen erschienen wie eine Befreiung von den gehäuften Zufälligkeiten der landläufigen Theaterstücke. Als großer Dramatiker gelten konnte Knowles nur in einer dramenarmen Epoche. Auch der neben Knowles beliebteste Theaterautor BULWER-LYTTON (s. S. 663) hat die Probe der Zeit nicht bestanden. Die bekanntesten seiner Theaterstücke, die romantische Komödie The Lady of Lyons (1838), deren verwickelte, an Überraschungen reiche Handlung kaum eine Nacherzählung verträgt, und das historische Blankversdrama Richelieu 48

Fazio u. Belshazzar, Garland Series (repr. N.Y., 1977). - Vgl. C. H. E. Smyth, Dean Milman (1949). 49 Dramatic Works, 2 Bde. (1854). - Life of M. R. M. in a Selection from her Letters, ed. A. G. L'Estrange, 3 Bde. (1870). 50 Dramatic Works, 3 Bde. (1841); 2 Bde. (1856). - L. Hasberg, J. S. K.s' Leben u. dramat. Werke (Lingen, 1883); L. H. Meeks, S. K. and the Theatre of his Time (Bloomington, 1933) [mit Bibliogr.].

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(1839), das des Kardinals Sieg über eine gegen ihn angezettelte Verschwörung darstellt und das politische Intrigengeschehen durch die Liebesgeschichte Julie de Montemars, der Schutzbefohlenen des Kardinals, fülliger und abwechslungsreicher gestaltet, zeigen Beherrschung der Charakterisierung und einer komplizierten Handlungsführung, sind aber dem Zeitgeschmack entsprechend durch Schauprunk, Sensation und Sentimentalität beeinträchtigt. Es sind romantisch-historische Kostümdramen, die wie die epigonenhaften historischen Romane des Verfassers berühmte Gestalten der Weltgeschichte vor einen dekorativen Hintergrund stellen. Das literarisch wertvolle Drama war ein Zweig der Poesie geworden, eine von der zweiten Romantikergeneration über Bryan Waller Procter51 ('Barry Cornwall', 1787-1874; Dramatic Scenes, 1819; Mirandola, 1821 u.a. Tragödien) bis hin zu Richard Henry (Hengist) Hörne52 (1803-84; Cosmo de Medici, 1837; Death of Marlowe, 1837; Gregory VII, 1840; Judas Iscanot, 1848) und Tennyson und darüber hinaus gepflegte Nachbildung der elisabethanischen Tragödie. Es hatte aber aufgehört, Ausdruck der die Zeit bewegenden Kräfte zu sein.53

8. Amerikanische Dichter in der europäischen Tradition Die amerikanischen Dichter dieses Zeitabschnitts54 werden meist an ihren englischen Zeitgenossen gemessen. Sie suchten selbst diesen Vergleich und gaben dennoch ihr Bestes da, wo sie sich auch literarisch aus der englischen Tradition lösten, von der die politische Entwicklung sie inzwischen getrennt hatte, oder wenn sie aus charakteristisch amerikanischer Erfahrung und Fragestellung schrieben. Dabei entwickelte sich, inspiriert von der durch die Unabhängigkeitserklärung begründeten Idee der Freiheit, ein literarischer Patriotismus, der eine eigenständige amerikanische Literatur postulierte. Die Gruppe der 'Hartford Wits' (oder 'Connecticut Wits'), die der Theologe und spätere Präsident von Yale TIMOTHY DWIGHT (1752-1817) zur Schaffung einer nationalen Dichterschule zusammenbrachte, deren literarische Bemühungen jedoch unter ihren viel stärkeren nicht-literarischen Aktivitäten litten, zeigt sich in ihrem Schaffen ganz in alten englischen Mustern befangen.55 Dwights topographische Dichtung Greenfield Hill (1794) zeigt schon 51

Poetical Works, 3 Bde. (1822); Dramatic Scenes, Mirandola u.a., Garland Series (repr. N.Y., 1977). - Biographie von R. W. Armour (Boston, 1935) [mit Briefen]. 52 Cosmo de Medici (1837, 1875); Marlowe (51870) u. in Bullens Marlowe-Ausgabe, Bd. III (1855); Gregory (31849); Judas, repr. in Bible Tragedies (1881) [Gesamtausgabe u. Biographie fehlen]. 53 Vgl. R. Fricker, Das historische Drama in England von der Romantik bis zur Gegenwart (Bern, 1940). 54 Ausführlich vertreten in: American Poetry from the Beginning to Whitman, ed. L. Untermeyer (N.Y., 1931); The Oxford Book of American Poetry, ed. F. O. Matthiessen (N.Y., 1950); The New Oxford Bk. of Am. Verse, ed. R. Ellmann (N.Y./Lo., 1976). "Textauswahl: The Connecticut Wits, ed. V. L. Parrington (N.Y., 1926) [mit Einl. u.

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im Titel die Herkunft von 'Cooper's Hill', aber die patriotische Beschreibung Connecticuts hat weder Denhams Frische noch die Sensibilität von Goldsmiths 'Deserted Village'. Dagegen lebt Dwight fort als Verfasser des vaterländischen Liedes Columbia, Columbia, to glory arise. Noch ältere Vorbilder suchte der in klassischen Sprachen hochgebildete JOHN TRUMBULL 56 (1750 bis 1831), dessen lange satirische Dichtungen gegen die kirchliche Erziehung (Progress of Dullness, 1772/3) und gegen die Torheiten seiner torystischen Landsleute während des Unabhängigkeitskrieges (M'Fingal, 1775-82) Butlers Hudibras zum Vorbild haben. Auch der ehrgeizige epische Versuch von JOEL BARLOW (1754-1812), in heroischen Reimpaaren Geschichte und Zukunft Amerikas als Hort der Freiheit zu besingen in The Vision of Columbus (1787, erweitert und umgearbeitet zu The Columbiad, 1807), ist zwar thematisch interessant, aber die Ausführung ging weit über die Kraft des Verfassers und bleibt konventionell. Geglückter ist ein kurzes Gegenstück aus der alten Welt, die gegen Napoleon gerichtete Anklage Advice to a Raven in Russia, December 1812 (1843 veröffentlicht). Ein nicht nur lokales Interesse kann sein gelungenes komisches Gedicht The Hasty-Pudding (1796 veröffentlicht) beanspruchen, das er 1793 in Frankreich, seiner Heimat gedenkend, schrieb, als ihm überraschend der vertraute (im Titel genannte) Maismehlbrei serviert wurde. Als eigentliche Vertreter der Revolutionszeit haben der Mitunterzeichner der Unabhängigkeitserklärung, FRANCIS HOPKINSON" (1737-91), und Philip Freneau zu gelten, die beide - vielseitig begabt und eine erstaunliche Vielzahl von Berufen durchlaufend - temperamentvoll am Zeitgeschehen mitwirkten. Ihre politischen Spottgedichte, die meist Begebenheiten aus dem Unabhängigkeitskrieg auf Kosten Englands oder der Loyalisten brachten, haben dank ihrer Frische gelegentlich auch literarische Geltung. So ist Hopkinsons humorvolle Ballade The Battle of the Kegs volkstümlich geworden. Die stärkere dichterische Begabung war indessen PHILIP FRENEAU 58 (1752-1832), der sich einen Namen schuf als leidenschaftlicher Parteigänger Jeffersons, streitbarer politischer Publizist und Verfasser englandfeindlicher Zeitgedichte in den beiden Kriegen mit England 1776-83 und 1812-14 (Poems written during the American Revolutionary War, 1786, erweitert 1809; A Collection of Poems on American Äff airs, 1815). Aber im Grunde war er eine elegische Natur, an klassizistischen Vorbildern orientiert und doch romantisch empfindend. Erinnern The American Village und The Deserted Farmhouse noch an Goldsmith, Bibliogr.]; Major Poems of T. D., edd. W. J. McTaggart and W. K. Bottoroff (Gainesville, Fla., 1969). - L. Howard, The Connecticut Wits (Chicago, 1943); K. Silverman, T. Dwight (N.Y., 1969). 56 Poetical Works (Hartford, 1820; repr. Hildesheim, 1969). "G.E. Hastings, The Life and Works of F. H. (Chicago, 1926); Comical Spirit of Seventy-Six: The Humor of F. H., ed. P. M. Zall (San Marino, Calif., 1976). 58 Poems, ed. F. L. Pattee, 3 Bde. (Princeton, 1902-07); The Last Poems, ed. L. Leary (NewBrunswick, N . J . , 1946).-Auswahl: Poems, ed. H.H. Clark (N.Y., 1929); Prose, edd. P. F. and P. M. Marsh (New Brunswick, 1955). - P. M. Marsh, The Works of P. F.: A Critical Study (Metuchen, N.J., 1968); M. W. Bowden, P. F. (Boston, 1976).

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so steht er mit der in 136 kreuzgereimten Vierzeilern geschriebenen Vision The House of Night (1779) in der Tradition der Gray, Blair und Young. Sie spiegelt alle Stimmungen der englischen Nacht- und Grabesdichtung und endet wie eine Predigt mit einem Hinweis auf das ewige Leben. In anderen Gedichten stellt er die Schönheit der Natur dem Elend des Kulturmenschen und seiner Opfer gegenüber (The Beauties of Santa Cruz, 1776) und führt als neues literarisches Motiv den edlen Indianer mit seiner Geborgenheit in der Natur und einfachen Mythen ein. Am unvergänglichsten haben sich die kurzen lyrischen Stücke erwiesen: The Wild Honey Suckle; To a Honey Bee; On Observing a Large Red-streak Apple u. a., in denen ein genaues und liebendes Gewahrwerden der demütig verborgenen Schönheit in Natur und Alltag das Bewußtsein der Vergänglichkeit mildern - und die in ihrem konkreten, schlichten Stil wie ein Vorklang von Burns und der Seeschule anmuten. Mit Recht ist Freneau der „Vater der amerikanischen Lyrik" genannt worden. Fast eine Generation trennt ihn von dem künstlerisch bedeutenderen Neuengländer WILLIAM CULLEN BRYANT 59 (1794-1878), der trotz begrenzter Themen und Begabung auch im Ausland Anerkennung errang. Als Dichter gehört er trotz des zeitlichen Unterschieds eher zur Generation der Blair und Gray als zum Stil des 19. Jahrhunderts. Als Journalist und Herausgeber der New Yorker 'Evening Post' war er modern und der angesehenste Literat der Stadt New York. Schon das erste Bändchen Poems (1821) zeigt die beiden seine Dichtung beherrschenden Themen: Tod und Natur. Es enthält die Gedichte, die ihn berühmt machten: Thanatopsis und To a Waterfowl. Die „Todesschau" ist eine versöhnlich gestimmte Abwandlung des Themas, der Young-Gray-Tradition verpflichtet, aber im Rhythmus der Blankverse an Cowper erinnernd und in der schlichten Diktion an Wordsworth, der später sein Hauptvorbild werden sollte; dazu treten zeitgenössisch-amerikanisch anmutende Konkretheit und didaktische Gedanklichkeit. Mit stoischer Ergebenheit überblickt der Dichter das Walten der Natur, die immer zurückfordert, was sie gezeugt, und so zum Grab alles Lebendigen wird. Aber Bryant war nicht pantheistisch, sondern puritanisch fromm, und der Flug des Wasservogels symbolisiert das von Gott gelenkte Leben. A Forest Hymn feiert die Wälder als die ersten Tempel Gottes, und der Evening Wind atmet Gottes Segen über das müde Land. Bryant hat seinen Landsleuten die Augen für die Weite und Großartigkeit ihrer Heimat geöffnet (The Prairies; The Hurricane) und auch die Liebe zu den idyllischen Schönheiten in stimmungs- und ruhevollen, nicht ins Übernatürliche gesteigerten Bildern vermittelt (The Green River; A Scene on the Banks of the Hudson; The Snow-Shower). Seine Indianergedichte sind konventionell, und die Wordsworth nachempfundenen Blumengedichte (To the Fringed Gentian; The Death of the Flowers) zeigen, 59

Life and Writings of W. C. B., ed. P. Godwin, 6 Bde. (N. ., 1883-84; repr. 1964-67); The Letters, 6 Bde., ed. T. G. Voss (N. ., 1975 ff. [i. E.]); Poems, Oxf. Edn. (N.Y., 1914); Representative Selections, ed. T. McDowell, AWS (N.Y., 1935) [gute Einl.]. C. H. Brown, W. C. B. (N.Y., 1971) [erste umfassende Biogr.]; A. F. McLean, W. C. B. (N.Y., 1964) [Biogr. u. Kritik]; R. R. Jelliffe, The Poetry of W. C. B. (Berkeley, 1965).

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daß ihm die schlichte Bildhaftigkeit Freneaus weniger lag als atmosphärische Weite und elegischer Ton. Er wurde zum Vates, der die Größe des Westens und der Pioniere weissagte, das humanitäre Gefühl für die Eingeborenen des Landes wachrief und den demokratischen Gedanken verkündete (The Ambiguity of Freedom; O Mother of a Mighty Race; America). Gerade die seine Dichtung durchdringenden ethischen Werte sind es, die sein Ansehen in Amerika begründen; historisch ist er der Wegbereiter Longfellows. Neben dem formal glatten und oft bis zur Kühle vollendeten Bryant hat der begeisterte JOHN GREENLEAF WHirriER60 (1807-92), der weder akademisch gebildet noch begütert war, mehr den Charakter eines Volksdichters. Mit ungestümer Leidenschaft verfocht er die amerikanischen Ideale der Freiheit, Demokratie und Toleranz für alle, auch für Neger und Tagelöhner. Auch als es noch (in den dreißiger Jahren) den unerschrockenen Einsatz gegenüber allgemeiner Verspottung (in die anfangs sogar ein Emerson einstimmte) erforderte, trat er für die Sklavenbefreiung ein: als Parteiredner, Zeitschriftenredakteur und Romancier (Narrative of James Williams, 1838) sowie als Dichter der in verschiedenen Bänden (z. B. Voices of Freedom, 1846) erschienenen Antisklavereigedichten (dem poetischen Gegenstück von Onkel Toms Hütte), darunter The Christian Slave, The Slave-Ships und das gegen das Einfangen flüchtiger Sklaven gerichtete und den Idealismus der Abolitionisten preisende Massachusetts to Virginia. Wenn im Gedächtnis der Welt der zuerst in Whittiers Zeitschrift The National Era' erschienene Roman Uncle Tom's Cabin (1852) von Harriet Beecher Stowe61 (1811-96) das entscheidende Buch wurde, so ist das der Gestaltungskraft der Verfasserin zuzuschreiben, die in pathetisch-eindrucksvollen und melodramatischen Bildern die Charaktere lebendig werden ließ und dabei menschlich überzeugend an das Schuldgefühl aller Amerikaner, nicht nur der Südstaatler, appellierte, während Whittiers sich viel schneller verbrauchende Wirkung seiner mitreißenden humanitären Gesinnung und heftigen Klagen und Zornesausbrüchen entsprang. Er war kein Mann der Prosa, trotz des anschauliche Vorstellungen vermittelnden Puritanerromans Leaves from Margaret Smith's Journal 1678/9 (1849). Schon sein erstes Buch Legends of New England in Prose and Verse (1831) zeigte, daß ihm das Versemachen mühelos gelang, und in einer großen Zahl von Gedichtbänden bis zu dem in seinem 83. Lebensjahr erschienenen At Sundown (1890) hat er sich im Alter wie ein Patriarch und als Symbol schlichter amerikanischer Le60

The Writings, ed. H.E. Scudder, 7 Bde. (Boston, 21894), daraus einbändige Cambridge Edn.: Complete Poetical Works (1894); Poetical Works, ed. H. H. Waggoner (Boston, 1975). - Auswahlen: Representative Selections, ed. H. H. Clark (N.Y., 1935) [mit Einl. u. Bibliogr.]; D. Hall (N.Y., 1960), WC; The Letters, ed. J. W. Pickard, 3 Bde. (Cambr., Mass./Lo., 1975) [grundlegend]. - Biographie: E. Wagenknecht, J.G.W. (N.Y., 1967). - Kritik: L. Leary, J.G.W. (N.Y., 1961); R. P. Warren, J. G. W.'s Poetry (Minneapolis, Minn., 1971). 61 The Writings, 16 Bde. (Boston, 1896; repr. Hildesheim, 1975); Uncle Tom's Cabin, ed. K. S. Lynn (Cambr., Mass., 1962) [mit Anm. u. Einl.]. - Biographie von E. Wagenknecht (1965); J. R. Adams, H. B. S. (N.Y., 1963).

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bensart und Gesinnung verehrt - zu allen ihn bewegenden Fragen dichterisch geäußert. Das ist Gelegenheitspoesie, trotz guter Blankverse und sangbarer Strophen. Auch die vielgerühmten Balladen (wie Witch of Wenham) und erzählenden Dichtungen (wie Abraham Davenport) sind heute verblaßt. Doch haben sich Skipper Ireson 's Ride, Telling the Bees und Maud Muller echte Volkstümlichkeit gewonnen, während das einst hochpopuläre Barbara Frietchie melodramatisch überzeichnet ist. Nur das Winteridyll Snow-Bound (1866), in dem er mit inniger Liebe zur Scholle das eingeschneite elterliche Farmhaus mit der ums Kaminfeuer versammelten Familie beschreibt, hat die urwüchsige Kraft des von ihm geliebten Burns, mit dessen 'Cotter's Saturday Night' man es immer verglichen hat. Die anspruchslosen Reimpaare dieser Heimatdichtung sind etwas herkömmlich, wenn man die verwandelnde Kraft der Naturdichtung der englischen Romantik dagegenhält, und doch sind dieses pastorale Idyll und sein bitteres Gegenstück Among the Hills denkwürdige Zeichen einer vergangenen Periode der Geschichte Neuenglands und erschließen einen genuin amerikanischen Wirklichkeitsbereich: die bäuerliche Umwelt und die Ethik des aufrecht für seine Überzeugungen eintretenden Quäkers (vgl. auch The Quaker of the Olden Time; First-Day Thoughts; The Eternal Goodness). Beides gehört zu dem Erbe, aus dem Amerika noch heute, auch in der Dichtung, wertvolle Kräfte zuströmen. Formal übertroffen wurde Whittier von HENRY WADSWORTH LONGFELLOW62 (1807-82), der Europabegeisterung und Amerikaverwurzelung in seltener Weise vereinte und sich als gefeierter nationaler Dichter und Professor der modernen Sprachen an der Universität Harvard größter Bewunderung erfreute, dessen Ruf jedoch von kurzer Dauer war. Aufrichtigkeit, sicherer Geschmack und Grazie der Form waren ihm eigen, aber weder Leidenschaft noch Tiefe. Ungewöhnlich gebildet und doch dem einfachen Volk verbunden, dessen Optimismus und Freude an Lehrhaftem er anzusprechen suchte, gestaltete er harmlose, unproblematische Gehalte in einer einfachen, glatten Sprache, für die es, von wenigen Stücken abgesehen, im 20. Jahrhundert kaum noch ein Publikum gibt. Von Anfang an suchte er seinen Landsleuten die Schätze europäischer Dichtung zu vermitteln und übersetzte aus dem Französischen, Deutschen, Spanischen, Nordischen, Altenglischen und Italienischen (u. a. die Göttliche Komödie, 1867-73). Sein eigenes, dem Bildungserlebnis der Weltliteratur entspringendes Schaffen eröffnete, was seine Zeit gefangennahm, Ausblicke auf fremde, bunte Welten (vgl. Gedichte wie Nuremberg), und sein herkömmlicher Idealismus verkündigte eine auf unitarischer Frömmigkeit beruhende ethische Botschaft in leichtfaßlichen Formeln (vgl. The Psalm of Life, 1838; Excelsior, 1841). Als romantischer Epigone 62

Bibliogr. s.S. 559. - The Works, ed. S. Longfellow, 14 Bde. (Boston, 1886-91) [mit Biographie]; einbändige Ausgabe der Poetical Works, ed. H. E. Scudder, Cambridge Edn. (Boston, 1899); OSA; WC; EL. - Auswahl: The Essential L., ed. L. Leary (N.Y., 1963). - Letters, ed. A. Hilen (Cambr., Mass., 1966). - Biographie u. Kritik: N. Arvin, L.: His Life and Work (Boston, 1962); C. B. Williams, H. W. L. (N.Y., 1964) [Einführung]; E. Wagenknecht, L.: Portrait of an American Humanist (N.Y., 1966).

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schaute er in die Vergangenheit zurück, und kaum eines seiner Werke ist aus unmittelbarem Erlebnis erwachsen (wie die Gedichte auf Hawthornes Tod, Hawthorne, und die Erinnerung an den Tod seiner Frau, The Cross of Snow). Er begann wie sein Geistesverwandter W. Irving, schrieb als Frucht seiner Europareisen mit historisch-philologischen Perspektiven vermischte Reisebücher (Outre-Mer: a Pilgrimage beyond the Sea, 1833) und formte die Eindrücke des romantischen Deutschland und ein tiefes Verständnis der deutschen Literatur in Jean Pauls Manier zu einem autobiographischen Bekenntnis- und Bildungsroman, Hyperion, a Romance (1839), in dem der melancholische Europareisende Paul Flemming seinen wertherhaften Weltschmerz über den Tod seiner Frau zuerst durch Gespräche mit dem deutschen Freund und „Universalgenie" in Heidelberg, dann durch den Entschluß überwindet, in Amerika einen die Gegenwartsprobleme lösenden, tätigen Neuanfang zu versuchen. Longfellow hat sich auch später noch in der Prosa versucht, seine Fähigkeiten lagen indessen auf dem Gebiet der Verserzählung, mit deren Erneuerung aus bürgerlichem Geist und amerikanischer Gesinnung er die tiefe Zuneigung seiner Landsleute gewann und in England die Volkstümlichkeit von Scott, Byron und Tennyson erreichte. Das idyllisch-elegische Epos Evangeline (1847), das in Vorwurf und schmiegsamem Hexameterstil Goethes Hermann und Dorothea, im Gefühlston auch der deutschen Romantik folgt, betont nicht wie Goethe die Schicksale des Liebespaars in einer aus den Fugen geratenen Zeit, sondern sieht in der Standhaftigkeit und praktischen Lebensmeisterung der Frau die amerikanischen Ideale der Zukunftshoffnung und praktischen Hilfsbereitschaft. Es ist die Geschichte der von den Engländern 1755 aus Neuschottland vertriebenen etwa 3000 französischen Kanadier, wobei zunächst das idyllische Dorfleben inmitten der uranfänglichen Wälder und die Liebe zwischen Evangeline und Gabriel, dann ihre Trennung und lebenslange Suche nach einander geschildert werden, bis die gealterte, als Barmherzige Schwester in Philadelphia wirkende Evangeline in einem von ihr in die Arme geschlossenen Pestkranken den Geliebten wiedererkennt, dem sie bald in das Grab folgt. Das Gedicht wurde als nationales Epos begrüßt, und das ergreifende Schicksal Evangelines, der Humanitätsgedanke sowie die lebendige Schilderungs- und Erzählkunst verschafften Longfellow auch jenseits der Grenzen seines Landes den Ruf eines großen Dichters, der in viele Sprachen übersetzt wurde und dem man später in Westminster Abbey ein Denkmal setzte, eine Ehre, die, den naturalisierten T. S. Eliot ausgenommen, keinem anderen Amerikaner zuteil wurde. In dem anderen, auf folkloristische Quellen zurückgehenden und ähnliche Verbreitung findenden Erzählgedicht Hiawatha (1855), das mit (dem finnischen Kalevalaepos nachgebildeten) reimlosen trochäischen Vierhebern melodiöse Schwermut malt, wird wie in Indianermythen der göttergesandte, den Stamm einigende und ihm die Kultur bringende Indianerheros Hiawatha gefeiert; romantisierend in eine idyllische Landschaft (Lake Superior) gestellt, lehrt er mit einer bürgerlich und amerikanisch anmutenden Zielstrebigkeit

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die Ureinwohner Ackerbau, Fischen, Segelkunst, Heilkunde und Bilderschrift, sichert so seinem Volk trotz Gefahren und Leid den Frieden und macht dem weißen Manne und dem Christentum willig Platz. Amerikanischer noch als diese der europäischen Dichtung verhafteten Epen ist die in Hexametern geschriebene Versnovelle The Courtship of Miles Standish (1858), eine schalkhaft-erbauliche Liebesgeschichte, in der John Alden, ein Vorfahre Longfellows, von seinem Freund Hauptmann Standish zum Brautwerber für die hübsche Priscilla gemacht wird, die er jedoch selbst liebt. Trotz komischer Verwicklung werden in den Skrupeln der Liebenden, die ihre Ehrlichkeit und Reinheit bewahren, und im Mut des gegen die Indianer kämpfenden Soldaten Tugenden betont, die für Longfellows ideales Amerika wichtig waren. Den humorvollen Ton wiederholt er in den Chaucer nachgebildeten Tales of a Wayside Inn (1863-73), die aber auch, der Vielseitigkeit der 'Canterbury Tales' entsprechend, vielerlei novellistisches, balladen- und sagenhaftes Material enthalten. Wie als Verserzähler war Longfellow als Lyriker geschätzt. Seine ungewöhnliche Begabung steht außer Frage, aber sein einprägsam-glattes Dichten geschieht nach fremden Mustern aus der englischen und deutschen Romantik. Die anspruchsvollen balladesken Gedichte sind heute vergessen, bis auf The Wreck of the Hesperus (mit dem Erlkönigmotiv) und seine moralisch-allegorischen Gedichte (z. B. The Building of the Ship nach Schillers Glocke), die zum festen Bestandteil von volkstümlichen Anthologien und Schullesebüchern gehören. Die wenigen Stücke, die der Zeit standhielten: Hymn to Night, The Day is Done, The Curfew, The Tide Rises, The Arrow and the Song, My Lost Youth u. a. sind schlicht und persönlich. Daneben werden noch einige von Longfellows Sonetten - z. B. der Divina Comedia-Zyklus - Geltung behalten. Longfellows poetische Dramen rechtfertigen nur eine kurze Erwähnung. Sie sind, der damaligen Zeit entsprechend (ähnlich wie im gleichzeitigen England), nicht im Hinblick auf das Theater geschrieben. Aber auch als Buch- oder Lesedramen bleiben sie Epigonenwerk. Das gilt nicht nur für die frühe Komödie The Spanish Student (1843), Longfellows erste größere Behandlung fremden Materials, die aus den Fäden des Preciosa-Stoffs einen bunten, spanischen Teppich webt, das gilt besonders für das dreiteilige Mysterium Christus (1872), das Longfellow fast dreißig Jahre beschäftigte und das er als sein größtes, verschiedene Seiten des Christentums darstellendes Werk ansah. Heute ist höchstens der mittlere Teil (The Golden Legend'), noch lesbar, ein den vertrauensvollen Glauben des Mittelalters veranschaulichender Mirakelspielzyklus um den mittelhochdeutschen „Armen Heinrich" von Hartmann von Aue (Rettung des todkranken Prinzen durch das zum Opfertod bereite Mädchen mit abschließender Vermählung der beiden), wobei Longfellow diesen Stoff geschickt mit Elementen aus Goethes Faust verbindet (Mephistogestalt, mehr geistige als körperliche Krankheit Heinrichs), die freilich ins Christlich-Moralische und Rechtschaffen-Häusliche abgemildert werden (statt Gretchen-Tragödie glückliche Heirat). Teil I schildert Leben und Passion Christi, Teil III die mit religiöser Verfolgung ver-

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bundenen puritanischen Neuenglandtragödien ('John Endicott' und 'Giles Corey'). Longfellows Nachfolger als Professor der neueren Sprachen in Harvard und wie dieser Gelehrter und Dichter war der von patrizischer Gesinnung und hoher Verantwortlichkeit für das Gemeinwohl bestimmte JAMES RUSSELL LowELL63 (1819-91), der spätere amerikanische Gesandte in London (1880-85). Er begann als Lyriker mit Oden, Liedern, Sonetten, die sich der englischen viktorianischen Tradition einordnen; sie waren für das damalige Neu-England bedeutsam, nicht aber vom Standpunkt der englischen Literatur aus. Schon die von Tennyson inspirierte Versparabel The Vision of Sir Launfal (1848) zeigt Lowells lehrhafte Neigung. Der Gralssucher erfährt im Traumbild, daß Heiligkeit nicht in glanzvollem Rittertum, sondern in der von Herzen kommenden Nächstenliebe liegt: das einem aussätzigen Bettler widerwillig hingeworfene Goldstück ist weniger wert als die Brotreste, die der Christi Züge annehmende Aussätzige mit dem verarmt Heimkehrenden teilt. Später tritt die Poesie in seinem Schaffen zurück - nur die große Ode auf die im Bürgerkrieg gefallenen Studenten ist hervorzuheben (Ode recited at the Harvard Commemoration, 21. Juli 1865) und das sich mit Passagen in Tennysons In Memoriam berührende The Cathedral (1870), das in Erinnerung an einen Tag in Chartres die Hoffnung ausspricht, daß mittelalterliche Spiritualität durch das moderne Fortschrittsdenken nicht vernichtet, sondern nur neu formuliert wird. Im übrigen beherrschen längere politische und satirische Dichtungen das Feld. Einflußreich, aber der Natur der Sache nach von zeitlich und örtlich gebundenem Interesse, waren die zuerst in Zeitschriften veröffentlichten Biglow Papers (1848 und 1867), angeblich von dem New England-Farmer Hosea Biglow in Yankeedialekt und -Orthographie geschriebene Briefe und Spottgedichte. Die erste Folge ist gegen den mexikanischen Krieg (1846-48) und damit gegen das von vielen vermutete südstaatliche Interesse an einer Ausweitung der Sklaverei gerichtet, die zweite (schwächere) verficht im Bürgerkrieg (l 861-65) die Sache des Nordens (besonders die Sklavenbefreiung) gegenüber England und den Südstaatlern, deren negative Seiten karikaturenhaft aus der Sicht des pfiffigen Yankee, der als eigener Typus erscheint, gezeichnet werden. Literarisch interessanter ist die in freien Anapästen mit saloppen Reimen geschriebene Fable for Critics (1848), worin ein Kritiker vor einer olympischen Götterversammlung in witzigen und oft treffenden Urteilen die führenden amerikanischen Autoren seiner Zeit unerschrocken durchhechelt. 63

Complete Writings, ed. C. E. Norton, 16 Bde., Elmwood Edn. (Boston, 1904) [Biographie von H. E. Scudder]; Poetical Works, ed. H. E. Scudder, Cambridge Edn. (Boston, 1897, 1917); M. R. Kaufmann (1978); Uncollected Poems, ed. T. M. Smith (Philad., 1950); The Biglow Papers, ed. T. Wortham (De Kalb, 111., 1977). - Auswahlen: Representative Selections, edd. H. H. Clark and N. Foerster (N. Y., 1947) [mit Einl. u. Bibliogr.]; Lit. Criticism of J. R. L., ed. H. F. Smith (Lincoln, Nebr., 1969); Among My Books, EL. - M. Dubermann, J. R. L. (N.Y., 1966) [grundlegend]; E. Wagenknecht, J. R. L. (N.Y., 1971).

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Diese Satiren zeigen Lowell auf dem Wege zum Publizisten und Kritiker, der andernorts zu besprechen ist (s. S. 745 f.). Die romantische Periode begann mit dem Revolutionskrieg. Sie endete mit dem Bürgerkrieg, durch den HENRY TiMROD64 (1828-67) und andere Dichter des Südens ihre tragische Mission erhielten. Nachdem Timrod schon in Natur- und Liebesgedichten lateinischer Präzision eine zarte, aber dichterisch eigenständige Natur bekundet hatte, schrieb er als glühender Patriot des Südens65 - auch hier die klassizistische Tradition der Südstaaten mit persönlichem Gehalt erfüllend - formreine Oden und Kriegsgedichte (Ethnogenesis; Caroline; Carmen Triumphale). Die Heimatliebe, mit der er an seiner Vaterstadt Charleston hing, einem vor dem Bürgerkrieg geistig und wirtschaftlich blühenden Zentrum der Südstaatenkultur, verlieh dem kriegerischen Thema Wärme und Kraft (Charleston); in der freien Ode The Cotton Boll ersteht eine große Vision der Baumwollfelder, Flüsse, Berge und Wälder des Südens, und in der knappen, alle Empfindungen in fünf schlichte, kreuzweise gereimte Vierzeiler zusammendrängenden Ode zuf Eröffnung des Soldatenfriedhofs Magnolia in Charleston (1867) fand der Krieg seinen ergreifendsten dichterischen Ausdruck. Aus dem Dichterkreis von Charleston seien noch zwei Autoren genannt: Timrods Freund und Herausgeber Paul Hamilton Hayne (1830-86), von dessen anfeuernden Kriegsgedichten The Battle of Charleston Harbor das bekannteste ist, und William Gilmore Simms, der jedoch als Romanschriftsteller (s. S. 671) eine größere Bedeutung hat. Das Bild, das sich aus der romantischen Dichtung Amerikas ergibt, hat provinziellen Charakter. Es wäre aber nicht vollständig, wenn man nicht auf zwei in anderem Zusammenhang besprochene Autoren hinwiese: E. A. Poe (s. S. 678) und R. W. Emerson (s. S. 707), deren Lyrik eigenständige Bedeutung zukommt.

II. DER R O M A N 1 1. Nachspiel des 18. Jahrhunderts: Der empfindsame Sittenroman Wie der romantischen Literatur eine lange Vorromantik in der klassizistischen Zeit voraufging, so haben umgekehrt auch die klassischen Formen in 64

Poems of H. T. (Boston, 1899); Collected Poems, edd. W. and A. W. Parks, Variorum Edn. (Athens, Ga., 1965). - Briefe in: J. B. Hubbell, The Last Years of H. T. (Durham, N.C., 1941). - Vgl. E. W. Parks, H. T. (N.Y., 1964). 65 Vgl. Southern Poets: Representative Selections, ed. E.W. Parks (N.Y., 1936) [mit Einl., Bibliogr. u. Anm.]; J. B. Hubbell, The South in Am. Lit.: 1607-1900 (Durham, N.C., 1954); R. D. Downs, Books That Changed the South (Chapel Hill, 1977). 1 J. M. S. Tompkins, The Popular Novel in England 1770-1800 (21962) [u. a. über romant. Motive im Roman]; R. Kiely, The Romantic Novel in England (Cambr., Mass./Lo., 1972); N. F. Doubleday, Variety of Attempt: Brit, and Am. Fiction in the Early 19th Cent. (Lincoln, Nebr., 1976). Vgl. auch Fußnote 2 sowie Lit. zum Schrekkensroman (s. S. 643) u. histor. Roman (s. S. 652).

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die romantische Zeit hinein gelebt. Begründeter als in der Dichtung war dies realistisch-klassizistische Nachspiel im Roman, den die großen Meister des 18. Jahrhunderts als Schilderung englischen Lebens und englischer Sitten ausgebildet hatten. Er besaß also eine engere Beziehung zur Zeit und Wirklichkeit als alle anderen Dichtgattungen. Gleichviel, ob es sich um eine mehr oder weniger satirische Darstellung der prosaischen Nüchternheit des äußeren Lebens handelte oder um das gelassene oder entrüstete Ankämpfen dagegen, die Wirklichkeitsgebundenheit blieb nahezu Gesetz und wirkte besonders im Gesellschaftsroman der Frauen2 als Fortsetzung des unromantischen Geistes Fieldings oder Smolletts. Sie verband sich aber mit der populären empfindsamen Strömung des letzten Jahrhundertdrittels, in der, etwa an Shaftesbury und Adam Smiths Theory of Moral Sentiments' (s. S. 465) und an Sterne und Goldsmith anknüpfend, ein zunehmend gutgläubiges Vertrauen auf die richtungweisende Kraft des Herzens und der Gefühlsimpulse sowie auf den angeborenen Sinn für das Gute wirksam werden - eine Entwicklung, die in der neuen Sensibilität für die ästhetischen Effekte der pittoresken und erhabenen Landschaft sowie des Grauens im gleichzeitigen Schreckensroman ihr Pendant hat. Die weibliche Schilderungskunst, wie sie zuerst von FRANCES (genannt Fanny) BuRNEY3 (Madame d'Arblay, 1752-1840) geübt wurde, verengte das dargestellte Leben auf die gesellige und meist provinzielle Welt der oberen Bürgerschicht und des niederen Adels, erreichte aber damit eine der Miniaturmalerei vergleichbare Feinheit der Ausführung, die durch einen leise ironischen Ton noch besonderen Reiz erhält. Äußerlich war Frances Burneys erster Roman Evelina, or a Young Lady's Entrance into the World (1778) ein Richardsonthema, das in Briefen der Heldin an ihren Ratgeber entwickelt ist. Die Bedeutung liegt aber nicht in psychologischer Charakterdarstellung, sondern in der getreuen Wiedergabe der kleinen und meist übersehenen Alltäglichkeiten, freilich ohne die deutende Ordnung eines Fielding. Erlauschte Teegespräche werden genau wiedergegeben und Personen mit ein paar treffenden Wendungen unverwechselbar vor uns hingestellt. Der angeborenen Berichterstatterbegabung Frances Burneys entsprach der Wirklichkeitsbericht besonders. In den Tagebüchern (Early Diary, 1768-78; Diary and Letters, 1778-1840) bewährt sich diese Kunst am vorteilhaftesten: das damalige gesellschaftliche Treiben ersteht mit noch heute fühlbarer Frische, und der weibliche Standpunkt schaffte eine neue Beleuchtung, in der Peinlichkeiten und Verlegenheiten boshaft zum Schicksal erhöht erscheinen und die weib2

H. Mews, Fair Vessels: Woman's Role in Women's Novels from F. Burney to G. Eliot (1969); V. Colby, Yesterday's Woman: Domestic Realism in the English Novel (Princeton, 1974). 3 Evelina, ed. E. A. Bloom, OEN (1968); EL; Cecilia, ed. A. R. Ellis, 2 Bde. (1882 u. ö.); Camilla, edd. E. A. and L. D. Bloom, OEN (1972); The Wanderer, 5 Bde. (1814). The Journals and Letters of F. B., ed. J. Hemlow, 8 Bde. (Oxf., 1972-80); Auswahl EL. - Biographie: J. Hemlow (Oxf., 1958); vgl. die Biogr. ihres Vaters von P.A. Scholes, 2 Bde. (1948). - E. White, F. B.: Novelist (Hamden, Conn., 1960).

//. Der Roman

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liehen Figuren ohne die romantische Brille der Männer gesehen sind. Der Schwärm der Gesellschaftsgecken und, wie Congreve sagte, Witwouds ist in Cecilia, or Memoirs of an Heiress (1782) noch größer, wenn auch gelegentlich zu dem Schrulligen der alten 'humours' verzerrt, und da dieser Roman neben der erwarteten und diesmal kunstreich durchgeführten Liebesgeschichte auch der Belehrung und melodramatischen Szenen Eingang gewährte, so ist der Erfolg verständlich. Leider schwächte Burney durch Übernahme des Johnsonschen Stils die Lebendigkeit der Schilderung ab, und ihre späteren Romane (Camilla, 1796; The Wanderer, 1814), die über die Schilderung des Jahrmarkts der Eitelkeit hinausstreben, sind langweilig. Der von Frances Burney vertretenen, von Jane Austen vollendeten Kunst des Gesellschaftsromans sind noch einige Schriftstellerinnen mit mehr erziehlichen Absichten einzuordnen. Die 1777 geschriebene und 1791 veröffentlichte A Simple Story von ELIZABETH INCHBALD 4 (1753-1821) verband die der Manon Lescaut des Abbe Prevost nachempfundene leidenschaftliche und abenteuerreiche Liebesgeschichte der Heldin mit der im zweiten Teil erörterten Erziehung ihrer Tochter; und der schon im Titel - wie später bei Jane Austen - eine Lehrmeinung aufstellende zweite Roman Nature and Art (1796) brachte die auch 'Sandford and Merton' (s. S. 529) zugrunde liegende rousseausche Gegenüberstellung eines in England erzogenen jungen Mannes und seines unter den Wilden Afrikas aufgewachsenen Widerspiels. Aber die solch grundsätzliche Erziehungserörterung begleitende Beobachtungskraft entschädigt durch manch lebhaftes Bild aus der Gesellschaftskomödie, und eine im damaligen Frauenroman ungewöhnliche Vergegenwärtigung leidenschaftlicher Szenen verlieh besonders dem zweiten Roman eine alle Wahrscheinlichkeitszweifel vergessenmachende Spannung. Mit Erdichtung spannender Geschehnisse arbeitete auch AMELIA OpiE5 (1769-1853), die in Adeline Mowbray, or Mother and Daughter (1804) zu Frauenrechtsfragen Stellung nahm und MARY WoLLSTONECRAFTs6 z. T. autobiographischem Roman Mary, a Fiction (1788) widersprach. Es erstaunt, welches Leben diese Werke über die vertretenen Thesen hinaus bewahrt haben: selbst Opies Erzählungen, die man geradezu als moralische Abhandlungen bezeichnen kann, haben durch den witzigen Geist des 18. Jahrhunderts, mit dem die ironischen Gesellschaftsdialoge dargeboten werden, künstlerische Berechtigung (z. B. A Wife's Duty; Lady Anne and Lady Jane). "Simple Story, ed. M.S. Tompkins, OEN (1967); Nature and Art, ed. W. B. Scott (1886). - Briefe in: J. Boaden, Memoirs of Mrs. I., 3 Bde. (1833). - W. McKee, E. L: Novelist (Baltimore, 1935). 5 Works, 3 Bde. (Philad., 1848); Adeline Mowbray (41844); Simple Tales, 4 Bde. ("1815). - Briefe in: C. L. Brightwell, Memorials of the Life of A. O. (Norwich, 1854); Biographie von demselben (1855). 6 Select Works, abridged by C. Jebb (1912); Mary, ed. M. Ferguson, Norton Crit. Edn. (N. Y., 1975). - A Vindication of the Rights of Woman, ed. C. H. Poston, Norton Crit. Edn. (N. Y., 1976). - Collected Letters, ed. R. U. Wardle (Ithaca, N.Y., 1979). - Biographie von W. Godwin, ed. W. C. Durrani (1927); C. Tomalin, Life and Death of M. W. (1974). - E. Nixon, M. W. (1972); E. Rauschenbush-Clough, A Study of M. W. and the Rights of Women (N.Y., 1975) [geistesgesch. Hintergrund], - Vgl. S. 612.

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Unter den vielen Belehrung bezweckenden Romanschriftstellerinnen, von denen u. a. HANNAH MORE? (1745-1833) Erwähnung verdient (Tales for the Common People und Stories for Persons of the Middle Classes, 1818, insbesondere Coelebs in Search of a Wife, 1809), erreicht MARIA EDGEWORTH8 (1767-1849) unstreitig den höchsten Rang. Sie begann mit erziehlichen kurzen Geschichten, die, für das jugendliche Gemüt gedacht, die Charaktere schulmeisterlich vereinfachten (Moral Tales, 1801; Populär Tales, 1804). Dann erweiterte sie die von ihr neubelebte kurze Erzählgattung zum Romanumfang, und mit dem sie erfüllenden Willen, für Irland und die Iren durch wahrheitsgetreue Schilderung Verständnis zu erwecken, fand sie ein Thema, das weiteres Interesse beanspruchen konnte als die enge Bürgerwelt der größeren Jane Austen. Am besten gelang das in dem knapp zusammengefaßten Castle Rackrent (1800), das einfach einen Bericht des treuen Verwalters Thady über alle früheren Schloßherren darstellt. Thady flicht genügend Lobeserhebungen ein, da er aber nur von Vergeudung, Schulden und rücksichtslosem Lebensgenuß erzählen kann, bildet sich im Leser bald ein entgegengesetzes Urteil. Diese Ironie ist ein Erbe der klassizistischen Kunst, durch Lachen zu belehren; sie vermag bei aller Kritik den Opfern liebevolles Verstehen zu bewahren und bedarf nicht der die künstlerische Darstellung unterbrechenden, predigenden Hinweise oder Fingerzeige des Autors. Maria Edgeworth ließ die Charaktere und die Geschichte für sich selbst sprechen. In ihrem zweiten Roman Belinda (1801), der ein großes Gesellschaftsbild ihrer Zeit anstrebte, konnte sie jedoch diese Technik nicht aufrechterhalten. Dem ins Belehrende gewendeten Evelinathema der Fanny Burney zufolge wird aus der in das Gesellschaftsleben einzuführenden Heldin eine zwar fehlerfreie, aber durchaus nicht liebenswerte Figur, und das Interesse verschiebt sich auf ihre Anstandsdame Lady Delacour, die, von ihrem Gatten betrogen, ihrerseits ein diesen übertrumpfendes leichtes Leben führt, dann aber zum allgemeinen guten Ende eine unwahrscheinliche Bekehrung durchmachen muß. Die Charakterzeichnung der Delacour und der Dialog sind geschickt gehandhabt, aber ohne die irische Umwelt fehlte dem Edgeworthschen Romanschaffen die lebenspendende Kraft. Selbst in The Absentee, dem neben Castle Rackrent bedeutendsten Roman, der die soziale Problematik der von ihren (durch Aufseher verwalteten) Gütern abwesenden Grundbesitzern beleuchtet und 1812 als eine der Tales of Fashionable Life erschien (1. Serie 1809: Ennui, The Dun, Manoeuvring, Almeria; 2. Serie 1812: Vivian, The Absentee, Madame de Fleury, Emilie de Coulanges}, empfindet man die Gesellschaftsszenen des mit seiner Frau in London lebenden irischen Gutsherrn nur als 7

Works, 8 Bde. (1801), 11 Bde. (1830 u. ö.). - W. Roberts, Memoirs of the Life and Correspondence of H. M., 2 Bde. (1834), 4 Bde. (1838); M. G. Jones, H. M. (Cambr., 1952). 'Tales and Novels, 12 Bde. (1893; repr. Hildesheim, 1969); Castle Rackrent and The Absentee, EL; Castle Rackrent, ed. G. Watson, OEN (1964); Ormond, ed. A. N. Jeffares (Dublin, 1972), repr. Garland Series (N. ., 1979). - Briefe: Chosen Letters, ed. F. V. Barry (1931). - M. Butler, M. E.: A Literary Biography (Oxf., 1972).

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schwächere Burney-Wiederholung, während mit dem irischen Schauplatz, wohin der Sohn unerkannt zurückreist, um nach dem Rechten zu sehen, sofort frisches Leben in die Erzählung kommt. Ähnliches gilt auch von dem umfänglichen Roman Ormond (1817), der zur Feuerprobe und Lebenserziehung des Helden abwechselnd in Irland und in der Pariser Gesellschaft spielt, während der nach dem Tode ihres Vaters und Beraters geschriebene letzte Roman Heien (1833) bedeutungslos ist. Die in Edge worths Büchern öfter störende Belehrung ist bei JANE AUSTEN' (1775-1817) fast völlig in Komödienlächeln aufgelöst, wirkt dadurch aber literarisch um so subtiler. Zwar baute ihr erster, 1811 veröffentlichter, aber wie Pride and Prejudice und Northanger Abbey vor der Jahrhundertwende begonnener Roman Sense and Sensibility auf einem Edgeworth-Gegensatz auf, indem Elinor, die Vertreterin des Sense, in der Sensibility ihrer Schwester Marianne Romantik und unvernünftige Liebe geißelt; aber schon dieser schwächste ihrer Romane zieht den Leser unwiderstehtlich in den Bann seiner Welt, was das höchste Lob der Austenschen Kunst bedeutet, denn diese herkömmliche, altmodisch voreingenommene Welt des ländlichen gehobenen Bürgertums und Kleinadels ist, für sich genommen, eng und ereignislos. Sie ist kleinlich-vernünftig und selbstgerecht und übergeht, was ihre kleine Ordnung stören könnte: die erschütternden Leidenschaften ebenso wie das Völkergrollen der französischen Revolution. Jedoch enthüllte Jane Austen in dieser von der Kunst bisher keiner Beachtung gewürdigten Welt lächelnd die Komödie des Menschseins. Pride and Prejudice (1813), das menschlichste und humorvollste ihrer Bücher, zeigt ihre Kunst bereits auf der Höhe; es erzählt sich gleichsam von selbst, gestaltet aber auch den hohen Anspruch - zumal der weiblichen Seele auf Selbstverwirklichung durch persönlich verantwortete, auch das Gefühl befragende sittliche Entscheidungen. Hiermit klingt das Thema der Frauenemanzipation an, freilich eingebunden in ein den gegenseitigen Respekt der Partner forderndes Eheideal, das sowohl der Konvention liebloser Versorgungsehen (Charlotte Lucas und Mr. Collins) als auch romanzenhaft9

B i b l i o g r a p h i e : R . W. Chapman, J. .: A Critical Bibliography (Oxf., 1953); B. Roth and J. Weinsheimer, An Annotated Bibliography of J. A. Studies, 1952-72 (Charlottesville, 1973). - Novels, ed. R. W. Chapman, 6 Bde. (Oxf., 1923-54) [beste Ausg., seit 1975 auch pb.]; Einzelausgaben EL, WC, PB, OEN. Romanentwürfe: Lady Susan, The Watsons and Sanditon, ed. M. Drabble, PB (1974). - Letters, ed. R. W. Chapman (Oxf.,21952); Auswahl WC. - B i o g r a p h i e n : J. E. Austen-Leigh, A Memoir of J. A. (1870), ed. R. W. Chapman (Oxf., 1926 u. ö.); W. and R. A. Austen-Leigh, J. A.: Her Life and Letters (1913; N. ., 1965); E. Jenkins, J. A.: A Biography (1938 u. ö.). - K r i t i k : A. H. Wright, J. A.'s Novels: A Study in Structure (1953 u. ö.; PB); A. W. Litz, J. A.: A Study of Her Artistic Development (N.Y./Lo., 1965); N. Page, The Language of J. A. (Oxf., 1972); D. D. Devlin, J. A. and Education (1975); B. Hardy, A Reading of J. A. (1975) [ihr Beitrag zur Romangesch.]; B. J. Paris, Character and Conflict in J. A.'s Novels: A Psychological Approach (Detroit, 1978). S a m m l u n g e n : Critical Essays on J. A., ed. B. C. Southam (1968); Bicentenary Essays, ed. J. Halperin (Cambr, 1975). - H i l f s m i t t e l : F. B. Pinion, A J. A. Companion (1973).

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leichtsinnigen Entführungsgeschichten (Lydia und George Wickham) entgegengesetzt wird. Aber nicht mehr grundsätzliche Ansichten, sondern gelebte komische wie rührende - Schwächen, Träume und Bestrebungen stoßen zusammen, und wie aus den 'manners' Menschsein wird, wie Darcy seinen Familienhochmut und Elizabeth ihr Vorurteil gegeneinander ausspielen und zugunsten einer gereiften und natürlichen, Würde und Anmut verbindenden Haltung aufgeben, wird teils mit psychologischer Einfühlung dargestellt (Konzentration auf wenige Hauptfiguren und Annäherung an deren personale Perspektive durch Dialog, erlebte Rede u. ä.), teils aber auch - und vorherrschend - mit der künstlerischen Nüchternheit, der Grazie und Abstand haltenden Prosakunst eines Congreve. In dieser konträren, jedoch formsicheren Mischung, die als Verbindung und Variation der Romantraditionen Richardsons und Fieldings bezeichnet worden ist, liegt die erzählkünstlerische Eigenleistung Jane Austens begründet, mit der sie auf den späteren psychologischen Roman gewirkt hat. Allerdings unterscheidet sie sich von diesem durch die klassizistisches Stilgefühl verratende Proportion zwischen charakterzergliedernden, schildernden und erzählenden Teilen - unter denen die nicht zum Thema gehörige stimmungsvolle Naturbeschreibung der zeitgenössischen Literatur fast ganz fehlt - und durch eine bis heute unverbrauchte Frische und spielerische Anmut der Sprache. Die männliche Neigung zur Vergötterung eines Frauenbilds hat in dieser mitleidlos klaren Zeichnung keinen Platz, und der falsche romantische Zauber der empfindsamen und „gotischen" Romane wird in onhanger Abbey (gedr. 1818) durch das gleichmäßig helle Tageslicht des wirklichen Lebens als falsch und lächerlich verspottet. Dann folgte eine Pause; die drei letzten Romane sind bei aller Verve irgendwie milder. Die verschlungene Handlung von Mansfield Park (1814) war ernsterer Art und führte Jane Austen auf das ihr fremde Feld direkter Empfindungsaussprache. Sie durchbrach die eigene Unabhängigkeit und Objektivität ihren Gestalten gegenüber, unterließ ihr souveränes Lächeln, und damit wurde ihre Fanny Price, die der Inbegriff von romantischer Unschuld und Lieblichkeit werden sollte, ein kleines, leicht selbstgefälliges, ein wenig hölzernes Geschöpf. Die Verfasserin kehrte jedoch in Emma (1815) zu der ihr eigenen Komödiensphäre zurück, wozu die liebevoll-unerbittliche Zurechtweisung der allzu selbstsicheren Titelheldin in einer Reihe selbstverschuldeter Enttäuschungen Anlaß gab. Auch hier hat es Jane Austen in weiser Konzentration auf ihren Erfahrungsbereich vermocht, Allgemeinmenschliches und Allgemeingültiges zu sagen. Ihre fesselnde und vollkommene Zeichnung der Welt ohne Katastrophen und ohne Sterbeszenen macht auch ihr letztes Buch Persuasion (1818) zu einem der anziehendsten. Statt der gewohnten Objektivität kommt hier eine nachdenkliche Sympathie zu Wort. Die erneute Pride and Prejudice-Komödie läßt mehr Gefühlswerte zu, so daß man die Stimme der Verfasserin nach einer schweren Erfahrung wieder zu hören meint und ihre Genugtuung mitempfindet, der Heldin Anne gerecht zu werden. Auch in diesem Buch um die Liebe werden Takt und Geschmack des

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18. Jahrhunderts deutlich. Jane Austen hatte Gefühl für Form. Aber sie verstand, Handlung und Gestalten so zu handhaben, daß man das Baugerüst nicht sieht, nur das feinsinnig abgestufte Leben, das sich entfaltet. Damit ist das klassizistische, wenn auch schon empfindsamer werdende Nachspiel zu Ende, das dem romantischen „gotischen" oder Schreckensroman so lange gegenübergestanden hatte.

2. Der Schreckensroman10 Der gesteigerten Sensibilität entspricht in diesem Genre - neben den vielfältigen Landschaftseffekten der Mrs. Radcliffe - die Entdeckung verschiedener Nuancen des Schrecklichen und des - auch das Abstoßende einbeziehenden Schauerlichen, die nun als ästhetische Teilwirkungen gelten, was schon in Burkes Schrift über das Sublime vorbereitet worden und in Gedichten wie William Collins' Ode to Fear (s. S. 500) zum Ausdruck gekommen war. Die Anfänge der von französischen Vorbildern wie Abbe Prevost, Baculard d'Arnaud und deutscher Folklore gespeisten Gattung lassen sich bis auf HORACE WALPOLE (s. S. 539) zurückführen, dessen aus einem Traum gesponnene Geistergeschichte The Castle of Otranton (1764) nach des Verfassers eigenen Worten die Wirklichkeit und das Wunderbare zu einen unternahm. Damit waren der frei erfindenden Phantasie in den Bezirken des bisher realistischen Romans Herrschaftsrechte eingeräumt, und die bewußt 'Romance' genannte und der neueren 'Novel' gegenübergestellte Romanart mußte romantischem Kunstempfinden entgegenkommen, um so mehr, als das im Castle of Otranto gegebene Beispiel einer erst auf den letzten Seiten gelösten Verwicklungshäufung eine aus dem Drama entlehnte neue Spannungstechnik einleitete. Allerdings war es Walpole wie seinen Lesern nicht allzu ernst mit all den Wunderdingen und übernatürlichen Erscheinungen. Sein klassizistisch wacher Verstand sah darin weniger ein symbolhaftes Gestaltwerden erahnter und übernatürlicher Kräfte als neues Material - das natürliche Reagieren, besonders einfacher Menschen, auf Unerklärliches und Schreckliches -, aus dem sich eine spannende Geschichte entwickeln ließ. Aber diese Geschichte selbst war 10

F. S. Frank, The Gothic Novel: A Checklist of Mod. Criticism, in: Bull, of Bibl. and Magazine Notes 1973; D. J. McNutt, The 18th Cent. Gothic Novel: An Annotated Bibl. of Criticism and Selected Texts (Folkstone, 1975). - E. Reilo, The Haunted Castle: A Study of the Elements of Engl. Romanticism (1927) [Einzelmotive]; M. Praz (s.S. 569); M. Summers, The Gothic Quest: A History of the Gothic Novel (1938) [umfassend bis 1800]; D. P. Varma, The Gothic Flame (21966) [grundlegend]; K. Poenicke, Dark Sublime: Raum und Selbst in der amerikanischen Romantik (Heidelberg, 1972); G. Germann, Gothic Revival in Europe and Britain: Sources, Influences and Ideas (1972); C. A. Howells, Love, Mystery and Misery: Feeling in Gothic Fiction (1978). The Gothic Imagination: Essays in Dark Romanticism, ed. G. R. Thompson (Pullman, Wash., 1974). 11 Ed. W. S. Lewis, OEN (1964); zusammen mit Rasselas und Vathek in: Shorter Novels of the 18th Cent., EL.

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nicht glaubhaft; unterirdische Gänge und ein vom Himmel fallender Riesenhelm, blutende Standbilder und ein aus seinem Rahmen tretendes Bild, grausame Wüstlinge und ein Gespenstergerippe in Mönchskutte konnten, wenn sie nicht gruseln machten, nur zum Lachen reizen. So versuchte CLARA REEVE12 (1729-1807) in ihrem dasselbe Handlungsmuster des verbrecherisch geraubten und wiedergewonnenen Erbrechts wählenden Roman The Champion of Virtue (1777, in zweiter Auflage The Old English Baron genannt) zu zeigen, wie Walpole es hätte machen sollen. Statt der rohen, leicht lächerlich wirkenden Mittel wählte sie nur wahrscheinliche, wie Träume und geheimnisvolle Geräusche, die ihrer auf Gefühlswerte aufgebauten Erzählung Glaubwürdigkeit geben sollten. Im Grunde ist der ins 15. Jahrhundert zurückverlegte Roman eine moderne empfindsame Geschichte, nicht neuartiger als die historisch eingekleideten Memoirs of Sir Roger de Clarendon (1793) oder die Graf von Gleichen-Novelle The Exiles (1788). Clara Reeve, die in ihren Dialogen The Progress of Romance (1785) so beredt für die neue Kunst eintrat, fehlte wie Walpole das innere Verhältnis zum Übernatürlichen, das der gleichfalls im Klassizismus wurzelnde William Beckford in seiner auch den Effekt des Grotesken einbeziehenden History of the Caliph Vathek erwiesen hatte (s. S. 533). Aber der Schreckensroman war vorerst eine weibliche Angelegenheit und mehr gefühlvoll als schrecklich. Wie Clara Reeve verlegte SOPHIA LEE13 (1750-1824) die Handlung ihres teils empfindsamen, teils abenteuernden Romans The Recess (1785) in halbgeschichtliche Vergangenheit und flocht reichlich unheimliche und schreckensvolle Züge ein. Die gemeinsam mit ihrer Schwester Harriet geschriebenen Canterbury Tales (1797) bewiesen ihre romantische Bedeutung, da Harriets Kruitzner, The German's Tale das Vorbild von Byrons Werner wurde. Einflußreich war CHARLOTTE SMITH14 (1749-1806), die nach einem Erstling in der Art der Burneyschen Cecilia (Emmeline, 1788) zu stärkerer Verwendung von schreckhaften Szenen überging und in Ethelinde (1790), Celestina (1791) und The Old Manor House (1793) mit dem ausgeführten Landschaftshintergrund die romantische Szenerie einführte. Entscheidende Bedeutung gewann das romantische Milieu bei der Hauptvertreterin des Schreckensromans: Mrs. ANN RADCLIFFEIS (1764-1823). Die 12

The Old English Baron, ed. J. Trainer, OEN (1967); The Progress of Romance, 2 Bde. (Colchester, 1785; repr. N. ., 1930); The Exiles, or Memoirs of Count de Cronstadt, 3 Bde. (1788); Memoirs of Sir Roger de Clarendon, 3 Bde. (1793). 13 The Canterbury Tales, 5 Bde. (1797-1805); 2 Bde. (1832 u. ö.). 14 Emmeline, the Orphan of the Castle, ed. A. H. Ehrenpreis, OEN (1971); Ethelinde, or the Recluse of the Lake, 5 Bde. (1790; repr. 1814); Celestina, 4 Bde. (1791); The Old Manor House, ed. A. H. Ehrenpreis, OEN (1969). 15 The Novels, einband. Ausg. (1824; repr. Hildesheim, 1974); Posthumous Works, 4 Bde. (1833) [mit 'Memoir']. Die einzelnen Romane vielfach aufgelegt: Udolpho, ed. B. Dobree, OEN (1965); EL; Italian, ed. F. Garber, OEN (1968), WC (1981); Sicilian Romance (N. ., 1971); Romance of the Forest (N.Y., 1974); Castles of Athlin and Dunbayre (N.Y., 1972). - A Grant, A. R . : A B i o g r a p h y (Denver, 1951); M. Ware, Sublimity in the Novels of A. R. (Uppsala, 1963); E. B. Murray, A. R. (N. Y., 1972).

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ererbten und auch ihrem Werk anhaftenden handwerklichen Mängel - die klassizistisch-vernünftige Aufklärung des Wunderbaren am Schluß, die im glücklichen Ende zum Ausdruck gebrachte poetische Gerechtigkeit, die äußerlich bleibende historische Einkleidung und die Familienähnlichkeit der unter verschiedenen Namen in allen Romanen wiederkehrenden Charaktere - sind jedoch weniger fühlbar, weil eine geheimnisvolle Stimmung die Phantasie des Lesers gefangen nimmt. Schon in A Sicilian Romance (1790) sind die walpoleschen unterirdischen Gänge, Geheimtüren, Versenkungen, echohallenden Gewölbe und die Schreckenssituation der von dem adligen Wüstling im Schlosse eingemauerten Frau der Wahrscheinlichkeitskritik entzogen. Die langsame, umständliche, Steinchen zu Steinchen fügende Erzählweise steigert die ungeduldige Erwartung des Lesers aufs äußerste; die in gewissem Gegensatz zur Synästhesie der romantischen Lyrik stehende, für die ganze Schule bezeichnende Vereinzelung der Sinneseindrücke - Gesichtswahrnehmungen ohne die entsprechenden Gehörsempfindungen, Tastempfindungen im Dunkeln, unerklärliche Wahrnehmungen und Sinnestäuschungen - erwecken unbestimmte Furcht vor etwas Drohendem, und die völlig vom menschlichen Gefühl aus gesehene und eindrucksvoll beschriebene Phantasielandschaft vollendet die Verzauberung des Lesers. Die ereignisreiche Handlung des Romance of the Forest (1791) entwickelt das weiter, wenn auch für modernen Geschmack die Wälder allzusehr voller Räuber stecken, und die Ohnmächten und Empfindsamkeiten der Heldin sowie das rousseausche Lob des einfachen Lebens das Zeitbedingte des Schreckensromans ins Bewußtsein rufen. Das gilt auch für Ann Radcliffes bekannteste Werke Udolpho und The Italian und erklärt deren Erfolg. Denn die Mysteries of Udolpho (1794) sind zunächst ein empfindsamer Roman: die Erbin Emily d'Aubert fällt in die Hände des Räubers Montoni, der sie in seinem schrecklichen Schloß im Apennin gefangen hält; als es die Truppen der Republik Venedig belagern, entkommt sie und heiratet in ihrer südfranzösischen Heimat ihren totgeglaubten Jugendgeliebten. Die nie versagende Anziehungskraft solch melodramatischer Szenen wird erhöht durch die geschickte Verbindung mit den üblichen unheimlich wirkenden Dingen und einer bedeutenden und Stimmung schaffenden Landschaftsbeschreibung, die weitgehend Burkes Vorstellungen vom Erhabenen folgt, aber - wie in Mrs. Radcliffes Reiseschilderungen16 - in reicher Abstufung auch andere Tonlagen berücksichtigt und selbst für die großen Lyriker der Romantik eindrucksvoll war. Auch The Italian, or the Confessional of the Black Penitents (1797), das das antikatholische Zerrbild einer in das Italien des 18. Jahrhunderts verlegten düsteren Inquisition einbezieht, ist eine Geschichte zweier nach vielerlei Gefahren und Hindernissen vereinten Liebenden, deren Herzenskultur auch über elterlichen Titel- und Besitzstolz siegt. Unerklärliche Schrecken, Verbrechen, nächtliche Flucht aus dem Karmeliterkloster im Apennin und die darauf abgestimmte, die pittoresken 16

Vgl. A Journey Made in the Summer of 1794 (Dublin, 1795; repr. Hildesheim, 1975) [u. a. über Rheinland u. Seendistrikt].

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Halbdunkel-Ef f ekle und Übergänge betonende Ruinen-, See-, Berg- und Waldlandschaft, die mit der kultivierten Sensibilität der „schönen Seele" der Heldin gesehen wird, leihen dem „Italiener" ein romantisches Interesse. Der Roman brachte überdies mit dem Schurken Schedoni die erste und völlig aus der Phantasie erschaffene Verkörperung des von rätselhaften Leidenschaften umdüsterten Byrontyps, der von Byrons Lara bis zu Mussets Rolla in der Dichtung Mode war und mit dessen Zügen sich jedes romantische Selbstbildnis schmückte. Allerdings spielte da bereits der Einfluß des berüchtigten Ambrosia, or the Monk (1795) von MATTHEW GREGORY LEWIS" (1775-1818) herein, der als wahres Zeughaus des Schreckensromans bezeichnet werden kann. Lewis, der in Deutschland von Schillers Räubern, Bürgers Lenore und Kotzebues melodramatischen Stücken beeindruckt worden war, wovon sein Schauerdrama The Castle Spectre (1797) sowie die meist frei übersetzten Balladen- und Verserzählungssammlungen Tales of Terror (1799), Tales of Wonder (1801), Romantic Tales (1808) Zeugnis ablegen, verband die deutsche Balladenromantik mit den in Beckfords Vathek vorgezeichneten Zügen sadistischen Blutdurstes zu einer Radcliffe weit übertrumpfenden melodramatischen Geschichte. Sein Mönch ist ein verkappter Egoist, der, leicht verführt, der Sünde und dem Verbrechen verfällt, seine Seele verkauft und schließlich von dem mit der Versucherin im Bunde stehenden Teufel in schauriger Landschaft unter Donner und Blitz in den Abgrund gerissen wird. Die von Steigerung zu Steigerung forteilende Erzählung hat etwas Überwältigendes, obwohl die grobe Prosa, die grellen Stilmittel und die ziemlich gewöhnliche Phantasie bereits den Niedergang des Schreckensromans andeuten. Künstliche Reizsteigerungen wie die Beschreibung verfaulender Leichen und gepeinigter Körper, Blutschande, Vergewaltigung bei gleichzeitiger Tötung und die Gestalt des dämonischen Weibes, das sich in Mönchskleidern einschleicht, sowie grenzenlose Begierden und Lüste sind Zeichen dieser Entartung, in der sich freilich auch die Entdeckung einer Ästhetik des Bösen anbahnt. Vor seinem Verfall sollte jedoch der Schreckensroman noch mannigfache Bindungen eingehen, von denen die durch William Godwin vollzogene mit dem philosophischen oder soziologisch-revolutionären Roman am wichtigsten war. Wohl nach Voltaires Beispiel hatte ROBERT BAGEIS (1728-1801) die soziale Reformen befürwortende Liebesgeschichte Mount Hermeth (1781) geschrieben und in Barham Downs (1784) den Individualismus bekämpft. Eine umfassendere Kritik brachte dann der mit Mrs. Opies Rousseau-Gedanken 17

The Monk, ed. L. F. Peck (N. ., 1952 u. ö.); Castle Spectre (1798 u. ö.); Tales of Terror [Vers] (1801 u. ö., z. B. 1808); Tales of Wonder [Vers], 2 Bde. (1801 u. ö., z. B. 1869); Tales of Terror and Wonder (1883); Romantic Tales, 4 Bde. (1808). - Life and Correspondence, ed. M. Baron-Wilson, 2 Bde. (1839); L. F. Peck, A Life of M. G. L. (Cambr., Mass., 1961); J. J. Irwin, M. G. L. (Boston, 1976). 18 Novels [mit Scotts Vorreden], Ballantyne's Novelists' Library IX (1824); alle genannten Romane und Man as he is, The Fair Syrian und James Wallace in: The Novel 1720-1805, Garland Series (repr. N.Y., 1979). - P. Faulkner, R. B. (Boston, 1979).

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sich berührende Roman Hermsprong (1796), in dem ein unter Wilden aufgewachsener Beobachter die politischen und sozialen Wirren Europas beurteilt. Umstürzender und begeisterter versuchte THOMAS HoLCROFT19 (1745-1809), der in Alwyn (1780) seine eigenen Schicksale in einer herumziehenden Schauspielertruppe dargestellt hatte (vgl. die von Hazlitt vervollständigten Memoirs, 1816), in dem Briefroman Anna Sl.Ives (1792, fortgesetzt durch die zwei Bände Hugh Trevor, 1794 und 1797) ein revolutionäres Programm in Handlung umzusetzen: Erst auf der Grundlage der allgemeinen Gleichheit könne der natürliche Mensch der Zukunft gedeihen, das Eigentum müsse also abgeschafft werden. In bewußter Auflehnung setzt sich Anna über die als Tyrannei bezeichneten Vorurteile der Familie, der Gesellschaft und der Welt hinweg. Diesen Gedanken, die in den Memoirs of Bryan Perdue (1805) durch das Aufbegehren gegen Todesstrafe und Gefängnismißstände ergänzt wurden, hatte WILLIAM GoowiN20 (1756-1836) in dem Lehrgebäude seiner Political Justice (s. S. 562) wissenschaftlichen Ausdruck gegeben. Wenn er nun selbst mit Romanen hervortrat (Caleb Williams, 1794; St. Leon, 1799; Fleetwood, 1805; Mandeville, 1817 u. a.), so verband er den Protest gegen Fabrikarbeit, Ehegesetzgebung, grausame Gefängnisse mit der Psychologie des Verbrechers. Als erster hatte Dr. John Moore21 in seinem Zeluco (1786) eine äußere Verbindung des satirischen Verbrecherromans von der Art des Fieldingschen Jonathan Wild mit dem Schreckensroman geschaffen, indem er ein Scheusal in die Alltagswelt hineinstellte; Caleb Williams, der um einen Mord seines Herren wissende Diener, der dieses Mitwissens halber gehetzt wird, bis er in Wahnzustände verfällt, steigerte den Verbrecherrroman zu einem seelischen Schreckensroman. Denselben Eindruck erreichte MARY WOLLSTONECRAFT-SHELLEY22 (1797-1851) mit der Geistergeschichte Frankenstein (1818) 19

Alwyn, or the Gentleman Comedian, 2 Bde. (1780); Anna St.Ives, 7 Bde. (1792); ed. P. Faulkner, OEN (1970); The Adventures of Hugh Trevor, 6 Bde. (1794-97); ed. S. Deane, OEN (1973); Memoirs of Bryan Perdue, 3 Bde. (1805), Garland Series (repr. N.Y., 1979). - Memoirs, ed. W. Hazlitt, 3 Bde. (1816); ed. E. Colby, 2 Bde. (1925); ed. P. P. Howe (Hazlitt's Works III, 1932). 20 Pol. Justice (s. S. 562); Things as they are, or the Adventures of Caleb Williams, ed. D. McCracken, OEN (1970); St. Leon, a Tale of the 16th Cent. (N.Y., 1972); Fleetwood, or The New Man of Feeling, Garland Series (repr. N.Y., 1979); Imogen: A Pastoral Romance from the Ancient British (repr. N.Y., 1963); Italian Letters, or The History of the Count de St. Julian, ed. B. R. Pollin (Lincoln, Nebr., 1965). - F. K. Brown, Life of W. G. (1926); P. Ramus, W. G., der Theoretiker des kommunistischen Anarchismus: Eine biographische Studie mit Auszügen aus seinen Schriften (Leipzig, 1907); Biographie von D. Fleisher (1951); M. R. G. Grylls, W. G. and His World (1953). 21 Zeluco, in: Mrs. Barbauld's British Novelists Bd. 34/5 und Bd. 5 der Works, 7 Bde. (Edinburgh, 1820). 22 Frankenstein, or the Modern Prometheus, ed. M. K. Joseph, OEN (1969); EL; PB (Three Gothic Novels, mit Castle of Otranto und Vathek), ed. P. Fairclough (1969); Tales and Stories, ed. R. Garnett (1891; repr. Boston, 1975); Coll. Tales and Stories, ed. C. E. Robinson (Baltimore, 1976); The Letters of M. W. S., ed. F. L. Jones (Baltimore, 1947). - Life and Letters by F. A. Marshall, 2 Bde. (1889); J. Harris, The Woman Who Created Frankenstein: A Portrait of M. S. (N.Y., 1979).

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durch das Einbeziehen naturwissenschaftlicher Phantasien. Den Vonvurf des Romans bildet die in Byrons Villa am Genfer See erörterte Idee eines künstlich geschaffenen Menschen, der, weil ihm jedes Verständnis für seine dumpfen guten Absichten vorenthalten wird, als Verkörperung des Bösen im Menschen zu einem Ungeheuer wird, das seinen Erzeuger verdirbt. Der amerikanische Vertreter des Schreckensromans, CHARLES BROCKDEN BROWN23 (1770-1810), steigerte die Unmittelbarkeit, indem er die unwirklichen Charaktere vor einen wirklichkeitsnahen Hintergrund stellte, sei es das Bürgertum Philadelphias wie in seinem besten Roman Wieland, or the Transformation (1798), sei es das Grenzerleben und die indianische Welt (Edgar Huntly, or the Memoirs of a Sleep-Walker, 1799) oder die Seuche des Gelben Fiebers (Arthur Mervyn, or the Memories of the Year 1793, 1799). Wesentlicher und romantischer als der bewußt an die Stelle von Burgen und Kerkern gesetzte amerikanische Schauplatz und die Cooper vorwegnehmenden Erlebnisse mit den Indianern (in Edgar Huntly) ist die eingestandenermaßen Godwin nachahmende psychologische Beleuchtung abnormer Seelenzustände. In Wieland wird das besonders wirksam durch das analytische Registrieren der den Briefbericht schreibenden Ich-Erzählerin, der Schwester des durch Selbstmord endenden Unglücklichen, die zwar vor dem Enormen, das sie berichtet, zittert, die aber (in Richardsons Manier) mit Sensibilität der Verpflichtung zur Wahrheit und Darlegung einer Moral folgt und damit zur wichtigen Gegenfigur wird, die sich nicht in den Strudel der allgemeinen Verwirrung reißen läßt. Anders verfährt der mit guten Absichten in das Geschehen eingreifende, aber nur Unheil anrichtende Erzähler Edgar Huntly, der sich und den zunächst unzureichend informierten Leser in ein Labyrinth von Ereignissen und Bewußtseinsausleuchtungen verschiedener Zeitstufen verwickelt. Dabei geht es zum einen um die sensationelle Lebensgeschichte des in Amerika untergetauchten, von Huntly zu Unrecht eines Mordes verdächtigten Clithero Edny, der in Irland nach einem Schock einen wahnhaften Mordversuch an seiner Gönnerin unternommen hat, um sie vor Seelenqual zu bewahren, zum anderen um Huntlys eigene pathologische Zustände und z. T. blutige Such-, Verfolgungs- und Fluchtabenteuer, in denen das Interesse jedoch mehr der Psychologie des Schreckens als dem äußeren Geschehen gilt. Brown fesselten die Nachtseiten der Natur: belastende Vererbung, geheimnisvoller Somnambulismus, das unerklärbare, aus dämonischem Zwang begangene Verbrechen. Eindrucksvoll geschilderte Episoden täuschen darüber hinweg, daß der Aufbau der Romane schwach und die verschlungene, oft reißerische Handlung 23

The Novels, 6 Bde. (Philad., 1887; repr. 1968); The Novels and Related Works, Bicentennial Edn. (Kent, O., 1977 ff. [i. E.]). Mehrere Einzelausgaben, z. B. Wieland, ed. F. L. Pattee (N.Y., 1926 u. ö.) [mit biogr. Einl.]; edd. S. W. Reid et al. (Kent, O., 1977); Huntly (Port Washington, N.Y., 1963); ed. D. Stineback (New Haven, 1973); Mervyn, ed. W. Berthoff (N. Y., 1962); Ormond, ed. E. Marchand (N. Y., 1937,21962). - B i o g r a p h i e von W. Dunlap, 2 Bde. (Philad., 1815); von H. R. Warfei, C. B. B. (Gainesville, Fla., 1949; repr. N.Y, 1974). - D. A. Ringe, C. B. B. (N.Y., 1966); A. Kimball, Rational Fictions: A Study of C. B. B. (McMinville, 1968).

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nicht gemeistert ist. Sind Browns Schreckensromane den englischen kaum ebenbürtig, so haben sie doch das psychologische Spektrum der Gattung erweitert und sind u. a. von Byron und Shelley stark beachtet worden. Damit schienen alle Spielarten des künstlerisch zweitrangigen Schreckensromans erschöpft, als der mit der Schule nur lose zusammenhängende, absonderliche Geistliche CHARLES ROBERT MATURIN 24 (1782-1824) mit seinem Melmoth the Wanderer (1820) das komplexe Meisterwerk der Gattung schuf. Der Faust, Mephisto und den Ewigen Juden in einer Gestalt zusammenfassende Melmoth hat sich vom Teufel Unsterblichkeit erkauft und sucht nun eine Seele, die mit ihm sein zum Fluch gewordenes Schicksal tauschen will. Die Folge von sechs Geschichten, deren Titelhelden in ihrem Unglück jeweils vergeblich der die Augenblicksnot lindernde Tausch angeboten wird, gestaltet sich zu einer Folge von Tragödien, verknüpft durch die im Unglück übermenschliche Figur des ewig ruhelosen Wanderers, dessen ungeheurer Schatten über alles Geschehen fällt. Maturin, ein Kenner satanischer Grausamkeiten, besaß die Fähigkeit, dunkle und gehemmte Gefühle auszudrücken darunter die sadistische Lust an politischer, sozialer, physischer und vor allem psychischer und religiöser Quälerei (z. B. in den drastisch verzeichneten katholischen Institutionen der spanischen Inquisition und des Jesuitenordens und im englischen Irrenhaus Bedlam) sowie die perverse „Theologie" einer Entsühnung durch das Quälen anderer, die als Feinde der Kirche bezeichnet werden. Dabei gelang es Maturin auch, den Zustand des seelischen Erschauerns vor dem nur geahnten, unsichtbar bleibenden Schrecklichen zu vergegenwärtigen. Das geschieht etwa in einer der interpolierten Geschichten, der bekannten Tale of the Indians', die von dem unschuldigen Mädchen Immalee, dem Symbol unkorrumpierter, selbstlos liebender Religiosität, und ihrem dämonisch sündhaften Liebhaber Melmoth erzählt, der auf tragische Weise unfähig ist, das Gute zu erkennen und Immalee mit seiner abgrundtiefen Verzweiflung zu verderben sucht. Bei alledem hat Maturin Gefühl für Stil, woran es allen Vertretern der Gattung außer Beckford gebrach. In den stoßweisen Rhythmen und flammenden Bildern seiner Prosa und in der komplizierten Darbietungstechnik durch verschiedene Erzählerfiguren fand er den angemessenen Ausdruck einer vor dem drohenden Abgrund erbebenden Phantasie. Unbeschadet der Weitschweifigkeit haben Künstlerurteile von Hugo bis Baudelaire und von Thackeray bis Wilde die Größe dieses Romans bezeugt. Maturin hatte sein letztes Wort gesprochen; sein zweiter Roman The Albigenses (1824) ist nur eine Bestätigung, daß die größere Erzählkunst Scotts den Schreckensroman abgelöst hatte. 24

Melmoth, ed. D. Grant, OEN (1968); ed. A. Hayter, PB (1977); The Albigenses: A Romance (N. ., 1974); The Fatal Revenge (N. ., 1974); The Wild Irish Boy (N.Y., 1977); Bertram (Tragödie] (1816 u. ö.). - D. Kramer, C. R. M. (N.Y., 1973) [Ei n f.]; C. Fierobe, C. R. M.: L'Homme et l'ceuvre (Paris, 1974); W. Schölten, C. R. M.: The Terror-Novelist (Amsterdam, 1933).

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3. Scott Das Schaffen von Sir WALTER Scorr25 (1771-1832), das - neben dem Byrons der englischen romantischen Schule europäische Geltung errang, zeigt eine bemerkenswert folgerichtige Entwicklung. Indem Scott von der Ballade zur Verserzählung und dann zum Prosaroman überging, folgte er nicht nur hellhörig den Wandlungen des Publikumsgeschmacks, sondern erschloß gleichzeitig neue Stoffquellen, welche die neuen Bedürfnisse der nach den napoleonischen Kriegen erheblich verbreiterten und anders zusammengesetzten Leserschichten befriedigte. Die drei Stufen der literarischen Entwicklung Scotts müssen in ihrem inneren Zusammenhang gesehen werden. Im ersten Abschnitt (1796-1805) trat Scott als Sammler, Herausgeber und Übersetzer hervor. In dieser Zeit verband sich sein Interesse an den Balladen des schottisch-englischen Grenzgebiets mit der Begeisterung für deutsche Literatur. 1792 lernte er in Edinburgh zusammen mit einigen Freunden Deutsch; in dem Edinburgher Freundeskreis, dem auch der schottische Philosoph Dugald Stewart angehörte, wurde er mit der Taylorschen Übersetzung von Bürgers Lenore bekannt. William Taylor of Norwich26 (1765-1836), der schon Lessings Nathan und Goethes Iphigenie übersetzt hatte, war damals der bedeutendste Vermittler deutscher Literatur. In zahlreichen Artikeln, die er 1828-30 als Historic Survey of German Poetry zusammenfaßte, versuchte er, ein richtigeres Bild der deutschen Literatur zu geben, als es der Schreckensroman und die Kotzebuemode der melodramatischen Schicksalsdramen vermittelt hatten. 1794 las Mrs. Barbauld seine Lenoreübertragung in Stewarts Haus, und der vierundzwanzigjährige Scott war von der eigenartigen Mischung von Sinnlichem und Übersinnlichem und dem eindringlichen Klang des Kehrreims so gepackt, daß er eine eigene Übersetzung verfaßte, die er 1796 zusammen mit dem als 25

B i b l i o g r a p h i e : J. C. Corson (Edinb., 1943; N.Y., 21969) [Sek.lit.]; K. Gamerschlag, Sir W. S. u. d. Waverley Novels (Darmstadt, 1978) [Forsch.ber.]. - Poetical W o r k s , ed. J. L. Robertson (Oxf. Edn., 1904 u. ö.); Selected Poems, ed. T. Crawford (Oxf., 1972). - The W a v e r l e y N o v e l s , Edinb. Edn., 48 Bde. (1901-03), Oxf. Edn., 24 Bde. (1912 u. ö.); alle bedeutenden Romane in EL, CC, Nelson Classics u. a. billigen Ausgaben, Waverley textkrit. in PB. - M i s c e l l a n e o u s Prose of Sir W. S., 30 Bde. (1834-71), 3 Bde. (1847); Lives of the Novelists, EL; Sir W. S. on Novelists and Fiction, ed. I. Williams (1968). - L e t t e r s , ed. H. J. C. Grierson, 12 Bde. (1932-37; . .,21971). -Journal, ed. W. E. K. Anderson (Oxf., 1972). - B i o g r a p h i e von J. G. Lockhart, 7 Bde. (Edinb., 1837/8), 10 Bde. (1839; 21956), gekürzt EL [lit. bedeutend, s. S. 658]; E. Johnson, Sir W. S., the Great Unknown, 2 Bde. (1970) [maßgeblich]; D. Daiches, Sir W. S. and his World (1971) [illustriert]. - K r i t i k : A. Welsh, The Hero of the Waverley Novels (New Haven, 1963 u. ö.); A. C. J. Cockshut, The Achievement of W. S. (N.Y., 1969); D. D. Devlin, The Author of Waverley: A Critical Study of W. S. (1971); D. Brown, W. S. and the Historical Imagination (Lo./Boston, 1979). S a m m l u n g e n : W. S.: Modern Judgements, ed. D. D. Devlin (1968). - H i l f s m i t t e l : P. Bradley, An Index to the Waverley Novels (Metuchen, N.J., 1975). 26 Memoir of the Life and Writings of W. T by J. W. Robberds, 2 Bde. (1843). Über die deutsch-englischen literarischen Beziehungen s. S. 575, Anm. 20.

II. Der Roman

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The Chase' übersetzten Wilden Jäger veröffentlichte. Sie zeigt bereits Scotts charakteristischen Hang zur beschreibenden Ausschmückung des Szenenbilds. Diese Übersetzungstätigkeit setzte er mit gutem Geschmack fort. Während M. G. Lewis außer einer Übersetzung von Schillers Kabale und Liebe (The Minister, 1797) nur modischen Größen seine Aufmerksamkeit schenkte, wandte sich Scott erstaunlich früh dem größten deutschen Dichter zu und übertrug die erste Fassung von Goethes Götz von Berlichingen (1799), wobei ihn allerdings nur die Ritterromantik anzog. Als Dichter eigener Balladen ist Scott nicht hervorgetreten, wohl aber als Übersetzer deutscher und Sammler englischer Balladen. Seine dreibändige Minstrelsy of the Scottish Border (1802/3) ergänzte Percys Sammlung, wie er auch, trotz Ritsons leidenschaftlicher Kritik an Percy, dessen auswählendes und besserndes Verfahren anwandte. Das hatte seine Verdienste, denn Scott war ein größerer Dichter als Percy, aber viele Balladen wurden durch solche Bearbeitung ihrer urtümlichen Kraft beraubt. Scott war es nicht um philologische Herausgabe zu tun, sondern um Erschließung der alten Ballade für die Dichtung. Bezeichnend dafür ist die erweiternde Bearbeitung von Thomas the Rhymer' zu einer Art Verserzählung mit einem der alten Ballade fremden Aufwand an Szenerie. Dieser Weg führte zur zweiten dichterischen Epoche Scotts (1805-1814), in der die Balladenform sich als zu knapp für eine dem Zeitgeschmack entsprechende Ausmalung erwies. Aus dem von der Gräfin Dalkeith erteilten Auftrag, die Borderlegenden von Gilpin Horner zur Ballade zu gestalten, entstand der Lay of the Last Minstrel (1805), der den ersten Bucherfolg der Romantik brachte. Es war ein Versuch, Geist und Schauplatz der Grenzballaden mit einer Rittergeschichte zu verweben, deren „antiquarische" Reize in modernen Versen neues Leben erhalten sollten. So stellt diese Geschichte von Krieg und Liebe keine allzu hohen Anforderungen an die Leser. Sie ist ein bunter Aufzug von Rittern, Burgfrauen, Mönchen und Freibeutern in einem Naturrahmen, der bebaute Täler und wilde Hochlande nebeneinander zeigt, „romantisch" gemacht durch eine Zauberin, einen Zwerg und einen nächtlichen Besuch in Melrose Abbey, dessen Ruine dadurch zu einer Art von schottischem Nationalheiligtum wurde. Das Ganze ist frisch erzählt, in einfacher Sprache mit hallenden Reimen und raschem, mitreißendem Rhythmus. Dieses in Anlehnung an die alten Versromane gefundene Maß, das ohne schematische Strophenabsetzung in zwei- oder dreifach reimende Vierheber einzelne durch Reime verbundene Dreiheber einmischte und durch zahlreiche eingefügte Lieder eine nahezu unbegrenzte Freiheit des Dichtens gewährleistete, kehrt in Marmion (1808), Lord of the Isles (1815) und Bridal of Triermain (1813) wieder, während in The Lady of the Lake (1810) und in Rokeby (1813) die kurzen Reimpaare vorherrschen, denen Scott trotz des raschen Ganges oft eine geballte Ausdrucksweise verleihen konnte. Diese Lays, deren künstlerischer Reiz in den farbigen Einzelbildern liegt, sind heute vergessen. Literaturgeschichtlich sind sie interessant als Übergangsform; obgleich noch in Versen geschrieben, sind sie stofflich bereits auf dem Wege, den Scott später in den Prosaromanen erfolgreich beschritten hat. Mit Ausnahme von

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'Bridal of Triermain' sind in ihnen historische Motive aus der englischen und vor allem aus der schottischen Geschichte gestaltet, so etwa in 'Marmion' die Schlacht auf dem Flodden Field, in 'Lord of the Isles' der Kampf des Robert Bruce gegen die Engländer im 14. Jahrhundert und in 'Rokeby' die Zeit nach der Schlacht von Marston Moor. Solchen Stoffen waren Geist und Umfang der gebundenen Form der Lays kaum mehr gewachsen. So erklärt Scott in den Vorworten zu den Waverley Novels, daß er sich von der Verserzählung nichts mehr verspreche. Das war aber zu einer Zeit, in der Byron mit den leidenschaftlichen türkisch-griechischen Verserzählungen seinen literarischen Triumphzug begann, und Scott gab ihm den Weg frei. Jedoch hat Scott in den Lays seine vielfach Burns vergleichbare Gabe als Liederdichter erwiesen. Seine klare Art konnte Jagd, Sport und Abenteuer frisch und herzlich besingen ( Waken Lords and Ladies gay; It was a Stag March, march Ettrick and Teviotdale\ und in der elegischen Dichtung traf er den unwiderstehlichen Klang der Balladen und Volkslieder (Pibroch; Coronach; Maid of Neidpath; A Weary lot is thine . . .; Proud Maisie). Seine Schaffenskraft voll zu entfalten vermochte Scott erst auf dem von ihm gefundenen Feld des historischen Romans27, für den es zwar einige historisierende Vorläufer gab - schon etwa Walpoles „gotischen" Roman oder Maria Edgeworths Irland-Romane -, den aber erst er als eigene literarische Gattung etablierte. So wurde seine dritte Schaffensepoche (1814-32) die bedeutendste. Waverley (1814), der die Reihe der Romane eröffnete, läßt das Verfahren bereits klar erkennen. Indem Scott einen Ausschnitt aus der schottischen Geschichte des 18. Jahrhunderts (die jakobitischen Aufstände) wählt, hält er sich (wie schon der Untertitel 'It is sixty years since' betont) auf der nur etwa zwei Generationen entfernten Grenze zwischen Geschichte und Gegenwart, was dem Leser den Zugang erleichtert. Dazu kommt der von den Nachfolgern oft übernommene Kunstgriff, die großen geschichtlichen Persönlichkeiten im Hintergrund zu halten - wodurch die Gefahr historischer Verzeichnung verringert wird - und eine etwas verschwommene Leitfigur (Waverley) zu erfinden und sie sowohl in ihrem detailliert dargestellten privaten Lebensbereich wie zwischen politischen Parteiungen, feindlichen Fronten und verschiedenen Landesregionen agieren zu lassen. Im Zentrum wird nicht die Historie, sondern ein Spielraum des Persönlichen wirksam, der lebensvoll und mit romanhafter Phantasie - auch nach dem Muster alter Abenteuer- und Liebesromanzen - gestaltet werden kann, so daß Scott immer primär Erzähler, nicht Geschichtsschreiber ist. Außerdem wird hierdurch die Möglichkeit geschaffen, den Leser aus der Erlebnisperspektive des „mittleren Helden" glaubhaft in die verschiedenartigsten Epochen, Landschaften und 27

Zur Gattungsgesch. u. Rolle Scotts s. A. Fleishman, The English Historical Novel: W. Scott to V. Woolf (Baltimore/Lo., 1971); H.-J. Müllenbrock, Der histor. Roman d. 19. Jh. (Hdbg., 1980); I. Schabert, Der histor. Roman i. England u. Amerika (Darmstadt, 1981) [Typologie]; vgl. auch G. Lukäcs, Der histor. Roman (Neuwied/Bln., 1955 u. ö.) [wichtiger, jedoch auf das Gesellschaftliche beschränkter Realismusbegriff]; zum amerik. hist. Roman s. S. 665f., Anm. 49).

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Situationen, auch solche stark stimmungshaltiger, exotischer und romanzenhaft unwahrscheinlicher Art, einzuführen. Die eindrucksvolle Wirklichkeit dieser Situationen war dabei ebenso durch die genaue Zustandsbeschreibung gewährleistet wie durch die Fülle lebendiger Nebenfiguren, unter denen die Mundart redenden Hochländer besonders naturnah wirkten, ferner durch die Wahl eines den Ereignisrahmen abgebenden bewegungs- und spannungsreichen historischen Krisenmoments, hier des scheiternden Versuchs des Prätendenten Charles, mit Hilfe der Hochländer die Königskrone für die Stuarts von den regierenden Hannoveranern zurückzugewinnen. Der Roman hatte großen Publikumserfolg; weder dem Verfasser noch den Lesern war zunächst bewußt, daß damit die neue Gattung des historischen Romans geschaffen war. Scott, der für seine Methode ohne Vorläufer war, lernte die Charakterisierungskunst vom Frauenroman, die Spannungstechnik vom Schreckensroman, das eigentlich Historische aber erwuchs aus seiner schottischen Heimatliebe, die an die Stelle der herkömmlichen Moral tritt. Seine Leidenschaft war nicht die des Moralisten, sondern die des Beobachters, der in Vergessenheit geratene Personen und Bräuche im Bilde der Kunst erhalten wollte. Geschichte hieß ihm also zunächst die noch durch elterliche Überlieferung und durch die Stimmen seiner Vorfahren erfaßbare nahe Vergangenheit, die keine gelehrten Studien bedingte. In den nächsten drei Romanen verzichtete er sogar auf den historischen Schauplatz und begnügte sich mit der Zeichnung des Lebens der schottischen Tieflande. Dabei gelangen ihm in Guy Mannering (1815) die ersten großen Charakterschöpfungen: Dominie Sampson und Dandie Dinmont. Zugleich drang mit Astrologie und Weissagung das Übernatürliche ein, das der Dichter jedoch in weiser Erkenntnis seiner Befähigung den sichtbaren Dingen unterordnete, dadurch den vom Schreckensroman übersättigten Lesern den Eindruck gebend, daß er sich nicht unredlicher Mittel um der Wirkung willen bediene. Der Roman ist einer der besten und interessantesten, die Scott geschrieben hat; nur die Verwicklung ist schwach wie stets - mit einziger Ausnahme von Ronan's Well. In dem dritten Roman The Antiquary (1816), der satirisch den Schwindel der Alchimie bloßstellt, ist so gut wie keine Verwicklung, und der Schluß ist, wie so häufig, eilig hingeschrieben. Aber die Charakterzeichnung des Titelhelden und Edie Ochiltrees, die Szenen in den Ruinen von St. Ruth's und die Rettung von Sir Arthur und lsabel sind einzigartig. Diese drei Romane (den mißlungenen Black Dwarf [1816] kann man beiseite lassen) stellen die drei Arten dar, die Scott nie erweiterte, die er aber später geschickt vermischte: den historischen Roman, die das Alltagsleben darstellende Novel of Manners und den frei erfundenen abenteuernd-romantischen Roman. In Rob Roy (1818) tauchte das Geschichtliche wieder auf. Die gut erzählte Geschichte mit der Fülle von Charakteren und der reichen Szenenfolge zeigt die gleiche Höhe wie Waverley, arbeitet aber neben dem Lokalkolorit (u. a. Glasgows und des schottischen Hochlandes) den sozialen Übergang und die persönliche Entwicklung des jungen Francis Osbaldistone vom poesiebeflissenen Londoner Großkaufmannssohn zum kulti-

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vierten Adligen heraus, der - insofern Zeichen des allgemeinen historischen Fortschritts - den Platz seiner heruntergekommenen Verwandten, des ungehobelten nordenglischen Landjunkers Sir Hildebrand Osbaldistone und seiner Söhne, einnimmt. Auch in der Reihe der folgenden Romane ist Scott bestrebt, durch fortgesetzten Wechsel der zeitlichen und räumlichen Szenerie das Interesse des Lesepublikums wachzuhalten. Eine künstlerische Entwicklung läßt sich im Werk Scotts nicht aufzeigen, doch gelten gemeinhin Old Mortality (1816) und The Heart of Midlothian (1818) als seine besten Romane. Ersterer ist der lebendigste und vielseitigste, unvergeßlich durch das Charakterbild von Claverhouse, der andere ist berühmt durch die Figur der Jeanie Deans und die im nächtlichen Angriff auf das Gefängnis gipfelnde Schilderung der sog. Porteous Riots. Diese Bilder aus dem Leben der Bauern, Bürger und Fürsten waren Scotts eigenstes Feld und nicht die „gotische" Balladenwelt der Bride of Lammermoor (1819), die zu einem mißglückten tragischen Schluß verleitete. Aber Scott irrte nie lange, und A Legend of Montrose (1819) kehrte trotz des romantisch klingenden Titels zum Kriegsthema und zur wirklichen Welt des schottischen Lebens zurück. In der nun folgenden, in den Jahren 1820-25 entstandenen Romangruppe kamen England und das Mittelalter als Stoffbereiche hinzu. Hier ist die große Porträtgalerie der Fürsten und Königinnen: Coeur de Lion, Mary Stuart, Elizabeth, James I, Louis XI. Es sind die Werke, die wegen der breit aufgerollten historischen Übersichtsbilder die Welt am meisten fesselten, wenn auch literarische Kritik betonen muß, daß Scotts Griff um so unsicherer wird, je weiter er sich von seiner Zeit entfernte. Ivanhoe (1819), mit Froissartstudien sorgsam unterbaut, führte in die Zeit der Normannen und Angelsachsen zurück, oft mehr fesselnde Jungengeschichte als menschlich interessierender Roman, aber bedeutsam durch die Einführung eines altertümelnden Dialogstils, der die Lebendigkeit der Trachten- und Sittenbilder unterstützte. Der Erfolg verlockte zu neuen Versuchen, und in den folgenden vier Romanen abgesehen von dem unbedeutenden The Pirate (\ 822) - drang Scott ins 16. Jahrhundert ein: The Monastery (1820), unglücklich in der Behandlung des Übernatürlichen, aber glanzvoll in der Beschreibung der schottischen Schauplätze (Glendearg, Avenel), The Abbot (1820), berühmt durch die Mary Stuart-Szenen, Kenilworth (1821), mit der balladenhaften Geschichte Amys, deren Schicksal die Königin Elizabeth kreuzt, und als eine Art Fortsetzung dazu The Fortunes of Nigel (1822), die, an Farbigkeit, Schwung und Schauprunk Ivanhoe gleichkommend, die höchste Leistung dieser Gruppe darstellen. Nach dem schwachen, den Popish Plot behandelnden Peveril of the Peak (1822) suchte er nochmals neues Gebiet zu erobern. Quentin Durward (1823) greift auf das Festland über und schildert, auf Commines gestützt, das Frankreich Ludwigs XI. in fesselnden, wenn auch allzu selbständig hervortretenden Einzelszenen. Nach diesem Ausflug ins 15. Jahrhundert bringt St. Ronan's Well (1824) einen meisterhaft aufgebauten Sittenroman aus dem 19. Jahrhundert, der sich zu einer Intrigentragödie zuspitzt. Nun stieg das Schaffen ins Ungeheuerliche, ab fünf Uhr früh saß Scott täglich am

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Schreibtisch, um eine Millionenschuld abzutragen, die er beim Zusammenbruch seiner Verlagsfirma in ritterlicher Weise auf sich genommen hatte. 1824/25 erschienen Redgauntlet, ein Jakobitenroman, der noch einmal den ganzen Reichtum seiner Schilderung von Szenen, Figuren und Skizzen zusammenfaßt, und die Kreuzzugsgeschichten The Betrothed und The Talisman. In der dritten und letzten Gruppe aus den Jahren 1826-32 suchte er sogar nochmals neue Stoffgebiete. Woodstock (1826) ist seine Geschichte des Bürgerkriegs, nachlässig in Bau und Handlungsführung, aber die Charaktere, der Dialog, die bunten Szenen sind so gut wie je. Auch The Fair Maid of Perth (1828) ist besonders in der Darstellung der Hochlandcharaktere kraftvoll und echt, die Eröffnung sogar ungewöhnlich straff. Gewiß zeitigten Krankheit und Überarbeitung ein Ermüden seiner Hand, aber kaum einer dieser letzten Romane ist ein völliger Fehlschlag (wichtig u.a. Anne of Geierstein, 1829; Count Robert, 1832, Castle Dangerous, 1832). Er schuf eine Welt so reich an Gestalten wie die Balzacs, wenn auch nicht so überzeugend, so bunt wie die Chaucers, wenn auch nicht so groß, und in gewissem Sinne unvergänglich wie diese, trotzdem aber von der Zeit berührt. Wir, die wir durch die realistische Schule gegangen sind, stoßen uns daran, daß der Autor, an sich einer der objektivsten, so oft dazwischengreift, daß Monolog und Dialog so oft fern von der Wirklichkeit sind. Wir stoßen uns daran, daß eine ausgleichende Vorsehung die Geschichte zu einem gefühlvoll guten Ende führt, denn diese herkömmlichen Liebesgeschichten scheinen uns schlecht in die sonst wirklichkeitshelle Welt Scotts zu passen. Er betont, im Leben sei die Tragödie nicht die Regel, sondern die Ausnahme; da aber die drei einzigen nicht mit einem guten Schluß endenden Romane (Lammermoor, Kenilworth, St. Ronan's Well) wirklichkeitsfremd sind, so lag die Tragik wohl jenseits seiner Fähigkeit. Wir stoßen uns ferner an seiner Auffassung der Geschichte. Zwar ist sie oft mit der Sorgfalt des Chroniklesers und der Liebe des Antiquars dargestellt (Quentin Durward). Es gibt auch den Blick für die unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die Spannungen zwischen ihnen und die Problematik und das wünschenswerte Ideal ihres nationalen und staatlichen Zusammenwachsens (z. B. der besiegten Angelsachsen und der Normannen im mittelalterlichen England in Ivanhoe), was wiederholt als eine den kulturgeschichtlichen Fortschritt kennzeichnende Synthese gewertet wird. Überdies werden die Unterschiede - darunter der zwischen schottischen Hoch- und Tieflandbewohnern - gelegentlich verschiedenen Kulturstufen bzw. Gegensatzpaaren wie Barbarei und Fortschritt, Wildnis (Natur) und Zivilisation oder urtümliche Volkstradition und neuzeitliche Verfeinerung zugeordnet. Damit werden durchaus Geschichtskräfte gesehen, aber in einer nach Art des 18. Jahrhunderts stark verallgemeinernden, auf wenige Begriffe reduzierten Weise. Meist kommt es zur Konfrontation von heroischer Kriegerethik, persönlicher Treuebindung und feudaler Stammesordnung einerseits - die freilich zu Freibeuterei und Faustrecht herabsinken können (Rob Roy) - und bürgerlichem Nützlichkeitsdenken und kaufmän-

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nischer Gesinnung andererseits. Außerdem sind für den Erzähler Scott die pittoresken Wirkungen wichtiger als geschichtstheoretische Differenzierungen; er fand sie, wie er im späteren Vorwort (1831) zu The Fortunes of Nigel selbst sagt, in den die Kontraste von alt und neu deutlich verknüpfenden Zeiten des Übergangs, deren Effekte er mit denen einer besonders malerischen, weil zwischen Gebirge und Ebene sich erstreckenden Landschaft vergleicht. Die aus dieser Sicht mögliche Verbindung einer glanzvollen Romanzenwelt mit nüchterner Alltagsempirie, der Qualitäten des „Wunderbaren" und Unwahrscheinlichen mit denen des Faktischen und Wahrscheinlichen eröffnete den Weg zu einer panoramahaft weiten und bunt detaillierenden Darstellung, aber auch zu ästhetischer Stilisierung und schematisierender Vereinfachung. Letzteres beeinträchtigt besonders die Mittelalterromane, in die Scott nicht die Kenntnis und Einfühlung einbringen konnte wie in die Bilder Schottlands. Das Mittelalter sah er kaum anders als ein Wunschbild, wie ein Knabe es sich erträumen mag, mit Turnieren, Hofleben, Ritterabenteuern und Damenkult. Die Nachtseiten sozialer Erschütterungen blieben ebenso unbeachtet wie die Inbrunst religiösen Suchens. Scotts Neigung zum historischen Trachtenaufzug bedeutet auch, daß er im Menschlichen oft an der Oberfläche bleibt. So gut er beobachtete, so treffend er Nebengestalten hinzustellen wußte, die Hauptcharaktere bleiben trotz aller genauen Beschreibung menschlich blaß. Indem er jedoch die meisten seiner Figuren zu Repräsentanten eines Standes oder Stammes machte und deren Eigenschaften wieder nach Art der Historiographie des späteren 18. Jahrhunderts z. T. aus den Sitten und Gebräuchen, der Tradition, dem Klima, den Lebensbedingungen ableitete, stellte er erstmals im Roman eine wenn auch nur locker gehandhabte Kausalbeziehung zwischen Individuum und Umwelt her - eine Neuheit, mit der er, zumal in dem eindrucksvollen Regionalismus der Schottlandromane, dem europäischen realistischen Roman (Balzac, Tolstoi) einen wichtigen, später freilich auch zur naturalistischen Milieustudie verengten Weg wies. Obwohl dies alles bei Scott unprogrammatisch blieb und durch großzügige Beweglichkeit ebenso wie durch eine am Chevaleresken orientierte noble Gesinnung ausgeglichen wurde (die er mit Cooper teilte), konnte er seine Personen fast nur typisierend und von außen sehen. Insbesondere seine Heldinnen machte er, von Ausnahmen wie Jeanie Deans oder Diana Vernon (Rob Roy) abgesehen, zu Puppen, von deren Seele wir nichts wissen. Er hatte nicht viel Sinn für das Psychologische und versuchte nicht, im Einzelfall das Menschliche in seiner Fülle zu sehen. Oft stoßen wir uns auch an seiner Technik. Er war ein glänzender Erzähler, und mit der Wahl des „mittleren Helden", mit dem der Durchschnittsleser sich identifizieren und aus dessen Sicht und Reaktionen er die historische Welt gleichsam selbst erleben konnte, schuf Scott ein für die Illusion der Wirklichkeitserfassung grundlegendes Darstellungsmittel, das der realistische Roman weiterentwickelte. Aber Scott war ein schlechter Architekt; ein strenger Entwurf fehlt, und die weit ausholende Erzählung mit den breiten Schilderungen kommt oft zu einem überschnellen Ende - eine Schwäche, die in den

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seltenen kürzeren Erzählungen (s. S. 660) zurücktritt. Auch die Prosa ist lässig; und doch sind die vorschnellen Urteile dieser Schaffenskraft gegenüber unberechtigt. Nicht der ist ein großer Romandichter, der sich im Leben ein oder zwei Romane abquält, sondern wer wie Scott aus dem vollen schöpft und kaum je von seinem hohen Durchschnitt herabsinkt. Man sollte erkennen, daß Scott der verarmenden Einengung des Romans auf die bloß seelischen Bezirke entgegentrat und ihm, wenn auch um einen Preis, einen neuen, großen Realitätsbereich erschloß. Die Literaturgeschichte vollends muß betonen, daß Scott mit dem Herkommen brach, wonach der Roman einen lehrhaften Zweck haben müsse, daß er die Gabe des Erzählens in seltenem Maße besaß und daß ihm als erstem die phantasiemäßige Wiederbelebung der Vergangenheit gelang.

4. Zeitgenossen und Nachfolger Scotts Die Anregung Scotts wurde zunächst auf dem Gebiete des heimatlichen, insbesondere schottischen Romans fühlbar, der Kleinstadt und Dorf in oft drükkend genauer Schilderung vergegenwärtigte. Muster dafür sind des vielseitigen JOHN GALT28 (1779-1839) Annals of the Parish (1821), eine Reihe loser Charakterskizzen, eingekleidet als schlichter, von unbewußtem Humor umspielter Bericht des Dorfpfarrers über das Leben seiner Pfarrkinder in Ayrshire. Dieselbe Mischung von Humor und Häßlichkeitsschilderung zeigt The Entail (1823), die Geschichte einer ungerechten Enterbung, die mit äußerster Genauigkeit durch drei Generationen einer prozeßsüchtigen Familie verfolgt wird. Auch die schottischen Romane von JOHN GIBSON LocKHART29 (1794-1854) zeigen ein bei Scott nicht übliches Düster, aber die Kraft und psychologische Einsicht ist ungewöhnlich, sowohl in dem (später erneut in Hawthornes Scarlet Letter behandelten) Vorwurf des ehebrecherischen und durch öffentliche Beichte sühnenden kalvinistischen Geistlichen (Some Passages in the Life of Adam Blair, 1822) wie in der als Spiegelung eines ziellos vergeudeten Lebens absichtlich unzusammenhängenden History of Matthew Wald (1824). Der Romancier Lockhart hat die Zeit weniger gut bestanden als der Biograph. Zwar kann er nicht mit Boswell verglichen werden, der in seiner Johnson-Biographie ein Bild der Zeit und ihrer geistigen Haltung an28

Works, ed. D.S. Meldrum, 10 Bde. (Edinb., 1936); Annals of the Parish, ed. G. S. Gordon (1908; Edinb., 1978); Selected Short Stories, ed. I. A. Gordon (Edinb., 1978); The Entail, or, the Lairds of Grippy, ed. ders., OEN (1970); The Provost, ed. ders., OEN (1973). - Autobiography, 2 Bde. (1833). - Biographie u. Kritik: I. A. Gordon, J. G.: The Life of a Writer (Edinb., 1972); F. H. Lyell, A Study of the Novels of J. G. (Princeton, 1942); E. Frykman, J. G.'s Scottish Stories (Uppsala, 1959). "Some Passages in the Life of Mr. Adam Blair, ed. D. Craig (Edinb., 1963); The History of Matthew Wald (Edinb., 1824, 1843); Memoirs of the Life of Sir Walter Scott (s. S. 650); Life of Robert Burns (Edinb., 1828); EL. - A. Lang, Life and Letters of J. L., 2 Bde. (1897); H. J. C. Grierson, Lang, Lockhart and Biography (Oxf., 1933); F. R. Hart, L. as Romantic Biographer (Edinb., 1971).

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strebte, aber er ist der einzige Biograph von Bedeutung in der romantischen Epoche, und seine verschlossene, der Selbstbespiegelung abgeneigte Natur bildet einen reizvollen Gegensatz zu der freimütigen Gesprächigkeit seiner Helden. Sein Life of Burns (1828) und insbesondere das große Life of Scott (1836-38) geben ein treues, aber alles zu Persönliche weglassendes Bild, das Boswells Größenverzeichnung meidet, das aber seltsam zurückhaltend anmutet inmitten der zu Vertraulichkeiten neigenden Romantik. Das in Lockharts schottischen Romanen gezeichnete rauhe Wirklichkeitsbild wird von SUSAN EDMONSTONE FERRiER30 (1782-1854) mit ihren absonderlichen Käuzen humorvoll ergänzt. Scott sagte, ihre Geschichten gäben ein Bild der wirklichen Gesellschaft. Deren Sitten werden zwar satirisch, aber höchst anschaulich in Marriage (1818) geschildert. Hierzu bot die allmähliche Ernüchterung eines Londoner Ladenmädchens, das von einem schottischen Gutsherrensohn entführt wurde, Material genug. Ebenso erfrischend und lebendig, wenn auch durch Predigen stärker entstellt, ist der sorgsamer aufgebaute Roman Inheritance (1824), dessen gräfliche Heldin sich als Adoptivkind eines Dienstboten erweist, was ihr den würdigen Freier zuführt und den Titeljäger vom Halse schafft. Schließlich ist JAMES HOGG31 (1770-1835) zu nennen, der 'Ettrick Shepherd', den Scott entdeckte, als er Balladen für seine Minstrelsy sammelte. Hogg, der bereits Balladen veröffentlicht hatte (The Mountain Bard, 1807) und einen Verserzählungskreis The Queen's Wake (1813), in dem er den Sängerwettstreit vor Maria Stuart zum Rahmen wählte, schrieb in seinem Roman The Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner (1824) eine Satire gegen kalvinistische Engherzigkeit, die zugleich eine aufrüttelnde Seelenstudie und eine spannende Erzählung ist. Vor dem Hintergrund der Edinburgher Kavalier- und Puritanerfehden entwikkelt sich die Geschichte zweier Brüder, die dann zum Lebensbericht des Titelhelden wird, worin die möglichen unsittlichen Folgen eines strengen Prädestinationsglaubens bloßgestellt sind. Die Eigenwüchsigkeit und Kraft der Schotten fehlt dem von Maria Edgeworth (s.S. 640f.) eingeleiteten irischen Roman. Zwar gelang der leidenschaftlichen Patriotin LADY MORGAN32 (geb. Sydney Owenson, 1776-1859) manch treffendes Bild aus dem Volksleben, und ihr Geschick für Gesprächswiedergabe ist, vielleicht zu sehr, genützt; da aber die Darstellung des Zusam30

Works, ed. M. Sackville, 4 Bde. (1928); Marriage, ed. A. Goodrich-Freer, 2 Bde. (1902); EL; Inheritance, ed. A. Goodrich-Freer, 2 Bde. (1903). - Memoir and Correspondence by J. Ferrier, ed. J. A. Doyle (1898); A. Grant, S. F. of Edinburgh: A Biography (Denver, 1957). - W. M. Parker, S. F. and John Galt (1965). 31 The Works, ed. T. Thomson, 2 Bde. (21869); Selected Poems, ed. D. S. Mack (Oxf., 1971); Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner (repr. 1947) [mit Einl. von Andre Gide], ed. John Carey, OEN (1969); The Three Perils of Man: War, Women and Witchcraft, ed. D. Gifford (Edinb., 1972). - L. Simpson, J. H.: A Critical Study (Edinb., 1962); D. Gifford, J. H. (Edinb., 1976). 32 O'Donnel, 3 Bde. (1814 u. ö.);The O'Brians and the O'Hahertys, 4 Bde. (1827, 1828). - Biographie von L. Stevenson, The Wild Irish Girl: The Life of Sidney Owenson, L. M. (1936).

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menstoßes der englischen und irischen Rasse in den Romanen O'Donnel, a National Tale (1814) und The O'Briens and the O'Flahertys (1827) nur der politischen Anklage dient, zeichnete ihr Spiegel verzerrt. Wirkliches Irentum gestalteten dagegen die Erzählungen der Brüder Michael (1796-1874) und John Banim33 (1798-1842). Ihre vollblütigen, den Galgenhumor wie die leidenschaftliche Seite der irischen Natur herausstellenden Tales by the O'Hara Family (1825 und 1826) stehen am Anfang einer echt irischen Schule, die in WILLIAM CARLETON34 (1794-1869) ihren angesehensten Vertreter fand. Er hatte nicht viel Erfindungsgabe, und außer in seinem düsteren, kaum ertragbaren Bauernroman Fardorougha, the Miser (1839) hat er keine längere Geschichte erfolgreich zu führen gewußt; wenn er aber von sich selbst erzählte, von seinen Abenteuern und bäuerlichen Bekannten, so gab er ein treues Bild irischen Lebens (Traits and Stories of the Irish Peasantry, 5 Bände 1830 und 1833). Die Gründung der Geschichten auf wirkliche Vorfälle findet sich auch bei Gerald Griffin 35 (1803-1840), sowohl in den Bauern-, Schmuggler- und Fischergeschichten Tales of the Munster Festivals (1827-32) wie in dem melodramatischen Eheroman The Collegians (1829); aber mit all dieser Wirklichkeitskunst gab man nur eine Seite der irischen Seele, die andere, die aus Volksglauben und Legenden spricht, zeigten die folkloristischen Sammlungen, die Thomas Crofton Croker36 (1798-1854) herausgab: Fairy Tales and Traditions (1825-28) und Legends of the Lakes (sog. Killarney Legends, 1828). Davon machten die irischen Romanschriftsteller wenig Gebrauch, und mit CHARLES JAMES LEVER37 (1806-72) wurde die Erzählkunst ganz der Unterhaltung dienstbar gemacht. Lever, der halb Engländer war, hatte nicht das Schollengefühl der Banims und Carletons; er sah scharf, aber nicht tief, und erzählte drauflos von Saufgelagen, Fuchsjagden, belustigenden irischen Eigenheiten und brachte unendlich komische Bilder aus dem militärischen Leben. Die Confessions of Harry Lorrequer (1839), in der Ich-Form geschrieben, lesen sich wie ein Schwankbuch, und als die Leser ein zweites ähnliches Buch verlangten, schrieb er Charles O'Malley, the Irish Dragoon (1841), gleichfalls ohne nennenswerte Handlung, aber unerschöpflich über die Wunderlichkei33

Tales by the O'Hara Family (repr, 1846); mit anderen Erzählwerken (darunter The Denounced und The Boyne Water) Garland Series (repr. N.Y., 1978/9). 34 Works, ed. D. J. O'Donoghue, 4 Bde. (1896); Garland Series (repr. N.Y., 1979/80); Auswahl: Stories from Carleton, ed. W. B. Yeats (1889) [bestes Buch zum Einlesen in irische Heimatdichtung]. - D. J. O'Donoghue, The Life of W. C, 2 Bde. (1896); ed. P. Kavanagh (1968). - M. Chesnutt, Studies in the Short Story of W. C. (Göteborg, 1976); vgl. auch Kap. bei T. Flanagan, Irish Novelists 1800-50 (N.Y., 1959). 35 The Works, 8 Bde. (1842/43); Garland Series (repr. N.Y., 1979); The Collegians, ed. P. Colum (1918). - Biographie von D. Griffin (1843). - E. Mannin, Two Studies in Integrity: G. and the Rev. F. Mahony (1954). 36 Fairy Legends and Traditions, ed. T. Wright (1882); Legends of the Lakes (1829 u. o.; repr. 1876); Popular Songs of Ireland (1839; repr. 1886). 37 Novels, ed. by his Daughter, 37 Bde. (1897-99) (alle genannten Romane öfter gedruckt, z. B. in Tauchnitz Edn.; Harry Lorrequer, EL). - Biographien von E. Downey (Life in his Letters), 2 Bde. (1906); von L. Stevenson (Dr. Quicksilver) (1939).

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ten der Irländer plaudernd. Neu hinzu kamen Kriegsbilder aus dem spanischen und Waterloo-Feldzug, und diese ungemein lebendigen Schilderungen zeigen eine ernstere und größere Kunst als das unterhaltende Erzähltalent, das in Jack Hinton, the Guardsman (1814) und vielen anderen Büchern das Publikum entzückte. Unglücklicherweise nahm Lever die Romankunst erst dann ernst, als seine Frische nachließ (Maurice Tiernay, 1852). So hat er in der Geschichte des Romans nur einen kleinen Namen. Es fällt auf, daß weder bei Scott noch bei seinen englischen Nachfolgern die Kurzerzählung 38 eine besondere Rolle spielt. Auch theoretische Bemühungen wie die der deutschen Romantiker um die Novelle und E. A. Poes um die 'short prose narrative' (s. S. 676) fehlen. Dem Roman galt - was mit seiner großen Tradition in England, außerdem mit den Lesegewohnheiten und den sozialen Bedingungen des englischen Bürgertums zusammenhängt - so überwiegend das Interesse, daß selbst Dickens, der zunächst zur skizzenhaften Kurzdarstellung neigte, den Roman bevorzugte, freilich in der Publikationsform von Monatsfolgen. Die wenigen englischen Kurzerzählungen der romantischen Epoche weisen meist keine formalen Besonderheiten auf. Nach den letzten Ausläufern der moralischen Beispielerzählung des 18. Jahrhunderts bei Hannah More und Maria Edgeworth und den volkstümlich-abenteuerlichen Erzählungen der Iren Banim, Carlton, Griffin, Croker und Lever ist Scotts Wandering Willie's Tale (in dem Roman Redgauntlet, 1824) zu erwähnen, die volkserzählerhaft und mit schottischer Dialektfärbung dem blinden Fiedler Willie in den Mund gelegt und als überlieferte Erinnerung an ein Erlebnis des Großvaters Steenie in die schottische Geschichte projiziert wird. Es handelt sich um eine teils komische, teils gruselige Geschichte vom Verlust und Wiederfinden eines Geldsacks, wobei Volksfiguren und Teufelserscheinungen sowie das Herr-Knecht-Verhältnis farbig und typisierend dargestellt werden. Eine bei den panoramahaft weiten Romanen Scotts nicht gegebene Konzentration ergibt sich dadurch, daß vieles aus dem Blickwinkel Steenies erzählt wird. Auch auf The Two Drovers, eine der Chronicles of the Canongate (1827), sei hingewiesen. Etwas weitschweifig und mit vielen folkloristischen Erklärungen wird erzählt, wie der mit den Herden nach Nordengland kommende schottische Viehtreiber, der von den kriegerischen Gewohnheiten seines Bergvolkes geprägt ist, in der fremden Umgebung den als Spiel gemeinten Faustkampf des englischen Freundes ernst nimmt und diesen aus Rache über die Niederlage ersticht - was Scott zum Anlaß nimmt, bei der Gerichtsverhandlung sowohl die Blickverengung durch nationale Vorurteile auf beiden Seiten als auch die zivilisatorische Notwendigkeit des gleichen Rechtes für alle hervorzuheben. 38

Zur englischen Erzählung der romantischen Epoche: E. A. Baker, The History of The English Novel, Bd. VI: Edgeworth, Austen, Scott (1929; repr. N.Y., 1950); T. O. Beachcroft, The Modest Art: A Survey of the Sh. St. in English (1968). - Textsammlungen: English Short Stories of the 19th Cent., ed. H. Bergner (Hildesheim, 1969); EL, WC [engl. u. am.]; Sh. St's of Sir W. S., ed. Lord D. Cecil, WC (Oxf., 1934).

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Im Gegensatz dazu stehen die amüsant über Trivialitäten plaudernden essayistischen Stücke von Charles Lamb, die humoristischen, auf Alltagsdinge eingehenden Geschichten von Thomas Hood sowie einzelne der Erzählungen von Leigh Hunt, der stärker als die anderen an die Charakterskizze des 17. und 18. Jahrhunderts anknüpft und immer auch ein didaktisches Anliegen anklingen läßt. Die ausgeprägteste erzählende Kurzprosa schrieb, von Irving angeregt, MARY RUSSELL MiTFORD39 (1787-1855), die sich, den Weg der Schotten und Iren einschlagend, als erste der englischen Nachfolger Scotts dem ländlichen Leben zuwandte. Unter dem Titel Our Village (5 Bde., 1824-32) schrieb sie 'Sketches of Rural Life, Character and Scenery', denen sie die Country Stories (1837) folgen ließ. Diese Geschichten, die das Belebte und Unbelebte gleich liebevoll und dichterisch empfindend darstellen, sind besonders ihrer Form wegen bemerkenswert. Sie begründeten die „Skizze", die bewußt auf Erzählung und Erfindung verzichtet und in stimmungweckender Zeichnung ihr Ziel sieht. Kein größerer Gegensatz dazu ist denkbar als die mit starkem Farbauftrag malenden fremdländischen Abenteuerromane, die gleichzeitig den Buchmarkt beherrschten. THOMAS HOPE40 (1770-1831), wie Beckford ein reicher, vielgereister Kunstsammler und Kenner, schrieb einen zur Zeit von Katharinas Türkenkrieg (vgl. Byrons Don Juan VII-IX) spielenden Roman Anastasius, or Memoirs of a Greek (1819), in dem die Anregungen der historischen Schule Scotts mit dem Schreckensroman (Zeluco) zusammentrafen. Das einst viel gelesene Buch mit seinen Abenteuern und Beschreibungen östlicher Sitten wirkt heute eintönig. Dauernder erwies sich JAMES JUSTINIAN MoRiERs41 (1780-1849) Adventures of Hajji Baba of Ispahan (1824), die Geschichte eines nichtsnutzigen, aber liebenswerten persischen Barbierssohns, der alle Berufe durchversucht und nach dem Gil Bias-Muster die Komödienhaftigkeit der Welt erweist. Die Anziehungskraft des Buches lag nicht zumindest in dem Bild der fremden orientalischen Szenerie und Rasse, die der in Smyrna geborene Verfasser nicht als Märchen, sondern als erlebten Reisebericht (vgl. seine Journey through Persia, 1812 und 1818) wiedergab. Dies fremdländische Interesse befriedigten auch die Adventures of a Younger Son (1831) von EDWARD JOHN TRELAWNY 42 (1792-1881), dem 39

Our Village, ed. Lady Richie, 2 Bde. (1893 u. ö.); Beiford Regis, or Sketches of a Country Town, 3 Bde. (1835 u. ö., z. B. 1849); Country Stories (1837) (kein Repr.); Recollections of the Literary Life, 3 Bde. (1852 u. ö., z. B. 1883). - Life of M. R. M. in a Selection of her Letters, ed. A. G. L'Estrange, 3 Bde. (1870); Letters, 2nd Series, ed. H. F. Chorley, 2 Bde. (1872). - V. G. Watson, M. R. M. (1949); W. J. Keith, The Rural Tradition: A Study of Non-Fiction Prose Writers of the English Countryside (Toronto, 1974) [über Cobbet, Mitford und Borrow]. - Vgl. S. 628. 40 Anastasius, 3 Bde. (1819); 2 Bde. (1836). Vgl. K. J. Zeidler, Beckford, Hope u. Morier als Vertreter des orientalischen Romans (Lpzg., 1909); F. Moussa-Mahmoud, Orientais in Picaresque (Cairo Stud, in Engl., 1962) [über Hope, Morier, Meadows, Taylor]. 41 Hajji Baba, ed. C. J. Wills (1897); ed. Goad (Bath, 1956). 42 Adventures of a Younger Son, ed. W. St. Clair, OEN (1974); Recollections of the Last Days of Shelley, ed. D. Dowden (1906; repr. Philadelphia, 1973). - Letters, ed. N. B. Forman (1910). - N. B. Gerson, T.'s World: A Biography of E. J. T. (Garden City, N.Y., 1977).

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Freund und Biographen Shelleys und Byrons (Recollections of the Last Days of Shelley and Byron, 1858, überarbeitet: Records of Shelley, Byron and the Author, 1878). Ob dieser Abenteuerroman wirklich eine Selbstbiographie ist, wie er vorgibt, sei dahingestellt; in seiner sprühenden Lebendigkeit erweckt er den Eindruck eines Tatsachenberichts, dessen hartes Nebeneinander von Romantik und Realismus jedoch der künstlerischen Formung entbehrt. Das Lebensvolle dieser Bücher läßt der eigentliche historische Roman43 vermissen. Während in anderen Ländern durch Scott große Werke angeregt wurden (Hugo, Balzac, Manzoni), erschöpfte sich die englische Schule in leerem Prunk. Ihr Führer GEORGE PAYNE RAINSFORD JAMES44 (1801-60) schrieb eine große Zahl Romane, u. a. Richelieu, or a Tale of France (1829), Darnley, or the Field of the Cloth of Gold (1830), Mary of Burgundy, or the Revolt of Ghent (1833), die zwar geschichtliche Richtigkeit erstreben, aber ohne Charakterisierungskunst und historisches Verständnis eine eintönige Bilderfolge in anspruchsvollem Stile aufrollen, in der das geschätzte antiquarische Detail, das schon für Scott attraktiv war, zum Selbstzweck wird. Sein Freund WILLIAM HARRISON AiNSWORTH45 (1805-82), der sich mehr Freiheiten den historischen Tatsachen gegenüber erlaubte und seinen Stil durch Umgangswendungen belebte, zeigte sich zunächst vom Schreckensroman beeinflußt (Rookwood, 1834); dann erstrebte er eine Nachahmung Quentin Durwards (Crichton, 1837), die indessen Dumas näher steht als Scott, und dieser melodramatische Zug herrscht auch in den stark mit Ortsfärbungen arbeitenden Romanen Tower of London (1840) und Windsor Castle (1843), die als seine besten gelten, aber ebenso wie die von G. P. R. James mit kulturhistorischen Einzelheiten überladen sind. Gegenüber solch blutarmer Kunst wirkte FREDERICK MARRYATs46 (1792-1848) Erneuerung der derben smollettschen Art belebend. Er lernte von Scott, schrieb aber keine historischen, sondern Seeromane, in denen er das selbsterlebte Matrosendasein mit allen seinen Schicksalen schilderte. Das gelang vortrefflich in seinem ersten Erfolg Peter Simple (1834), der Ich-Erzählung einer Marinelaufbahn vom Schiffsjungen an, der die vielen groben Spaße und die Einfügung geschichtlicher Ereignisse Abwechslung und den Eindruck der Echtheit verliehen. Diese Art, Seeabenteuer, Kriegsszenen und das rauhe Leben an Bord zu verflechten, behielten seine beliebtesten Bücher bei (Jacob Faithful, 1834; Mr. Midshipman Easy, 1836). Dann verließ er das erschöpfte Seethema in der Findlingsgeschichte Japhet in Search of a Father 43

Vgl. Literaturangaben S. 652. The Works, 21 Bde. (1844-49); zahlreiche Einzelausgaben, z. B. Richelieu, EL; Darnley in Tauchnitz Edn. etc. 45 Collected Works, 12 Bde. (1923); zahlreiche Drucke der einzelnen Romane, z. B. alle genannten in EL. - Biographie von S. M. Ellis, 2 Bde. (1911) [mit Bibliogr.]. - Kritik: G. J. Worth, W. H. A. (N.Y., 1972); vgl. auch R. Hollingworth, The Newgate Novel (Detroit, 1903). 46 Novels, ed. R. B. Johnson, 26 Bde. (1929-30); zahlreiche Einzelausgaben, z. B. in EL. - Biographie von D. Hannay (1889) [mit Bibliogr.]; von O. Warner (1953). 44

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(1836) oder fügte es in einen anspruchsvolleren, geschichtlichen Rahmen (Snarleyyow, or the Dog Fiend, 1837) mit vielen gespenstigen Zügen, die den Schrekkensroman nochmals wachrufen (vgl. The Phantom Ship, 1839). Das bei Marryat schon deutliche Anknüpfen an frühere Romankunst herrscht in größtem Maße bei EDWARD GEORGE BuLWER-LvrroN47 (1803-73), der sich in allen Romanarten versuchte, auch Dichtungen (St. Stephens, 1860) und Dramen (The Lady of Lyons, 1838; Richelieu, 1839; s.S. 628) verfaßte. Sein großes Talent erwies Pelham (1828), sein bestgeschriebener Roman, der eine Liebesgeschichte mit der Rechtfertigung eines fälschlich Verdächtigten verband und dann die Geschichte des wirklichen Mörders erzählte, ein spannendes Buch mit philanthropischen Einschüben und aufgelockert durch unterhaltende und belehrende Einschaltbilder aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben, in denen nach Art des trivialen Moderomans Dandytum und elegante Manieren betont werden. Auch die nächsten Verbrecherromane Paul Clifford (1830) und Eugene Aram (1832) befaßten sich mit dem godwinschen Vorwurf eines von Elend zu Verbrechen und Reue getriebenen Menschen und verbanden die vielfach melodramatische Schilderung der Unterwelt mit der Forderung nach Milderung der Strafgesetze. Das alles war recht geschickt gemacht und flott erzählt. Dann ging er zum historischen Roman über und erlangte mit The Last Days of Pompeii (1834) eine Scott vergleichbare Wertschätzung. Das farbenprächtige Bild vom Glanz und Untergang der berühmten Stadt mit der Beschreibung der Bauten, Trachten, Sitten, Vergnügungen und Laster zeigt die überwältigende Fülle eines Riesengemäldes, dessen Einzelheiten auf sorgfältige Vorstudien gegründet sind; aber die großzügig zusammenfassende und verlebendigende Kraft Scotts fehlt. Trotzdem ist es Bulwers bester historischer Roman, dem weder das ähnlich kunstvolle Bild von Rom und Florenz in Rienzi, the Last of the Tribunes (1835) gleichkam noch die gut zusammengefaßte Geschichte der Rosenkriege (The Last of the Barons, 1843) noch Harold, or the Last of the Saxon Kings (1848), das die Zeit der Unterwerfung der Sachsen durch die Normannen darstellt. In den beiden mit der vaterländischen Geschichte befaßten Büchern gehen historiographischer Ehrgeiz und dokumentarische Methode, aber auch das torystische politische Anliegen, eine noch intakte Gesellschaft mit volksnahem Königstum und Adel als Ideal vor Augen zu stellen, so weit, daß der für Scotts „mittleren" Helden so entscheidende Spielraum des Privaten fast völlig schwindet. Die Figuren erscheinen als leblose, sorgfältig konstruierte und drapierte Verkörperungen geschichtlicher Erkenntnisse, was Bulwer-Lytton später das Lob des angesehenen Historikers E. A. Freeman eintrug, nicht aber die anhaltende Zuneigung des Publikums. Nach 47

The W o r k s , Knebworth Edn., 26 Bde. (21877/8); The Novels, New Knebworth Edn., 29 Bde. (1895-98); zahlreiche Einzelausgaben der angeführten Romane, z. B. EL; The Dramatic Works (1841 u. ö., z. B. 1890). - B i o g r a p h i e : The Life, Letters and Literary Remains by his Son, 2 Bde. (1883); Life of E. B. by his Grandson, 2 Bde. (1913); M. Sadleir, Bulwer: A Panorama (1931); A.C. Christensen, E. B.-L.: The Fiction of New Regions (Athens, Ga., 1976).

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den historischen Romanen kam, von Zanoni (1842) eingeleitet, eine Reihe von Versuchen im übernatürlichen Schreckensroman, als deren bester The Haunted and the Haunters (1859) gilt, dann eine Gruppe bürgerlich-häuslicher Familienbilder (The Caxtons, 1849; My Novel, 1853) und schließlich ein soziologischer Zukunftsroman The Corning Race (1871). Bulwers vielgestaltiges Schaffen zersplitterte und vergeudete ein großes Talent; alle alten Melodien verstand er zu spielen, aber er erfand keine neue. Gegenüber dieser leeren Bewegheit erscheint die Eigenart von THOMAS LOVE PEACOCK48 (1785-1866) künstlerisch fester gegründet. Er fand einen Ausgleich zwischen klassischen und romantischen Neigungen, ein Geltenlassen beider trotz eines gutmütig spöttischen Lächelns. Das zeigen neben seiner Dichtung Rhododaphne (1818) und den in die Romane eingefügten Liedern die zwei als Romane anzusprechenden Werke Maid Marian (1822) und The Misfortunes of Elphin (1829), Parodien von Versroman und Arthurlegenden, die dennoch den romantischen Zauber nicht zerstören. So ist auch in seinen anderen Büchern, die durchweg satirisch sind, ein gutmütiges Verstehen und Lieben eingeschlossen; er verspottete die romantischen Dichter Wordsworth, Byron und sogar seinen Freund Shelley, er meinte Coleridge mit dem Dr. Flosky, der sich einmal erschrocken in den Gebieten des gesunden Menschenverstandes ertappt, aber er schätzte sie zur gleichen Zeit. Dies zeigte sich besonders in dem berühmt gewordenen, vielleicht nicht in allen Einzelheiten ernst gemeinten Essay The Four Ages of Poetry (1820), der zum Protest Shelleys führte (s.S. 616). Hier wird die schon im 18. Jahrhundert oft aufgeworfene und für die Romantik zentrale Frage erörtert, warum der Zivilisationsfortschritt mit dem Verlust der großen literarischen Gattungen Epos und Tragödie und der Bevorzugung kleinerer Gegenstände und Formen einhergehe und welche Bedeutung der neu erschlossene Bereich des subjektiven Gefühls und die nostalgische Suche nach einer Tradition in ferner Vergangenheit (Mittelalter und Renaissance) für das Bewußtsein habe. Sein erstes Buch Headlong Hall (1816) enthielt den Grundriß aller kommenden: einen Kreis von Sonderlingen, die ein trinkfester, vermittelnder Gastgeber vereint, und deren vielfältige, durch etwas Beschreibung und drollige Situationen gerahmte Gespräche den eigentlichen Inhalt bilden. Diese romantisch aufgelöste Form herrscht auch in dem langen, köstliche Monologe enthaltenden Melincourt (1817) und in Nightmare Abbey (1818). Sogar die 48

W o r k s , edd. H. F. B. Brett-Smith and C. E. Jones, Halliford Edn., 10 Bde. (1924-34); The Complete Novels, ed. D. Garnett, 2 Bde. (1963); zahlreiche Einzelausgaben, z. B. Headlong Hall, EL, WC; Nightmare Abbey u. Crotchet Castle, PB. - M e m o i r s of P. B. Shelley (1858-62), ed. H. F. B. Brett-Smith (1909; repr. Folcroft, Pa., 1977) (s. S. 610). - The Four Ages of Poetry [mit Shelleys Defence], ed. J. E. Jordan (Indianapolis, 1965).- B i o g r a p h i e und K r i t i k : H. F. B. Brett-Smith in Works (s. o.) Bd. I; C. van Doren, Life of T. L. P. (1911 u. ö., z. B. N.Y., 1966); H. Mills, P.: His Circle and his Age (Cambr., 1968) [grundlegende Neuwertung]; F. Feiton, T. L. P. (1973). C. Dawson, His Fine Wit: A Study of T. L. P. (1970); H. Kjellin, Talkative Banquets: A Study in the Peacockian Novels of Talk (Stockholm, 1974) [Tradition und Abwandlung v. Erzählelementen].

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Charaktere kehren wieder: neben dem Hausherrn besonders die Lieblingsfigur des in der Kunst des Griechischen und des Essens gleichermaßen hervorragenden Pfarrers, heiße er nun Dr. Folliot wie in Crochet Castle (1831) oder Dr. Opinion wie in Gryll Grange (1860). Und dennoch wiederholt sich nichts, es sind zuviel Gesprächsstoffe da, denn die Torheiten der Welt bilden den Inhalt der Romane. In den scheinbar kunstlosen Gesprächen, in denen aber jedes Wort an seinem Platz steht und keines überflüssig ist, enthüllen sich die Charaktere der Sprecher; es ist eine Prosa, die den Humanisten und die lächelnde Weisheit des Epikureers verrät. Eine einheitliche Form des romantischen Romans ist in England nicht gefunden worden, es sei denn, man nähme Scotts Werk dafür. Als eine Handlungsgrundlinie bleibt, dem weiterwirkenden Vorbild des englischen Gesellschafts- und Sittenromans des 18. Jahrhunderts und wohl auch dem allgemeinen Common sense verpflichtet, ein harmonisches und positives Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bestimmend, in dem es nach zeitweiligen Konflikten, Irrtümen, Fehlern und Ängsten schließlich doch zur Versöhnung (und meist auch Eheschließung), beim Bösewicht zur Bestrafung oder Vernichtung kommt. Dabei werden gelegentlich (Jane Austen, Scott) bereits Elemente des Erziehungs- und Bildungsromans wirksam, die freilich erst im Viktorianismus voller ausgeführt werden. Zentrale romantische Themen - wie die absolut gesetzte, bis ins Mysteriöse und Krankhafte verfolgte Subjektivität und die Zufluchtsuche in der der Zivilisation überlegenen Natur - kommen zwar vor, werden aber - von Lewis' und Maturins Schreckensromanen abgesehen - in die weiteren und regulierenden menschlich-gesellschaftlichen Relationen eingebunden, zu denen wie bei Mrs. Radcliffe die empfindsame Geschmackskultur gehören kann. So kann es eine Erziehung und Reifung nur mit und in der Gesellschaft, nicht gegen sie geben. Dies steht im Gegensatz zum zeitgenössischen deutschen Roman, der viel stärker das subjektive, meist stark poetische Erleben des einzelnen betont, und auch der amerikanische Roman ist - in modifizierter Weise - stärker romantisch geprägt. Mit der Erweiterung der Themen und der Farbigkeit der Ausgestaltung vollzieht sich aber im englischen Roman ein Beleben und Vielfältigermachen der Form, und auf dieser verbreiterten und mit dem 18. Jahrhundert verbundenen Grundlage konnte er in der folgenden Zeit des Realismus die beherrschende Literaturgattung werden.

5. Der amerikanische romantische Roman: J. F. Cooper und seine Schule Die amerikanischen Verhältnisse boten dem romantischen Roman49 schon durch die in eine unberührte Natur vordringende, abenteuerreiche Siedlungs49

B i b l i o g r a p h i e u. H i l f s m i t t e l : L. H. Wright, Am. Fiction 1774-1850 (San Marino, Calif., 219691'1948]); D. K. Kirby, Am. Fiction to 1900: A Guide to Information Sources (Detroit, Mich., 1975). - A l l g e m e i n e R o m a n g e s c h i c h t e : A. H. Quinn, Am. Fiction: An Historical and Critical Survey (N. ., 1936); A. Cowie, The Rise of

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bewegung einen dankbaren Stoff. Besondere Impulse gingen auch von der geschichtlichen Situtation Amerikas aus. Zwar gab sie Anlaß, die siegreichen englisch-französischen Kämpfe der Kolonialzeit, den Unabhängigkeitskrieg und das frühe Kolonisten- und Pionierleben farbig darzustellen, doch eröffnete sie keinen Rückblick auf ganze Epochen und gewachsene Gesellschaftsverhältnisse, wie Scott sie schätzte. Das Interesse galt eher einem begrenzteren, meist allerdings auch philosophischer befragten Realitätsausschnitt, den Problemen des auf sich gestellten einzelnen, der sich der Wildnis und der westwärts wandernden Grenze, aber auch - wie bereits Alexis de Tocqueville in De la Democratie en Amerique (1835, erw. 1840, erste amer. Ausgabe 1838) treffsicher erkannte - der zunehmenden Macht der Mehrheit und Vorliebe für die Gleichheit konfrontiert sah, was - bei gegebener Sensibilität - oft seine Isolierung und seinen von der Masse Abstand haltenden Individualismus zur Folge hatte, der die großen Gesellschaftsfragen vernachlässigte und sich dem eigenen kleinen Lebenskreis familiärer oder nachbarschaftlicher Art zuwandte. Dazu konnte, wiederum den Individualitätsanspruch betonend, die Auseinandersetzung mit heterogenen Gesinnungen und Wertnormen unterschiedlichster Herkunft treten, wobei sowohl die in der Unabhängigkeitserklärung und politischen Diskussion formulierten Humantitätsideale der Aufklärung als auch die Konventionen der Einwanderer- und Siedlergruppen eine Rolle spielten, insbesondere das puritanische Moral- und Sündenbewußtsein der Neuengländer. Abgesehen von der für das ursprüngliche Kolonialland charakteristischen kulturellen Verzögerung und der mit ihr einhergehenden Tendenz zur Stilmischung (s. S. 579 f.), ist es bemerkenswert, daß die amerikanische Individualitätserfahrung und das allgemein-romantische Thema der absolut gesetzten Subjektivität in eine Wechselbeziehung zueinander treten, in der die Elemente unterschiedlich betont sein können. Schon C. B. Brown (s. S. 648f.) hatte, freilich von Godwin beeinflußt, die im Schreckensroman üblichen extremen Bewußtseinslagen, z. B. der Geängstigten, Einsamen, Bösewichter und Psychopathen, mit der die Verletzlichkeit des Individuums herausstellenden Problematik des Unschuldig-Schuldigwerthe Am. Novel (N. ., 1948); R. Chase, The Am. Novel and Its Tradition (Garden City, N.Y., 1957) [Def. d. 'romance'-Begriffs]; H. Levin, The Power of Blackness (N. ., 1958) [Poe, Hawthorne, Melville]; D. G. Hoffman, Form and Fable in Am. Fiction (N. ., 1961) [Irving, Hawthorne, Melville]. - J. Porte, The Romance in Am. (Middletown, Conn., 1969) [bes. zu Poe u. Hawthorne]; F. H. Link, Gesch. der am. Erzählkunst im 19. Jh. (Stuttgart, 1980). - E i n z e l a s p e k t e (s. auch S. 560): E.E. Leisy, The Am. Hist. Novel (Norman, Okl., 1950) [nützliche Übersichten]; C. Feidelson, Symbolism and Am. Lit. (Chicago, 1953); R. W. B. Lewis, The Am. Adam: Innocence, Tragedy and Tradition in the 19th Cent. (Chicago, 1955); A. N. Kaul, The Am. Vision: Actual and Ideal Society in 19th Cent. Fiction (New Haven/Lo., 1963); D. E. S. Maxwell, Am. Fiction: The Intellectual Background (N. ., 1965); H.B. Henderson III, Versions of the Past: The Historical Imagination in Am. Fiction (N.Y., 1974); M. T Gilmore, The Middle Way: Puritanism and Ideology in Am. Romantic Fiction (New Brunswick, 1977); G. Milne, The Sense of Society: A History of the Am. Novel of Manners (Rutherford, N.J., 1977); U. Brumm, Gesch. u. Wildnis i. d. am. Lit. (Berlin, 1980) [Eigenart am. Auffassung und Fiktionalisierung].

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dens verbunden, und später gingen Hawthorne und Melville diesem Thema mit anderen Deutungen der Subjektivität und des Bösen nach. In Romanen dieser Ausrichtung kommt es im Gegensatz zum klassischen Roman des 18. Jahrhunderts oft zum Bruch, nicht nur zum vorübergehenden Konflikt, zwischen Individuum und Gesellschaft. Jedoch kann dies durch ein anderes romantisches - und wiederum den amerikanischen Verhältnissen angepaßtes - Thema, die belebende Geborgenheit und Freiheit in der Natur, die den Verlockungen oder der Enge der Zivilisation gegenübergestellt wird (The Prairie, The Scarlet Letter, später Huckleberry Finn), aufgewogen werden. Offensichtlich hat aufgrund der besonderen Kulturgegebenheiten die romantische Geisteshaltung - bei Cooper zusammen mit aufklärerischen, bei Hawthorne und Melville zusammen mit puritanischen und neueren philosophischen Traditionen - nachhaltiger auf den amerikanischen als den englischen Roman eingewirkt. Das für den letzteren auch in dieser Epoche bezeichnende Anknüpfen an den klassischen englischen Sitten- und Gesellschaftsroman (Jane Austen, Mrs. Radcliffe, Scott und seine Nachfolger), der entgegen dem romantischen Konzept auf die Erziehung des Individuums durch die Gesellschaft und auf seine - meist durch glückliche Heirat abgeschlossene - Integration in sie zielt, findet im amerikanischen Bereich nicht statt. Dort kommt es erst am Jahrhundertende, nach der Industrialisierung und der allgemeinen (nicht mehr auf die Ostküste beschränkten) Bildung einer komplexeren Sozialstruktur, zu breiter angelegten und realistisch gefaßten Gesellschaftsromanen, lange nachdem sie im viktorianischen England Dickens' und Thackerays eindrucksvoll hervorgetreten waren. Wo das Gesellschaftliche im romantischen amerikanischen Roman erscheint, wird es entweder - wie bei Hawthorne und Melville - zum kontrastierenden Hintergrund, der wie die Individuen einer moralisch-psychologischen Analyse unterzogen wird, oder - wie bei Cooper - zum Gegenstand der Spekulation über eine ideale künftige Ordnung. Cooper griff dabei nicht nur auf die allgemeinen Aufklärungsideale zurück, sondern auch auf die zeitgenössischen Entwürfe für eine agrarstaatliche Gesellschaftsstruktur, wobei er weniger den von den französischen Physiokraten übernommenen Ideen Jeffersons folgte, der jeden Amerikaner ausreichend mit Land versorgen wollte, als dem Konzept John Adams', des vor Jefferson amtierenden zweiten Präsidenten der Vereinigten Staaten, der wie Cooper die führende Rolle des Großgrundbesitzes erhalten wollte. - Formal bewirkt die Orientierung an abstrakten Idealen im amerikanischen romantischen Roman auch sonst eine Tendenz zu Spekulation und Analyse. Wiederholt ließe sich von einer Art Ideen- oder Thesen- bzw. Problemroman sprechen, wie er im zeitgenössischen englischen Roman, der, von Godwin abgesehen, eher einen anti-intellektualistischen Grundzug hat, nicht vorkommt. Zwar wird von den Amerikanern die Kunst effektvoller Schilderung, wie sie etwa Scott und Dickens übten, übernommen, aber die malerisch-ausbreitende, bildhaft-konkrete Gestaltung bleibt nicht der beherrschende Darbietungsmodus, und gelegentlich kann die Problemerörterung wie in Coopers 'Prairie' durch Langatmigkeit die Darstellung gefährden.

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Nach C. B. Brown machte in umfassender Weise zuerst JAMES FENIMORE CooPER50 (1789-1851) von den für den romantischen Roman geeigneten amerikanischen Gegebenheiten Gebrauch. Er wandte dabei, besonders anfangs, Scotts Romanschema an, doch blieb er durch seine schöpferische Begabung und die (im Vorstehenden charakterisierten) Eigentümlichkeiten der amerikanischen Situation vor bloßer Nachahmung bewahrt. Wie Jefferson stammte der aristokratische Grundherr Cooper aus dem kolonialen Grenzgebiet, wo er sich nach einigen Jahren an der Universität Yale und auf Segelschiffen der Kriegsmarine seinem großen, vom Vater ererbten Familienbesitz (Cooperstown) sowie landwirtschaftlichen und politischen Fragen widmete (s. S. 667), außerdem einer an Umfang erstaunlichen, in dreißig Jahren allein auf 33 Romane anwachsenden literarischen Tätigkeit. Coopers Heimat, der waldund seenreiche Westen des Staates New York, wird in vielen seiner Romane vor allem in The Pioneers' - wieder lebendig. Aus den unheimlichen Schlössern der Schreckensromane, aus der Enge der Gesellschaft und der sentimentalen Bezirke führte Cooper seine Leser hinaus in die Weite der Wälder, Prärien und Meere, hin zum Schauplatz seiner abenteuerlichen Handlungen. An die Stelle von Scotts Grenzlandkriegen zwischen England und Schottland tritt bei Cooper der Unabhängigkeitskrieg zwischen den amerikanischen Kolonien und dem Mutterland zu Wasser und zu Lande, oder, weiter zurückliegend, das Ringen der Engländer und Franzosen um das kanadische Seengebiet. Für die historische Rekonstruktion hatte Cooper natürlich weniger Stoff als Scott, aber den in Waverley gegebenen Grundgegensatz zwischen zeitgenössischer, schon städtisch-kaufmännisch bestimmter Zivilisation (Edinburgh) und urtümlicher, auf gegenseitiger Treuebindung beruhender Lebensform in unzugänglicher Wildnis (schottisches Hochland) konnte er in den Lederstrumpfromanen aufgreifen. Was bei Cooper an Farbigkeit und Detailliertheit der schottisch-englischen und mittelalterlichen Welt Scotts verloren geht, wird aufgewogen durch die romantische Großartigkeit der amerikanischen Landschaft und eine mythisierend ins Allgemeingültige erhobene Polarität von edler Wildnis und kämpfend und siedelnd vordringender Zivilisation, die allerdings sich selbst und die Wildnis mit Korruption bedroht, zumal im Grenz50

B i b l i o g r . und Forschungsber. s.S. 559. - W e r k e : Mohawk Edn., 33 Bde. (N.Y., 1895-1900); The Writings of J. F. C., ed. J. F. Beard, 48 Bde. angekündigt (Clark Univ., Worcester, N.J.); zahlreiche Einzelausgaben der bekanntesten Romane, z. B. in EL, WC; Auswahl der nicht-belletristischen Prosa, ed. R. E. Spiller (N.Y., 1936) [mit Einl., Bibliogr. u. Anm.]. - Letters and Journals, ed. J. F. Beard, 6 Bde. (Cambr., Mass., 1960-68). - B i o g r a p h i e u. K r i t i k : T. R. Lounsbury, J. F. C. (Boston, 1883); J. Grossman, J. F. C. (N.Y., 1949; Stanford, Calif., 1967); W. S. Walker, J. F. C. (N.Y., 1962). - K r i t i k (s. auch vorausgehende Fußnote): D. Waples, The Whig Myth of J. F. C. (New Haven, 1938; Hamden, 21968) [C.s kontroverser polit. Standpunkt]; A. Schulenberger, C.'s Theory of Fiction (Lawrence, Kansas, 1955); D. Davie, The Heyday of Sir Walter Scott (1961) [bestes Verstehen C.s durch Verstehen S.s]; G. Dekker, J. F. C. the Novelist (1973); B. Nevius, C.'s Landscape: An Essay on the Picturesque Vision (Berkeley, 1976).

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land, wo die Gesetze keiner Seite voll gelten. Die meist heroisierten, die reinsten Prinzipien der Natur und Kultur verkörpernden Protagonisten haben mit Scotts schwankendem „mittleren Helden" nichts mehr gemein. Mit dieser romanzenhaft-imaginären, philosophisch unterbauten Ausrichtung verstärkte Cooper die schon bei C. B. Brown einsetzende amerikanische Tradition eines romanzenhaften Ideen- und Problemromans (vgl. S. 581 u. S. 667), der sich deutlich vom stärker realistischen und im engeren Sinne moralischen viktorianischen Gesellschaftsroman ('novel of manners') unterscheidet. Zunächst freilich entstand eine weniger ausdrucksstarke amerikanische Form des historischen Romans mit The Spy (1821), einer Erzählung aus der Zeit George Washingtons, der aber - nach Scotts Rezept - nur als Nebenperson auftritt, während der Held wie Waverley zwischen den Parteien pendelt. Scotts Adelige sind durch die Pflanzeraristokratie aus Virginia, zum Teil mit historischen Namen, ersetzt. Und wie bei Scott ist die humoristisch-realistische Schilderung schlichter Charaktere weit besser gelungen als die oft schablonenhafte Darstellung von Standespersonen und Frauen, was nicht ausschließlich ein Mangel der literarischen Darstellung, sondern zum Teil auch ein Widerschein der Gesellschaftsideale der Zeit ist. Neben der großen Reihe historischer oder der Frontier-Erzählung nahestehender Romane (letzter der in Michigan um 1812 spielende The Oak Openings, 1848) schrieb Cooper mit größerem künstlerischen Erfolg die ersten Seeromane. The Pilot (1824) entstand aus dem Widerspruch des ehemaligen Seeoffiziers zu Scotts zwei Jahre zuvor erschienenem The Pirate'. Er ist schwach in der Liebesgeschichte, worin Cooper fast immer versagte, aber meisterhaft in der Charakterisierung des Long Tom Coffin. Sobald der Schauplatz auf die amerikanische Fregatte übergeht, wird der Roman zum spannenden Bericht des mit allen Einzelheiten der Segelschifftaktik (die Cooper aus seiner Seeoffizierszeit kannte) erzählten Manövrierens im Sturm und im Kampf mit den verfolgenden englischen Kriegsschiffen. Das ist auch die Stärke der Piratengeschichte The Red Rover (1827), die von Anfang bis Ende vom Atem des Meeres durchdrungen ist. Es folgen weitere Seegeschichten: The Two Admirals (1842), mit dem Höhepunkt eines englisch-französischen Seegefechts, und Afloat and Ashore (1844) voll autobiographischer Bezüge. Diese Romane sind Dokumente der alten Segelschiffromantik, mit auschließlicher Betonung der romantischen Seite. Mit ihnen beginnt die Tradition, die Marryat und andere übernahmen und nach der realistischen Seite hin ergänzten, und die fortan eine beliebte Gattung in der angelsächsischen Literatur bilden sollte über Melville bis hin zu Conrad, bei denen nicht mehr die Abenteuergeschichte das Wesentliche ist, sondern die menschliche Problematik und die symbolische Bedeutung von Meer, Schiff und Besatzung. Noch einflußreicher waren Coopers Lederstrumpfromane. Sie wurden zu verschiedenen Zeiten geschrieben, fügen sich aber zu einem geschlossenen Gesamtbild und einer von Cooper selbst im 'Preface' zur Gesamtauflage von 1850 interpretierten inhaltlichen Folge zusammen: The Deerslayer (1841), The Last of the Mohicans (1826), The Pathfinder (1840), The Pioneers (1823),

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The Prairie (1827). Die zu Idealgestalten erhöhten Trapper und Indianer, besonders der Grenzer Natty Bumppo (= Leatherstocking), der die besten Werte der Zivilisation mit denen der (in zunehmendem Maße als Lehrmeisterin akzeptierten) Wildnis vereinigt, sind das menschliche Gegenbild zu der Natur, in die Cooper die Mächte der modernen Zivilisation nur mit Trauer und Kulturpessimismus eindringen sah. Nicht nur die sinnlose Zerstörung der reichen Tier- und Pflanzenwelt, auch die Korrumpierung ganzer Indianerstämme und der ohne Rechtsanspruch landbesetzenden Siedler (squatters), sind Stationen auf diesem Weg. Dennoch boten die spannende Ereignisfülle und die große Natur der weiten Wälder und Seen eine Poesie, für die SaintPierre und Chateaubriand die alte Welt empfänglich gemacht hatten. Der neu erschlossene Raum des amerikanischen Westens und die im Leser erweckte Anteilnahme am Geschick des Haupthelden machen den sorglosen Aufbau und die gelegentliche Weitschweifigkeit, vor allem des Dialogs, vergessen, und wahrscheinlich trägt bei vielen Lesern auch die romanzenhafte Einfachheit und Unwirklichkeit der Handlung zur Popularität bei. Coopers Erfolg kam, besonders in Europa, dem Scotts gleich. Heute hat er wie dieser (und wie Robinson und Gulliver) einen Abstieg zur Jungenlektüre erlitten (besonders infolge der kürzenden Umarbeitung, auf denen die Bewertung Coopers meist beruht). In der Zeit des Realismus konnte der Lederstrumpf nur mehr Denkmal eines Ideals bedeuten. Die Indianer wie die weiblichen Puppenfiguren verloren ihre Anziehung, der romantische Stoff seinen Zauber, die Kritik an der Zivilisation ihren Stachel. Die Mängel der Komposition, der - gegenüber einem Irving - oft hölzerne Stil, selbst die unproblematische Robustheit des Autors sagte einem späteren, an feinnervig-psychologischen Romanen Gefallen findenden Lesepublikum nicht mehr zu. Sogar die sich weiter in die Wildnis schiebende Grenze, die noch zu Coopers Lebzeiten den Mittelwesten weit hinter sich ließ, den Mississippi überquerte und das Felsengebirge erreichte, verlor den Reiz der Neuheit. Coopers späteres Leben füllten zahllose politische Fehden aus. Sie begannen auf seiner siebenjährigen Europareise, während der er den Standpunkt des liberalen Republikaners gegenüber dem feudalistischen Europa der Restaurationszeit verfocht, wobei er im anderen Lager als Scott stand (vgl. seine europäische Romantrilogie The Bravo, The Heidenmauer, The Headsman, 1831-33). Nach seiner Heimkehr kritisierte er die neuere Entwicklung in Amerika, wobei er als individualistischer Gentleman-Farmer gleichzeitig gegen rechts und links kämpfte und als Verteidiger der Aristokratie angegriffen wurde. Seine theoretischen Schriften (u.a. The American Democrat, 1838) und seine gesellschaftskritischen Romane (vor allem The Monikins, 1836, eine Satire in der Nachfolge des 'Gulliver', sowie Satanstoe, 1845, mit The Chainbearer, 1845, und The Redskins, 1846, zur Trilogie 'Littlepage Manuscripts' gehörig, einem der ersten mehrbändigen Generationenromane) sind in ihrer Bedeutung als fiktionalisierte Sozialgeschichte (der großen Landbesitzer im Staate New York) und für Coopers Gesamtwerk erst in jüngster Zeit erkannt worden. Entsprechendes gilt für die fünf Bände Reiseliteratur

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(Sketches of Switzerland und Gleanings in Europe, 1836-38), die in ihrer Zeit die radikalen Befürworter der sich nivellierenden amerikanischen Demokratie gegen Cooper aufbrachten. In der Jefferson-Tradition, aber Jacksons Wendung zur konsequenten Demokratie mitmachend, steht JAMES KIRKE PAULDING SI (1778-1860), der Coopers Pathos durch die Ironie der Knickerbockerschule dämpfte. Er ist weit schwächer als Cooper in der Handlungsführung, aber er ist unter dem Einfluß seines Schwagers Irving ein besserer Stilist. Er suchte mit einer objektiven Indianerschilderung dem realistischen Roman entgegenzukommen. Zunächst ironisierte er die Abhängigkeit der amerikanischen Literatur von englischen Vorbildern, besonders Scott (Koningsmarke, 1823) und stellte mit dem anti-englischen Roman John Bull in America (1825) die verzerrende Berichterstattung europäischer Reisender in Amerika bloß, womit er sich, wie Cooper und Irving, an dem „literarischen Krieg" zwischen den beiden Nationen beteiligte, in den auf englischer Seite Mrs. Frances Trollope und später Dickens eingriffen. Dann schrieb er historische Romane über Amerikas Vergangenheit: The Dutchman's Fireside (1831), das, im 18. Jahrhundert spielend, den gesunden Menschenverstand und die Charakterfestigkeit der Amerikaner preist und in Handlung und Figurenkonzeption Coopers Satanstoe vorwegnimmt, Westward Ho! (1832), The Puritan and his Daughter (1849) und vor allem The Old Continental; or, The Price of Liberty (1846), einen unromantischen, z. T. autobiographischen Roman über die Revolutionszeit in New York, bewußt vom Standpunkt des einfachen Mannes aus. Pauldings genaue Entsprechung in den Südstaaten ist JOHN P. KENNEDY" (1795-1870), der in Irvings Art mit Skizzen aus dem Leben der virginischen Plantagenaristokratie begann (Swallow Barn, 1832). In dem stilistisch sicheren Horse-Shoe Robinson (1835) glückte ihm die dichterische Gestaltung eines südlichen „Lederstrumpfs" in dem realistisch gezeichneten Milieu Virginias und Carolinas. Es war Kennedy, der Thackeray zu dessen Roman The Virginians' Anregung und Stoff gab. Der wichtigste Vertreter der Kavaliertradition in der Literatur des Südens ist der Cooperschüler WILLIAM GILMORE SIMMS 53 (1806-70). Er hat Kriminalromane, Geistergeschichten und Gesellschaftssatiren - oft unter wechselnden Pseudonymen - verfaßt und bewegte Handlungen um Indianer, Grenzer und den Unabhängigkeitskrieg erfunden. Sein bedeutendstes Buch, für lange Zeit das einzige, das einen Neudruck erlebte, The Yemassee (1835), spielt 51

Works, 15 Bde. (N.Y., 1835-37); Auswahl, ed. W. I. Paulding, 4 Bde. (N.Y., 1867/8). Letters, ed. R. M. Aderman (Madison, 1962). - Biographie von A. L. Herold (N.Y., 1926). "Swallow Barn, ed. W. S. Osborne (N.Y./Lo., 1962); Horse-Shoe Robinson, ed. E. E. Leisy (N.Y., 1937). - Biographie von J. V. Ridgely (N.Y., 1966). 53 Works, 17 Bde. (Chicago, 1890); The Writings of W. G. S. (Centennial Edn.), ed. J. C. Guilds, 15 Bde. (Columbia, 1969 ff. [i. E.]); Yemassee, ed. J. V. Ridgely (N.Y., 1964). Letters, edd. M. C. Simms-Oliphant et al., 5 Bde. (Columbia, 1952-56). - J. V. Ridgely, W. G. S. (N.Y., 1962); J. L. Wakelyn, The Politics of a Literary Man: W. G. S. (Westport, Conn., 1973).

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1715 in South Carolina und schildert die Kämpfe der Siedler gegen die letzten Yemassee-Indianer. Ein Gegenstück zu The Last of the Mohicans' und The Prairie', zeigt es auch auf indianischer Seite Entartung, die dem verderblichen Einfluß der Weißen zugeschrieben wird. Auch The Cassique of Kiawah (1859), ein Roman aus der Frühzeit Carolinas - er spielt um 1684 in Simms' Vaterstadt Charleston -, ist eine an Abenteuern überreiche 'Border-Romance', die - wie alle Erzählungen des Autors - zugleich historisch und geographisch fundiert ist, ohne daß allerdings die Einschmelzung des Dokumentarischen in die Dichtung voll gelungen ist. Daneben stehen die Revolutionsromane, die das wilde Geschehen der Guerillakriegführung in den Dschungeln des Südens mit allen Gewalttaten und Grausamkeiten realistisch schildern von The Partisan (1835) über The Sword and the Distaff (1852, umgearbeitet zu Woodcraft} und The Forayers (1855) bis zu Eutaw (1856). Ohne Coopers Hang zum Poetischen zeigt Simms einen stärkeren Zug zum Melodramatischen, Sensationellen und Wilden - als Widerschein eines anderen Milieus und einer anderen Vegetation schon damals kennzeichnend für die Literatur des Südens.

6. Die Anfänge der amerikanischen Kurzgeschichte: W. Irving und E. A. Poe Im Gegensatz zu England, wo in romantischer Zeit und später die Erzählung gegenüber Roman und Essay nur eine untergeordnete Rolle spielt (s. S. 660), kommt es in der amerikanischen Kurzgeschichte54 zu einer neuen, weit ins 19. und 20. Jahrhundert wirkenden Kunst kurzen Erzählens (vgl. S. 1016 ff.). 55 Allerdings ist WASHINGTON (1783-1859), obwohl auf literarischem 54

G a t t u n g s g e s c h i c h t e n (soweit sie die Anfänge berücksichtigen): F. L. Pattee, The Development of the Am. Sh. St. (N. Y., 1923, 1966) [detailliert, obwohl im Urteil veraltet]; A. Voss, The Am. Sh. St. (Norman, Okl., 1975); G. Ahrends, Die am. Kurzgesch.: Theorie und Entwicklung (Stuttgart, 1980) [ausgewogen, auch zur gattungstheoretischen Diskussion, mit Bibl.]; vgl. A. H. Quinn u. F. H. Link (S. 665f., Anm. 49). - Die am. Sh. St., ed. H. Bungert (Darmstadt, 1972) [gattungs-theoret. Texte]. - E i n z e l i n t e r p r e t a t i o n e n u. B i b l i o g r . : Die am. Kurzgeschichte, edd. K. H. Göller u. G. Hoffmann (Düsseldorf, 1972); J. Thurston et al., Short Fiction Criticism: A Checklist of Interpretation since 1925 of Stories and Novelettes (Am., Brit., Continental), 1800-1958 (Denver, 1960); W. S. Walker, 20th Cent. Sh. St. Explication: Interpretations, 1900-1966, of Short Fiction Since 1800 (Hamden, Conn., 21967); laufende Bibliogr. in Modern Fiction Studies u. Studies in Short Fiction. - A n t h o l o g i e n : zahlreiche Sammlungen, darunter: Representative Am. Sh. St.s, ed. A. Jessup (Boston, 1923 u. ö.); Major Am. Sh. St.s, ed. W. A. Litz (N.Y./Lo., 1975); EL; WC [engl. u. am. Sh. St.s d. 19. Jhs.]. What is the Short Story?, edd. E. Current-Garcia and W. R. Patrick (Glenview, 111., 1974, Chicago [ 961]) [theoret. Texte u. Kurzgeschichten]. 55 B i b l i o g r a p h i e : H. Springer, W. I.: A Reference Guide (Boston, 1976). - W e r k e : 40 Bde. (N.Y., 1910); Complete Works, edd. H. A. Pochmann et al., 28 Bde. (Madison, Wise., 1969 ff. [i. E.]); A History of N. ., ed. E. T. Bowden (New Haven, 1964); Sketch Book, ed. T. Williamson (N. ., 1929); EL; Journals, edd. W. P. Trent et al., 3

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Niveau der Begründer der neuen Gattung, noch stark der älteren englischen Essayistik verhaftet. Sein eigenster Bereich ist die hingeplauderte, gemütvolle, stimmungmalende Skizze. Der von Natur aus beschauliche und konservative New Yorker wurde während jahrzehntelanger Aufenthalte in Europa in den verschiedensten Teilen der alten Welt heimisch, ohne seine persönliche Eigenart zu verlieren. 1807-08 gab er mit seinem Schwager J. K. Paulding die humoristisch-satirische Halbmonatsschrift Salmagundi (Gemischter Salat) heraus, die in Stil, Anlage und Ziel die Tradition des 'Spectator' und 'Citizen of the World' im Milieu New Yorks zu Anfang des vorigen Jahrhunderts anmutig fortführt und Irvings stilistische Schulung an Addison und Goldsmith zeigt. Das angeblich aus den hinterlassenen Skizzen eines alten Holländers herausgegebene Werk A History of New York by Diedrich Knickerbocker (1809), in dem Irving die geruhsame holländische Vergangenheit seiner Heimatstadt humorvoll gegen das betriebsame Yankeetum der neuen Zeit ausspielt, machte ihn zum Lieblingsdichter Amerikas und zum Mittelpunkt der Knickerbockerschule, ein Sammelname für die in New York lebenden literarischen Zeitgenossen Irvings (Paulding, Bryant, Willis u. a.). Das Werk trug ihm die Freundschaft Scotts ein, den Irving später in Abbotsford besuchte. Scott bestärkte Irvings Neigung, die Vergangenheit in romantischer Verklärung zu sehen; vor allem verwies er ihn eindringlich auf die zeitgenössische romantische Literatur Deutschlands. Die Mischung von klassizistischem Stil und romantischem Inhalt und Empfinden bewährte sich glänzend in dem von Scott angeregten Sketch Book (1819-20), einer bunten Zusammenstellung von Skizzen aus der Alten und Neuen Welt, untermischt mit kurzen Erzählungen, deren berühmteste 'Rip van Winkle' und 'Legend of Sleepy Hollow' sind. Sie verknüpfen realistisch-humoristische Charakterskizzen mit pittoresker Naturschilderung und deutschen Sagen- und Märchenmotiven nach Otmars Volkssagen (langer Zauberschlaf des Ziegenhirten Peter Klaus) und Musaeus' Volksmärchen (Legenden von Rübezahl), während The Spectre Bridegroom von Bürgers Lenore beeinflußt ist. Sie alle sind noch keine Short Stories in einem engeren, formalen Sinn, aber ihre Elemente, wenn auch in einen klassizistisch-verallgemeinernden Rahmen gestellt, werden doch für typische Effekte des Kurzerzählens genutzt: für eine auf signifikante Einzelheiten, z. B. Sonderlinge, abhebende Beschreibung, eine alles übergreifende, jedoch lockere Gefühlstönung (des Wunderbaren, Idyllischen, Amüsanten) und für eine interessante, handlungsmäßige Schlußpointe wie Bde. (Boston, 1919). - Auswahlen, ed. H. A. Pochmann, AWS (N.Y., 1934) [mit Einl., Bibliogr. u. Anm.]; ed. S. Commins (N.Y., 1945); Selected Prose, ed. S. T. Williams (N.Y., 1950 u. ö.). - B i o g r a p h i e von S. T. Williams, 2 Bde. (N. Y., 1935).- K r i t i k : Quellenstudien zu den wichtigsten Kurzgeschichten: H. A. Pochmann (s. S. 579) [mit Abdruck deutscher Texte]; W. A. Reichart, W. I. and Germany (Westport, Conn., 2 1972 [Ann Arbor, 957]); W. L. Hedge, W. I.: An Am. Study, 1802-32 (Baltimore, Md., 1965); M. Roth, Comedy and Am.: The Lost World of W. I. (Port Washington, N.Y., 1976). - Sammlungen: W. I. Reconsidered, ed. R. M. Aderman (Hartford, 1969); 1860-1974: A Cent, of Commentary on the Works of W. I., ed. A. B. Myers (Tarrytown, N.Y., 1976).

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Rips Rückkehr von mehrjährigem Schlaf, in dem er den Unabhängigkeitskrieg verpaßt hat, woraus sich eine komische Gegenüberstellung von gemächlicher alter Gesinnung und geschäftiger neuer, yankeehafter Zeit ergibt. Mit der liebenswürdigen Heiterkeit dieser und der nächsten Sammlung Bracebridge Hall; or, The Humorists (1822) hat Irving dem amerikanischen Schrifttum in Europa Eingang und Geltung verschafft. Er ist einer der wichtigen Vermittler, wozu ihn auch seine ausgedehnten Reisen in Europa befähigten. Als er 1826-28 als diplomatischer Attache in Spanien weilte, trieb er historische Studien, deren erste Ergebnisse die popularisierenden Darstellungen History of Columbus (1828) und The Conquest of Granada (1829) waren und deren reifste Frucht The Alhambra (1832) den Stil des Sketch Book wieder aufgreift und mit dem Irving eigenen Sinn fürs Pittoreske die romantische Stimmung spanischer Legenden und des alten Maurenpalastes in zarter Silberstiftzeichnung voll zum Ausdruck bringt. Nach seiner Rückkehr nach Amerika entstand, neben Reisebüchern und der beliebten GoldsmithBiographie, sein letztes großes Werk, das Life of Washington (1855-59), das nicht als historische Leistung, wohl aber als wirkungsvoll idealisiertes Lebensbild des Nationalhelden angesprochen werden kann, das die Zeitgenossen begeisterte. Der Nachwelt gilt Irving in Amerika als Begründer der amerikanischen Kurzgeschichte, während er in Europa vor allem durch seine stimmungsmalenden, halb romantischen, halb realistischen Reisebilder wirkte, worin Heine und Stevenson seine größten Nachfolger sind. Die Gattung der Kurzgeschichte ist, wie schon diese Anfänge zeigen, aufs engste mit dem Magazin- und Almanachjournalismus (s. S. 578 f.) verknüpft. JAMES KIRKE PAULDING56 ließ der gemeinsam mit Irving herausgegebenen Salmagundi-Sammlung 1819 eine zweite folgen und vereinigte die hier und in anderen Zeitschriften veröffentlichten moralisierenden Erzählungen 1836 unter dem Titel Tales of the Good Woman. Die für die begrenzte Seitenzahl der Magazine bequeme Form wurde von vielen Journalisten aufgegriffen. Insbesondere der etwas oberflächliche, aber frisch drauflos schreibende NATHANIEL PARKER WiLLis57 (1806-67) machte Schule. Er war der wichtigste Beiträger des 'Knickerbocker', der typischste Journalist zwischen 1832 und dem Bürgerkrieg. Er entspricht also zeitlich dem essayistischen Schrifttum des Altmeisters Leigh Hunt und der Generation Bulwers und Disraelis in England, die ihn auch beeinflußten. Willis hatte aber weniger zu sagen und ist deshalb am lesbarsten in den Reisebriefen aus Europa, die in Irvings Art Bericht, Erzählung und Betrachtung vereinen. Von seinen Reisebriefbänden ist der erste, Pencillings by the Way (1835), in unserer Zeit neugedruckt worden. Viel gelesen war auch der Band Dashes at Life with a Free Pencil (1845), der vorher in Zeitschriften veröffentlichte Skizzen und Geschichten enthält. Moralisierende Erzählungen mit einer Erörterung sozialer Fragen zu verbin56

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S. 671, Anm. 51. Selections, ed. H. A. Beers (N. ., 1885); Pencillings by the Way (1942). - Biographie von H. A. Beers (Boston, 1885).

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den suchten CATHARINE MARIA SEDGWICKS Tales and Sketches (1835), und LYDIA MARIA CHILD, die in der Antisklavereibewegung tätig war, flocht politische Diskussionen ein (Fact and Fiction, 1849). Aus dieser ephemeren Belletristik ragt der Romancier WILLIAM GILMORE SIMMS (s. S. 671) hervor. Die Kurzform war seiner weitschweifigen Art heilsam. Seine Geschichten, die wie seine Romane rohes Leben vergegenwärtigen (The Wigwam and the Cabin, 1845), können als einzige zwischen Irving, Poe und Hawthorne künstlerische Ansprüche befriedigen, allerdings pflegte auch er das herkömmliche Moralisieren. 58 Gerade dagegen wandte sich EDGAR ALLAN (1809-49), der die Short Story zu einer eigenen Kunstform erhob. Poe, der in seinen Erzählungen bedeutender als in seinen Gedichten ist, wurde durch Browning in England bekannt und durch Baudelaires Essay und Übersetzungen auch für die festländische europäische Literatur einflußreich. In seiner Heimat standen sein unstetes Leben und die in herausfordernden Essays vertretene rein ästhetische Bewertung der Kunst seiner Anerkennung im Wege. Seine Auffassung, die er in den Aufsätzen The Rationale of Verse (1843, 1848), The Philosophy of Composition (1846), The Poetic Principle (1850) entwickelte, weicht von der Ästhetik Coleridges, die ihn stark beeinflußte, in einem entscheidenden Punkte ab. Moralische Belehrung hatte auch Coleridge abgelehnt. Poe geht weiter; anstatt der romantischen und neuplatonischen Bindung von Schönheit und Wahrheit erklärt er das Schaffen von Schönheit als einzigen Sinn der Kunst. Das durch das Kunstwerk erweckte Vergnügen kann 58

B i b l i o g r a p h i e : E. A. P.: A Bibliography of Criticism, 1827-1967, edd. J. L. Dameron and I.B. Cauthen (Charlottesville, 1974); E. K. Hyneman, E. A. P.: An Annotated Bibliogr. of Books and Articles in English, 1827-1973 (Boston, 1974). - Complete W o r k s , ed. J. A. Harrison, 17 Bde., Virginia Edn. (N.Y., 1902 u. ö.); Collected Works, edd. T. O. Mabbott et al. (Cambr., Mass., 1969 ff. [i. E.]). - E i n z e l a u s g a ben u. A u s w a h l e n : Complete Poems and Stories with Selections from Critical Writings, edd. A. H. Quinn and E. H. O'Neill, 2 Bde. (N. ., 1946); Poems, ed. K. Campbell (Boston, 1917; repr. N.Y., 1962) [wegen der Anmerkungen noch wichtig]; ed. F. Stovall (Charlottesville, Va., 1965) [mit Textvarianten]; Poems and Essays, EL; The Short Fiction, edd. S. and S. Levine (Indianapolis, 1965) [sämtl. Kurzgeschichten, annotiert]; Tales, EL, WC, PB, ML; The Science Fiction of E. A. P., ed. H. Beaver, PB (N.Y., 1976) [m. Einl.]; Literary Criticism, ed. R. L. Hough (Lincoln, Neb., 1965); Letters, ed. J. W. Ostrom, 2 Bde. (N.Y., erw. 21966); E. A. P.: Representative Selections, edd. M. Alterton and H. Craig (N. ., 1935; repr. Darby, Pa., 1978) [gute Auswahl, vorzügl. Einl., Bibliogr.]. - B i o g r a p h i e von G.E. Woodberry, 2 Bde. (Boston, 1909) [mit Briefen]; von A. H. Quinn (N.Y., 1941); J. C. Miller, Building P. Biography (Baton Rouge, 1977) [Anfang neuer Materialerschließung]. K r i t i k (s. auch S. 582, Bowra): E. H. Davidson, P.: A Critical Study (Cambr., Mass., 1957); K. Schuhmann, Die erzählende Prosa E. A. P.s (Hdbg., 1958); F. H. Link, E. A. P.: Ein Dichter zw. Romantik u. Moderne (Frankfurt, 1968); R. Asselineau, E. A. P. (Minneapolis, 1970) [prägnante Einführung]; G. R. Thompson, P.'s Fiction: Romantic Irony in the Gothic Tales (Madison, 1973) [Versuch, Komik u. „Gotisches" zu verbinden]; E. W. Parks, E. A. P. as Literary Critic (Athens, Ga., 1964). Sammlungen: The Recognition of E. A. P., ed. E. W. Carlson (Ann Arbor, Mich., 1966) [seit 1829]; TCI of P. 's Tales, ed. W. L. Howarth (Englewood Cliffs, N.J., 1971).

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- wie im Schreckensroman und bei deutschen Romantikern - auch innerhalb der Sphäre des Grauens und der Schwermut erwachsen, das Seltsame und Geheimnisvolle ist sogar besonders geeignet, dieses ästhetische Ziel zu erreichen, weshalb ihm z. B. der Tod einer schönen Frau als höchster Gegenstand der Poesie erscheint. Er übernimmt Coleridges Formulierung, daß jedes Kunstwerk eine organische Einheit darstelle, fordert aber, angeregt durch A. W. Schlegels Begriff der Einheit des Interesses und des Gesamteindrucks auf das Gemüt (s. S. 570) größte Intensität der emotionalen Wirkung, wie sie nur durch ein kurzes literarisches Kunstwerk zu erzielen sei, da heftige Gefühlssteigerungen im Leser nicht lange aufrecht zu erhalten seien. Aus dieser extrem wirkungsästhetischen Position exemplifiziert er - in The Philosophy of Composition - am Beispiel seines Gedichtes The Raven die rationale, jeden Effekt vorausbestimmende und (wie Godwin in 'Caleb Williams') vom Ende aus vorgehende Komposition der Handlung und den entsprechenden Einsatz von Klang, Beschreibung, Wiederholung und Kontrastierung. Ähnlich fordert er 1842 (in Graham's Magazine) in der erstmals eine Theorie der Kurzgeschichte skizzierenden Besprechung von Hawthornes Twice Told Tales für eine Erzählung die absolute Dominanz des 'preconceived effect' oder des 'pre-established design', auf die hin alle Einzelheiten in steigender Reihe zu erfinden und alle Worte von der ersten Zeile an zu formulieren seien. In dieser Wendung zum Praktischen und Technischen, die besonders der von den meisten seiner Vorgänger gedankenlos gehandhabten Kurzgeschichte gilt, scheint ein wesentlicher Zug seines Amerikanismus zu liegen, der ihn deutlich etwa von E. T. A. Hoffmann, sonst in vielem sein geistiger Bruder, unterscheidet. Poes ästhetisches Kalkül wirkte - im wesentlichen über Baudelaires Übersetzung und hohe Einschätzung - auf die L'art pour l'art-Bewegung und den Symbolismus der klassischen Moderne ein. Seine Betonung des Gesamtentwurfs und die damit gegebene Rationalisierung des Irrationalen verbinden ihn aber auch - im Gegensatz zu den deutschen romantischen Erzählern - in eigentümlicher, so gerade im damaligen Amerika möglicher Weise (s. S. 579 f.) mit Geist und Kunstlehren des 18. Jahrhunderts, mit denen er schon über den Lektürekanon der von Jefferson gegründeten University of Virginia in Kontakt gekommen war. Wertvoller als seine ästhetischen Theorien, die ebenso wie die philosophischen Spekulationen (Eureka, 1848) in der Poe eigenen Mischung von scharfer Logik und Phantastik bestechend vorgetragen werden, sind die praktischen Beispiele, mit denen er neben Hawthorne die Kunstform der Short Story konstituierte. Seine erste Sammlung mit dem bezeichnenden Titel Tales of the Grotesque and Arabesque (1840), der 1843 und 1845 weitere Bände folgten, gibt die Atmosphäre an, die diese mit höchster Sprachkunst erzählten Anekdoten, schreckhaften Geschichten, Traumstücke oder Capriccios (um mit E. T. A. Hoffmann zu reden) erfüllt. Sie sind alle kurz, und ihre Kürze ist durch emotionale Pointierung und eine romantische Betonung von Diskrepanz, die auf Unheil oder schnelle Lösung angelegt ist (z. B. im Verhältnis von Realität und Traum, Verkennen und Erkennen, Verrätselung und Auf-

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deckung) ästhetisch gerechtfertigt. Umgekehrt zeigt die längste, The Narrative of Arthur Gordon Pym (1838), eine makabre, an Coleridges Ancient Mariner erinnernde See- und Expeditionsgeschichte aus dem südlichen Eismeer, daß Poe bei aller Virtuosität auch gegen seine Lehre von der Bindung intensiver Wirkung an Kürze verstoßen konnte. Seiner hohen Rationalität entsprach besonders die schrittweise und verblüffende Analyse, z. B. des Purloined Letter, des Gold Bug und der Murders in the Rue Morgue. In diesen Tales of ratiocination' gab Poe die ersten Muster der modernen Detektivgeschichte, die bei ihm auf den reinen Vorgang der Detektion beschränkt bleibt, ohne, wie später oft, zur Kriminalgeschichte mit groben Abenteuerelementen ausgeweitet zu werden. Typisch romantisch vergleichbar etwa dem bekannten Motiv des künstlichen Menschen in Mary Shelleys Frankenstein, E. T. A. Hoffmanns Olympia (Der Sandmann) oder Jean Pauls Maschinenmann - sind die pseudowissenschaftlichen Motive der Seelenwanderung (Tale of the Ragged Mountains), des Mesmerismus (Case of M. Valdemar), des Scheintods (Premature Burial), auch die der Angstpsychose (The Pit and the Pendulum) und des fiktiven, als intellektuelles Spiel angelegten technischen Experiments einer Atlantiküberquerung im Ballon (The Balloon Hoax), die alle mit fingierter Wissenschaftlichkeit wie etwas Tatsächliches, genau Beobachtetes erzählt werden. Mit diesen und anderen Geschichten nähert Poe sich den Möglichkeiten einer Science-Fiction-Literatur, betont aber nicht die Fakten als solche, sondern den Reiz, den sie als Wunschbilder eines brillanten und gefährlichen Könnens auf die Phantasie ausüben. Dieser Faszination entspricht, daß er wie die Vertreter des englischen Schreckensromans meist die Nachtseiten der menschlichen Natur hervorhebt, z. B. den Godwinschen Verbrecher wider Willen (The Imp of the Perverse), das in der deutschen Romantik entwickelte Doppelgängermotiv (William Wilson) und die dem Menschen eingeborene sadistische Grausamkeit (The Black Cat, in Verbindung mit Wahnsinn The Teil-Tale Heart, mit dem Rachemotiv The Cask of Amontillado). Daß diese starke Effekte suchende Kunst sich in Geschichten des Übernatürlichen besonders glänzend bewährt, erweisen die Abwandlungen des Todesthemas. The Masque of the Red Death ist ein räumlich wie zeitlich kunstvoll aufgebautes, ins Geheimnisvoll-Schreckliche und Groteske gesteigertes Libretto und Balettszenarium für einen danse macabre, The Assignation eine aller Menschlichkeit entkleidete E. T. A. Hoffmann-Geschichte vom Tod in Venedig, The Oval Portrait eine conte cruel, die erzählt, wie ein Maler der Geliebten durch das Porträtieren das Leben entzieht. Geheimnis und Sterben werden fast in jeder Erzählung bemüht und bis in letzte psychische Auswirkungen, einschließlich des Morbiden und Pathologischen verfolgt, wobei das zwischen Wirklichkeit und Traum schwebende Moment des Halluzinatorischen und Visionären eine Mehrdeutigkeit und Eindringlichkeit bewirkt, die durch symbolische Anordnung und Schilderung von Details, Räumen und Landschaften noch verstärkt wird. Aber wie diese Zeichen verbleibt die dargestellte Welt der Verrätselungen, Ängste, Psychosen und Wahnvorstellungen

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- zumal in der intensivierenden Form der Ich-Erzählung des unmittelbar Betroffenen - im Bereich der extremen Bewußtseins- und Halbbewußtseinszustände; über den Tod und das Übernatürliche wird nichts ausgesagt, genauso wie die alle Einzelheiten betastende Beschreibung der körperlich-geistigen Reaktion auf starke Reize nichts Seelenkündendes hat. Geheimnis, Schauder und Sterben, auch das Phantastische, wissenschaftlich Interessante und die gelegentliche bizarre Komik und grimmige Satire (s. S. 568) kulminieren, so pointiert und stechend sie dargeboten werden, letztlich nur im psychologischen und ästhetischen Effekt. Technisch sind diese Geschichten meisterhaft. Jedoch verschließt sich Poe durch seine Forderung, von einem Gesamteffekt ungewöhnlicher, meist emotionaler Art auszugehen und alle Begebenheiten daraufhin zu erfinden, den Zugang zu einer komplexeren Wirklichkeit. Trotz romantischer Motive und Tonlagen bleibt er damit einem Zentrum romantischer Erfahrung fern und ebenso - trotz seiner virtuos praktizierten Forderung nach Glaubwürdigkeit - einem Realismus, der in der europäischen Literatur bereits die Führung übernommen hatte. In besonders markanter Weise repräsentiert er einen - vielleicht nur in der damaligen amerikanischen Kultursituation möglichen - Sonderfall eigenwilliger Stilkombination. Seine Einsicht, daß die Kurzform Einheitlichkeit der Wirkung braucht, um ästhetisch zu überzeugen, hat bis heute nachgewirkt; wo aber Poe die Einheitlichkeit als Häufung und Steigerung von gleichartigen oder kontrastierten Gefühlsträgern verstand, sucht die moderne Short Story mehr die Widersprüchlichkeit der Realitätserfahrung, die Vielheit in der Einheit und strebt danach, die Eigenbewegung und Eigenbedeutung der Teile herauszuheben. Einzelne, die nach dem Konsens der Kritiker besten, Kurzgeschichten Poes seien besonders hervorgehoben: The Fall of the House of Usher, die Schilderung des Untergangs einer Familie und eines Hauses mit ihrer von Anfang bis Ende durchgeführten grauenvollen, unheimlichen Atmosphäre und Spannung, Ligeia, die okkulte Motive verwertende Geschichte der Verstorbenen, deren Lebenswille die zweite Frau vernichtet und in deren Gestalt aufersteht, und Eleonora, das mildere Gegenstück der Ligeia, eine phantastische Abwandlung des Motivs todüberdauernder Liebe. Daß diese ästhetische Vollendung mit einer seelischen Enge erkauft ist, tritt in Poes Lyrik noch deutlicher hervor. Andererseits zeigt sich hier die Schönheitssehnsucht des Dichters reiner. Neben Balladen mit der unheimlichen Stimmung seiner Erzählungen (The Haunted Palace und Conqueror Worm} stehen visionäre Gedichte (Dreamland; Fairyland; The City in the Sea) und Stücke warmen Fühlens wie das Sonett To my Mother und Annabel Lee. Die berühmten Gedichte To Helen, Israfel, The Raven, The Bells, Ulalume - aus den Sammlungen: Tamerlane (1827), AI Araaf (1829), Poems (1831), The Raven (1845)-, deren wortmusikalischen Zauber Emerson als Reimgeklingel abtun wollte, sind von Tennyson und Yeats als große Lyrik anerkannt worden. In Klang, Farbe und Stimmungsstärke steht Poe unter den amerikanischen Dichtern einzigartig da, ein Vergleich mit englischen Dich-

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tern wie Tennyson ist wegen des geringen Umfangs seiner poetischen Werke nicht angemessen.

7. Hawthorne und Melville Für Poe war Hawthorne der Hauptvertreter einer neuen Art des Kurzerzählens, und auch Melville nimmt einen wichtigen, erst im 20. Jahrhundert gewürdigten Platz in diesem Genre ein. Aber ebenso bedeutend und insgesamt von größerem literaturgeschichtlichen Gewicht war ihr Beitrag zum Roman. Während Cooper von der Pionierromantik, den Humanitätsidealen der Aufklärung und den agrarstaatlichen Ideen seiner Zeit beeinflußt war, zog das Werk Hawthornes und Melvilles seine Kraft aus dem Puritanismus Neuenglands, dessen menschenprägende Eigenart noch Santayanas The Last Puritan' zeigt. Zwar waren Hawthorne und Melville weder im theologischen noch im herkömmlichen Sinne Puritaner, aber sie erbten das Grübeln über die hinter den Dingen verborgenen Mächte, die illusionslose Menschendeutung und die allegorische, bald ins Symbolische ausgeweitete Kunstform. Dazu kam das aus Bibelauslegung und amerikanischer religiöser Geschichtsschreibung stammende, in der europäischen Literatur nach dem Mittelalter kaum noch wirksame typologische Denken, das die Korrespondenzen von Urbild (Typus) und Abbild, Präfiguration und Wiederholung betont, wobei letztere im Verhältnis des Neuen Testaments zum Alten Testament zugleich Erfüllung und Überbietung ist (z. B. Adams durch Christus oder der Jonasgeschichte durch die Auferstehung). In der Kirchengeschichte kommt es zu entsprechenden Wiederholungen biblischer Vorbilder (wenn z. B. ein gesetzgebender Kirchenführer als ein zweiter Moses erscheint), und in der Literatur kann schon durch eine partielle und ungenaue Anspielung auf einen biblischen Typus (vgl. zu Melvilles Bartleby S. 687) eine weitere, die Heilsgeschichte einbeziehende Bedeutungsdimension suggeriert werden. Aber Hawthorne und Melville, auf die auch ganz andere und modernere Ideen einwirkten, fühlten sich in einer Übergangszeit, in der sie wie andere Zeitgenossen nach ihrem wahren geistigen Standort suchten, und an die Stelle der Theologie trat für sie in hohem Maße der romantische Glaube an die Sendung der Kunst. Zusammen mit den begrenzten Einflüssen des zeitgenössischen viktorianischen Realismus - z. B. auf Hawthornes und Melvilles detaillierende Schilderungskunst - führte dies zu Werken von ausdrucksstarkem, so in Europa nicht gegebenem Mischungscharakter (s. S. 579 f.). NATHANIEL HAWTHORNE59 (1804-64) ist der Künstler unter den Schriftstellern Neuenglands, der, Flaubert vergleichbar, im Streben nach klassischer 39

B i b l i o g r a p h i e : B. Ricks et al., N. H.: A Reference Bibliography 1900-1971, with Selected 19th-Cent. Materials (Boston, 1972).- A u s g a b e n : Centenary Edn., edd. W. Charvat et al. (Columbus, O., 1963 ff. [i. E.]); daneben die alten Ausg.: RE, ed. G. P. Lathrop, 12 Bde. (Boston, 1883) und Standard Libr. Edn., ed. G. P. Lathrop, 15 Bde. (Boston, 1891) [mit der Biographie: N. H. and His Wife von J. Hawthorne]. The American Notebooks, ed. R. Stewart (New Haven, 1932); The English Note-

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Form nur vier vollendete Romane und über 100 Kurzgeschichten veröffentlicht hat. Mit unerbittlicher Selbstkritik vernichtete er die als unreif erachteten Jugendwerke und suchte auch seinen ersten Roman Fanshawe (1828) zu unterdrücken, der Erinnerungen an seine Studienjahre im Bowdoin College in Brunswick (Maine) mit konventionellen Motiven aus Scott und dem Schrekkensroman verschmolz. Entschlossen, sein Leben der Kunst zu widmen, lebte er zwölf Jahre in Zurückgezogenheit, in die Lektüre der puritanischen Historiker seiner Heimat vertieft, Bunyan, Milton und Spenser als Lieblingsautoren wählend und seinen Stil an den englischen Klassizisten des 18. Jahrhunderts schulend. Die frühen Erzählungen des schweigsam in sich gekehrten, einsiedlerischen Künstlers erschienen zunächst anonym und fanden wenig Beachtung. Später sammelte er sie als Twice Told Tales (1837, vermehrt 1842), denen unter dem Titel Mosses fro m an Old Manse (1846) und The Snow Image (1852) weitere Sammlungen folgten. Die Themen dieser Geschichten wie auch der späteren Romane sind der im Aufbruch befindlichen Neuenglandwelt, in der Hawthorne lebte und schrieb, entnommen; die Probleme sind gegenwärtig, aber Hawthorne schrieb nicht als Abschilderer seiner Umwelt, sondern als Chronist ihrer Vergangenheit, und bei aller realistischen Beobachtung ist die alltägliche Wirklichkeit ins Allegorische und Symbolhafte abgerückt. Das Wahre, dem er künstlerischen Ausdruck geben wollte, sah er nicht in der äußeren, sondern in der moralischen Welt, weshalb er - wie Melville und andere Amerikaner (vgl. Cooper S. 669) - keine Gesellschaftsromane viktorianischer Art schrieb, sondern philosophisch-spekulative 'romances' mit hier und da nach Art von Studien genau beobachteten Realitätspartikeln. In seinen Notebooks, die mit ihren grübelnden Betrachtungen und genauen Beschreibungen von Menschheitstypen das Rohmaterial seines schöpferischen Werks darstellen, nennt er sich selber einen psychologischen Romancier. Schon die Erzählungen behandeln moralisch-psychologische Probleme, Gewissenskonflikte von Schuld und Heimlichkeit, geistigen und moralischen Hochmut, Sünde und Reue. Mitunter wirken sie blaß und lehrhaft wie um die books, ed. R. Stewart (N. Y., 21962). - H.'s Short Stories, ed. N. Arvin (N. Y., 1946 u. ö.); Einzelausgaben aller Romane in EL, PB u. a., z. B. Scarlet Letter, edd. S. Bradley et al., Norton Critical Edition (N. Y., 1962 u. ö.). - B i o g r a p h i e n von R. Stewart (Hamden, Conn., 21970 [New Haven, 948]) [Standard]; E. Wagenknecht (N. Y., 1961) [interess. Psychographie]. - K r i t i k : R. H. Fogle, H.'s Fiction: The Light and the Dark (Norman, Okl., 1964; [ 952]) (ergänzt durch: H's Imagery: The 'Proper Light and Shadow' in the Major Romances, ebd. 1969); F. H. Link, Die Erzählkunst N. H.s (Hdbg., 1962); H. H. Waggoner, H.: A Critical Study (Cambr., Mass., 21963); M. Rohrberger, H. and the Mod. Sh. St. (Den Haag/Paris, 1966); J. C. Stubbs, The Pursuit of Form: A Study of H. and the Romance (Urbana, 1970); M. D. Bell, H. and the Historical Romance of New England (Princeton, 1971) [Motivik d. Puritanerdarstellung i. zeitgen. Roman]; N. Baym, The Shape of H.'s Career (Ithaca/Lo., 1976); A. Staal, H.'s Narrative Art (N. Y., 1976). - Sammlungen: H.: CCE, ed. A. N. Kaul (Englewood Cliffs, N. J., 1966); B. B. Cohen, The Recognition of N. H.: Selected Criticism since 1828 (Ann Arbor, Mich., 1969). - S. auch S. 665 f., Anm. 49.

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Themen konstruiert. Hierin wie in seiner meist auslegbaren allegorischen Sinnorientierung, die zwar eine (jeweils definierbare) Mehrdeutigkeit zuläßt, nicht aber die irrationale Bedeutungstiefe des Symbolischen im romantischen Sinne, gehört Hawthorne eher der Vergangenheit an, auch in seiner modifizierten Weiterverwendung biblisch-typologischer und emblematischer Denkund Gestaltungsformen. Jedoch weist er zugleich und stärker als die Viktorianer auf das 20. Jahrhundert voraus, weil er als einer der ersten die Form der auch seine Romane strukturierenden psychologischen Situationserzählung findet, die erst nach einem einschneidenden Ereignis beginnt und sich statt auf novellistische Ereignispointierung oder poesken Schauereffekt auf die Analyse der menschlich veränderten und sich weiter wandelnden Konstellation konzentriert, teilweise aus der Haltung eines die wesentlichen Faktoren isolierenden und beobachtenden wissenschaftlichen Experiments heraus. So kreist The Minister's Black Veil um das Sündenbewußtsein, Roger Malvin 's Burial um die Reue, Young Goodman Brown um den Glaubensverlust. In Dr. Heidegger's Experiment werden die Menschen verjüngt, aber ihre Laster bleiben. In The Ambitious Guest wird der stolze Streber nach Ruhm und Geld von einer Lawine verschüttet. The Birthmark und Rappacini's Daughter lassen den Wissenschaftler sein Kostbarstes, Frau und Tochter, in überheblichem und also freventlichem Erstreben seiner Ideale zerstören. Der wahre Künstler trägt sein Glück in sich, auch wenn die unverständige Welt sein Werk zerstört wie den künstlichen Schmetterling des Uhrmachers Owen Warland (The Artist of the Beautiful). Der gewöhnliche Schatzsucher zerstört das Wertvolle und findet Tand (Peter Goldthwaite's Treasure). Allegorischer Sinnbezug und modern anmutende Situationserhellung durchziehen auch die historischen Erzählungen, die in Bostons puritanischer Frühzeit spielen. Das Ethos der schlichten Puritaner wird dem aristokratischen Hochmut der alten Welt gegenübergestellt (Legends of the Province House; Howe's Masquerade; Edward Randolph's Portrait; Lady Eleanor's Mantle; Old Esther Dudley). Puritanische Unduldsamkeit weist Hawthorne bitter-ironisch zurück, oder aber er läßt den finsteren Puritanergeist vor der reinen Liebe junger Menschen Halt machen (The Maypole of Merry Mount). Diese Geschichten, die den Geist einer vergangenen, aber noch als wirksam empfundenen Zeit beschwören und mitunter in einer Art Traumrealität spielen, sind langsam ausgereifte Schöpfungen, mit sicherer Hand geführt, in klarer, an das 18. Jahrhundert erinnernder Sprache gehalten und nicht zu stark didaktisch, sondern mit Sinn für historische Atmosphäre und Problematik konzipiert. Sie sind Vorspiel und Parerga der großen Romane, als deren erster und bester The Scarlet Letter (1850)60 erschien. Der Roman ist die schon in der Erzählung 'Endicott and the Red Cross' anklingende, in das puritanische Boston des 17. Jahrhunderts verlegte Geschichte der Gewissensqualen eines Geist60

A 'S. L.' Handbook, ed. S. L. Gross (San Francisco, 1960); TCI of S. L., ed. J. C. Gerber (Englewood Cliffs, N.J., 1968).

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liehen, der mit der Frau eines verschollen geglaubten Mannes verbotenen Umgang hatte. In gewisser Weise handelt es sich um einen historischen Roman, der aber nicht wie bei Scott bestimmte Ereignisse und Persönlichkeiten zugrundelegt, sondern mittels einer exempelhaft erfundenen Geschichte die Problemlage der englischen Puritaner in der Neuen Welt - die Konflikte zwischen Wildnis und hartem Gesetz, zwischen Leidenschaftlichkeit und lebensfeindlicher Theologie und Theokratie - darstellt und, auch als zeitloses moralisch-psychologisches Thema, analysiert. Dies geschieht als Auseinandersetzung zwischen einer innerlich freien und einer autoritativ gebundenen Weltanschauung bis in die unentschiedene Erzählhaltung hinein, in der eine romantisch idealisierende und liberale Bejahung der Gemütskräfte mit der Bereitschaft verbunden wird, den Rigorismus der Vorfahren zu verstehen und, wie im Vorwort The Custom-House' erörtert, ihre Schuld zur eigenen Sache zu machen und zu sühnen. Unter diesen Voraussetzungen tritt die epische Erzählung vom Vergangenen zurück; der Bericht setzt wie in vielen der Situationserzählungen erst nach der Tat, hier der begangenen Sünde, ein. Der Gatte findet seine ungetreue Frau am Pranger stehend, ihr uneheliches Kind im Arm und mit einem aus rotem Tuch geschnittenen A (Adulteress) gezeichnet. Aber nicht die Frau, sondern der Gatte wird der Hauptschuldige, da er die Rache freventlich in eigene Hände nimmt und in der monomanischen Suche nach dem Ehebrecher sich selbst moralisch erniedrigt. Der Liebhaber, der zwar innere Qualen leidet und reuig ist, sündigt weniger durch seinen einmaligen Fehltritt als durch geistlichen Stolz, der ihn nicht öffentlich bekennen läßt. Beide Männer richten sich so durch Eigensucht und selbstzerstörerische Verheimlichung zugrunde, während die Sünderin Hester Prynne zur eigentlichen Heldin wird. Sie ist über ihr Leid erhaben, weil sie durch ihr offenes Bekenntnis büßte ("the world's law was no law for her mind"), und nun, furchtlos am Rande der Wildnis und außerhalb der geistigen Enge der Siedlung lebend, die Freiheit zu einem Neubeginn findet, der ihrer natürlichen Herzenskraft entspricht. Obwohl auch der Liebhaber durch die Macht der Natur zu seinem tieferen Selbst erweckt wird und sich schließlich öffentlich zu Hester bekennt, gelingt ihm ein Wandel nicht mehr, weil er - auch darin eine Verkörperung des Puritanertums - der Gefangene seiner alten Naturfeindlichkeit und Gesetzesstrenge bleibt, ohne die er nicht mehr existieren kann. Durch dieses tragische, die Eitelkeit menschlicher Strafe erweisende Geschehen hindurch wird der Roman zur verkörperten Stimme Gottes, dem allein die Rache überlassen wird. Diese vollzieht sich in der wachsenden Qual des Sündenbewußtseins, das aber nicht nur psychisch und physisch zerstört - in einem der modernen Psychosomatik gemäßen seelisch-körperlichen Wechselverhältnis -, sondern auch eine rettende religiöse Wiedererweckung bewirkt, wie es ähnlich der neuenglische Theologe Jonathan Edwards in Faithful Narrative of the Surprising Work of God' (1737) an vielen Fällen dargestellt hatte. Vornehmlich durch diesen religiösen Zug vermeidet Hawthorne die Begrenzungen des Historischen und des Realismus, dessen psychologische (besonders von Henry James aufgegriffene) Analyse er vorwegnimmt.

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Hawthorne, dessen innerstes Wesen der Tragik immer gewärtig war, hatte seinen einmaligen Gegenstand gefunden. Trotzdem zog er selbst dem Scharlachroten Buchstaben The House of the Seven Gables (1851) vor, vielleicht wegen der technischen Meisterschaft von Einführung, Inbeziehungsetzen der Menschen und Verknüpfung sagenhafter mit gegenwärtigen Motiven, vielleicht um der pastellartigen Zeichnung von Gemütsbewegungen willen oder auch darum, weil durch die altmodischen Vorhänge des düsteren Hauses mehr Sonne dringt, als man es sonst bei Hawthorne gewohnt ist, was auch Henry James an diesem als ungeheuren Torso empfundenen Roman besonders anzog. Das ehedem stattliche, jetzt verfallende Neu-England-Haus umschließt die Schicksale eines einst stolzen, jetzt wunderlichen Geschlechts, das sich in der armen, alten, einen Kramladen eröffnenden Hepzibah, ihrem Bruder Clifford, der (des Mordes verdächtig) im Zuchthaus kindisch geworden ist, und in dem heuchlerischen Verwandten, dem Richter Pyncheon, zu erschöpfen scheint. Das Schicksal aller Pyncheons begann in dem Augenblick, als der der Hexerei bezichtigte Matthew Maule vom Galgen herab seinen Hauptankläger, Colonel Pyncheon, hoch zu Roß gewahrte und ausrief: "God may give him blood to drink", ein Fluch, der sich bei den Bewohnern der Sieben Giebel, die sich auf dem Grund und Boden des Gerichteten erheben, seit dem rätselhaften Tod ihres Begründers bewahrheitete. Die Lösung des Fluchs wird durch die Heirat der Nachkommen beider Familien mit der Hawthorne eigenen, bedächtigen Art auf romantische Weise vollzogen. Hawthorne, der den Transzendentalisten locker verbunden war und deren Propheten Emerson gelten ließ, hat den in diesem Kreise üblichen Optimismus nicht geteilt (vgl. die Erzählung 'Celestial Railroad'). Er beteiligte sich zwar an dem sozialen Experiment der Brook Farm, wie sehr er aber skeptischer Beobachter blieb, zeigt der aus diesem Erlebnis hervorgegangene Roman The Blithedale Romance (1852), den Henry James besonders liebte, vielleicht deshalb, weil die Geschichte nicht wie die anderen Romane von einem allwissenden Autor erzählt ist, sondern aus der Perspektive eines Augenzeugen, der Gesehenes berichtet und seine Schlüsse zieht. In diesem Bericht erscheint Hollingworth, der seiner utopischen Farmgründung alles opfert, als ein durch selbstsüchtige Philanthropie sündiger Fanatiker, der die mit tiefer Empfindung um ihn werbende Zenobia (die mit Margaret Füllers Zügen ausgestattete Heldin) zum Selbstmord treibt. Diese Szenen sind mit großer Kraft gestaltet. Der Kommentar des Autor-Erzählers über die Reformbewegungen der 50er Jahre verschafft dem Roman ein zeitnahes Interesse; gerade dadurch kommt aber etwas Zwitterhaftes in die allegorisch-zeitlose Hawthorne-Welt. Der letzte Roman The Marble Faun (1860) kehrt zurück zu Hawthornes Zentralthema: der Wirkung eines Verbrechens auf das Gewissen. Als Hintergrund des Seelendramas ist diesmal das zeitgenössische Italien gewählt, es ist aber nur Szenerie, was die als Längen wirkenden Rombeschreibungen bestätigen. Die Charaktere haben nichts mit Italien zu tun. Der dem Marmorfaun gleichende Graf Donatello, der den Nebenbuhler mit Miriams Einverständnis tötet, ist in gemeinsamer Schuld mit der Geliebten verbunden, bis

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das Gewissen ihn zum Geständnis treibt. Auch die unschuldige Freundin Miriams, die aber um das Verbrechen weiß, kann erst nach abgelegter Beichte in ehelicher Verbindung mit ihrem Geliebten Frieden finden. Das Schuld-undSühne-Problem ist in diesem auf italienischem Boden spielenden Roman, dessen Figuren alle ihr Glück einbüßen, mit einer fast erschreckenden puritanischen Härte gehandhabt. Hawthorne interessierten die Seelenzustände mehr als die Menschen, das Geschick der Menschheit und ihrer geistigen Traditionen mehr als die Individuen, die fast immer zugleich Ideenträger sind. So steht er ebenso den philosophisch-religiösen Transzendentalisten nahe wie den späteren Vertretern des psychologischen Romans. Seiner formalen Leistung wegen kann er als Erster der amerikanischen Romanciers gelten. In einem engumgrenzten Bezirk hat er Vollendung erreicht. Aus der gleichen religiösen Grundhaltung, aber mit komplementären Anlagen, schrieb HERMAN MELVILLE61 (1819-91), alle Tradition hinter sich lassend, seine erst heute gewürdigten Werke. Er begann mit Seeromanen in der Nachfolge von Cooper, der in den vierziger Jahren - begünstigt durch den Aufschwung der Schiffahrt - eine Reihe von Nachfolgern gefunden hatte, darunter Marryat in England und in Amerika Richard Henry Dana mit seinem einzigen, aber klassischen Buch Two Years before the Mast (1840). Einer angesehenen, aber verarmten Familie entstammend, wurde der neunzehnjährige Melville als Schiffsjunge auf ein Handelsschiff verschlagen. Fast alle seine Romane gehen auf das Erlebnis der großen Seefahrt zurück, die ihn 1841-44 auf Walfangbooten und einem amerikanischen Kriegsschiff durch die Weltmeere und zu den Südseeinseln führte. Sein erstes Buch Typee: A Peep at Polynesian Life during a Four Months' Residence in the Marquesas (1846) schildert, gewissermaßen Conrad vorwegnehmend, die Abenteuer des desertierten Matrosen Tommo und der schönen Fayaway unter den Eingeborenen des Taipitales. Die flüssig erzählte, span61

B i b l i o g r a p h i e : B. RicksandJ. D. Adams, H. M.: A Reference Bibliography 19001972, with Selected 19th-Cent. Materials (Boston, 1973).- The W o r k s , ed. R. M Weaver, 16 Bde. (1922-24); The Writings of H. M. (Northwestern-Newberry Edn.), edd. H. Hayford et al., 15 Bde. (Evanston, 111, 1968 ff. [i. E.]); Complete Stories, ed. J. Leyda (N. Y., 1949); Moby Dick, edd. H. Hayford and H. Parker (N. Y., 1967); ed. H. Beaver, PB; Billy Budd, edd. H. Hayford and M. M. Sealts (Chicago, 1962); ed. M. R. Stern (Indianapolis, 1975); Billy Budd and Other Stories, ed. H. Beaver, PB. Letters, edd. M. R. Davis and W. H. Oilman (New Haven, 1960). - B i o g r a p h i e : L. Mumford, H. M.: A Study of His Life and Vision (21962); G. H. Allen, M. and His World (N. Y, 1971); E. H. Miller, M. (N. Y., 1975);- K r i t i k (s. auch S. 665 f, Anm. 49): R. Chase, H. M. (N. Y., 1949); R. H. Fogle, M.'s Shorter Tales (Norman, Okl., I960); E. Dryden, M.'s Thematics of Form: The Great Art of Telling the Truth (Baltimore, 1968); J. D. Seelye, M.: The Ironic Diagram (Evanston, 1970); W. H. Shurr, The Mystery of Iniquity: M. as Poet 1857-1891 (Lexington, 1972); R. B. Bickley, The Method of M.'s Short Fiction (Durham, N. C, 1975). - Sammlungen: The Recognition of H. M., ed. H. Parker (Ann Arbor, 1967); H. M., edd. P. G. Buchloh u. H. Krüger (Darmstadt, 1975). - Hilfsmittel: H. Vincent, Guide to H. M. (Columbus, O, 1969).

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nende Handlung beschreibt ein rousseausches Paradies. Die Schattenseite dieser Welt wird verdeutlicht in der mehr episodenhaften Fortsetzung Omoo: A Narrative of Adventures in the South Seas (1847) mit der Schilderung der sich auflösenden Ordnung auf einem Walfischfänger und des verderblichen Einflusses der weißen Zivilisation auf die Polynesier in Tahiti. Diese Dichtung und Wahrheit mischenden Reiseberichte mit dem exotischen Lockruf, den aufregenden Schilderungen von Seemannsleben und Fluchtszenen fanden Leser ebenso wie die Seeromane eines Smollett, Cooper und Marryat. Daß Melvilles Haltung von diesen grundverschieden ist, zeigen die nächsten Romane, in denen die Brutalität des Matrosendaseins und die Bedrückung durch die Armut die Dominante bilden. In Redburn: His First Voyage (1849, als Dickens seinen David Copperfield begann) schildert er in Erinnerung an seine leidvolle Schiffsjungenzeit 62 die Einführung eines unerfahrenen, sensiblen Knaben ins Leben, dessen mitleidlose Härte durch das Elend der Liverpooler Slums erschütternd verdeutlicht wird. In White Jacket: or The World in a Man-of-War (1850)63 wird in einer Fülle von Einzelbeobachtungen und Charakterbildern - von der Idealgestalt Jack Chase über den herzlosen Schiffsarzt Cuticle bis zu dem bösen Bland - das tägliche Leben auf einem Segelkriegsschiff veranschaulicht. In dieser Welt im kleinen werden soziale Unzulänglichkeiten und inhumaner Geist gegeißelt. In dem Nachläufer Israel Potter: His Fifty Years of Exile (1855) wird der Erzählrahmen - das Schicksal eines lange Zeit an der Heimkehr verhinderten und schließlich von seinem Vaterland im Stich gelassenen amerikanischen Kriegsgefangenen in England - in der Form von Memoiren mit dramatischen Szenen und historischen Porträts aus der Zeit der Sezessionskriege gefüllt. Alle diese Romane spielen trotz des exotischen Schauplatzes, trotz mancher eingeschobenen Betrachtung und symbolischen Bezugnahme in der realen Welt. In Mardi: and a Voyage Thither (1849)64 geht die Reise ins Land der Allegorie. Der von einem Walfangboot desertierte Taji wird in das paradiesische Inselland Mardi verschlagen, wo er eine kurze Glückszeit mit der geliebten Yillah verlebt: plötzlich verschwindet Yillah, und nun beginnt trotz dauernder Verlockung durch böse Mächte Tajis Suche "over an endless sea" nach dem verlorenen Ideal. Mardi ist eine Allegorie der Welt, und die einzelnen Inselreiche, die Taji berührt, verkörpern England, Amerika, Europa, das Christentum u. a., die nach dem Muster von Swifts Gulliver satirisch dargestellt werden. Der Sinn dieser durch Vagheit der Symbole verwirrenden und durch versteckte Anspielungen überlasteten Reise durch die Länder des Geistes bleibt rätselvoll. Zu künstlerischer Klarheit kam dieser Sturm und Drang in dem Hawthorne gewidmeten Meisterwerk Moby Dick; or The Whale (1851).65 In die 62

W. H. Oilman, M.'s Early Life and Redburn (N. Y., 1951). H. P. Vincent, The Tailoring of M.'s W. J. (Evanston, 1970). 64 M. R. Davis, M.'s Mardi (New Haven, 1952). 65 Vgl. M. O. Percival, A Reading of Moby Dick (Chicago, 1950); TCI of M. D., ed. M. T. Gilmore (Englewood Cliffs, 1977). 63

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realistische Abenteuergeschichte der Jagd nach dem weißen Pottwal ist der symbolische Bericht des verzweifelten Kampfes zwischen Mensch und Schicksal eingebettet. Der Wal verkörpert die brutale Gewalt der Natur, die jeden menschlichen Versuch, ihr einen Sinn abzuringen, zunichte macht. Die herbe, ja tragische Auffassung von der Unerbittlichkeit des Lebens und von der Macht des im Wal Gestalt gewordenen absolut Bösen gibt dem breiten, durch Monologe zerdehnten Roman epische Größe und erhebt ihn ins Mythische. Das realistische Detail kann ungeformter Rohstoff bleiben, wie mehrfach bei Darstellung und Erläuterung der Walfängerei, meist aber wird es zu hochintensiven, romantisch getönten Wirkungen gesteigert, unter denen - wie in den Erzählungen - die Vertiefung des Konkreten zum rational-unausschöpfbaren Symbol die eigentliche Neuerung gegenüber Hawthornes mehr allegorisch-typologischem Verfahren darstellt (z. B. bei Schilderung des dunklen Eingangs der Spouter-Inn, Kap. III, und der nur mit einer Strickleiter zu erreichenden, schiffsbugähnlichen Kanzel Father Mapples, Kap. V, - "it must symbolise something unseen"). Letztlich ordnet sich alles der gespenstigen Welt des Schiffes unter, dessen kosmopolitische Mannschaft - von den brutalen Harpunieren bis zu den Yankeeoffizieren - von dem monomanischen Kapitän Ahab mit seinem Elfenbeinstelzfuß beherrscht wird. Alles Geschehen geht zwingend dem apokalyptischen Ende zu: Der Wal wird harpuniert, verwickelt aber Ahab in der Fangleine, und das mit Satan verglichene Schiff reißt die ganze Mannschaft in die Tiefe. Nur Ishmael überlebt, dem der Roman als Ich-Erzählung in den Mund gelegt ist. Moby Dick hatte zu seiner Zeit keinen Erfolg, und der Fehlschlag von Pierre: or, The Ambiguities (1852) hat Melville das Zutrauen zu sich selbst genommen. Dieser Roman ist unter Verzicht auf den romantisch anziehenden Schauplatz des weiten Meeres in die moderne New Yorker Gesellschaft verlegt, in deren Konventionen der aus lautersten Motiven handelnde Held sich tragisch verfängt und sich und die Seinen vernichtet. Pierre entdeckt, daß die Fabrikarbeiterin lsabel seine illegitime Halbschwester ist; um sie zu legitimieren, geht er eine Scheinehe mit ihr ein und lebt, wie Melville, als erfolgloser Schriftsteller. Aus dem altruistischen Handeln folgt ein Unheil nach dem anderen: Pierres Verlobte Lucy stirbt, weil Pierre sie verlassen und den ihn bedrängenden Bruder Lucys getötet hat. Pierres Mutter stirbt über der Schande der Verurteilung ihres Sohnes, und die Geschwister Pierre und lsabel begehen Selbstmord in der Gefängniszelle, weil sie sich lieben. Was in den über die Wirklichkeit hinausgreifenden Seeromanen wahr und überzeugend wirkte, bleibt in der Enge des realistischen Rahmens unglaubhaft, und die Greuelhäufung, die Melvilles Verzweiflung ausdrücken sollte, nimmt man nicht mehr ernst. Nach dem Mißerfolg seiner Romane veranlaßte ihn wirtschaftliche Not zum Schreiben einer Reihe von Erzählungen, deren beste in The Piazza Tales (1856) gesammelt wurden. Die Form zwang ihn zu künstlerischer Konzentration, Eine der bedeutendsten ist Benito Cereno,66 die mit meisterhafter 66

M.'s B. C.: A Text for Guided Research, ed. J. P. Runden (Lexington, Mass., 1965); A B. C. Handbook, ed. S. L. Gross (Belmont, Calif., 1965).

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Enthüllungstechnik von einem zunächst nichtsahnenden, dann zur Erkenntnis durchstoßenden amerikanischen Kapitän erzählte Geschichte einer Negersklavenmeuterei auf einem spanischen Schiff vor Chile, voll atmosphärischer Spannung und unheimlicher symbolischer Doppeldeutigkeit der Erscheinungswelt, deren scheinbare Harmlosigkeit sich mehr und mehr als bösartig entpuppt. Vielleicht noch ausdrucksvoller, da den optimistischen Zeitgeist kritisch beleuchtend, eventuell auch Melvilles Verzweiflung über sein erfolgloses Schreiben ausdrückend, ist Bartleby the Scrivener. An dem einst im Amt für unzustellbare Briefe tätigen, jetzt von der Menschheit enttäuschten, vereinsamten und seine Arbeit sanft, aber hartnäckig verweigernden Schreiber ("I would prefer not to"), der schließlich jede Nahrung ablehnt und im Gefängnishof stirbt, wird nicht nur das Leiden an einer seelen- und sinnlos werdenden Arbeitswelt dargestellt, sondern auch die wachsende Einsicht des die Geschichte erzählenden, Bartleby beschäftigenden Anwalts, der erkennt, daß die bequem und gedankenlos eingesetzten Mittel einer praktischen Humanität (Geldgaben, Stellenangebote usw.) nicht ausreichen, die leidende Seele eines Mitmenschen zu erreichen. Das alles wird in seiner Aussagekraft gesteigert durch biblisch-typologische Bezüge (Bartleby als eine Art Hiob und ein wie Christus Verleugneter) und durch die Symbolik einer buchstäblich von Mauern umstellten Welt, der (hier doppelsinnig so erscheinenden) New Yorker 'Wall Street'. In ihr liegt das Büro, von dem ein Fenster auf eine tote Brandmauer, ein anderes - eine nur ferne Hoffnung eröffnend - auf einen Lichtschacht (skylight shaft) führt; Bartleby ist außerdem durch einen Wandschirm von allen anderen Menschen getrennt. Das Verfahren unterscheidet sich deutlich von Dickens' detailhäufender Methode bei Beschreibung des Kontors und Schreibers in Christmas Carol' (1843), obwohl einige skurrile Einzelheiten, besonders bei Schilderung der anderen Büroangestellten, der Dickensschen Manier angepaßt werden. Für Melville wird auch die trostlose Einsamkeit der Galapagosinseln (in den The Encantadas genannten neun Skizzen) zum Symbol der Gottverlassenheit und Einsamkeit. Eine ähnliche Hoffnungslosigkeit und Bitterkeit wie aus Bartleby spricht aus dem Romanfragment The Confidence-Man: His Masquerade (1857), in dem eine kosmopolitische Reisegesellschaft auf einem Mississippidampfer die Menschheit symbolisiert. Von Melvilles weiteren Schriften seien noch das Tagebuch seiner Reise in das Heilige Land (Journal up the Straits, gedr. Princeton 1955) genannt. Die poetische Frucht dieser Reise, Clarel: A Poem and Pilgrimage in the Holy Land (1876), bezeugt in den philosophisch-religiösen Dialogen das Streben nach dem epischen Lehrgedicht, kann aber der farbigen, gleichnisreichen und rhythmisch machtvollen Prosa seiner Romane nicht gleichgesetzt werden. Abseits davon stehen die unter dem schmerzlichen Eindruck des Bürgerkriegs entstandenen Battle Pieces (1866), ein Zyklus von Kriegsgedichten. Aufsehen erregte die 1924 veröffentlichte, von Benjamin Britten zur Oper (1951) gestaltete Geschichte des tumben Matrosen Billy Budd61, ein Werk 67

M.'s B. B. and the Critics, ed. W. T. Stafford (San Francisco, 21968).

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voller biblischer Bezüge, das gleichsam die Summe von Melvilles Leben enthält. Billy Budd, der bisher Schuldlose, wird sündig, schlägt den bösen Wachtmeister tot und muß deshalb vom Kapitän verurteilt werden. Statt lauten Aufbegehrens (wie noch im Confidence-Man) spricht aus der Erzählung ein Sich-Bescheiden: gelassen geht Billy Budd in den Tod, und die Frage, ob Recht, ob Unrecht, martert fortan den Kapitän, der das Urteil nach menschlicher Satzung fällte.

I I I . SONSTIGE PROSA 1. Romantische Kunstprosa: Länder und De Quincey Der auffallend große Anteil nicht-erzählender Prosa, besonders der Essayistik, an der englischen romantischen Literatur geht nicht nur auf die geistige Situation und die Neigungen fast aller Talente der Zeit zurück, sondern wesentlich auch auf den Bedarf der neuen Zeitschriften (s. S. 567). Von den großen Prosaikern der romantischen Zeit gilt WALTER SAVAGE LAN DOR' (1775-1864) als der bedeutendste Vertreter. Aber sein Werk gehört ebenso in den Bereich der Versdichtung, mit der er sein Schaffen begann und abschloß. Das Blankversepos Gebir (1798) behandelt die Geschichte eines iberischen Prinzen, dessen ägyptischer Eroberungszug durch die Liebe zur jungen Königin unterbrochen wird und der während des Hochzeitsfestes durch Verräterhände den Tod findet. Aber nicht der Stoff ist für Landor bedeutsam, sondern der epische Größe erstrebende Stil. Mag das kühne, niemals aufgegebene Republikanertum, die Phantasie und die Leidenschaft den Dichter in die romantischen Reihen stellen, seine Kunstanschauung war klassisch, und sein Ringen ging um eine gemeißelte Form. Die Sprache suchte lateinische Kürze, Stücke seines Epos wurden lateinisch niedergeschrieben, und 1803 veröffentlichte er auch eine lateinische Fassung Gebints. Dieser Landor gemäße Stil findet sich ebenso in den Reden seines bedeutendsten Buchdramas Count Julian (1812), das wie Rowleys 'All's lost by Lust' die Rache eines Adligen am König wegen Entehrung seiner Tochter behandelt. Gleichfalls Lesedrama bleibt die Trilogie Andrea of Hungary, Giovanna of Naples, Fra Rupert (1839-40), die in Anlehnung an das Gebir-Thema Tod beim Hochzeitsfest und Entlarvung des verräterischen Mönchs zum Gegenstand hat. Dichterisch überragen diese Tragödien zwar die zeitgenössischen 'Complete Works, edd. T.E. Welby and S. Wheeler, 16 Bde. (1927-36); Poetical Works, ed. S. Wheeler, 3 Bde. (Oxf., 1937). Auswahlen: Poems, ed. G. Grigson (1964); Imaginary Conversations in EL [mit Pentameron u. Gedichten]; auch in WC etc. - Biographie von J. Forster (21876); von R. H. Super (N. Y., 1954); von M. Elwin (N. Y., 1941); P. Vitoux, L'oeuvre de W. S. L. (Paris, 1964).

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Renaissanceschüler Procter und Knowles, aber dramatisch stehen sie den Elisabethanern genau so fern; die Tragödie verlangt Entfaltung einer Handlung und eines Charakters, Landors Stil aber bleibt Dichtung von kühler, bildhauergleicher Vollendung. Die in Erzählung oder Gespräch eine kurze mythische, heroische oder idyllische Geschichte wiedergebenden Gedichte (z. B. A Fiesolan Idyl, 1831) und besonders die erweiterte Sammlung der Hellenics (1847) (vgl. The Death of Clytemnestra; Coresos and Callirrhöe) sowie die zahlreichen ganz kurzen Epigramme im antiken Sinn des Wortes stellen Landors größte dichterische Leistung dar. Kein anderer konnte wie er in wenige Zeilen zusammengepreßt einem Gedanken oder Gefühl vollendet einfachen Ausdruck verleihen (vgl. Rose Aylmer; The Three Roses; lanthe; Dirce; I strove with none .. .). Landors Prosawerke sind die Imaginary Conversations, eine lange Reihe erdichteter Gespräche, die in einzelnen Gruppen 1824, 1826, 1828, 1829 und 1853 veröffentlicht wurden, denen sich der Briefroman Pericles and Aspasia (1836) anschließt und das Petrarca und Boccaccio im Gespräch vorführende Pentameron (1837). Die weder Umfang noch Inhalt vorschreibende, etwas altmodische und lockere Kunstform gestattete eine große Mannigfaltigkeit der Gestaltung. Manche Gespräche sind Erörterungen, bei denen der Sprecher oft nur der äußeren Form nach verwendet wird; so ist der Dialog zwischen Washington and Franklin eine lange Auslassung über die amerikanische Verfassung, der zwischen Boulter and Savage über die Lage in Irland, der zwischen General Lacy and Cura Merino über die Regierung Spaniens usf. Die meisten aber sind aus einer bestimmten Lage heraus gesprochen und stellen Szenen dar. Diese können idyllischer Art sein, an die Hellenics erinnernd wie Aesop andRhodope, Tibullus and Messala und das römische Kulturbild Lucullus and Caesar, oder bewegt und gewaltsam mit einem entsprechend heftigen oder polternden Ton wie die Dialoge, die Peter den Großen und seinen Sohn Alexius, Katharina, Heinrich von Melchtal u. a. auftreten lassen, oder endlich heroisch wie die ganz kurzen römischen Zwiegespräche Marcellus and Hannibal, Metellus and Marius, Tiberius and Vipsania. Oft wird durch das Hinzuziehen einer weiblichen Sprecherin dem männlichen Partner ein vertraulicheres Aussprechen ermöglicht, wie es die Dantedialoge zeigen und die zwischen Tasso and Cornelia, Tancredi and Constantia, Beniowski and Aphanasia. Fast stets ist die im Vordergrund stehende psychologische Selbstcharakteristik der geschichtlichen Persönlichkeiten von einem Zeitbild begleitet, sei es andeutend in nur kurz skizzierten, klassische Anklänge erweckenden Hintergründen (Epikurs Gärten, Bäder des Lucullus, Hügel von Florenz), sei es weit ausgemalt wie in der Schilderung des goldenen Zeitalters in den Briefen des Kreises um Perikles (Pericles and Aspasia). Landor lernte von Plato die Kunst der geschickten Eröffnung, die Durchflechtung eines begrifflichen Gesprächs mit sinnlichen und lebendigen Dingen und die Sonderung der Charaktere, aus deren verschiedenen Charaktereinstellungen das Gespräch sich entspinnt.

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Nicht nur die geschichtliche Kenntnisse erfordernden Dialoge und das erlesene Fünftagegespräch über Dante, auch das im Alltagsgeplauder Montaignes mit Scaliger mit feinen Strichen gezeichnete Bildnis und die humorvolle Wendung, daß die einfältige Herzogin von Fontanges Bossuet mit ihrer Geschwätzigkeit überschüttet, sind nur dem gebildeten Leser zugänglich, was ihre Bedeutung einschränkt. Es stört auch, daß Landor in romantischer Art sein Ich einmengte, und da die Dialoge nicht von grundsätzlichen Dingen handeln, sondern von den Ansichten, die Bacon 'middle axioms' nannte, so bot sich Anlaß genug dazu. Der vorbildliche Staat z. B., den Perikles und Sophokles erörtern, ist nach des Autors liberalen politischen Anschauungen geformt. Auch die Kunsturteile tragen in ihrer Mischung von Einfühlung und Strenge Landors Gepräge: in Lippis Gespräch mit Papst Eugen IV., in dem Dialog zwischen Southey und dem Philologen Porson bei der Bewertung Wordsworths und in der Unterredung zwischen Epiktet und Seneca bei ihrer Gegenüberstellung von einfachem (wahrheitsgelenktem) und geschmücktem Stil. Die Prosa ist aber, wie die Sprache der Dichtung, zur Allgemeingültigkeit gehoben. Landor erstrebt einen Stil klassischer Ruhe mit festem Umriß, mit klaren, sicher gewählten Worten, aber mit feinerer rhythmischer Musik als die rhetorische Gliederung Johnsons. Mit Landors Prosa, nicht mit der allzu lyrischen Coleridges war das Werkzeug für eine Prosadichtung großen Stils geschaffen. Aber die kommende Zeit des Realismus hatte andere Ziele, und nur Newman, Arnold und Santayana haben das Ideal einer auf das Wesentliche konzentrierten und geläuterten Ausgewogenheit aufgegriffen. Der einzige der Essayisten, der gleichfalls nach einer dichterisch erhöhten Prosa strebte, war THOMAS DE QuiNCEY 2 (1785-1859). Seine erst nach intensiver Studien- und Lektürezeit mit fünfunddreißig Jahren einsetzende Schriftstellerei war, da er von der Feder lebte und unglaublich schnell schrieb, äußerst umfänglich und vielseitig - die vierzehn Bände der Gesamtausgabe enthalten Beiträge zu Geschichte und Biographie, Literaturkritik und Metaphysik (unter starker Berücksichtigung der deutschen Literatur), zu Stillehre, Nationalökonomie und Übersetzungsfragen, daneben Bekenntnishaftes und Imaginatives, darunter prosagedichtartige Passagen. Vieles war aber auch zerfahren und in Gegenstandswahl, Stiltendenz und betonter Gelehrsamkeit exzentrisch und manieriert. Dies stand einer anhaltenden Wirkung im Wege, obwohl De Quincey wegen seiner Virtuosität 2

Collected Writings, ed. D. Massen, 14 Bde. (Edinb., 1889-90) [Standard, aber zu ergänzen durch:] Uncollected Writings, ed. J. Hogg (1890; repr. Hildesheim, 1974); Posthumous Works, ed. A. H. Japp (1891-93; repr. Hildesheim, 1975); De Q. Memorials, ed. A. H. Japp (1891-93; repr. Hildesheim, 1974). - Zahlreiche Auswahlen: z. B. Selected Writings, ed. B. Dobree (1965); Literary Criticism, ed. H. Darbishire (Oxf., 1909); Engl. Mail-Coach u. a., EL. - Confessions of an Engl. Opium Eater, ed. M. Elwin (1956) [beide Fassungen, mit Suspiria]; WC; EL; Reminiscences of the Lake Poets, EL. - Biographie von H. A. Eaton, T. De Q. (Oxf., 1936). - E. Sackville-West, A Flame in Sunlight: The Life and Work of T. De Q. (1936), ed. J. E. Jordan (1974); J. E. Jordan, T. De Q.: Lit. Critic (Berkeley,21973 [ 952]); F. Moreux, T. De Q.: La vie, 1'homme, 1'ceuvre (Paris, 1964) [mit Bibliogr.].

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von Kennern und anderen Schriftstellern stets geschätzt wurde und neben Defoe, Dr. Johnson, Goldsmith und Hazlitt zu den größten Journalisten und Zeitschriftenautoren englischer Sprache zählt. Nur wenige und allgemeiner gehaltene kritische Aufsätze, einige Essays und Bekenntnisse können Anspruch auf Dauer erheben. Als Kritiker ist er nicht mit Coleridge und Hazlitt zu vergleichen, denn ihm fehlte das Schöpferische. Wie das 18. Jahrhundert schrieb er gut über Rhetoric (1828) und Style (1840) und Language (gedr. 1858); vorzüglich unterschied er zwischen kurzlebiger, wissensvermittelnder Prosa (womit er weitgehend sein eigenes Werk kennzeichnete) und dauernd wirksamer, durch Einfühlung und Imagination zu vertiefter Wahrheit führender Weltliteratur (The Literature of Knowledge and The Literature of Power, 1848 in The North Britain Review, als Teil der Besprechung der Pope-Ausgabe von W. Roscoe). Aber die neue Generation der Shelley und Keats verstand er nicht, und auch die Dichter der Seeschule, die er kannte und liebte, betrachtete er gleichzeitig mit fast böswilliger Nüchternheit (vgl. die meist 1839 und 1840 geschriebenen, jetzt als Literary and Lake Reminiscences zusammengefaßten Aufsätze). Dennoch demonstrierte er in dem mit Recht berühmten Essay On the Knocking at the Gate in Macbeth (1823, in The London Magazine) an der von ihm als erstem erfühlten poetischen Ausdruckskraft der Pförtnerszene (Macbeth II, 2-3) eindrucksvoll die romantische, schon von Herder und dem jungen Goethe vertretene Auffassung, daß in Shakespeare nicht Kunst, sondern die Natur noch einmal wirksam sei. Diese stellt sich ihm dar als eine in Aktion und Reaktion befindliche Bewegung, die nach Macbeths Bluttat zum Machtbeginn des Teuflischen und damit zum absoluten Stillstand führt, bis mit dem Klopfen das draußen aufgestaute Menschliche wie ein neuer Lebensbeginn in die künstlich abgeschlossene Welt der Finsternis zurückströmt, was alles die widerstreitenden Kräfte in Macbeths Mörderseele treffend kennzeichnet. Insgesamt verbindet sich bei De Quincey ein Hang zu wissenschaftlicher Genauigkeit, Faktizität und hartnäckiger scholastischer Beweisführung (vgl. Three Templars, 1824; The Logic of Political Economy, 1844) mit sensibler Einfühlung und wacher Selbstbeobachtung, außerdem mit einer traumhaften, oft der Schauerromantik nahen Phantasie, in der es zu einem Spiel von Impressionen und exzentrischen Einfallen kommen kann (vgl. den Roman Klosterheim, 1832, und Inquiry into the Origin of the Rosicrucians). Auf dieser ungewöhnlichen, brillanten Mischung beruht, besonders für gebildete Leser, die Anziehungskraft seiner allgemeineren Essays, deren bezeichnendster unter dem Titel On Murder considered as one of the Fine Arts eine rein ästhetische Betrachtung über den Mord anstellt und in der technischen Fachsprache des Künstlers die berühmten Mörder auf ihre psychologischen Beweggründe hin erörtert. Allgemeinerem Interesse näher steht The English Mail Coach (1849 in Blackwood's Magazine, rev. 1854), die in drei Sätzen (The Glory of Motion, The Vision of Sudden Death, Dream Fugue) das Alltagserlebnis eines drohenden, dann aber glücklich abgewendeten Zusammenstoßes der Postkutsche mit einem leichten Wagen, in dem ein Liebespaar

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sitzt, zu atemloser Spannung gestaltet. Wie hier mit minuziöser Wirklichkeitsausmalung die Anteilnahme des Lesers geweckt wird und gleichzeitig aus der gewöhnlichen Prosa die Phantasien und Traumgemälde herauswachsen, ist De Quinceys unnachahmliche Kunst. Die rhetorischen Glanzstellen sind oft, besonders im späteren 19. Jahrhundert (Ruskin, Walter Pater), wie Prosagedichte bewundert worden, in ihrer Häufung jedoch, wie in De Quinceys Meisterwerk, sind sie schwer erträglich. So erzählen die Confessions of an English Opium Eater (zuerst im London Magazine, 1821-22, erweitert 1856 mit den Phantasiestücken Suspina de Profundis, Savannah-la-Mar, Levana and our Ladies of Sorrow} von der elenden Jugend, von dem Wanderleben in Wales, von Armut und Liebe auf den Londoner Straßen, von Oxford, von Keswick und dem Bann des Opiums, unter dessen Anreiz sich der zur Meisterung der Wirklichkeit unfähige Lebensdrang in Gesichten der inneren Welt entfaltet. Diese Träume lesen sich nicht nur als Phantasien, sondern teilweise als ein Krankenbericht, da sie durch De Quinceys logisches Bedürfnis Tatsachencharakter erhalten. Allerdings zeigt sich hier die Schwäche des Buchs. Zwar ist ein alles durchdringendes Thema gegeben - die Notwendigkeit des Leidens für das Reifwerden der Seele -, aber dem zum Bekenntnis drängenden Selbstenthüllungstrieb fehlt die überzeugende stoffliche Fundierung: die innere Hölle ist nicht da, eine selbstgeschaffene, weit ausgesponnene Mythologie der Mütter der Tränen, der Seufzer und der Dunkelheit (Suspiria de Profundis) wird von Wortgemälden umrankt. So wird zur Notwendigkeit, was in der 'Vision of Sudden Death' ein Kunstmittel war, das fortwährende Verästeln und Abzweigen von dem allein nicht tragfähigen Hauptthema, so daß die große Gebärde nur im stilistischen Ausdruck liegt, dessen Virtuosität zum Selbstzweck wird und die Aufmerksamkeit mehr auf sich als den Gegenstand lenkt. Coleridge übersteigernd, werden bunte Fülle und Vermischen der Sinneswahrnehmungen zu Merkmalen einer Prosa, die weniger rhetorisch ist als in der Traumfuge, vielmehr eine Folge endlos verknüpfter Melodien. Im Unterschied zu Länder läßt sich kein rhythmisches Schema aufzeigen, in das der Satz eingebettet ist, sondern die unbestimmbarere, musikähnlichere Tonbewegung ist gleichsam in den Satz hineinverkörpert. Eine derartige Prosa hat es seit der Renaissance nicht gegeben, und sie läßt sich als Haupterscheinungsform des neuen Ideals des Prosagedichts sehen, aber bei De Quinceys Stoff bedeutet das ein Mißverhältnis zwischen Form und Inhalt.

2. Die Essayisten Lamb, Hunt und Hazlitt Das ist anders im Werk von CHARLES LAMB3 (1775-1834), dessen frühe Gedichte die schlichte Art Wordsworths und eine schamhaft verhüllte Empfin3

Works, ed. E. V. Lucas, 7 Bde. (1903-05), 6 Bde. (1912) [Standard]; ed. T. Hutchinson, 2 Bde. (Oxf., 1908), OSA (1934). - Zahlreiche Auswahlen und Einzelausgaben: L.'s Criticism, ed. E. M. W. Tillyard (Cambr., 1923) [gute Einl.]; Essays of Elia, EL, WC; Tales from Shakespeare, EL. - The Letters of C. and Mary Anne L., ed. E. W. Marrs

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dung zeigen, z. B. das den Verlust vertrauter Menschen beklagende The Old Familiar Faces (1798), und dessen Prosaschriften, auch wenn sie kritisch sind, einen ins Vertrauen ziehenden, autobiographischen Ton bewahren. Im Gegensatz zu der auf das Grundsätzliche ausgehenden und nach einem Maße wertenden klassizistischen Kritik will die romantische ein persönliches Sicheinfühlen in Dichtungen, zu denen der Kritiker von seiner eigenen Art aus Zugang hat, um deren Schönheiten durch eine Würdigung (appreciation) dem Leser nahezubringen. In dieser Vermittlerrolle unternahm Lamb zusammen mit seiner Schwester eine Nacherzählung der Shakespeareschen Dramen ( Tales from Shakespeare, 1807), die er, so vereinfacht, kindlichem Fassungsvermögen zugänglich macht. Mit demselben Kunstgriff einer vor Plattheit schützenden, den Elisabethanern nachempfundenen Sprache versuchte er in den (Chapmans Übersetzung zugrunde legenden) Adventures of Ulysses (1808) eine Hinleitung zu Homer. In den gleichzeitigen Specimens of English Dramatic Poets Contemporary with Shakespeare ließ er, mit nur kurzen Erläuterungen helfend, die Quellen selbst sprechen. Auch die kritischen Essays beschränken sich auf das dem Romantiker vorbildliche Renaissanceschrifttum. Lamb wollte durch die Mitteilung seiner ganz persönlichen Vorliebe Verständnis dafür erwecken. Dies gelang ihm in hohem Maße (vgl. etwa On the Tragedies of Shakespeare, 1811, über deren Bühneneignung), aber die Voreingenommenheit für dichterisch schöne Stellen, derzufolge er sich über das Wesen des Dramas oder Epos keine Gedanken machte, und die englische Neigung, den 'moral sense' als Prüfstein zu setzen, lassen seine Kritik an die ästhetischen, historischen und ideengeschichtlichen Wertungen eines A. W. Schlegel nicht heranreichen. Nur in einigen Fällen gelangen ihm durchdringende Wesensbestimmungen von Gattungen oder Haltungen, z. B. in On the Artificial Comedy of the Last Century (1823), wo er die Restaurationskomödie als reine Spiel- und Phantasiewelt gegen das strenge moralische Denken der Gegenwart und schon Sheridans verteidigt, und in Sanity of True Genius (1833), wo er, falsche Auffassungen vom Dichterwahn zurückweisend, gerade bei Schöpfern großer übernatürlicher Gestalten wie Shakespeare und Spenser - im Unterschied zu Phantasten - die Einbindung des Abnormen in das Natürliche und Menschliche als Beweis für tiefe geistige Gesundheit herausstellt. Meist liest man Lamb jedoch um seiner selbst willen, nicht weil man über den besprochenen Gegenstand grunsätzliche Aufschlüsse erwartet. Seine persönliche Aussprache findet man am reinsten in den Briefen und Essays. Denn wenn Lamb auch gelegentlich auf die umständliche Form der Spectator-Essays zurückgreift (The Wedding; Popular Fallacies} oder die alten Charakterbildnisse wieder aufleben läßt (The Convalescent), der neue Gehalt ist eine ständige Selbstenthüllung und die neue Form die des 'familiar essay' - des (Ithaca, N. Y./Lo., 1975ff. [i. E.]); Auswahl EL. - Biographie: G. L. Barnett, C. L.: The Evolution of Elia (Bloomington, Indiana, 1964). - F. V. Randel, The World of Elia: C. L.'s Essayistic Romanticism (Port Washington, N. Y./Lo., 1975).

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persönlichen, spontanen, erlebnishaften Sprechens, auch über das scheinbar Nebensächliche. In diesen Essays of Elia, die von 1820 ab in Zeitschriften, 1823 in Buchform erschienen, 1833 von einer zweiten Reihe gefolgt, plauderte Lamb aus einer für ihn charakteristischen Erinnerungshaltung von altmodischen, trockenen, scheinbar langweiligen Kanzleibeamten, Junggesellen und Sonderlingen, von alten Zeitungen, altem Porzellan, der aus der Mode kommenden Sonnenuhr, Schulerinnerungen (an seine und Coleridges Zeit in Christ's Hospital, London), vom Nichtwiedererhalten entliehener Bücher, wobei er Coleridges Unersättlichkeit und Vergeßlichkeit lächelnd beklagt, aber auch für berechtigt hält (The Two Races of Men, 1820), von der Macht des Todes (New Year's Eve, 1821) und hundert anderen Dingen, die er durch seine menschliche Anteilnahme verklärt. Meist spricht er aus der Rolle des harmlosen alternden Junggesellen Elia, als dessen Umwelt er konkretisierend das von ihm geliebte London einbezieht, in dem er als Sohn eines Schreibers das äußerlich bescheidene Leben eines Buchhalters führte, der nur abends und feiertags schreiben konnte und außerdem für seine vom Wahnsinn bedrohte Schwester zu sorgen hatte - weshalb er auf eine Ehe verzichtete -, der paradoxerweise aber den wohl größten literarischen Freundeskreis seiner Zeit (Coleridge, Hazlitt, Hunt, Haydon, Wordsworth u. a.) um sich sammelte. Hier, mitten in der Großstadt, nicht in der einsamen Natur wie die meisten anderen Romantiker, entfaltete er seine volle Sensibilität. Aus dem unscheinbarsten Vorwurf schufen Geist und Phantasie unerwartete Lesarten der in einem dichterisch zarten Gemüt gespiegelten Welt. Dabei dominiert eine des Gewesenen gedenkende, wehmütig-nostalgische Stimmung. Der Lamb in seltenem Maße gegebene Humor umspielt gemütlich oder schrullenhaft, fein oder laut diese Alltagswelt - oft unter kauziger Verwendung altmodisch-wunderlicher Sprachfloskeln - und gibt dem Verschollenen, Antiquarischen oder Nebensächlichen durch launige Einfalle erneuten Reiz, wofür A Dissertation Upon Roast Pig (1822, über die Köstlichkeiten des Spanferkels und die angebliche Entdeckung des Ferkelröstens in der chinesischen Urzeit) ein berühmtes Beispiel ist. Aber in diesem Spiel können immer wieder auch bedeutende und ironisch scharfe Einsichten aufblitzen. Lamb war ein die Erinnerungen sichtender Geschmack gegeben, der zwischen Rührseligkeit, Ergriffenheit und Humor den Mittelweg hält und das Zufällige zur Kunst erhöht, worin er manches vorwegnimmt, was bei Dickens in erzählerischer Ausgestaltung erscheint. Zwischen dem romantischen Künstler Lamb und dem kritischen Denker Hazlitt blieb der vielseitige LEIGH HUNT 4 (1784-1859) etwas im Schatten. Sein 4

Poetical Works, ed. H. S. Milford, OSA (1923) [definitive Ausg.]; Dramatic Criticism, edd. L. H. and C. W. Houtchens (N. Y., 1949); Lit. Criticism, edd. dies. (N. Y., 1956); Political and Occasional Essays, edd. dies. (N. Y., 1962). - Auswahlen: Selected Essays, EL; Essays and Sketches, WC; The Town, WC; Autobiography, ed. J. E. Morpurgo (1949); WC. - Biographie: E. Blunden, L. H. and His Circle (N. Y., 1930); J. K. Thompson, L. H. (Boston, 1977) [einführend].- Kritik: C. D. Thorpe (Einl. zu Houtchens' Ausg. von Lit. Criticism).

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Schaffen ist gleichmäßiger zwischen Dichtung und Prosa geteilt, aber als Dichter wie als Kritiker ist er weniger Künstler als Wegbereiter, der sich auch persönlich, obwohl selbst von der Hand in den Mund lebend, der jüngeren Autoren großzügig und ermutigend annahm. Als Dichter hat er zuerst das geschlossene klassizistische Reimpaar aufgelockert und in der Dante nacherzählten Story of Rimini (1816) einen leichteren Fluß erreicht als mancher größere Zeitgenosse. Er verfügte über scharfe Beobachtung und konnte sinnliche Pracht bildhaft gestalten - in einem Rührung und flotte Umgangssprache mischenden Stil, der den jungen Keats beeinflußte -, aber es ging alles nicht tief und machte ihn zum Hauptangriffsziel der die 'Cockney School of Poets' verspottenden Artikel in Blackwood's Magazine. Dennoch versuchte er sich in vielen anderen Formen: Er erzählte die Mär von Hero and Leander (1819), erneuerte das Achtsilbler-Fabliau (The Palfrey, 1842) und die altmodische Dichter- und Dichterinnenversammlung (The Feast of the Poets, 1811; The Feast of the Violets, 1837, in anapästischen Vierhebern), schrieb, den Frieden befürwortend, Captain Sword and Captain Pen (1835) und zahlreiche Sonette und lyrische Stücke - vielseitige Echos der romantischen Dichtbestrebungen, deren kritischer Vorkämpfer er war. Als kritisches Ziel galt ihm wie Lamb die Würdigung, aber sein Bereich war umfassender; er schrieb über Dryden und Addison wie über Spenser und Middleton und über die italienische Renaissance (Stories front Italian Poets, 1846). Hunt hatte einen kritischen Blick, er war der Entdecker von Keats, der erste, der anerkennend über Shelley schrieb, war befreundet mit Byron und schlug Tennyson für den Posten des Poeta laureatus vor. Er begann die Theaterkritik im heutigen Sinn, mußte sie allerdings bald dem überlegenen Hazlitt abtreten. Die Vielseitigkeit ist Hunts auffallendste Gabe; er konnte über schlechthin jedes Thema in angemessener, oft anziehender Weise schreiben und konnte monatelang eine Zeitschrift ganz allein füllen, ohne in inhaltsleere Geschwätzigkeit zu verfallen. Nicht weniger als sechs Zeitschriften hat er geleitet (1808 den Examiner, 1810 den Reflector, 1819 den Indicator, 1828 den Companion und den neuen Tatler, 1820 den Liberal), wobei er mutig für seinen politischen Liberalismus eintrat, der ihn wegen eines Angriffs gegen den sittenlosen Prinzregenten im Examiner 1811 zwei Jahre ins Gefängnis brachte, wohin er allerdings seine Bücher mitnehmen durfte. Er hat ein ganzes Buch chronikartiger Plaudereien über London geschrieben (The Town, 1848), ein Buch über die Dichter der Hochromantik (Lord Byron and some of his Contemporaries, 1828), das aufschlußreiche Schilderungen Byrons, Shelleys und Keats' enthält, ein Buch religiösen Bekenntnisses (Christianism, 1832, das er 1833 neu herausgab als The Religion of the Heart), mehrere Essaybände, u.a. Men, Women, Books, 1847, A Jar of Honey from Mount Hybla, 1848, das für die Geschichte der spätromantischen Dichtungsauffassung interessante Imagination and Fancy (1844) und eine gute Autobiography (1850). Aus den vermischten Schriften des 18. Jahrhunderts machte er die flüssigere, unterhaltsamere Form, aus der sich der Zeitungsaufsatz und der 'familiar essay' entwickelten. War er auch nicht wie Lamb ein

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Künstler des Wortes, so hatte er doch wie dieser die Gabe, das anscheinend Unbedeutende und Alltägliche zur Kunst zu erheben. Seine Beobachtung der meist unbeachteten, kleinsten Züge des Lebens war unerschöpflich; seine Lebensfreude, die den Augenblick erhaschte und auch das Unglück scherzhaft zu wenden vermochte, fand überall Schönheit, und ohne Hunt wären Dickens' Sketches by Boz undenkbar. Hunts vermittelnde Natur hatte nicht das Aufrüttelnde des einsiedlerischen, aber leidenschaftlichen und begeisterungsfähigen WILLIAM HAZLITTS (1778-1830), der anfangs zwischen Malerei und Philosophie schwankte und alle bedeutenden Persönlichkeiten Londons kannte, sich aber auch mit allen verzankte. Er trug in sich den Zwiespalt eines scharf zergliedernden, bis zu den letzten Folgerungen gehenden Verstandes (den schon das Erstlingswerk, Essay on the Principles of Human Action, 1805, und die Characteristics in the Manner of La Rochefoucauld's Maxims, 1823, bezeugen) und eines an Rousseau gemahnenden Selbstenthüllungsdrangs, der im bekenntnishaften Liber Amoris, 1823, (über seine unglücklichen Ehe- und Liebeserfahrungen) den rückhaltlosesten Niederschlag fand. Er suchte dabei nicht Selbstbespiegelung, sondern eine die Aussage bereichernde Einfühlung in Menschen und Stimmungen (sogar etwa in The Pleasure of Hating) sowie in bemerkenswerte Landschaften, Gemälde und Gedichtpassagen - was alles seiner Kunst- und Literaturkritik zugute kam - und sogar in spektakuläre Ereignisse wie einen Boxkampf (The Fight, 1822), mit dessen Darstellung er damals einen Maßstab für Sportreportagen und die Beschreibung menschlicher Gewalttätigkeit setzte. Montaigne, „der erste, der als Schriftsteller aussprach, was er als Mensch fühlte", und Burke, „der sein Denken und Empfinden auf das Papier ausgoß", wurden seine Vorbilder, und in der ihm gemäßen Ausspracheform des 'familiär essay' übertraf er alle Zeitgenossen an Zahl, Themenvielfalt und Lebendigkeit (vgl. die Sammlungen: The Round Table, 1819; Table Talk, 1821-22; The Plain Speaker, 1820, und postum: Sketches and Essays, 1839; Winterslow, 1850, seine Notes of a Journey through France and Italy, 1826, und seine Briefe über bildende Kunst). Oft beginnt er mit einer Art Sinnspruch, dessen Thema nicht so sehr gedanklich entwickelt als durch Beobachtungen und Beispiele ohne zwingenden Abschluß ausgeweitet wird, aber alsbald durchbricht seine die eigene Person einbeziehende, leidenschaftliche Anteilnahme die herkömmlichen Grenzen der Form und erweitert in ungekünstelter und doch gedrängter Gesprächsausladung - in einem als „litera5

Complete Works, ed. P. P. Howe, 21 Bde., Centenary Edn. (Lo./Toronto, 1930-34). Auswahlen: H. on Engl. Lit., ed. J. Zeitlin (N. Y., 1913; repr. 1970); Shakespeare's Plays, EL, WC; Comic Writers, EL, WC; English Poets u. Spirit of the Age, EL, WC; Table-Talk, EL, WC. - Biographie: R. M. Wardle, H. (Lincoln, Neb., 1971). - Kritik: H. Baker, W. H. (Cambr., Mass./Lo., 1962) [H.s Ideen]; W. P. Albrecht, H. and the Creative Imagination (Lawrence, Kansas, 1965); R. Park, H. and the Spirit of the Age: Abstraction and Critical Theory (Oxf., 1971); J. L. Mahoney, The Logic of Passion: The Lit. Criticism of W. H. (Salzburg, 1978).

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risch-kolloquial" bezeichneten Stil - den sonst üblichen Umfang. So gehen z. B. seine Aufsätze über Malerei zum Bericht seiner persönlichen Eindrücke über und steigern sich zu der romantischen Auffassung der Kunst als Lebensdeutung; und ebenso setzen die Naturbeschreibungen die Schönheit der Landschaft in dramatischen Gegensatz oder Einklang mit dem eigenen Schicksal. Zum abgerundeten Kunstwerk werden die Essays am ehesten, wo sie wie My First Aquainlance with Poets einen erzählbaren Vorgang zur Grundlage haben. Wenn auch Ruskins mächtige Stimme ihn bald übertönen sollte, die Frische des in innerer Erregung erlebenden Menschen ist Hazlitts Reiz. Diese Frische zeichnet auch das kritische Werk aus, das umfänglicher ist als das irgendeines anderen Romantikers und an Bedeutung nur von Coleridges Beitrag übertroffen wird. Als erfahrener Theaterkritiker begann Hazlitt mit den sofort populären Shakespearevorlesungen (The Characters of Shakespeare's Plays, gedruckt 1817), die, mit Schlegel wetteifernd, jedes einzelne Stück eindringlich erläutern und den jungen Keats bis in seine Idee der 'negative capability' beeinflußten. Das wurde zu einer Gesamtdarstellung des Renaissancedramas erweitert (The Dramatic Literature of the Age of Elizabeth, 1820). Über Lambs Gebundenheit an eine Epoche hinausgehend, bewiesen die Lectures on the English Poets (1818) und Lectures on the English Comic Writers (1819) Verständnis sowohl für die Autoren des 17. Jahrhunderts wie für den Klassizismus Popes und die Vorläufer der Romantik, außerdem einen an der Geistes- und Gestaltungskraft der größten englischen Dichter orientierten Wertmaßstab, der gegen die romantische Subjektivität ausgespielt wird. Trotz gelegentlicher Vorurteile war Hazlitt unabhängig genug, um in dem mutigen Buch The Spirit of the Age (1825) die Darstellungsweise zeitgenössischer Autoren zu charakterisieren und damit auch für deren nüchterne, kritische Wertung bahnbrechend zu wirken. An Wordsworth bemängelte er z. B. ein Übermaß an Introspektion, die Selbstprojektion in die darzustellenden Objekte und Trivialität - was alles dem Bewunderer der dramatischen Imagination eines Shakespeare abträglich erscheinen mußte -, hob aber Wordsworths Kraft poetischer Beschreibung, Empfindung und Reflexion zustimmend hervor; in Coleridges freischwebender, nicht auf ein Ziel konzentrierter metaphysischer Spekulation sah er, von The Ancient Mariner abgesehen, den Grund für das Ausbleiben der großen dichterischen Gestaltung seines Wissens und Denkens. Ebenso einflußreich waren seine Theaterkritiken (A Review of the English Stage, 1818 und 1821), die alle gespielten Stücke aus allen Gattungen und Zeiten berücksichtigten und auch die Schauspieler, ja gelegentlich das Publikum in die Besprechung einbezogen. Die literarische Kritik Hazlitts geht ebenso wie seine Erörterung der bildenden Kunst an der Gesamtgestalt des Kunstwerks vorüber, aber die unerschrockene Aufdeckung der psychologischen Grundlagen sowohl des Schaffensprozesses wie der Wirkungsprinzipien einzelner Teilstücke oder Zeilen (vgl. On Gusto, 1816) lassen seine tiefgreifenden kritischen Einsichten immer wieder erkennen und sind - in Verbindung mit einer glänzenden Zeichnung des historischen Bildes - so meisterhaft, daß sie gelegentlich an die Künstlerbildnisse Sainte-Beuves heranreichen.

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3. Emerson und die amerikanischen Transzendentalisten Der politischen Selbständigkeitsbewegung parallel ging in Neuengland der weitgreifende Wandel der religiösen Anschauungen im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts. Die auf Lockerung des kalvinistischen Systems ausgehenden Kräfte, die Jonathan Edwards nicht hatte bannen können, kamen zu einem ersten Sieg, als 1785 unter dem Geistlichen James Freeman die King's Chapel, Boston, als erste Gemeinde sich von der herrschenden Congregational Church lossagte und eine neue Liturgie einführte. Die Anhänger der Bewegung - die mehr eine liberale Denkhaltung als ein theologisches System verfocht - nannten sich Unitarier zum Zeichen, daß sie die Lehre der einen Person Gottes, nicht der Trinität, vertraten. Sie befanden sich ferner im Gegensatz zu der Lehre der Erbsünde, der Gnadenwahl und des Sühnopfers Christi. Die Bewegung, die mit dem Theologieprofessor Henry Ware in das Harvard College eindrang, hatte ihren Hauptapostel in WILLIAM ELLERY CHANNING d. Ä.6 (1780-1845), den Emerson Our bishop' nannte. Seine Predigten zeigen, daß er nicht einen aufklärerischen Deismus vertrat wie J. Priestley in Fortführung des europäischen Unitarismus7, sondern um ein Vereinigen von Vernunft und Glauben rang. Gewiß sind alle religiösen Entscheidungen in das Individuum verlegt, aber "the idea of God is the idea of our own spiritual nature"; alle Tugend wurzelt in der moralischen Natur des Menschen, seinem Gewissen oder Pflichtgefühl, und daraus entspringt eine durch keine äußeren Gesetze erzwungene Nächstenliebe. Mit dem militanten THEODORE PARKER® (1810-60), der den Wunderglauben völlig über Bord warf und nur das religiöse Gefühl gelten ließ, wurde die unitarische Bewegung zum Transzendentalismus weitergeführt. Als Parker am 19. Mai 1841 den Discourse of the Transient and Permanent in Christianity hielt, taten sich die früher einander bekämpfenden Kalvinisten und Unitarier gegen den gemeinsamen Feind zusammen. Sie nannten Parker einen Ungläubigen und Atheisten, denn sie fühlten, daß es sich um mehr handelte als um einen Schritt weiter ab von der kirchlichen Norm: es handelte sich - der europäischen Romantik entsprechend - um einen beim religiösen Empfinden einsetzenden, alle geistigen Bereiche ergreifenden Aufbruch im amerikanischen Geistesleben, die größte geistige Bewegung in Amerika vor der intellektuellen Krise um 1920. Geschichtlich gesehen diente der Transzendentalismus9 der geistigen Befreiung Amerikas, genau wie die Unab6

Works, 6 Bde. (Boston, 1875), l Bd. (Boston, 1886); Slavery (1836), Emancipation (1841; repr. in l Bd. N. Y., 1968). - M. H. Rice, Federal Street Pastor: The Life of W. E. C. (N. Y., 1961); A. W. Brown, W. E. C. (N. Y., 1961). 7 J. Priestley, Unitarianism explained and defended (1796). 8 Centenary Edn., 15 Bde. (Boston, 1907-13); Life and Correspondence, ed. J. Weiss, 2 Bde. (N. Y., 1864; repr. 1969). - E. Collins, T. P., American Transcendentalist: A Critical Essay and a Coll. of his Writings (Metuchen, N. J., 1973). - Biographie von H. S. Commager (Boston, 1936); von R. C. Albrecht (N. Y., 1971) [Kurzdarstellung]. 9 The Transcendentalists: An Anthology, ed. P. Miller (Cambr., Mass., 21957 [11950]); Am. Transcendentalism: An Anthology of Criticism, ed. B. M. Barbour (Notre

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hängigkeitskriege und die Demokratie seine politische Befreiung erreicht hatten. Die Transzendentalisten erhoben Protest gegen die allmächtigen materiellen Interessen, sie vertraten die Ansicht, daß jedermann die Fähigkeit habe, eine geistige Wahrheit zu erkennen, daß alle moralischen Fragen vom Einzelgewissen und nicht durch Theologen, Gelehrte oder Dogmen entscheidbar seien. Begeistert von der deutschen idealistischen Philosophie, Theologie und Literatur, waren sie bestrebt, eine lebendige Religion zu schaffen ohne Anleihen bei dem Obsolete jargon of theology', eine „reinere, schönere, göttlichere Gesellschaftsform zu verwirklichen, als sie jemals auf Erden war" (Ripley). Die Keimzelle jener mächtigen Bewegung war der Transcendental Club', eine Gruppe jüngerer Männer und Frauen, die sich gelegentlich in Emersons Haus in Concord bei Boston oder anderswo trafen (1836 - ca. 1844), um philosophische, theologische, literarische Gespräche zu führen. Sie selber nannten sich 'Symposium' oder 'Hedge-Club' nach FREDERIC HENRY HEDGE10 (1805-90), der die Anregung zu dem Kreis gegeben hatte. Hedge war der wichtigste Vermittler deutschen Gedankenguts.11 Unter der Obhut des Historikers Bancroft nach Deutschland geschickt, hatte er in Schulpforta die Sprache erlernt und die erste Einführung in die Literatur und die idealistische Philosophie erhalten. Diese Anregung gab er in Zeitschriftenaufsätzen (hauptsächlich im 'Christian Examiner' und The Dial') weiter und machte die Quellen in Übersetzungen zugänglich in der Anthologie Prose Writers of Germany (1848) sowie in seiner späteren Tätigkeit als Professor des Deutschen an der Universität Harvard, wo er in dem Theologen Convers Francis12 (1795-1863) einen der deutschen Philosophie aufgeschlossenen Kollegen hatte. Hedge legte das Schwergewicht auf den Gehalt, denn seine Interessen waren, wie die des alternden Coleridge, vornehmlich theologisch-philosophisch. In dem Buch Reason and Religion (1865), das die klassische Formulierung des transzendentalistischen Christentums enthält, vertritt er sein Ideal einer 'broad church', die das Gute der unitarischen Kirche bewahren soll. Aber Herders Idee des Fortschritts in der Geschichte auf christliche Ebene übertragend, sah er mit visionärem Pathos einem praktischen Christentum entgegen, „das ein himmlisches Königreich auf Erden verwirklicht", und einer Zeit, in der „eine katholisch-protestantische Kirche sein wird und eine Priesterschaft der Guten und Weisen" - Gedanken, die auch bei den beiden Lyrikern der Bewegung, CHRISTOPHER PEASE CRANCH U (1813-90) und JONES VERY 14 (1813-80), anklingen. Dame, 1973). - L. Buell, Literary Transcendentalism: Style and Vision in the Am. Renaissance (Ithaca/Lo., 1973) [seit F. O. Matthiessen (s. S. 560) grundlegende Neuwertung, auch der kleineren Dichter]; D. Koster, Transcendentalism in Am. (Boston, 1975) [elem. Einführung]. 10 Vgl. O. W. Long, F. H. H. (Portland, Me., 1939). 11 S. M. Vogel, German Lit. Influences on the Transcendentalists (New Haven, 1955); H. A. Pochmann (s. S. 579). 12 M. Vaughan, Life and Work of C. F. (Watertown, Mass., 1944). 13 L. Cranch Scott, Life and Letters of C. P. C. (Boston, 1917); Collected Poems of C. P. C., ed. J. M. DeFalco (Gainesville, Fla., 1971).

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Zur Verbreitung der transzendentalistischen Bemühungen bedurfte man eines wirksamen Organs. Schon bei der Gründung des Transcendental Club war von einer Zeitschrift, die das Forum der Transzendentalisten sein sollte, die Rede. Die North American Review hatte zu vielseitige Interessen, und die führende Bostoner Zweimonatsschrift The Christian Examiner (\%\3 als 'Christian Disciple' gegründet) war das Blatt der Unitarier und nahm erst Ende der 50er Jahre eine liberalere Haltung ein. Die Boston, später Brownson's Quarterly Review (1838-44, 1844-75) war, der Richtung des Herausgebers entsprechend, vornehmlich an wirtschaftlichen Fragen interessiert. Die erste transzendentalistische Zeitschrift war die in Cincinnati von J. F. Clarke herausgegebene The Western Messenger (1835-41), die für die Verbreitung der von Boston ausgehenden transzendentalistischen Ideen im Westen unschätzbar war, aber Cincinnati war zu weit abgerückt. So wurde die Monatszeitschrift The Dial (1840-44) das eigentliche Organ des Transzendentalistenkreises, zuerst unter M. Füllers und George Ripleys, dann unter Emersons Leitung. SARAH MARGARET FULLER IS (1810-50), die erste Herausgeberin des Dial (auch Kritikerin der New York Tribüne), ist die bedeutendste Frauengestalt des Transzendentalistenkreises. Sie war mit Emerson, Channing, Hedge, Clarke und anderen Mitgliedern des Kreises befreundet. Sie unterrichtete in Alcotts Schule (1836); und auf Grund eingehender Deutschkenntnisse brachte sie eine Übersetzung von Eckermanns Gesprächen (1839) heraus. Sie verfaßte den Essay On Critics (1840 im Dial erschienen), worin sie, vielleicht von August Wilhelm Schlegels Vorbild angeregt, kritische Maßstäbe aufzustellen suchte. Mehrere Jahre hindurch (1839-44) leitete sie in Elizabeth Peabodys Haus Konversationsklassen, die viele Mitglieder der Bostoner Gesellschaft anzogen; daraus erwuchs ihr Buch Woman in the 19th Century (1845), das in Erneuerung von Mary Wollstonecrafts 'Rights of Woman' (1792) richtungweisend für die spätere amerikanische Frauenbewegung wurde. M. Füller war maßgeblich beteiligt an der Brook Farm-Schule (s. S. 703). Nach einem Besuch in Chicago veröffentlichte sie ihre Reisebriefe A Summer on the Lakes (1844). Ihr stürmisches Temperament ließ sie auf einer Englandreise sich den italienischen Patrioten anschließen. Sie schloß Freundschaft mit Mazzini und ihrem späteren Gatten, Graf Ossoli, mit dem sie nach Ausbruch der Februarrevolution nach Rom ging. Nach dem Scheitern der Befreiungskämpfe fand sie auf der Rückreise nach Amerika bei einem Schiffsuntergang 14

Poems and Essays, ed. J. F. Clarke (Boston, 1883); Poems (1886), ed. K. W. Cameron (Hartford, 1965) [m. Index]. Auswahl: J. V.: Selected Poems, ed. N. Lyons (Brunswick, N.J., 1966).- Biographie: E. Gittleman, J. V.: The Effective Years, 1833-40 (N. ., 1967). 15 The Writings of M. F., ed. M. Wade (N. Y., 1941) [Auswahl]; Love Letters, ed. J. W. Howe (N. Y., 1903); M. F., Am. Romantic: A Selection from Her Writings and Correspondence, ed. P. Miller (Garden City, N. Y., 1963). - Biographie von F. Chipperfield (N. Y., 1957); R. E. Durning, M. F.: Citizen of the World (Hdbg., 1969); A. W. Brown, M. F. (N. Y., 1964); B. G. Chevigny, The Woman and the Myth: M. F.'s Life and Writings (Westbury, N. Y., 1976).

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den Tod. Mit ihr verlor der Kreis eine weltbürgerlich gesonnene Vermittlerpersönlichkeit. Hedge ergänzend, war ihr Interesse am deutschen Geistesleben vorwiegend ästhetischer Art. Die Theologen Clarke und Ripley suchten in der deutschen Philosophie das metaphysische Fundament für ihre religiösen Überzeugungen. JAMES FREEMAN CLARKE16 (1810-88), dem Coleridge den Weg zur deutschen Metaphysik eröffnet hatte, war einflußreich durch die in seiner Zeitschrift The Western Messenger veröffentlichten Aufsätze und Übersetzungen aus dem Deutschen. Die Freundschaft mit Margaret Füller brachte ihn Goethe näher, unter dessen Einfluß sein philosophisches Werk Self-Culture (1882) steht. GEORGE RIPLEY17 (1802-80) schrieb schon 1832 im Christian Examiner anläßlich der Antrittsvorlesung des ersten Harvarder Deutschprofessors Karl Folien einen die deutsche Literatur (gegen die Bedenken der North American Review) rechtfertigenden Bericht, übersetzte Herders „Geist der hebräischen Poesie" im Examiner (1835) und veröffentlichte ebenda einen hochbedeutsamen Aufsatz über Schleiermacher als Theologen, bevor er 1838 bis 1842 zusammen mit Hedge in 14 Bänden Specimens of Foreign Standard Literature herausgab, die mehr waren als eine Anthologie, denn sie enthielten die Texte, auf die sich die Philosophie der Transzendentalisten gründete. Die seltsamste Gestalt des Kreises war der ursprüngliche Hausierer AMOS BRONSON ALCOTTIS (1799-1888), der besonders als Schulreformer eine bedeutsame Rolle spielte. Sein Ziel war eine harmonische Entwicklung der physischen, intellektuellen und moralischen Natur, was er gleichsam spielend durch Konversationsmethode zu erreichen suchte. Die Methode, deren Naivität und allzuweit gespannte Ziele seine Conversations with Children on the Gospels (1836/37) erkennen lassen, führten zu mißglückten Schulgründungen, bis auf die Temple School (1834-39) und die Concord Summer School of Philosophy and Literature (1879). Den Erfolg der Temple School in Boston verdankte er nicht zum wenigsten der Mitarbeit von Elizabeth Peabody19 (1804-94), deren Record of a School (1835) uns ein sympathisches Bild von der Pädagogik Alcotts und von der Verfasserin vermittelt. Die rührige Schwägerin Hawthornes, die ihren Bostoner Buchladen zum Treffpunkt der Transzendentalisten machte und später den ersten Fröbelschen Kindergarten in Amerika gründete (1860), war eine gläubige Anhängerin von Alcotts Reformplänen. Ihr Bericht bewog Emerson, den Autodidakten Alcott bei der Grün16

Autobiography and Correspondence, ed. E.E. Haie (Boston, 1891); Briefe an M. Füller, ed. J. W. Thomas (Hamburg, 1957); Monographie von J. W. Thomas (Boston, 1949); von Bolster (Boston, 1954). 17 O. B. Frothingham, G. R. (Boston, 1882); C. Crowe, G. R.: Transcendentalist and Utopian Socialist (Athens, 1967). 18 Journals, ed. O. Shepard (Boston, 1938; repr. Port Washington, N. Y., 1966); Orphic Sayings, ed. W. P. Randel (Mt. Vernon, N. Y., 1939); The Letters, ed. R. L. Herrnstadt (Ames, Iowa, 1969). Biographie von O. Shepard (Boston, 1937); von F. B. Sanborn and W. T. Harris, 2 Bde. (Boston, 1893) [mit Briefen u. Tagebuchauszügen]. 19 Erinnerungen u. Essays, auch zu Brook Farm, in: A Last Evening with Allston (Boston, 1886). - L. Tharp, The Peabody Sisters (Boston, 1950).

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düng des Transcendental Club hinzuzuziehen. Emerson hat ihm die Freundschaft auch in schwierigen Lagen bewahrt, als die öffentliche Entrüstung über die religiösen und biologischen Unterhaltungen die Temple-Schule zu Fall brachte. Die in der Zeitschrift Dial veröffentlichten Orphic Sayings (1840) erwiesen, daß Alcott kein Schriftsteller war. Das vegetarisch-utopische Gemeinwesen 'Fruitlands' (1843/44) war ein Wölkenkuckucksheim, und während seiner ständigen „Konversations"reisen (1853-82) überließ er den Erwerb des Lebensunterhalts seiner Frau und der Tochter Louisa May Alcott,20 der Verfasserin des vielgelesenen, reizvollen Kinderbuches Little Women (1868/69), das von den häuslichen Erlebnissen und späteren Liebesgeschichten von vier Schwestern in einer von Geldnot bedrängten Familie in einem Neuengland-Dorf erzählt. Die Transzendentalisten haben eine (heute schwer zugängliche) Literatur geschaffen, die mehr Niederschlag ihres Wollens und Konfession ihrer Überzeugungen ist als künstlerisches Anliegen. Charakteristisch ist die führende Persönlichkeit des linken Flügels, ORESTES AUGUSTUS BROWNSON21 (1803 bis 1876). Er war weniger Revolutionär als Idealist, der eklektisch, aber eingehend Victor Cousin, den Popularisator des deutschen Idealismus, studiert hatte. Im Gegensatz zu der vermittelnden Haltung Emersons zog sich der aufrechte Mann durch seine vielfachen Wandlungen vom Presbyterianer zum Unitarier und zum Katholiken viele Anfeindungen zu. Er nahm ein brennendes Interesse an sozialen Fragen. Literatur war für ihn nicht Schöpfung einzelner bevorrechteter Geister, sondern organischer Ausdruck des ganzen Gemeinwesens; er forderte eine demokratische, d. h. die Masse weckende und zur Verbesserung der sozialen Zustände aufrufende Literatur (Aufsätze über Emerson und Wordsworth in der von ihm herausgegebenen Boston Quarterly Review, 1839). Mit ihm lebte die Millenniumshoffnung eines Jonathan Edwards in säkularisierter Form wieder auf, und in konsequentem Verfolgen seiner utopischen Gedanken forderte er ein gewaltsames Erzwingen der erhofften Sozialreform, Abschaffung des Priesterstandes, Zerstörung der Banken, Abschaffung der Vererbung des Privateigentums, Hebung der Arbeiterklasse (The Labouring Classes, Boston Quarterly Review 1840). Utopische Experimente, mit denen man den Übeln der Industrialisierung entgegenwirken wollte, lagen in der Zeit der Romantik gewissermaßen in der Luft. Man denke etwa an die frühen Pläne Southeys und Coleridges, an des englischen Reformers Robert Owen Kollektivsiedlungen New Lanark (1815) 20

Life, Letters and Jornals, ed. E. D. Cheney (Boston, 1889 u. ö.); Little Women, in vielen Ausgaben; nicht ganz so verbreitet: An Old-Fashioned Girl (1870), Little Men (1871); Work (1873), ed. S. Elbert (N. Y., 1977). Vgl. Glimpses of Louisa: A Centennial Sampling of the Best Short Stories, ed. C. Meigs (Boston, 1968); Behind a Mask: The Unknown Thrillers of L. . ., ed. M. Stern (N. Y., 1975, Fortsetzung 1976).- M.B. Stern, L. M. A. (Norman, Okla., 21971 [ 950]); M. Saxton, Louisa May: A Modern Biography of L. M. A. (Boston, 1977). 21 Works, ed. H. F. Brownson, 20 Bde. (Detroit, 1882-1907; repr. N. Y., 1966). Selected Essays (Chicago, 1955). Biographien von A. M. Schlesinger (Boston, 1939); A. D. Capati (N. Y., 1965). - P. Sveino, O. A. B.'s Road to Catholicism (N. Y., 1970).

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in Schottland und New Harmony (1826) in Indiana oder an den französischen Sozialphilosophen Fra^ois Marie Charles Fourier, dessen chiliastisch-kommunistische Ideen zur Gründung zahlreicher, aber meist kurzlebiger „Phalangen" in Amerika führten. Das zur Verwirklichung der sozialen Ansichten des Transcendental Club in West Roxbury unweit Bostons gegründete landwirtschaftlich-pädagogische Gemeinwesen B r o o k Farm 2 2 (1841-47) hielt sich länger als diese und war die einzige der utopischen Gemeinden, deren Harmonie bis ans Ende ungestört war, vielleicht deshalb, weil die Mitglieder dieser idealistischen Aktiengesellschaft dasselbe Bildungsniveau hatten. George Ripley hatte die Leitung, und viele Mitglieder des Transzendentalistenclubs weilten länger oder kürzer dort: Margaret Füller und Elizabeth Peabody, Alcott, Cranch, Brownson und andere mehr. Hawthorne, der einen Sommer in der Brook Farm verbrachte, hat in seiner Blithedale Romance, deren Heldin Zenobia ein etwas verzerrtes Porträt Margaret Füllers ist, eine Schilderung des Brook Farm-Lebens gegeben. Grundsatz war die Abwechslung und gleiche Bezahlung der ins Belieben des einzelnen gestellten körperlichen und geistigen Arbeit; Erholung boten die musikalischen und literarischen Abende; Mittelpunkt war die Schule, die das Unternehmen wirtschaftlich auf der Höhe hielt. Die ursprünglichen Intentionen wurden verlassen, als Ripley 1844 Brook Farm zu einer Phalanx im Fourierschen Sinn umgestaltete und die eine „radikale Sozialreform" vertretende Wochenschrift The Harbinger (1845-49) dort herausgab. Der Brand des mit großen Kosten gebauten Gemeinschaftshauses Phalanstery (1846) ruinierte Ripley, und ein Jahr später löste sich das Unternehmen auf. RALPH WALDO EMERSON23 (1803-82) hatte in der sozialistischen Gründung wenig mehr gesehen als ein dem alltäglichen gegenüber vergrößertes Gefängnis. Er lachte über die Damen, die sich am Waschtag erkälteten, und spottete 22

Vgl. K. Burton, Paradise Planters: The Story of Brook Farm ( . ., 1939); s.o. Anm. 19. 23 B i b l i o g r a p h i e : A . R. Ferguson, Checklist of R. W. E. (Columbus, O., 1970). -Complete W o r k s (Centenary Edn.), ed. E. W. Emerson, 12 Bde. (Boston, 1903-04); Collected Works, edd. A. R. Ferguson et al. (Cambr, Mass., 1971 ff. [i. E.]); Complete Essays and Other Writings, ed. B. Atkinson, ML (N. Y., 1940); Selected Essays, Lectures and Poems, ed. R. E. Spiller (N. Y., 1965); Nature, Conduct of Life a. o. Essays, WC, EL; English Traits u. Representative Men, WC, EL [darin auch The American Scholar]; Essays, two series, WC, EL; The Early Lectures, edd. S. E. Whicher et al., 3 Bde. (Cambr., Mass., 1959-72); Letters, ed. R. L. Rusk, 6 Bde. (N. Y., 1939); Journals and Notebooks, edd. W. H. Oilman et al., 16 Bde. (Cambr., Mass., 1960ff. [i. E.]); gute Auswahl: The Heart of E.'s Journals, ed. B. Perry (Boston, 1933). - Biograp h i e : R. L. Rusk, The Life of R. W. E. (N. Y., 1949) [Standard]; E. Wagenknecht, R. W. E.: Portrait of a Balanced Soul (N. Y., 1974) [Einführung in Leben und Werk]. - K r i t i k (s. auch S. 698, Anm. 9): S. Paul, E.'s Angle of Vision: Man and Nature in Am. Experience (Cambr., Mass., 1952); J. L. Duncan, The Power and Form of E.'s Thought (Charlottesville, 1973); H. Waggoner, E. as Poet (Princeton, 1974).- Sammlungen: CCE, edd. M. R. Konvitz and S.E. Whicher (Englewood Cliffs, N.J., 1962); The Recognition of R. W. E., ed. M. R. Konvitz (Ann Arbor, 1972) [Kritik seit 1837]. - Hilfsmittel: F. I. Carpenter, E. Handbook (N. Y., 1953).

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über die Herren Hirten des intellektuellen Arkadien. Sein Anliegen war nicht diese Art der praktischen Realisierung. Sein Ziel war die über alles gehende geistige Freiheit und Unabhängigkeit. Er stammte aus einer alten Theologenfamilie, legte aber schon 1832 sein Amt als Geistlicher aus Gewissensgründen nieder; er konnte das Abendmahl auch in der bei den Unitariern üblichen symbolischen Form nicht geben (vgl. seine Predigt: Letter to the Second Church, 1832). Seine Berufung fand er auf seiner ersten Europareise (1832/33), auf der er Wordsworth, Coleridge und vor allem Carlyle kennenlernte, die seine Aufmerksamkeit auf die deutsche Transzendentalphilosophie lenkten. Diese Anregungen entwickelte er nach seiner Heimkehr, als er sich in dem berühmt gewordenen Old Manse bei Concord niederließ und Mittelpunkt des 1836 gegründeten Transzendentalistenclubs wurde. Sein Erstlingswerk Nature (1836), das als Verfassungsurkunde dieser idealistischneuplatonischen Bewegung gilt, sowie die anschließenden Aufsätze An Address delivered in Divinity College (1838) und The Oversoul (aus dem ersten Essayband, 1841) verkünden seine Philosophie oder besser sein Evangelium der All-Einheits-Lehre. Danach „ruht der Mensch in der Natur wie die Erde in den Armen der Atmosphäre". In der großen Einheit oder Überseele ist jedes Menschen besonderes Dasein enthalten. Der seiner Seele gehorchende Mensch hat Zugang zum Geist des Schöpfers; er fühlt die Einklänge zwischen Mensch und Natur, und in intuitiver Schau erkennt er die sichtbare Natur als großen Schatten, der auf die hinter uns liegende Sonne weist, auf den Geist, das Göttliche, Erschaffende. In solchen Ewigkeitsaugenblicken, die nicht wie bei Keats mit dem tragischen Aspekt der begrenzten Dauer verbunden werden, erhalten wir die Richtpunkte unserer Weltansicht und Lebensführung. Emerson lehrt ein kompromißloses Leben im Geiste in mystischer Verbindung mit der Weltseele, die sich in der Schönheit der Natur und der Unbedingtheit sittlichen Handelns offenbart. Er sucht den Menschen zum Selbstvertrauen zu erziehen, denn jeder trage die Anlagen zum Genie in sich. Dies gilt auch für ganze Nationen. Sein 1837 vor der Universität Harvard gehaltener Vortrag The American Scholar ist die geistige Selbständigkeitserklärung Amerikas gegenüber dem Übergewicht der europäischen Tradition und erster programmatischer Ausdruck einer selbstbewußten und tatenfrohen Hinwendung Amerikas zur Zukunft. Er will diese Zukunft gestalten helfen, die Menschheit soll zu neuen Höhen aufsteigen; eine optimistische Lehre, die Whitman später rhapsodisch fortführte und die Emerson nicht müde wurde zu verkünden als weltlicher Priester und Essayist. Er hat zeitlebens 'lectures' gehalten, eine Vortragsreise reihte sich an die andere. Seine gerade und doch versöhnliche Art, sein sittlicher Ernst, seine Überzeugung einer fortschrittlichen Evolution waren seinen amerikanischen Zuhörern aus dem Herzen gesprochen, auch da, wo sie nicht im einzelnen folgen konnten. Er war ein großer Anreger, gerade weil er systemloser Eklektiker war und weniger Philosoph als dichterischer Vates. Die ihm gemäße Ausdrucksform war der Vortrag; hier konnte er ohne die Fesseln eines logischen Aufbau-

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Schemas seine täglichen Gedanken aussprechen, thematisch in Ordnung gebracht, aber ohne bestimmten Plan. Aus diesen 'lectures' hat er, mit nur leichten Veränderungen, seine Essays geformt. Alle Essays sind durch die Betonung der Hauptlinien seiner Philosophie zusammengehörig, aber die Reihenfolge in den einzelnen Bänden (Essays, 1841 und 1844) ist unvermittelt. Keiner der Essays ist logisch in sich geschlossen; Passagen des einen könnten ohne Störung in einen anderen versetzt werden. Es sind, im Stile des 18. Jahrhunderts zu reden, Betrachtungen zur Moralphilosophie, aber mit unmittelbarer praktischer Anwendung. Er sprach über Love, Friendship, Prudence, Heroism, Self-Reliance, Experience, Character, Manners usf., machte aber den Essay auch zum Instrument seiner Geschichtstheorie. Diese Geschichtsphilosophie, die mit Hegels Auffassung der Geschichte als Fortschreiten des Weltgeistes zusammenhängt, hatte Emerson zuerst in Vorlesungen über Philosophy of History (im Bostoner Lyceum, 1836) entwikkelt, dann in dem Aufsatz History im ersten Essayband (1841) zusammengefaßt. Die eher rhapsodisch als logisch durchgeführte These verkündet wiederum die wunderbare Einheit, die er im 'Nature'-Essay herauszustellen sich bemüht hatte. Denn faßbarer noch als die Natur ist die Geschichte die Ausdrucksform des göttlichen Geistes, der in den Annalen der Menschheit seinen Willen durch die Individuen wirkt. Wenn der einzelne in seinem eigenen Leben die Einheit nicht erfassen kann, so zeigt ihm die Geschichte den Weg. Dies ist in praktischen Beispielen ausgeführt in den thematisch zusammengehörigen sieben Essays Representative Men (1850). Der gedruckten Fassung gingen Vorlesungen in Boston (1845/46) voraus, die dann auf Emersons zweiter Englandreise (1847/48), zu der er von englischen Freunden und Bewunderern eingeladen war (Carlyle, Arnold, A. H. Clough), in Manchester und London wiederholt wurden (1847). Mit der These dieser Essays, daß große Männer mehr von dem göttlichen Geist verkörpern als ihre Mitmenschen und daß also an ihnen die Menschheit ihre Möglichkeiten erkennen kann, geht Emerson weit über Carlyles Lehre (in Heroes and Hero-Worship, 1841) von dem bestimmenden Einfluß der großen Männer auf die Geschichte hinaus. Emerson reiht die Namen der Großen ohne jedes Gefühl für historische Perspektive aneinander, weshalb der ihm mit warmer Sympathie zugetane Carlyle in seinem schottischen Humor die Essays als 'moonshine' und 'intellectual sonatas' bezeichnete. Plato, als Repräsentant der Philosophie, eröffnet die Reihe, wobei aber der Platonismus nicht als einmalige geschichtliche Lehre erörtert wird, sondern als ewige Haltung des Geistes. Wenn Emerson sagt, daß Plato die Widersprüche von Orient und Okzident vereine, und seine systemlose Philosophie verteidigt, so gibt er damit eine Rechtfertigung der eigenen transzendentalistischen Philosophie. An Plato reiht sich als Vertreter der Mystik Swedenborg, der von allen Brook Farm-Anhängern hoch verehrt wurde. Emerson, der aus dem Traktat Observations on the Growth of Mind (1826) des Swedenborgianers Sampson Reed und aus dessen Zeitschrift New Jerusalem Magazine den prophetischen Optimismus und die

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einheitliche Schau der materiellen und geistigen Welt entnommen hat, will auch hier transzendentalistisch deuten, nicht historisch würdigen. Ebenso persönlich ist der kontrapunktisch folgende Essay über den Skeptiker Montaigne mit dem Salto mortale, daß die Skepsis, nachdem sie ihr heilsames Werk getan, schließlich von dem (Kantschen) moralischen Gesetz überwunden wird. Shakespeare war schlecht mit transzendentalistischen Maßstäben zu messen. Er ist nicht der Vates, denn er tat nie den Schritt zum Moralisten. Noch fehlt der Welt der 'poet-priest'. Jedoch feiert Emerson die Weltfestlichkeit in Shakespeares Werk, während der folgende Aufsatz über Napoleon nur eine willkürliche Verbiegung der historischen Tatsachen ist. Auch der abschließende Goetheaufsatz, der, in dem Untertitel 'the writer' über Carlyles moralisches Goethebild hinausgehend, Goethe als Aufzeichner des wunderbaren Lebensgeistes anspricht, kommt zu dem höchst unbefriedigenden Schluß, daß Goethe und Napoleon die Reaktion der Natur auf die 'morgue' der Konvention darstellen. Die Berührung mit den englischen Geistern und die Beschreibung englischer Wesenszüge zeigt sich in seinem klassische Geltung erlangenden Buch über den englischen Nationalcharakter English Traits (1856, auf Grund von Vorlesungen 1848). Dies Bild des frühviktorianischen England, das liebevolle Beschreibung seiner Besuche bei Carlyle, Wordsworth und Coleridge und Bewunderung der „besten aller bestehenden Nationen" mit scharfer Kritik der aristokratischen Gesellschaft und Hochkirche verbindet, ist das Ergebnis seiner zweiten Englandreise. Es ist sein zusammenhängendstes Buch, auch das objektivste und am meisten auf Beobachtung gegründete. Aber Objektivität ist nicht Emersons Gabe, und trotz Carlyles Anerkennung zeigen die 1860 unter dem Titel Conduct of Life veröffentlichten, aber zehn Jahre früher als Vorträge aufgeschriebenen Essays, die vielfach auf englische Eindrücke zurückgehen, eine erlahmende Schaffenskraft. Der bezeichnende Titel ruft in Erinnerung, daß es Emersons Stärke war, auch bei kühnen Gedankenflügen den realen Boden nicht unter den Füßen zu verlieren, aber was er jetzt über 'Culture', 'Behaviour', 'Worship' sagt, hat nicht mehr die Funken seiner früheren Essays, und in 'Power' und 'Wealth' macht er seinen Frieden mit dem plutokratischen System. Die 1870 publizierten, auf Vorlesungen von 1858 basierenden Essays Society und Solitude sind eine matte Wiederholung alter Thesen, zu denen die 1875 von seiner Tochter und seinem ersten Biographen J. E. Cabot24 redigierten Letters and Social Aims noch eine Nachlese bringen. Emersons Geist war erloschen. Alle Bücher Emersons sind Sammlungen von Essays, die ursprünglich als Reden gehalten wurden. Emerson, der wie die ganze Gruppe der Transzendentalisten die Redekunst aufs höchste schätzte, bezeichnete einen Prosaschriftsteller als Orateur manque'. Seine als Reden geschriebenen Essays sind nicht durchkomponiert; denn der Redner gibt die Einheit und Kontinuität der Mitteilung, die der Schriftsteller durch die geordnete Folge wohl24

R. W. Emerson: A Memoir, 2 Bde. (Boston, 1887).

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gebauter Perioden erzielt, durch seine Persönlichkeit. Er kann abrupte Übergänge, sprunghaft unvermittelte Satzfolgen ohne störende, ja als steigernde, überraschende Wirkung brauchen. Emerson, der von sich sagte, "my reasoning faculty is proportionally weak", verzichtete folglich auf eine induktivlogische Methode (was schon das Fehlen der Konjunktionen in seiner Prosa bezeugt); seine Einheit ist der einzelne, schlagende Satz, vorzugsweise der eine Behauptung aufstellende aphoristische Satz. Er bewertete einen Autor nach den 'pithy sayings' und einprägsamen Metaphern, die er in seinen (seit seiner College-Zeit geführten) Journals notieren konnte. Diese Zitate samt den durch sie hervorgerufenen, oft verblüffend treffenden eigenen Wendungen, explosiven Formulierungen und weit ausgreifenden Analogien stellte er kaleidoskopisch zu seinen Lectures und Essays zusammen. Das ergibt einen sehr ungleichen, von platter Feststellung zu beschwingter Rede springenden Stil, hinter dem die faszinierende Persönlichkeit des Sprechers fühlbar bleibt. Der Zuhörer hat das Gefühl der Aufrichtigkeit; er glaubt in einer ungefügen Periodenfolge die Denkarbeit des Sprechers zu erkennen, und die hämmernde Wiederholung hilft der Überzeugung. Die Bewertung dieses Prosastils hängt jedoch vom Standpunkt des Beurteilers ab. Während der klassisch orientierte M. Arnold den in seiner Jugend bewunderten Emerson nicht als großen Schriftsteller gelten lassen wollte, zählt Emerson heute zum klassischen amerikanischen Schrifttum. Gemäß Emersons Anschauung, daß der Dichter alle materiellen Dinge zu Symbolen seines Denkens, zu Worten der Vernunft emporhebe und die Natur mit seinen eigenen Gedanken belebe, entspringen seine Gedichte (Poems, 1847; May Day, 1867; Selected Poems, 1876) nicht dem Gefühl, sondern dem intellektuellen Verlangen nach eindringlichem und sublimiertem Ausdruck. Sie wollen wie die Essays zu moralischem oder geistigem Streben hinführen und sind oft versifizierte Fassungen seiner Essays (vgl. die seine Essays 'Love' und 'Friendship' begleitenden Gedichte To Rhea und The Visit). Diese Neigung zu schwerer Gedankenlyrik läßt Gedichte wie The Sphinx, The Problem, The World-Soul, Terminus u. a., in denen alle Sinnlichkeit „transfiguriert" ist, zähflüssig und wenn nicht undichterisch, so doch unlyrisch erscheinen. Das gilt selbst für die anläßlich des Todes seines Sohnes geschriebene Threnody und für den an Wordsworth anklingenden Naturhymnus Woodnotes, wie ein Vergleich mit diesem zeigt. Am ähnlichsten ist ihm noch M. Arnold (der ein Sonett 'Written in Emerson's Essays' schrieb) und dessen Neigung zur Sentenz und zum philosophischen Spruchgedicht Emerson teilt (The Rhodora; Eros; Dirge; Days). Diese kurzen Stücke, denen Brahma u. ä. anzuschließen sind, verwirklichen am vollkommensten sein Ideal, daß der wahre Dichter und der wahre Philosoph dasselbe Ziel haben, das der Natur aufgeprägte Bild Gottes zu offenbaren. Emersons transzendentalistische All-Einheits-Lehre suchte sein Freund und Schüler HENRY DAVID THOREAU25 (1817-62) durch die Tat zu erproben. " W e r k e : The Writings of H. D. T. (Waiden Edn.), ed. B. Torrey, 20 Bde. (Boston, 1906); edd. W. Harding et al. (Princeton, 1971 ff. [i. E.)); Journals, edd. B. Torrey and

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Nur die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit als Aufgabe ansehend, lebte er in seltener Unabhängigkeit, hauste auch zwei Jahre (1845-47) in selbstgezimmerter Blockhütte am Waldensee, ganz auf sich angewiesen und der philosophischen Spekulation hingegeben, um so die von ihm geforderte Reform der Gesellschaft durch die voraufgehende Reform der sie bildenden Individuen zu verwirklichen - ein philosophischer Robinson Crusoe. Lange haben das soziale Experiment und die gesellschaftskritische Note seines Schrifttums nachgewirkt und auch in Europa Einfluß ausgeübt. Sein Vortrag On the Duty of Civil Disobedience (in erster Fassung 'Resistance to Civil Government'), dessen Lehre er durch eine Weigerung, Kriegssteuer zu zahlen (1845), praktisch befolgte, die Fouriers Lehren verarbeitende Schrift Social Destiny of Man, das anti-industrielle Befürworten des Landlebens und das leidenschaftliche Eintreten für die Sklavenbefreiung haben den konsequenten Individualisten, der sich keinem Berufe fügte und die Gesellschaft mit allen ihren Institutionen als Hindernis für die freie Entwicklung des einzelnen erklärte, einseitig als Sozialreformer und Vorläufer marxistischer Lehren erscheinen lassen. Im Grunde seines Wesens war er Transzendentalist und Naturmystiker wie Emerson, weil er aber seine Philosophie nicht wie dieser mit Sätzen aus Plato, Bibel und der Welt des Gedankens belegte, sondern aus Beobachtungen von Licht, Wasser, Getier und Pflanzen der ihn umgebenden heimatlichen Natur ableitete, hat das in seinen umfänglichen Journals niedergelegte Schrifttum einen singulären Rang unter den amerikanischen Transzendentalisten, um so mehr als seine halb wissenschaftliche, halb poetische Naturbetrachtung der kommenden positivistischen Generation mehr zusagte als die rhapsodischpantheistische Redeweise Emersons. Die Bücher, die er aus dem Material seiner Tagebücher zusammenstellte, sind uns heute nicht der Lehre wegen interessant, sondern wegen der eindringlichen, inbrünstigen und realistischen Naturbeobachtungen, in die persönliche Betrachtungen oft satirischer und ironischer Art und zwanglose Selbstbekenntnisse eingeflochten sind, eine anscheinend kunstlose Folge aneinandergereihter Beobachtungen, die aber mit einer Montaigne und Thomas Browne abgelernten Kunst eine wohlbedachte Ordnung und Abrundung haben. In vollem Maße trifft das allerdings nur bei seinem Hauptwerk Waiden, or Life in the Woods (1854) zu, das durch das F. H. Allen, 14 Bde. (Boston, 1949); Neuausgabe W. Harding, 2 Bde. (N. Y., 1963). Einzelausgaben und Auswahlen: Waiden, EL; auch in: The Portable T., ed. C. Bode (N. Y., 1947); Selected Journals, ed. C. Bode (N. Y. 1967); Collected Poems, ed. C. Bode (Baltimore/Lo., 21964); The Selected Works of T., ed. W. Harding (Boston, 1975). - B i o g r a p h i e : J. W. Krutch, H. D. T. (1948); W. Harding, The Days of H. T. (N. Y., 1965) [die bisher detailreichste]). - K r i t i k : S. Cavell, The Senses of Waiden (N. Y., 1972); C. R. Anderson, The Magic Circle of Waiden (N. Y., 1968); J. Mclntosh, T. as Romantic Naturalist (Ithaca, 1974); F. Garber, T.'s Redemptive Imagination (N. Y., 1977). - Sammlungen: T: CCE, ed. S. Paul (Englewood Cliffs, 1962); TCI of Waiden, ed. R. Ruland (Englewood Cliffs, 1968); The Recognition of H. D. T, ed. W. Click (Ann Arbor, 1969) [seit 1848]. - Unentbehrliches Hilfsmittel: W. Harding, A T. Handbook (N. Y., 1959) [über Leben, Ideen, Wirkung usw.].

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einheitliche Thema des Einsiedlertums eine Mitte hat, aus der die einzelnen Kapitel herauswachsen. Thoreaus erstes Buch A Week on the Concord and Merrimack Rivers (1849), das die Beschreibung einer Bootsreise mit sozialen und religiösen Betrachtungen zu verbinden suchte, formte die verschiedenen Teile nicht zu einer Einheit. Die aus seinem Nachlaß herausgegebenen, der letzten Revision entbehrenden Bücher: Excursions in Field and Forest (1863), The Maine Woods (1864), Cape Cod (1865), A Yankee in Canada (1866) behielten die Vorzüge und Nachteile der halb-literarischen Tagebuchaufzeichnungen, die zwar ein lebendiges Bild der Persönlichkeit des Verfassers geben, aber in dem proportionslosen Nebeneinander minuziöser, oft trockener Sachbeschreibung und inspirierter Meditation und gedanklicher Phantasie den Charakter des Unverarbeiteten haben. Einen ähnlichen Eindruck machen die poetischen Versuche Thoreaus, die, ausgesprochener als bei Emerson, mehr das Rohmaterial der Poesie geben als Dichtung. Mit dem Verblassen des neuenglischen Kulturkreises verlagert sich der geistige Schwerpunkt wieder nach New York, das allerdings bei seinem starken materialistischen Einschlag niemals eine geistige Hauptstadt werden konnte und dem aufstrebenden Süden und Westen gegenüber höchstens eine gleichberechtigte Stellung behauptete. Der Nachteil solcher regionalen Zersplitterung wird aber dadurch aufgewogen, daß anstelle der im neuenglischen Kulturkreis stark fühlbaren englischen Überlieferung eine eigene amerikanische Tradition sich herausbildete, die anspruchsvoll und gebend Europa gegenübertritt.

SIEBTES BUCH

DIE V I K T O R I A N I S C H E ZEIT

713 LITERATUR

B i b l i o g r a p h i e : Jahresverzeichnisse in MP (1932-1956) und Victorian Studies (1957 ff.). - Amerikanische Autoren in American Literary Realism. G e s a m t d a r s t e l l u n g e n : L. Madden, How to Find Out About the Victorian Period (Oxf., 1970). - The Victorian Age, ed. G. H. Ford (N. Y., 1962); The Emergence of Victorian Consciousness, ed. G. Levine (N. Y., 1967). - G. M. Young, Victorian England, ed. G. K. Clark (1977 [Ί936]), auch pb.; W. E. Houghton, The Victorian Frame of Mind 1830-1870 (New Haven, 1970 [Ί957]); E. K. Milliken, The Victorian Era 18201901 (1963); G. H. Buckley, The Triumph of Time: A Study of the Victorian Concepts of Time, History, Progress, and Decadence (Cambr., Mass., 1966); J. Evans, The Victorians (1966); R. D. Altick, Victorian People and Ideas (Lo./N. Y., 1973); J. R. Reed, Victorian Conventions (Columbus, O., 1975). - The Victorian Age, ed. R. Langbaum (Greenwich, Conn., 1967); The Victorian Mind, edd. G. B. Kauvar and G. C. Sorensen (1970); The Mind and Art of Victorian England, ed. J. L. Altholz (Minneapolis, 1976); The Victorians, ed. L. Lerner (1978). - Victorian Newsletter (ab 1952); Victorian Studies (ab 1957); Victorian Periodicals Review [fr her als Newsletter] (ab 1968); Victorian Studies Bulletin (ab 1976). G e s c h i c h t l i c h e r H i n t e r g r u n d , E n g l a n d : English Historical Documents, Bd. 12, 1 u. 2, edd. G. M. Young and W. D. Handcock (1956-1977); Human Documents of the Victorian Golden Age, ed. E. R. Pike (1967). - B. Willey, Nineteenth-Century Studies und More Nineteenth-Century Studies (Harmondsworth, 1949 u. 1956), auch pb.; D. Thomson, England in the Nineteenth Century 1815-1914 (Harmondsworth, 1950 u. o.) [The Pelican History of England]; A. C. Wood, Nineteenth Century Britain 1815-1914, (1960); G. K. Clark, The Making of Victorian England (1962); J. Laver, The Age of Optimism: Manners and Morals 1848-1914 (1966); J. B. Schneewind, Backgrounds of English Victorian Literature (N. Y., 1970); L. C. B. Seaman, Victorian England (N. Y., 1973), auch pb. - Backgrounds to Victorian Literature, ed. R. A. Levine (San Francisco, 1967); The Victorian Revolution: Government and Society in Victoria's Britain, ed. P. Stansky (N. Y., 1973). A m e r i k a : Popular Culture and Industrialism 1865-1890, ed. H. N. Smith (Garden City, N. Y., 1967), pb.; The American Culture: Democratic Vistas 1860-1880, ed. A. Trachtenberg, und The Land of Contrasts 1880-1901, ed. N. Harris (N. Y., 1970), pb. E. P. Oberholtzer, A History of the United States Since the Civil War, 5 Bde. (N. Y., 1926); V. L. Parrington, Main Currents in American Thought: The Beginning of Critical Realism in America 1860-1920 (N. Y., 1958 [Ί930]) pb.; R. Ginger, The Nationalizing of American Life 1877-1900, Sources in American History, Bd. 6 (N. Y., 1965); R. H. Wiebe, The Search for Order 1877-1920, The Making of America, Bd. 5 (N. Y., 1967); H. M. Jones, The Age of Energy: Varieties of American Experience 1865-1915 (N. Y., 1970); W. R. Brock, Conflict and Transformation: The US 1844-1877, PB, und M. H. Wayne, Unity and Culture: The US 1877-1900, PB (Harmondsworth, 1973 bzw. 1971); I. Asimov, The Golden Door: The United States from 1865 to 1918 (1977); D. H. Donald, Liberty and Union (Lexington, Mass., 1978); B. Maddow, A Sunday Between Wars: The Course of American Life from 1865 to 1917 (N. Y., 1979). - Victorian America, ed. D. W. Howe (Philad., 1976). L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , E n g l a n d : The Victorian Age, edd. J.W. Bowyer and J. L. Brooks (N. Y., 1938 u. o.); English Literature of the Victorian Period, edd. J. D. Cook and L. Stevenson (N. Y., 1941); Victorian Prose and Poetry, edd. L. Trilling and H. Bloom (N. Y./Lo., 1973) [Oxf. Anthology of Engl. Lit.]. - J. H. Buckley, The Victorian Temper (Cambr., Mass., 1969 [Ί952]); G. Tillotson, A View of Victorian Literature (Oxf., 1978). - The Reinterpretation of Victorian Literature, ed. J. E. Baker (N. Y., 1962

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Literatur

[Ί950]); From Dickens to Hardy, ed. B. Ford (Harmondsworth, 1958 u. .) [The Pelican Guide to Engl. Lit, Bd. VI]; Victorian Literature, ed. A. Wright (N. Y., 1961); British Victorian Literature, ed. S. K. Kumar (N. Y., 1969); The Victorians, ed. A. Pollard (1970) [Sphere History of Lit. in the Engl. Language, Bd. 6], auch pb.; T. M. Parrott and R. B. Martin, A Companion to Victorian Literature (N. Y., 1955). - A m e r i k a : The Rise of Realism: American Literature from 1860 to 1900, ed. L. Wann (N. Y., 1949 [Ί933]); American Literature: The Last Part of the 19th Century, edd. C. Bode et al. (N. Y., 1966 [Ί955]), pb.; American Literature Survey: Nation and Region 1860-1900, edd. M. R. Stern and S. L. Gross, PB (Harmondsworth, 1962 u. .). - V. W. Brooks, New England: Indian Summer 1865-1915 und The Confident Years 1885-1915 (N. Y., 195055 [Ί940-52]); J. Martin, Harvests of Change: American Literature 1865-1914 (Englewood Cliffs, N. J., 1967). - American Literary Realism (ab 1967/68). - Vgl. auch S. 827, Anm. 61.

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DIE LITERATUR UND IHR ZEITGESCHICHTLICHER HINTERGRUND Als Königin Viktoria im Jahre 1901 nach 64jähriger Herrschaft starb, sprach der Politiker Lord Balfour in einer Unterhausrede vom Ende einer großen Epoche. Auch heute sehen Historiker und Literaturwissenschaftler die Regierungszeit Viktorias gern als Epoche an, während das gleiche Phänomen im vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch dadurch zum Ausdruck kommt, daß mit dem Begriff „viktorianisch" häufig pauschal Begriffe wie Bürgertum, Selbstgefälligkeit, Profitstreben, Materialismus und Prüderie assoziiert werden. Allerdings verdankt die Zeit von 1837 bis 1901 den Namen einer Epoche eher einem Zufall - dem langen Leben Königin Viktorias. Denn wenn man diesen Zeitraum genauer betrachtet, sieht man weit mehr Spannungen, Gegensätze und Konflikte als deutliche Gemeinsamkeiten, welche es rechtfertigen würden, vom Viktorianismus als einer historischen Epoche zu sprechen. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht ist die viktorianische Zeit zwar durch die Vorherrschaft des Bürgertums gekennzeichnet und, damit verbunden, durch ökonomischen Liberalismus und eine starke Tendenz zu Beharrung und Bewahrung. Aber die dominierende Rolle dieser Schicht wurde in wachsendem Maße durch Veränderung verlangende Bewegungen bedroht: schon früh durch den Chartismus mit seiner Forderung nach allgemeinen, freien und geheimen Wahlen, dann durch die immer mächtiger werdende Gewerkschaftsbewegung und schließlich auch durch sozialistische Strömungen. In religiöser Hinsicht wird die viktorianische Zeit ebenso sehr durch die wachsende Erstarrung der anglikanischen Kirche wie durch zunehmenden Agnostizismus und Indifferentismus, aber auch durch kraftvolle Bewegungen wie die Evangelicals und das Oxford Movement mit ihrem Ziel einer religiösen Erneuerung geprägt. Auf ähnliche Weise verdeckt das Schlagwort von der viktorianischen Prüderie, daß diese Zeit mehr durch den Konflikt als durch den Konsens bestimmt ist: Neben der umfassendsten Tabuisierung des Sexuellen, die es in England je gegeben hat, regten sich immer mächtigere Bestrebungen, diese Tabus zu durchbrechen. Darüber hinaus wird der Begriff des Viktorianismus als Epoche auch dadurch problematisch, daß sich in England während dieser Zeit größere soziokulturelle Veränderungen vollzogen als wohl je in der Herrschaftszeit eines anderen Monarchen. In außenpolitischer Hinsicht erlebte England in dieser Zeit einen großen Machtzuwachs, insbesondere aber eine Phase großer kolonialer Expansion:1 1876 wurde Königin Viktoria zur Kaiserin von Indien ausgerufen, außerdem 1

C. C. Eldridge, Victorian Imperialism (1978).

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Siebtes Buch: Die viktorianische Zeit

verleibte sich das englische Kolonialreich große Teile von Afrika ein - zuletzt nach dem Krieg von 1899 bis 1902 die Burenrepubliken -, so daß die englische Herrschaft in Afrika sich jetzt vom Kap bis Kairo erstreckte. England selbst erlebte eine tiefgreifende Veränderung durch die Industrialisierung,2 die zwar bereits Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, jetzt aber immer weitere Landesteile und Produktionsbereiche erfaßte; und immer neue Erfindungen traten ihren Siegeszug an: Dampfmaschine, Eisenbahn, Elektromotor, Telegraph und Telefon. Ebenso weitreichend war der Wandel im sozialen und politischen Bereich. Den Anfang der Regierungszeit Königin Viktorias kennzeichneten wirtschaftliche Krisen,3 eklatante soziale Mißstände und eine wachsende Verelendung der Industriearbeiter, die dann 1839 und 1848 zu den Chartistenaufständen führten. In der zweiten Jahrhunderthälfte führte eine Konsolidierung der wirtschaftlichen Situation immerhin zu einer partiellen Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft; ebenso konnten einige soziale Reformen wie der Zehnstundentag (1847) oder die Abschaffung der Kinderarbeit (1901) durchgesetzt werden. Parallel dazu verlief die politische Reformbewegung, welche mit der zweiten und dritten Reform Bill (1867 und 1884) wesentliche Ziele erreichte, die schon die Chartisten verfolgt hatten, so daß seit 1884 alle erwachsenen männlichen Bewohner Großbritanniens das Stimmrecht besaßen. Bemerkenswert ist dabei, daß diese Reformpolitik kontinuierlich weitergeführt wurde, obwohl konservative und liberale Regierungen ständig einander ablösten. So wurde die zweite Reform Bill unter einem konservativen Kabinett (mit Lord Derby als Premierminister und dem späteren Tory-Premier Disraeli als Schatzkanzler) und die dritte Reform Bill unter einer von Gladstone geführten liberalen Regierung verabschiedet. Auf dem Bildungssektor ist schließlich vor allem die zumindest theoretische Einführung der allgemeinen Schulpflicht (1876) zu nennen. Dennoch haben diese Reformen die politische Polarisierung im spätviktorianischen England nicht verhindern können. Ausdruck dieser Entwicklung, welche den in der frühviktorianischen Zeit noch weitgehend herrschenden gesellschaftlichen Grundkonsens in Frage stellte, war u. a. die Gründung der sozialistischen Fabian Society (1884) sowie der Independent Labour Party (1893) und der Labour Party (1899), wodurch auch das herkömmliche Zweiparteiensystem bedroht wurde. Auch die spätviktorianischen Auseinandersetzungen um die - von Gladstone befürwortete - partielle Autonomie Irlands (Home Rule) sind ein Symptom dieser Polarisierung. Angesichts dieser Spannungen und Gegensätze, die die Zeit Königin Viktorias insgesamt kennzeichnen, aber auch angesichts der starken Veränderungen, welche England in diesen sechseinhalb Jahrzehnten durchlief, ist es mithin problematisch, von einer „viktorianischen Epoche" zu sprechen, es sei 2

S. G. Checkland, The Rise of the Industrial Society in England 1815-1885 (1971 [ 964]). 3 F. Crouzet, L'Economie de la Grande-Bretagne Victorienne (Paris, 1978).

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denn, man charakterisiert diese Epoche durch ihre Oppositionen und Konflikte und sieht überdies ein Kennzeichen dieses Zeitraums darin, daß die Konflikte im Gegensatz zu den Ländern auf dem Kontinent nicht zu Revolutionen und radikalen Veränderungen des politischen Systems führten. Ähnlich problematisch ist der Begriff der „viktorianischen Literatur". Als deren epochentypisches Merkmal wird häufig der Realismus angesehen; und in der Tat lassen sich die meisten großen Erzähler dieses Zeitraums - in einem sehr allgemeinen Sinn - als „Realisten" kennzeichnen. Aber zum einen war auch der Roman des 18. Jahrhunderts bereits „realistisch"; und zum anderen gibt es in der viktorianischen Literatur in noch größerer Zahl als im 18. Jahrhundert bedeutende Erzählwerke, welche diesen epochentypischen Realismus durchbrechen: Emily Brontes Wuthering Heights (1847), Lewis Carrolls Alice in Wonderland (1865), die Romane Robert Louis Stevensons und generell die während der ganzen Epoche mächtige Strömung des Abenteuer- und Sensationsromans. Das Drama dagegen hatte lange Zeit nur in sehr geringem Maße Anteil an den realistischen Tendenzen dieser Zeit. Das volkstümliche Melodrama bediente sich immer wieder derselben realitätsfernen Handlungs- und Figurenmuster, um seine Zuschauer auf problemlose Weise zu unterhalten und zu rühren, während das eher elitäre Lesedrama meist auf historische oder mythologische Stoffe auswich. Auch die Lyrik mied durchweg einen direkten Gegenwartsbezug, bevorzugte Geschichte, Mythos und Kunst als Themen und erhielt ihr Gepräge mindestens ebenso sehr durch den Rückbezug auf romantische Vorbilder wie durch die Zeit, in der sie verfaßt wurde. Darüber hinaus vollzogen sich in der Literatur von den dreißiger Jahren bis zur Jahrhundertwende so entscheidende Wandlungsprozesse, daß es schwer ist, die frühviktorianische und die spätviktorianische Literatur als Phänomene ein und derselben Periode zu sehen.4 Trotz aller Unterschiede und Gegensätze verband die literarischen Werke der frühviktorianischen Zeit die Überzeugung, daß die bestehende gesellschaftliche Ordnung zwar verbesserungsbedürftig, in ihren Grundlagen aber zu bejahen sei. Zu diesem frühviktorianischen Grundkonsens gehört ebenfalls das Axiom, daß Dichtung niemals nur unterhalten dürfe, sondern immer auch belehren und erbauen müsse. Dieser Grundkonsens geht in der spätviktorianischen Zeit weitgehend verloren. Die sozialkritischen Dramen eines G. B. Shaw, aber auch die gegen Ende des Jahrhunderts in großer Zahl entstehenden Utopien gehen, anders als die frühviktorianischen 'industrial novels', nicht mehr von der Auffassung aus, daß die sozialen Mißstände der Zeit durch systemimmanente Reformen behoben werden könnten, sondern stellen die Grundlagen der viktorianischen Gesellschaft radikal in Frage. Die Romane von George Gissing, 4

R. Chapman, The Victorian Debate: English Literature and Society 1832-1901 (1968); P. Brantlinger, The Spirit of Reform: British Literature and Politics 1832-1867 (Cambr., Mass., 1977).

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Siebtes Buch: Die viktorianische Zeit

George Moore und Thomas Hardy verbindet zwar mit den 'industrial novels' ihre gesellschaftskritische Zielsetzung; der Glaube an die Reformfähigkeit und Veränderbarkeit der bestehenden Ordnung ist in ihnen jedoch verlorengegangen. Andere literarische Strömungen geben dagegen mehr und mehr die frühviktorianische Überzeugung auf, daß Dichtung niemals nur ästhetische Normen realisieren dürfe, sondern stets auch moralischen Normen verpflichtet sei. Dies gilt schon in der mittviktorianischen Zeit für die Dichtung der Präraffaeliten, erst recht aber für die Literatur des Fin de siecle5 mit ihrer etwa von Walter Pater oder Oscar Wilde propagierten Auffassung, daß Kunst nur um der Kunst willen da sei. In engem Zusammenhang damit ist auch das in der spätviktorianischen Zeit immer stärkere Hervortreten der 'romance' - der Abenteuer-, Sensations- und Detektivliteratur - zu sehen, die ausschließlich zum Zwecke der Unterhaltung geschrieben und gelesen wurde. Die der viktorianischen Literatur insgesamt eigenen Spannungen und Widersprüche brechen also in der spätviktorianischen Zeit in verstärkter Form auf. Und so stehen in der Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts Pessimismus und Optimismus, Rückwendung zu früheren Zeiten und Fortschrittsglauben, Begeisterung für die imperiale Sendung Englands und Kritik am Imperialismus, Fatalismus und Sozialkritik, formaler Konservativismus und die Tendenz zu Innovation und Experiment unvermittelt nebeneinander. Oft finden sich diese Gegensätze sogar in ein und demselben Werk. So verbindet etwa William Morris' News from Nowhere (1891) utopische Zukunftshoffnung mit nostalgischer Sehnsucht nach dem Mittelalter; Thomas Hardys Jude the Obscure (1896) verknüpft emanzipatorische und sozialkritische Tendenzen mit einem abgrundtiefen Pessimismus und Fatalismus; und Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1891) vermag kaum, den Widerspruch zwischen einem amoralischen Ästhetizismus und einem melodramatischen Moralismus zu lösen. Gemeinsamer Nenner all dieser Gegensätze und Widersprüche ist allenfalls die Negation der bestehenden Ordnung, welche die meisten Autoren der neunziger Jahre - von den Ästhetizisten bis zu den Sozialisten - miteinander verbindet. Parallel zu dieser Verschärfung der Widersprüche entwickelte sich eine Spaltung des literarischen Publikums.6 Die frühviktorianische Zeit war durch ein starkes Anwachsen der Leserschaft, auch im unteren Bürgertum und bei den Industriearbeitern, gekennzeichnet. Dabei war dieses Publikum noch ver5

The Eighteen-Nineties, ed. M. Seeker (1948); Aesthetes and Decadents of the 1890s, ed. K. Beckson (1966); Writing of the 'Nineties from Wilde to Beerbohm, ed. D. Stanford, EL (1971); The Aesthetes, ed. I. Small (1979). - E. Aslin, The Aesthetic Movement (1969); R. V. Johnson, Aestheticism (1969). - Decadence and the 1890s, edd. J. Fletcher et al. (1979); Die 'Nineties, edd. M. Pfister und B. Schulte-Middelich (München, 1983). - Zum 'background' vgl. E. M. Mikhail, The Social and Cultural Setting of the 1890s (1969). 6 R. D. Altick, The English Common Reader: A Social History of the Mass Reading Public 1800-1900 (Chicago, 1957).

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gleichsweise homogen: Die Gedichte von Tennyson und die Romane von Dickens wurden von nahezu allen Bevölkerungsschichten gelesen; und Familienzeitschriften wie Household Words (ab 1850) veröffentlichten nebeneinander anspruchsvollere Romane wie Dickens' Hard Times (1854) oder Elizabeth Gaskeils North and South (1854/5) und anspruchslose Kriminalund Sensationsgeschichten.7 Nur das Drama wandte sich schon früh nicht mehr an ein einheitliches Publikum: Während das in literarischer Hinsicht anspruchsvolle Drama zum theaterfremden Lesedrama degenerierte und sich nur an eine kleine Schicht von Gebildeten wandte, wurde das Theater zum Volkstheater, das mit seinen anspruchslosen Stücken auch die untersten Schichten ansprach. Eine vergleichbare Spaltung vollzog sich dann in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch bei den anderen literarischen Gattungen. Sie kommt am deutlichsten zum Ausdruck auf dem Gebiet des Romans, wo in der spätviktorianischen Zeit anspruchsvolle, innovative und schwierige Romane wie die von Henry James oder Joseph Conrad neben reinen Unterhaltungsromanen wie denen eines Sir Henry Rider Haggard stehen und sich auch an ganz verschiedene Leserschichten wenden - eine Spaltung, die auch heute noch fortdauert. Wegen der andersartigen Verhältnisse ist es schwierig, der viktorianischen Periode in den Vereinigten Staaten einen vergleichbaren Zeitraum zuzuordnen. Wenn wir jedoch die viktorianische Epoche als eine Zeit charakterisieren, welche durch die aus der Industriellen Revolution folgenden politischen und sozialen Konflikte - und durch die Bemühungen um Lösung dieser Konflikte durch Reformen - geprägt war, dann müßte der Beginn einer vergleichbaren Epoche in den USA erheblich später angesetzt werden als in Großbritannien. Dabei liegt es nahe, diesen Zeitraum mit dem Ende des Bürgerkriegs (1865) beginnen zu lassen: Der Sieg des Nordens über die Südstaaten bedeutete nicht nur die Abschaffung der Sklaverei und damit einen ähnlichen Schritt auf dem Wege zur Gleichberechtigung unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen wie die Reform Bills in England, sondern auch den Sieg des hochindustrialisierten Teils der USA über jene Bundesstaaten, in denen die Sklaverei noch eine anderswo längst überholte Wirtschaftsstruktur ermöglichte. Nicht zuletzt hat also der Ausgang des Bürgerkriegs zu jenem ungeheuren wirtschaftlichen Wachstum beigetragen, welches das Großbritanniens in diesem Zeitraum weit übertraf und welches generell das Gesicht der USA in der Zeit von der Mitte bis zur Wende des Jahrhunderts so nachhaltig bestimmte. Wie in England erhielt dieses Wachstum starke Impulse durch die ständig wachsende Zahl von Erfindungen und anderen technischen Neuerungen. Dabei ging die Initiative auf diesem Gebiet in der zweiten Jahrhunderthälfte mehr und mehr von Europa auf Amerika über. So war es der Amerikaner Thomas Alva Edison, der 1877 den Phonographen, 1879 die Kohlefadenlampe und 1889 den Kinetographen erfand. Eine weitere - gerade in Anbe7

Victorian Periodicals: A Guide to Research, edd. J. Don Vann and R. T. Van Arsdel (N. Y, 1978).

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Siebtes Buch: Die viktorianische Zeit

tracht der Weite des Landes unabdingbare - Voraussetzung für die wirtschaftliche Expansion der USA war die Schaffung eines Eisenbahnnetzes. Zwar wurden die ersten Eisenbahnen in Amerika nicht wesentlich später als in Europa gebaut. Während aber in England die Phase des Eisenbahnbaus um 1860 im wesentlichen abgeschlossen war, setzte sich diese Entwicklung in Amerika auch nach 1860 unvermindert fort (erst 1869 erreichte die erste Bahnlinie die Westküste) und dauerte bis um 1890 an. Starke Impulse erhielt die wirtschaftliche Entwicklung in Amerika schließlich auch durch die Erschließung neuer Energiequellen. So wurde 1882 das erste öffentliche Elektrizitätswerk der Welt in New York gebaut; und die Erdölfunde in den Vereinigten Staaten führten 1870 zur Gründung der Standard Oil Company, die zu einem der größten Wirtschaftsunternehmen der Welt werden sollte. Diese und andere Voraussetzungen8 bewirkten einen gigantischen wirtschaftlichen Boom, in dessen Verlauf sich der Anteil der USA an der Industrieproduktion der Welt nahezu verdoppelte (1860: 16%, 1900: 30,1%), während der Anteil Großbritanniens in diesem Zeitraum von 24% auf 19,5% zurückging. Von diesem Wachstum geprägt war aber auch die Entwicklung einzelner Firmen. Auf Kosten kleinerer Unternehmen, die in einem rücksichtslosen Konkurrenzkampf mehr und mehr ausgeschaltet wurden, gewannen einige wenige Firmen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen eine marktbeherrschende Stellung und eine bis dahin nicht gekannte Größe. Diese Tendenz zu großen Monopolen ermöglichte es auch einzelnen Wirtschaftsführern, riesige Vermögen zu erwerben, so etwa Cornelius Vanderbilt (Eisenbahnen), Andrew Carnegie (Stahl), John Pierport Morgan (Banken) und John Rockefeiler (Öl), welche die Entwicklung Amerikas in weit stärkerem Maße bestimmten als die größtenteils unbedeutenden Präsidenten dieses Zeitraums. Die rapide wirtschaftliche Expansion hatte allerdings auch ihre Schattenseiten, und nicht alle Teile und Bevölkerungsschichten der USA profitierten in gleichem Maße von dieser Entwicklung. In den besiegten Südstaaten, die noch lange unter den Folgen des verlorenen Krieges litten und die bis 1878 von Truppen der Nordstaaten besetzt blieben, setzte die Industrialisierung erst spät ein; und sowohl bei den Negern als auch bei den Weißen war in dieser Phase der sog. 'Reconstruction'9 die Armut weitverbreitet. In den Nordstaaten litten insbesondere die Arbeiter unter den periodisch wiederkehrenden konjunkturellen Rückschlägen, welche die hemmungslose wirtschaftliche Expansion im Gefolge hatte. Erst seit den Krisen der 70er Jahre gab es als Reaktion auf diese Schattenseite des Kapitalismus soziale Unruhen, Streiks, die Entstehung von Reformbewegungen und Zusammenschlüsse von Arbeitern, während in England vergleichbare Reaktionen bereits in den 30er und 40er Jahren kulminierten. Hier sind vor allem der große Streik der Eisenbahner im Jahre 1877, die Haymarket Riots in Chicago von 1886 und die Gründung der American Federation of Labor als erster „nationaler" Gewerk8 9

B. A. Weisberger, The New Industrial Society 1848-1900 (N. Y., 1969). K. M. Stampp, The Era of Reconstruction 1865-1877 (N. ., 1966).

Die Literatur und ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund

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schaft zu nennen. Da sich auch die Lage der Farmer in der zweiten Jahrhunderthälfte verschlechtert hatte, kam es auch hier zu ähnlichen Reaktionen. So wurde 1891/2 die Populist Party (auch People's Party) als dritte Partei gegründet, die es sich u. a. zum Ziel gesetzt hatte, die Lage der Farmer durch die Verstaatlichung der Eisenbahnen und die Einführung einer progressiven Einkommensteuer zu verbessern; und großen Widerhall fand in dieser Zeit Henry George, der im Interesse der kleineren Farmer eine Besteuerung des Grundbesitzes und eine durchgreifende Bodenreform forderte (Progress and Poverty, 1879). Wachstum und Expansion sowie die damit verbundenen Probleme kennzeichneten aber nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung Amerikas in der Zeit nach dem Bürgerkrieg. Ebenfalls charakteristisch für diese Zeit ist die Bevölkerungsexplosion, welche durch immer neue Einwanderungswellen mitbedingt wurde und insbesondere zu einem sprunghaften Wachstum der Städte führte. Gleichzeitig mit dieser Urbanisierung verlief die Expansion der USA nach Westen, in deren Verlauf immer weitere 'territories' zu Bundesstaaten wurden; diese Besiedlung des Westens erreichte um 1890 ihren Abschluß, so daß gegen Ende des Jahrhunderts auch die für das Selbstverständnis Amerikas so wichtige 'frontier', d. h. die Zivilisationsgrenze, nicht mehr existierte. Obwohl eigentlich dem antikolonialistischen Geist der Amerikaner widersprechend, überbordete dieser Drang zur Expansion auch bald die eigentlichen Grenzen der USA: 1867 wurde Alaska von den Russen gekauft, 1898 erfolgte die Annexion Hawaiis, und nach dem erfolgreichen Krieg gegen Spanien im gleichen Jahr wurden Cuba, Guam, Puerto Rico und die Philippinen dem amerikanischen Herrschaftsbereich einverleibt. In dieser Zeit erfolgte auch eine Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik: die Umsetzung der neugewonnenen Stellung als Großmacht in eine Politik, die immer mehr die Grenzen des amerikanischen Kontinents überschritt. Theodore Roosevelt, der 1901, das heißt also im Todesjahr Königin Viktorias, zum Präsidenten gewählt wurde, führte diese Außenpolitik mit Entschiedenheit fort. Unter seiner Präsidentschaft wurden die USA endgültig zur Weltmacht; und wenigstens in dieser Hinsicht läßt sich sein Amtsantritt als Beginn einer neuen Epoche ansehen. Wie im viktorianischen England ist auch die amerikanische Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte durch eine farbige Vielfalt gekennzeichnet, die etwa durch den Begriff „Realismus" nur verkürzt beschrieben würde. Immerhin sind vor allem in der erzählenden Literatur - und dazu gehört in den USA schon erheblich früher als in England die Kurzgeschichte als Kunstform - „realistische" Tendenzen nicht zu übersehen.10 Zwar standen große Erzähler wie Cooper, Poe, Hawthorne und Melville noch zu einer Zeit der Romantik nahe, als in England Romanschriftsteller wie Dickens und Thackeray die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart bereits realistisch und kri10

W. Berthoff, The Ferments of Realism: American Literature 1884-1919 (N. 1965).

.,

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tisch schilderten. Aber mit einer gewissen Phasenverschiebung setzten sich ähnliche Tendenzen auch in den USA durch, etwa im gesellschaftskritischen Realismus der Romane eines William Dean Howells, im psychologischen Realismus der Romane und Kurzgeschichten von Henry James oder in den durch den französischen Naturalismus beeinflußten Werken von Stephen Crane, Hamlin Garland und Frank Norris. Damit erfolgt in der amerikanischen Erzählliteratur auch jene kritische Reaktion auf die wirtschaftliche Expansion und ihre sozialen Auswirkungen erheblich später als in England. Wie in England stehen aber auch in den USA in diesem Zeitraum neben „realistischen" Strömungen Tendenzen, die in andere Richtungen weisen. So bilden die vor allem gegen Ende des Jahrhunderts überaus zahlreichen Utopien ein Pendant zu den gesellschaftskritisch-realistischen Erzählungen, indem sie ebenfalls von einer Kritik an einer dem Gesetz des Wachstums verpflichteten kapitalistischen Wirtschaftsform und ihren sozialen Schattenseiten ausgehen, aber zugleich das Bild einer alternativen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entwerfen. Die „regionale" Literatur mit ihrer teils humoristischen (Mark Twain), teils sentimentalen (Bret Harte), teils romantisch-folkloristischen (Joel Chandler Harris, George Washington Cable) Prägung repräsentiert erst recht eine ganz andersartige Strömung. Überdies erfreute sich während des ganzen Zeitraums die 'romance' als nicht-realistische Erzählform großer Beliebtheit und kulminierte gegen Ende des Jahrhunderts in den Romanen von Bestseller-Autoren wie Lewis Wallace. Das Drama schließlich blieb fast völlig frei von den realistischen Tendenzen der Literatur dieser Zeit. Wie in England orientierte sich das Theater am Geschmack breiter Publikumsschichten; die Qualität der Schauspieler war von größerer Bedeutung als die Qualität der Stücke; und bevorzugt wurden Dramatisierungen von historischen Stoffen, Indianergeschichten und OnkelTom-Geschichten. Eine stärkere Literarisierung des Dramas sowie eine stärkere Orientierung an den gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart erfolgte erst wesentlich später als in England, d. h. erst im frühen 20. Jahrhundert. Noch charakteristischer für die Zeit nach dem Bürgerkrieg ist die Ausweitung des Spielraums der amerikanischen Literatur. Die Autoren der voraufgegangenen Epoche stammten durchweg aus Neu-England oder New York (Washington Irving, Longfellow, Hawthorne, Melville, Emerson) oder aus den Südstaaten (Poe). Im Laufe der folgenden Jahrzehnte werden dann Autoren, die wie Henry James oder Oliver Wendeil Holmes aus dem Nordosten oder wie Sidney Lanier oder Joel Chandler Harris aus den Südstaaten stammten, fast zu einer Minderheit. Mehr und mehr traten Schriftsteller hervor, die nicht nur in den neuen Siedlungsgebieten geboren waren, sondern diese Räume auch zum Gegenstand ihrer Dichtung machten: so etwa Indiana in der Lyrik von James Whitcombe Riley, die Mississippi-Landschaft bei Mark Twain oder Kalifornien bei Frank Norris und Bret Harte. Auch Dichter, die aus dem Osten stammten, konnten sich dieser Tendenz zur Thematisierung Amerikas in seiner ganzen Weite nicht entziehen wie z. B. der bei Brooklyn geborene Walt Whitman in seinem Gedicht Pioneers! O Pioneers! So thema-

/. Die nicht-fiktionale Prosa

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tisierte die amerikanische Literatur auch die geographische Expansion des Landes und folgte dabei der ständig vorrückenden 'frontier', bis schließlich, Anfang des 20. Jahrhunderts, Jack London nur noch in Nord-Kanada und Alaska ein Amerika an der 'frontier' zum Thema seiner Erzählungen machen konnte. Neben der Ausdehnung des geographischen Spielraums verzeichnet die amerikanische Literatur dieser Zeit auch eine beträchtliche Ausweitung der Leserschaft. Ähnlich wie in Großbritannien war eine der Ursachen dafür die Verbesserung der allgemeinen Schulbildung. Allerdings war in den USA Literatur keineswegs nur Literatur für Leser. Es gab eine nicht unbedeutende mündlich überlieferte Literatur, etwa in Form der Volksballade oder der 'tall tale'; und manche Autoren verdankten ihre Volkstümlichkeit nicht zuletzt der Tatsache, daß sie in ihren Gedichten und Erzählungen an diese 'populär culture' anknüpften. Darüber hinaus vermehrte sich natürlich auch die Zahl der Leser. Am deutlichsten sichtbar wird diese Expansion der Leserschaft in den wachsenden Auflagen erfolgreicher Romane und Sammlungen von Kurzgeschichten, wie z. B. von Mark Twain und Bret Harte sowie von ausgesprochenen Bestseller-Autoren wie etwa Lewis Wallace oder Francis Marion Crawford. Wie in England konnte übrigens auch die Lyrik in dieser Zeit noch breitere Leserschichten erreichen, so etwa mit den Gedichten von Joaquin Miller und James Whitcomb Riley. Ähnlich wie in England zeichnen sich aber auch in den USA Tendenzen in Richtung auf eine stärker elitäre und experimentelle Literatur ab, für die im Bereich der Lyrik Emily Dickinson und Walt Whitman, im Bereich der erzählenden Literatur Henry James als Beispiele stehen mögen.

I. DIE N I C H T - F I K T I O N A L E PROSA 1 l. Grundzüge der nicht-fiktionalen Prosa im viktorianischen England Am unmittelbarsten fanden die geistigen Auseinandersetzungen der viktorianischen Zeit ihren Ausdruck in Prosaschriften, die nicht zur fiktionalen Li1

Victorian Prose: A Guide to Research, ed. D. J. DeLaura (N. Y., 1973). - English Prose of the Victorian Era, edd. C. F. Harrold and W. D. Templeman (N. Y., 1938); The Pelican Book of English Prose, ed. K. Allott, 5 Bde., PB (Harmondsworth, 1956) [Bd. 5: Victorian Prose 1830-1880, edd. K. and M. Allott]; Prose of the Victorian Period, ed. W. E. Buckler, RE (Boston, 1958); The Victorian Sages: An Anthology of Prose, edd. A. W. Bellringer and C. B. Jones (Lo./Totowa, N. Y., 1975); Victorian Literature: Prose, edd. G. B. Tennyson and D. J. Gray (N. Y., 1976). - G. Hough, The Last Romantics (Lo./N. Y., 1961 [ 949]), auch pb.; J. Holloway, The Victorian Sage: Studies in Argument (1953); R. Chapman, The Victorian Debate: English Literature and Society 1832-1901 (1968). - The Art of Victorian Prose, edd. G. Levine and W. Madden (N. Y., 1968).

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teratur gehören. Charakteristisch für diese Prosa ist vor allem ihr Überzeugungseifer, der sich oft in intensiver Rhetorik niederschlägt, sowie ihre thematische Vielfalt. Erstaunlich ist ebenfalls die Vielseitigkeit der einzelnen Autoren: So reicht etwa die thematische Spannweite der Schriften von Thomas Carlyle von der Kulturkritik über die Geschichtsschreibung bis zur Literaturkritik (und bis zum Roman), während Matthew Arnold, einer der führenden Lyriker der Zeit, sowohl kultur- und literaturkritische als auch theologische und pädagogische Schriften verfaßte. Bemerkenswert ist schließlich auch die außerordentliche Breitenwirkung, die viele dieser Prosaschriftsteller ausübten. So hatten Werke wie Darwins On the Origin of Species, Carlyles Past and Present oder Karl Marx' Das Kapital (1867-94, übers. 1886-1909) einen Einfluß, den kein im engeren Sinne literarisches Werk erreichte. Mitverantwortlich für die Breitenwirkung vieler dieser Autoren war nicht zuletzt die Gründung und weite Verbreitung neuer Zeitschriften wie The Westminster Review, Eraser's Magazine, The Cornhill Magazine, The Saturday Review, MacMillan's Magazine u. a. m., die allerdings auch Romane und Kurzgeschichten abdruckten. Obwohl die überlieferte Religion in immer stärkerem Maße in Frage gestellt wurde, standen die religiösen Veröffentlichungen noch lange Zeit in quantitativer Hinsicht an der Spitze und wurden von dieser Spitzenstellung erst im Jahr 1886 durch den Roman verdrängt. Hohe Auflagen erreichten nach wie vor die Schriften der Anhänger der 'Evangelical' oder der 'Low Church'. In diesen Schriften, die nur selten literarische Bedeutung erreichten, lebte durchweg noch die puritanische Abneigung gegenüber der Kunst weiter. Anders verhielt sich die neu entstehende liberale theologische Richtung, die im Gegensatz zur 'High Church' den Geist Tillotsons, Burnets und der anderen Latitudinarier neu beleben wollte. Zu dieser 'Broad Church' zählten sich wissenschaftlich und literarisch bedeutende Männer wie der Historiker, Literaturwissenschaftler, Moralphilosoph und Theologe JOHN FREDERICK DENISON MAURICE2 (1805-72), der seine religiösen Ansichten vor allem in den Schriften The Religions of the World (1847) und Theological Essays (1853) niederlegte und der mit seinem 'Christian Socialism' Carlyle und Kingsley nahestand. Ebenfalls zur 'Broad Church' zu rechnen ist MARK PATTISON,3 einer der Verfasser der durch ihre Kritik an einem dogmatischen Christentum umstrittenen und einflußreichen Essays and Reviews (1860), der sich auch mit seinen Renaissance-Studien Casaubon (1875) und Milton (1879) als Prosaschriftsteller von Rang auswies. 2

Theological Essays, ed. E. F. Carpenter (N. Y., 1957); The Kingdom of Christ, ed. A. R. Vidler, 2 Bde. (1958); Einzelausg. in EL. - O. J. Brose, F. D. M. (Athens, O., 1971). - H. G. Wood, F. D. M. (Cambr., 1950); A. R. Vidler, F. D. M. and the Company (1966); T. Christensen, The Divine Order: A Study in F. D. M.'s Theology (Leiden, 1973). 3 Essays, ed. H. Nettleship, 2 Bde. (N. Y, 1965 [ 889]); Milton (N. Y., 1968 [ 879]). J. Sparrow, M. P. and the Idea of a University (Cambr., 1967).

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Die nachhaltigste Wirkung ging innerhalb der verschiedenen religiösen Strömungen jedoch von jenen Autoren aus, die der 'High Church' nahestanden. Während die große Masse der Bevölkerung am Anfang des Jahrhunderts der anglikanischen Kirche noch nahezu gleichgültig gegenüberstand, leitete JOHN KEBLEs4 (1792-1866) Oxforder Predigt National Apostasy (1833) eine Erneuerungsbewegung ein, die dann in dem von ihm, Edward Bouverie Pusey (1800-82) und JOHN HENRY NEWMANS (1801-90) geleiteten Oxford Movement' weitergeführt wurde. Diese hochkirchliche Bewegung, die auf die LaudSchule des 17. Jahrhunderts zurückging, setzte es sich zum Ziel, den symbolischen Ritus des Mittelalters wiederzubeleben und den Anglikanismus zu erneuern. In einer großen Zahl von Flugschriften (Tracts for the Times, 1833-41), die meist von Newman verfaßt wurden, wurde neues Interesse für die Kirche geweckt, und trotz anfänglichen Widerspruchs erstarkte diese Richtung so sehr, daß sie unter Puseys Leitung sogar Newmans Übertritt zum Katholizismus überwand. Vom literarischen Gesichtspunkt ist der spätere Kardinal Newman mit seiner rhetorischen, durch lange und kunstvoll gebaute Satzperioden gekennzeichneten Prosa die bedeutendste Erscheinung. Außer den meist kämpferisch gehaltenen und auf starke Wirkung berechneten Flugschriften, die erst später unter Puseys Einfluß gelehrt und langatmig wurden, verfaßte er Abhandlungen, wie z. B. Lectures on the Prophetical Office of the Church (1837) oder die anläßlich der geplanten Gründung einer katholischen Universität in Dublin verfaßte Schrift The Idea of a University (1852), und Predigten, deren großer Eindruck auf die Hörer noch heute fühlbar ist. Seine Gewissenskämpfe, von denen sein Übertritt zur katholischen Kirche begleitet war, liegen in der steiferen Prosa des im gleichen Jahr erschienenen Essay on the Development of Christian Doctrine noch eher verborgen. Anläßlich eines verletzenden Angriffs von Charles Kingsley lieferte er dann jedoch in der Apologia pro vita sua (1864), seinem künstlerisch bedeutendsten Werk, eine unverhüllte Darlegung seiner religiösen Entwicklung und seines religiösen Glaubens. Ebenso charakteristisch für die an Gegensätzen so reiche viktorianische Epoche sind aber philosophische Schriften, in denen eine weltanschauliche Grundlegung abseits vom christlichen Glauben versucht wurde, sowie Schrif4

K.'s Lectures on Poetry 1832-1841, ed. E. K. Francis, 2 Bde. (Oxf., 1912); Einzelausg. in EL, WC. - J. T. Coleridge, A Memoir of the Reverend J. K. (Farnborough, 1969 [ 870]); G. Battiscombe, J. K. (1963). - B. W. Martin, J. K. (1976). 5 Collected Works of J. H. N., 41 Bde. (1908-18); Einzelausg. in EL, WC; The Letters and Diaries of J. H. N., edd. C. S. Dessain et al., 31 Bde. (1961 ff., bisher Bde. 1-4 u. 11-31 erschienen). - M. Trevor, N., 2 Bde. (1962); C. S. Dessain, J. H. N. (Stanford, 1971 [ 966]); E. Garnett, Tormented Angel: A Life of J. H. N. (N. Y., 1966). - C. F. Harrold, J. H. N.: An Expository and Critical Study of His Mind, Thought and Art (1945); E. Sillem, General Introduction to the Study of N.'s Philosophy (Louvain, 1969) [ = The Philosophical Notebook of J. H. N., ed. E. Sillem, Bd. l]; T. Vargish, N. (1970); A. D. Lapati, J. H. N., TEAS (N. Y., 1972); H. L. Weatherby, Cardinal N. in His Age (Nashville, Tenn., 1973); L. H. Yearley, The Ideas of N. (University Park, Pa., 1978).

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ten, die nicht in der religiösen Erneuerung, sondern in der politischen Reform die vordringliche Aufgabe sahen. Beide Zielsetzungen finden sich im Werk JOHN STUART MiLLs6 (1806-73), des bedeutendsten Philosophen der viktorianischen Zeit. In seinem Hauptwerk, A System of Logic (1843), das an den Universitäten Oxford und Cambridge zum obligatorischen Textbuch wurde und das in 50 Jahren 32 Auflagen erlebte, versuchte er, aus der Logik eine praktische Disziplin zum Nutzen der Einzelwissenschaften zu machen, was eine Methodenlehre der Naturwissenschaften ergab. Dann übertrug Mill die hier so erfolgreiche Methode auf seine Gesellschaftslehre (Principles of Political Economy, 1848), die wie sein Erziehungs- und Humanitätsideal in den liberalen Anschauungen des 18. Jahrhunderts wurzelte. Er bejahte die Beibehaltung der auf das Privateigentum gegründeten Gesellschaftsordnung ebenso wie den freien Wettbewerb, in dem der Stärkste siegt. Als Ausgleich gilt ihm dagegen der kooperative Zusammenschluß der Schwächeren und als Voraussetzung für eine Besserung der Lage der Arbeiter eine staatsbürgerliche Erziehung zu wahrhaft sozialer Gesinnung, wobei die sich hier abzeichnenden Ansätze zu einer Art Staatssozialismus nicht zuletzt durch Carlyle beeinflußt sind. Noch konkreter kamen seine Reformvorstellungen in seinen Schriften On Liberty (1859), Considerations on Representative Government (1861) und The Subjection of Women (1869, verf. 1861) zum Ausdruck, in denen er sich für einen individualistischen Freiheitsbegriff, allgemeines Wahlrecht, Gleichberechtigung der Frau und die repräsentative Demokratie einsetzt. Eine seiner besten Prosaschriften ist schließlich auch seine Autobiographie (Autobiography, 1873), in der er seine Jugend, seine weltanschauliche Krise und ihre Überwindung sowie seinen weiteren geistigen Werdegang darstellt. Schon vor Mill hatte sich u. a. Carlyle der Prosa als Werkzeug im Kampf um politische Reformen bedient (s. S. 729 ff.), und nach Mill wurde diese Tradition von William Morris (s. S. 761 ff.) und zahlreichen anderen Autoren fortgesetzt.7 Mills Bemühung um eine an den Naturwissenschaften und nicht an der Religion orientierte Philosophie wurde dagegen u. a. von HERBERT SPENCER8 (1820-1903) in seinem zehnbändigen Hauptwerk A System of Syn6

Collected Works of J. S. M., edd. F. E. L. Priestley et al., 25 Bde. (Toronto, 1963 ff., bisher 16 Bde. erschienen) [enthält auch Briefe]; Einzelausg. und Sammlungen in EL, PB, WC. - M. S. J. Packe, The Life of J. S. M. (1954); R. Borchard, J. S. M. (1957). - M. Cowling, M. and Liberalism (1963); J. B. Ellery, J. S. M., TEAS (N. Y., 1964); F. L. van Holthoon, The Road to Utopia: A Study of J. S. M.'s Social Thought (Assen, 1971); H. J. McCloskey, J. S. M. (1971); P. Schwartz, The New Political Economy of J. S. M. (1972); G. Himmelfarb, On Liberty and Liberalism: The Case of J. S. M. (N. Y., 1974); A. Ryan, J. S. M. (1974); E. August, J. S. M. (N. Y., 1975); R. J. Halliday, J. S. M. (1976). - The Improvement of Mankind: The Social and Political Thought of J. S. M., ed. J. M. Robson (1968). 7 Class and Conflict in Nineteenth-Century England 1815-1850, ed. P. Hollis (1973). «The Works of H. S., 21 Bde. (N. Y., 1966 ['1884-1907]); Einzelausg. in EL, PB; D. Duncan, Life and Letters of H. S. (1908). - H. S. R. Elliot, H. S. (1917). - D. Duncan, An Introduction to the Philosophy of S. (1904); J. D. Y. Peel, H. S. (1971); J. G. Kennedy, H. S., TEAS (Boston, 1978); D. Wiltshire, The Social and Political Thought of H. S. (Oxf., 1978). - H. S., ed. A. Low-Beer (1969).

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thetic Philosophy (1860-96) weitergeführt, in der er das Leben als beständige Anpassung innerer an äußere Beziehungen deutete und die Philosophie mit der Biologie, Psychologie, Soziologie und Ethik zu verbinden suchte. Sowohl Mill als auch Spencer wurden in starkem Maße von den Naturwissenschaften beeinflußt, letzterer insbesondere durch die Evolutionslehre, die der Naturforscher CHARLES DARWIN' (1809-82) in On the Origin of Species (1859) und einer Reihe weiterer Bücher entwickelt hatte. In historischer Methode bewies Darwin, daß die biologischen Arten nicht konstant sind, sondern sich im „Kampf ums Dasein" zu lebensfähigeren und an ihre Umwelt besser angepaßten Formen entwickeln, wobei das „Überleben des Tüchtigsten" von Darwin als Naturgesetz postuliert wird. Die Evolutionslehre, die durch den Naturforscher THOMAS HENRY HUXLEY'° (1825-95) weitergeführt wurde, übte bald auch starken Einfluß auf andere Wissenszweige aus, so etwa im „Sozialdarwinismus" auf die Gesellschaftslehre und bei Samuel Butler (s. S. 811 f.) und anderen Autoren auf die Literatur, während die Theologie der von der Evolutionslehre ausgehenden Provokation lange Zeit ablehnend gegenüberstand. Wohl ebenso typisch für die viktorianische Zeit wie die theologische, philosophische, politische und naturwissenschaftliche Prosa sind jene Schriften, deren Ziel die Kritik der zeitgenössischen Kultur, insbesondere der Literatur und Kunst, ist. Auch die Werke der Historiker gehören in diesen Zusammenhang, solange sie die Geschichtsschreibung nicht in erster Linie als wissenschaftliche Spezialdisziplin, sondern als Mittel der Kulturkritik ansahen und einem literarischen Stilideal folgten. Die wichtigsten Verfasser von Werken über diese Themenbereiche sollen in den folgenden Abschnitten eingehender behandelt werden. Zuvor sei noch auf einige andere thematisch gebundene Gruppen von Prosatexten hingewiesen, die in der viktorianischen Zeit ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle spielten und in denen der literarischen Form meist eine größere Bedeutung als der Verkündung neuer Erkenntnisse zukam. Viele Autoren - so u. a. Mill, Newman, Ruskin, Trollope und Sir Walter Besant (1836-1901; Autobiography, 1902) - verfaßten in dieser Zeit Autobiographien.11 Dabei ist nicht selten - wie etwa im Falle von W. H. Whites 'The Works of C. D., 18 Bde. (N. Y., 1972 [ 896]); Einzelausg. in EL, PB, WC; The Life and Letters of C. D., ed. F. Darwin, 3 Bde. (N. Y., 1969 [ 888]); More Letters of C. D., edd. F. Darwin and A. C. Seward, 2 Bde. (N. Y., 1971 [ 903]); The Collected Papers of C. D., ed. P. H. Barrett, 2 Bde. (Chicago, 1977). - A. Keith, D. Revalued (1955); R. C. Olby, C. D. (1967). - C. D. Darlington, D.'s Place in History (Oxf., 1959); G. Himmelfarb, D. and the Darwinian Revolution (1959); G. Wichler, D. (Oxf., 1961); J. Chancellor, C. D. (N. Y., 1976). - R. B. Freeman, C. D.: A Companion (Folkestone/Hamden, Conn., 1979). 10 Collected Essays, 9 Bde. (N. Y., 1968 [ 893-94]); The Essence of T. H. H., ed. C. Bibby (Lo./N. Y., 1967); L. Huxley, Life and Letters of T. H. H., 2 Bde. (1900). - C. Bibby, Scientist Extraordinary: The Life and Scientific Work of T. H. H, (Oxf./Braunschweig, 1972). - A. Ashforth, T H. H., TEAS ( . ., 1969); J. G. Paradis, T. H. H. (Lo./Lincoln, Nebr., 1978). 11 Approaches to Victorian Autobiography, ed. G. P. Landow (Athens, O., 1979); vgl.

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The Autobiography of Mark Rutherford oder Gissings The Private Papers of Henry Ryecroft (s. S. 808) - die Grenze zum fiktionalen Entwicklungsroman nur schwer zu ziehen. Ebenfalls beliebt war bei vielen Autoren die Gattung des Essays. Die Essays von Schriftstellern wie Matthew Arnold oder Pater gehören zu ihren besten Werken. Einer der führenden Essayisten seiner Zeit war auch WALTER BAGEHOT12 (1826-77) mit seinen Literary Studies bzw. Biographical Studies (gesammelt postum 1879 bzw. 1881), der als einer der selbständigsten und weitsichtigsten Kritiker seiner Epoche bezeichnet werden kann. Ebenfalls politische und literarische Themen behandeln die mehr durch persönlichen Charme als inhaltliches Gewicht bedeutsamen Obiter dicta (1884 und 1887) und andere Bände des liberalen Staatsmannes AUGUSTINE BiRRELL13 (18501933). Schließlich seien noch erwähnt Dr. JOHN BROWN M (1810-82) mit seinen in Rab and his Friends (1859) zusammengefaßten Hundegeschichten; ANDREW LANG IS (1844-1912) mit seinen vielseitigen und anregenden, aber oft durch Mangel an Tiefgründigkeit gekennzeichneten Essays, die in den Sammlungen Lost Leaders (1889), Essays in Little (1891) und Angling Sketches (1891) abgedruckt sind; sowie die Essays des sich ebenfalls an vornehmlich literarisch interessierte Leser wendenden Leslie Stephen (s. S. 743). Gegen Ende des Jahrhunderts tritt allerdings die persönliche Kunstform des Essays zurück gegenüber einer mehr den Inhalt betonenden populärwissenschaftlichen Prosa und gegenüber gelehrten Aufsätzen von Naturwissenschaftlern, Philosophen und Historikern, die, wie die eigentliche Fachliteratur, der Wissenschaftsgeschichte zuzurechnen sind. Als letzte in der viktorianischen Zeit populäre Form nicht-fiktionaler Prosa sei abschließend noch der Reisebericht erwähnt. Zu den bedeutendsten Verfassern solcher Reisebücher gehören Samuel Butler, George Borrow und Robert Louis Stevenson, die an anderer Stelle (s. S. 811 ff.) behandelt werden. Die Tradition der romantisch gefärbten Reiseliteratur mit ihrer Bevorzugung exotischer Reize wurde fortgesetzt durch den Historiker ALEXANDER WILLIAM KiNGLAKE16 (1809-91) mit seinem frischen Orientbuch Eothen (1844), auch A. O. J. Cockshut, Truth to Life: The Art of Biography in the Nineteenth Century (1974). 12 The Collected Works of W. B., ed. N. SUohn-Stevas, 13 Bde. (1965-78); Einzelausg. in EL, WC. - A. Buchan, The Spare Chancellor: The Life of W. B. (1959). - C. H. Sisson, The Case of W. B. (1972); H. R. Sullivan, W. B., TEAS (Boston, 1975). 13 The Collected Essays & Addresses 1880-1920, 3 Bde. (Freeport, N. Y., 1968 [ 922]); Obiter Dicta (Grosse Pointe, Mich., 1969 [ 887]); More Obiter Dicta (Freeport, N. Y., 1969 [ 924]); Things Past Redress (1937) [Autobiographie]. 14 Rab, edd. E. T. Maclaren and A.C. Brown (1908); Einzelausg. in EL, WC; The Letters of Dr. J. B., edd. J. Brown and D. W. Forrest (1907). - J. T. Brown, Dr. J. B.: A Biography and a Criticism (1903). 15 The Poetical Works of A. L, ed. LB. Lang, 4 Bde. (1923); Books and Bookmen (N. Y., 1970 [ 886]); Letters to Dead Authors (1886); Letters on Literature (N. Y., 1968 [ 889]); Adventures Among Books (Freeport, N. Y., 1970 [ 905]). - R. L Green, A. L. (Leicester, 1946). 16 Einzelausg. in EL. - W. Tuckwell, A. W. K.: A Biographical and Literary Study (1902). - N. T. Carrington, K.: Eothen (1939).

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durch SIR RICHARD FRANCIS BURTON" (1821-90), den Übersetzer von Tausendundeine Nacht, mit Personal Narrative of a Pilgrimage to El-Medinah and Meccah (1855-56), durch WILLIAM GIFFORD PALGRAVE18 (1826-88) mit seinem Arabienbuch Narrative of a Year's Journey through Central and Eastern Arabia (1865) und schließlich durch CHARLES MONTAGU DouGHTY19 (1843-1926) mit seinem sprachlichen Meisterwerk Travels in Arabia Deserta (1888). Weniger exotischen als intimen Reiz besitzen dagegen die Sketches in Italy and Greece (1874) des Historikers John Addington Symonds, The Playground of Europe (1871) von Sir Leslie Stephen sowie die italienischen Studien und eindringlichen Reisebilder von VIOLET PAGET20 ('Vernon Lee', 1856-1935), die unter den Titeln Renaissance Fancies and Studies (1895) und Genius Loci (1899) erschienen. Diese Bücher, denen es mehr um eine einfühlende Darstellung des genius loci als um die Gestaltung subjektiver Stimmungen anhand einer fremden Örtlichkeit geht, sind für das Reisebuch des ausgehenden 19. Jahrhunderts besonders charakteristisch.

2. Carlyle und Ruskin Zu den schärfsten Kritikern der Selbstzufriedenheit und des Materialismus der viktorianischen Zeit gehörten Carlyle und Ruskin. THOMAS CARLYLE21 (1795-1881) verknüpfte diese Kulturkritik, die ihn mit Ruskin verband, mit einem leidenschaftlichen Kampf gegen das mechanistische Weltbild der da17

The Memorial Edn. of the Works of Captain R. F. B., edd. I. Burton and L. Smithers, 7 Bde. (1893-94); Personal Narrative of a Pilgrimage to El Medinah and Meccah, 2 Bde. (1964 [ 893]); Einzelausg. in EL. - M. Hastings, Sir R. B. (N. Y., 1978). 18 Narrative of a Year's Journey Through Central and Eastern Arabia, 2 Bde. (Coleshill, 1969 ['1865]). "Travels in Arabia Deserta, ed. T E. Lawrence, 2 Bde. (1921). - D. G. Hogarth, The Life of C. M. D. (1928). - B. Fairley, C. M. D. (1927). 20 A Vernon Lee Anthology, ed. I. C. Willis (1929); Renaissance Fancies and Studies (N. Y., 1977 I11895]); The Handling of Words and Other Studies in Literary Psychology (Lincoln, Nebr., 1969 [ 927]); Vernon Lee's Letters, ed. J. C. Willis (1937). - P. Gunn, Vernon Lee/V. P. 1856-1935 (1964). 21 The Works of T. C., Centenary Edn., ed. H. D. Traill, 30 Bde. (N. Y., 1969 ['1896-99]); Einzelausg. und Sammlungen in EL, ML, PB, WC; The Collected Letters of T. and Jane Welsh C., edd. C. R. Sanders et al., ca. 25 Bde. (Durham, N. C., 1970 ff., bisher 9 Bde. erschienen); Early Letters of T. C. 1814-1826, ed. C. E. Norton, 2 Bde. (1886); Letters of T. C. 1826-1836, ed. C. E. Norton, 2 Bde. (Freeport, N. Y., 1973 [ 888]); New Letters of T C, ed. A. Carlyle, 2 Bde. (N. Y., 1970 [ 904]). - J. A. Freude, T. C. 1795-1835, 2 Bde. (1882); J. A. Freude, T. C. 1834-1881, 2 Bde. (St. Clair Shores, Mich., 1970 [ 884]); D. A. Wilson, Life of T C, 6 Bde. (1923-34); J. Symons, T. C. (1952); I. Campbell, T. C. (1974). - A. Ralli, Guide to C., 2 Bde. (N. Y., 1969 [ 920]); J. Cabau, T. C. ou le Promethee Enchaine (Paris, 1968); A. LaValley, C. and the Idea of the Modern (New Haven, 1968); A. A. Ikeler, Puritan Temper and Transcendental Faith: C.'s Literary Vision (Columbus, O., 1972); P. Rosenberg, The Seventh Hero: T. C. and the Theory of Radical Activism (Cambr., Mass., 1974); W. Warning, T C., TEAS (Boston, 1978).

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maligen Naturwissenschaft. Der überall Offenbarungen Gottes suchende Puritaner konnte mit einer Wissenschaft, die, wie er schrieb, das Universum als „ungeheure Dampfmaschine" wertete, nichts anfangen. An der Universität Edinburgh, deren Empirismus ihn abstieß, fühlte er sich heimatlos, und sein Widerspruch gegen die erstarrten Formen des Christentums führte ihn zur Skepsis. Erst nach einer tiefen weltanschaulichen Krise fand er, angeregt durch Madame de Staels De l'Allemagne, neuen Halt in der deutschen Kultur, insbesondere in der Dichtung Goethes und Schillers und der idealistischen Philosophie Fichtes. Den ersten Beleg für diese Wendung brachte The Life of Schiller (1823/4 in London Magazine), aber die reichste Nahrung auf der Suche nach einem neuen Glaubensbekenntnis - das der Essay Characteristics (1831) am klarsten zusammenfaßte - fand er bei Goethe, dessen Wilhelm Meister er übersetzte (Wilhelm Meistens Apprenticeship, 1824; Wilhelm Meister's Travels, 1827 in German Romance). Die zahlreichen, für die Edinburgh Review geschriebenen Aufsätze über deutsches Dichten und Denken, von denen The Nibelungenlied (1831) und Death of Goethe (1832) besonders hervorzuheben sind, machten Carlyle zum besten Mittler deutscher Kultur in England. Auch sein erstes der fiktionalen Literatur zuzurechnendes Werk Sartor Resartus, das 1833/34 in Fraser's Magazine erschien und in Buchform zuerst in Boston 1836 mit einem Vorwort von Emerson, ist geprägt durch den Einfluß deutscher Kultur. Dieses Werk, teils philosophische Abhandlung, teils Predigt, teils Biographie und teils ein in formaler Hinsicht von Jean Paul und Goethe beeinflußter Entwicklungsroman, enthält in bewußt fragmentarischer Form, in der „Philosophie der Kleider", die Grundzüge der neugewonnenen Weltanschauung Carlyles. Kern dieser Weltsicht ist der vom deutschen Idealismus übernommene Gedanke der ständigen Wandlung des Geistes im Verlauf seiner Geschichte. Die in Kunst, Philosophie und Religion vorgefundenen Objektivierungen sind danach nur zeitbedingte Hüllen, die immer wieder abgeworfen werden und neuen Hüllen Platz machen müssen. Diese weltanschaulichen Überlegungen sind eingelassen in die fiktionale Lebensbeschreibung des Professors Teufelsdröckh, in der Carlyle Teile seiner eigenen Lebensgeschichte verarbeitete. In den Kapiteln The Everlasting No' und The Everlasting Yea' beschreibt Carlyle in der Art eines modernen Bekehrungsberichts den rettenden Schritt von der „mephistophelischen" Philosophie des skeptizistischen Empirismus zur „lebendigen" Philosophie des Idealismus, wobei die Selbsterkenntnis des Ichs als freier, schöpferischer Weltmitte als das entscheidende Bildungserlebnis bezeichnet wird. Ausgehend von der in Sartor Resartus verkündeten Weltanschauung erarbeitete sich Carlyle ein neues, auf Gegenwartsfragen ausgerichtetes Geschichtsbild. Auf der Grundlage dieser Geschichtsauffassung wurde The French Revolution (1837) zu einem lehrhaften Geschichtswerk, dessen These von der Vergeltung der Bedrückung der Armen die Engländer seiner eigenen Zeit vor einer ähnlichen Revolution warnen sollte, und zugleich zu einem halb dichterischen Buch, das eine Reihe von Porträts großer Charaktere (z. B.

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Mirabeau, Lafayette, Danton, Robespierre) und große Szenen (z. B. den Sturm auf die Bastille, den Marsch auf Versailles, den Tod Marats, die Flucht nach Varennes) teils satirisch, teils berichtend darstellt. In der französischen Revolution wie in der Reformation Luthers und in der Revolution Cromwells sah Carlyle Zeitwenden, in denen der in der Geschichte waltende Geist seine Hüllen abwirft. Theoretisch legte Carlyle diese Geschichtsauffassung in seinen Aufsätzen On History (1830) und On History Again (1833) dar. Dort bezeichnete er sein Geschichtsbild als „hyperbolisch", womit das durch die zeitliche Distanz entstehende perspektivische Zusammenlaufen der Geschichte in die Vergangenheit hinein gemeint ist. Das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart steht somit im Mittelpunkt des Geschichtsdenkens Carlyles. Dies gilt auch für das teils geschichtliche, teils sozialkritische, teils prophetische Buch Past and Present (1843), das nicht zuletzt die 'industrial novels' Disraelis, Kingsleys und Mrs. Gaskells stark beeinflußte, sowie für die thematisch verwandten Schriften Chartism (1839) und Latter Day Pamphlets (1850). Mit christlicher Gerechtigkeitsleidenschaft klagt Carlyle darin das Bürgertum seiner Zeit wegen der Notlage der Arbeiter an, die er unter anderem auf den falschen Glauben an unveränderbare wirtschaftliche Gesetze zurückführt. Er verdammt allerdings jede Gewaltanwendung und vermag auch in der Demokratie keinen Ausweg zu sehen. Die soziale Lage könne vielmehr erst dann gebessert werden, wenn sich die Masse einem selbstgewählten Führer unterordne, der sein Amt als gottgewollte Verpflichtung empfinde. Dabei könne das Mittelalter als Vorbild dienen, in dem sogar in der Leibeigenschaft ein menschliches Verhältnis zwischen Herr und Knecht bestanden habe. Vor Carlyles kulturkritischem Blick verbindet sich also die Auffassung von einer besseren Vergangenheit mit der prophetischen Schau eines neuen, natürlichen, sozial gerechten Zeitalters. Auf diesem Wege sollen weitblikkende und tatkräftige Männer, von Carlyle 'heroes' genannt, die Führung übernehmen, und das berühmte Wort 'Work and despair not' soll als Leitspruch dienen. Diese Gedanken fanden ihre abschließende Formulierung in den Vorlesungen On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History (veröff. 1841). Unter scharfer Ablehnung der Nationalökonomie, die er Gewinn- und Verlustphilosophie nannte, und des aufklärerischen Zivilisationsbegriffs Buckles stellte Carlyle in dieser Schrift Geschichte als das Werk großer Persönlichkeiten dar, als ewigen Kampf um die Macht, in dem der Starke, der sich rückhaltlos für sein Werk einsetzt, ein Recht hat zu siegen und zu herrschen. Carlyle ordnete dabei seine „Helden" einer historischen und zugleich wertmäßigen Rangordnung zu, beginnend mit dem mythischen Gott (Odin) und dem einmaligen Propheten (Mahomet) und endend mit den Dichtern (Dante, Shakespeare, Goethe) und den Reformatoren (Luther und John Knox). Er vollendete diese Reihe der „Helden" mit großen Königen und Herrschern wie Cromwell und Napoleon. Obgleich Carlyle den Gedanken des Herrschaftsanspruchs von den großen Persönlichkeiten auch auf Völker und Rassen übertrug, so gilt sein Interesse letztlich vor allem dem großen Einzelnen, so daß er

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die geschichtlichen Massenbewegungen weitgehend ausklammerte. Es war daher nur konsequent, daß Carlyle nun zur Abfassung von Biographien geschichtsprägender Persönlichkeiten überging. Die erste dieser Biographien, Oliver Cromwell's Letters and Speeches (1845), deutete den Bürgerkrieg als einen Abschnitt des Kampfes zwischen lebendigem und erstarrtem Glauben und Cromwell als puritanischen Glaubenshelden und als ausführende Hand Gottes. Wie The French Revolution ist auch dieses Werk einseitig, geprägt durch eine leidenschaftliche Rhetorik und reich an eindrucksvollen Charakterporträts und Szenen. Es hat den englischen Imperialismus von Sir Charles Dilke {Greater Britain, 1868) bis hin zu Rudyard Kipling entscheidend beeinflußt. Weit umfangreicher ist Carlyles The History of Friedrich H. of Prussia, called Frederick the Great (1858-65), das als Geschichtswerk zwar heute überholt ist, damals aber die beste Darstellung der friderizianischen Epoche war. Das Jahrhundert Friedrichs erschien Carlyle darin als unheldische Zeit, überragt von der heroischen Figur des Preußenkönigs als überzeugendstem Beispiel seiner Lehre von der Führerpersönlichkeit. Trotz seiner oft erzwungen wirkenden Heldenverehrung, trotz der den Rahmen der Biographie fast sprengenden zahlreichen Exkurse und trotz seiner Länge liest sich dieses Werk leichter als Carlyles frühere Geschichtswerke. Dies ist nicht zuletzt dem Erzählstil zu danken, der nicht nur den ciceronianischen Perioden der Gibbon-Schule entgegengesetzt ist, sondern auch das exklamatorische Feuerwerk von The French Revolution vermeidet und dessen hervorstechendstes Merkmal die kurzen, atemlosen Sätze sind. Carlyles letzte Werke sind durch wachsende Verbitterung und zunehmenden Konservativismus gekennzeichnet. So ist seine Schrift Shooting Niagara: and After? (1867) ein leidenschaftlicher Angriff auf die Second Reform Bill und jede Ausdehnung des Wahlrechts. Man hat Carlyles Stil kritisiert und insbesondere seine „barbarischen" Neuschöpfungen, seine dem Deutschen nachgebildeten Zusammensetzungen, die Wiederholungen und Überbetonungen, das auch im Druckbild auffällige Hervorheben einzelner Worte und Wendungen sowie die oft ungewöhnliche Wortstellung getadelt. Aber dieser Stil war Carlyles natürliche Sprache, und das hemmungs- und maßlose sprachliche Überfließen entsprach dem Charakter eines Mannes, der nicht rational argumentieren, sondern mitreißen und geistig führen wollte und der nach Goethes Urteil nicht in erster Linie Schriftsteller, sondern eine moralische Kraft war. Das Werk JOHN RuSKiNs 22 (1819-1900) ist dem Carlyles in Thematik und Zielsetzung verwandt, auch wenn bei Ruskin an die Stelle der Geschichtsbe22

The Works of J. R., Library Edn., edd. E. T. Cook and A. Wedderburn, 39 Bde. (Lo./N. Y., 1903-12) [enthält auch Briefe]; Einzelausg. und Sammlungen in EL, ML, WC; The Diaries of J. R., edd. J. Evans and J. H. Whitehouse, 3 Bde. (Oxf., 1956-59). - R. H. Wilenski, J. R. (N. Y., 1967 [ 933]); J. Evans, J. R. (1954); P. Conner, Savage R. (1978). - J. D. Rosenberg, The Darkening Glass: A Portrait of R.'s Genius (N. Y., 1961); J. L. Bradley, An Introduction to R. (Boston, 1971); G. P. Landow, The Aesthetic and Critical Theories of J. R. (Princeton, 1971); P. Jandel, La Pensee Sociale de J. R. (Paris, 1972); J. C. Sherburne, J. R. (Cambr., Mass., 1972); K. O. Garrigan, R.

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trachtung die Kunstkritik tritt. Er begann sein erstes großes Werk Modern Painters (1843-60) als Verteidigung des Malers Turner, den er 1840 kennengelernt hatte. Hier - wie in den Briefen an die Times (1851) zur Verteidigung der Malerei der Präraffaeliten - lief er auf eine geradezu protestantisch eifernde Weise Sturm gegen die künstlerische Unkenntnis und Verständnislosigkeit des Publikums. Da er dies in einem mitreißenden Stil tat, konnte er einer neuen Kunstkritik zum Durchbruch verhelfen, die allerdings im Grunde noch einmal romantische Ideen verkörperte. Maßstab dieser Kunstkritik waren die Naturwahrheit und das Naturgefühl, wobei die ästhetische Erfahrung zur Erkenntnis der in der Natur wirkenden Gesetzmäßigkeit und der Einheit der Natur führen sollte. Diese Grundauffassungen führten bei Ruskin allerdings zu einer rein inhaltlichen Bewertung einzelner Maler; und aufgrund dieser Kriterien wies er Malern wie Fra Angelico den ersten Rang zu, während er einen Dürer auf den dritten Rang verbannte. Auch die frühe Prosa Ruskins, die er 1892 in dem Band The Poetry of Architecture sammelte, vertrat ähnliche Grundansichten und errichtete über der Natur- und Kunstbetrachtung einen gewagten Überbau geistiger, ethischer und theologischer Wertungen. Auf der Grundlage dieser Wertungen, zu denen er auf seinen zahlreichen Italienreisen und bei seinen eingehenden Studien der Baukunst der oberitalienischen Städte gelangte, verfaßte er seine beiden Verteidigungen der Gotik: The Seven Lamps of Architecture (1849) und The Stones of Venice (1851-53). Bereits in dem ersten dieser beiden Werke feierte er das Mittelalter als die große Zeit der Einheit von Glauben, Kunst und Leben, einer Einheit, die sich in jeder gotischen Einzelform widerspiegele. Von hier aus ist es nur ein Schritt zu dem Leitgedanken der Stones of Venice. In dieser Schrift stellte er Staat, Religion und Kunst des geliebten Venedig als einander entsprechende Ausdrucksweisen derselben Kultureinheit dar und setzte den Aufstieg und Niedergang der staatlichen Ordnung in Beziehung zum Aufstieg und Verfall der venezianischen Kunst. Dabei bedeutete ihm die Gotik mehr als architektonische Formensprache; er sah sie vielmehr als den geistigen Ausdruck eines gläubigen Zeitalters, woraus er die Überlegenheit der Gotik gegenüber der als Verfallserscheinung gedeuteten Renaissance folgerte und das Mittelalter auf ähnliche Weise wie Carlyle aufwertete. Seine kulturkritischen Gedankengänge führten Ruskin weg von der Kunstbetrachtung, und er beschäftigte sich unter dem Einfluß Carlyles mehr und mehr mit sozialpolitischen Fragestellungen - eine Wendung, die später auch William Morris vollzog. Seine Vorlesungen Architecture and Painting (1853) und The Political Economy of Art (1857) zeigen schon in der Titelgebung das Vordringen volkswirtschaftlicher Interessen, deren Grundlegung er dann in der Aufsatzsammlung Unto this Last (1862) lieferte. Von Carlyles Past and Present angeregt, aber schärfer, kürzer und schneller in der Sprache, verdamon Architecture (Madison, Wise., 1973); R. Hewison, J. R. (Princeton, 1976); J. Abse, J. R. (1980).

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men diese damals Aufsehen und Widerspruch hervorrufenden vier Aufsätze die ganze auf dem Prinzip des Eigennutzes aufgebaute Wirtschaftsordnung. Ausgehend von dem Gedanken der Stones of Venice, daß die Schönheit alles dessen, was die Menschen schaffen, vom Glück der Schaffenden abhängig sei, verwarf Ruskin in diesen Aufsätzen die moderne Stadt- und Maschinenkultur, erörterte die Möglichkeit einer gesetzlichen Festlegung der Löhne und einer regelmäßigen Beschäftigung, forderte einfachere Vergnügungen statt der Anhäufung von Reichtümern und lehrte, daß alle Bereiche des staatlichen Lebens von der Gerechtigkeit geleitet werden müßten und daß Fortschritt unmöglich sei, solange Selbstsucht die Triebfeder des Handelns ist. Wie mit vielen anderen Ideen steht Ruskin hier in der seit Shaftesburys Lehre von der 'benevolence' wirksamen Tradition, die sich gegen die auf Hobbes zurückgehende Lehre vom Egoismus als der entscheidenden Kraft im sozialen Gefüge richtet. In einer Reihe von Zeitschriftenaufsätzen, die er 1872 in dem Sammelband Munera Pulveris veröffentlichte, entwickelte er einzelne Kapitel seiner neuen, nicht auf Eigennutz aufgebauten Volkswirtschaftslehre. Er lehnte darin den Wettbewerb ab und entwarf einen Plan für die nationale Erziehung und für die Organisation der Arbeit unter der Aufsicht des Staates, rechtfertigte aber zugleich den Reichtum als den Besitz der Würdigen. Ruskin arbeitete diese Gedanken nicht zu einem geschlossenen System der Volkswirtschaft aus, vielmehr bemühte er sich um ihre Verbreitung in gemeinverständlichen Vorlesungen, die immer mehr Wissensgebiete einbezogen. So vereinigte sein Buch Sesame and Lilies (1865) Vorträge über die rechte Art des Lesens und die Auswahl der Lektüre, über die Aufgaben der Frau und der privilegierten Klassen sowie über die Beziehungen von Kunst, Religion und Leben. The Crown of Wild Olive (1866) handelt über Krieg, Englands Zukunft, Arbeit und Handel; und The Ethics of Dust (1866) suchen die Wissenschaft der Kristalle volkstümlich darzubieten, wobei ihm der Kristall als Symbol des Einheitlichen, geschlossen Strukturierten galt. Das Bestreben, dem einfachen Manne verständlich zu sein, ließ ihn schließlich die Form von Briefen an den Arbeiter wählen, zuerst in Time and Tide (1867), worin eine Reform der Wirtschaftsordnung als Voraussetzung für den Bau einer besseren Welt erörtert wird, und später in den 96 in Fors Ciavigera (1871-84) zusammengefaßten Briefen, die eine Reihe verschiedener Themen behandeln, die auf den Grundgedanken des Kampfes gegen Armut und Elend bezogen sind. Schließlich wirkte er durch das praktische Beispiel, gründete die Guild of St. George und opferte einen großen Teil seines Vermögens für soziale Zwecke. Er hinterließ eine unvollendete Autobiographie unter dem Titel Praeterita, an der er in den Jahren 1885-89 geschrieben hatte. Ruskin verbindet mit Carlyle der leidenschaftliche Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und für soziale Reform sowie die Ablehnung einer auf dem Profitstreben aufgebauten Wirtschaftsordnung bei gleichzeitiger Befürwortung der bestehenden Klassengesellschaft. Bei beiden Autoren schlug sich diese Zielsetzung in einer rhetorischen, oft geradezu missionarischen Prosa

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nieder, wobei Ruskin allerdings Carlyle im Glanz und in der Musik des Ausdrucks berragt. Die Breitenwirkung Ruskins kam der Carlyles fast gleich; vor allem hat er die Kunstauffassung von drei Generationen nachhaltig ge-

pr gt.

3. Matthew Arnold und Pater Auch die viktorianische Literaturkritik23 ist in starkem Ma e kulturkritisch orientiert. Dies wird besonders deutlich im Schaffen von MATTHEW ARNOLD24 (1822-88), dem f hrenden Literaturkritiker dieser Epoche. Obwohl nur drei Jahre j nger als Ruskin, trat er wesentlich sp ter mit seinen wichtigsten Prosaschriften hervor: Sein Leben ist in zwei deutlich voneinander getrennte Schaffensphasen gegliedert, deren erste vor allem der Lyrik und deren zweite in erster Linie der Prosa gewidmet war. Die Lyrik Arnolds ist seit seinem ersten Gedichtband ( The Strayed Reveller, and Other Poems, 1849) durch eine Stimmung der Schwermut und Entsagung gekennzeichnet. Als er 1853 Gedichte aus diesem Band und aus seinem zweiten Band Empedocles on Etna, and Other Poems (1852) sowie eine Reihe neuer Gedichte unter dem Titel Poems publizierte, lie er Empedocles on Etna aus: Das Lesedrama ber den Selbstmord des lebensm den Philosophen widersprach zu offensichtlich seiner Forderung, da Dichtung dem 23

English Critical Essays: Nineteenth-Century, ed. E. D. Jones, WC (1916 u. .); Victorians on Literature and Art, ed. R. L. Peters (N. Y., 1961); English Literary Criticism: Romantic and Victorian, edd. D. G. Hoffman and S. Hynes (N. Y., 1966 [Ί963]). - A. H. Warren, Jr., English Poetic Theory 1825-1865 (Princeton, 1966 ['1950]); G. Tillotson, Criticism and the Nineteenth Century (1951); T. Gibbons, Rooms in the Darwin Hotel: Studies in English Literary Criticism and Ideas 18801920 (Nedlands, 1973); P. A. Dale, The Victorian Critic and the Idea of History (Cambr., Mass., 1977); L. H nnighausen, Grundprobleme der englischen Literaturtheorie des neunzehnten Jahrhunderts (Darmstadt, 1977). 24 The Works of M. A., Edn. de luxe, ed. T. B. Smart, 15 Bde. (1903-04) [als Bde. 13-15: eine gek rzte Ausg. der Letters, ed. G. W. E. Russell, 2 Bde. (1895)]; wiss. Ausg.: The Complete Prose Works of Μ. Α., ed. R. H. Super, 11 Bde. (Ann Arbor, 1960-77); The Poetical Works of M. A., edd. C. B. Tinker and H. F. Lowry, OSA (1950 u. .); Poetry and Prose, ed. J. Bryson (1967 [Ί954]), auch pb.; Teilsammlungen in EL [Poems, Essays], AEP, NEL, OSA [Essays], PB, WC [Poems, Essays]; The Note-Books of Μ. Α., edd. H. F. Lowry et al. (1952); Diaries: The Unpublished Items, ed. W. B. Guthrie (Ann Arbor, 1959). - E. K. Chambers, M. A. (N. Y., 1964 [' 1947]); M. Trevor, The A.s (1973). - L. Trilling, M. A. (N. Y./Lo., 1958 [Ί939]); C. B. Tinker and H. F. Lowry, The Poetry of Μ. Α.: A Commentary (1950 [Ί940]); J. D. Jump, M. A. (1965 [Ί955]); W. S. Johnson, The Voices of M. A. (New Haven, 1961); L. Gottfried, M. A. and the Romantics (1963); W. D. Anderson, M. A. and the Classical Tradition (Ann Arbor, 1965); A. D. Culler, Imaginative Reason: The Poetry of M. A. (New Haven, 1966); W. A. Madden, M. A. (Bloomington/Lo., 1967); G. R. Stange, M. A. (Princeton, 1967); F. Neiman, Μ. Α., TEAS (N. Y., 1968); D. Bush, M. A. (1971); A. L. Rowse, M. A. (1976); J. Palmer, M. A. (1979). - M. A., ed. D. J. DeLaura, TCV (Englewood Cliffs, N. J., 1973); Μ. Α., ed. K. Allott (Lo., 1975/Athens, O., 1976).

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Leser Stärkung und Hilfe geben müsse. Trotzdem konnte er diese Forderung in seiner Dichtung nur selten verwirklichen, und seine Suche nach einem festen Halt und einer klaren Norm ist allenfalls in der Form seiner Gedichte zu einem Ziel gekommen. Dem entspricht seine Vorliebe für traditionelle Formen - so wählte er in dem Gedicht Shakespeare (1849), in dem sich die Ehrfurcht vor dem Genius mit der Resignation des Spätgeborenen mischt, die Form des Sonetts; in Sohrab and Rustum (1853) die der Homer und Vergil nachempfundenen heroischen Episode und in The Scholar-Gipsy (1853) sowie in Thyrsis (in New Poems, 1867), einer Elegie auf den Tod seines Dichterfreundes Arthur Hugh Clough (s. S. 758), die Form der Pastoraldichtung. Immer wieder suchte er in seinen Gedichten die beruhigende Wirkung der Natur, die Erlösung von der Melancholie durch die Natur, die Natur als Gegenbild zur Unrast und Sinnlosigkeit des Lebens (siehe besonders Dover Beach, 1867). Aber im Gegensatz zu dem von ihm verehrten Wordsworth gelangte er nicht zu einer mehr als nur verstandesmäßigen Identifizierung mit der Natur. Als Ersatz blieb ihm die formale Vollendung, die selbst Gedichten über ein verfehltes Thema, wie etwa Tristram and Iseult (1852), einen gewissen dichterischen Rang verleiht. Und so erkannte Arnold bald auch selbst, daß er in seiner Lyrik seine Forderung, daß Dichtung 'a forgetfulness of evils', 'happiness' und 'joy' vermitteln solle, nicht erfüllen könne. Daher gab er 1867 sein lyrisches Schaffen auf, verwarf seine eigene Dichtung und wandte sich der Prosa zu, um durch sie die Voraussetzungen für eine neue Dichtung zu schaffen. Diese Gedanken deuteten sich bereits in seiner Vorrede zu den Poems von 1853 an und wurden dann'in den seinen Ruf als Prosaschriftsteller begründenden Essays in Criticism (1865) weiter ausgeführt. Hier erläuterte er seine viel zitierte und heftig umstrittene Äußerung, daß Dichtung 'a criticism of life' sei: Dichtung solle dem Leben dienen, es deuten und so Trost und Kraft geben. In der Dichtung werde der Abgrund zwischen dem modernen Menschen und der Natur überbrückt, und daher komme der Dichtung der höchste Rang unter den menschlichen Geistestätigkeiten zu. Arnold glaubte sogar, daß eine so verstandene Dichtung in der Zukunft weitgehend die Stelle der Religion und der Philosophie einnehmen werde. Als Vorbild dienten ihm dabei nicht wie den meisten viktorianischen Lyrikern die romantischen Dichter, sondern vor allem Homer und die Griechen, ferner Dante und Milton. Dichter, die diesem hohen Kunstideal - das von der Dichtung Größe des Themas, klassische Form und 'high seriousness' verlangte - nicht entsprachen, wurden von Arnold abgewertet, so etwa Chaucer, die Metaphysicals, Dryden und Pope. Aber auch die zeitgenössischen Dichter konnten Arnolds Maßstäben nicht genügen, und daher verlagerte er die Führerrolle von der Dichtung auf die Kritik, welcher er die Aufgabe zuwies, die beste Dichtung der Welt den Lesern nahezubringen und auf diese Weise neuer großer Dichtung den Weg zu bereiten. Dies ist bereits das Ziel seiner Vorlesungen On the Study of Celtic Literature (1867) und dann noch entschiedener in den im Unterschied zur ersten Serie durchaus wegbereitenden Essays in Criticism: Second Series (1888).

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Die neue Dichtung, wie sie Arnold forderte, setzte aber auch einen neuen Menschen voraus. Diese Voraussetzung war für Arnold in seiner Zeit in keiner Weise verwirklicht. In der anwachsenden, verbitterten Masse der Arbeiter konnte er kein Verständnis für sein Dichtungsideal erhoffen; und auch der Mittelstand, dem er eigentlich eine Führungsrolle zugedacht hatte, erfüllte diese Aufgabe nicht, weshalb er von Arnold in Culture and Anarchy (1869) sowie in den kulturkritischen Essays in Friendship's Garland (1871) heftig angegriffen wurde. Daher sah Arnold, der in seinem Leben lange Zeit pädagogisch tätig war (seit 1851 als Schulinspektor, seit 1857 außerdem als Professor of Poetry in Oxford) auch seine Aufgabe als Schriftsteller in immer stärkerem Maße als eine pädagogische an. Sein erstes Ziel war die Bildung einer kleinen Elite von Kulturträgern, die dann ihrerseits die Masse erziehen sollten, und er stellte die Erziehung und Bildung des Mittelstandes als Aufgabe des Staates hin (vgl. The Popular Education of France, 1861; Schools and Universities on the Continent, 1868; Letters on Compulsory Education in Friendship's Garland, 1871). Gegen Ende seines Lebens verlagerte Arnold nochmals den thematischen Akzent seiner Prosaschriften, indem er nun die Kultur in den Dienst der Religion stellte (vgl. St. Paul and Protestantism, 1870; Literature and Dogma, 1873; God and the Bible, 1875; Last Essays on Church and Religion, 1877). Allerdings verstand Arnold unter Religion nicht das Glaubensbekenntnis dieser oder jener Kirche, sondern faßte Religion rein diesseitig als Sittlichkeit und verlangte, daß die Bibel als Literatur und nicht als Sammlung von Dogmen gelesen werden müsse. Aus Arnolds Prosaschriften spricht wie aus seiner Lyrik die ständige - und vergebliche - Suche nach einem festen weltanschaulichen Halt; und sie spiegeln auch in ihrem Stil die Zwiespältigkeit der viktorianischen Zwischenlösungen. Obwohl er ebenso wie Carlyle und Ruskin überzeugen und erziehen wollte, ist sein Ton doch zurückhaltender und gedämpfter. Trotzdem war sein Einfluß auf seine Zeit kaum geringer als der Carlyles und Ruskins, und in ihrer Form und ihrer Zielsetzung wurden seine Essays für die englische Literaturkritik lange Zeit wegweisend. Im Gegensatz zu Carlyle, Ruskin und Matthew Arnold versuchte WALTER HORATIO PATER" (1839-94) in seiner Kritik nicht mehr, ästhetische Betrachtung und moralische Zielsetzung miteinander zu verbinden. Er wollte vielmehr in seiner ästhetischen Kritik keinen anderen Maßstab gelten lassen als die künstlerische Erlebnisfähigkeit (vgl. die 1889 unter dem Titel Appreci25

Works of W. R, New Library Edn., ed. C. L. Shadwell, 10 Bde. (Oxf./N. Y., 1971 [ 910]); Selected Works, ed. R. Aldington (1948); Einzelausg. in EL, EUL. - Letters of W. P., ed. L. Evans (1970). - G. d'Hangest, W. P.: L'Homme et l'oeuvre, 2 Bde. (Paris, 1961); M. Levey, The Case of W. P. (N. Y., 1978). - A. Symons, A Study of W. P. (1932); R. C. Child, The Aesthetic of W. P. (N. Y., 1969 [ 940]); D. Cecil, W. P. (1955); W. Iser, W. P. (Tübingen, 1960); G. McKenzie, The Literary Character of W. P. (Berkeley, 1967); R. Crinkley, W. P. (Lexington, Ken., 1970); G. C. Monsman, W. P., TEAS (Lo./Boston, 1977).

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ations gesammelten Essays über englische Dichter mit dem grundlegenden Einführungsessay Style, 1888), und er sah im Erlebnis des Schönen das einzig Sinngebende in einer sinnlos gewordenen Welt. Indem er in seinen Essays alle Gegenstände auf impressionistische Weise in die flimmernde Beweglichkeit der durch sie hervorgerufenen Eindrücke auflöste und indem er forderte, durch eindringliche Betrachtung nur die erlesenste Schönheit zu genießen, erneuerte er in verfeinerter Form die romantische Kritik einfühlenden Verstehens. Allerdings blieb er nicht bei einem bloßen Kult der Sinnlichkeit stehen, sondern suchte, aus einer sinnlichen Liebe für das Unsichtbare, wie er sie Plato zuschrieb (vgl. seine Vorlesungen Plato and Platonism, 1893), hinter den Kunstwerken stets die durch sie verkörperten Ideen. Eine besondere Vorliebe hatte er in seiner Kritik für Zeiten, die durch dualistische Gegensätze geprägt waren. So schilderte er in seinem Buch Studies in the History of the Renaissance (1873), das sein berühmtestes geblieben ist, die Kunstwerke nicht so sehr nach ihrer Formgestaltung, sondern vor allem als Ausdruck einer bestimmten geistigen Kultur und zeichnete in zahlreichen Charakterporträts das ihn fesselnde gegensätzliche Nebeneinander von Denker und Sinnenmensch. Charakteristisch ist dabei für ihn die Aufwertung der Renaissance: Während Carlyle, Ruskin und Morris das Mittelalter aufwerteten und während insbesondere Ruskin die Renaissance als eine Zeit des Verfalls sah, in der der Glaube und die geistige Einheit des Mittelalters verloren gingen, sah Pater in der Renaissance eine Epoche, die ihm durch ihren Kult des Schönen kongenial war. Eine ähnliche Vorliebe für dualistische Gegensätze spricht aus seinen Greek Studies (postum gesammelt 1895), in denen ihn vor allem die Opposition zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen in der griechischen Kultur interessierte. Aus diesem Grunde beschäftigte er sich in besonderem Maße auch mit Zeiten des Übergangs. So wählte er in seinem philosophisch-historischen Roman Marius the Epicurean (1885) (s. S. 808) die Zeit des aufkommenden Christentums, um in den Eindrücken des schattenhaft bleibenden und die Autonomie der ästhetischen Existenz im Grunde nie verlassenden Helden den Gegensatz zwischen römischer Religion und Christentum, zwischen einer sterbenden und einer werdenden Kultur zu gestalten. Auch sein zweiter, unvollendeter Roman Gaston de Latour (1888) hat ein ähnliches Thema: Im Frankreich Karls IX. kämpfen Katholizismus, Humanismus und philosophische Skepsis um den jungen Gaston. Bemerkenswert in diesem Roman ist nicht zuletzt das Porträt Montaignes. Auch in seinen anderen Werken zeigt sich immer wieder Paters Tendenz, geistige Bewegungen durch einen sie verkörpernden Menschen zu vergegenwärtigen, so etwa in seinem später den Studies in the History of the Renaissance eingefügten Essay Winckelmann (1867) oder in seinem Essay Dante Gabriel Rossetti (1883). Die gleiche Neigung äußert sich in seinen Imaginary Portraits (gesammelt 1887), denen auch die getrennt veröffentlichte Schrift The Child in the House (1878) zuzurechnen ist. Auch die Porträts historischer Persönlichkeiten in diesem Band sind zwar mehr durch das freie Spiel dich-

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terischer Phantasie als durch das Streben nach historischer Wahrheit gekennzeichnet; trotzdem erreicht Pater etwa in den Porträts des Malers Watteau (A Prince of Court Painters, 1885) oder des Spinoza-Jüngers Sebastian van Storck (1886) eine unvergleichliche Vergegenwärtigung der Stimmung vergangener Zeiten. Paters Eindringlichkeit beruht nicht zuletzt auf der Sprache und dem Stil. Er verschmähte alle laute Rhetorik, und sein Stil bleibt stets einfach und verhalten; aber durch sein unermüdliches Suchen nach dem „einzigen Wort" erhielt seine Prosa eine Vollendung und Endgültigkeit, die auch den Leser anspricht, der sich mit den Wertmaßstäben von Paters Literaturkritik nicht zu identifizieren vermag. Pater erreichte bei weitem nicht die gleiche Breitenwirkung wie Carlyle, Ruskin und Arnold. Allerdings wollte er mit seinen Schriften auch nur eine Elite ästhetisch besonders kultivierter Leser ansprechen. Groß war seine Wirkung allerdings auf den Ästhetizismus des Fin de siecle; und Oscar Wilde las schon als Student Paters Studies in the History of the Renaissance, deren ästhetische Lebensanschauung er dann bald zu einem Kult der Sinnlichkeit vergröberte.

4. Die viktorianische Geschichtsschreibung26 Die englische Geschichtsschreibung, die in Gibbon einen Meister von europäischer Bedeutung hatte, verlor in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ihren universalen Anspruch. Während Deutschland in dieser Zeit eine große Zahl von auch literarisch bedeutenden Historikern aufzuweisen hatte, sind die englischen Geschichtsschreiber dieses Zeitraums durchweg nur als Fachwissenschaftler erwähnenswert. Der einzige Historiker, der die Gibbon-Tradition fortsetzte, war HENRY HALLAM27 (1777-1859). Sein View of the State of Europe During the Middle Ages (1818) ist eine Folge von neun in sich abgeschlossenen Längsschnitten, die unter weitgehendem Verzicht auf Einzelheiten die großen Linien der Geschichte Frankreichs, Italiens, Deutschlands, Spaniens und der griechischsarazenischen Reiche aufzeichnen. Noch eindrucksvoller sind die darauf folgenden vier Übersichten über das Feudalsystem, die aufsteigende kirchliche Macht, die englische Verfassung und die gesellschaftliche Situation des Mittelalters. Auch Hallams zweites, bescheiden Introduction to the Literature of Europe in the Fifteenth, Sixteenth and Seventeenth Centuries (1837-39) betiteltes Werk überschreitet die Grenzen der Nationalgeschichte. Hier setzte sich Hallam die Aufgabe, die kulturelle Entwicklung des europäischen We26

K. Dockhorn, Der deutsche Historismus in England. Ein Beitrag zur Englischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts (Göttingen/Baltimore, 1950). - Some Modern Historians of Britain, ed. H. Ausubel et al. (N. Y., 1951). 27 H.'s Works, 10 Bde. (N. Y./Boston, 1863); The Letters of A. H. H., ed. J. Kolb (Columbus, O., 1979).

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stens während dreier entscheidender Jahrhunderte zusammenfassend zu schildern. Niemand vor ihm hatte die europäischen Literaturen so umfassend dargestellt und so überzeugend in die Entwicklung des europäischen Denkens in dieser Zeit eingeordnet. Hallams klarer, von Gibbons gefährlichem Vorbild verhältnismäßig unabhängiger Geschichtsschreibung kommt also für das frühe 19. Jahrhundert bahnbrechende Bedeutung zu. Wirklich literarischen Rang erreichte die englische Historiographie jedoch erst wieder mit Carlyle (s. S. 729 ff.) und seinem Antipoden THOMAS BABINGTON MACAULAY28 (1800-59). Während Carlyles historische Werke wenigstens zunächst im Widerspruch zu der Geschichtsauffassung seiner Zeitgenossen standen, befand sich Macaulay mehr im Einklang mit seiner Generation. Dazu trug auch die Tatsache bei, daß er nicht wie Carlyle im Mittelalter sein Ideal sah, sondern in der Liberalität und Humanität des 18. Jahrhunderts wurzelte. Seine Essays, die er zumeist als Buchbesprechungen für die Edinburgh Review und in deren herkömmlich scharfem Ton schrieb, erstreben einen allgemeinen Überblick über ihren Gegenstand. In den 1843 gesammelt veröffentlichten Essays gelang ihm dies am besten in seinen Essays über Chatham, Clive und Temple, während er sich in anderen Beiträgen in einer beredten Darstellung seiner whiggistischen politischen Überzeugung erschöpfte (wie in den Essays über Hallam und Mackintosh) und gelegentlich zu Fehlurteilen gelangte (wie in den Essays über Bacon und Hastings). Auch seine literaturhistorischen Arbeiten sind unterschiedlich zu bewerten: Während manchen dieser Schriften ein bleibender Wert zugesprochen werden kann, wie etwa der Biographie Addisons, konnte seine von puritanischen Moralvorstellungen geprägte Kritik an der Restaurationskomödie (The Comic Dramatists of the Restoration, 1841) von späteren Zeiten nicht mehr nachvollzogen werden. Auch sein Milton-Essay zeigt klar die Grenzen seines Literaturverständnisses. Mit seinem Hauptwerk, History of England from the Accession of James II (1849-61), wandte sich Macaulay dann der politischen Geschichte zu. In diesem historischen Werk, das mit dem Tode seines eigentlichen Helden William III abbricht, versuchte er, ein vollständiges Zeitbild zu geben, das die farbig-romanhafte Darstellung Scotts mit der philosophischen Haltung eines Hume verbinden sollte, und zwar auf der Grundlage der protestantisch-liberalen Geschichtsauffassung der Whigs. Man hat die Unzuverlässigkeit vieler Einzelheiten getadelt, denn Macaulay waren die politischen Grundli28

The Works of Lord M., ed. T. F. Henderson, 9 Bde. (1905-07); The History of England from the Accession of James the Second, ed. C. H. Firth, 6 Bde. ( . .; repr., . J. ['1913-15]);Teilausg. in EL [verschiedene Werke], PB, WC [u. a. History of England]; wiss. Ausg.: The Letters of T. B. M., ed. T. Pinney (Lo./Cambr., 1974 ff., bisher 4 Bde. erschienen). - G. O. Trevelyan, The Life and Letters of Lord M. (1959 [ 876]), auch in WC; J. Clive, M. (Lo./N. Y., 1973). - C. H. Firth, A Commentary on M.'s History of England, ed. G. Davies (1964 [ 938]); G. R. Potter, M. (1959); J. Millgate, M. (1973); J. Hamburger, M. and the Whig Tradition (Chicago, 1976); M. L. Cruikshank, T. B. M., TEAS (Boston, 1978); A. Bryant, M. (N. Y., 1979).

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nien und die architektonische Einheit des Ganzen wichtiger als die Faktentreue im Detail. Gerade dadurch aber gewinnt seine Schrift literarische Qualitäten, die an Gibbon erinnern. Vorbildlich ist die Verteilung der vorwärtsschreitenden, erzählenden Teile und der philosophisch wertenden Partien, der fesselnden rhetorisch aufgebauten Charakterbilder und der Naturschilderungen; und Szenen wie die Darstellung der Schlacht von Glencoe, des Todes von Charles II und die letzte Studie über William und Mary bleiben unvergeßlich. In seiner Zeit hat Macaulay zunächst mehr Anerkennung gefunden als Carlyle, weil er den Grundauffassungen seiner Zeitgenossen weniger widersprach und einen einfacheren, glatteren Stil schrieb. Heute wirkt seine Rhetorik jedoch oft mechanisch und äußerlich, und er hat daher dem Prüfstein der Zeit weniger als Carlyle widerstanden. Die übrigen viktorianischen Historiker können zumindest in einer Literaturgeschichte nur mit geraumem Abstand hinter Carlyle und Macaulay plaziert werden. Eine kurze Erwähnung verdienen gleichwohl einige Geschichtsschreiber, deren Werke auch durch ihren Stil bedeutsam sind und die versuchten, ihren historischen Stoff einem zentralen Leitgedanken unterzuordnen. Der erste ist JAMES ANTHONY FROUDE29 (1818-94), der die Geschichte weniger als Wissenschaft denn als Kunst sah. Seine weitschweifige History of England from the Fall of Wolsey to the Death of Elizabeth (1856-70) ist eine der whiggistischen Geschichtsauffassung verpflichtete Rechtfertigungsschrift, die beweisen will, daß der Protestantismus England und die Gedankenfreiheit rettete. Wie dieses Werk wird auch sein Buch Oceana, or England and her Colonies (1886) durch Ungenauigkeiten und durch patriotische Ausbrüche in seinem Wert als Geschichtswerk beeinträchtigt. Dieser Einseitigkeit versuchten die Historiker Lecky und Buckle entgegenzuwirken, obwohl sie in ihrer Geschichtsauffassung der Froudes nahestanden. HENRY THOMAS BucKLE30 (1821-62) ist vor allem deshalb erwähnenswert, weil er in seiner unvollendeten History of Civilization in England (1857-61) unter dem Einfluß Mills und Comtes die Naturgesetze auf die Geschichtsschreibung zu übertragen und die fortschrittliche Entwicklung der Menschheit nachzuweisen suchte. Auch WILLIAM EDWARD HARTPOLE LECKYSI (1838-1903), der sich sowohl auf dem Gebiet der Philosophiegeschichte (History of the Rise and Influence of 29

History of England from the Fall of Wolsey to the Defeat of the Spanish Armada, 12 Bde. ( . ., 1969), auch in EL. - W. H. Dünn, J. A. F.: A Biography, 2 Bde. (Oxf., 1961-63). 30 History of the Civilisation in England, 3 Bde. (N. ., 1903-04), auch in WC. - A. H. Huth, The Life and Writings of H. T. B., 2 Bde. (Lo./N. Y., 1880); G. S. Aubyn, A Victorian Eminence: The Life and Works of H. T. B. (1958). 31 History of the Rise and Influence of the Spirit of Rationalism in Europe, ed. C. W. Mills (N. Y., 1955); A History of England in the Eighteenth Century, 12 Bde. (N. Y.; repr., o. J. ['1892-93]) [enthält auch A History of Ireland in the Eighteenth Century, 5 Bde.; deren Kurzfassung: ed. L. P. Curtis (Chicago, 1972)]; Historical and Political Essays (Freeport, N. Y.; repr., o. J. [ 908]). - J. J. Auchmuty, L.: A Biographical and Critical Study (Dublin/Lo., 1945).

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the Spirit of Rationalism in Europe, 1865) als auch der politischen Geschichte (A History of England in the Eighteenth Century, 1878-90) betätigte, bemühte sich in seiner Geschichtsschreibung darum, wenn auch in vorsichtigerer Weise als Buckle, eine gesetzmäßige Entwicklung der Zivilisation als Leitgedanken herauszustellen (am überzeugendsten in dem Vortrag The Political Value of History, 1892). Unter dem Einfluß der deutschen Quellenkritik, insbesondere Niebuhrs, sowie Leopold von Rankes setzte sich auch in England bald immer mehr eine Auffassung von der Geschichtsschreibung durch, der es mehr um Wissenschaftlichkeit als um künstlerischen Glanz ging. Allerdings setzte sich diese neue Auffassung in England erheblich später als in Deutschland durch - so wie in England die neuere Geschichtswissenschaft wesentlich später und gegen weit größere Widerstände institutionalisiert wurde. Das neue Streben nach Wissenschaftlichkeit spricht ebenso deutlich aus der umfassenden Constitutional History of England (1874-78) von WILLIAM SiUBBS32 (1825-1901) wie aus der großen und grundlegenden History of England 1603-1656 (1863-1901) von SAMUEL RAWSON GARDINER33 (1829-1902). So wie Gardiner sich in diesem Werk und auch in seinen späteren Arbeiten über den Bürgerkrieg und die Republik auf eine Epoche beschränkte, so ist auch die History of the Norman Conquest of England (1867-79) von EDWARD AUGUSTUS FREEMAN34 (1823-92) durch thematische Beschränkung und breite, übergenaue Darstellung gekennzeichnet. Die Eigenart dieser Werke ließ allmählich den Wunsch nach einer kurzen und volkstümlicheren Überschau entstehen; und diese Erwartung befriedigte bald mit großem Erfolg JOHN RICHARD GREEN35 (1837-83) in seiner Short History of the English People (1874, erweiterte Fassung unter dem Titel History of the English People, 1877-80), die im Gegensatz zu den zuletzt genannten Arbeiten auch die geistigen Strömungen und die Literatur stärker berücksichtigte. Dieses kulturgeschichtliche Interesse prägte auch die Werke einiger weiterer Historiker der spätviktorianischen Zeit. Hier ist etwa JOHN ROBERT SEELEY36 (1834-95) zu nennen, der mit seinen vom Geist des englischen Imperialismus geprägten Werken The Expansion of England (1883) und The Growth of British Policy (1895) eine neue Schule begründete, der aber mit The Life and Times of Stein (1878) auch ein kulturgeschichtliches Werk schrieb. Noch stärker und fast einseitig verlegte JOHN ADDINGTON SYMONDS37 32

Constitutional History of England in Its Origin and Development, 3 Bde. (1967 [ 897]). 33 History of England 1603-1656, 18 Bde. (N. Y.; repr, o. J. [ 884]). 34 The History of the Norman Conquest of England, 5 Bde. (N. Y.; repr., o. J. [M897]). W. R. W. Stephens, The Life and Letters of E. A. F., 2 Bde. (1895). 35 A Short History of the English People, ed. A. S. Green (1921), auch in EL; History of the English People, 10 Bde. (N. Y, 1910). 36 The Expansion of England, ed. J. Gross (Chicago, 1973); The Growth of British Policy, 2 Bde. (St. Clair Shores, Mich., 1972); The Life and Times of Stein, 3 Bde. ( . ., 1970); Ecce homo in EL. - A. Rein, Sir J. R. S. (Langensalza, 1912). 37 Renaissance in Italy, 2 Bde. ( . ., 1964); wiss. Ausg.: The Letters of J. A. S., edd.

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(1840-93) in seinem Geschichtswerk Renaissance in Italy (1875-86) den Nachdruck auf die Geschichte von Wissenschaft und Kunst. Sir LESLIE STEPHEN38 (1832-1904) schließlich schloß in seiner History of English Thought in the Eighteenth Century (1876) schon im Titel die politische Geschichte aus und lieferte in seinem noch heute lesenswerten Buch English Literature and Society in the Eighteenth Century (1904) eine der ersten literatursoziologischen Darstellungen einer Epoche aus der englischen Literaturgeschichte. Seine übrigen Arbeiten gehören allerdings ganz in den Bereich der Literaturkritik und Essayistik, so etwa seine unter dem Titel Hours in a Library (1874-79) gesammelten kritischen Studien sowie seine biographisch-kritischen Darstellungen von Hobbes, Pope, Swift, Dr. Johnson und George Eliot. Ein Autor, der wie Stephen zugleich Historiker, Literaturhistoriker und Literat war, bildete jedoch um die Jahrhundertwende bereits eine Ausnahme; und die Tendenz zur Historiographie als einer Spezialdisziplin mit einer Methode und Sprache eigener Art hatte sich um diese Zeit endgültig durchgesetzt.

5. Die nicht-fiktionale Prosa in den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Auch nach der Jahrhundertmitte waren die führenden amerikanischen Prosaschriftsteller bemüht, eine eigenständige amerikanische Prosa zu entwikkeln, in der spezifisch amerikanische Gegenstände behandelt wurden. Diese Prosa, unter deren Verfassern zunächst immer noch die in Neu-England gebürtigen oder lebenden Autoren dominierten, konnte im Laufe der Zeit ein immer größeres Publikum ansprechen; und zu ihrer Verbreitung trugen nicht zuletzt mehrere neugegründete und erfolgreiche Zeitschriften wie das Harper's Monthly Magazine (seit 1850) und das Atlantic Monthly (seit 1857) bei. Die große Wirkung, die die Prosa der Transzendentalisten auch in Europa erreichte, blieb allerdings der Mehrzahl der vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts tätigen Autoren versagt. Am ehesten eine über Amerika hinausgehende Bedeutung kommt in diesem Zeitraum den Bemühungen um die Begründung einer eigenständigen, wissenschaftlichen amerikanischen Philosophie zu. Hier sind vor allem Peirce und William James zu nennen, die im Gegensatz zur pantheistischen und idealistischen Philosophie Emersons und Thoreaus den amerikanischen Pragmatismus begründeten. Vater dieser neuen wissenschaftlichen PhilosoH. M. Schueller and R. L. Peters, 3 Bde. (Detroit, 1967-69). - V. W. Brooks, J. A. S. (St. Clair Shores, Mich., 1970 [ 914]); P. Grosskurth, J. A. S. (1964). 38 Collected Essays, edd. J. Bryce and H. Paul, 10 Bde. (1907) [enthält u.a. die o.g. Titel]; English Literature and Society in the Eighteenth Century (1963 [ 904]), auch pb.; The History of English Thought in the Eighteenth Century (1962); Selected Writings in British Intellectual History, ed. N. Annan (Chicago, 1979). - F. W. Mailland, The Life and Letters of L. S. (Detroit, 1968 [ 906]). - N. G. Annan, L. S. (Cambr., Mass., 1952); D. D. Zink, L. S., TEAS ( . ., 1972).

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phie war zweifellos CHARLES SANDERS PEiRCE39 (1839-1914), der ähnlich wie Mill in England eine neue Logik als Grundlage für die naturwissenschaftliche Forschung entwickelte und der bereits von der These des Pragmatismus ausging, daß Wirksamkeit das Kriterium der Wirklichkeit sei. Einen größeren Einfluß erreichte Peirce zu seinen Lebzeiten jedoch nicht, da sein Stil dunkel und schwierig war und da seine Veröffentlichungen bis zu seinem Tode im wesentlichen nur aus Zeitschriftenaufsätzen und Rezensionen bestanden, während die Mehrzahl seiner Arbeiten erst später aus seinem Nachlaß veröffentlicht wurde. Eine erheblich größere Wirkung, auch in Europa, erlangte dagegen die Philosophie des durch Peirce angeregten WILLIAM JAMES40 (1842-1910), des Bruders des Romanschriftstellers Henry James. James, der um die Jahrhundertwende der bedeutendste Philosoph Amerikas war, wurde vor allem durch die Schriften Principles of Psychology (1890), The Will to Believe (1897) und Pragmatism (1907) bekannt. Seine Lehre, die er als radikalen Empirismus bezeichnete, betrachtet das Denken als im Dienste des Lebens stehend; alle Theorie hat nur Wert, insofern sie dem Leben dient; wahr ist, was sich praktisch bewährt, was das menschliche Handeln positiv beeinflußt und leitet. Diese auch in Europa aufgegriffene synthetische Erfahrungsphilosophie des Pragmatismus, die der weltmännische und zeit seines Lebens literarisch interessierte Philosoph in vollendeter Sprachkunst leicht faßlich in Wort und Schrift vortrug, wandte sich sowohl gegen den Materialismus Spencers als auch nachdrücklich gegen den deutschen Idealismus, der von den Hegelianern der Schule von St. Louis41 propagiert wurde. Dieser 42 Kampf gegen den Idealismus wurde von GEORGE SANTA (1863-1952), 39

Collected Papers of C. S. P., edd. C. Hartshorne et al., 8 Bde. (Cambr., 1931-58); Essential Writings, ed. E. C. Moore (N. Y., 1971); Semiotic and Signifies: The Correspondence Between C. S. P. and Victoria Lady Welby, ed. C. Hardwick (1977). J. L. Brent, A Study of the Life of C. S. P. (Los Angeles, 1960). - T. A. Goudge, The Thought of C. S. P. (N. Y., 1969 [ 950]); J. v. Kempski, C. S. P. und der Pragmatismus (Stuttgart, 1952); M. Murphey, The Development of P.'s Philosophy (Cambr., Mass., 1961);F. E. Reilly, C. P.'s Theory of Scientific Method (N. Y., 1970);D. Greenlee, P.'s Concept of Sign (The Hague, 1973); K.-O. Apel, Der Denkweg von C. S. P. (Frankfurt, 1975). 40 The Works of W. J., edd. F. H. Burkhardt et al. (1975 ff.); Collected Essays & Reviews, ed. R. B. Perry (N. Y., 1969 [ 920]); The Principles of Psychology, 2 Bde. ( . ., 1950 [ 890]); Einzelausg. in EL, ML; The Letters of W. J., ed. H. James, 2 Bde. (N. Y, 1969 ['1920ft; The Thought and Character of W. J., ed. R. B. Perry (Westport, Conn., 1974 [ 935]). - G. W. Allen, W. J. (1967). - B. P. Brennan, W. J., TUSAS (N. Y., 1968); P. K. Dooley, Pragmatism as Humanism: The Philosophy of W. J. (Chicago, 1974); C. H. Seigfried, Chaos and Context: A Study in W. J. (Athens, O., 1978). - The Philosophy of W. J., ed. W. R. Corti (Hamburg, 1976). 41 The St. Louis Movement in Philosophy, ed. C. M. Perry (Norman, Okla., 1930). D. J. Snider, The St. Louis Movement in Philosophy, Literature, Education, Psychology (St. Louis, 1920); H.A. Pochmann, New England Transcendentalism and St. Louis Hegelianism (Philad., 1948). 42 The Works of G. S., Triton Edn., 15 Bde. (N. Y., 1936-40); The Complete Poems of G. S., ed. W. G. Holzberger (Lewisburg, Pa., 1973); Selected Critical Writings of G. S., ed. N. Henfrey, 2 Bde. (Cambr., 1968); Einzelausg. in ML; The Letters of G. S., ed. D. Cory (Havertown, Pa., 1973 [ 955]); Persons and Places, 3 Bde. (Havertown,

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James' Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Harvard, fortgesetzt. Santayana, dessen Werke weitgehend ins 20. Jahrhundert fallen (u. a. The Life of Reason, 1905/6; Egotism in German Philosophy, 1916) verband ebenfalls noch philosophische mit literarischen Interessen: Er schrieb Sonette, ein Drama, literaturkritische Arbeiten und den Roman The Last Puritan (1935). Im allgemeinen setzte sich aber in Amerika die gleiche Tendenz der Entwicklung der Philosophie zur eigenständigen Fachwissenschaft durch wie in England. Die amerikanische Essayistik hatte schon früher ihren ersten Höhepunkt erreicht: mit Washington Irving als dem Begründer der Gattung, mit Emerson als dem Schöpfer des modernen philosophischen Essays und mit Thoreau, dessen intime Kunst eine am Persönlichen interessierte Zeit noch höher schätzte. Die führenden Essayisten der zweiten Jahrhunderthälfte konnten diesen internationalen Rang nicht mehr erreichen. In Amerika sehr einflußreich wurden jedoch zwei Autoren, die den 'Brahmins', der neuenglischen Oberschicht, angehörten und die in Stil und Weltsicht eine den Transzendentalisten entgegengesetzte Position vertraten: Holmes und Lowell. Der Mediziner OLIVER WENDELL HOLMES43 (1809-94) war schon in seiner Jugend durch seine an Prior und Praed erinnernden akademischen Gelegenheitsgedichte zu einer Lokalberühmtheit geworden. Auch aus seinen monologischen Tischgesprächen - The Autocrat of the Breakfast-Table (1858), The Professor at the Breakfast-Table (1860) und The Poet at the Breakfast-Table (1872) - spricht eine dem Geist des 18. Jahrhunderts verwandte rationalistische Haltung. Der Fiktion des Spectator vergleichbar, vertritt der Sprecher in diesen Plaudereien die Ansichten des Autors, der als witziger Weltmann mit oft tragisch gefärbtem Humor Betrachtungen über Lebensführung und Lebensart mit beschreibenden Passagen mischt. Auch Holmes' Romane - z. B. Elsie Venner (1861) - sind über lange Strecken mehr Essay als Roman; in ihnen gestaltete der fortschrittliche Mediziner Holmes auf der Grundlage der Vererbungslehre und neuerer psychologischer Erkenntnisse fiktionale Fallstudien problematischer Charaktere. Durch die gesellschaftliche Herkunft, eine ähnliche Distanz zu den Transzendentalisten und die gemeinsame Tätigkeit für die Zeitschrift Atlantic Monthly mit Holmes eng verbunden war JAMES RUSSELL LOWELL (1819-91), dessen lyrisches Schaffen, dem er seine heutige Wertschätzung in erster Linie Pa., 1973 ['1944-53]) [Autobiographie]. - R. Butler, The Life and World of G. S. (Chicago, 1960); W. E. Arnett, G. S. (N. Y., 1968). - I. Singer, S.'s Aesthetics (Cambr., Mass., 1957); J. Ashmore, S. (Cleveland, O., 1966); T. L. S. Sprigge, S. (1974); L. Hughson, Thresholds of Reality: G. S. and Modernist Poetics (Port Washington, N. Y., 1977). 43 The Works of O. W. H., Riverside Edn., 13 Bde. (St. Clair Shores, Mich., 1972 [' 1892]); The Poetical Works of O. W. H., ed. E. M. Tilton (Boston, 1975); Einzelausg. in EL, WC. - Life and Letters, ed. J. T. Morse, intr. E. N. Harbert, 2 Bde. (N. Y., 1980 t11896]) [enthält auch Briefe]; E. M. Tilton, Amiable Autocrat (N. Y., 1947). - C. P. Oberndorf, The Psychiatrie Novels of O. W. H. (N. Y., 1946 [ 943]); M. R. Small, O. W. H., TUSAS (N. Y., 1962); E. P. Hoyt, The Improper Bostonian: Dr. O. W. H. (N. Y., 1979).

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verdankt, bereits im Romantik-Kapitel behandelt wurde (s. S. 636). Mit seinen kritischen Schriften, die nach einer längeren durch den Tod seiner Frau bedingten Schaffenspause erschienen, steht er jedoch dem Stil und Geist der nachromantischen Prosa, wie sie auch Holmes schrieb, nahe. Als Begründer und Herausgeber des Atlantic Monthly und als Mitherausgeber der North American Review spielte er im Bostoner literarischen Kreis eine ähnlich tonangebende Rolle wie Holmes. Zuerst in diesen Zeitschriften erschienen durchweg auch seine an Matthew Arnold und Macaulay erinnernden politischen und literarkritischen Essays, die er später in zahlreichen Essaybänden mit den bezeichnenden Titeln Among my Books (1870, 1876), My Study Windows (1871), Democracy (1887), Political Essays (1888) und The English Poets (1888) erneut publizierte. Seine einfallsreichen und in einem eigenwilligen Stil geschriebenen Essays über einzelne Dichter von Chaucer bis Swinburne und über vielfältige andere literarische und politische Themen sind die ersten ihrer Art in Amerika und ein bedeutender Beitrag zur amerikanischen Geistesgeschichte. Eine echte Originalität und europäisches Interesse können sie jedoch nicht beanspruchen. Auch die geschmacksbildende Wirkung des Literaturkritikers EDMUND CLARENCE STEOMAN44 (1833-1908) mit seinen Bänden Victorian Poets (1875) und Poets of America (1885) blieb auf das Amerika seiner Zeit beschränkt. Internationalen Rang als Literaturkritiker gewann erst Henry James mit seinen romantheoretischen Essays (s. S. 833). Aus der Fülle der übrigen Essayistik dieser Zeit ragen vor allem die zahlreichen Reisebücher heraus. Schon vor der Jahrhundertmitte waren Autoren wie der Jurist Richard Henry Dana mit Two Years Before the Mast (1840), dem Bericht von einer Seereise (s. S. 684), und der Historiker Francis Parkman (s. S. 748) mit The California and Oregon Trail (1849), der Erzählung von seiner Reise an die 'frontier', berühmt geworden. Diese Tradition wurde von einigen Autoren fortgesetzt, die in ihren Reisebüchern Bilder ihrer amerikanischen Heimat zeichneten, so etwa von dem Faustübersetzer BAYARD TAYLOR45 (1825-78) mit seinen Berichten über die kalifornischen Goldfelder (Eldorado, 1850) sowie von dem Geologen CLARENCE KiNG46 (1842-1901) mit seinen Reiseskizzen Mountaineering in the Sierra Nevada (1872) und von Sidney Lanier (s. S. 775 f.) in seinem Reisebuch Florida (1875). Aber auch Reisebücher über außeramerikanische und insbesondere exotische Länder wurden immer populärer, so etwa Taylors Reisebriefe aus Schottland, Deutsch44

The Poetical Works of E. C. S. (Boston, 1873); The Nature and Elements of Poetry (N. , 1970 [ 892]) [Vorträge]. - Life and Letters, edd. L. Stedman and G. M. Gould, 2 Bde. (N. Y., 1910) [enthält auch Briefe]. - R. J. Scholnick, E. C. S., TUSAS (Boston, 1977). 45 The Works of B. T, Eldorado Edn., 8 Bde. (N. Y., 1882-91); The Unpublished Letters of B. T, ed. J. R. Schultz (San Marino, Cal., 1937). - Life and Letters, edd. M. HansenTaylor and H. E. Scudder (Boston, 1884) [enthält auch Briefe]; R. C. Beatty, B. T. (Norman, Okla., 1936). - P. C. Wermuth, B. T, TUSAS (N. Y., 1973). 46 Mountaineering in the Sierra Nevada (Lincoln, Nebr., 1970 [11872]). - T. Wilkins, C. K.: A Biography (N. Y., 1958).

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land und Italien (Views Afoot, 1846) sowie A Journey to Central Africa (1854) und A Visit to India, China, and Japan, in the Year 1853 (1855), die Reisebücher von Mark Twain (s. S. 823) und William Dean Howells (s. S. 828) und vor allem die in kunstvoller Prosa geschriebenen Japan-Impressionen des heimatlos zwischen Ost und West stehenden LAFCADIO H EARN47 (1850-1904), der mit Glimpses of Unfamiliar Japan (1894), Kokoro (1896) und anderen Büchern auch die europäische Literatur beeinflußte. Als letzte Form der nicht-fiktionalen amerikanischen Prosa sei schließlich die Geschichtsschreibung erwähnt.48 Wie die viktorianische Geschichtsschreibung in England folgte sie zunächst noch stark dem Vorbild Gibbons sowie dem Beispiel der führenden deutschen Historiker und gewann bald internationale Anerkennung. Dabei wandte sie ihr Interesse zuerst noch stärker der Geschichte ausländischer Staaten zu, und erst im Schaffen von Bancroft, Parkman und Henry Adams steht die Geschichte der Vereinigten Staaten im Mittelpunkt. Der erste typische Vertreter dieser sich nicht nur als Wissenschaft, sondern auch als Literatur verstehenden Geschichtsschreibung ist WILLIAM HICKLING PRESCOTT49 (1796-1859), der sich vor allem mit der Geschichte der spanisch sprechenden Länder befaßte. In seiner dreibändigen History of the Reign of Ferdinand and Isabella, the Catholic (1838), der die History of the Conquest of Mexico (1843) und die History of the Conquest of Peru (1847) folgten, lieferte er ein großes episches Gemälde, das an Scott und Cooper erinnert und das eine Verbindung von Historiographie und historischem Roman darstellt. Wenn er Ehrendoktor von Oxford, Mitglied des Institut de France und der Preußischen Akademie der Wissenschaften wurde, so verdankte er dies in erster Linie seiner literarischen Kunst. Auch sein Freund und Biograph GEORGE TiCKNOR50 (1791-1871) beschäftigte sich vor allem mit dem spanischen Kulturraum: Er schrieb eine bis heute lesenswerte History of Spanish Literature (1849). Wie Prescott und Ticknor war auch JOHN LOTHROP MOTLEYSI 47

The Writings of L. H., Koizumi Edn., 16 Bde. (Boston, 1922) [Bde. 15-16: Life and Letters, ed. E. Bisland ( 906)]; The Selected Writings of L. H., ed. H. Goodman (N. Y., 1959 [ 949]); The Japanese Letters of L. H., ed. E. Bisland (Wilmington, Del., 1973 [ 910]). - E. Stevenson, L. H. (N. Y., 1961). - B. Yu, An Ape of Gods: The Art and Thought of L. H. (Detroit, 1964); A. E. Kunst, L. H., TUSAS ( . ., 1969). 48 D. Levin, History as Romantic Art: Bancroft, Prescott, Motley, and Parkman (Stanford, 1959); R. C. Vitzthum, The American Compromise: Theme and Method in the Histories of Bancroft, Parkman, and Adams (Norman, Okla., 1974). 49 The Works of W. H. P., Montezuma Edn., ed. W. H. Munro, 22 Bde. (N. Y.; repr., . J. [ 904]); Einzelausg. in EL, ML und NAL; The Correspondence of W. H. P. 1833-1847, ed. R. Wolcott (N. Y., 1970 [ 925]); The Literary Memoranda of W. H. P., ed. C. H. Gardiner, 2 Bde. (Norman, Okla., 1961); The Papers of W. H. P., ed. C. H. Gardiner (Urbana, 111., 1964). - G. Ticknor, Life of W. H. P. (Boston, 1864); H. T Peck, W. H. P. (Port Washington, N. Y., 1968 [ 905]); C. H. Gardiner, W. H. P. (Austin, Tex., 1969). - D. G. Darnell, W. H. P., TUSAS (Boston, 1975). 50 History of Spanish Literature, 3 Bde. (Staten Island, N. Y., 1965 ['1891]); Life, Letters, and Journals of G. T, ed. G. S. Hillard, 2 Bde. (N. Y.; repr., o. J. [11876]). - D. B. Tyack, G. T and Boston Brahmins (Cambr., Mass., 1967). 51 The Writings of J. L. M., 17 Bde. (N. Y.; repr., o. J. [ 900]) [zuerst als Complete

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(1814-77) eng mit Deutschland verbunden. Seine Werke über die holländische Geschichte - The Rise of the Dutch Republic (1856), History of the United Netherlands (1860-67) und The Life and Death of John of Barneveld (1874) - setzten es sich zum Ziel, das Recht des Menschen auf politische Freiheit zu feiern, und nahmen daher für die protestantischen Niederlande Partei. Auf diese Weise erhielt sein Werk ein Ethos, das zusammen mit den überaus anschaulichen Schilderungen diese holländische Geschichte zu einer Art Nationalepos machte. Stärker wissenschaftlich ausgerichtet ist die große zehnbändige History of the United States (1834-74) von GEORGE BANCROFT52 (1800-91), den man den Vater der amerikanischen Geschichtsschreibung genannt hat. Als einer der ersten Verfasser einer Geschichte der Vereinigten Staaten sowie als einer der wichtigsten Vermittler deutscher Wissenschaft hatte er zu seiner Zeit große Bedeutung; nicht zuletzt wegen seines starken Nationalismus ist sein Werk jedoch heute überholt. Mehr um Objektivität dagegen bemühte sich FRANCIS PARKMAN53 (1823-93), der ebenfalls der Anregung durch deutsche Historiker, insbesondere Ranke, verpflichtet war. Sein Lebenswerk, das - mit History of the Conspiracy of Pontiac (1851) beginnend und mit A Half-Century of Conflict (1892) endend - in vielen Bänden das Ringen der Engländer mit den Franzosen und Indianern und um den amerikanischen Boden schildert, folgt der von Prescott und Motley vorgezeichneten Linie: Es ist eine narrative Darstellung der Geschehnisse mit dem langen Atem eines epischen Berichts, von dem Parkman selbst sagte, es sei in erster Linie 'a literary undertaking', das aber ebenso durch Quellenstudien und Faktentreue gekennzeichnet ist. Der jüngste Vertreter dieser amerikanischen historiographischen Schule, JOHN FiSKE54 (1842-1901), konnte dieses Niveau nicht halten. Seine Bücher über Epochen der amerikanischen Geschichte - z. B. The Critical Period of Works, Edn. de luxe; Bde. 15-17: Letters, ed. G. W. Curtis]; Teilsammlung und Einzelausg. in AWS, CIS; J. L. M. and His Family: Further Letters and Records, edd. S. St. John Mildmay and H. St. John Mildmay (1910). - O. W. Holmes, J. L. M. (Boston, 1889 ['1878]) [mit Briefen]. 52 The History of the United States of America, 6 Bde. (Port Washington, N. Y.; repr., o.J. [ 883-85]), [Kurzfassung: ed. R. B. Nye (Chicago, 1966)]. - M. A. De-Wolfe Howe, The Life and Letters of G. B., 2 Bde. (N. Y., 1970 [ 908]) [mit Briefen]; R. B. Nye, G. B. (N. Y., 1944). - R. H. Canary, G. B., TUSAS (N. Y., 1974). 53 The Works of F. P., Centenary Edn., 12 Bde. (Boston, 1922 u. ö.); The P. Reader, ed. S. E. Morison (Boston, 1955); Teilsammlung und Einzelausg. in AWS, CIS; The Letters of F. P., ed. W. R. Jacobs, 2 Bde. (Norman, Okla., 1960); The Journals of F. P., ed. M. Wade, 2 Bde. (N. Y„ 1947). - C. H. Farnham, A Life of F. P. (N. Y., 1969 [ 900]); M. Wade, F. P. (N. Y., 1942); H. Doughty, F. P. (N. Y., 1962). - O. A. Pease, P.'s History: The Historian as Literary Artist (New Haven, 1953); R. L. Gale, F. P., TUSAS (N. Y., 1973). 54 The Writings of J. F., Edn. de luxe, 24 Bde. (N. Y.; repr., o. J. ['1902]); Essays Historical and Literary, 2 Bde. (N. Y.; repr., o. J. [ 902]); The Letters of J. F., ed. E. F. Fisk (N. Y., 1940). - J. S. Clark, The Life and Letters of J. F., 2 Bde. (Boston, 1917) [mit Briefen]; M. Berman, J. F. (Cambr., Mass., 1961). - G. P. Winston, J. F., TUSAS (N. Y., 1972).

/. Die nicht-fiktionale Prosa

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American History (1888) - sind flüssig und fesselnd geschrieben, zeichnen sich aber mehr durch Volkstümlichkeit und Patriotismus als durch Wissenschaftlichkeit aus. Größeres Gewicht kommt dagegen einem außerhalb der historiographischen Tradition stehenden Einzelgänger, HENRY BROOKS ADAMS55 (18381918), zu. Der Enkel des Präsidenten John Quincy Adams und Sohn des amerikanischen Botschafters in England, Charles Francis Adams, war ebenfalls für eine politische Laufbahn ausersehen und war zunächst als Sekretär seines Vaters tätig. Er befand sich jedoch in völligem Gegensatz zu der amerikanischen Politik der 'reconstruction' nach dem Bürgerkrieg und zog sich 1868 aus der Politik zurück; sein politischer Roman Democracy (1880) enthält seine Abrechnung mit der amerikanischen Politik und ihrer Korruption. Er ging daher von der Politik zur Geschichtswissenschaft über, war 1870-77 Geschichtsprofessor in Harvard und schrieb die neunbändige History of the United States during the Administrations of Jefferson and Madison (1885-91). Dieses der Demokratie kritisch gegenüberstehende Werk behandelt mit den Jahren von 1800 bis 1816 eine Zeit der amerikanischen Geschichte, die sich für eine epische Darstellung in der Art Parkmans wenig eignete. Statt dessen versucht Adams hier, nach dem Vorbild de Tocquevilles die Geschehnisse um beherrschende Ideen zu gruppieren, um so unter dem Gesichtspunkt sozialer und wirtschaftlicher Evolution eine gesetzmäßige historische Entwicklung aufzuzeigen. Diesem deterministisch geschilderten Geschichtsablauf stehen die scharf, oft sarkastisch gezeichneten Individuen mit ihren Plänen und Machenschaften nahezu hilflos gegenüber. Seine Geschichtsauffassung erfährt eine Steigerung von der historischen zu einer imaginativen Ebene in zwei komplementären Büchern: in Mont-Saint-Michel and Chartres (1904), das die allen Kulturäußerungen des Mittelalters zugrunde liegende, sinngebende Einheit herausstellt, und in The Education of Henry Adams (1907), das den Verlust dieser Einheit in der Vielfältigkeit des modernen Lebens beklagt und infolge dieser geschichtsphilosophischen Zielsetzung weit mehr ist als die Autobiographie seines Verfassers. Als Historiker hat Adams hohen Rang sowohl durch die Wissenschaftlichkeit als auch durch die literarischen Qualitäten seiner Darstellung. Mit seiner konservativen, rückwärtsgerichteten, der Demokratie und dem wissen55

History of the United States During the Administration of Jefferson and Madison, 9 Bde. ( . ., 1889-91 u. ö.) [Kurzfassung: The United States in 1800 (Ithaca, N. Y., 1957 u. ö.), pb.]; A H. A. Reader, ed. E. Stevenson (Garden City, N. Y., 1958); Einzelausg. in CIS, ML, RE; A Cycle of A. Letters 1861-1865, ed. W. C. Ford, 2 Bde. (N. Y., 1968 [ 920]); Letters of H. ., ed. W. C. Ford, 2 Bde. (Boston, 1930-38); H. A. and His Friends: A Collection of His Unpublished Letters, ed. H. D. Cater (Boston, 1947). - E. Samuels, The Young H.A.; . .: The Middle Years und H. .: The Major Phase (Cambr., Mass., 1948, 1958 und 1964); E. Stevenson, H.A. ( . ., 1955); E. Scheyer, The Circle of H. A. (Detroit, 1970). - J. C. Levenson, The Mind and Art of H. A. (Stanford, 1957); G. Hochfield, H. A. (N. Y., 1962); J. J. Conder, A Formula of His Own: H. A.'s Literary Experiment (Chicago, 1970); M. Lyon, Symbol and Idea in H. A. (Lincoln, Nebr., 1970); J. G. Murray, H. A. (N. Y., 1974).

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schaftlichen und technischen Fortschritt skeptisch gegenüberstehenden Geschichtsauffassung stand er jedoch im Gegensatz zu seiner Zeit. Eine neue Schule von Historikern gelangte aber wieder zu einer Bejahung der Grundlagen der amerikanischen Zivilisation und ihrer Entwicklung. Hier ist unter anderem FREDERICK JACKSON TURNER56 (1861-1932) zu nennen, der in seiner einflußreichen und umstrittenen Schrift The Significance of the Frontier in American History (1894) die amerikanische Demokratie und den amerikanischen Individualismus auf die ständige Auseinandersetzung zwischen Zivilisation und Wildnis an der 'frontier' zurückführte.

II. DIE V E R S D I C H T U N G 1 l. Grundzüge der viktorianischen Versdichtung Um 1830 war die romantische Versdichtung durch den rasch aufeinanderfolgenden Tod ihrer größten Vertreter zu einem plötzlichen Ende gekommen, und ein neues Zeitalter verwertete ihr Erbe auf eigene Art. Im Gegensatz zur romantischen Lyrik, die sich erst durch den Bruch mit der Lyrik des Klassizismus herausbilden konnte, blieb die viktorianische Lyrik allerdings durchweg in der von den Romantikern begründeten Tradition; und vor allem Wordsworth, Shelley und Keats wurden von vielen viktorianischen Dichtern noch lange als beispielhaft empfunden. Nicht zuletzt auf diesen Traditionsbezug ist es zurückzuführen, daß die viktorianische Versdichtung nur selten die zeitgenössische Welt gestaltet und sich den drängenden Problemen der Zeit unmittelbar stellt. Anders als die Mehrzahl der viktorianischen Romane meidet die viktorianische Lyrik die 56

The Early Writings of F. J. T., edd. E. E. Edwards and F. Mood (Madison, 1938); Frontier and Section: Selected Essays of F. J. T., ed. R. A. Billington (Englewood Cliffs, N.J., 1961). - W. R. Jacobs, The Historical World of F.J.T. (New Haven, 1968) [mit Briefen]; R. A. Billington, F.J.T. (N. Y., 1973). - J. D. Bennett, F.J.T, TUSAS (Boston, 1975). - T. and the Sociology of the Frontier, edd. R. Hof stadter and S. M. Lipset (N. Y., 1968). 1 The Victorian Poets: A Guide to Research, ed. F. E. Faverty (Cambr., Mass., 1968 [ 956]). - The Oxford Book of Victorian Verse, ed. A. Quiller-Couch (Oxf., 1955 t1^!!]); Poetry of the Victorian Period, edd. J. H. Buckley and G. B. Woods (Chicago, 1965 [ 930]); Victorian Poetry and Poetics, edd. W. E. Houghton and G. R. Stange (Boston, 1959); Sammlungen auch in LES, PB. - F. L. Lucas, Ten Victorian Poets (Cambr., 1948 [ 930]); I. Evans, English Poetry in the Later Nineteenth Century (Lo./N. Y., 1966 [ 933]); J. Heath-Stubbs, The Darkling Plain: A Study of the Later Fortunes of Romanticism in English Poetry from George Darley to W. B. Yeats (1950); E. D. H. Johnson, The Alien Vision of Victorian Poetry (Princeton, 1952); P. M. Ball, The Heart's Events: The Victorian Poetry of Relationships (1976). The Major Victorian Poets: Reconsiderations, ed. I. Armstrong (1969); Victorian Poetry, edd. M. Bradbury and D. Palmer (1972). - Victorian Poetry (ab 1963).

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Gegenwart; und es ist charakteristisch, daß viele Gedichte von Tennyson und Browning bis hin zum frühen Yeats in einer historischen oder mythischen Welt lokalisiert sind. Ebenfalls symptomatisch für die Lyrik dieser Zeit sind die außerordentlich zahlreichen Gedichte über Gemälde, Dichter und Figuren aus Gedichten sowie Gedichte über Gedichte. Die viktorianische Dichtung gestaltet also oft Realität gleichsam aus zweiter Hand; und als symbolhaft ist daher Tennysons Lady of Shalott angesehen worden, welche die Wirklichkeit nur in einem Spiegel betrachten darf und nach der unmittelbaren Anschauung der Wirklichkeit stirbt. Man mag in dieser Realitätsferne einen Mangel erblicken; jedenfalls gelang den viktorianischen Dichtern die Gestaltung aktueller Gegenstände und Probleme dann am besten, wenn diese in eine historische oder mythische Welt transponiert waren, während die unmittelbar engagierten oder gegenwartsbezogenen Gedichte dieser Epoche künstlerisch nur selten überzeugen. Auch ihr eigenes Ich brachten die viktorianischen Dichter durchweg nur auf eine mittelbare und verschlüsselte Art zum Ausdruck. Deshalb ist die Zahl der Rollengedichte, in denen sich der Dichter hinter einer 'persona' aus Geschichte oder Mythos verbirgt - wie etwa in Tennysons Ulysses oder Brownings Fra Lippo Lippi -, sehr häufig. Auch die Vorliebe für das Sonett2 und die Übernahme anderer kunstvoller romanischer Gedichtformen aus früheren Epochen wie z. B. Kanzone, Sestine, Triolet und Villanelle ist nicht zuletzt aus dem Streben zu erklären, eine unvermittelte und ungebrochene Aussprache des dichterischen Ich zu vermeiden. Es ist daher auch kein Zufall, daß Elizabeth Barrett-Browning in den Sonnets from the Portuguese, die zu den besten Liebesgedichten der Epoche gehören, die das Persönliche verfremdende Sonettform wählt und außerdem vorgibt, die Gedichte aus dem Portugiesischen übersetzt zu haben. Eine weitere formale Eigenheit vieler viktorianischer Dichtungen erklärt sich zum Teil aus der Distanz der meisten Lyriker zu den weit populäreren Formen des Romans und des Dramas. Nur wenige Autoren betätigten sich wie Meredith und Hardy als Lyriker und auch als Romanschriftsteller, wobei diese Autoren die Lyrik bezeichnenderweise als die höhere Kunstform ansahen. Andere Dichter versuchten dagegen, narrative Elemente in die Lyrik hineinzunehmen, und so entstanden zahlreiche Balladen3 sowie lyrisch-epische Mischformen wie z. B. Tennysons Idylls of the King oder Brownings The Ring and the Book. Eine ähnliche Mischform, die aus der Distanz der meisten viktorianischen Dichter zum Drama dieser Zeit zu verstehen ist und in der sich nahezu alle führenden Lyriker der Epoche betätigten, ergab sich aus einer Kombination von Lyrik und Drama: das Lesedrama in Versen (vgl. S. 781 f.). Erst recht mehr zur Lyrik als zum Drama zu rechnen sind die in dieser Epoche so charakteristischen Monodramen und dramatischen Monologe.4 Andere Mischformen repräsentieren Gedichte wie Tennysons In Me2

T. Going, Scanty Plot of Ground: Studies in the Victorian Sonnet (The Hague, 1976). J. S. Bratton, The Victorian Popular Ballad (1975). 4 R. Langbaum, The Poetry of Experience: The Dramatic Monologue in Modern Lit3

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moriam A. H. H., das die lyrische Ich-Aussprache mit philosophischer Thematik verbindet, oder Hardys The Dynasts, ein „episches Drama". Trotz ihrer oft kunstvoll-künstlichen Formen und trotz ihres nur indirekten Gegenwartsbezugs erreichte die viktorianische Lyrik - verglichen mit der Lyrik unserer Zeit - eine beachtliche Leserschaft. Zwar konnte sie nie so populär wie der Roman und das Drama dieser Zeit werden; darüber hinaus gab es vereinzelt Dichter, die wie Hopkins für ihre Zeitgenossen zu schwierig waren oder die wie einige der Dichter des Fin de siecle bewußt für eine erlesene Minderheit schrieben. Auf der anderen Seite gab es aber Dichter von Rang, die Gedichte für Kinder verfaßten, wie z. B. Christina Rossetti (Sing Song, a Nursery Rhyme-Book, 1872) oder Robert Louis Stevenson (A Child's Garden of Verse, 1885). Ein Dichter wie EDWARD LEARS (1812-1885) gewann mit den verspielt-absurden Limericks seines Book of Nonsense (1846) nicht nur erwachsene, sondern auch jugendliche Leser. Noch charakteristischer für den Status der viktorianischen Lyrik ist schließlich ein Dichter wie Tennyson, der in seiner Zeit eine Popularität errang, wie sie einem Lyriker nur selten zuteil wird.

2. Tennyson, Browning und die frühviktorianische Versdichtung6 Am eindrucksvollsten werden die typischen Züge viktorianischer Versdichtung verkörpert von ALFRED LORD TENNYSON? (1809-1892), dessen für seine Epoche repräsentative Bedeutung auch darin zum Ausdruck kommt, daß er zum Poeta laureatus ernannt und von Königin Viktoria in den erblierary Tradition (1972 [ 957]); E. Faas, Poesie als Psychogramm: Die dramatischmonologische Versdichtung im viktorianischen Zeitalter (München, 1974); F.B. Carleton, The Dramatic Monologue (Salzburg, 1977). 5 The Complete Nonsense of E. L., ed. H. Jackson (1947 u. ö.); Teilsammlungen in CC, EL, FP, PB; Letters und Later Letters of E. L, ed. Lady Strachey (1907, 1911). - A. Davidson, E. L. (1968 [ 938]); V. Noakes, E. L. (Lo./Boston, 1979 [ 968]). - T. Byrom, Nonsense and Wonder: The Poems and Cartoons of E. L. (N. Y., 1977). - Zu Lear und zur Nonsense-Dichtung: The Faber Book of Nonsense Verse, ed. G. Grigson (1979). - D. Petzold, Formen und Funktionen der englischen NonsenseDichtung im 19. Jahrhundert (Nürnberg, 1972). - S. Stewart, Nonsense: Aspects of Intertextuality in Folklore and Literature (Baltimore, 1978). 6 Zur frühviktorianischen Versdichtung vgl. D. Colville, Victorian Poetry and the Romantic Religion (Albany, N. Y., 1970). 7 The Poetic and Dramatic Works of A. Lord T., Cambr. Edn., ed. W. J. Rolfe (Boston, 1898); The Poems of T, ed. C. Ricks, AEP (1969); Teilsammlungen auch in EL, EUL, FP, OP, OS A, WC. - C. Tennyson, A. T. (1950 [ 949]); J. H. Buckley, T (Cambr., Mass., 1960); J. Richardson, The Pre-Eminent Victorian: A Study of T. (1962); R. B. Martin, T. (Lo./N. Y., 1980). - P. F. Baum, T (N. Y., 1975 [ 948]); J. B. Steane, T. (N. Y., 1969); J. D. Kissane, A. T, TEAS (N. Y., 1970); W. Hellstrom, On the Poems of T. (Gainesville, Fla., 1972); C. Ricks, T. (1972); A. D. Culler, The Poetry of T. (New Haven, 1977); D. M. Organ, T.'s Dramas (Lubbock, Tex., 1979). Critical Essays on the Poetry of T, ed. J. Killham (1960); A. Lord T, ed. G. MacBeth (1970);T, ed. D. J. Palmer (1973). - A. E. Baker, AT. Dictionary (N. Y., 1968 [ 916]).

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eben Adel erhoben wurde. Seine von Anfang an in Form und Thema klar bestimmte Kunst macht eine Zusammenfassung in thematisch bestimmten Gruppen sinnvoller als eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung. An die Spitze müssen nach ihrer heutigen Wertschätzung seine Dichtungen über klassische Themen gestellt werden, vor allem die von Tennyson „dramatische" Monologe genannten Reden, in denen sich ein Sprecher an eine oder mehrere anwesend zu denkende Personen wendet. Die Gattung dichterischer Charakterdarstellung war natürlich nicht neu, aber seit Pope wenig geübt; Tennyson gab ihr neues Leben und einen neuen Stimmungsreiz. Schon in der sinnbetäubenden, in Spenserstrophen beginnenden und dann in odenhaften Chor übergehenden Musik der Lotos-Eaters (1832) machte er Wort und Rhythmus üppiger Stimmungsmalerei dienstbar. In Oenone (1832), Tithonus (1860) und Teiresias (1885) legte er weiteren Figuren der griechischen Mythologie dramatische Monologe in den Mund und erzielte mit seinen hoheitsvollen Blankversen eine ähnliche Klangfülle. Die Vollendung der Form erreichte er jedoch in Ulysses (1842), einem Monolog des Odysseus der nachhomerischen Legende, der es nach seiner Rückkehr in Ithaka nicht aushält und auf einer neuen Seereise 'beyond the sunset' reisen will. Tennyson ließ sich nicht nur von antiken Dichtungen, sondern auch von antiken Dichtern zu eigenen Gedichten anregen, wie es das Catull-Gedicht Fraler Ave Atque Vale (1883) und vor allem die Huldigung To Virgil (1882) zum 1900jährigen Todestag Vergils bezeugen. Die heimischen Stoffe lagen Tennyson weniger. So vermag The Princess (1847) mit der reizvoll ausgesponnenen Fabel von der männerverachtenden Frauenherrschaft und dem schließlichen Sieg der Natur und der Liebe den Komödienton nicht durchzuhalten; und Enoch Arden (1864), die damals so populäre Verserzählung von dem totgeglaubten Seemann, der nach seiner Rückkehr seine Frau verheiratet vorfindet und sich aus Liebe zu ihr nicht zu erkennen gibt, wird heute als sentimental empfunden. Allenfalls einem Stück wie Locksley Hall (1842) wird der heutige Leser die Qualität und die künstlerische Einheit der antikisierenden Dichtungen Tennysons zuerkennen. Eine weitere Gruppe wird von Tennysons argumentierenden Dichtungen gebildet. Hierzu gehören unter anderem sein Monolog Lucretius (1868) und The Vision of Sin (1842), vor allem aber In Memonam A. H.H. (1850), ein Gedicht, das durch den Tod seines Freundes Arthur H. Hallam ("f" 1833) angeregt wurde und dessen Abfassung 17 Jahre beanspruchte. Wenn auch die nachträgliche Ordnung der verschieden langen, aber in einheitlichem Versmaß abgefaßten Gedichte der Sammlung keine Einheit geben konnte, so bestand doch durch das allen Teilen gemeinsame Grunderlebnis des Todes und durch den Grundgedanken des Aufstiegs von persönlichem Leid zu seiner Überwindung ein den Sonettfolgen ähnlicher Zusammenhang. Der heutige Leser wird an diesem Gedicht vor allem seine makellos geschliffenen Verse bewundern, während das häufige In-Verse-Setzen naturwissenschaftlicher Gedankengänge und der Versuch einer Versöhnung zwischen der Naturwissenschaft und einem von engen Dogmen befreiten liberalen Christentum nur zeitge-

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schichtliche Bedeutung haben. Ein anderer und eigenartiger Versuch der Zusammenfassung mehrerer Gedichte ist Maud (1855), von Tennyson Monodrama genannt, weil die Geschichte von Leid und Liebe, Enttäuschung und Wahnsinn und schließlicher Heilung im Kriegsdienst fürs Vaterland durch einen Sprecher berichtet wird, dessen verschiedene Leidenschaftsstufen verschiedene Charaktere ersetzen. Die mit den verschiedenen Stimmungen wechselnden Metren, der klare Ausdruck dunkler Empfindungen und die Rhetorik, die hier dem Charakter des Sprechers angemessen ist, machen Maud zur einheitlichsten der längeren Versdichtungen Tennysons, aber nicht eigentlich zum Epos. Den Traum von der Neubelebung des Epos suchte Tennyson gleichfalls in kettenartigem Zusammenschluß von Einzeldichtungen zu erfüllen. Er griff dazu auf seine mittelalterlichen, aus Malorys Le Morte Darthur und der walisischen Geschichtensammlung Mabinogion geschöpften frühen Dichtungen zurück, zu denen außer der glänzenden Ballade The Lady of Shalott (erste Fassung: 1832) auch Morte d'Arthur, Sir Galahad und Sir Launcelot and Queen Guinevere (Erstfassungen: 1842) gehören. Die erste Ausgabe der Idylls of the King (1859) umfaßte vier Stücke einheitlichen Stils: Enid, Vivien, Elaine und Guinevere. Je größer und uneinheitlicher die Reihe der Einzelerzählungen bald darauf wurde und je mehr Tennyson die Schaffung eines modernen Epos anstrebte, um so zwingender empfand er die Notwendigkeit einer Bindung der Einzelstücke durch einen höheren Sinn. Die endgültige Fassung in zwölf Büchern von 1888 will dementsprechend eine Allegorie der menschlichen Seele (= Arthur) sein, die mit den das Herz (= Guinevere) versuchenden Sinnen im Kampf liegt und durch das Leben dieser Welt (= Tafelrunde) zum Tod und durch den Tod zum ewigen Leben gelangt. Ebenfalls aufgepfropft wirkt die Beziehung des Werkes zum Ablauf der Jahreszeiten, die von der Geburt Arthurs in der Neujahrsnacht in The Coming of Arthur bis zu seinem Tod zu Beginn des Winters in The Passing of Arthur durchgehalten wird. Die Idylls of the King sind in klangvollen, Hiatus und harten Konsonantenzusammenstoß meidenden Blankversen geschrieben. Sie bilden einen kunstvoll gewobenen Teppich von farbigen Bildern häuslichen Lebens und prunkvoller Hofszenen, in denen die Leidenschaft der Liebe allerdings mehr beredet als schöpferisch gestaltet wird. Schon in Tennysons eigener Zeit blieben seine Dramen - die vaterländischen Historien Queen Mary (veröff. 1875), Harold (veröff. 1876) und Becket (Lesetext 1884, Urauff. 1893) wie auch die romantischen Stücke The Falcon (1879), The Cup (1881) und The Foresters (veröff. 1892) - ohne größeren Erfolg. Seine Zeitgenossen schätzten vielmehr vor allem die philosophische Botschaft von In Memoriam, die Sentimentalität von Enoch Arden und den Patriotismus von The Charge of the Light Brigade (1854). Der heutige Leser wird dagegen insbesondere kritisieren, daß sich Tennysons Denken oft mit Halbheiten zufriedengibt und daß er sich nicht selten zum Sprachrohr viktorianischer Gefühlsseligkeit oder Lehrhaftigkeit macht. Er wird Tennyson statt dessen in erster Linie wegen seiner meisterhaften Beherrschung von

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Sprache und Form und wegen der unvergleichlichen Farbigkeit und Klangfülle seiner Dichtungen schätzen, besonders aber wegen seiner Meisterschaft, Gefühle ins Bild zu übertragen und in einem einzigen Epitheton die Summe zahlloser Eindrücke zu ziehen. Tennysons Gegenbild ist ROBERT BROWNING* (1812-89). Seine ersten Werke sind gestaltlose, lange Versdichtungen von großem, etwas wirrem Gedankenreichtum, dessen sprachlich-metrischer Ausdruck ungefüge erscheint durch seine Vorliebe für einsilbige Wörter, harte Konsonantenhäufungen, eigenwillige grammatische Figuren und Auslassungen. Am Anfang steht Pauline (1833), die unter Shelleys Einfluß geschriebene, unzusammenhängende Seelenbeichte eines jungen Dichters, der seiner geistig gegenwärtigen Geliebten seine inneren Entwicklungskämpfe und Zweifelsstimmungen schildert. Die folgenden Versdichtungen sind ebenfalls Seelenstudien, die Browning allerdings in eine historische Welt verlegte. Hier ist zunächst das dramatische Gedicht Paracelsus (1835) zu nennen, ferner die interessantere, aber noch häufiger unentwirrbar dunkel bleibende Dichtung Sordello (1840), die in der Zeit der Weifen- und Ghibellinenkämpfe spielende Geschichte eines Dichters und seines Widerstreits zwischen Liebe und politischem Ehrgeiz. Auch in seinen Dramen, die in die Zeit zwischen 1837 (Strafford) und 1846 (A Soul's Tragedy) fallen, wählte Browning häufig einen historischen Hintergrund; und auch sie sind in erster Linie Seelenstudien, in denen die Beweggründe der Charaktere in langen Reden aufgedeckt werden. Was daran dramatisch ist, die seelische Entscheidung eines Menschen auf dem Höhepunkt einer Verwicklung, hatte das von Browning als sein Lieblingswerk bezeichnete Lesedrama Pippa Passes (1841) bereits gehäuft: Hier sind es vier derartige Krisen, die jeweils durch das sorglose Lied der vorübergehenden Pippa zum Guten gewendet werden. Obwohl Pippa Passes von Brownings Zeitgenossen - vielleicht wegen seiner optimistischen Weltsicht - besonders geschätzt wurde, war Browning insgesamt auf der Bühne nicht erfolgreicher als Tennyson. Durch die Schulung der Theaterstücke gelangte Browning zu der Form des dramatischen Monologs, die seinem Wesen mehr entsprach und die er auf 'The Works of R. B., ed. F. G. Kenyon, Centenary Edn., 10 Bde. (1966 [ 912]); The Complete Works of R. B., edd. R. A. King, Jr. et al. (Athens, O, 1969 ff., bisher 5 Bde. erschienen); Teilsammlungen und Einzelausg. auch in EL, FP, NAL, OP, OSA, PB; Letters of R. B., edd. T. J. Wise and T. L. Hood (New Haven, 1933); New Letters of R. B., edd. W. C. DeVane and K. L. Knickerbocker (1951). - W. H. Griffin and H. C. Minchin, The Life of R. B. (1938 [ 910]); B. Miller, R. B. (1952); J. D. Gordon, Joint Lives: E. B. and R. B. (N. Y., 1975); W. Irvine and P. Honan, The Book, the Ring, and the Poet (1975). - H. C. Duffin, Amphibian: A Reconsideration of B. (1956); T. Blackburn, R. B. (1973 [ 967]); I. M. Williams, R. B. (1967); R. A. King, Jr., The Focusing Artifice: The Poetry of R. B. (Athens, ., 1968); P. Drew, The Poetry of B. (1970); R. E. Gridley, B. (1972); D. S. Hair, B.'s Experiments With Genre (Edinb., 1972); I. Jack, B.'s Major Poetry (1973); E. Cook, B.'s Lyrics (Toronto, 1974); R. B. Pearsall, R. B., TEAS (N. Y., 1974); B. S. Flowers, B. and the Modern Tradition (1976). - R. B., ed. P. Drew, CCE (1966); . . Crowell, A Reader's Guide to R. B. (Albuquerque, . ., 1972); R. B., ed. I. Armstrong (1974).

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Siebtes Buch: Die viktonanische Zeit

seine Weise ebenso vollendet handhabte wie Tennyson. Seine ersten Werke dieser Gattung tauchen im dritten und siebten Heft seiner Bells and Pomegranates überschriebenen Gedichtsammlungen aus den Jahren 1841 bis 1846 auf; die beiden Sammlungen Men and Women (1855) und Dramatis Personae (1864) sind dann ganz dieser Form gewidmet. Die Versmaße der dramatischen Monologe wechseln wie die dargestellten Stimmungen, Situationen und Charaktere; meist aber herrscht ein beweglicher Blankvers, der gegenüber Tennysons würdevoll abgrenzenden Zäsuren eher eine treibsandartig gleitende Füllung aufweist und der Prosawirkung genähert erscheint. In allen Monologen enthüllen die Titelfiguren einem selbst nicht zu Wort kommenden Gesprächspartner, oft ohne es zu wollen, ihr Innerstes. Dabei bohrt sich die Neugier des Dichters in fremde Menschen und Zeiten, sucht die ineinandergeschlungenen Gefühle und Gedanken auseinanderzulegen und erweckt den dargestellten Charakter und seine Zeit auf sehr viel unmittelbarere Weise zum Leben, als es bei den gleichsam vor einem Vorhang sprechenden Charakteren der dramatischen Monologe Tennysons der Fall war. So wird etwa die Renaissance lebendig in dem Gedicht My Last Duchess (1842), dessen Zeilen der Herzog von Ferrara angesichts des Bildes seiner verstorbenen Gattin spricht und in dem sich eine typische Renaissance-Tragödie andeutet, oder in A Bishop Orders his Tomb (1845), der Rede eines recht weltlichen Bischofs an seine Nepoten auf dem Sterbebett. Eindrucksvoll sind auch die dramatischen Monologe Andrea del Sarto (1855), Fra Lippo Lippi (1855) und Abt Vogler (1864), in denen Browning Repräsentanten der Schwesterkünste Musik und Malerei zu Wort kommen läßt. Alle Seiten von Brownings Künstlertum fanden dann ihren Ausdruck in The Ring and the Book (1868-69). In einem Buch, das der Dichter bei einem Florentiner Antiquar kaufte, fand er eine Sammlung von Akten aus dem Prozeß gegen einen gewissen Guido Franceschini wegen der Ermordung seiner angeblich untreuen Gattin Pompilia. Diesen römischen Mordprozeß aus dem Jahre 1698 läßt Browning Wiederaufleben, indem er den Kläger und den Angeklagten, die Rechtsbeistände und den den Fall richtenden Papst in zwölf langen Monologen Geschehen und Beweggründe jeweils aus ihrer Perspektive darlegen läßt. Diese jeder Einordnung widerstrebende Dichtung, die man ebensogut als Blankvers-Epos, als historischen Versroman und als Folge von dramatischen Monologen bezeichnen könnte, zeigt besonders deutlich die Neigung Brownings zum Experiment. Und zwar ist The Ring and the Book ein experimentelles Werk sowohl durch seine Stellung auf dem Schnittpunkt mehrerer Gattungen als auch durch seine Perspektiventechnik, die spätere Tendenzen des Romans vorwegnimmt. Allerdings geht Browning nicht so weit, die Wahrheit selbst durch die verschiedenen Perspektiven zu relativieren; vielmehr soll der Leser hinter den perspektivischen Brechungen die Umrisse der einen göttlichen Wahrheit erahnen. Browning hat nach The Ring and the Book noch eine Reihe ähnlicher Dichtungen geschrieben, aber die Verlebendigungskraft dieses großen Werkes nicht mehr erreicht. Prince Hohenstiel-Schwangau (1871), eine Seelen-

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analyse Napoleons III., begründet das Auseinanderklaffen von Grundsatz und praktischem Verhalten; Fifine at the Fair (1872) versucht, die Liebesunbeständigkeit eines modernen Don Juan verständlich zu machen; und Red Cotton Night Cap Country (1873) und The Inn Album (1875), zwei durch von Zeitungen berichtete Alltagsverbrechen angeregte Gedichte, bohren sich sogar in die Psyche des Verbrechers, um Verständnis für ihn zu finden. In den Blankversdichtungen Balaustion's Adventure (1871) und Aristophanes' Apology (1875) wandte sich Browning schließlich antiken Stoffen zu, obwohl er im Gegensatz zu Tennyson kaum ein inneres Verhältnis zur Antike besaß. Im letzten Jahrzehnt vor seinem Tod kehrte er dann wieder zum kürzeren Gedicht zurück, wobei der in seinem Todesjahr erschienene Gedichtband Asolando (1890), in dem die in seinem Werk so seltene lyrische Note wieder erklingt, besondere Beachtung verdient. Browning hat den Erfolg zu seinen Lebzeiten sehr viel später und mühsamer erreicht als Tennyson. Auch der heutige Leser findet keinen leichten Zugang zu seinen Dichtungen, weil ihr Metrum kantig, ihre Wortwahl eigenwillig, ihre Form uneinheitlich und ihr Inhalt schwierig und oft dunkel ist. Aber durch die Dynamik der Rhythmen, die Vielfalt der Ideen und die große Spannweite der Tonlagen und Stimmungen, die auch Heiterkeit, Humor und Groteske einschließen, erhalten Brownings Dichtungen einen eigenen Reiz. Die heutige Zeit neigt dazu, sie als denen Tennysons gleichrangig anzuerkennen. Viel zweifelnder ist die Dichtung von Roberts Gattin ELIZABETH BARRETT BROWNING' (1806-1861) zu bewerten. Ihre größte Leistung sind die Liebesgedichte an ihren späteren Gatten, die 1850 unter dem absichtlich irreführenden Titel Sonnets from the Portuguese veröffentlicht wurden. Nicht nur dieses oder jenes Stück (wie insbesondere die Sonette 5, 14, 22, 43), sondern die Folge als Ganzes gehört zur großen englischen Sonettdichtung. Der Zwang der Sonettform war Mrs. Brownings Begabung heilsam; und wenn auch die äußerlich gewahrte italienische Reimanordnung nur selten ihre innere Begründung hatte, so sind es doch die vollkommensten Dichtungen, die ihr gelangen, und die einzigen, die lyrische Dichte besitzen. Ihre übrigen Dichtungen leiden dagegen an Sprach- und Reimverstößen, Weitschweifigkeiten und Wissensballast. Dies gilt leider auch für ihre politischen und sozialkritischen Gedichte, die in der Versdichtung dieser Zeit eine Ausnahme darstellen, wie z. B. für das aus sozialer Entrüstung verfaßte Gedicht The Cry of the Children (in: Two Poems, 1854) sowie für die politischen Verse Casa Guidi Windows (1851) und Poems before Congress (1860), die nur durch ihre Freiheitsbegeisterung bedeutsam sind. Die einstmals so hochgeschätzte über9

The Complete Works of E. B. B., edd. C. Porter and H. A. Clarke, 6 Bde. (1900); The Poetical Works of E. B. B., ed. H. W. Preston (Boston, 1974); Teilsammlung in WC; The Letters of E. B. B., ed. F. G. Kenyon, 2 Bde. (1897). - G. B. Taplin, The Life of E. B. B. (New Haven, 1957); M. J. Lupton, E. B. B. (Long Island, N. Y., 1971); R. Mander, Mrs. B. (1980). - A. Hayter, Mrs. B. (1962); V. L. Radley, E. B. B., TEAS (N. Y, 1972).

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lange Blankverserzählung Aurora Leigh (1857) schließlich zerrinnt in ethischsozialen, literarischen und frauenrechtlerischen Erörterungen und überstieg die Gestaltungskraft der Dichterin. Von den übrigen Lyrikern, die der ersten viktorianischen Dichtergeneration zuzurechnen sind und die in ihrer Zeit einen Namen hatten, sind die meisten - wie z. B. Richard Hengist Hörne (1803-84) oder Richard Monckton Milnes (Lord Houghton) (1809-85) - heute weitgehend vergessen. Auch ARTHUR HUGH CLOUGH10 (1819-61), der führende Geister wie Dr. Thomas Arnold, Matthew Arnold, Emerson und Carlyle zu fesseln wußte und dessen „Ferienpastoral" The Bothie of Toper-na-Fuosich (1848), eine Verserzählung von der Liebe eines fortschrittlichen Studenten zu einer schottischen Bauerntochter, auch heute noch eine gewisse Frische aufweist, ist für den heutigen Leser eher ideengeschichtlich als durch seine Lyrik von Interesse. Nur ein einziger weiterer Lyriker erreicht annähernd einen ähnlichen Rang wie Tennyson und Browning: MATTHEW ARNOLD (1822-88) (vgl. S. 735 ff.). Von seinem Alter und den Erscheinungsjahren seiner ersten Dichtungen her gehört er zwar schon fast der nächsten viktorianischen Dichtergeneration an. Es verbindet ihn jedoch mit Tennyson und Browning, daß er eine romantische Auffassung vom Wesen der Dichtung und eine kritische Distanz gegenüber seiner eigenen Zeit mit der Überzeugung von der sozialen und moralischen Verpflichtung des Dichters zu verbinden suchte. Auch er mußte deshalb in seinen Dichtungen häufig Kompromisse schließen, die es ihm ebenfalls noch ermöglichten, ein größeres Publikum zu erreichen. Allerdings war er dieser Kompromisse schließlich überdrüssig, und so schrieb er in den letzten Jahrzehnten seines Lebens keine Lyrik mehr. Erst recht war die mittviktorianische Dichtergeneration zu diesen Kompromissen durchweg nicht mehr bereit.

3. Die Präraffaeliten und die mittviktorianische Versdichtung Ein neuer Abschnitt englischer Dichtung beginnt mit dem 1848 von Dante Gabriel Rossetti, J. E. Millais und Holman Hunt gegründeten Malerbund der Pre-Raphaelite Brotherhood.11 Der Bund war ein Protest gegen die viktoria10

The Poems of A. H. C, edd. F. L. Mulhauser and J. Turner, OET (Oxf., 1974 [' 1951]); Selected Prose Works of A. H. C., ed. B. B. Trawick (University, Ala., 1964); Teilsammlungen auch in FP, OET, OSA; The Correspondence of A. H. C., 2 Bde., ed. F. L. Mulhauser (Oxf., 1957). - K. Chorley, A. H. C. (Oxf., 1962); P. Veyriras, A. H. C. (Paris, 1964). - W. E. Houghton, The Poetry of C. (New Haven, 1963); E. B. Greenberger, A. H. C. (Cambr., Mass./Lo., 1970); W. V. Harris, A. H. C, TEAS (N. Y., 1970); R. K. Biswas, A. H. C. (Oxf., 1972). 11 W. E. Fredeman, PRism: A Bibliocritical Study (Cambr., Mass., 1965). - The PRs in Literature and Art, ed. D. S. R. Weiland (Freeport, N. Y., 1969 ['l953]), auch pb.;The PR Poem, ed. J. D. Merritt (N. Y., 1966), auch pb.; The PRs and Their Circle, ed. C. Y. Lang (N. Y., 1975 [ 968]), auch pb.; weitere Sammlung in EUL. - PR Diaries and Letters, ed. W. M. Rossetti (Westmead, 1971 [ 900]); Ruskin, Rossetti, PRism:

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nischen Kunstschulen, denen die Präraf faeliten vorwarfen, sie ließen die künstlerische Eigenart verkümmern, indem sie Raffaels vollendete Technik lehrten. Statt dessen sollte die Unbefangenheit und Schlichtheit Giottos, Ghibertis und anderer Vorläufer Raffaels vorbildlich sein. Damit verbunden wurde die Forderung nach getreuer Wiedergabe des Gegenstandes bis in die kleinsten Einzelheiten sowie die Tendenz zu symbolhafter Darstellung, und dementsprechend kennzeichnet viele präraffaelitische Gemälde eine eigenartige Verknüpfung von Realismus und Artifizialität. Weniger offensichtlich sind dagegen die gemeinsamen Züge, welche die im Umkreis des Präraffaelitismus entstandene Dichtung verbinden. Dies liegt zum einen daran, daß die Dichter nach Temperament, Herkunft und Weltsicht außerordentlich verschieden waren, zum anderen daran, daß sie dem Bund unterschiedlich eng und verschieden lange angehörten. Gemeinsam ist ihnen jedoch, daß sie in einer sehr viel größeren Distanz zur zeitgenössischen Gesellschaft standen als Tennyson, Browning und Arnold, daß sie alle mehr oder weniger die gesellschaftlichen Konventionen ignorierten und daß sie noch weit enger als Tennyson und Browning an die Dichtung der Romantik anknüpften. Dabei gingen sie, wenn man einmal von Swinburne absieht, dessen Vorbild eher Shelley war, meist von Keats aus. Vor allem führte man die Keatssche Verfeinerung sinnlichen Fühlens weiter, aber auch die Vermischung bildender und sprachlicher Kunst: Man dichtete Gemälde und malte Gedichte. Erst recht aber stellten diese Dichter in den Augen ihrer viktorianischen Kritiker eine zusammenhängende Gruppe dar, der wiederholt der Konventionsbruch, der Ästhetizismus und nicht zuletzt die Sinnlichkeit ihrer Dichtung vorgeworfen wurde - wie z. B, in Robert Buchanans notorischer Schrift The Fleshly School of Poetry (1872). In literarischer Hinsicht tonangebend war im Präraffaelitismus DANTE GABRIEL RossETTi12 (1828-82), der einen starken persönlichen Einfluß auf Papers 1854 to 1862, ed. W. M. Rossetti (N. Y., 1971 [ 899]); The PRB Journal: W. M. Rossetti's Diary of the PRB 1849-53, ed. W. E. Fredeman (1975). - T. E. Welby, The Victorian Romantics 1850-1870 (1966 [ 929]); W. Gaunt, The PR Tragedy (1975 [ 942]), als The PR Dream (N. ., 1966 ['1943]), auch pb.; G. H. Fleming, Rossetti and the PRB (1967); J. D. Hunt, The PR Imagination 1848-1900 (1968); T Hilton, The PRs (1970); J. Nicol!, The PRs (1970); G. H. Fleming, That Ne'er Shall Meet Again: Rossetti, Millais, Hunt (1971); L. Hönnighausen, PR und Fin de Siecle (München, 1971); L. Stevenson, The PR Poets (Chapel Hill, N. C, 1972); A. Williamson, Artists and Writers in Revolt: The PRs (Newton Abbot, 1976); J. Harding, The Pre-Raphaelites (1977). - PRism, ed. J. Sambrook, CCE (Chicago, 1974). 12 The Works of D. G. R., ed. W. M. Rossetti, 2 Bde. (N. ., 1972 [ 911]); Poems, ed. O. Doughty (1957 u. ö.); Teilsammlungen auch in EL, OSA, WC; Letters of D. G. R., edd. O. Doughty and J. R. Wahl, 4 Bde. (1965-67). - R. Papers: 1862 to 1870, ed. W. M. Rossetti (1903). - H. C. Marillier, D. G. R.: An Illustrated Memorial of His Art and Life (1899); O. Doughty, D. G. R. (New Haven/Lo., 1960 [ 949]); S. Weintraub, Four R.s: A Victorian Biography (N. ., 1977); B. Dobbs and J. Dobbs, D. G. R. (1977). - R. L. Megroz, D. G. R. (N. Y., 1971 l11928]); R. D. Johnston, D. G. R., TEAS (N. Y., 1969); R. M. Cooper, Lost on Both Sides: D. G. R.: Critic and Poet (Athens, O., 1970); R. R. Howard, The Dark Glass: Vision and Technique in the Poetry of D. G. R. (Athens, O., 1972); J. Nicoll, D. G. R. (1975); F. S. Boos, The Poetry of D. G. R. (The Hague, 1976).

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die anderen dem Bund nahestehenden Dichter ausübte und der auch die gemeinsame Zeitschrift The Germ beherrschte, die 1850 gegründet wurde, aber nur wenige Monate am Leben blieb. Der Abstammung nach Italiener und geschult an der Dichtung Dantes und seiner Zeitgenossen, kultivierte er in den beiden Sammlungen Poems (1870) und Ballads and Sonnets (1881) eine in der englischen Literatur seltene Sorgfalt der Form und einen fremdartigen, sinnlichkeitsbeladenen Schönheitskult. Bereits vollendet erschien dieser neue Stil in dem frühen Gedicht The Blessed Damozel, das 1849, im gleichen Jahr wie das Künstlerbekenntnis Hand and Soul, Rossettis bedeutendste Prosaschrift, geschrieben wurde und dessen erste Fassung 1850 erschien. Das Thema der aus dem Himmel nach dem Geliebten auf Erden sich sehnenden Jungfrau ist durch die leuchtend reinen Farben, die nahezu romanische Wortbetonung und die Miltonsche Vergegenwärtigung der Unendlichkeit des Raumes zu heiliger Feierlichkeit gesteigert, nicht aber vergeistigt. Wie in den späteren Sonetten handelt es sich um ein die Trennung von Stoff und Geist aufhebendes Hin- und Hergleiten, durch das Körper und Seele der Frau sich entsprechen wie Klang und Bedeutung eines Wortes. Dies ist auch das Grundthema der Sonettfolge The House of Life (1870), die vollendeter als je zuvor im Englischen den Klang und die Stimmung des Petrarca-Sonetts hervorruft. In dem müd majestätischen, von den rasch ablaufenden elisabethanischen Sonetten so völlig verschiedenen Gang, dem dunkel funkelnden Glanz der Worte und der gleichsam weihrauchgeschwängerten Luft klingen die alten Themen von der rätselhaften Macht der Schönheit, der Allgewalt der Liebe und der Vereinsamung im Angesicht des Todes neu. Sie werden geheimnisvoll durch eine erlebnissüchtige Mystik, die im Frauenkörper den Ausdruck der eigenen Seele sucht, Tod und Liebe wie Herbst und Reife in eins zusammenfaßt und eine sinnliche Erfüllungshoffnung ins Jenseitige hinüberträgt. Die Bedeutung von Rossettis Balladen ist dagegen in erster Linie historisch. Von einer in einfacherem Ton geschriebenen Ballade wie Sister Helen (1853), wo die Frau den Geliebten durch das Schmelzen eines Wachsbildes vernichtet, bis zu Eden Bower (1870), einer Ballade über die Verführung Evas durch Lilith, und zu seiner besten Ballade Troy Town (1870) werden sie von einer gesucht romantischen Stimmung beeinträchtigt, die einem Geschmack entspricht, der sich seitdem wandelte. Gabriels Schwester, CHRISTINA GEORGINA RossETTi13 (1830-94), stand dem Bruder an künstlerischer Sicherheit und Formempfinden nicht nach. Wie etwa die Sonettfolge Monna Innominata (1881) zeigt, beherrschte auch sie die 13

The Poetical Works of C. G. R., The Globe Edn., ed. W. M. Rossetti (N. Y., 1971 [ 904]); The Complete Poems of C. R., ed. W. R. Crump (Baton Rouge, La., 1979); Selected Poems of C. G. R., ed. M. Zaturenska (N. Y., 1970); Teilsammlungen auch in FP, WC; The Family Letters of C. G. R., ed. W. M. Rossetti (N. Y., 1973 [ 908]). M. Zaturenska, C. R. (N. Y., 1949); M. Sawtell, C. R.: Her Life and Religion (1955); L. M. Packer, C. R. (Berkeley/Cambr., 1963). - T. B. Swann, Wonder and Whimsy: The Fantastic World of C. R. (Francestown, N. H., 1960); R. A. Bellas, C. R., TEAS (Boston, 1977).

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Sonettform meisterhaft. Im Gegensatz zu der Dichtung ihres Bruders besitzt ihre Dichtung eine Schlichtheit und Liedhaftigkeit, die nicht zuletzt durch ihre Vorliebe für echoartige Reimklänge hervorgerufen wird. Diese Liedhaftigkeit zeichnet vor allem ihre kurzen weltlichen Stücke aus (When I am dead. . .; Summer is gone . . ., 1862), belebt aber auch die Märchenerzählung Gobiin Market (1862) und die lange Ballade The Prince's Progress (1866). Christina konnte heitere, ja kindliche Liedchen schreiben (Sing Song, 1872), aber im Mittelpunkt ihres Gefühlslebens stand die Beschäftigung mit dem Tod und eine ernste und zu Schwermut neigende Frömmigkeit, die sie zur ersten religiösen Dichterin Englands macht. Wie ihre Vorläufer im 17. Jahrhundert, aber völlig selbständig, spricht sie den anglokatholischen Glauben aus, grübelnd (Passing Away, 1862), demütig (The Lowest Place, 1866) oder verzückt (The Heart knoweth its own Bitterness, postum 1896). Kein anderer der dem präraffaelitischen Kreise nahestehenden Dichter hat einen ähnlichen schlichten und einheitlichen Ausdruck der Frömmigkeit gefunden, und sie stellt daher in diesem Kreis eine Ausnahme dar. Zugleich Dichter und Maler wie Dante Gabriel Rossetti war auch dessen Bewunderer WILLIAM MoRRis14 (1834-96). Schon früh wurde er von Rossetti zur Malerei präraffaelitischen Stils geführt. 1857 malte er zusammen mit seinem Freund Edward Burne-Jones die Debating Hall der Oxford Union mit Arthur-Fresken aus. Bald darauf ging er zum Kunsthandwerk über und gründete die Firma Morris, Marshall, Faulkner & Co. (1861), die ästhetisch wertvolle Tapeten, Glasmalereien, Teppiche und Möbel statt der industriell gefertigten Massenware unter das Volk bringen wollte und die für den Jugendstil richtungsweisend wurde. 1890 gründete er die Druckerei Keimscott Press, in der u. a. der bibliophile, mit kostbaren Illustrationen versehene Keimscott Chaucer erschien (1896). Auch in seinen Vorträgen (gesammelt unter dem Titel Hopes and Fears for Art, 1882) forderte er eine ästhetische Erneuerung der im Industriezeitalter häßlich gewordenen Welt und bekämpfte die mit der Renaissance anhebende Spaltung in „intellektuelle" und „dekorative" Kunst. Mehr und mehr richtete sich sein Aktivismus auch auf politische Ziele. So forderte er eine wirtschaftliche Neuordnung, die den Wettbewerb durch das „korporative" System ersetzte (z. B. in seinem Vortrag Art and Democracy); er trat der sozialistischen Democratic Federation bei (1883) 14

The Collected Works of W. M., ed. M. Morris, 24 Bde. (N. Y., 1966 ['1910-15]); W. M.: Artist, Writer, Socialist, ed. M. Morris, 2 Bde. (N. Y., 1966 [ 936]); Political Writings of W. M., ed. A. L. Morton (1973); Teilsammlungen in EUL, FP, OSA, PB, WC; The Letters of W. M. to His Family and Friends, ed. P. Henderson (1950). J. W. Mackail, The Life of W. M., WC (1950 [ 899]); E. P. Thompson, W. M. (1961 [ 955]); R. P. Arnot, W. M. (1964); J. Lindsay, W. M.: His Life and Work (1975); F. Kirchhoff, W. M. (Boston/Lo., 1979). - P. Thompson, The Work of W. M. (Lo./N. Y., 1977 [ 967]); P. Meier, W. M. (Hassocks/Atlantic Highlands, N. J., 1978 [ 972]); K. Honnef, Dichterische Illusion und gesellschaftliche Wirklichkeit: Zur ästhetischen Struktur und historischen Funktion der Vers- und Prosaromanzen im Werk von W. M. (München, 1978); C. H. Oberg, A Pagan Prophet: W. M. (Charlottesville, Va., 1978).

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und gründete die Socialist League. Im Dienst dieser Ziele stehen auch die Erzählungen A Dream of John Ball (1886-87) und News from Nowhere (1890), die infolge ihres utopischen Charakters optimistischer sind als andere Werke dieser Zeit, die der gleichen Gattung angehören (vgl. S. 808). Auch in den wirklichkeitsfernen Prosaromanzen der letzten Lebensjahre, die mit der im Sagaland spielenden Erzählung The House of the Wolf ings (1888) einsetzen, ist die Stimme des Reformers spürbar. Von seinen politischen Zielen ist allerdings in Morris' Versdichtung, die durchweg vor seiner Wendung zum Sozialismus entstand, wenig zu spüren. Er mied in ihr - wie Keats und Tennyson, von denen er stark beeinflußt wurde - die Welt der Gegenwart und verlegte ihren Schauplatz häufig ins Mittelalter. Während aber für seine Vorbilder das Mittelalter nur einen ästhetischen Traum bedeutete, war es für ihn eine Lebensganzheit, die er mit allen Sinnen zu erfassen und neuzubeleben versuchte. Seine erste diesem Ziel gewidmete Dichtung ist die auf Chaucer, Froissart und Malory aufbauende Gedichtsammlung The Defence of Guenevere and Other Poems (1858), die von Pater als 'the first typical specimen of aesthetic poetry' gepriesen wurde, die aber darüber hinaus die mittelalterliche Welt mit einer neuen Eindringlichkeit und Schärfe zum Leben erweckt und sich auf diese Weise von der herrschenden introspektiven Lyrik abkehrt. Wohl finden sich Rossettischen Bildern ähnliche Stimmungsphantasien wie The Tune of Seven Towers. Daneben steht aber z. B., in sicher gehandhabten Terzinen, ein Gedicht harter, unsentimentaler Leidenschaft wie The Defence of Guenevere oder die in kurzen Reimpaaren von Verrat und Brutalität berichtende Ballade The Haystack in the Floods. Bis zur Veröffentlichung des nächsten Gedichtbandes vergingen neun Jahre, die kunstgewerblicher Tätigkeit gewidmet waren. Die Rückkehr zur Dichtung zeigt dann eine Wandlung: Das Jugendlich-Sprühende ist verloren, aber dem steht ein Gewinn an Weite gegenüber. Formal äußert sich dieser Wandel darin, daß Morris von dem früheren Balladenstil zur epischen Erzählung überging. Zugleich erweiterte sich seine Thematik: Waren es im Frühwerk vor allem Konflikte zwischen Männern und Frauen, so tritt jetzt die Beziehung des einzelnen zur Gesellschaftsordnung in den Vordergrund. Hinzu kommt das mittelalterliche Motiv der 'Quest', der Irrfahrt des Helden auf der Suche nach dem Heiligen, sei es nun symbolisiert im Gral oder, in die Sprache der Antike übersetzt, im Goldenen Vlies. So wird in dem Versroman The Life and Death of Jason (1867) die Geschichte von Jason und Medea mit dem Questmotiv verknüpft, wobei die Gestalt der Medea, deren bedingungslose Liebe das Fatum bewußt auf sich nimmt, in die moderne Welt versetzt erscheint. Ebenfalls dem Vorbild Chaucers verpflichtet ist The Earthly Paradise (1868-70), eine Folge von 24 Verserzählungen, die nach der Art der Canterbury Tales durch Prolog und Zwischenstücke zusammengefügt werden. Diese Rahmenhandlung berichtet, wie um die Mitte des 14. Jahrhunderts eine Schar von nach dem irdischen Paradiese suchenden Männern das damals von

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der Pest (wie heute von der Industrie) verseuchte Europa verließ, um nach langer Irrfahrt Frieden und Heimat auf einer fernen Insel zu finden. Die Seefahrer tauschen mit den Inselbewohnern sodann Geschichten aus, zwei in jedem Monat des Jahres. Der Rahmen dient dabei allerdings nicht wie bei Chaucer zur Profilierung der Erzähler, sondern gleicht eher den Morrisschen Wandteppichen, auf denen das allgemeine Muster beherrschend ist und die Gesichter der Menschen nicht mehr ausgeführt sind als Kleidung, Landschaft und Hausrat. Das Flächige ist also Absicht: Es kommt Morris nicht auf die Individualität der Figuren, sondern auf die Verlebendigung des längst vergangenen „irdischen Paradieses" an. Die Geschichten sind in ihrem künstlerischen Wert ungleich. Die von den aus Griechenland stammenden Inselbewohnern erzählten klassischen Geschichten sind nicht so gut wie die Erzählungen der Seefahrer, in denen Morris - ähnlich wie Richard Wagner in Deutschland - seinen Zeitgenossen die Welt der nordischen Mythen und Sagas zu erschließen suchte. Vor allem The Lovers of Gudrun (nach der isländischen Laxdaela Saga} ist künstlerisch vollendet und macht in seiner Gestaltung der heroisch-fatalistischen Charaktere deutlich, daß Morris von der nordischen Literatur nicht nur literarisch, sondern auch weltanschaulich angesprochen wurde. Es war daher nur konsequent, daß Morris von den Verserzählungen des Earthly Paradise zum heroischen Epos überging, das schon Tennyson und Browning erstrebt hatten. Nachdem er sich durch die Übersetzung der Aeneis (1875) und nordischer Sagas (Three Northern Love Stones, 1875) auf diese Gattung vorbereitet hatte, schrieb er mit Sigurd the Volsung, and the Fall of the Niblungs (1876-77) ein Epos, in dem die Härte und Herbheit der germanischen Welt und romantisierende Tendenzen auf eine eindrucksvolle Weise miteinander verbunden sind. Morris' Schaffen ist zwar ungleichartiger und weniger vollendet, aber auch vielseitiger als die Kunst der Rossettis. Allerdings gelang es ihm kaum, sein politisches Engagement in seine Lyrik umzusetzen; und so bleibt The Pilgrims of Hope (1885), eine nach seiner Wendung zum Sozialismus geschriebene, in der Gegenwart spielende Verserzählung mit sozialkritischer Zielsetzung, in seinem Schaffen eine seltene Ausnahme. Indem aber in seiner Versdichtung fast nur der Romantiker und nicht der Revolutionär zum Ausdruck kommt, entfernt diese sich nicht grundsätzlich von den Zielvorstellungen der Präraffaeliten. Obwohl Individualist und Einzelgänger, stand auch ALGERNON CHARLES SwiNBURNE 15 (1837-1909), der Morris und Rossetti während seines Studiums 15

The Complete Works of A. C. S. [Bonchurch Edn.], edd. E. Gosse and T. J. Wise, 20 Bde. (1925-27); The Novels of A. C. S., ed. E. Wilson (N. Y./Toronto, 1962); S. äs Critic, ed. C. K. Hyder (1972); Teilsammlungen auch in FP, PB, WC; The S. Letters, ed. C. Y. Lang, 6 Bde. (New Haven, 1959-62). - G. Lafourcade, S. (N. Y., 1967 [ 932]); J. O. Füller, S. (1968); P. Henderson, S. (Lo./N. Y., 1974); D. Thomas, S. (1979). - T. E. Welby, A Study of S. (Port Washington, N. Y., 1973 [ 926]); S. C. Chew, S. (Hamden, Conn., 1966 [ 929]); J. A. Cassidy, A. C. S., TEAS (N. Y., 1964); R. L. Peters, The Crowns of Apollo: S.'s Principles of Literature and Art (Detroit, 1965); J. J. McGann, S. (Chicago, 1972); D. G. Riede, S. (Charlottesville, Va., 1978).

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in Oxford kennenlernte, den Präraffaeliten nahe. Im Gegensatz zu Rossetti und Morris trat er als Maler nicht hervor; aber sein literarisches Schaffen war fast so vielseitig wie das von Morris und blieb ebenfalls nicht auf die Lyrik beschränkt. Eine kurze Erwähnung verdient seine Prosa; und zwar nicht so sehr seine Romane - Love's Cross Currents (1877, veröff. 1901) und Lesbia Brandon (ca. 1859-66, veröff. 1952) - als vielmehr seine literarische Kritik. Erstaunlicherweise sind seine besten kritischen Essays Romanschriftstellern gewidmet: Dickens, Charlotte Bronte und besonders Reade und Collins (u. a. in Essays and Studies, 1875). Seine Bücher über elisabethanische Dramatiker - Chapman (1875), Shakespeare (1880) und Ben Jonson (1889) sowie einzelne der Aufsätze in Essays and Studies - liefern zwar keine gerecht abwägenden Urteile, sondern sind höchst subjektiv und von einer persönlichen Begeisterung des Autors getragen, waren aber in ihrer Zeit als Entdeckungen zu werten. Allerdings tendiert Swinburne in ihnen dazu, dichterisch schöne Stellen herauszuheben, die Handlung und alles eigentlich Dramatische dagegen außer acht zu lassen. Es überrascht daher nicht, daß seine Dramen durchweg zutiefst undramatisch sind. Dies gilt bereits für die beiden 1860 veröffentlichten Blankversdramen Rosamond und Queen-Mother. Auch seine Maria Stuart-Trilogie ist ein Buchdrama, das in seinem ersten und besten Teil, Chastelard (1865), sowie im dritten Teil, Mary Stuart (1881), zwar eine gewisse dramatische Spannung aufweist, dessen zweiter Teil, Bothwell (1874), aber infolge des Bestrebens, eine übergroße Fülle geschichtlichen Stoffs unterzubringen, unförmig lang geraten ist und die Gesamthandlung vollends aus den Augen verliert. Erst recht sind Swinburnes spätere Dramen ohne Bedeutung. Kalt und künstlich schleppen sie eine erschöpfte Tradition weiter und enthüllen gerade in ihren gelegentlichen lyrischen Glanzstellen Swinburnes Mangel an dramatischem Sinn. Gerade seine Dramen zeigen, daß Swinburnes Begabung in erster Linie eine lyrische war; und so offenbaren die Chorgesänge in Atalanta in Calydon (1865) erstmals den großen Lyriker. Natürlich steht dieses Lesedrama trotz der von der griechischen Tragödie übernommenen äußeren Form griechischem Geist fern. Statt dessen enthüllt die Anklage des Chors, die in den schockierenden Worten The supreme evil, God' gipfelt, die moderne Position eines Freidenkers, wie sie sich in der viktorianischen Zeit bisher nur selten so offen zu artikulieren wagte. Swinburnes einflußreichstes Buch war die erste Folge der Poems and Ballads (1886), die er dem Maler Burne-Jones widmete und durch die, wie der Entrüstungssturm bewies, auch weiteren Kreisen die Ablösung der zahmen Romantik Tennysons durch die schwindsüchtig glühende, morbide Romantik Swinburnes bewußt wurde. Das Buch ist einzigartig durch die Fülle und Eindringlichkeit der Metren wie durch die herausfordernden Themen. Zwei Lukrezia-Gedichte, A Ballad of Life und A Ballad of Death, verkünden eine amoralische, ästhetische Weltanschauung, die von Gautier und dem in Ave

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atque Vale (1867) gefeierten Baudelaire beeinflußt ist und in der Studie über Blake (1867-68) programmatischen Ausdruck erhält. In den ProserpinaGedichten ist ein verklärtes Heidentum an die Stelle des Christentums gesetzt; in Phaedra und Anactoria wird eine unheilige Antike zum Ausdruck wilder und unnatürlicher Leidenschaft; und das beherrschende Liebesmotiv, das The Triumph of Time und A Leave-Taking anschlagen, wird in der berüchtigten Folge Laus Veneris, Dolores und Faustine, beeinflußt durch den Marquis de Sade, ins Sadistische und Masochistische gewandt. In Song before Sunrise (1871) ließ Swinburne dann sein politisches Engagement zu Wort kommen und schrieb unter dem Eindruck seiner Begeisterung für Garibaldi, Mazzini und die italienische Freiheitsbewegung leidenschaftliche Verse gegen Monarchie und Autokratie, Kirche und Priestertum. Seinen späteren Versuchen, engagierte Lyrik zu schreiben, war aber kein Erfolg mehr beschieden; und auch die Poems and Ballads. Second Series (1878) mit ihren zahlreichen literarischen Motiven und verstechnischen Experimenten wirkt nicht mehr so überwältigend wie die erste Folge. Wie Morris wandte sich Swinburne in seiner Spätzeit epischen Dichtungen zu. In Tristram of Lyonesse (1882) versuchte er, einen lang vertrauten Stoff gegen Tennysons und Arnolds verharmlosende Behandlung in seiner ursprünglichen Kraft zu erneuern. Dabei gelang es ihm im Gegensatz zu seinem Vorbild Morris nicht, den Faden der Erzählung festzuhalten; aber trotz aller Längen ist das Epos nicht ohne Größe. Morris hat Swinburne einmal mit den Worten charakterisiert: "Swinburne's work seems to me founded on literature, not on nature". Dieser Satz gilt mehr oder weniger für alle Präraffaeliten; am meisten trifft er aber in der Tat auf die artifizielle, experimentelle, an literarischen Reminiszenzen reiche Lyrik Swinburnes zu. Durch ihre Künstlichkeit, ihre Durchbrechung der viktorianischen Konventionen und ihren konsequenten Ästhetizismus hat sie in ihrer Zeit sowohl begeisterte Zustimmung als auch empörte Ablehnung hervorgerufen und die Lyrik des Fin de siecle entscheidend beeinflußt. Die Reaktion des heutigen Lesers auf Swinburne wird dagegen kühler ausfallen. Auch einige weitere Dichter dieser Generation standen den Präraffaeliten mehr oder weniger nahe. Hier wären u. a. Richard Watson Dixon16 (1833-1900), Philip Bourke Marston17 (1850-87) und Arthur William Edgar O'Shaughnessy18 (1844-81) zu nennen, vor allem aber George Meredith, der zeitweise ein Haus mit Rossetti und Swinburne teilte und dessen Lyrik zum Teil ebenfalls eine Affinität zur Lyrik der Präraffaeliten aufweist.19 16

Poems by the Late Rev. Dr. R. W. D., ed. R. Bridges (1909); The Correspondence of G. M. Hopkins and R. W. D., ed. C. C. Abbott (Oxf., 1935 u. ö.). - J. Sambrook, A Poet Hidden: The Life of R. W. D. (Lo./N. Y., 1962). 17 The Collected Poems of P. B. M., ed. L. C. Moulton (1892). - C. C. Osborne, P. B. M. (1926). 18 Poems of A. O., ed. W. A. Percy (New Haven, 1923). - L. C. Moulton, A. O.: His Life and His Work with Selections from His Poems (1894); O. Brönner, Das Leben A. O. s (Heidelberg, 1933). 19 Zu Meredith vgl. S. 803 ff.

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Abschließend verdienen noch drei kleinere Dichter eine kurze Erwähnung, die die literarische Bühne ungefähr zur gleichen Zeit wie die Präraffaeliten betraten. Der erste ist EDWARD FiTzGERALD20 (1809-83), der sich vor allem als Übersetzer einen Namen machte. Berühmt wurde er durch seine Übersetzung des Rubaiyat von Omar Khayyäm (1859, überarbeitet 1868 und 1872), die von Rossetti bekannt gemacht wurde. Wie vorher Calderons Dramen und später den Ödipus hat FitzGerald das persische Urbild durch Kürzungen, Änderungen und Umstellungen in die Sprache und den Geist seiner Zeit übertragen. Er hat auch die einzelnen Vierzeiler zu einer Folge verbunden und in der Durchführung des Versschemas mit der reimlosen dritten Zeile wie in der sicheren Wahl der in Sinn und Klang passenden Worte ein eigenes Kunstwerk geschaffen, das ursprünglicher als manche selbständige Dichtung dem Empfinden des 19. Jahrhunderts Ausdruck verlieh. Ganz andersartig ist das Schaffen von COVENTRY PATMORE21 (1823-96), der außer präraffaelitischen Neigungen eine starke emotionale Religiosität besaß, welche ihn zum Oxford Movement und zum Katholizismus führte und welche die Mitte und Einheit seines Wesens und seines Werkes ausmacht. Sein damals populärstes Buch war The Angel in the House (1854-63), in dem Patmore das Lob ehelicher Liebe und häuslichen Glückes singt. Die diesem Buch zugrunde liegende Philosophie, die in der ehelichen Liebe die Wurzel aller Menschen- und Gottesliebe sieht, erfuhr dann in der Odensammlung The Unknown Eros (1877-90) eine weitere Steigerung zur Mystik hin. Auch im Schaffen JAMES THOMSONS22 (1834-82) spielen religiöse Fragen eine zentrale Rolle, wenngleich an die Stelle der Glaubensgewißheit Patmores nun Zweifel und Pessimismus getreten sind. Zwar finden sich auch in seinem Schrifttum heitere Stücke (Sunday at Hampstead, 1866; Sunday up the River, 1869); und die eine unterdrückte Romantik offenbarenden Dichtungen The Naked Goddess (1876) und Weddah and Om-el-Bonain (1871-72) zeigen die Vielseitigkeit seines Werks. Mit den Versen To Our Ladies of 20

The Variorum and Definitive Edn. of the Poetical and Prose Writings of E. F., ed. G. Bentham, 7 Bde. ( . ., 1967 [ 902]); Selected Works, ed. J. Richardson (1962); Teilsammlung auch in EL; wiss. Ausg.: The Letters of E. F., edd. A. M. and A. B. Terhune, 4 Bde. (Princeton, 1978-80); Letters and Literary Remains of E. F., ed. W. A. Wright, 7 Bde. (1902-03). - T. Wright, The Life of E. F., 2 Bde. (1904); A. M. Terhune, The Life of E. F. (New Haven, 1947). - I. B. H. Jewett, E. F., TEAS (Lo./Boston, 1977). 21 The Works of C. P., New Uniform Edn., 5 Bde. (1907 [ 897]); The Poems of C. P., ed. F. Page, OSA (1949); The Memoirs and Correspondence of C. P., ed. B. Champneys, 2 Bde. (1900). - D. Patmore, The Life and Times of C. P. (1949 [' 1935]); E. J. Oliver, C. P. (N. Y., 1956). - F. Page, P. (1933); J. G. Reid, The Mind and Art of C. P. (1957). 22 The Poetical Works of J. T. (B. V.), ed. B. Dobell, 2 Bde. (1895); Poems and Some Letters of J. T, ed. A. Ridler (1963); Teilsammlungen in OET, OSA. - H. S. Salt, The Life of J. T. (B. V.): With a Selection from His Letters and a Study of His Writings (Port Washington, N. Y., 1972 ['1889]). - I. B. Walker, J. T (B. V.) (Westport, Conn., 1970 [ 950]); C. Vachot, J. T (Paris, 1964); W. D. Schaefer, J. T. (B. V.) (Berkeley, 1965).

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Death (1863) und dem Prosagedicht A Lady of Sorrow (1867) erhielt jedoch der Pessimismus volle Aussprache. Der Zweifel am Glauben, den Matthew Arnold bändigen konnte, wurde bei ihm zur herausfordernden Gottesleugnung, und The City of Dreadful Night (1874), der sich das spätere Gedicht Insomnia (1884) anreiht, ist voll abgründiger Verzweiflung. Aber dieser Verzweiflung verlieh er großartigen Ausdruck. In der Reihe von Visionen, die durch metrische Abwechslung vor Eintönigkeit bewahrt werden, ersteht einem Alpdruck gleich die Stadt der Hoffnungslosen, die allnächtlich die Seele umfängt, greifbar nah in der bis in Einzelheiten klaren Schau und unentrinnbar in der jeden Hoffnungsstrahl ausschließenden allgemeinen Nacht alles menschlichen Lebens. Damit nimmt Thomson bereits die Grundstimmung vieler spätviktorianischer Gedichte vorweg.

4. Die spätviktorianische Versdichtung23 Während die Erneuerung des viktorianischen Dramas in den neunziger Jahren fast einem Paradigmawechsel gleichkam und während der Übergang zum spätviktorianischen Roman von einem tiefgreifenden Wandel vor allem der Weltsicht begleitet war, ging die Generation von Lyrikern, die etwa in den siebziger Jahren mit ihrem Schaffen begann, kaum grundlegend neue Wege. Dies war vor allem deshalb nicht erforderlich, weil Ästhetizismus, Pessimismus und die Neigung zum formalen Experiment, wie sie für den spätviktorianischen Roman bestimmend wurden, in der Versdichtung bereits mit den Präraffaeliten, d. h. über 20 Jahre früher, in England Einzug gehalten hatten. Auch in der spätviktorianischen Zeit blieb also die auf die Romantik zurückgehende Tradition in der Lyrik bestimmend und kulminiert in der Lyrik des Fin de siecle. Trotzdem wies die Versdichtung gerade dieser Periode eine außerordentlich große Vielfalt auf. So steht der „viktorianische" Optimismus eines W. E. Henley unvermittelt neben dem Pessimismus eines Thomas Hardy, die Klassizität eines Robert Bridges neben der Modernität seines Freundes Gerard Manley Hopkins, die religiöse Dichtung eines Francis Thompson und die philosophische eines John Davidson neben der Nonsense-Lyrik eines Lewis Carroll oder den komischen Bab Ballads von W. S. Gilbert. Am geringsten ist der Einfluß der romantischen Dichtung im Schaffen von ROBERT SEYMOUR BRIDGES24 (1844-1930), der die Romantik und die präraffaelitische Kunst ablehnte und einem klassizistischen, in besonderem Maße 23

B. Charlesworth, Dark Passages: The Decadent Consciousness in Victorian Literature (Madison, Wis., 1965); M. Shmiefsky, Sense at War With Soul: English Poetics 1865-1900 (The Hague, 1972). 24 Poetical Works of R. B., 6 Bde. ( . ., 1976 ['1898-1905]); Sammlung in OSA; Collected Essays, Papers &c. of R. B., ed. M. M. Bridges, 30 Bde. (1927-36). - F. E. B. Young, R. B. (N. Y., 1970 [ 914]); A. J. Guerard, Jr., R. B. (N. Y., 1965 [ 942]); E. Thompson, R.B. (1945 [ 944]); J.-G. Ritz, R. B. and G. M. Hopkins 1863-1889 (1960). - D. E. Stanford, In the Classic Mode: The Achievement of R. B. (1979).

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formorientierten Kunstideal huldigte. Der bekannteste Teil seines Werks sind die lyrischen Gedichte (zum Teil zusammengefaßt in den Shorter Poems, 1890 und 1893), unter denen die naturbeschreibenden an erster Stelle stehen. Dabei ist das Ungewöhnliche gemieden zugunsten klassisch allgemeiner Beschreibung, die durch die Form Endgültigkeit erhält. Bewegung und Stille des Schneefalls in London Snow, das Licht huschender Wolkenschatten in The Downs wird ebenso vergegenwärtigt wie das Verebben des Sturms in Who has not walked upon the shore. . . Gleich sicher bewegt Bridges sich von der anspruchsvollsten Form (etwa in The Garden in September) bis zur Balladeneinfachheit von The north wind came up yesterday und zum kleinen Augenblicksbild (Spring goeth all in white oder The upper skies are palest blue). Dabei finden sich in seiner Lyrik auch formale und prosodische Experimente, die nicht zuletzt durch seine Beschäftigung mit Milton (aus der das Buch Milton's Prosody, 1893, erweitert 1901 und 1921, erwuchs) und seine Freundschaft mit Hopkins angeregt wurden. So hat er vor allem Versuche im quantitierenden Vers (Poems in Classical Prosody, 1912) unternommen, die jedoch weit behutsamer als Hopkins' metrische Wagnisse ausfielen. Wie die der meisten seiner Zeitgenossen sind auch Bridges' Versdramen, die der Lyrik näher als der Dramatik stehen, heute weitgehend vergessen. Eine vollendete Verserzählung gelang ihm dagegen mit dem Apuleius nacherzählten Märchen Eros and Psyche (1885). Wie das Motto aus Keats' Ode to Psyche bestätigt, suchte er darin dem vielbehandelten Stoff seinen geistigen Gehalt wiederzugewinnen, aber auf anderem Wege als Keats: Während der Romantiker die äußere Handlung völlig aufgab und Psyche zum Symbol vergeistigte, unterbaute Bridges die Erzählung von der Entwicklung der Liebe, zu der Plato den Anstoß gegeben hatte, durch die Berücksichtigung moderner psychologischer Aspekte. Den Abschluß seines sich über sechs Jahrzehnte erstreckenden Schaffens bildet das Testament of Beauty (1929), eine epische Dichtung, in der Bridges auf der Grundlage der platonischen Philosophie ein weltanschauliches und ästhetisches System entwickelt. Die Leistung von Robert Bridges ist bereits zu seinen Lebzeiten hinreichend gewürdigt worden, nicht zuletzt durch seine Ernennung zum Poeta laureatus; heute hat sie jedoch kaum mehr als historische Bedeutung. Die Gedichte seines gleichaltrigen Freundes GERARD MANLEY HOPKINS25 25

Werke, die im Text ohne Jahresangabe genannt werden, wurden erstmals in den Poems, ed. R. Bridges (1918) veröffentlicht. - The Poems of G. M. H., edd. R. Bridges, W. H. Gardner and N. H. Mackenzie (41967 [ 918]), auch OP; Poetry and Prose, ed. K. E. Smith (Exeter, 1976); Teilsammlungen auch in NOES, OP, PB; Teilausg. der Briefe durch C. C. Abbott, 3 Bde. (1955-56 ['1935-38]); The Journals and Papers of G. M. H., edd. H. House and G. Storey (1959 [ 937]); The Sermons and Devotional Writings of G. M. H., ed. C. Devlin (1959 [ 937]). - J. Pick, G. M. H.: Priest and Poet (1966 [ 942]), auch OP; B. Bergonzi, G. M. H. (1977); P. Kitchen, G. M. H. (1978). - W. H. Gardner, G. M. H. 1884-1889, 2 Bde. (1961 ['1944-49]); The Kenyon Critics [F. R. Leavis et al.], G. M. H.: A Critical Symposium (1975 [ 945]); A. Heuser, The Shaping Vision of G. M. H. (1958); J.-G. Ritz, Le Poete G. M. H., S. J. 1844-1889: L'Homme et l'oeuvre (Paris, 1963); J. Hunter, G. M. H. (1966); W. S. Johnson, G. M. H. (Ithaca, N. Y., 1968); E. W. Schneider, The Dragon in the Gate:

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(1844-89) wurden dagegen in ihrer Entstehungszeit nur von wenigen verstanden, und die meisten von ihnen wurden erst 1918 von Bridges veröffentlicht, hatten dann aber bald einen um so nachhaltigeren Einfluß. Vor seinem Eintritt in den Jesuitenorden (1868) beschloß er, seine frühen, unter dem Einfluß von Keats, Pater und den Präraffaeliten stehenden Gedichte zu verbrennen; allerdings hob er die korrigierten Fassungen einiger Gedichte auf. Erst nach siebenjähriger Pause schrieb er auf Wunsch seines Ordensvorgesetzten ein Gedicht auf fünf franziskanische Nonnen, die im Bismarckschen Kulturkampf Deutschland verlassen mußten und auf der Fahrt nach Amerika nahe der Themsemündung mit der „Deutschland" untergingen (The Wreck of the Deutschland, entstanden 1875), worin Hopkins zu einer neuen philosophischen Haltung, einer neuen Diktion und einem neuen Rhythmus gelangte. Für Hopkins, wie für Duns Scotus, vollendete sich das Wesen der Natur im Individuum; das Individuelle war ihm im Vergleich mit dem Allgemeinen die höhere Form des Daseins. Hopkins sah in den sinnlichen Formen der Dinge den Reflex ihres geheimnisvoll einmaligen Charakters, die Ausprägung ihrer individuellen Wesensgestalt, was er mit 'inscape' bezeichnete (ein Begriff, der sich mit Duns Scotus' 'haecceitas' berührt); und das Wirksamwerden der 'inscape' im persönlichen Erleben nannte er 'instress'. Für diese neue Schau bedurfte er einer neuen Sprache, die er durch Intensivierung und Verdichtung der Umgangssprache schuf. Alle ausdrucksschwachen Wörter wie Relativpronomina und Artikel schied er aus, zerbrach die herkömmliche Syntax, suchte einen vorwiegend nominalen Wortschatz mit gewagten Zusammensetzungen (z. B. 'hailropes', 'wolfsnow', 'fallowbootfellow', 'dapple-dawndrawn falcon', 'dappled-with-damson-west'), womit er eine sprachschöpferische Ausdruckssteigerung erreichte und das 'inscaping' dem Leser vermittelte. Einer solch intensiven Eindruckskunst war das herkömmliche romanische Versschema mit dem regelmäßigen Wechsel von betonten und unbetonten Silben nicht gemäß. Hopkins entwickelte daher den 'sprung rhythm', der wie die stabreimende germanische Langzeile die Gipfel heraushebt und eine variable Füllung der Takte durch unbetonte Silben gestattet. Dabei ist zur inneren Bindung der Verse nicht nur Alliteration verwandt, sondern auch Assonanz und Konsonanz, und neben dem Endreim finden sich Binnenreime, übergreifende Reime und Reimbrechung. Auf The Wreck of the Deutschland folgte eine Gruppe von Gedichten, welche die Natur als Gottesoffenbarung begreifen (Hurrahing in Harvest; Inversnaid, 1893; Pied Beauty; God's Grandeur, 1895; The Windhover; Spring; The Starlight Night, 1912) und die dabei eine so erstaunliche sinnliche Frische ausstrahlen, daß sie künstlerisch seinen menschliche Schicksale Studies in the Poetry of G. M. H. (Berkeley, 1968); P. L. Mariani, A Commentary on the Complete Poems of G. M. H. (Ithaca, N. Y., 1970); J. F. Cotter, Inscape: The Christology and Poetry of G. M. H. (Pittsburgh, 1972); A. G. Sulloway, G. M. H. and the Victorian Temper (1972); J. Milroy, The Language of G. M. H. (1977). - H., ed. G. Hartman, TCV (Englewood Cliffs, N. J., 1966).

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schildernden Dichtungen (z. B. Felix Randal; Harry Ploughman; Tom's Garland) wohl überlegen sind. Den Höhepunkt von Hopkins' Schaffen bilden die 'terrible sonnets' seiner letzten Jahre, die, in der Dubliner Einsamkeit geschrieben, um das dunkle Geheimnis göttlichen Handelns ringen. Auch in den düstersten Stunden stößt er die Verzweiflung zurück (Carrion Comfort), aber er fühlt sich als Time's eunuch' und schreit nach dem lebensspendenden Regen (Thou art indeed just, Lord}. In diesen an Donne erinnernden Sonetten hat Hopkins' Dichtung ihren überzeugendsten Ausdruck gefunden, und die früheren Manierismen sind überwunden, obwohl sein Stil auch hier noch manchmal etwas Überladenes und Gesuchtes besitzt. Wenn auch das Werk dieses Künstlers, der Dichter, Maler und Musiker zugleich war, nicht umfangreich ist und eine verhältnismäßig geringe Breite des dichterischen Erlebens zeigt, so ist doch seine Bedeutung für die Dichtung des 20. Jahrhunderts kaum zu überschätzen. Vor allem beeinflußte er die englische Lyrik der dreißiger Jahre, und zwar nicht so sehr durch seine religiöse Thematik, sondern vor allem durch die formale Erneuerung der Dichtung, die er auch in seinen höchst bedeutsamen Briefen erörterte und durch die er wesentliche Züge der modernen Lyrik vorwegnahm, obwohl die viktorianische Komponente in seiner Lyrik nicht unterbewertet werden darf. Einige weitere spätviktorianische Dichter sind nicht so sehr bemerkenswert dadurch, daß sie wie Bridges und vor allem Hopkins mit lyrischen Formen und Metren experimentierten, sondern dadurch, daß sie ihre Lyrik zum Ausdruck ihrer Philosophie machten. Der bedeutendste dieser Lyriker ist Thomas Hardy, in dessen Romanen seine pessimistisch-tragische Weltsicht jedoch noch schonungsloser in Erscheinung tritt (s. S. 809 ff.). Wie Hardy gestaltete auch ALFRED EDWARD HousMAN 26 (1859-1936) eine tragische Lebensschau in scheinbar einfachster Sprache und schlichten balladenartigen Metren, wobei auch er ländliche Themen bevorzugte. Housmans meist wenige Zeilen umfassenden Gedichte (veröffentlicht in zwei schmalen Bändchen A Shropshire Lad, 1896, und Last Poems, 1922, mit einer Nachlese More Poems, 1936) schildern dramatische Vorfälle und Geschichten in kurzen Anspielungen und gedanklicher Zusammendrängung. Wie Marvell benutzte er das Pastoral zur Betrachtung der Vergänglichkeit und Enttäuschung des Lebens, der die stoisch-tapfere Gesinnung das Gegengewicht hält. Housmans gelehrte Zurückhaltung ist dagegen seinem Altersgenossen FRANCIS THOMPSON27 (1859-1907) völlig fremd. Typisch für ihn ist sein stärkstes 26

Complete Poems, Centennial Edn., edd. T. B. Haber and B. Davenport (N. Y., 1959); Teilsammlung auch in PB; The Classical Papers of A. E. H., edd. J. Diggle and F. R. D. Goodyear, 3 Bde. (1972); The Letters of A. E. H., ed. H. Maas (Cambr., Mass./Lo., 1971). - G. L. Watson, A. E. H. (1957); M. M. Hawkins, A. E. H. (Chicago, 1958); R. P. Graves, A. E. H. (1979). - O. Robinson, Angry Dust: The Poetry of A. E. H. (Boston, 1950); N. Marlow, A. E. H. (1958); O. Skutch, A. E. H. (1960); T. B. Haber, A. E. H„ TEAS (N. Y., 1967); B. J. Leggett, The Poetic Art of A. E. H. (Lincoln, Nebr., 1978). - A. E. H, ed. C. Ricks, TCV (Englewood Cliffs., N. J., 1968). 27 The Works of F. T, ed. W. Meynell, 3 Bde. (N. Y., 1973 [ 913]); The Poems of F. T, ed. W. Meynell, OSA (1955 [ 937]); Literary Criticisms by F. T, ed. T. L. Connolly

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Gedicht, The Hound of Heaven (1890); in dieser Ode formt er, in einer glühenden, an Crashaw erinnernden Bildlichkeit, den Augustinischen Gedanken der von Gott verfolgten Seele zum dichterischen Sinnbild der geistigen Ruhelosigkeit seiner Epoche. Mit einer wilden Hingabe an die Natur, in der er „Gottes titanische Urliturgie" vernimmt, stellt er in Corymbus for Autumn (1891) heidnische Sinnlichkeit in den Dienst seiner Religion, und mit ähnlicher Weltoffenheit feiert er die Sonne in der Ode to the Setting Sun (1889) und in der Orient Ode (zuerst in New Poems, 1897). Wie Shelley, den er in einem dithyrambischen Aufsatz feierte, ging Thompsons Leben in der Dichtung auf, sie war ihm Lebensenthüllung und Erdendeutung; aber ihm fehlte zu sehr das gedankliche Gerüst, so daß die Bildlichkeit seiner Lyrik oft zum Wortschwall entartete. So ist sein Ruhm schon heute verblaßt, und seinen anspruchslosen Poems on Children (in Poems, 1893) steht man weniger zweifelnd gegenüber als seinen großen Oden. JOHN DAVIDSON28 (1857-1909), dessen Hauptbeschäftigung der Journalismus war, wandte sich dagegen erst spät philosophischen Themen zu. Er begann mit außerordentlich frischen Naturgedichten und Balladen (Ballads and Songs, 1894) sowie mit zeitkritischer Lyrik, wobei er sich zu seiner satirischen Wirklichkeitsdarstellung oft auch der Umgangssprache bediente (Fleet Street Eclogues, 1893 und 1896; siehe besonders: Thirty Bob a Week, 1894). Außer in Holiday (1906) kommt dann aber „reine" Dichtung bei Davidson kaum noch zu Wort; und der Nachdruck seiner Lyrik liegt in seinen späteren Werken auf der philosophischen Auseinandersetzung. Neben die Gegenwartsthemen der Fabriken und des Großstadtelends tritt nämlich jetzt die Forderung nach einer neuen Dichtung, aus der eine neue Welt hervorgehen sollte; und er selbst fühlte sich berufen, diese den alten Gott und die alten Sittengesetze stürzende Weltenwende herbeizuführen. Das ist der Ideengehalt seiner Blankvers-Testamente, deren letztes, The Testament of John Davidson (1908), sich zu einem Übermenschentum im Geiste Nietzsches bekennt. Auch die individualistische Lyrik von WILFRID SCAWEN BLUNT 29 (1840-1922; The Love Sonnets of Proteus, 1880) hat die Verkündigung eines neuen Menschheitsglaubens zum Ziel. Die nun folgenden Dichter können ebenfalls nicht eigentlich als Gruppe bezeichnet werden. Trotzdem weisen sie deutliche Gemeinsamkeiten auf: Viele ihrer Gedichte kennzeichnet ein Optimismus und Aktivismus, der gerade (Westport, Conn., 1975 [ 948]); The Letters of F. T., ed. J. E. Walsh (N. Y., 1969). E. Meynell, The Life of F. T. (Lo./N. Y., 1926 [ 913]); J. Walsh, Strange Harp, Strange Symphony: The Life of F. T. (N. Y., 1967). - K. W. Kraemer, F. T. (Münster, 1956); P. Danchin, F. T: La Vie et l'oeuvre d'un poete (Paris, 1959). 28 The Poems of J. D., ed. A. Turnbull, 2 Bde. (Edinb., 1973). - R. D. Macleod, J. D. (Folcroft, Pa., 1970 [M 957]); J. B. Townsend, J. D. (New Haven, 1961). - C. V. Peterson, J. D., TEAS (N. Y., 1972). 29 The Poetical Works of W. S. B., 2 Bde. (N. Y., 1968 [ 914]); My Diaries 1888-1914, 2 Bde. (1922 ['1919-20]). - E. Finch, W. S. B. (1938); E. Longford, A Pilgrimage of Passion: The Life of W. S. B. (1978). - M. J. Reinehr, Sr., The Writings of B. (Milwaukee, 1941).

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gegen Ende der viktorianischen Zeit sonst selten ist. Am deutlichsten kommt diese Haltung zum Ausdruck bei Robert Louis Stevenson, der gegen die Weltmüdigkeit seiner Zeit kämpfte, sowie bei Rudyard Kipling, dessen Gedichte oft durch eine militärische Thematik sowie durch eine vaterländische oder imperialistische Tendenz gekennzeichnet sind. Da ihr Werk jedoch seinen Schwerpunkt in der erzählenden Prosa hat, wird auch ihre Lyrik an anderer Stelle (S. 813 f. und S. 815 f.) besprochen. Ferner gehört zu diesen Dichtern WILLIAM ERNEST HENLEY30 (1849-1903), der die Gabe lauten Sanges pflegte und der mit seinem Bekenntnis am the master of my fate' in seinem Gedicht Invictus (1888) den Gegenpol zu dem Pessimismus und zur Resignation vieler Gedichte seiner Zeit bildet. Eher wird man allerdings heute seinem Zyklus In Hospital (1888) mit seiner unverblümten Häßlichkeitsdarstellung und seinen reimlosen, von Heine beeinflußten Versen eine gewisse Bedeutung zuerkennen. Unzweifelhaft als Gruppe empfanden sich dagegen jene Dichter, die man bereits in ihrer Zeit mit den Begriffen 'fin de siecle' und 'decadence' assoziierte.31 Ihr Schaffen fällt durchweg in die neunziger Jahre, denn die meisten Künstler, die dieser Gruppe nahestanden, starben um die Jahrhundertwende: Aubrey Beardsley 1898, Oscar Wilde und Ernest Dowson 1900 und Lionel Johnson 1902. Zwei Einflußlinien laufen in den Dichtern dieser Gruppe zusammen: der Einfluß der englischen romantischen Tradition, vor allem von Keats und Swinburne, und der Einfluß der französischen Symbolisten. Das Ergebnis war ein Ästhetizismus, der den der Präraffaeliten und Walter Paters noch steigerte und der von den Mitgliedern der Gruppe als Protest gegen den Utilitarismus der Zeit verstanden wurde, dem aber eine verzweifelte Suche nach weltanschaulichem Halt gegenüberstand: Dowson und Johnson konvertierten (wie vor ihnen Patmore und Hopkins) zum Katholizismus; und Wilde meinte einmal, daß die Katastrophe seines Lebens nicht geschehen sei, wenn sein Vater seine Konversion zum Katholizismus zugelassen hätte. Der bekannteste Dichter dieser Gruppe ist natürlich Oscar Wilde, dessen Lyrik allerdings viel Epigonales an sich hat und an Bedeutung hinter seinen Dramen zurücktritt (s. S. 784 ff.). Ebenso bezeichnend für diese Gruppe ist ERNEST CHRISTOPHER DowsoN32 (1867-1900), das dichterische Gegenbild des 30

The Works of W. E. H., 7 Bde. (N. Y., 1973 [ 908]); Some Letters of W. E. H., ed. V. Payen-Payne (1933). - K. Williamson, W. E. H. (1930); J. Connell [i. e. J. H. Robertson], W. E. H. (Port Washington, N. Y., 1972 [ 949]). - J. H. Buckley, W. E. H. (N. Y., 1971 [ 945]); J. M. Flora, W. E. H., TEAS (N. Y., 1970); A. Guillaume, W. E. H. et son groupe (Paris, 1973). 31 Poets of the 'Nineties', ed. D. Stanford (1965); Sammlung auch in PB. - J. M. Munro, The Decadent Poetry of the Eighteen-Nineties (Beirut, 1970); J. A. Henderson, The First Avant-Garde 1887-1894 (1972). Vgl. dazu auch S. 718, Anm. 5. 32 The Poetical Works of E. C. D., ed. D. Flower (St. Clair Shores, Mich., 1971 [ 934]); The Poems of E. D., ed. J. M. Longaker (Philad., 1968 [ 962]); Poems and Prose of E. C. D., ed. A. Symons (N. Y., 1932); The Letters of E. D., edd. D. Flower and H. Maas (1967). - J. M. Longaker, E. D. (Philad./Lo., 1967 [ 945]); L. Dakin, E. D. (N. Y., 1972). - T. B. Swann, E. D., TEAS (N. Y., 1964).

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Zeichners Aubrey Beardsley (1872-98), der auch das Boheme-Dasein mit seinen Vorbildern Verlaine und Rimbaud teilte. Die Bedeutung seines Werkes, das auch Romane, Novellen und die von Beardsley illustrierte dramatische Phantasie The Pierrot of the Minute (1897) umfaßt, beruht auf den lyrischen Gedichten, in deren gemeißelter Form sich der Einfluß der lateinischen Lyrik äußert. Durch solche klassische Vollendung erhalten die alten Themen des bittersüßen Eros, der Liebe von gestern, der Vergänglichkeit des Lebens und der müden Entsagung erneute Bedeutung. Die Abwandlungen des Alexandriners in dem Gedicht Non sum qualis eram ... (1896) und des Grayschen Vierzeilers in den Nuns of the Perpetual Adoration (1891) bringen nicht nur die etwas gezierte Klage und wehmütige Sehnsucht nach Frieden zu überzeugendem Ausdruck, sie bedeuten auch eine neue Musik, die dieser letzten englischen Romantik einen gedämpften Silberglanz verleiht. Dowsons Gedichte hat ARTHUR SYMONS" (1865-1945) 1905 herausgegeben, und sein Vorwort ist der beste Lebensbericht geblieben; denn Symons, der sich später der Prosa und Kritik (z. B. The Symbolist Movement in Literature, 1899) zuwandte, hat die mit Sünde und Beichte spielende und nur das Ich geltenlassende Empfindungswelt der Tart pour l'art'-Bewegung der neunziger Jahre als einer der Wortführer mitgemacht und auch in seinen Gedichten (z. B. Days and Nights, 1889) nachdrücklicher als etwa Oscar Wilde oder Alfred Lord Douglas34 (1870-1945) gestaltet. LIONEL JOHNSON35 (1867-1902) schließlich, der mit Dowson und William Butler Yeats den Pariser Boheme-Sitten nachahmenden 'Rhymers' Club' gründete, war auch ein Beiträger der von Beardsley illustrierten Zeitschriften The Yellow Book (1894-97) und The Savoy (1896), welche die neunziger Jahre kennzeichnen. Seine kritischen Schriften (z. B. The Art of Thomas Hardy, 1894) sowie seine Dichtung sind weniger vom Geist des Ästhetizismus dieser Zeit geprägt. Statt dessen bestimmten die klassische Kunst und die Überlieferung der katholischen Kirche in starkem Maße den Gehalt seiner Dichtung, deren Stil etwas Priesterliches hat und wie in Stein geschnitten anmutet. Manche seiner Gedichte, wie z. B. The Dark Angel (1893), sind in ihrem Stil allerdings weniger zurückhaltend-klassisch und gestalten mit großer Intensität das Sündenbewußtsein einer gespaltenen Seele.

"The Collected Works of A. S., 9 Bde. (N. Y., 1973 [ 924]) [enthält nur einige der zahlreichen literarkritischen Arbeiten Symons']; Poetry & Prose, ed. R. V. Holdsworth (Cheadle/Chester Springs, Pa., 1974), auch pb. - R. Lhombreaud, A. S. (1963). - T. E. Welby, A. S. (1925). 34 The Complete Poems of Lord A. D. (1928); Collected Satires of Lord A. D. ( . ., 1976 [' 1926]); The Autobiography of Lord A. D. (N. Y., 1977 [ 929]); Oscar Wilde: A Summing-up, ed. D. Hudson (N. Y., 1977 [ 940]). - W. Freeman, The Life of Lord A. D. (1948); M. C. Slopes, Lord A. D.: His Poetry and Personality (1949). 35 The Poetical Works of L. J. [ed. E. Pound] (N. Y., 1976 [ 915]); Post Liminium: Essays and Critical Papers, ed. T. Whittemore (Freeport, N. Y., 1973 ['1911]); Reviews & Critical Papers, ed. R. Shafer (Freeport, N. Y., 1973 [ 921]); The Art of Thomas Hardy (N. Y., 1965 [ 894]). - A. W. Patrick, L. J. (Paris, 1939).

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Siebtes Buch: Die viktorianische Zeit

Mit dem Tode der meisten ihrer Mitglieder zerfiel die Gruppe; und die Überlebenden - denen Yeats nicht fernstand - wandten sich anderen Stilen zu.

5. Die amerikanische Versdichtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts36 Dieser überwältigenden Fülle des lyrischen Schaffens im viktorianischen England haben die Vereinigten Staaten in dieser Zeit weniger gegenüberzustellen. Die meisten der bis etwa 1810 geborenen Dichter wie z. B. Bryant, Longfellow und Whittier gehören der etwas verspäteten romantischen Bewegung Neuenglands an und wurden bereits im Romantik-Kapitel besprochen (s. S. 631 ff.). Auch E. A. Poe, dessen Lyrik größere Geltung beanspruchen kann, ist ähnlich wie der junge Tennyson nur als Erbe der Romantik zu verstehen. Unter den Lyrikern der folgenden Generation finden sich ebenfalls nur wenige, die internationalen Rang erreichten. Immerhin zeichnen sich diese Dichter durchweg durch eine ihnen eigene Thematik und Form aus. Im Gegensatz zur viktorianischen Lyrik mit ihren oft kunstvollen und an eine lange Tradition anknüpfenden Formen sind die Formen dieser Dichter einfacher und weniger traditionsbelastet; und anders als die Viktorianer suchten die amerikanischen Lyriker dieser Generation ihre Themen weniger in der Kunst, im Mythos und in der Geschichte, sondern in der Weite, in der Vielfalt der Natur und der Menschen ihres Landes sowie in den beherrschenden politischen Themen ihrer Zeit. Gerade die Lyriker, deren Werk heute kaum noch von Bedeutung ist, waren in ihrer Zeit besonders beliebt. Zu diesen damals erfolgreichen Autoren gehört etwa JOHN HAY37 (1838-1905) mit seinen salopp-mundartlichen Pike County Ballads (1871), die wie ein frischer Wind anmuten und auf Kipling vorausdeuten. Ebenfalls der Nachromantik zuzuordnen sind die nahezu gleichzeitigen East and West Poems (1871) von Bret Harte (s. S. 824 f.), die in ihrer Zeit begeistert aufgenommen wurden. JOAQUIN MiLLER38 (18417-1913) verdankte dagegen dem Grellen und Lauten seiner Dichtung seine kurze Berühmtheit. Der unstete Wanderer ließ seine Pacific Poems (1871) und seine Songs of the Sierras (1871) in London drucken; in der ruhigen Luft der eng36

R. H. Walker, The Poet and the Gilded Age: Social Themes in Late 19th Century American Verse (N. Y., 1969 [ 963]); A. Kramer, The Prophetic Tradition in American Poetry 1835-1900 (Rutherford, N. J., 1969). 37 The Complete Poetical Works of J. H., Household Edn., ed. C. L. Hay (N. Y., 1970 [ 916]). - W. R. Thayer, The Life and Letters of J. H., 2 Bde. (Millwood, N. Y., 1973 ['1915]) [enthält auch Briefe]; T. Dennett, J. H. (Port Washington, N. Y., 1963 [ 933]). - K. Thurman, J. H. as a Man of Letters (Reseda, CaL, 1974); K.J. Clymer, J. H. (Ann Arbor, 1975); R. L. Gale, J. H., TUSAS (Boston, 1978). 38 The Complete Poetical Works of J. M. (N. Y., 1972 [ 897]). - M. S. Peterson, J. M. (Stanford/Lo., 1937); M. M. Marberry, Splendid Poseur: J. M. (N. Y., 1953). - O. W. Frost, J. M., TUSAS (N. Y., 1967).

II. Die Versdichtung

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lischen siebziger Jahre glaubte man, darin den großen Atem der Präriewinde zu spüren, und pries den Autor als 'the Byron of Oregon'. Aber abgesehen von einigen Canon- und Bergbeschreibungen und Anrufungen der Sierras, des Pazifik und des Missouri, aus denen ein intensives Erleben der Landschaft des amerikanischen Westens spricht, ist Millers Dichtung rhetorisch, effekthaschend und theatralisch und ermangelt der sicheren Beherrschung der handwerklichen Grundlagen. In der langen Folge von Gedichtbänden, in denen Miller den Ton seiner ersten Sammlungen, die so erfolgreich waren, fortsetzte und wiederholte, wurde das Unschöpferische seines Talents peinlich offenbar. Ebenso populär beim damaligen Publikum wie die farbenfrohe und robuste Exotik Millers war die aufdringliche Empfindsamkeit der Lyrik von JAMES WHITCOMB RiLEY39 (1849-1916). Seine dem Durchschnittsempfinden entgegenkommenden, meist im 'Hoosier'-Dialekt seiner Heimat Indiana geschriebenen Gedichte - von der ersten berühmten Sammlung The Old Swimmin' -Hole, and 'Leven More Poems (1883) über Afterwhiles (1887) und OldFashioned Roses (1888) bis Morning (1907) und Old School Day Romances (1909) - geben Rückblicke auf die gute alte Zeit seiner Jugend, malen dörfliches Leben als Idyll und bieten einen optimistischen Lebensausblick. Sie sind aber frei von der Nachromantik eines Miller oder Harte und durch sichere, ja kunstvoll-einfache Technik ausgezeichnet. Wiederum anders ist die Lyrik des Journalisten EUGENE FiELD40 (1850-95), dessen Gedichte in Zeitungen erschienen und erst später gesammelt publiziert wurden und der in seiner Zeit durch den humoristischen Ton, aber auch durch die Sentimentalität seiner Gedichte beliebt wurde. Von all diesen in ihrer Zeit erfolgreichen, aber im Bereich der akzeptierten Konventionen verbleibenden Lyrikern verdient SIDNEY LANIER"' (1842-81), der bedeutendste Dichter des Südens seit Poe, heute am ehesten noch eine gewisse Beachtung. Als Prosaschriftsteller trat er mit einem Roman über seine Erlebnisse im Bürgerkrieg (Tiger-Lilies, 1867) und mit seinem Reisebuch Florida (1875) hervor, als Dichtungstheoretiker mit seinen Vorlesungen The Science of English Verse (1880), in denen er die Anwendung musikalischer Gesetze auf die Poesie und eine quantitierende Grundlage der Verse 39

The Complete Works of J. W. R., Biographical Edn., ed. E. H. Eitel, 6 Bde. (N. Y., 1973 [ 913]); The Poems and Prose Sketches of J. W. R., Homestead Edn., 16 Bde. (N. Y., 1897-1914); Letters of J. W. R., ed. W. L. Phelps (N. Y., 1973 [ 930]). - M. Dickey, The Youth of J. W. R. und The Maturity of J. W. R. (Indianapolis, 1919 und 1922). - J. C. Nolan, H. Gregory and J. T. Farrell, Poet of the People: An Evaluation of J. W. R. (Bloomington, 1951); P. Revell, J. W. R., TUSAS (N. Y., 1970). 40 Collected Works, 10 Bde. (N. Y., 1896). - C. H. Dennis, E. F.'s Creative Years (St. Clair Shores, Mich., 1971 [M924]); S. Thompson, Life of E. F. (N. Y., 1927). - S. Thompson, E. F., 2 Bde. (N. Y., 1974 [ 901]). 41 Wiss. Ausg.: The Centennial Edn. of the Works of S. L., ed. C. R. Anderson, 10 Bde. (Baltimore, 1945) [Bde. 7-10: Briefe]. - E. Mims, S. L. (Boston, 1905); A. H. Starke, S. L.: A Biographical and Critical Study (Chapel Hill, N. C., 1933); L. Lorenz, The Life of S. L. (N. Y., 1935). - E. W. Parks, S. L.: The Man, the Poet, the Critic (Athens, Ga., 1968); G. De Bellis, S. L, TUSAS (N. Y., 1972).

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fordert. Seine Poems (1877 und 1884) setzen diese theoretischen Anschauungen in die dichterische Praxis um. Die Nachbildung verschiedener musikalischer Sätze und Instrumente in The Symphony (1875) erinnert an Dryden, wie auch seine Odenform eine Reminiszenz an die englische Lyrik des 17. Jahrhunderts darstellt; aber der Gehalt, die Gleichsetzung der musikalischen Themen mit den Themen 'business', 'love' und 'humanity', ist mit der traditionellen Form nicht recht vereinbar. Überzeugender ist die Symbolik dagegen in dem balladenhaften Song of Chaltahoochee (1883), in dem das lyrische Ich den Lauf seines Lebens dem des Flusses Chattahoochee vom Berg zum Meer gleichsetzt, und in der großen Ode an die Natur The Marshes of Glynn (1878). Diese Gedichte - wie auch die amerikanische Freiheitsrhapsodie Psalm of the West (1876) - stellen einen Höhepunkt dar, aber in einer Dichtart, die heute der Vergangenheit angehört. Nur zwei Dichter brachen mit den lyrischen Konventionen ihrer Zeit und wiesen neue Wege: Walt Whitman und Emily Dickinson. Sie waren daher wie Whitman - in ihrer Zeit umstritten oder - wie Emily Dickinson - unbekannt, übten dafür aber eine um so nachhaltigere Wirkung auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts aus und fanden auch erst nach ihrem Tode - und bis heute eine breite Leserschaft. Völlig eigen und amerikanisch ist WALT WHITMAN42 (1819-92), dessen dichterisches Werk erst aus seinem erratischen Lebens- und Bildungsgang voll verständlich wird. Abkömmling englischer, holländischer und walisischer Vorfahren, Sohn eines kleinen Handwerkers aus einem Dorf bei Brooklyn, übte er viele Berufe aus, war nacheinander Setzer, wandernder Schulmeister, demokratischer Parteimann, Journalist und Regierungsbeamter und lernte auf diese Weise auch den Süden (New Orleans) und den mittleren Westen (Chicago) kennen. Als Herausgeber und Mitarbeiter zahlreicher Zeitungen und Magazine verfaßte er Artikel, Traktate, konventionelle Gedichte und sentimentale Geschichten. Vor allem aber lieferten diese Wanderjahre das Roh42

The Complete Writings of W. W., The Book Lover's Camden Edn., 10 Bde. (N. Y., 1973 [M902]); wiss. Ausg.: The Collected Writings of W. W., edd. G. W. Allen and E. S. Bradley, 15 Bde. (N. Y., 1961-80) [Bde. 1-6: Briefe]; Ausg. der Leaves of Grass in CIS, EL, ML, NAL. - E. Holloway, W. (N. Y., 1969 [ 926]); G.W. Allen, The Solitary Singer: A Critical Biography of W. W. (N. Y., 1967 [ 955]); R. Asselineau, The Evolution of W. W., 2 Bde., transl. R. P. Adams and R. Asselineau (Cambr., Mass., 1960, 1962); B. Marinacci, O Wondrous Singer: An Introduction to W.W. (N. Y., 1970); M. Mendelson, Life and Work of W. W. (Moskau, 1977). - C. B. Willard, W.'s American Fame (Providence, R. L, 1950); J. Beaver, W. W. (Morningside Heights, N. Y., 1951); A. E. Briggs, W.W. (N. Y., 1952); R. Chase, W.W. Reconsidered (N. Y., 1955); G.W. Allen, W.W. äs Man, Poet, and Legend (Carbondale, 111., 1961); J.E. Miller, W. W., TUSAS (N. Y., 1962); H. J. Waskow, W. (Chicago, 1966); E. H. Miller, W. W.'s Poetry (Boston, 1968); J. Snyder, The Dear Love of Man: Tragic and Lyric Communion in W. W. (The Hague, 1975); H. Aspiz, W. W. and the Body Beautiful (Urbana, 111., 1980). - G. W. Allen, The New W. W. Handbook (N. Y., 1975 ['1946]; W. the Poet, ed. J. C. Broderick (Belmont, Cal., 1962); W., ed. R. H. Pearce, TCV (Englewood Cliffs, N. J., 1962); G. W. Allen, A Reader's Guide to W. W. (N. Y., 1970).

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material, aus dem er die zwölf Gedichte formte, die 1855 als Leaves of Grass erschienen, die er ständig umformte und vermehrte, so daß die dritte Auflage (1860) 456 Seiten füllte, die sechste (1876) auf zwei Bände anwuchs, bis schließlich die endgültige Fassung in der 'Author's edition' von 1882 eine Sammlung seiner ganzen Dichtung darstellte. Geprägt wurden diese Gedichte vor allem durch unmittelbares Erleben, durch Unterhaltungen mit Omnibuskutschern und Fährleuten in Brooklyn, durch Eindrücke aus der New Yorker Boheme und überhaupt durch den Lebensraum der Großstadt, aber auch durch das Erlebnis der Weite Amerikas. Literarische Einflüsse treten demgegenüber trotz Whitmans umfassender und wahlloser Belesenheit zurück; insbesondere hinterließ aber die Lektüre von Carlyle und Emerson in seinem Werk starke Spuren. Von seinen Prosaschriften sind u. a. seine Memoranda During the War (1875) erwähnenswert, in denen er seine Erlebnisse als Sanitäter im Bürgerkrieg niederschrieb und die er später seinem formlosen autobiographischen Bericht Specimen Days and Collect (1882) einverleibte; ferner der Democratic Vistas (1871) betitelte Traktat, in dem er die Vereinbarkeit seines demokratischen und seines individualistischen Ideals zu beweisen sucht. In Poesie und Prosa huldigte Whitman der Überzeugung, daß er eine Mission zu erfüllen und den Geist der Demokratie auszubreiten habe. Da er in sich den Glauben an die demokratische Gleichheit aller mit dem individualistischen Aufbegehren gegen die Gesellschaft verband, oder, anders ausgedrückt, da er den Durchschnitts- und den Übermenschen in sich vereinigt glaubte, besang er sich selbst als Symbol der amerikanischen Menschheit, z. B. in seinem Song of Myself (1855), der zugleich durch eine extreme Ichbezogenheit und durch eine der Fülle der Welt zugewandte Extravertiertheit gekennzeichnet ist. Neben dem Universum seines eigenen Ichs kehren in Whitmans Lyrik einige weitere Themenkreise immer wieder. Ungewöhnlich in seiner Zeit waren seine Liebesgedichte, so etwa die bis zu physiologischer Beschreibung gehenden Gedichte in Children of Adam (ursprünglicher Titel: Enfans d'Adam; darin unter anderem / Sing the Body Electric mit seinem D. H. Lawrence vorwegnehmenden Körperbewußtsein) oder die oft als Ausdruck homoerotischen Erlebens interpretierten Gedichte in Calamus (wie Children of Adam zuerst in der Ausgabe der Leaves of Grass von 1860). Ebenso charakteristisch für ihn sind seine politischen Gedichte, in denen er seinen Fortschrittsglauben und sein Freiheits-, Gleichheits- und Brüderlichkeits-Evangelium verkündete, in denen es ihm aber durchweg mehr um die Aussprache subjektiven Erlebens als um die konkrete Gestaltung politischer Themen ging (vgl. auch When Lilacs Last in the Dooryard Bloom'd, 1865, seine Elegie auf den Tod Lincolns). Weitere Themen seiner Lyrik sind die Welt der Großstadt, der Massen, der Arbeit und der Technik (vgl. To a Locomotive in Winter, 1876), aber auch die Weiträumigkeit des amerikanischen Landes, die 'frontier' (vgl. Song of the Open Road [ursprünglicher Titel: Poem of the Road], 1856, und Pioneers! O Pioneers!, 1865) sowie Natur und Gott. Seine Naturgedichte waren lange von einem pantheistischen Materialismus

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getragen; erst im Alter wandte er sich einer idealistischen Weltsicht zu, erhoffte vom Einfluß des Orients eine neue Spiritualität (vgl. das zur Eröffnung des Suez-Kanals geschriebene Gedicht Passage to India, 1871) und gab auch seinen extremen Individualismus auf. Whitman, der Religion, Kameradschaft, Liebe und Demokratie aus alten, enggewordenen dogmatischen Fassungen befreien und erlösen wollte, hat auch den Vers aus den herkömmlichen Formen des Reims und Rhythmus zu hymnischem Ausdruck „befreit". Den 'liquid billowy waves' vergleicht er seine Verse, deren Einheit nicht mehr Versfüße, sondern Sinngruppen sind und denen die oft schier endlosen Sätze, die unregelmäßigen Langzeilen und Strophenlängen, die häufigen Redundanzen und katalogartigen Aufzählungen sowie die Verwendung verschiedenartigsten Wortmaterials eine anarchische Vitalität verleihen. Er erreichte damit eine neue Ausdruckskraft, nicht selten aber auf Kosten der künstlerischen Ausgewogenheit und Dichte; und gerade bei manchen seiner Nachfolger wurde seine Dichtart - insbesondere seine Vorliebe für freie Rhythmen - zu einem Freibrief für künstlerische Unzulänglichkeit. Zu seinen Lebzeiten hat Whitman den erhofften Erfolg nicht gefunden, und außer Emerson und Swinburne haben sich nur wenige führende Dichter zu ihm bekannt. Darüber hinaus schockierte er seine Zeitgenossen durch seine Liebesgedichte; er verlor aus diesem Grunde seine Stelle im Innenministerium. Seine eigentliche Wirkung setzte vielmehr erst im 20. Jahrhundert ein und ist auch heute noch unabsehbar. Sein Bruch mit der großen Tradition der englischen Dichtung, aber auch Amerika mit seiner unbändigen Dynamik, seiner weltenfüllenden Mannigfaltigkeit und seiner diesseitsgerichteten Kraft als das beherrschende Thema seiner Lyrik - all das wurde richtungweisend für die junge amerikanische Dichtung bis auf den heutigen Tag, von Hart Crane und Stephen Vincent Benet über William Carlos Williams bis hin zu Allen Ginsberg. Wie die Versdichtung Walt Whitmans stand auch das Werk EMILY DICKINSONS43 (1830-86) im Gegensatz zu den lyrischen Konventionen ihrer Zeit und nahm Tendenzen des 20. Jahrhunderts vorweg. Ihre späte Rezeption wurde überdies durch die Tatsache bewirkt, daß ihre Gedichte wie die des Eng43

Wiss. Ausg.: The Poems of E. D., ed. T. H. Johnson, 3 Bde. (Cambr., Mass., 1955); The Complete Poems of E. D., ed. T. H. Johnson (Boston, 1960), auch pb; Teilsammlung in FP, ML; wiss. Ausg.: The Letters of E. D., edd. T. H. Johnson and T. Ward, 3 Bde. (Cambr., Mass., 1958). - T. H. Johnson, E. D. (Cambr., Mass., 1955); J. Leyda, The Years and Hours of E. D., 2 Bde. (New Haven, 1960); J. Cody, After Great Pain: The Inner Life of E. D. (Cambr., Mass., 1971); R. B. Sewall, The Life of E. D., 2 Bde. (N. Y., 1974). - C. R. Anderson, E. D.'s Poetry (N. Y., 1960); C. Griffith, The Long Shadow: E. D.'s Tragic Poetry (Princeton, 1964); J. B. Pickard, E. D. (N. Y., 1967); K. Lubbers, E. D. (Ann Arbor, 1968); R. Miller, The Poetry of E. D. (Middletown, Conn., 1968); I. N. Kher, The Landscape of Absence: E. D.'s Poetry (New Haven, 1974); R. Weisbuch, E. D.'s Poetry (Chicago, 1975); P. J. Ferlazzo, E. D., TUSAS (Boston, 1976); R. Patterson, E. D.'s Imagery, ed. M. H. Freeman (Amherst, Mass., 1979). - E. D., ed. R. B. Sewall, TCV (Englewood Cliffs, N. J., 1963).

//. Die Versdichtung

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länders G. M. Hopkins erst durch postume Veröffentlichungen (zuerst in den neunziger Jahren durch T. W. Higginson in vielfach veränderten und geglätteten Versionen) bekannt wurden: Von ihren insgesamt 1775 Gedichten erschienen zu ihren Lebzeiten nur sieben. Obwohl sie die Unzeitgemäßheit ihrer Lyrik mit Whitman verbindet, steht sie jedoch als Mensch wie auch als Dichterin in einem völligen Gegensatz zu diesem. Sie war ein introvertierter, einsiedlerischer Mensch, verbrachte den größten Teil ihres Lebens im stillen Amherst in Massachusetts und mußte sich daher in andere Lebensbereiche durch ihre Imagination hineinversetzen (vgl. / never saw a Moor - ), und sie wurde überdies stark durch ihre protestantischkalvinistische Erziehung geprägt. Die thematische Reichweite ihrer Gedichte ist entschieden begrenzter als die der Lyrik Whitmans. Ihre Dichtung behandelt das Erlebnis der Natur - die Jahreszeiten (vgl. Apparently with no Surprise -), Vögel (vgl. A Bird came down the Walk -), Blumen, Bienen, den Sonnenuntergang - sowie die Einsamkeit und das Leid (vgl. After great pain, a formal feeling comes - ). Wie ein unverlöschlicher Schatten auf der überschwenglichen Daseinserfahrung in ihrer Lyrik liegt jedoch der Gedanke an den Tod, der auch das Thema vieler Gedichte bildet (vgl. / heard a Fly buzz when I died - und Because I could not stop for Death -). Wie weit eine zeitweilig drohende Erblindung ihre Erlebnisfähigkeit gesteigert hat, verschweigen selbst ihre Briefe, die von leichten Verstiegenheiten der Jugendlichen und Liebenden bis zu den epigrammatisch gefaßten Erfahrungen der Einsamen führen. Auch in formaler Hinsicht repräsentieren ihre Gedichte mit ihrer Kürze und Ökonomie einen Gegenpol zur Lyrik Whitmans. Ihre Verstechnik mit ihrer Vorliebe für wenige Metren wirkt monoton, ihre Neigung zu Assonanzen, elliptischem Ausdruck und eigenwilliger Interpunktion meidet alles Gefällige. Aber ihre Dichtung ist so kühn im Einklang von Empfindungen und Gedanken, so eigenwillig in der Mischung von Anschauung und übertragener Sinngebung, daß selbst das Paradoxe immer wieder zur Offenbarung wird. So erinnert ihre beste Lyrik mit ihren rasch aufsteigenden Metaphern, den scharfen Epitheta, den Gedankensprüngen und den parabelartigen Zusammendrängungen an die Lyrik der 'metaphysical poets' und wurde gerade wegen ihres Verzichts auf Glätte und vordergründige Perfektion ebenso wie diese im 20. Jahrhundert als verwandt und vorbildlich empfunden. Im Gegensatz zu England brachten die neunziger Jahre in den Vereinigten Staaten kaum Dichtung von Rang und eigener Prägung hervor: Die in dieser Zeit geschriebene Lyrik hat durchweg den Ersten Weltkrieg nicht überlebt; und richtungweisend wurde statt dessen die früher entstandene, aber erst später voll rezipierte Dichtung von Walt Whitman und Emily Dickinson.

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III. DAS D R A M A 1 l. Das englische Drama bis zum Anfang der achtziger Jahre In der Geschichte des englischen Theaters seit der Restaurationszeit nimmt das 19. Jahrhundert eine Sonderstellung ein. Während das Theater bis 1700 im wesentlichen eine Sache des Adels gewesen war und auch im 18. Jahrhundert nur Teile des gehobenen Bürgertums hinzugewinnen konnte, zeigt sich seit 1790 eine wachsende Tendenz zu einem Volkstheater, wie es England sonst nur in der Zeit Shakespeares gekannt hat. Dieser Tendenz zur Expansion stand zunächst entgegen, daß nur drei Londoner Theater Dramen im eigentlichen Sinn spielen durften. Die übrigen Theater, denen nur die Aufführung von Stücken mit Musik zugestanden wurde, behalfen sich, indem sie 'burlettas' oder Singspiele aufführten oder indem sie Dramen mit Musikeinlagen versahen: Auf diese Weise ergab sich eine Präferenz für das Melodrama (ursprünglich: Drama mit Musik). Mit der Theaterfreiheit, der Aufhebung der Privilegien der Londoner Theater Covent Garden, Drury Lane und Haymarket im Jahre 1843, fielen jedoch diese Einschränkungen; und schon im Jahre 1851 gab es in London 20 Theater, eine Zahl, die sich bis zum Ende des Jahrhunderts verdreifachte. Diese Theater, die ähnlich wie die Kinos im 20. Jahrhundert auf den Erfolg bei einem breiten Publikum angewiesen waren, spielten in erster Linie effektvolle, vor allem das Gefühl ansprechende Stücke, deren Wirksamkeit durch aufwendige Kulissen, Musik und ausdrucksstarkes Spiel noch gesteigert wurde. Bevorzugt wurden daher kurze und derbkomische Formen, ganz besonders die vor allem aus der Situationskomik gespeiste Farce,2 deren erfolgreichste, Brandon Thomas' (1857-1914) Charley's Aunt (1892), noch heute gespielt wird. Die für die Zeit typischste Dramenform war jedoch das Me1

L. W. Conolly and J. P. Wearing, English Drama and Theatre 1800-1900: A Guide to Information Sources (Detroit, 1978). - J. Duncombe's Edn. of the British Theatre, 67 Bde. (1825-65); T. H. Lacy's Acting Edn. of Plays, Dramas, Extravaganzas, Farces etc., 165 Bde. (1850-1917) [ab Bd. 101 unter dem Titel: S. French's Acting Edn.]; British Plays of the Nineteenth Century, ed. J. O. Bailey ( . ., 1966); English Plays of the Nineteenth Century, ed. M. R. Booth, 5 Bde. (Oxf., 1969-76); Nineteenth Century Popular British Drama Acting Edns., ed. R. L. Lorenzen, 3 Bde. (Seattle, 1977); Sammlungen auch in OP, WC. - Victorian Dramatic Criticism, ed. G. Rowell (1971). - A. Nicoll, A History of Early Nineteenth Century Drama 1800-50, 2 Bde. und A History of Late Nineteenth Century Drama 1850-1900, 2 Bde. (Cambr., 1930 und 1946); G. R. Taylor, The Rise and Fall of the Well-Made Play (1967); S. Sahai, English Drama 1865-1900 (New Delhi, 1970). - G. Rowell, The Victorian Theatre (Cambr., 1978 [ 956]); R. Southern, The Victorian Theatre (N. Y., 1970); J. Stokes, Resistable Theatres: Enterprise and Experiment in the Late Nineteenth Century (N. Y., 1972); G. B. Cross, Next Week - East Lynne: Domestic Drama in Performance 1820-1874 (Lewisburg, Pa., 1977). - Nineteenth Century British Theatre, edd. K. Richards and P. Thomson (1971). 2 W. K. Klemm, Die englische Farce im 19. Jahrhundert (Bern, 1946).

III. Das Drama

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lodrama.3 Diese um die Jahrhundertwende aus Frankreich und Deutschland importierte hybride Form verband durchweg eine ernste Handlung mit komischen Einlagen; ihre typischen Züge sind krasse Schwarzweißmalerei, unwahrscheinliche Wendungen und distanzlose Gefühlswirkung. Ihren Stoff bezogen die Melodramen vielfach aus zeitgenössischen Romanen. So wurde Mrs. Henry Woods (1814-1887) sentimentaler Reißer East Lynne (1861) mehrfach erfolgreich dramatisiert, und Dickens' A Christmas Carol erschien insgesamt in acht, Scotts Ivanhoe sogar in über dreißig verschiedenen Versionen auf der Bühne. Manchmal war das Melodrama aber auch dem Roman voraus. So erschienen vereinzelte Melodramen, die die Industrielle Revolution sozialkritisch kommentierten - wie z. B. John Walkers The Factory Lad (1832) -, lange vor den ersten 'Industrial Novels'. Das Melodrama war Gebrauchsliteratur und war für den alsbaldigen Verbrauch bestimmt. Deshalb sind auch die erfolgreichsten Verfasser von Melodramen - wie z.B. Dion Boucicault4 (18207-90): The Broken Vow, 1851; The Corsican Brothers, 1852; Colleen Bawn, 1860; Led Astray, 1873 usw. heute weitgehend vergessen. Das Melodrama lebte jedoch im Film weiter. Auch das 'problem play' der neunziger Jahre entwickelte sich auf der Basis des Melodramas; und einige der Erneuerer des englischen Dramas dieser Zeit verfaßten sogar selbst erfolgreiche Melodramen - wie z. B. W. S. Gilbert mit Dan'l Druce (1876) oder Henry Arthur Jones mit The Silver King (1882). Die führenden Dichter und Literaten standen bis weit in die achtziger Jahre diesem Volkstheater ablehnend gegenüber. Ebenso charakteristisch wie die Herausbildung eines alle Schichten der Gesellschaft ansprechenden Bühnendramas ist dementsprechend das seit der Romantik von den führenden Lyrikern gepflegte poetische Drama in Versen,5 das in seiner Form und in seinen Themen durchweg traditionell, bühnenfremd und rein literarisch blieb. Bevorzugt wurden vor allem historische Themen - wie in Robert Brownings Strafford (1837) und King Victor and King Charles (1842), W. G. Wills' Charles the First (1872) und Tennysons Queen Mary (1875) -; auch Themen aus der antiken Mythologie - wie z. B. in Swinburnes Atalanta in Calydon (1865) - waren beliebt. Trotz der dialogischen Form sind viele dieser Dramen im Grunde dramatische Monologe (ein besonders extremes Beispiel ist Matthew Arnolds Empedocles on Etna, 1852), die entweder von vornherein nicht 3

The Golden Age of Melodrama, ed. M. Kilgariff (1974). - M. R. Booth, English Melodrama (1965); F. Rahill, The World of Melodrama (University Park, Pa., 1967); J. L. Smith, Victorian Melodramas (1977). 4 Forbidden Fruit and Other Plays, edd. A. Nicoll and F. T. Clark (Bloomington, 1964 [ 940]); The Dolmen B., ed. D. Krause (Dublin/Lo., 1964); D. B., the Shaughraun: A Documentary Life, Letters and Selected Works, edd. S. E. Molin and R. Goodefellowe (Newark, Del., 1979). - T. Walsh, The Career of D. B. (N. Y., 1967 [ 915]); R. Fawkes, D. B. (1979). 5 Nineteenth-Century English Verse Drama, edd. G. B. Kauvar and G. C. Sorensen (Rutherford, N.J., 1973). - T. Otten, The Deserted Stage: The Search for Dramatic Form in Nineteenth-Century England (Athens, O., 1972); R. Eichler, Poetic Drama (Heidelberg, 1977); V. Sharma, Studies in Victorian Verse Drama (Salzburg, 1979).

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zur Aufführung bestimmt waren oder auf der Bühne keinen Erfolg hatten und die eher der Lyrik als dem Drama zuzuordnen sind. Eines der wenigen auf der Bühne erfolgreichen Versdramen war Tennysons 1893 postum aufgeführtes Geschichtsdrama Becket (veröff. 1884), das seinen Erfolg aber in erster Linie dem Geschick des Theaterdirektors Henry Irving verdankte. Auch die wenigen Versdramen, die einen zeitgenössischen Stoff behandelten - wie etwa John Westland Marstons (1819-90) poetische Tragödie The Patrician's Daughter (veröff. 1841, uraufg. 1842) - blieben vereinzelt und ohne Erfolg.

2. Die Erneuerung des ernsten Dramas Erst spät wurde der Versuch unternommen, diese Dichotomic von Buchdrama und Bühnendrama zu überwinden. Eine Reform der englischen Bühne versuchte zwar bereits THOMAS WILLIAM ROBERTSON* (1829-71). Seine Komödien und ernsten Schauspiele verzichteten auf die melodramatischen Kunstmittel und bemühten sich, zeitgemäße Themen wie den Aufstieg der Mittelklassen, die Auswirkungen der Klassenschranken und die Macht des Geldes in psychologisch ausgeformten Charakteren und natürlichem Dialog darzustellen (Society, 1865; Ours, 1866; Caste, 1867; School, 1869). Eine grundlegende Erneuerung des englischen Dramas setzte jedoch erst in den achtziger Jahren ein, und der eigentliche Umschlag zur Moderne erfolgt Anfang der neunziger Jahre. 1890 stirbt Dion Boucicault, der Meister des viktorianischen Melodramas, in den nächsten Jahren erscheinen die ersten 'problem plays' von Pinero und Jones, 1891 gründet Joseph T. Grein sein Independent Theatre, 1892 wird mit Widowers' Houses Shaws erste sozialkritische Komödie aufgeführt, und 1893 werden allein in London sechs verschiedene IbsenDramen gespielt. Das Theater dieser Zeit, das sich wieder mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen befaßte und das zugleich wieder strengeren ästhetischen Maßstäben gerecht zu werden suchte, konnte allerdings nicht mehr Volkstheater bleiben und entfremdete sich einem Teil seines bisherigen Publikums. Das Theaterpublikum verengte sich auf die gesellschaftliche Ober- und Mittelschicht, während die Unterschichten in die 'music hall' und bald darauf ins Kino abwanderten. Der erste Autor, der sich um die Schaffung eines realistischen 'problem play', um die Dramatisierung aktueller sozialer oder moralischer Probleme, bemühte, war Sir ARTHUR WING PINERO7 (1855-1934). Pinero hatte das Publikum zunächst mit geschickt gebauten Lustspielen gewonnen (The Magistrate, 1885; The Schoolmistress, 1886; Dandy Dick, 1887); er wandte sich dann jedoch mit seinen ernsten Stücken (The Profligate, 1889; The Second Mrs. 6

The Principal Dramatic Works of T. W. R., ed. T. W. S. Robertson, 2 Bde. (1889). M. Savin, T. W. R.: His Plays and His Stagecraft (Providence, R. L, 1950). 7 The Social Plays of A. W. P., ed. C. Hamilton, 4 Bde. (N. Y., 1917-22); The Collected Letters of Sir A. P., ed. J. P. Wearing (Minneapolis, 1974). - H. Fyfe, Sir A. P.'s Plays and Players (1930); W. D. Dunkel, Sir A. P. (Port Washington, N. Y., 1967 [ 941]).

///. Das Drama

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Tanqueray, 1893; The Notorious Mrs. Ebbsmith, 1895; Ms, 1901; Mid-Channel, 1909) der neuen Gattung zu. Mögen die rührseligen, eher melodramatischen als tragischen Dramenschlüsse mehr der herkömmlichen Moral als der Kunst gerecht werden, die zentralen Themen - wie z.B. daß eine dunkle Vergangenheit durch eine Eheschließung nicht ausgelöscht werden kann oder daß trotz guten Willens beider Teile die der persönlichen Schuld enthobene Charakterbestimmung gespenstisch weiterwirkt (am schärfsten herausgearbeitet in The Second Mrs. Tanqueray) - gemahnen bereits an Ibsens Gesellschaftsdramen. Noch einen Schritt weiter führte HENRY ARTHUR JONESS (1851-1929), der auch in Vorträgen, Zeitschriftenartikeln und Vorreden, aus denen die Bücher The Renascence of the English Drama (1895) und The Foundations of a National Drama (1913) erwuchsen, für die Hebung des Niveaus eintrat. Aus seinem umfänglichen Schaffen, das auch zahlreiche Lustspiele umfaßt (The Masqueraders, 1894; The Triumph of the Philistines, 1895; The Liars, 1897), ragen vier ernste Stücke hervor: Saints and Sinners (1884), Judah (1890), Michael and his Lost Angel (1896), Mrs. Dane's Defence (1900). Alle diese Dramen verleugnen zwar ihre Herkunft vom Melodrama nicht und wollen auch die gesellschaftlichen Grundlagen der Zeit nicht radikal in Frage stellen; sie bemühen sich jedoch, ein wirklichkeitsgetreues soziales Bild zu zeichnen und brennende Zeitfragen ernsthaft zu erörtern. Damit war das Theater, das so lange nur der Unterhaltung gedient hatte, zur Plattform geworden, von der die Grundsätze einer neuen Lebenshaltung, wirksamer noch als im Roman, verkündet wurden. Verständige Theaterdirektoren (die Bancrofts, Kendals und Herbert Beerbohm Tree) und die ein erleseneres Publikum versammelnden kleinen Theater - 'repertory theatres', später auch in der Provinz, wie z. B. das von Miss A. E. F. Horniman 1907 gegründete Manchester Repertory Theatre - und dramatische Gesellschaften wie das Independent Theatre (1891) sowie die Stage Society (1904) brachten die Stücke der neuesten europäischen Dramatiker auf die Bretter. Gleichzeitig unternahm eine den neuen Einflüssen aufgeschlossene Theaterkritik unter Führung von William Archer9 (1856-1924: English Dramatists of To-Day, 1882; About the Theatre, 1886; Masks or Faces?, 1888) sowie die Fachzeitschriften The Theatre (seit 1877) und The Journal of Dramatic Reform (seit 1878) die Erziehung des Publikums. Das entscheidende Ereignis ist die Aufführung Ibsens,10 dessen lange bekämpfte und zuerst vorsichtig bearbeitete Gesellschaftsdramen (Stützen der Gesellschaft 1880 als Quicksands von Archer, Nora 1884 als Breaking of a Butterfly von Jones) von 1889 ab die englische Bühne eroberten. Seit 1872 war Edmund Gosse für den Norweger eingetreten, Archer übersetzte 1888 mehrere Dramen, und Shaw schrieb 1891 The 8

Representative Plays by H. A. J., ed. C. Hamilton (1926). - D. A. Jones, The Life and Letters of H. A. J. (1930). - R. A. Cordell, J. and the Modern Drama (Port Washington, N. Y., 1968l11932]). 9 The Theatrical 'World', 5 Bde. (N. Y., 1969-71 ['1894-98]). - C. Archer, W. A. (1931). - H. Schmid, The Dramatic Criticism of W. A. (Bern, 1964). 10 M. Franc, Ibsen in England (Boston, 1926).

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Quintessence of Ibsenism. Wenngleich Ibsen auf der englischen Bühne niemals so heimisch wurde wie auf der deutschen und eine englische Ibsenschule nicht zu verzeichnen ist, so war sein Einfluß dennoch bahnbrechend. Ibsens Versuch, das Leben seiner Zeit dramatisch zu gestalten, war die Voraussetzung für das Entstehen eines neuen ernsten Schauspiels in England. Zugleich bereitete Ibsen auch den Weg für die Problemkomödie Shaws, welche die moralischen und gesellschaftlichen Konventionen der Zeit sehr viel grundlegender angriff als die den moralischen Konventionen des Viktorianismus trotz aller Kritik noch sehr nahestehenden Problemstücke von Pinero und Jones. Obwohl Shaws Plays Pleasant und Plays Unpleasant bereits in den neunziger Jahren aufgeführt wurden, fällt der Höhepunkt seines Wirkens jedoch in die Zeit nach der Jahrhundertwende, so daß die Besprechung seiner Werke - ebenso wie die Erneuerung des Versdramas in der 'Irish Renaissance', die ebenfalls bereits in den neunziger Jahren beginnt - dem Kapitel über das Drama des 20. Jahrhunderts vorbehalten bleiben muß.

3. Oscar Wilde und die Erneuerung der Komödie Wie Pinero und Jones das ernste Drama auf der Grundlage des Melodramas erneuerten, so ging WILLIAM SCHWENCK GILBERT11 (1836-1911) von der viktorianischen Farce aus. Schon seine Komödie Engaged (1877) ist zugleich eine vorzügliche Posse und eine mit leichter Hand geschriebene Satire, welche die handfesten finanziellen Beweggründe hinter viktorianischem Gefühlspathos bloßstellt. Seit 1871 arbeitete Gilbert mit dem Komponisten Arthur Sullivan (1842-1900) zusammen, und auch in den auf diese Weise entstandenen Savoy Operas fand eine satirische Kritik heiteren Ausdruck. Ob Gilbert Englands Marinestolz (H. M. S. Pinafore, 1878) und Würde (lolanthe, 1882) belächelt oder ob er Modeerscheinungen wie das Ästhetentum (Patience, 1881) und die Japanmode (The Mikado, 1885) verspottet, stets suchte er Wahrheit durch ein komisches Auflösen der Scheinwerte. Auf diese Weise knüpfte Gilbert an die Restaurationskomödie an und bereitete zugleich den Erfolg von Oscar Wilde vor. OSCAR WiLDE12 (1854-1900) hatte ebenso lyrischen und epischen wie dramatischen Ehrgeiz. Seine Poems (1881) zeigen eine erlesenem Schönheitskult 11

Plays and Poems, ed. D. Taylor (N. Y., 1932); The Complete Plays of G. and Sullivan (N. Y., 1936); G. before Sullivan, ed. J.W. Stedman (1969); G. and Sullivan Operettas, ed. A. Thane (Boston, 1977); Sammlung auch in WC. - H. Pearson, G. and Sullivan (1975 [ 935]); C. Brahms, G. and Sullivan (1975); C. Hibbert, G. and Sullivan and Their Victorian World (N. Y., 1967); W. Cox-Ife, W. S. G. (1977). - A. Williamson, G. and Sullivan Opera (1953); M. K. Sutton, W. S. G. (Boston, 1975). L. Ayre, The G. and Sullivan Companion (1972); M. Hardwick, The Osprey Guide to G. and Sullivan [US: The Drake Guide to G. and Sullivan] (Reading, 1972); H. Benford, The G. and Sullivan Lexicon (N. Y., 1978). 12 Authorised Edn., ed. R.B. Ross, 14Bde. (Boston, 1910); Complete Works (1969 [ 966]); Sammlungen in EL, NAL, OP, PB; The Letters of O. W., ed. R. Hart-Davis (1962); The Artist as Critic: Critical Writings of O. W., ed. R. Ellmann (N. Y., 1968);

///. Das Drama

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gewidmete Begabung, die alle Themen mit zahllosen literarischen Reminiszenzen umrankte. Selbst die aus schwerstem Erleben geborene Ballad of Reading Gaol (1898) weist deutlich auf literarische Muster, z. B. Coleridges Ancient Mariner. Wilde war zeitlebens der Schauspieler, der sich in immer neue Rollen hineinfand. Auch die sozialen, symbolischen und zart empfindenden Stellen seiner in Prosa geschriebenen Märchen (The Happy Prince, 1888; A House of Pomegranates, 1891) sind glitzernde Spiegelungen von Gefühl und Gefühlsmode zum Zwecke einer wirkungsvollen künstlerisch-künstlichen Darstellung. Zu vollem Ausdruck gelangte diese ästhetische Weltschau in dem Roman The Picture of Dorian Gray (1890), der, von Huysmans und anderen entlehnend, das Märchenmotiv des Bildes als Spiegel der Seele mit geistreichem Witz, langen Kunstgesprächen und leider auch melodramatischen Zügen ausstattete (s. a. S. 808). Wildes Prosa ist überzeugend, wann immer sie sich dem vorzüglichen Bühnendialog seiner Komödien nähert, wie in den witzig-gedankenvollen, Intentions (1891) genannten Essays, während die Versuche hoher Stilprosa oder gesuchter Einfachheit, wie in dem autobiographischen Bruchstück De Profundis (1897) oder in dem Aufsatz The Soul of Man under Socialism (1895), einem Plädoyer nicht so sehr für den Sozialismus als vielmehr für einen radikalen Individualismus, weniger überzeugen. Im Drama kamen Wildes tragische Versuche in Prosa (Vera, veröff. 1880, uraufg. 1883; For Love of the King, veröff. 1922) und Vers (The Duchess of Padua, veröff. 1883, uraufg. 1891; A Florentine Tragedy, uraufg. 1906, veröff. 1908) nicht über das melodramatische Kostümstück hinaus. Einzig die Sarah Bernards wegen französisch geschriebene und von Lord Douglas 1894 ins Englische übersetzte Salome (auf französisch veröff. 1893, uraufg. 1896) erreichte einen großen europäischen Erfolg, der aber nicht zuletzt der die damalige Gesellschaft ansprechenden Erotisierung des Markusevangeliums zu danken ist. Unbestritten und dauernd war der Erfolg der Gesellschaftskomödien. Die Themen der verborgenen Vaterschaft (A Woman of No Importance, 1893) und des Vorlebens von Frau (Lady Windermere's Fan, 1892) und Gatten (An Ideal Husband, 1895) wirken heute ein wenig abgedroschen. Aber die Handlung dieser Komödien ist nicht wichtig; und wie bei der 'comedy of manners' handelt es sich um ein lächelndes Spiel um die Äußerlichkeiten des Lebens, dem die Künstlichkeit des Aufbaus ebenso angemessen ist Literary Criticism of O. W., ed. S. Weintraub (Lincoln, Nebr., 1968); Interviews and Recollections, ed. E. H. Mikhail, 2 Bde. (1979). - H. Pearson, The Life of O. W. (1975 [ 954]); R. Croft-Cooke, The Unrecorded Life of O. W. (N. Y., 1972); H. M. Hyde, O. W. (1976); S. Morley, O. W. (1976). - G. H. Schwartz, The Plays of O. W. (N. Y., 1966); E. San Juan, The Art of O. W. (Lo./Princeton, 1967); C. S. Nassaar, Into the Demon Universe: A Literary Exploration of O. W. (New Haven, 1974); L. Kronenberger, O. W. (Boston, 1976); A. Bird, The Plays of O. W. (1977); D. Eriksen, O. W., TEAS (Boston, 1977); R. Shewan, O. W. (Lo./N. Y., 1977); P. K. Cohen, The Moral Vision of O. W. (Madison, 1978); N. Kohl, O. W. (Heidelberg, 1980). - O. W., ed. R. Ellmann, TCV (Englewood Cliffs, N. J., 1969); M. Hardwick, The Osprey Guide to O. W. [US: The Drake Guide to O. W.] (Reading, 1973).

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wie die kunstvoll zugespitzte Situation und der geistreiche Dialog. Ihre reinste Verkörperung erreichte die Wildesche Komödie in The Importance of Being Earnest (1895), wo die Elemente des Melodramas und des 'problem play' allenfalls in parodistischer Form erhalten geblieben sind und die viktorianische Farce gleichsam im Geiste der 'comedy of manners' erneuert wird. Auf diese Weise überwindet Wilde den Viktorianismus im kunstvollkünstlichen Spiel seiner Komödie ebenso, wie das 'problem play' dessen Überwindung vorbereitete, indem es seine moralischen Konventionen zur Diskussion stellte.

IV. DER R O M A N 1. Der früh- und mittviktorianische Roman Während die Romantik in der lyrischen Dichtung ihr Bestes leistete, wurde in der viktorianischen Epoche der Roman zur repräsentativsten und produktivsten literarischen Form. Zahl und Auflage der Romane erlebten in dieser Zeit ein stürmisches Wachstum; und im Jahr 1886 wurden erstmals mehr Romane als religiöse Schriften publiziert. Dieser Aufstieg des Romans wurde vor allem durch eine außerordentliche Ausweitung seiner Leserschaft2 ermöglicht. Es waren insbesondere Angehörige der unteren sozialen Schichten, die in größerer Zahl für die Lektüre von Romanen gewonnen wurden. Dabei ist es eine besondere Leistung von Autoren wie Dickens, daß sie diese neuen Lesergruppen hinzugewinnen konnten, ohne die traditionellen Leserschichten 'Victorian Fiction: A Guide to Research, ed. L. Stevenson (Cambr., Mass., 1964); Victorian Fiction: A Second Guide to Research, ed. G. H. Ford (N. Y., 1978); W. V. Harris, British Short Fiction in the Nineteenth Century: A Literary and Bibliographic Guide (Detroit, 1979). - D. Cecil, Early Victorian Novelists (Harmondsworth, 1948 u. . [ 934]); M. Praz, The Hero in Eclipse in Victorian Fiction, transl. A. Davidson (1956 [ 952]); K. Tillotson, Novels of the Eighteen-Forties (Oxf., 1954); F. R. Karl, An Age of Fiction: The Nineteenth Century British Novel (N. Y., 1968 [ 964]); J. Hillis Miller, The Form of Victorian Fiction (1968); H. Reinhold, Der englische Roman des 19. Jahrhunderts (Düsseldorf, 1976); T. B. Tomlinson, The English Middle-Class Novel (1976); J. Lucas, The Literature of Change: Studies in the Nineteenth Century Provincial Novel (Hassocks, 1977); P. K. Garrett, The Victorian Multiplot Novel (New Haven, 1980). - The Victorian Novel, ed. I. Watt (1972 [ 971]); Der englische Roman im 19. Jahrhundert, edd. P. Goetsch et al. (Berlin, 1973); The Worlds of Victorian Fiction, ed. J. H. Buckley (Cambr., Mass., 1976 [ 975]); The Victorian Experience: The Novelists, ed. R. A. Levine (Athens, O., 1976); Reading the Victorian Novel, ed. I. Gregor (Lo./N. Y., 1980). 2 A. Cruse, The Victorians and Their Books [US: The Victorians and Their Reading] (1935); R. D. Altick, The English Common Reader (Chicago, 1957); L. James, Fiction for the Working Man 1830-1850 (Harmondsworth, 1974 ['1963]); R. C. Terry, Victorian Popular Fiction 1860-80 (1983).

IV. Der Roman

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zu verlieren, daß sie also ihre Leser in nahezu allen sozialen Schichten fanden. Mehr und mehr wurden auch Kinder und Jugendliche zu Romanlesern, und Autoren wie Dickens, Lewis Carroll, Stevenson und Kipling wandten sich entweder bewußt an eine jugendliche Leserschicht oder wurden zumindest von vielen Jugendlichen begeistert gelesen. Eine der Vorbedingungen für diesen Siegeszug des Romans waren immer preiswertere Neuauflagen erfolgreicher Romane: 1829 kostete ein Band im Durchschnitt noch 5 s, in den vierziger Jahren senkte sich der Preis jedoch auf l s, und bald darauf waren 'paperbacks' nicht selten bereits für 6 d erhältlich. Eine zweite Voraussetzung war die Schaffung neuer Vertriebsformen.3 Im Jahre 1840 gründete Charles Edward Mudie seine erste Leihbibliothek, der im Lauf der nächsten Jahrzehnte zahlreiche weitere Filialen im ganzen Lande folgten. Im Jahre 1848 eröffnete W. H. Smith die erste von zahlreichen Bahnhofsbuchhandlungen, in denen preiswerte Bücher nicht nur erworben, sondern auch entliehen werden konnten. Schließlich trug auch eine Reihe von Zeitschriften dazu bei, daß der viktorianische Roman Leserschichten erreichte, die nicht bereit oder in der Lage waren, den Kaufpreis für ein Buch zu entrichten. So veröffentlichten Zeitschriften wie etwa The Cornhill Magazine, The Saturday Review oder Household Words Romane führender Autoren in Fortsetzungen. Allerdings gewannen die Besitzer der Leihbüchereien und die Herausgeber der Zeitschriften auf diese Weise einen marktbeherrschenden Einfluß. Es ist nicht zuletzt auf ihre Forderungen zurückzuführen, daß der viktorianische Roman lange Zeit fast ausschließlich in der Form der 'threedecker novel' erschien, d. h. eine drei Bände füllende Länge erreichen mußte, daß er die Behandlung sexueller Themen peinlich vermied und daß er durchweg mit einem 'happy ending' schloß. Dies sollte sich erst in der spätviktorianischen Zeit langsam ändern. Der Ausweitung des Publikums des viktorianischen Romans entspricht die Ausweitung seiner Thematik. Während der Roman der Romantik die Industrielle Revolution ausgeklammert und vor allem die Welt der Vergangenheit und die der oberen Gesellschaftsschichten der Gegenwart dargestellt hatte, schildert der viktorianische Roman erstmals, wenngleich mit einer nicht unbeträchtlichen Verspätung, die industrielle Arbeitswelt, soziale Konflikte und soziale Not vor allem der Arbeiter in den Industriestädten der Midlands, aber auch der Bewohner der Londoner Slums. In den Romanen anderer viktorianischer Autoren gewinnt dagegen die unberührte ländliche Natur, der spezifische Reiz bestimmter englischer Landschaften eine besondere Bedeutung. So entdeckte Emily Bronte die Landschaft von Yorkshire, Thomas Hardy die von Wessex für den Roman. Wichtig ist auch eine andere thematische Ausweitung. Nachdem schon der Roman der Romantik mit der Geschichte eine neue Dimension entdeckt hatte, ist es sicher nicht zuletzt auf die im Gefolge 3

G. L. Griest, Mudie's Circulating Library and the Victorian Novel (Bloomington, 1970); A. J. Lee, The Origins of the Popular Press in England 1855-1914 (Lo./Totowa, N. J., 1976); J. A. Sutherland, Victorian Novelists and Publishers (1976).

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der Darwinschen Evolutionstheorie zunehmende Bedeutung der Entwicklung als Denkkategorie zurückzuführen, wenn der spätviktorianische Roman nun ebenfalls die Zukunft als neue Dimension erschließt und wenn der Zukunftsroman etwa von H. G. Wells die traditionelle Utopie zu verdrängen beginnt. Besonders charakteristisch ist schließlich eine thematische Ausweitung, die mit der enormen Zunahme der jugendlichen Leserschaft zusammenhängen dürfte: die außerordentlich häufige Darstellung von Kindheit und Jugend im viktorianischen Roman. Dieser Ausweitung der thematischen Möglichkeiten steht aber eine gravierende Verengung der Thematik gegenüber: Der sexuelle Bereich wurde mit einer Rigidität wie wohl in keiner anderen Epoche der englischen Literaturgeschichte von der Darstellung ausgeschlossen. Seine formalen Möglichkeiten hat der viktorianische Roman dagegen lange nicht im gleichen Maße ausgeweitet. Er hat vielmehr im wesentlichen die formalen und erzähltechnischen Neuerungen des englischen Romans des 18. Jahrhunderts und der Romantik weiterentwickelt und verfeinert. Dem entspricht, daß in dieser Epoche auch der Romantheorie zunächst nur eine geringe Bedeutung zukam.4 Der Roman dieser Zeit war eben eine außerordentlich vitale, in starkem Maße leserorientierte Gattung, die aber noch nicht hinreichend als ernstzunehmende literarische Form akzeptiert wurde, um ein stärkeres Form- und Theoriebewußtsein entwickeln zu können. Auch dies sollte erst in der spätviktorianischen Zeit allmählich anders werden.

2. Gattungen des früh- und mittviktorianischen Romans Bei einem Blick auf die viktorianische Romanproduktion heben sich aus der kaum überschaubaren Vielfalt der Werke einige Gruppen von Romanen mit ähnlichen inhaltlichen und zum Teil auch formalen Merkmalen ab. Diese Romangattungen gehen durchweg auf ältere Vorbilder zurück. So ist z. B. der besonders in der früh- und mittviktorianischen Epoche so beliebte historische Roman ohne das Vorbild Scotts nicht denkbar; der in der gesamten viktorianischen Zeit florierende Sensationsroman kann seine Herkunft von der 'Gothic novel' nicht verleugnen; und die in den oberen Gesellschaftsschichten spielenden 'novels of fashion' haben ihre Vorbilder in bereits um die Jahrhundertwende entstandenen Romanen. Selbst die 'industrial novel', die sich noch am stärksten von der früheren Romanproduktion abhebt, hat ihre Vorläufer, und zwar vor allem den romantischen sozialkritischen Roman in der Art von Godwins Caleb Williams. Charakteristisch für den viktorianischen Roman ist es nun, daß sich die typischen Elemente und Konventionen dieser und anderer Romangattungen nicht nur in zahlreichen Romanen finden, die 4

English Theories of the Novel, Bd. 3: Nineteenth Century, ed. E. Platz-Waury (Tübingen, 1972). - R. Stang, The Theory of the Novel in England 1850-1870 (1959); K. Graham, English Criticism of the Novel 1865-1900 (Oxf., 1966 [ 965]).

IV. Der Roman

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man heute zur Trivialliteratur rechnen würde, sondern daß sie ebenfalls, oft in verwandelter Form, in den auch heute noch hochgewerteten Romanen dieser Epoche auftreten. Eine dieser Gattungen ist der in den oberen Gesellschaftsschichten spielende Gesellschaftsroman. Diese Romane haben zwar meist nur bestimmte typische Charaktere wie den Dandy oder den Lebemann oder bestimmte Schauplätze wie Ballsaal, Oper und Salon gemeinsam, wurden aber von den Zeitgenossen als zusammengehörige Gruppe empfunden und als 'novels of fashion' oder als Romane der 'silver-fork school'43 bezeichnet. Während Autoren wie Thomas Henry Lister (1800-1842), Charlotte Bury (1775-1861) und vor allem die überaus produktive Catherine Gore (1799-1861) nur der leichten Unterhaltung dienende Dutzendware lieferten, versucht Benjamin Disraeli in seinem frühen Roman Vivian Grey (1826/7) bereits, die Darstellung der oberen Zehntausend mit Satire und politischer Diskussion zu verbinden. Erst Thackeray, der die Konventionen dieser Gattung zuerst parodierte, formte sie dann durch Witz und Ironie in einem so weitgehenden Maße um, daß die 'novel of fashion', bevor sie nach der Jahrhundertmitte aus der Mode kam, mit Vanity Fair (1848) ein einziges Mal künstlerischen Rang erreichte. Ähnliches gilt für den historischen Roman.5 Zahlreiche viktorianische Autoren übernahmen das von Scott entwickelte und bereits von dem frühen Bulwer sowie von G. P. R. James, Harrison Ainsworth, Emma Robinson und Horace Smith trivialisierte Erfolgsrezept und erreichten damit hohe Auflagen. Dieses Rezept bestand darin, einen fiktiven Helden in einer historischen Epoche spannende Abenteuer erleben zu lassen und ihn dabei auch in Verbindung mit historischen Figuren und Ereignissen zu bringen. Erst seit den vierziger Jahren entstanden dann wieder historische Romane, die sich über die Masse der Durchschnittsprodukte erhoben, indem sie das Modell Scotts modifizierten und den historischen Stoff nicht ausschließlich wegen seines Unterhaltungswertes gestalteten. So stellte Bulwer in The Last of the Barons (1843) und Harold, the Last of the Saxons (1848) historische Figuren in den Mittelpunkt und benützte den historischen Roman zur Darstellung seiner konservativen politischen Ideen. Charles Kingsley erzählte dagegen in Westward Ho! (1855) zwar die Abenteuer eines fiktiven Helden; aber auch hier dient das Geschehen - die Erlebnisse eines englischen Seemanns bei Kämpfen zwischen England und Spanien in Europa und Amerika zur Zeit der Armadaschlacht - einem politischen Ziel: der Überzeugung jugendlicher Le43

W. M. Rosa, The Silver Fork School: Novels of Fashion Preceding Vanity Fair (Port Washington, N. Y., 1964 ['19361). 5 Vgl. S. 652, Anm. 27; ferner: J. C. Simmons, The Novelist as Historian: Essays on the Victorian Historical Novel (The Hague/Paris, 1973); N. Ranee, The Historical Novel and Popular Politics in Nineteenth-Century England (1975); A. Sanders, The Victorian Historical Novel 1840-1880 (Lo./N. Y., 1979); M. Lascelles, The Story Teller Retrieves the Past: Historical Fiction and Fictitious History in the Art of Scott, Stevenson, Kipling and Some Others (N. Y., 1980).

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ser von der imperialen Sendung Englands. Auch in CHARLES READESÖ (1814-84) damals sehr erfolgreichem Roman The Cloister and the Hearth (1861) verliert das Element des Historischen im Vergleich zu Scott seine Bedeutung. In diesem Roman, der die Abenteuer des Holländers Gerard Eliasson in Holland, Frankreich, Deutschland und England schildert und zugleich ein leuchtend farbiges Kulturbild aus dem 15. Jahrhundert liefert, soll der historische Stoff eine Vielzahl von grellen und oft melodramatischen Gewaltszenen ermöglichen und gibt außerdem den Anlaß für häufiges Moralisieren. Vor allem Kingsley und Reade mit ihrer Betonung der Handlung auf Kosten der Charakterdarstellung beeinflußten stark den historischen Abenteuerroman etwa von R. D. Blackmore und Robert Louis Stevenson. Aber selbst in den historischen Romanen der bedeutendsten Autoren war die Geschichte, anders als bei Scott, durchweg kaum mehr als Vorwand und Hintergrund. So wird Dickens' Barnaby Rudge (1841), dessen Handlung ein fiktives geheimnisvolles Verbrechen mit den historischen Gordon Riots verbindet, zwar durch lebendige Charaktere und Bilder aus dem Volksleben unvergeßlich, ruft aber eher die 'Gothic novel' als Scotts The Heart of Midlothian in Erinnerung. Auch in Dickens' Roman A Tale of Two Cities (1859), der in London und im Paris der französischen Revolution spielt, bilden die geschichtlichen Vorgänge kaum mehr als den Hintergrund für eine teils ereignisreiche, teils empfindsame Handlung, die aus den privaten Motiven Rache, Liebe und Opferbereitschaft gespeist wird. Darüber hinaus soll dieser Roman aber zugleich vor einer englischen Revolution warnen. George Eliot schließlich versuchte in ihrem Roman Romola (1863), der die Bekehrung der Heldin unter dem Einfluß Savonarolas zu einer Menschheitsreligion der Selbstlosigkeit darstellte, ähnlich wie Kardinal Newman in Callista (1856) den historischen Roman zum Ideenroman weiterzuentwickeln. Aber auch dieser einst berühmte Roman kann nicht als völlig geglückt bezeichnet werden. Allein Thackeray gelang es in seinem Roman Henry Esmond (1852), das Modell Scotts überzeugend weiterzuentwickeln. Zwar stellt auch er in der Art Scotts einen frei erfundenen Helden in einen interessanten Abschnitt der Geschichte und läßt ihn mit historischen Persönlichkeiten (wie dem Pretender, Marlborough, Addison und Steele) zusammentreffen. Aber anders als bei Scott erzählt hier der Held selbst die Geschichte seiner Familie, die Glück und Leben der verlorenen Sache der Stuarts opfert. Dabei wird Esmond nicht nur zu einer farbigeren Figur, als es selbst die Helden Scotts meist waren; vielmehr durchläuft er auch einen Erkenntnis- und Desillusionierungsprozeß, in dessen Verlauf - im Gegensatz zu der Sicht der Geschichte bei Scott, Bulwer, Kingsley und Reade - die Auffassung von der Geschichte als einem heroischen Geschehen als Mythos entlarvt wird. Auch die typischen Elemente des Sensationsromans7 lassen sich bei vielen viktorianischen Autoren, gleich ob man sie heute der Trivial- oder der HochUniform Library Edn., 17 Bde. (N. Y., 1970 [' 1895]); Einzelausg. in El.- M. Elwin.C. R. (1931). - W. Burns, C. R. (N.Y., 1961); E. E. Smith, C. R., TEAS (Boston, 1976). 7 W. C. Phillips, Dickens, Reade, and Collins: Sensations Novelists (N. ., 1962 [ 919]); P. D. Edwards, Some Mid-Victorian Thrillers: The Sensational Novel, Its

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literatur zurechnet, nachweisen. Hauptthema des Sensationsromans ist, neben dem Übernatürlichen, das Verbrechen; dadurch ist er der Vorläufer des modernen Kriminalromans. Dabei wird das Verbrechen häufig aus der Perspektive des - meist romantisch verklärten - Verbrechers oder des Opfers, später aber auch des Detektivs dargestellt. Fast in allen Romanen von Dickens finden wir solche Elemente des Sensationsromans wie etwa das geheimnisvolle Verbrechen (vor allem in Bleak House und The Mystery of Edwin Drood)', und auch in Emily Brontes Wuthering Heights (1847) weisen etwa die Motive des sympathischen Verbrechers und des abendlichen Besuchers in einem einsam gelegenen Spukhaus auf den Einfluß des Sensationsromans hin. Während aber bei Dickens und Emily Bronte die Elemente des Sensationsromans durchweg nicht im Mittelpunkt stehen und künstlerisch überformt werden, treten sie bei Collins und LeFanu ins Zentrum ihres Schaffens, werden von ihnen aber so souverän gehandhabt, daß ihre Romane auch heute wieder, nicht zuletzt durch Fernsehverfilmungen, ein großes Publikum gewinnen konnten. Dies gilt besonders für die Romane von Dickens' Schüler und zeitweiligem Mitarbeiter WILLIAM WILKIE COLLINSS (1824-89). Seine besten Romane, The Woman in White (1860) und The Moonstone (1868), verbinden den Kunstgriff Dickens', ein Verbrechen zum Angelpunkt der Handlung zu machen, mit technischen Neuerungen: So wählen sie eine Einteilung nach Jahren statt nach Kapiteln, lassen verschiedene Erzähler auftreten und fügen Briefe und Tagebuchblätter ein. In wohlberechneter Steigerung lenken diese frühen Kriminalromane den Leser auf eine Reihe falscher Fährten, wobei sich auch bereits Detektive oder ihnen vergleichbare Figuren um die Aufdeckung des Geheimnisses bemühen, bis schließlich die lange zurückgehaltene Aufklärung die Spannung löst. Noch stärker verabsolutiert wird der Aufbau der Spannung in den Werken von JOSEPH SHERIDAN LEFANU9 (1814-73). LeFanu schrieb sowohl Gespenstererzählungen (z. B. Ghost Stories and Tales of Mystery, 1851) als auch Romane über geheimnisvolle Verbrechen, von denen vor allem Uncle Silas (1864) bis heute wenig von seinem Reiz eingebüßt hat. In diesem Roman enthält die Vorgeschichte einen rätselhaften Mord, der ähnlich wie im späteren Detektivroman erst zum Schluß aufgeklärt wird, während die Gegenwartshandlung nach der Art vieler moderner 'thrillers' die langsame Entwicklung eines Mordanschlags aus der Perspektive des Opfers darstellt: Gerade hier wird deutlich, in wie starkem Maße Friends and Its Foes (St. Lucia, Cal., 1971); G. St. John Barclay, Anatomy of Horror: The Masters of Occult Fiction (1978); W. Hughes, The Maniac in the Cellar: Sensation Novels of the 1860s (Princeton, 1980). 8 The Works of W. C, 30 Bde. (N. ., 1970 [' 1900]); Einzelausg. in EL, LES, PB, WC. K. Robinson, W. C. (1951); N. P. Davis, The Life of W. C. (Urbana, 111., 1956). W. H. Marshall, W. C., TEAS (N. Y., 1970). 'Einzelausg. in der Dover Edn., N. Y.; Best Ghost Stories of J. S. L. (1964); Uncle Silas (1966); Ghost Stories and Mysteries (1975). - N. Browne, S. L. (1951); M. H. Begnal, J. S. L. (Lewisburg, Pa., 1971).

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der mittviktorianische Sensationsroman die Brücke zwischen der 'Gothic novel' und der Kriminalliteratur der heutigen Zeit schlägt. In thematischer Hinsicht beschreitet von den frühviktorianischen Romangattungen die sog. 'industrial novel' am ehesten Neuland.10 In dieser Gattung stellt sich der englische Roman erstmals den Problemen, welche die Industrielle Revolution mit sich gebracht hatte, macht ein in die Welt der Arbeiter und die Welt der Besitzenden gespaltenes England zum Schauplatz und leitet seine Handlung aus diesem zentralen Klassengegensatz ab. Nach zwei heute vergessenen Autorinnen - Charlotte E. Tonna {Heien Fleetwood, 1839/40) und Frances Trollope (The Life and Adventures of Michael Armstrong, Factory Boy, 1839/40) - wandte sich mit dem Staatsmann BENJAMIN DISRAELI, LORD BEACONSFIELDH (1804-81), der sich später als Tory-Premierminister aktiv für Reformen einsetzte, der erste Autor von Rang dieser neuen Thematik zu. Nach einigen Romanen, die wie Vivian Grey (1826/7), Contarini Fleming (1832) und Henrietta Temple (1837) in den oberen Gesellschaftsschichten spielen und sich in herkömmlichen Bahnen bewegen, bemühte er sich in der sog. 'Young England Trilogy' um die Gestaltung seiner politischen Ideen. In allen drei Romanen - Coningsby (1844), Sybil (1845) und Tancred (1847) - steht ein junger Politiker im Mittelpunkt der Handlung und dient Disraeli zugleich als Sprachrohr für seine politischen Vorstellungen. 'Industrial novel' im eigentlichen Sinn ist allerdings nur Sybil mit dem bezeichnenden Untertitel Or the Two Nations'. In diesem Roman begegnet der junge adlige Parlamentarier Egremont der vermeintlichen Arbeitertochter Sybil, lernt durch sie die Welt des Arbeiterelends, des Chartismus und der Gewerkschaften kennen und wird mit ihrer These konfrontiert, daß die Industrielle Revolution England in „zwei Nationen", die Reichen und die Armen, gespalten habe. Nach blutigen Arbeiterunruhen finden Egremont und Sybil am Schluß zusammen; aber die vom Autor dieser Verbindung zugewiesene symbolische Bedeutung des Brückenschlags zwischen beiden „Nationen" überzeugt nicht, da Sybil aus uraltem Adel stammt. Auch in künstlerischer Hinsicht ist Sybil - wie auch die anderen Romane Disraelis - ungleichmäßig, und der Leser stößt sich an dem harten Nebeneinander von Realismus und Phantasie, expositorischen und fiktionalen Elementen. Weniger ehrgeizig und in ihrer Darstellung der sozialen Situation weit weniger umfassend, dafür aber geschlossener sind die Romane von ELIZABETH CLEGHORN GASKELL12 (1810-65). Eine 'industrial novel' ist bereits ihr 10

L. Cazamian, The Social Novel in England 1830-1850, transl. M. Fido (1973 [ 903]); M. E. Speare, The Political Novel (N. ., 1966 ['1924]). - Der englische soziale Roman im 19. Jahrhundert, ed. K. Gross (Darmstadt, 1977). 11 The Bradenham Edn. of the Novels and Tales of B. D., 12 Bde. (1926-27); Einzelausg. in EL, WC. - A. Maurois, B. D. (Paris, 1927); R. Blake, D. (1966); C. Hibbert, D. and His World (1978). - M. Masefield, Peacocks and Primroses: A Survey of D.'s Novels (1953); R. A. Levine, B. D., TEAS (N. Y., 1968); R. W. Davis, D. (Boston/Lo., 1976); D. R. Schwarz, D.'s Fiction (1979). 12 The Works of Mrs. G. [The Knutsford Edn.], ed. A. W. Ward, 8 Bde. (1906); The Novels and Tales of Mrs. G., ed. C. K. Shorter, 11 Bde., WC (1906-19); Einzelausg.

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Anfangswerk Mary Barton (1848). Der Roman schildert, wie der Arbeiter John Barton arbeitslos wird, in Not gerät und schließlich den Sohn seines Arbeitgebers ermordet. Da der Verlobte seiner Tochter dieses Mordes verdächtigt, vor Gericht gestellt und erst in letzter Minute gerettet wird, kommt in den Roman ein Element des Sensationsromans; aber die eigentliche Leistung des Romans besteht darin, daß er mit Milieukenntnis und Mitgefühl Arbeiterelend und Verständnislosigkeit der Fabrikbesitzer überzeugend darstellt. Mit festerem Aufbau setzt der spätere Roman North and South (1854/55) diese sozialkritische Thematik fort und stellt die Not der Industriearbeiter im Norden der Not der landwirtschaftlichen Arbeiter im Süden gegenüber. Nach diesen sozialkritischen Romanen wandte sich Mrs. Gaskell allerdings kleineren und homogeneren Handlungsräumen zu. So gestaltet etwa die dörfliche Jungferngeschichte Cranford (1852-53) eine stille Welt des Idylls, die mit einer an Jane Austen erinnernden Meisterschaft verlebendigt wird. Ganz ähnlich in ihrer Zielsetzung sind die sozialkritischen Romane von CHARLES KiNGSLEY13 (1819-75), auch wenn in ihnen der Industriearbeiter keine zentrale Rolle spielt. So prangert er in Yeast (1848, in Buchform 1851) die desolate Lage der englischen Landarbeiter an und macht dann in Alton Locke (1850) einen Dichter und Schneider, der aus Protest gegen das soziale Elend wie John Barton zum Chartisten wird, zum Helden. Trotz einer recht vereinfachten Charakterdarstellung wirkt dieser Roman besonders intensiv, weil Kingsley seinen Helden seine Lebens- und Leidensgeschichte selbst erzählen läßt und ihm am Schluß das im viktorianischen Roman sonst übliche 'happy ending' vorenthält. Wie Disraeli und Mrs. Gaskell gab Kingsley diese sozialkritische Thematik dann jedoch wieder auf und wandte sich anderen Themen und Formen zu. Sein Märchen The Water Babies (1863) war lange Zeit sehr beliebt; und aus seinem historischen Roman Westward Ho! (1855) spricht nicht mehr das Gewissen des Sozialreformers, sondern der enthusiastische Glaube an das britische Empire. Ein später Vertreter der 'industrial novel' ist dann noch Dickens' Carlyle gewidmeter Roman Hard Times (1854). Während in den anderen Romanen von Dickens die Sozialkritik nur einer von mehreren Aspekten ist, steht hier die Kritik an den Klassengegensätzen und am Utilitarismus der Zeit ganz im Mittelpunkt und wird in der Darstellung der fiktiven nordenglischen Stadt Coketown eindrucksvoll verkörpert. All diesen Romanen war gemeinsam, daß sie die Not der Arbeiter und die Spaltung Englands in zwei „Nationen" als Folge der Industriellen Revolution in EL, LES, OEN, OP, PB. - A. B. Hopkins, E. G. (N. Y., 1971 [ 952]); W. Gerin, E. G. (1976); A. C. Easson, E. G. (1979). - A. Pollard, Mrs. G. (Manchester, 1965); E. Wright, Mrs. G. (1965); W. A. Craik, E. G. and the English Provincial Novel (1975); C. Lansbury, E. G. (1975); E. L. Duthie, The Themes of E. G. (Totowa, N. J., 1980). 13 The Life and Works of C. K., 19 Bde. (1901-03); Einzelausg. in EL. - U. PopeHennessy, Canon C. K. (N. Y., 1973 [ 949]); R. B. Martin, The Dust of Combat: A Life of C. K. (1960); B. Colloms, C. K. (1975). - G. Kendall, C. K. and His Ideas (o. J. [1946]); A. J. Hartley, The Novels of C. K. (Folkestone, 1977).

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darstellten. Weniger überzeugend waren die Lösungsvorschläge: der Appell an das soziale Gewissen und an das Führungstalent der Aristokratie bei Disraeli, an die christliche Nächstenliebe bei Mrs. Gaskell, ein vager, an Carlyle und vor allem an F. D. Maurice anknüpfender 'Christian Socialism' bei Kingsley und der Appell an Liebe und Phantasie bei Dickens. Trotzdem ist es nicht zuletzt diesen Romanen zu verdanken, daß das öffentliche Gewissen aufgerüttelt und die Lage der Arbeiter in mancher Hinsicht verbessert wurde. Vielleicht war diese temporäre Beruhigung der sozialen Spannungen eine der Ursachen dafür, daß die 'industrial novel' in den fünfziger Jahren nahezu völlig von der literarischen Bühne verschwand, während die anderen typischen Gattungen des frühviktorianischen Romans ihre Popularität halten konnten.

3. Charles Dickens Das Romanwerk von CHARLES DICKENS14 (1812-70) stellt eine Synthese von drei Tonarten und Traditionen dar, die im Schaffen kleinerer Autoren getrennt blieben. Mit der 'industrial novel' sind Dickens' Romane durch ihre sozialkritische Zielsetzung verwandt, mit dem Sensationsroman durch die immer wiederkehrende Thematik des geheimnisvollen Verbrechens und die Figur des interessanten Verbrechers, während im Humor und in den schrulligen Charakteren seiner Romane die Tradition des komischen englischen Romans pikaresken Stils erkennbar ist. Am Anfang von Dickens' Schaffen steht allerdings nicht der Roman, sondern die Kurzform. Sein erstes Werk sind die in Zeitschriftenfortsetzungen ab 1833 veröffentlichten Sketches by Boz, die 1836 in Buchform erschienen und eine lockere Folge von Charakterskizzen, Kurzgeschichten und Stimmungsbildern darstellen. Auch sein erstes großes Werk, The Posthumous Papers of the Pickwick Club (1836/7), ist eine Aneinanderreihung drolliger, durch Mr. 14

The New Oxford Illustrated D., 21 Bde. (1947-58); wiss. Ausg.: The Clarendon D., edd. J. Butt and K. Tillotson (Oxf., 1966 ff., bisher 6 Bde. erschienen); Einzelausg. in EL, LES, NEL, PB, RE, WC; Briefe: wiss. Ausg.: The Pilgrim Edn., edd. M. House et al. (Oxf., 1965 ff., bisher 5 Bde. erschienen); Complete Plays and Selected Poems of C. D. (1970). - J. Forster, The Life of C. D., ed. J. W. T. Ley (1928 ['1872-74, 3 Bde.]); E. Johnson, C. D, 2 Bde. (N. Y, 1977 [ 952]); A. Wilson, The World of C. D. (1970). - J. Hillis Miller, C. D. (Cambr., Mass., 1958); S. Monod, D. the Novelist (Norman, Okla., 1968); A. E. Dyson, The Inimitable D. (1970); B. Hardy, The Moral Art of C. D. (1970); F. R. and Q. D. Leavis, D. the Novelist (1970); J. Lucas, The Melancholy Man: A Study of D.'s Novels (Brighton/N. Y., 1980 [ 970]); S. B. Manning, D. as Satirist (New Haven, 1971); G. Stewart, D. and the Trials of Imagination (Cambr., Mass., 1974); J. Romano, D. and Reality (N. Y., 1978); P. J. M. Scott, Reality and Comic Confidence in C. D. (1979). - D., ed. M. Price, TCV (Englewood Cliffs, N. J, 1967); D., ed. A. E. Dyson, MJ (1968); D. 1970, ed. M. Slater (1970); P. Hobsbaum, A Reader's Guide to C. D. (1972); The C. D. Encyclopedia, edd. M. and M. Hardwick (Reading, 1973). - Dickensian (ab 1905); D. Studies (ab 1965; ab 1970 als D. Studies Annual).

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Pickwick und seinen ständigen Begleiter Sam Weller zusammengehaltener Szenen, die als Texte zu den Karikaturen der Zeichner Robert Seymour, George Cruikshank und 'Phiz' (= H. K. Browne) gedacht waren. Indem Dickens aber später eine durchgehende Handlung einführt, in deren Verlauf Mr. Pickwick durch eine Lustspielverwicklung ins Schuldgefängnis gelangt und wieder daraus befreit wird, tut er schon hier den entscheidenden Schritt auf dem Weg von der Episodenfolge zum Roman. Alle typischen Elemente Dickensscher Romankunst finden sich dann bereits in Oliver Twist (1837/8). Diese Leidensgeschichte eines Waisenknaben führt den Helden zunächst ins Arbeitshaus und dann in die Londoner Unterwelt und verbindet die Reformen fordernde Schilderung sozialer Mißstände mit einer dem Sensationsroman verwandten melodramatischen Handlung. Dickens kontrastiert diese den Schattenseiten des Lebens zugewandte Darstellung jedoch mit einer Fülle von komischen Charakteren und einem Glauben an das Gute im Menschen, der sich im glücklichen Ausgang des Romans bewährt. In den beiden folgenden Romanen gelang Dickens die Synthese dieser verschiedenartigen Komponenten weniger gut. In dem Schulmißstände aufdeckenden Nicholas Nickleby (1838/9) wurde die Fülle der von ihren 'humours' bewegten Figuren so groß, daß sie nur mit Mühe durch eine schwerfällig verwickelte Handlung zusammenzuhalten war; und in The Old Curiosity Shop (1840/1) erscheinen die zahlreichen Charaktere geradezu planlos in die rührselige Geschichte der kleinen Nell und ihres Großvaters hineingestellt. In den drei folgenden Romanen versuchte Dickens dann, neue Bereiche der Wirklichkeit für seine Romane zu erschließen. Barnaby Rudge (1841) spielt im Schottland des 18. Jahrhunderts (vgl. S. 790); Teile der Handlung von Martin Chuzzlewit (1843/4) sind in ein - recht satirisch gesehenes Amerika verlegt; und Dombey and Son (1846/8), die Geschichte von Größe und Niedergang eines Geschäftshauses, stellt erstmalig die Welt der Reichen dar. Aber auch in diesen Romanen konnte die Bildnisgalerie köstlicher Sonderlinge nicht ganz verdecken, daß Dickens' Kunst bisher nur selten zu den seelischen Tiefen durchdrang. Dieser Mangel ist dagegen in dem Meisterwerk David Copperfield (1849/50) nicht fühlbar. Hier wird schlicht und aus der Perspektive eines nur die Außenseite des Charakters sehenden Kindes ein kleinbürgerlicher Lebensgang erzählt, wobei die lockere Form der fiktiven Autobiographie Dickens die Integration zahlreicher phantastisch-komischer Charaktere wie z. B. Mr. Micawber, Traddles, Miss Trotwood und Peggotty erleichterte. So wurde dieser Roman sein bis dahin künstlerisch geschlossenster, einheitlich auch in seiner inneren Form durch den bürgerlichbehäbigen Lebensausblick, den puritanischen Ernst und die erfrischende Menschlichkeit. In die gleiche Schaffensperiode gehören auch Dickens' alljährliche Weihnachtsgeschichten (1843-48 als Christmas Books, und später, 1850-58, in der Familienzeitschrift Household Words\ die seine Meisterschaft auch in der kurzen Erzählform zeigen und die Alltag, Märchen und soziale Botschaft miteinander verbinden.

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Dickens' Spätwerk führt dann jedoch in eine verdüsterte Welt, die nur noch selten durch seinen früheren Optimismus und Humor aufgehellt wird und in der eine manchmal fast modern anmutende Kunst der Charakterdarstellung sich nicht mehr so sehr Menschen mit liebenswerten Schrullen als vielmehr Menschen mit psychopathischen Zügen zuwendet. Der erste dieser Romane, die nicht mehr so volkstümlich wie das Frühwerk waren und in denen sich bereits etwas vom Pessimismus des spätviktorianischen Romans andeutet, ist Bleak House (1852/3). Dieser Roman handelt von einem Erbschaftsprozeß, der erst beendet wird, als die Verfahrenskosten das umstrittene Vermögen aufgebraucht haben. Hier wird das englische Gerichtswesen zum Gegenstand der Satire, während in Little Dorrit (1855/7) die Schuldgefängnisse und das veraltete englische Verwaltungssystem angegriffen werden. In beiden Romanen wird die pessimistischer gewordene Sicht der Welt in zentralen Symbolen greifbar: in Bleak House im Londoner Nebel, der die Undurchsichtigkeit des Rechtswesens verkörpert, und in Little Dorrit im Gefängnis als symbolhaftem Handlungsraum. Nach dem Roman Hard Times (1854), in dem die Satire mehr als in den anderen Romanen von Dickens im Mittelpunkt steht und der Dickens mit der 'industrial novel' verbindet (vgl. S. 793), und nach dem historischen Roman A Tale of Two Cities (1859) (vgl. S. 790) kehrte Dickens dann in Great Expectations (1860/1) wieder zur Thematik von David Copperfield zurück. Noch einmal ließ er einen Waisenknaben seine Lebensgeschichte aus der Ich-Perspektive erzählen, wobei es ihm gelang, die Fülle von Gestalten und Ereignissen zu einer ungewöhnlich planvollen Erzählung zu verbinden. Auch dieser Entwicklungsroman ist in dunkleren Farben gehalten als die früheren Romane; allerdings wandelte Dickens den unglücklichen Ausgang der ersten Fassung auf den Wunsch von Lesern in ein 'happy ending' um. Ganz düster wird das Bild der Welt schließlich in Dickens' letzten Romanen, in Our Mutual Friend (1864/5), dessen zentrale Symbole der Abfallhaufen und die zum Abwasserkanal gewordene Themse sind, und in dem Fragment The Mystery of Edwin Drood (1870), das ebenso wie Bleak House Züge des späteren Detektivromans vorwegnimmt. Beide Romane markieren den Abschluß einer Epoche und verweisen zugleich auf eine neue Zeit. Dickens' Werk hat die zeitliche Probe von einem Jahrhundert wie das keines anderen viktorianischen Romanautors bestanden, aber es ist nicht fehlerlos. Das Herausarbeiten der Verwicklung und der Aufbau waren nicht seine Stärke; und er war nur sicher innerhalb der engen kleinbürgerlichen Welt, in der er seine Jugend verbracht hatte. Darüber hinaus warfen ihm seine Kritiker vor, er habe seine Charaktere nicht von innen erfaßt, seine Mädchengestalten seien hölzern, und viele seiner Szenen - wie z. B. die Sterbeszene Nells in The Old Curiosity Shop oder Pauls in Dombey and Son seien billig empfindsam. Seine Anhänger haben ihn dagegen oft mit dem Hinweis auf die Produktions- und Rezeptionsbedingungen seiner Werke verteidigt. Ein Schriftsteller, der von seinen Veröffentlichungen leben mußte, der fast jedes Jahr einen neuen Roman schrieb, der ständig unter dem Zeit-

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druck stand, den das Verfahren der Erstveröffentlichung in wöchentlichen oder monatlichen Fortsetzungen mit sich brachte, ein solcher Schriftsteller, so wurde den Kritikern entgegengehalten, konnte nicht so sorgfältig arbeiten wie eine Jane Austen. Ferner wurde oft auf den engen Kontakt zwischen Dickens und seinen Lesern hingewiesen. Durch häufige Dichterlesungen, aber auch aufgrund der Absatzziffern der Fortsetzungen seiner Romane kannte Dickens den Geschmack seiner Leser genau; und im Gegensatz zu manchen der spätviktorianischen Autoren wollte er die Lesererwartungen nicht durchbrechen, sondern erfüllen. All dies erklärt aber nicht die große Beliebtheit der Romane von Dickens auch in der heutigen Zeit. Der heutige Leser schätzt an Dickens vielmehr Qualitäten, die im Roman des 20. Jahrhunderts selten geworden sind: die Fähigkeit zu erzählen, den Humor und die farbige Fülle der in den Romanen gestalteten Welt. Diese Qualitäten machen Dickens nicht nur zu einem der großen Meister des englischen Romans, sondern auch zu einem der wenigen großen englischen Romanautoren, die es vermochten, Leser aller sozialen Schichten zu begeistern.

4. Thackeray und Trollope Eine ganz andersartige Beziehung zur literarischen Tradition als bei Dickens findet sich bei WILLIAM MAKEPEACE THACKERAYIS (1811-63): Thackeray begann seine Laufbahn als Parodist. In The Yellowplush Correspondence (1837/8) und Mr. Yellowplush's Ajew (1838) parodierte er die 'novel of fashion', indem er die für diese Gattung typischen Handlungen von einem Lakaien erzählen ließ; Catherine (1839/40) enthält Elemente der Parodie auf jene Variante des Sensationsromans, die einen romantisch verklärten Verbrecher zum Helden machte; und mit Rebecca and Rowena (1850) schrieb Thackeray eine Parodie auf den historischen Roman in der Art Scotts. In seinen Novels by Eminent Hands (1844/5) hatte er kurz zuvor sogar nahezu alle populären Romanautoren und -gattungen der Reihe nach parodiert. Selbst der Roman The Luck of Barry Lyndon (1844), in dem der Ich-Erzähler, ein irischer Soldat und Abenteurer, unter ständigem Selbstlob seine unheldischen Abenteuer und Schandtaten berichtet, weist parodistische Züge 15

The Works of W. M. T. [The Centenary Biographical Edn.], 26 Bde. (1910-11); wiss. Ausg. von Vanity Fair: edd. H. K. and G. Tillotson, RE (1963); Einzelausg. in CC, EL, LES, PB; The Letters and Private Papers of W. M. T., ed. G. N. Ray, 4 Bde. (Cambr., Mass., 1945-46). - L. Stevenson, The Showman of Vanity Fair (1947); G. N. Ray, T., 2 Bde. (1955-58); J. Carey, T. (1977). - A. Monsarrat, An Uneasy Victorian: T. the Man (Lo./N. Y., 1980). - G. Saintsbury, A Consideration of T. (N. Y., 1968 [ 931]); G. Tillotson, T. the Novelist (Cambr., 1954); J. Loofbourow, T. and the Form of Fiction (Princeton, 1964); J. McMaster, T. (Manchester, 1971); B. Hardy, The Exposure of Luxury: Radical Themes in T. (1972); J. P. Rawlins, T.'s Novels (Berkeley, 1974); M. Forster, W. M. T. (1978); R. A. Colby, T.'s Canvas of Humanity: An Author and His Public (Columbus, O., 1979). - T., ed. A. Welsh, CCE (Englewood Cliffs, N.J., 1968).

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auf und kann als ironisch-parodistische Version des pikaresken Romans gelesen werden. Über die Parodie anderer Stile fand Thackeray dann zu seinem eigenen Stil: So führte der Weg von der Parodie der 'novel of fashion' zu seinem Roman Vanity Fair und von seiner Parodie auf Scotts Ivanhoe zu seiner eigenen Version des historischen Romans. Ebenso wie die Parodie stehen auch der Essay und die Skizze, d. h. also wie bei Dickens Kurzformen, am Anfang von Thackerays Schaffen. Sein Paris Sketch Book (1840) und Irish Sketch Book (1843) sind Sammlungen essayistischer Studien; und später griff er in den Roundabout Papers (1860/3) auf diese literarische Form wieder zurück. Für die Entwicklung Thackerays am wichtigsten ist aber The Snobs of England (1846/7; 1848 als The Book of Snobs). Diese Sammlung von ironisch gezeichneten Charakterporträts weist in zweifacher Hinsicht auf den unmittelbar darauf folgenden Roman Vanity Fair voraus: Schon hier erklärt Thackeray den 'snob', den verächtlich nach unten und bewundernd nach oben schauenden Egoisten, zum vorherrschenden Menschentyp in der englischen Gesellschaft; zugleich fühlt sich Thackeray hier erstmalig stark genug, um ohne die Maske eines fiktiven Erzählers und in der Rolle des allwissenden Autors in seinem Werk aufzutreten. In eben diesem 'Snobland' spielt dann auch sein Hauptwerk Vanity Fair (1847/8). Da es in diesem Land nichts als verschiedene Formen von Eitelkeit und Snobismus gibt, schreibt Thackeray, wie auch der Untertitel besagt, einen „Roman ohne Helden". Statt dessen wird das im Roman gestaltete Gesamtbild der gehobenen englischen Gesellschaft durch die parallelen Lebensgeschichten zweier Frauen zusammengehalten, welche die Eitelkeit in ganz entgegengesetzter Form verkörpern: die Lebensgeschichte der Abenteurerin Becky Sharp, die in einer Welt von Snobs und Schmarotzern eine brillante gesellschaftliche Karriere machen will, und die der zwar selbstlosen, aber törichten und Illusionen verhafteten Amelia Sedley. Indem der allwissende Erzähler sogar diese beiden Hauptfiguren ständig seiner Ironie aussetzt, macht er deutlich, daß es auf diesem Jahrmarkt der Eitelkeiten - anders als auf dem Bunyans - keine Helden gibt. In The History of Pendennis (1848/50) wandte sich Thackeray dann dem Entwicklungsroman zu. Aber auch dieser Roman ist eigentlich ein Roman ohne Held; denn nicht so sehr dieser Arthur Pendennis ist an sich interessant, es sei denn als Spiegelbild der Jugend des Autors, als vielmehr die gesellschaftliche Welt mit ihren verschiedenartigen Menschen, unter denen er sorglos dahinlebt. Dieses Gesellschaftsbild ist lebendig und frisch, aber in seiner Vielfältigkeit etwas verwirrend. Da hier sowohl eine ausgeführte Verwicklung als auch ein ebenso groß angelegter Plan wie in Vanity Fair fehlt, ergeben die wirklichkeitsnahe Schilderung eines Lebensganges und das Eindringen autobiographischer Elemente eine der Ordnung widerstrebende Materialfülle, die mehr zur Form der Memoiren oder einer Gesellschaftschronik neigt. Noch mehr gilt dies für den Roman The Newcomes (1853/5), der Pendennis als Ich-Erzähler in den Mund gelegt ist. Diese Familiengeschichte, in der das Leben zweier Generationen beschrieben wird und in der der Empfindsamkeit

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mehr Raum als in den früheren Werken gegönnt wird, wirkt oft ermüdend langatmig und durch die ständigen Zwischenreden des Erzählers gestört. Mit The History of Henry Esmond (1852) schrieb Thackeray einen weiteren Entwicklungsroman, dessen Handlung er aber diesmal in die Epoche Königin Annas verlegte. Überall aus diesem historischen Roman (vgl. S. 790) spricht trotz seiner vielfältigen Ironien Thackerays heimliche Liebe zum Klassizismus (vgl. auch seine Vorlesungen The English Humourists, 1853), welche dem Roman Wärme und Farbe verleiht. Darüber hinaus besitzt Henry Esmond eine bei Thackeray sonst seltene Geschlossenheit des Aufbaus, so daß er in struktureller Hinsicht als sein bester Roman bezeichnet werden kann. The Virginians (1857/9), die Fortsetzung von Henry Esmond, Lovel the Widower (1860), The Adventures of Philip (1861/2) und das Fragment Denis Duval (1864) wiederholen dagegen die Motive und Techniken der früheren Werke und fallen künstlerisch stark ab. Thackerays Romankunst weist manche Schwächen und Grenzen auf. Sie war thematisch begrenzt auf die gesellschaftliche Ober- und Mittelschicht, auf die auch seine zeitgenössische Leserschaft beschränkt war. Wie bei Dickens ist auch die Struktur seiner Romane nicht selten planlos; daß dies nicht zuletzt auf die in dieser Zeit übliche 'serial publication' zurückzuführen ist, geht u. a. daraus hervor, daß Henry Esmond, Thackerays einziger Roman, der nicht in Fortsetzungsform erschien, eine weit sorgfältigere Struktur aufweist. Schließlich spricht aus seinem Werk ein nicht völlig bewältigter Zwiespalt seines Wesens zwischen Spott und Sentimentalität, Ironie und Mitleid. In seinen besten Werken überwand Thackeray jedoch diesen Zwiespalt und entwickelte einen Stil, der dem von Dickens zugleich diametral entgegengesetzt und ebenbürtig ist. Die Welt seiner Romane ist nicht wie die der Romane von Dickens eine Welt greller Farbkontraste, des vitalen Humors und des Melodramas, sondern eine durch vielfältige Ironien gebrochene, durch ständige Relativierungen in Frage gestellte und darum vielleicht genauer gefaßte Welt, die unserem modernen Welterleben nicht fern steht. Als Fortsetzer der Romankunst Thackerays muß vor allem ANTHONY TROLLOPE16 (1815-82) genannt werden, der ähnlich wie sein Vorbild in seinen Romanen ein teils ironisch-satirisches, teils verständnisvolles Gemälde der gesellschaftlichen Ober- und Mittelschicht zeichnete und der überdies wie Thack16

Barchester Novels in: The Shakespeare Head Edn. of the Works of A. T., ed. M. Sadleir, 14 Bde. (Oxf., 1929); die politischen Romane in: The Oxford T. [Crown Edn.], edd. M. Sadleir and F. Page, 15 Bde. (1948-54) [beide Ausgaben enthalten auch die Autobiography]; The Complete Short Stories, ed. B. J. S. Breyer, 3 Bde. (Fort Worth, Tex., 1980); Einzelausg. in EL, LES, OP, PB, WC [viele Romane]; The Letters of A. T., ed. M. A Booth (1951). - M. Sadleir, T. (Oxf., 1945 [ 927]); J. P. Hennessy, AT. (1971); C. P. Snow, T. (1975); A. Pollard, AT. (Boston/Lo., 1978). - B.C. Brown, A T (1969 [ 950]); A. O. J. Cockshut, AT. (1968 [ 955]); B. A. Booth, A. T: Aspects of His Life and Art (1958); R. M. Polhemus, The Changing World of A.T. (Berkeley, 1968); R. apRoberts, T. (1971); J. R. Kincaid, The Novels of AT. (1977); R. C. Terry, A. T. (1977); P. D. Edwards, A. T. (Hassocks, 1978); G. Harvey, The Art of AT. (1980).

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eray in starkem Maße vom auktorialen Kommentar in seinen Romanen Gebrauch machte. Aus seinen 47 Romanen, deren fabrikmäßiges Entstehen die postum veröffentlichte Autobiography (1883) offenherzig beschreibt, ragt allerdings kein einzelner Roman ebenso stark heraus wie etwa Vanity Fair oder Henry Esmond aus dem Schaffen Thackerays. Vielmehr sind es vor allem zwei Gruppen von Romanen Trollopes, die auch heute noch Interesse beanspruchen können. Die sechs Barchester Novels - The Warden (1855), Barchester Towers (1857), Doctor Thome (1858), Framley Parsonage (1861), The Small House At Allington (1864) und The Last Chronicle of Barset (1866/7) spielen in der fiktiven Kathedralstadt Barchester; in diesen Chroniken des provinziellen Kleinstadtlebens mit seinen oft banalen Affären und Intrigen steht die Geistlichkeit im Mittelpunkt. Lange Zeit unterbewertet wurden dagegen die sechs Palliser Novels - Can You Forgive Her? (1864/5), Phineas Finn (1867/9), The Eustace Diamonds (1871/3), Phineas Redux (1873/4), The Prime Minister (1875/6) und The Duke's Children (1879/80) -, die durch die Figuren Lady Glencora und Plantagenet Palliser zusammengehalten werden. Diese Romane führen den von Disraeli begründeten politischen Roman fort; sie spielen in der politischen Führungsschicht und liefern u. a. eine Analyse ständischer Machtkämpfe. Insgesamt fehlen dem Schaffen Trollopes die großen künstlerischen Höhepunkte, und daher muß er in seinem Rang hinter dem seines Vorbilds Thackeray zurücktreten. Aber es fehlen auch manche der Schwächen, die den heutigen Leser bei der Lektüre der Romane anderer viktorianischer Autoren gelegentlich befremden, wie etwa die Melodramatik oder die Schwarz-Weiß-Malerei. So lieferte Trollope ein minuziöses Panorama der mittviktorianischen gehobenen Gesellschaft, dem auch der heutige Leser eine erstaunlich gleichbleibende, nicht unbeträchtliche Qualität zusprechen muß.

5. Die Brontes, George Eliot und Meredith Die Leistung der führenden weiblichen Romanautoren dieser Zeit besteht vor allem in einer größeren Distanz zu den herrschenden Gattungskonventionen sowie in der psychologisch eindringenden Charakterdarstellung, wobei ihre besondere Stärke die Psychologie weiblicher Leidenschaft und ihre bevorzugte Figur die nach Selbstverwirklichung strebende Frau war. Besonders groß ist der Unterschied zu den führenden männlichen Romanautoren bei den Schwestern CHARLOTTE (1816-55), EMILY (1818-48) und ANNE BRONTE (1820-49).17 In der ländlichen Abgeschiedenheit von Yorkshire aufgewach17

The Shakespeare Head B., edd. T. J. Wise and J. A. Symington, 19 Bde. (Oxf., 1931-40) [enthält auch 4 Bde.: Lives, Friendships and Correspondence]; wiss. Ausg.: The Clarendon Edn. of the Novels of the B.s, edd. I. and J. Jack (Oxf., 1969 ff., bisher 3 Bde. erschienen); Einzelausg. in EL, LES, OEN, OP, PB, WC; Letters, ed. M. Spark (1954). - B. Wilks, The B.s (Lo./N. Y., 1975); P. Bentley, The B.s and Their World (N. Y., 1979); R. L. Wilson, The B.s (N. Y., 1980). - W. Gerin, A. B. (1959). - E. C.

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sen, verzichteten sie auf die Darstellung eines breiten Gesellschaftspanoramas, wie es so charakteristisch für die Romane von Dickens, Thackeray und Trollope ist, und konzentrierten sich auf die Darstellung der Innenwelt, vor allem auf das vom weiblichen Standpunkt geschilderte Gefühlsleben der Frau. Deutlich wird dies bereits in Charlotte Brontes bekanntestem Roman, Jane Eyre (1847), in dem die Heldin ihre Lebensgeschichte selbst erzählt. Zwar ist dieser Roman nicht arm an konventionellen Elementen. So sind die geisterhaften Schreie, die mysteriöse Brandstiftung und die geheimgehaltene, irrsinnige Ehefrau Requisiten des Sensationsromans. Neu ist jedoch die Figur der herben und leidenschaftlichen Jane Eyre, die ansatzweise bereits die moralischen Konventionen der Zeit in Frage stellt, und auch die Darstellung ihrer Liebe zu ihrem verheirateten Arbeitgeber Rochester, den sie nach dem Tode seiner Frau heiratet. Charlotte Brontes zweiter Roman Shirley (1849) beginnt dagegen wie eine 'industrial novel' und schildert einen Ludditen-Aufstand in Yorkshire; dieses Thema tritt aber bald in den Hintergrund, um der Darstellung privaten weiblichen Schicksals Platz zu machen. Während Jane Eyre trotz der unkonventionellen Elemente erfolgreich war, standen die viktorianischen Leser dem einzigen Roman Emily Brontes, Wuthering Heights (1847), völlig ratlos gegenüber. Auch dieser Roman enthält Elemente des Sensationsromans (vgl. S. 791). Einmalig im viktorianischen Roman und einer der Gründe für die Neubewertung des Romans in unserer Zeit ist dagegen die Darstellung der Beziehung zwischen Catherine Earnshaw und dem Findelkind Heathcliff: Hier gestaltet die Autorin vor dem Hintergrund der Heidelandschaft von Yorkshire Liebe als eine Naturgewalt, die zur zerstörerischen Kraft wird, als Catherine den nicht zu ihr passenden Edgar Linton heiratet, und die schließlich beide Liebenden vernichtet. Ungewöhnlich in diesem Roman ist auch die Perspektiventechnik: Erzähler ist der Städter Lockwood, der nur den Schluß des Geschehens miterlebt und dem das Vorhergegangene von der Haushälterin Nelly Dean erzählt wird. Da beide Erzähler das Geschehen nicht völlig kennen und im Grunde auch nicht begreifen, wird der Leser auf eine geradezu moderne Weise mit mehreren, zum Teil unzulänglichen Perspektiven konfrontiert und muß sich sein eigenes Urteil bilden. Gaskell, The Life of C. B. (1857), auch als EL; W. Gerin, C. B. (Oxf., 1967); M. Peters, Unquiet Soul: A Biography of C. B. (Lo./N. Y., 1975). - C. Simpson, E. B. (1929); W. Gerin, E. B. (Oxf., 1971). - I.-S. Ewbank, Their Proper Sphere: A Study of the B. Sisters (1966); W. Craik, The B. Novels (Lo./N. Y., 1968); T. Winnifrith, The B.s and Their Background (1973); T. Winnifrith, The B.s (1977). - R. B. Martin, The Accents of Persuasion: C. B.'s Novels (Lo./N. Y., 1966); E. A. Knies, The Art of C. B. (Athens, O., 1969); L. J. Dessner, The Homely Web of Truth: A Study of C. B.'s Novels (The Hague, 1975); M. H. Blom, C. B., TEAS (Lo./Boston, 1977). - H. Dingle, The Mind of E. B. (1974). - The B.s, ed. I. Gregor, TCV (Englewood Cliffs, N.J., 1970); F. B. Pinion, A B. Companion (Lo./N. Y, 1975). - E. B., ed. J.-P. Petit (Harmondsworth, 1973); The Art of E. B., ed. A. Smith (1976).

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Im Vergleich dazu sind die Romane Anne Brontes, Agnes Grey (1847) und besonders The Tenant of Wildfell Hall (1848), weniger revolutionär; aber auch sie enthalten den Protest des weiblichen Herzens gegen äußere Zwänge. Die gleichen Elemente, aber weit stärker durch den Intellekt gefiltert und gedämpft, enthält das Schaffen von Mary Ann Evans, die sich GEORGE ELIOT'8 (1819-80) nannte. Sie stammte aus einem evangelikalen Elternhaus und verbrachte ihre Jugend in der ländlichen Einsamkeit einer Farm in Warwickshire; dem entspricht, vor allem in ihrem Frühwerk, eine Neigung zur Darstellung von Gewissenskämpfen und eigenwilligen Gewissensentscheidungen sowie die Meisterschaft in der Gestaltung ländlicher Menschen und Umwelt. Bereits ihr erster Roman, Adam Bede (1859), den sie kurz nach ihrer Novellensammlung Scenes of Clerical Life (1858) schrieb, zeigt die Verbindung dieser beiden Komponenten. Von der Handlung her gesehen, ist Adam Bede eine Verführungs- und Kindesmordgeschichte, die auf ein reuevolles Ende hinarbeitet; was den Schauplatz betrifft, zeigt Adam Bede bereits die Frische und Lebendigkeit, mit der George Eliot die ihr vertraute ländliche Welt darzustellen vermochte. Aber schon dieser Roman ist weit mehr als eine moralisierende Dorfgeschichte, und zwar vor allem wegen der psychologischen Eindringlichkeit, mit der die Charaktere gestaltet werden - so etwa der junge Gutsherr und Verführer, der, zur Beichte bereit, den Geistlichen gerade frühstückend vorfindet und das Geständnis unterläßt, oder das hübsche Landmädchen Hetty Sorrel, das nach verzweifelter Wanderschaft, völlig verlassen, sein Kind erstickt. Ähnliche Qualitäten weist auch der Kurzroman Silas Marner (1861) auf; aber der künstlerisch bedeutendste dieser frühen Romane ist wohl The Mill on the Floss (1860). Dieser Roman liefert ein umfassendes, mit Humor und Genauigkeit gezeichnetes Bild der ländlichen Gesellschaft und stellt in diesen Rahmen die Entwicklung des Dorfmädchens Maggie Tulliver, welche mit ihrer Lauterkeit, ihrer Impulsivität und ihrem ethischen Rigorismus eine der am besten gelungenen weiblichen Figuren George Eliots sein dürfte. Denkwürdig ist auch der Schluß, in dem Maggie zusammen mit ihrem Bruder bei einer Überschwemmung den Tod findet: ein tragisches Ende, mit dem um diese Zeit noch kaum ein englischer Autor seine Romane zu beschließen wagte. In den folgenden Romanen setzte sich George Eliot dann in wachsendem Maße mit damals aktuellen sozial- und religionskritischen Ideen sowie mit 18

The Warwick Edn. of the Works of G. E., 12 Bde. (Edinb., 1901-03); Einzelausg. in EL, LES, PB, WC; wiss. Ausg.: The Yale Edn. of the G. E. Letters, ed. G. S. Haight, 9 Bde. (New Haven/Lo., 1954-78); Essays of G. E., ed. T. Pinney (N. Y./Lo., 1963). G. S. Haight, G. E. (Oxf., 1968); M. Laski, G. E. and Her World (1973); R. V. Redinger, G. E. (N. Y., 1975). - B. Hardy, The Novels of G. E. (Lo./N. Y., 1963 [11959]); J. Thale, The Novels of G. E. (N. Y., 1959); W. J. Harvey, The Art of G. E. (Lo./Toronto, 1961); W. Allen, G. E. (Lo./N. Y., 1964); A. E. S. Viner, G. E. (Edinb., 1971); T. S. Pearce, G.E. (Lo./N. Y., 1973); N. Roberts, G. E.: Her Beliefs and Her Art (Lo./Pittsburgh, Pa., 1975); R. Liddell, The Novels of G. E. (1977); A. Mintz, G. E. and the Novel of Vocation (Cambr., Mass., 1980). - Critical Essays on G. E., ed. B. Hardy (1970); G. E., ed. A. Smith (N. Y, 1980).

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dem Determinismus und Positivismus auseinander. Beeinflußt wurde sie dabei vor allem von der positivistischen Philosophie ihres Lebensgefährten George Henry Lewes sowie von den Philosophen Herbert Spencer und Auguste Comte, aber auch von der deutschen Bibelkritik. So hatte sie schon früh David Friedrich Strauß' Das Leben Jesu (1835/6) und Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums (1841) übersetzt und näherte sich immer mehr einer agnostischen Position, wobei sie aber ihre kompromißlos puritanische Ethik beibehielt. Ihre Romane werden zwar auch jetzt nie in den Dienst einer bestimmten philosophischen Lehre gestellt, dennoch wirkt sich George Eliots Tendenz zur Gestaltung der Romane um eine Idee und zu langen auktorialen Erläuterungen gerade in dieser Schaffensphase nicht selten als eine Belastung aus. Dies gilt sowohl für den historischen Roman Romola (1863) (vgl. S. 790) als auch für den sozialkritischen Roman Felix Holt the Radical (1866) und erst recht für Daniel Deronda (1876), in dem der Titelheld vor allem die Funktion der Verkündung eines edlen Menschentums und zionistischer Ideen hat, in dem allerdings die der Maggie Tulliver verwandte Figur der Gwendolen Harleth, die im Mittelpunkt des zweiten Handlungsstrangs steht, wieder die psychologische Meisterschaft George Eliots zeigt. In die gleiche Schaffensphase gehört jedoch auch Middlemarch (1871/2), einer der größten Romane der viktorianischen Epoche. Dieser Roman trägt im Titel nicht, wie sonst so häufig im viktorianischen Roman, den Namen des Helden; und sein Untertitel lautet Study of Provincial Life': Hier zeigt sich, daß es George Eliot nicht mehr um die Darstellung der Gewissensgeschichte einer einzelnen Figur, sondern um eine gleichsam wissenschaftliche Analyse der englischen Provinzgesellschaft geht. So enthält dieser Roman eine Vielzahl von Handlungssträngen und Figuren, die mit bewundernswerter Kunst miteinander verbunden werden und die zusammen ein kritisches Gesamtbild der englischen Provinz ergeben. Auch wenn von späteren Lesern George Eliots Neigung zu langen psychologisch-ethischen Erörterungen kritisch gesehen wurde, ist ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung des englischen Romans nicht zu unterschätzen: Indem sie den Roman als Kunstform ernstnahm und die Techniken zur Darstellung komplexer Charaktere und ihrer Entwicklung verfeinerte, leitete sie zu Meredith und Henry James über, während die Ideendarstellung in den Romanen von MARY AUGUSTA WARD (Mrs. Humphry Ward)19 (1851-1920), z. B. in Robert Elsmere, 1888, eine kulturhistorisch wichtige, aber künstlerisch schwache Nachfolge fand. Die Romane GEORGE MEREDITHS20 (1828-1909), dessen erster Roman, die orientalische Phantasie The Shaving of Shagpat (1855), vier Jahre vor dem 19

The Writings of Mrs. H. W., 16 Bde. (Boston/Lo., 1909-12). - J. P. Trevelyan, The Life of Mrs. H.W. (1923); E.H. Jones, Mrs. H.W. (Lo./N. Y., 1973). - W. S. Petersen, Victorian Heretic: Mrs. H. W.'s Robert Elsmere (N. Y./Leicester, 1976). 20 The Works of G. M., Memorial Edn., 27 Bde. (N. Y., 1968 ['1909-11]); The Poems of G. M., ed. P. Bartlett, 2 Bde. (New Haven, 1977); Einzelausg. in EL, RE, WC; The Letters of G. M., ed. C. L. Cline, 3 Bde. (Oxf., 1970). - L. Stevenson, The Ordeal of G. M. (N. Y./Lo., 1954); D. Williams, G. M. (1977). - W. F. Wright, Art and Substance in G. M. (Lincoln, Nebr., 1953); M. Kelvin, A Troubled Eden: Nature and

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ersten Roman George Eliots und dessen letzter nahezu zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod erschien, ähneln denen George Eliots in mehrfacher Hinsicht. Auch ihnen ist eine gewisse Intellektualität und eine Tendenz zum Ideenroman, aber auch eine Abweichung von manchen der viktorianischen Romankonventionen eigen, so daß auch er die Volkstümlichkeit eines Dickens nie erringen konnte. Darüber hinaus verbindet ihn mit George Eliot, daß vor allem seine Frauenfiguren mit einer damals ungewöhnlichen Subtilität gezeichnet sind, daß er das Geschehen oft aus der Sicht der Frau darstellt und daß er auch nicht selten die Sache der Frau vertritt. Dies zeigt sich schon darin, daß viele seiner Romane Frauennamen als Titel haben. Dies gilt etwa für den Roman Sandra Belloni (1864), dessen Fortsetzung Vittoria (1867), ferner für die Verführungsgeschichte Rhoda Fleming (1865), den einzigen Roman Merediths, der in bäuerlicher Umwelt spielt, sowie für Diana of The Crossways (1884/5), die Geschichte einer Frau, die den ihr geistig nicht gewachsenen Ehemann verläßt und ein selbständiges Leben als erfolgreiche Schriftstellerin führt, dann aber den ihr gemäßen Partner durch eine unbedachte Handlung verliert. In anderen Romanen ist die Frau die treibende Kraft, wie z. B. Louisa in Evan Harrington (1861), Clara in The Egoist und Aminta in Lord Ormond and his Aminta (1894). Wenn Meredith auf diese Weise seine weibliche Hauptfigur immer wieder heraushebt, so steht dahinter seine Überzeugung von der Notwendigkeit der Gleichberechtigung der Frau. Diese Überzeugung findet sich ansatzweise bereits in seinem Roman The Ordeal of Richard Feverel, der 1859, im gleichen Jahr wie George Eliots erster Roman Adam Bede, veröffentlicht wurde. Dieser Roman kreist wie alle folgenden Romane Merediths um das Thema der menschlichen Bewährung. Der junge Richard Feverel wird von seinem Vater Sir Austin nach einem eigenen Erziehungssystem erzogen, aber die menschlichen Reaktionen lassen sich nicht durch ausgeklügelte Methoden bestimmen, und der naturwissenschaftliche Fortschrittsglaube läßt sich nicht auf den Menschen übertragen. Und so endet dieser Roman mit dem Scheitern von Sir Austins Erziehungssystem, mit dem Scheitern Richards in der „Feuerprobe" und mit dem Tod seiner Jugendliebe, die er verrät. Diese Form des „negativen Entwicklungsromans" hat Meredith dann mehrfach wieder aufgegriffen, u. a. in dem auch pikareske Züge tragenden Roman The Adventures of Harry Richmond (1871) und in Beauchamp's Career (1875), der Trollopes Palliser Romanen verwandten Geschichte eines politischen Idealisten. Merediths Romane spielen durchweg in der gleichen gesellschaftlichen Schicht wie die Thackerays und Trollopes. Aber anders als diese will Meredith kein breites Gesellschaftspanorama zeichnen; für ihn bildet die Gesellschaft nur die Bühne, auf der sich das Gewissensdrama der mit psychologischer Eindringlichkeit gezeichneten Hauptfigur abspielt. Die CharakterSociety in the Works of G. M. (Stanford, 1961); G. Beer, M. (Lo./N. Y., 1970); C. L. Bernstein, Precarious Enchantment: A Reading of M.'s Poetry (Washington, 1979). M. Now: Some Critical Essays, ed. I. Fletcher (1971).

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Studie steht sogar so sehr im Mittelpunkt seiner Romane, daß er in seinem vielleicht typischsten Werk, The Egoist (1879), die dramatischen Einheiten wahren kann. Die durch Haus und Park umgrenzte Einheit des Ortes genügt für die Handlung, die in fast mathematischem Aufbau die Demütigung des selbstbewußten Gesellschaftshelden Sir Willoughby Patterne erzählt. Auch seine Feuerprobe sind die Frauen, und das im Zentrum stehende Ringen um die erwählte Braut Clara Middleton mit dem genau in der Mitte (Kapitel 25) liegenden dramatischen Höhepunkt läßt den „Helden", auch wenn er zum Schluß die zuvor wenig beachtete Laetitia gewinnen darf, als einen Verzichtenden zurück. Auch andere Romane Merediths haben - ähnlich wie manche Romane George Eliots - nicht das im viktorianischen Roman übliche 'happy ending'. Das bedeutet jedoch nicht, daß Meredith bereits dem Pessimismus spätviktorianischer Prägung nahesteht. In seinen Romanen dominieren vielmehr Heiterkeit und Komik, ihre Zielsetzung ist didaktisch und gründet auf dem Glauben an die Besserungsfähigkeit des Menschen. Und so führt er in dem Aufsatz On the Idea of Comedy (1877) aus, der 'Comic Spirit' müsse alle Anmaßungen dem silbernen Gelächter preisgeben; und erst wenn dieses Befreiungswerk geleistet sei, könne das wahre Menschsein beginnen. Das Romanwerk Merediths war in späteren Zeiten, die Henry James gegen ihn ausspielten, umstritten. Allzu oft, so warf man ihm vor, gefalle er sich in der herkömmlichen Rolle des allwissenden Autors, allzu oft unterbreche er die Geschichte durch didaktische Erklärung oder ironischen Kommentar. Auch sein manierierter, von lyrisch-rhapsodischer zu essayistisch-reflektierender Prosa schwankender Stil machte sein Romanwerk schwer zugänglich. Trotzdem hat Meredith die Entwicklung des englischen Romans - u. a. James Joyce - beeinflußt, und seine Romane werden auch heute wegen ihrer Intelligenz, Originalität und psychologischen Meisterschaft wieder geschätzt. Der Reichtum seiner Romane an lyrischen Passagen verweist darauf, daß Meredith auch Lyriker gewesen ist. Er selbst verstand sich sogar in erster Linie als Lyriker, der aus finanziellen Gründen Romane schreiben mußte. Während er in Modern Love (1862), einer sonettähnlichen Folge von Sechzehnzeilern, die Thematik seiner psychologischen Romane in die Lyrik übertrug, herrscht in seiner Dichtung sonst die Naturlyrik vor. Dies gilt für seine frühe Lyrik, die oft an den einfachen Ton Wordsworths anklingt, ebenso wie für seine späteren Gedichte, die wie z. B. Poems and Lyrics of the Joy of Earth (1883) und A Reading of Earth (1888) zum Ausdruck einer naturmystischen Weltschau werden.

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6. Der spätviktorianische Roman21 1880 starb George Eliot. Um die gleiche Zeit erschienen mehrere Romane, die deutlich machten, daß der Roman das Zerbrechen des die viktorianische Gesellschaft tragenden Grundkonsensus erheblich früher als das Drama zu registrieren begann. Diese Wende wird vor allem von Hardys The Return of the Native (1878), Gissings Erstling Workers in the Dawn (1880) und George Moores erstem Roman A Modern Lover (1883) markiert. Während die Romane von Dickens bei aller Sozialkritik die viktorianische Gesellschaft letztlich bejahten und während die Romane von George Eliot und Meredith trotz ihrer häufig tragischen Schlüsse doch von einer lebensbejahenden und zukunftsgläubigen Haltung getragen waren, sind diese Werke ein Indiz dafür, daß sich im spätviktorianischen Roman eine pessimistische Grundhaltung gegenüber Mensch, Gesellschaft und Welt durchsetzte. Wenn der spätviktorianische Roman diesen Wandel der Weltsicht so massiv zum Ausdruck bringen konnte, so ist dies nicht zuletzt auch ein Symptom für die schwindende Macht der Leihbibliotheken und der Zeitschriften, die Romane in Fortsetzungen veröffentlichten. Diese Marktinstanzen hatten lange Zeit bei den Autoren bestimmte Forderungen durchgesetzt - wie z. B. den glücklichen oder erbaulichen Ausgang, die Aussparung des Sexuellen sowie die 'threedecker novel' mit ihrer besonderen Länge und ihrer verschlungenen Handlung (vgl. S. 786 ff.). Gegen Ende des Jahrhunderts richteten sich jedoch die Autoren immer weniger nach diesen Forderungen. Der glückliche Ausgang wurde nicht nur häufig im anspruchsvollen Roman, sondern gelegentlich auch im Unterhaltungsroman (vgl. z. B. Marie Corellis The Murder of Delicia, 1896) aufgegeben. Zugleich bahnt sich langsam eine freiere Behandlung des Sexuellen an. Diese wird besonders deutlich in George Moores zunächst französisch geschriebenem Roman Confessions of a Young Man (1888), der mit herausfordernder Offenheit von geschlechtlichen Beziehungen spricht. Auch Hardy forderte diese Freiheit nachdrücklich in seinem Essay Candour in English Fiction (1890). Ein äußeres Indiz dafür, daß die stabilisierende und konservierende Macht der Marktinstanzen vorübergehend zurückging, ist schließlich die Tatsache, daß Mudie's und W. H. Smith 1894 erstmals vom dreibändigen Roman abgingen. Diese Veränderungen des Romans bedeuten allerdings noch nicht, daß sich auch der Geschmack breiter Leserschichten grundlegend wandelte. Typisch ist vielmehr, daß das Einvernehmen zwischen Autor und Leser, das etwa das Frühwerk von Dickens so stark geprägt hatte, mehr und mehr gestört wird. Dies geht etwa aus den Skandalen hervor, die Romane wie Hardys Tess of the d'Urbervilles und Jude the Obscure sowie Moores A Modern Lover bei ihrem Erscheinen hervorriefen. Hier mögen auch die Ursachen dafür zu suchen 21

A. Friedman, The Turn of the Novel (N. ., 1966); P. Goetsch, Die Romankonzeption in England 1880-1910 (Heidelberg, 1967); W. G. Urlaub, Der spätviktorianische Sozialroman von 1880 bis 1890 (Bonn, 1977).

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sein, daß Hardy sich nach Jude the Obscure vom Roman abwandte und daß Samuel Butler seinen Roman The Way of All Flesh zu seinen Lebzeiten nicht erscheinen ließ. Dies sind nur frühe Symptome einer Entwicklung, die sich um die Jahrhundertwende sehr viel deutlicher abzeichnet: der Dissoziierung des Romans in den anspruchsvollen, experimentellen, theoretisch fundierten Roman etwa eines Henry James, der von einer kleinen Schicht von Kennern gelesen wird, und den für die breite Masse geschriebenen Unterhaltungsroman, wie er von Autoren wie Marie Corelli, Henry Rider Haggard oder Sir Thomas Henry Hall Caine repräsentiert wird. Nur einige wenige Autoren vermochten noch ähnlich wie Dickens, den gebildeten Leser wie auch das Massenpublikum, den Erwachsenen wie auch den jugendlichen Leser gleichermaßen anzusprechen. Hier handelt es sich vor allem um die vom Abenteuerroman her kommenden Romanschriftsteller Robert Louis Stevenson und Rudyard Kipling (s. S. 813 ff.). Im anspruchsvollen Roman dieser Zeit setzt sich dagegen die fiktive Biographie und Autobiographie bzw. der Entwicklungsroman als eine der häufigsten Gattungen durch.22 Auch in früh- und mittviktorianischer Zeit hatte es diese Gattung bereits gegeben (z. B. Dickens, David Copperfield, Great Expectations', Thackeray, Pendennis; Meredith, The Ordeal of Richard Feverel u. a. m.; auf der Ebene des Jugendromans z. B. die vielgelesenen Romane Tom Brown's Schooldays [1857] und Tom Brown at Oxford [1861] von Thomas Hughes). Aber zum einen hatte in dieser Periode noch der Gesellschaftsroman mit einer Vielzahl parallel laufender Handlungsstränge dominiert; und zum anderen waren auch diejenigen Romane, in denen die Entwicklung und Erziehung der Hauptfigur die Struktur prägte, oft mehr an der Gesellschaft interessiert, die durch den Protagonisten vermittelt wurde, als an dessen Seelengeschichte. Ganz in den Mittelpunkt rückt dagegen die Subjektivität der Hauptfigur in den gegen das Ende des Jahrhunderts erschienenen Entwicklungsromanen, die daher auch weitgehend auf ein 'plot' verzichten. Dem entspricht, daß es sich bei mehreren dieser Romane um Künstlerromane handelt und daß manche dieser Romane nur mühsam verhüllte Autobiographien ihres Autors sind. Autobiographische Züge trägt bereits Samuel Butlers 1872 begonnener Roman The Way of All Flesh (vgl. S. 812). Auch WILLIAM HALE WHITES" (1831-1913) Romane The Autobiography of Mark Rutherford (1881) und Mark Rutherford's Deliverance (1885) haben einen stark autobiographischen Charakter. Sie schildern mit bitterem Pessimismus und herber Gesellschaftskritik den Werdegang eines jungen Mannes, der in einen Konflikt zwischen Dogma und Erkenntnis gerät, daher nicht Geistli22

H. Wagner, Der englische Bildungsroman bis in die Zeit des ersten Weltkriegs (Bern, 1951); J. H. Buckley, Season of Youth: The Bildungsroman from Dickens to Golding (Cambr., Mass., 1974). 23 The Works of Mark Rutherford, ed. R. Shapcott, 6 Bde. (o. J.). - C. M. Maclean, Mark Rutherford (1955). - W. H. Stone, Religion and Art of W. H. W. [Mark Rutherford] (Stanford/Lo., 1954); I. Stock, W. H. W. [Mark Rutherford] (1956); S. Merton, Mark Rutherford [W. H. W.], TEAS ( . ., 1967).

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eher werden kann und der in der Pflichterfüllung schließlich ein Gegengewicht gegen seinen Pessimismus findet. Ebenfalls autobiographisch sind schließlich George Gissings The Private Papers of Henry Ryecroft (1903). Auch dieser Roman wird von einer negativen Sicht der Gesellschaft geprägt: Ryecroft, ein Künstler, wendet der Gesellschaft schließlich den Rücken. Aber auch in Romanen mit weniger stark autobiographischem Charakter findet sich diese Akzentverlagerung auf die Subjektivität des Helden und die Darstellung der Gesellschaft nicht mehr als der Verkörperung der Normen, auf die sich der Protagonist hin entwickeln soll, sondern als einer bösartigen Macht, an der er scheitert oder von der er sich abkehren muß. Auf andere Weise spiegelt sich in zwei andersartigen Entwicklungsromanen der Geist der spätviktorianischen Zeit wider. Der eine dieser Romane, Walter Paters Marius the Epicurean (1885), wählt die Zeit des aufkommenden Christentums und des Niedergangs der römisch-heidnischen Kultur, um seinen Helden, eine passive, die Welt in erster Linie ästhetisch erlebende Natur, mit verschiedenen philosophischen Systemen zu konfrontieren. Charakteristisch für die skeptische Haltung des Spätviktorianismus ist dabei, daß Marius kein Ziel einer Entwicklung erreicht, sondern vor der - sich als Möglichkeit abzeichnenden - Bekehrung zum Christentum stirbt. Noch eindeutiger als „negativer Entwicklungsroman" zu charakterisieren ist Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890/1), dessen Titelheld sein Leben konsequent zum Kunstwerk stilisieren möchte, dabei aber eine moralische Degeneration durchmacht und schließlich zum Mörder wird. Nur selten finden sich im spätviktorianischen Roman utopische Alternativen zu einer als hoffnungslos empfundenen Wirklichkeit. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Roman News from Nowhere (1890) von William Morris, der sozialistisches Gedankengut und eine romantische Sehnsucht nach einer besseren Vergangenheit miteinander zu vereinigen sucht. Eine für diese Zeit typischere Tendenz bahnt sich dagegen bereits in Bulwers The Coming Race (1871) an, einem Roman, der auf der Grenze zwischen positiver und negativer Utopie steht. Deutlicher wird die Tendenz, das Wunschbild der Utopie durch ein Schreck- oder Zerrbild zu ersetzen, in Samuel Butlers Erewhon (1872) (s. S. 812). Die Tendenz zur negativen Utopie kulminiert schließlich in einigen frühen Werken von H. G. Wells wie The Time Machine (1895) und When the Sleeper Wakes (1899), nach denen Wells sich allerdings der positiven Utopie zuwandte. Dieser Verlust des Glaubens an eine bessere Zukunft hat zur Folge, daß sich allenfalls im spätviktorianischen Unter halt ungsroman noch hin und wieder sozialreformerischer Optimismus findet, während im hochliterarischen Roman Sozialkritik und emanzipatorische Tendenzen meist mit einem tiefen Pessimismus gekoppelt sind. So verbindet etwa WALTER BESAMT24 (1836-1901) 24

All Sorts and Conditions of Men (N. .; repr., o. J. [M899]); Autobiography of Sir W. B. (N. ., 1971 I11902]). - J. Vollenweider, W. B.s soziales Fühlen und Denken (Tubenthal, 1927).

IV. Der Roman

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in All Sorts and Conditions of Man (1882) Dickenssche 'humours' mit einer Kritik an den sozialen Verhältnissen im Londoner East End, gelangt aber trotz seiner Forderung nach sozialer Liebe nicht mehr zu einem versöhnlichen Lebensausblick. Noch deutlicher wird dieser Pessimismus bei zwei Autoren, die zeitweise vom französischen Naturalismus beeinflußt wurden: bei Gissing und Moore. In diesem Geist erzählt GEORGE GissiNG25 (1857-1903) in The Unclassed (1884) den Lebenslauf einer Straßendirne, in Demos (1886) und The Nether World (1889) das den Charakter zerstörende Elend des Proletariats, in New Grub Street (1891) und Born in Exile (1892) den selbsterlebten Kampf des Schriftstellers ums tägliche Brot und in The Odd Women (1893) das Verkümmern der um ihr Lebensrecht betrogenen Frauen. Aus diesen Romanen spricht zwar eine ähnliche Empörung über soziale Ungerechtigkeit wie aus den Romanen von Dickens, es fehlt aber Dickens' Glaube an den Aufstiegswillen der Entrechteten, die Hilfsbereitschaft der Reichen und die Reformfähigkeit der Gesellschaft. Eine ähnliche Weltsicht liegt dem Frühwerk von GEORGE MooRE26 (1852-1933) zugrunde, der trotz schärfsten Protestes der öffentlichen Meinung den französischen Naturalismus in England einzubürgern suchte. Schon in dem Roman A Mummer's Wife (1884), in dem er das allmähliche Verkommen einer Frau in Elend und Trunk darstellt, trat er als strenger Zola-Schüler auf. Auch in seinen folgenden Romanen behandelte er ähnliche Themen. So wird in A Drama in Muslin (1886) der Heiratsmarkt und das Schicksal der den Gesetzen dieses Markts unterworfenen jungen Mädchen mitleidslos geschildert, in Spring Days (1888) das Thema der erotischen Hörigkeit und in der Dienstmädchengeschichte Esther Waters (1894) die Qual einer unglücklichen Ehe. Allerdings wandte sich Moore, dessen Schaffen weit ins 20. Jahrhundert hineinreicht (vgl. S. 949 f.), bald mehr und mehr vom Naturalismus ab; und sein und Gissings Naturalismus fanden in England keine eigentliche Nachfolge. Bei THOMAS HARDY27 (1840-1928), dessen Romane die Gissings und Moores weit überragen und die ebenfalls vom französischen Naturalismus 25

Einzelausg. in der Serie 'Society and the Victorians' der Harvester Press (Hassocks, 1969 ff.); G. G. on Fiction, edd. J. and C. Korg (1978); The Diary of G. G., ed. P. Coustillas (Hassocks, 1978). - J. Korg, G. G. (Seattle, 1963); G. Tindall, The Born Exile (1974); M. Collie, G. G. (Folkestone/Hamden, Conn., 1977). - A. Poole, G. in Context (Lo./N. Y., 1975); J. Goode, G. G. (1978); M. Collie, The Alien Art: A Critical Study of G. G.'s Novels (Hamden, Conn., 1979). - Collected Articles on G. G., ed. P. Coustillas (1968). 26 The Works of G. M., Uniform Edn., 20 Bde. (1924-33); Einzelausg. in EL, WC. - J. Hone, The Life of G. M. (Westport, Conn., 1973 [ 936]). - M. Brown, G. M. (Seattle, 1955); J. C. Noel, G. M.: L'Homme et l'oeuvre (Paris, 1966); J. E. Dunleavy, G. M. (Lewisburg, Pa., 1973); F. W. Seinfelt, G. M. (Philad., 1975); R. A. Cave, A Study of the Novels of G. M. (Gerrards Cross/N. Y., 1978). - The Man of Wax: Critical Essays on G. M., ed. D. A. Hughes (N. Y., 1971). 27 The New Wessex Edn., edd. P. N. Furbank et al., 17 Bde. (1975-77), auch pb.; Einzelausg. in EL, PB; T. H.'s Personal Writings, ed. H. Orel (Lawrence, Kan., 1966); wiss. Ausg.: The Collected Letters of T. H., edd. R. L. Purdy and M. Millgate (Oxf., 1978 ff., bisher 2 Bde. erschienen); The Literary Notes of T. H., ed. L. A. Björk, 2 Bde. (Göteborg, 1974 ff., bisher l Bd. erschienen); wiss. Ausg.: The Personal Notebooks of T. H., ed. R. H. Taylor (1978). - F. E. Hardy, The Life of T. H. (1962

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Siebtes Buch: Die Viktorianische Zeit

beeinflußt sind, steigert sich der spätviktorianische Pessimismus schließlich zur tragischen Weltschau. Zwar sind die ersten Romane Hardys noch in helleren Farben gehalten. So hat Under the Greenwood Tree (1872) noch Züge der dörflichen Idylle; und Far from the Madding Crowd (1874), die Geschichte der lebens- und liebesgierigen Bathsheba Everdene, die den sie selbstlos liebenden Schäfer Oak zurückweist, dem Soldaten Troy erliegt und erst nach dessen Ermordung zu Oak zurückkehrt, hat keinen tragischen, sondern eher einen resignierenden Schluß. In Hardys folgenden Romanen setzt sich dann jedoch eine tragische Weltsicht durch, wie sie bis dahin im englischen Roman selten war. Dabei geht Hardy mehr und mehr von der bis dahin üblichen mehrsträngigen Handlung ab und entwickelt seine Tragik meist aus einer zentralen Liebeshandlung. So ist The Return of the Native (1878) vor allem die Geschichte der leidenschaftlichen Eustacia Vye, die in die Einsamkeit der Egdon Heath verschlagen worden ist, die sich nacheinander mehreren Männern zuwendet, von denen sie vergeblich hofft, mit in die Stadt genommen zu werden, und die durch dieses Streben anderen und sich selbst den Tod bringt. Nach The Mayor of Casterbridge (1886), in dem eine männliche Figur im Mittelpunkt steht, ist Hardys vielleicht bester Roman, Tess of the d'Urbervilles (1891), wieder die Tragödie eines jungen Mädchens, dessen Versuch, die sie bedrükkenden Verhältnisse zu überwinden, scheitert. Die glückliche Liebesbeziehung der Tess zu dem ehemaligen Theologiestudenten Angel Cläre wird zerstört, als der sich sonst für so vorurteilslos haltende Angel erfährt, daß sie bereits einem anderen angehört hat. Tess dagegen wird mit dem Konflikt zwischen dem Mann, den sie liebt, und dem Mann, dem sie sich hingegeben hat, nicht fertig und tötet schließlich ihren Verführer. Der Roman endet damit, daß sie vor dem symbolhaften Hintergrund der Steine von Stonehenge verhaftet und kurz darauf hingerichtet wird. Noch düsterer ist schließlich Hardys letzter Roman, Jude the Obscure (1894-5). In diesem negativen Entwicklungsroman scheitert der elternlose Jude Fawley auf zweifache Weise. Zum einen mißlingt sein leidenschaftliches Streben, in Christminster (= Oxford) zu studieren und Geistlicher zu werden, weil die Universität an Studenten aus den unteren sozialen Schichten nicht interessiert ist. Zum anderen scheitert seine Liebesbeziehung zu der intellektuellen Sue Bridehead, weil die ['1928-30]); F. E. Halliday, T. H.: His Life and Work (Bath, 1972); T. O'Sullivan, T. H. (Lo./N. Y., 1975); R. Gittings, Young T. H. and The Older H. (Harmondsworth, 1980; zuerst 2 Bde. 1975-78). - H. C. Webster, On a Darkling Plain: The Art and Thought of T. H. (Chicago/Lo., 1964 [ 947]); R. Carpenter, T. H., TEAS (1976 ['1964]); I. Howe, T. H. (N. Y., 1966); J. A. Brooks, T. H. (1971); M. Millgate, T. H. (1971); I. Gregor, The Great Web: The Form of H.'s Major Fiction (Lo./Totowa, N.J., 1974); D. Hawkins, H.: Novelist and Poet (Newton Abbot/N. Y., 1976); N. Page, T. H. (1977); F. B. Pinion, T. H. (Lo./Totowa, N. J., 1977); L. S. John Butler, T. H. (Lo./N. Y., 1978); D. Taylor, H.'s Poetry (1981). - H., ed. A. J. Guerard, TCV (Englewood Cliffs, N.J., 1963); F.B. Pinion, A H. Companion (Lxx/N. Y., 1968); Critical Approaches to the Fiction of T. H., ed. D. Kramer (1979); The Novels of T, H., ed. A. Smith (1979); T. H.: Poems, edd. J. Gibson and T. Johnson, CS (1979).

IV. Der Roman

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Gesellschaft ein Zusammenleben des Paares ohne Trauschein nicht akzeptiert und weil überdies Sue, die wie Jude bereits verheiratet war, trotz ihrer fortschrittlichen Ansichten ihr Zusammenleben im Grunde für sündig hält. So verläßt sie ihn, und Jude geht, nachdem er immer tiefer gesunken ist, in Elend und Hoffnungslosigkeit zugrunde. Die Tragik dieser Romane ist oft als Ausdruck einer sinnlosen Welt gedeutet worden, in der der 'President of the Immortals' - wie es am Schluß von Tess of the d'Urbervilles heißt - seine Freude daran hat, die Menschen leiden zu lassen. Dieser Weltsicht entspricht die urtümliche Landschaft von Südwestengland, der Hardy ihren historischen Namen Wessex gab und die den zeitlos-düsteren Hintergrund des Geschehens in diesen Romanen bildet. Darüber hinaus dürfen aber nicht die zeitbedingt-gesellschaftlichen Ursachen der Tragik bei Hardy übersehen werden: die Enge und Engstirnigkeit der viktorianischen Gesellschaft, von deren Konventionen sich letztlich auch jene Charaktere nicht zu lösen vermögen, die diese wie Angel Cläre und Sue Bridehead verstandesmäßig bereits überwunden haben. Indem Hardy auf diese Weise die tragischen Geschicke in seinen Romanen wiederholt zugleich kosmisch, gesellschaftlich, psychologisch und manchmal auch genetisch motiviert und überdies häufig noch unglückliche Zufälle zur Herbeiführung der Katastrophe bemüht, hat der Leser nicht selten den Eindruck, daß seine Begründung der tragischen Romanschlüsse redundant ist. Trotzdem besteht in der Schaffung eines konsequent tragischen Romans seine eigentliche Leistung. Hardy selbst wies dem Roman noch, ähnlich wie Meredith, keinen allzu hohen Rang zu. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, daß er nach Jude the Obscure keine Romane mehr schrieb und sich mit dem „epischen Drama" The Dynasts (1904-08) einer in der traditionellen Poetik angeseheneren Gattung zuwandte. In diesem aus drei Teilen, neunzehn Akten und 130 Szenen bestehenden Lesedrama stellt Hardy die napoleonische Geschichte der zehn Jahre von Trafalgar bis Waterloo dar und transponiert die Weltsicht seiner Romane in das politische Geschehen: Auch hier wird alles menschliche Bemühen durch den der Welt immanenten unbewußten Willen enttäuscht oder pervertiert. Auch als Lyriker trat Hardy erst nach seiner Abwendung vom Roman hervor. Sein erster Gedichtband, die Wessex Poems, erschien 1898 und bezieht sich auf die gleiche Landschaft wie seine Romane. Aber diese wie auch die Gedichte in den später veröffentlichten Bänden finden oft zu einem volksliedhaften Ton, in dem das Lastende des Fatums weniger spürbar als in den Romanen ist. Auch das Weltbild von SAMUEL BuTLER28 (1835-1902) wird von der Annahme eines der Welt immanenten unbewußten Willens geprägt. Allerdings 28

The Shrewsbury Edn. of the Works of S. B., edd. H. F. Jones and A. T. Batholomew, 20 Bde. (Lo./N. Y., 1923-26); Einzelausg. in EL, OET, PB, WC; S. B.'s Note Books, edd. G. Heynes and B. Hill (1951); The Family Letters of S. B., ed. A. Silver (1962). P. Henderson, S. B. (Bloomington, 1954). - P. N. Furbank, S. B. (Hamden, Conn., 1971 [ 948]); L. Holt, S. B., TEAS (N. Y., 1964); K. Simonsen, Erzähltechnik und Weltanschauung in S. B.s literarischen Werken (Bern/Frankfurt, 1977).

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unterscheidet sich Butler von Hardy insofern, als er, bei allem auch ihm eigenen Pessimismus, in diesem Willen eine auf Evolution drängende Kraft sieht. Seine Auseinandersetzung mit Darwin wird vor allem in den Abhandlungen Life and Habit (1878), Evolution, Old and New (1879) und Luck or Cunning? (1888) deutlich, aber auch in dem Roman The Way of All Flesh (1872-84, gedr. 1903), in dem die generationenlange Väterherrschaft in der Familie Pontifex eine verhängnisvolle Erbmasse darstellt und in dem das Evolutionsprinzip sich in der Auflehnung der Söhne gegen die Väter äußert. Der Roman ist aber nicht nur eine Abrechnung mit der autokratischen Struktur der viktorianischen Familie, sondern auch mit der viktorianischen Gesellschaft schlechthin, und er unterwirft das Schulwesen, die Universitäten, die anglikanische Kirche und die viktorianische Scheinmoral einer Kritik, wie sie in dieser Radikalität kurz zuvor noch undenkbar war. Auf indirekte Weise äußert sich Butlers Kritik an der viktorianischen Gesellschaft dagegen in seinen grotesken Zukunftsphantasien Erewhon (1872) und Erewhon Revisited (1901). 'Erewhon', eine Umkehrung des Wortes 'nowhere', verweist zwar auf die von Morus begründete utopische Tradition; aber der utopische Reisende gelangt hier nicht in einen idealen Staat, sondern in ein Utopia, das wenigstens zum Teil ein Zerrbild der viktorianischen Gesellschaft und ihrer Grundüberzeugungen darstellt. Shaw, der Erewhon neu entdeckte, wurde durch Butlers Konzeption der schöpferischen Entwicklung beeinflußt und sah in ihm einen Bundesgenossen in seinem eigenen Kampf gegen den Viktorianismus. Gerade hier wird deutlich, wie stark Butler bereits ins 20. Jahrhundert hinübergreift. Obwohl die Mehrzahl der großen viktorianischen Romanschriftsteller in erster Linie die alltägliche Wirklichkeit im zeitgenössischen England darstellte, riß auch in dieser Zeit die Tradition jener Romane nie ab, die den Leser in eine farbigere und abenteuerlichere Welt versetzen wollten. Hier ist zunächst der Sensationsroman mit seiner Bevorzugung des Verbrechens und des Schrekkens zu nennen (vgl. S. 790 f.). In ein Reich der reinen, sich über jede Logik hinwegsetzenden Phantasie führen dagegen die Romane des unter dem Pseudonym LEWIS CARROLL29 schreibenden Mathematikers Charles Lutwidge Dodgson (1832-98), der mit Alice's Adventures in Wonderland (1865) und Through the Looking Glass (1871) jugendliche wie auch erwachsene Leser bis heute begeistert hat. Besonders häufig sind jedoch Romane, deren Handlung in einer räumlichen oder zeitlichen Ferne spielt. Hier ist der Reiseroman zu nennen, dem z. B. die stark autobiographischen, im Zigeunermilieu spielen29

The Complete Works of L. C, ed. A. Woollcott (1973 ['1939]); The Humourous Verse of L. C. (N. Y„ 1960 [ 933]); Einzelausg. in EL, NEL, OP, PB; The Letters of L. C., ed. M. N. Cohen, 2 Bde. (1979). - D. Hudson, L. C. (1954); J. Gattegno, L. C. (Paris, 1974); J. Pudney, L. C. and His World (1976); A. Clark, L. C. (1979). - R. D. Sutherland, Language and L. C. (The Hague, 1970); K. Blake, Play, Games and Sport: The Literary Works of L. C. (Ithaca, N. Y., 1974); K. Reichert, L. C. (München, 1974); R. M. Kelly, L. C., TEAS (Boston, 1977). - L. C, ed. H. Parisot (Paris, 1971); D. Crutch, The L. C. Handbook (Folkestone/Hamden, Conn., 1979).

IV. Der Roman

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den Erzählungen Lavengro (1851) und The Romany Rye (1857) von GEORGE HENRY BORROW30 (1803-81) nahestehen. Noch wichtiger ist der historische Abenteuerroman, der seine Abenteuer durchweg in eine zugleich historische und geographische Ferne verlegte und der mit Werken wie Reades The Cloister and the Hearth (1861), Kingsleys Westward Ho! (1855), R. D. Blackmores Lorna Doone (1869) (vgl. S. 789 f.) und mit dem im Italien des 17. Jahrhunderts spielenden und Abenteuer mit der Diskussion religiöser Fragen verbindenden Roman John Inglesant (1880) von JOSEPH HENRY SHORTHOUSE (1834-1903) eine große Leserschaft gewann. Der bedeutendste Fortsetzer dieser Tradition in spätviktorianischer Zeit ist ROBERT Louis STEVENSON^ (1850-94). Daß er der Tradition des Reiseberichts und Reiseromans nahesteht, geht bereits aus seinem Bericht über eine Kanutour durch Belgien und Frankreich (An Inland Voyage, 1878) und aus seinen Travels with a Donkey in the Cevennes (1879) hervor, die am Anfang seines literarischen Schaffens stehen. Auch in seinen späteren Romanen ist der häufige Ortswechsel strukturprägend. Er knüpfte zugleich an den historischen Abenteuerroman an, wenn er die Handlung der Mehrzahl seiner Romane in die Vergangenheit verlegte, wobei er als historischen Hintergrund das Schottland des 18. Jahrhunderts bevorzugte. Allerdings hat bei ihm im Gegensatz zu Scott die geschichtliche Welt primär nur die Funktion, eine farbige Kulisse zu liefern und die ungewöhnlichen Ereignisse glaubhaft zu machen. Dieser historische Hintergrund fehlt noch in Stevensons erstem Bucherfolg, Treasure Island (1883). Dieser Roman, der bis heute ein Klassiker der Jugendliteratur geblieben ist, ist die Geschichte einer abenteuerlichen Schatzsuche auf einer einsamen Insel, erzählt von dem siebzehnjährigen Jim Hawkins. In künstlerischer Hinsicht ist dieses Werk früheren Abenteuerromanen weit überlegen. An die Stelle des unbekümmert frischen Draufloserzählens ist hier eine erlesene Stilkunst getreten; die Charaktere sind mit feinem psychologischen Verständnis geschildert; und der Abenteuerspannung ist eine Atmosphäre des Unheimlichen beigemischt, die von Anfang an über der Schiffsbesatzung lastet und sich in Long John Silver, dem Haupt der Mannschaftsverschwörung, verkörpert. Schiffsabenteuer schildert auch der erste Teil von Kidnapped (1886), während im zweiten Teil die Handlung in die schottischen Hochlande verlegt wird, die der Protagonist, der junge David Balfour, mit dem Jakobitenführer Alan Breck durchwandert. Die einheitli30

The Works of G. B. [The Norwich Edn.], ed. C. Shorter, 16 Bde. (Lo./N. Y., 1923-34); Einzelausg. in EL, WC; H. Jenkins, The Life of G. B. (1924 [ 912]); B. Vesey-FitzGerald, Gypsy B. (1953). - M. Armstrong, G. B. (1950); R. R. Meyers, G. B., TEAS (N. Y., 1966). 31 R. L. S., Vailima Edn., ed. L. Osbourne, 26 Bde. (Lo./N. Y., 1922-23); Einzelausg. in EL, LES, NEL, PB, WC; The Letters of R. L. S., ed. S. Colvin, 4 Bde. (1911 [ 902]). J. C. Furnas, Voyage to Windward: The Life of R. L. S. (1952); J. P. Hennessy, R. L. S. (1974). - D. Daiches, R. L. S. (Norfolk, Conn., 1947); R. Kiely, R. L. S. and the Fiction of Adventure (Cambr., Mass., 1964); E. M. Eigner, R. L. S. and the Romantic Tradition (Princeton, 1966); D. Daiches, R. L. S. and His World (1973); I. S. Saposnik, R. L S., TEAS (N. Y., 1974).

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ehe, die Kette der Abenteuer miteinander verbindende Stimmung wird in diesem Roman - und auch in seiner Fortsetzung Catriona (1892/3) - geschaffen durch die das ganze Buch prägende Bewegung und Rastlosigkeit, die allerdings hier auf Kosten der Charakterschilderung erreicht wird. Schottland ist auch der wichtigste Schauplatz des in The Master of Ballantrae (1888) erzählten Bruderkampfes um einen Herrensitz an der Solwayküste, der vom Stewart des Hauses berichtet wird. Der sich von der Thematik her aufdrängende Vergleich mit Scott kann jedoch höchstens für Stevensons besten, aber unvollendeten Roman The Weir of Hermiston (veröff. 1896) Gültigkeit haben. Dieser Roman kreist um den Gegensatz zwischen dem grausamen Richter Lord Hermiston und seinem Sohn Archie und stellt Figuren und Schauplatz so meisterhaft dar, daß seine Vollendung wohl den Höhepunkt von Stevensons Schaffen bedeutet hätte. Alle diese mit bewußter Kunst gebauten und in klarem, gesucht einfachem Stil geschriebenen Romane erstrebten - anders als die philosophisch oder psychologisch deutenden Romane George Eliots, Merediths oder Hardys eine naive Spiegelung der bunten Wirklichkeit, die Kinder und Erwachsene in gleichem Grade, wenn auch nicht in gleicher Art, fesseln sollte. Eine ähnliche Kunst des Erzählens findet sich in Stevensons Kurzgeschichten, in denen er sich in einer Form betätigte, die in Amerika bereits seit geraumer Zeit ausgebildet worden war. Auch hier verlegt Stevenson das Geschehen mit Vorliebe in zeitlich oder räumlich ferne Schauplätze, so etwa in das Frankreich des 15. Jahrhunderts in A Lodging for the Night, einer Diebesgeschichte um Fran9ois Villon (in New Arabian Nights, 1882), oder nach Hawaii in The Bottle Imp, einer Geschichte vom geprellten Teufel (in Island Nights Entertainments, 1893). Andere Erzählungen führen dagegen in das Reich des Geheimnisvollen und des Unterbewußtseins, wie etwa die Novellen Thrown Janet und Markheim (in der Sammlung The Merry Men, 1887). Am modernsten wirkt jedoch der Roman The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886), der seine dem Sensationsroman verwandte Spannung aus der Persönlichkeitsspaltung der Hauptfigur bezieht. Der von Stevenson neu belebte Abenteuerroman hatte eine reiche Nachfolge. Aus der großen Fülle von Titeln wären etwa zu nennen der in die geographische Ferne Innerafrikas verlegte Roman King Solomon's Mines (1885) von Sir HENRY RIDER HAGGARD32 (1856-1925), der in der zeitlichen Ferne des Mittelalters spielende Roman The Forest Lovers (1898) von MAURICE HENRY HEWLETT33 (1861-1923) oder etwa der das Übersinnliche einbeziehende, die Tradition des Sensationsromans fortsetzende Vampir-Roman Dracula (1897) von BRAM STOKER34 (1845-1912). Besondere Bedeutung in die32

Three Adventure Novels [She, King Solomon's Mines, Allan Quatermain] (N. Y., 1951). - L. R. Haggard, The Cloak That I Left: A Biography of the Author H. R. H. (Ipswich, 1976 [ 951]); M. N. Cohen, R. H.: His Life and Works (1960); P. B. Ellis, H. R. H. (1978). 33 The Letters of M. H., ed. L. Binyon (1926). - A. B. Sutherland, M. H. (Philad., 1938). - M. Bronner, H.: Being a Critical Review of His Prose and Poetry (Boston, 1910). 34 The B. S. Bedside Companion: Stories of Fantasy and Horror, ed. C. Osborne (1973);

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sem Zusammenhang kommt jedoch Sir ARTHUR CONAN DovLEs35 (18591930) erstem Roman A Study in Scarlet (1887) zu. Dieser Roman ähnelt dem Sensationsroman durch das Thema des sensationellen Verbrechens und dem Abenteuerroman durch die in Amerika spielende Handlung des Mittelteils. Schon hier macht Doyle aber seinen Detektiv Sherlock Holmes zur Hauptfigur und übernimmt damit von Poe das Motiv des großen, ein rätselhaftes Verbrechen enträtselnden Detektivs, das seine späteren Kurzgeschichten (z. B. The Adventures of Sherlock Holmes, 1891/2) immer stärker bestimmen und die Struktur des Abenteuer- und Sensationsromans zugunsten einer analytischen Struktur zurückdrängen sollte. Auf diese Weise gewinnt A Study in Scarlet Schwellencharakter und bereitet die angelsächsische Detektivliteratur des 20. Jahrhunderts vor. Das Abenteuer spielt auch im Werk des in Bombay geborenen RUDYARD KIPLING36 (1865-1936) eine große Rolle, aber nicht um seiner selbst willen, sondern um dem Glauben des Autors an die alle Niedergeschlagenheit überwindende Tat Ausdruck zu verleihen. Seine Plain Tales from the Hills (1888), Novellen, die in den farbenprächtigen Beschreibungen der exotischen Landschaft ein romantisches Erbe verraten, schildern gleichzeitig das Leben der Engländer in Indien und zeigen in den knappen, pointierten, von der französischen 'conte' beeinflußten Skizzen das Heldentum englischer Soldaten in wenig beachteten Kolonialscharmützeln. Indien ist auch der Schauplatz weiterer Novellenbände wie z. B. Under the Deodars (1888), The City of Dreadful Night (1890) und Life's Handicap (1891) sowie der einzigartigen Jungle Books (1894 und 1895). In dieser Geschichte des unter den Tieren des Dschungels aufwachsenden Holzhauersohns Mowgli gewann Kipling die Herzen vor allem der jugendlichen Leser durch eine Vielzahl von abenteuerlichen Episoden und verkündete zugleich implizit seine puritanische Forderung nach Einzelausg. in NEL. - D. Parson, The Man Who Wrote Dracula (1976). - D. F. Glut, The Dracula Book (Metuchen, N. J., 1975). 35 The Complete Sherlock Holmes, ed. C. Morley (Garden City, N. Y., 1938); The Annotated Sherlock Holmes, ed. W. S. Baring-Gould, 2 Bde. (N. Y., 1967); Einzelausg. in LES, PB, WC. - P. Nordon, Sir A. C. D.: L'Homme et l'oeuvre (Paris, 1964); R. Pearsall, C. D. (Lo./N. Y., 1977); H. Pearson, C. D.: His Life and Art (1977); J. Symons, C. D. (1979). - D. M. Dakin, A Sherlock Holmes Commentary (Newton Abbot, 1972); M. Harrison, In the Footsteps of Sherlock Holmes ( . ., 1972); I. McQueen, Sherlock Holmes Detected (Newton Abbot, 1974); M. Pointer, The Public Life of Sherlock Holmes (Newton Abbot, 1975); . . Hall, Sherlock Holmes and His Creator (Lo./N. Y., 1978). - M. and M. Hardwick, The Sherlock Holmes Companion (1962). 36 Sussex Edn. of the Complete Works in Prose and Verse of R. K., 35 Bde. (1937-39); R. K.'s Verse, Definitive Edn. (1949 ['1940]); Einzelausg. in EL, FP, PB. - C. E. Carrington, R. K.: His Life and Work (1978 [ 955]); R. Escarpit, R. K. (Paris, 1970); K. Amis, R. K. and His World (1975); P. Mason, K. (1975); F. S. Lord Birkenhead, R. K. (1978). - B. Dobree, R. K. (1967); T. R. Henn, K. (Edinb., 1967); E. L. Gilbert, The Good K.: Studies in the Short Story (Athens, O., 1970); V. A. Shahane, R. K. (Carbondale, Ill./Lo., 1973); M. Fido, R. K. (Lo./N. Y., 1974); S. Islam, K.'s 'Law': A Study of His Philosophy of Life (1975). - K.'s Mind and Art, ed. A. Rutherford (Stanford, 1964).

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Disziplin, Gehorsam und Pflichterfüllung. Erst recht ist dies der ethische Kern von Kim (1901), Kiplings bestem Roman. Aus den Abenteuern und farbigen Bildern indischen Lebens hebt sich die Gegenüberstellung des irischen Waisenkindes Kim und des Lamas, des Vertreters der westlichen und der östlichen Kultur, heraus. Beide haben ihre Berechtigung, aber nach Kipling gehört die Zukunft nicht dem kontemplativen Lama, sondern den tätigen Kolonisatoren. Auf diese Weise wurde Kipling zum Propagandisten der englischen Weltherrschaft, aber zugleich betonte er auch stets die Pflichten, die den Vertretern einer Herrschernation aus ihrer Vorrangstellung erwachsen. Erst recht hämmerte Kiplings Lyrik - von den Departmental Ditties (1886) über die im Soldatenslang geschriebenen Barrack-Room Ballads (1892) bis zu der Sammlung The Five Nations (1903) - den englischen Lesern den Imperialismusgedanken ein. Als das diamantene Jubiläum der Königin Viktoria 1897 einen Taumel der Selbstzufriedenheit wachrief, schrieb Kipling den puritanischen Choral Recessional, in dessen zornigen Rhythmen der Imperialismus eine religiöse Weihe erhielt; und am bekanntesten wurde sein Gedicht The White Man's Burden (1899) mit der fatalen These, daß die Kolonisierung unterlegener Völker nicht nur Vorrecht, sondern auch Pflicht und Last des weißen Mannes sei. Kipling hat auch ganz andersartige Werke geschrieben, wie etwa die von seiner Wahlheimat Sussex inspirierten, in erster Linie für jugendliche Leser bestimmten Phantasien Puck of Pook's Hill (1906) und Rewards and Fairies (1910). Dies konnte aber nichts daran ändern, daß Kipling wegen jener Werke, in denen die imperialistische Idee im Mittelpunkt steht, nach dem Ersten Weltkrieg in Mißkredit geriet. Auch in künstlerischer Hinsicht hat seine Dichtung enge Grenzen. Er arbeitet oft mit Knalleffekten, verzichtet weitgehend auf Zwischentöne und zeichnet meist, wie der Titel eines seiner Novellenbände lautet, In Black and White (1888). Trotzdem hat sein farbiger und kraftvoller impressionistischer Stil eine ungewöhnliche Verlebendigungskraft, die vor allem seinen Kurzgeschichten zugute kam und ihn zu einem Meister der kurzen Erzählform im England seiner Zeit werden ließ. Überhaupt ist es nicht zuletzt Kipling zu verdanken, daß die Kurzgeschichte im England der Neunziger Jahre37 eine erste Blütezeit erlebte. Während diese Gattung in den Vereinigten Staaten schon von Poe, Hawthorne und Melville, das heißt Jahrzehnte früher, als eigenständige Kunstform ernstgenommen wurde, zeigt die Gattungsentwicklung in England - nach ersten Anfängen u.a. bei Dickens - erst gegen die Jahrhundertwende einen deutlichen Aufschwung. Die Autoren dieser Zeit behandeln zwar in ihren Kurzgeschichten ähnliche Themen wie in den Romanen: Kipling gestaltet - ähnlich wie Joseph Conrad (s. S. 953 ff.) - in seinen eindrucksvollsten Erzäh37

Short Stories of the 'Nineties: A Biographical Anthology, ed. D. Stanford (1968); Working-class Stories of the 1890s, ed. P. J. Keating (1971). - H. G. Honig, Studien zur englischen Kurzgeschichte am Ende des 19. Jahrhunderts (Göppingen, 1971); A. Seiler-Franklin, Dekadenz und Avantgarde: Erzählerische Experimente im England der Jahrhundertwende (Aarau, 1977).

IV. Der Roman

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lungen die Situation des Weißen in der Welt der Kolonien; George Gissing (s. S. 809) und Arthur Morrison schildern auch in ihren Kurzgeschichten sozialkritisch die Situation der unterprivilegierten Schichten und der Frau; und Arthur Symons (s. S. 773) oder Ernest Dowson (s. S. 772 f.) evozieren auch in dieser neuen Gattung jene Schönheits- und Verfallsstimmungen, die generell für die ästhetizistische Dichtung der neunziger Jahre (s. S. 772 ff.) charakteristisch sind. Zugleich aber bilden sich - gefördert u. a. durch literarische Zeitschriften wie The Yellow Book oder The Savoy - in dieser Zeit bereits jene neuen impressionistischen Formen und Techniken heraus, die dann den Boden für die Werke der ersten großen Meister der englischen Kurzgeschichte - James Joyce und Katherine Mansfield (s. S. 1013f.) - bereiten halfen.

7. Der amerikanische Roman nach dem Bürgerkrieg: Marktbedingungen, Themen und Gattungen38 Ebenso wie in Großbritannien vollzog sich in den USA, wenngleich mit einiger Verzögerung, eine außerordentliche Erweiterung des Lesepublikums. Von dieser Entwicklung profitierte insbesondere der Roman: Um 1900 stellten die Romane bereits 20% sämtlicher Veröffentlichungen. Zugleich wurde der Markt mehr und mehr durch das Phänomen des 'best seller' bestimmt. Zunächst waren es weitgehend noch englische Autoren, die in den USA hohe Auflagen erreichten (u. a. Bunyan, Defoe, Swift, Richardson, Scott und Dickens), aber bald konnten sich auch amerikanische Autoren bei dem neu entstandenen Massenpublikum durchsetzen. Einer der ersten einheimischen Bestseller war Uncle Tom's Cabin (1852) (s. S. 632), und nach dem Bürgerkrieg erreichten Autoren wie z. B. Mark Twain, Joel Chandler Harris, Frances Hodgson Burnett und Lewis Wallace vorher unbekannte Auflagen. Auf diese Weise wurde es auch für amerikanische Autoren in zunehmendem Maße 38

L. H. Wright, American Fiction 1774-1900, 3 Bde. (San Marino, Cal., 1939-66) [Bd. 2: 1851-1875; Bd. 3:1876-1900]; M. Geismar, Rebels and Ancestors: The American Novel 1890-1915 (Boston/Cambr., Mass., 1953); H. W. Papashvily, All the Happy Endings: A Study of the Domestic Novel in America [...] in the Nineteenth Century (Port Washington, N. Y., 1972 [ 956]); R. Falk, The Victorian Mode in American Fiction 1865-1885 (East Lansing, Mich., 1965); G. O. Taylor, The Passages of Thought: Psychological Representation in the American Novel 1870-1900 (N. Y., 1969); H. B. Henderson, Versions of the Past: The Historical Imagination in American Fiction (N. Y., 1974). - Geschichte und Fiktion: Amerikanische Prosa im 19. Jahrhundert, edd. A. Weber und H. Grandel (Göttingen, 1972), pb. - Zum Regionalroman: H. S. Fiske, Provincial Types in American Fiction (Port Washington, N. Y., 1968 [ 903]); P. Brodin, Le Roman regionaliste americain (Paris, 1937); E. W. Gaston, Jr., The Early Novel of the Southwest (Albuquerque, N. M., 1961). - Zur Utopie: R. L. Smarter, The Utopian Novel in America 1865-1900 (N. Y., 1973 [ 936]); V. L. Parrington, Jr., American Dreams: A Study of American Utopias (N. Y., 1964 [ 947]); K. M. Roemer, The Obsolete Necessity: America in Utopian Writings 1888-1900 (Kent, O., 1976).

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möglich, von ihrer schriftstellerischen Produktion zu leben. Zu dieser Entwicklung trug ebenfalls das Copyright-Gesetz von 1891 bei, durch das auch europäische Autoren in den Genuß eines Urheberschutzes in den USA gelangten, so daß die europäischen Romane mit ihren bis dahin niedrigeren Preisen für den amerikanischen Autor keine unlautere Konkurrenz mehr bedeuteten. An den wachsenden Verkaufsziffern der Romane waren ähnlich wie in Großbritannien die Magazine (wie z. B. Harper's, Atlantic, Scribner's, Collier's), in denen die Romane vor der Buchveröffentlichung in Fortsetzungen erschienen, entscheidend beteiligt; und da für die Publikation eines Romans als 'serial' durchweg mehr als für die Buchveröffentlichung gezahlt wurde, trugen die Magazine wesentlich zu den wachsenden Einkünften erfolgreicher Autoren bei. Zwei Themenbereiche dominieren im amerikanischen Roman dieser Zeit. Bei einer Gruppe von Romanen handelt es sich im Grunde um Regionalromane, in denen 'local colour' das Thema bildet: Die Nation eroberte das unerforschte Hinterland, und der Roman suchte, einer Bestandsaufnahme ähnlich, die verschiedenen Menschen und Lebensformen in den verschiedenen Klimazonen und Territorien des weiten Landes zu beschreiben. Eine zweite Gruppe von Romanen wandte sich in der Nachfolge Scotts und Coopers historischen Themen, insbesondere aus der amerikanischen Geschichte, zu und bemühte sich auf diese Weise, die eigene Vergangenheit aufzuarbeiten. Vor allem gegen Ende des Jahrhunderts erschien schließlich eine große Zahl von utopischen Romanen, die Wunschbilder einer besseren Zukunft gestalteten. Es ist sicher unrichtig, wenn oft behauptet wird, daß in dieser Romanproduktion die 'romance' immer noch dominiert habe, während in Großbritannien schon längst der realistische Gesellschaftsroman führend geworden sei. Zum einen gewann auch in England die 'romance' mit Kipling, Stevenson und im Trivialroman gegen Ende des Jahrhunderts erheblich an Bedeutung (vgl. S. 813 ff.). Zum anderen nahm in Amerika die Zahl realistischer, zeitnaher Romane ebenfalls zu, und zwar nicht erst mit William Dean Howells und Stephen Crane, sondern teilweise bereits im Bereich der Regionalromane; und überdies dürfte die wachsende Popularität der Abenteuerromane in den USA des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Teil - ähnlich wie in Großbritannien - als Reaktion auf den realistischen Roman zu werten sein. Trotzdem war die Tradition der 'romance' in Amerika auch nach dem Bürgerkrieg zunächst noch stärker als in England, so daß sich der realistische Roman nur mit einer gewissen Verzögerung durchsetzen konnte. Die in den Südstaaten spielenden Romane und Erzählungen sind heute durchweg eher in kulturhistorischer als in künstlerischer Hinsicht von Interesse. Der wichtigste dieser Autoren des amerikanischen Südens ist GEORGE WASHINGTON CABLE39 (1844-1925). Seine Bedeutung beruht vor allem auf 39

Collected Works of G.W. C, 19 Bde. (N. Y.; repr., o. J. [' 1879-1918]); The Silent South, ed. A. Turner (Montclair, N. J., 1969) [Essays]. - L. L. Cable Bikle, G. W. C.: His Life and Letters (N. Y., 1967 [ 928]); A. Turner, G. W. C. (Durham, N. C, 1956); L. D. Rubin, Jr., G. W. C. (N. Y., 1969). - P. Butcher, G. W. C., TUSAS (N. Y., 1962); A. Turner, G. W. C. (Austin, Tex., 1969).

IV. Der Roman

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Old Creole Days (1879), einer Sammlung von sieben Kurzgeschichten, die hauptsächlich ihres Stoffes wegen einflußreich waren. Sie schildern die gesellschaftliche Welt der Kreolen in New Orleans mit ihrem etwas altmodischen französisch-exotischen Duft, den schönen Frauen und den leicht entzündlichen Temperamenten. Auch sein im Louisiana des frühen 19. Jahrhunderts spielender Roman The Grandissimes (1880) gibt, geruhsam und farbig auf großer Leinwand ausgemalt, Story of Creole Life', wobei die Züge der 'romance' bereits in der verwickelten Handlung von Familienzwist, gestohlener Erbschaft, dreifacher Liebesgeschichte und entzweiten Halbbrüdern deutlich werden. Ebenfalls in erster Linie von folkloristischem Interesse sind die von JOEL CHANDLER HARRIS40 (1848-1908) in mundartlichem Englisch aufgezeichneten Onkel-Remus-Geschichten (Uncle Remus: His Songs and Sayings, 1880; Nights with Uncle Remus, 1883; Uncle Remus and his Friends, 1892), die in ihrer Zeit außerordentlich erfolgreich waren. Hier erzählt ein alter Neger dem kleinen Sohn seines Dienstherrn die alten Märchen und fabulierenden Tiergeschichten seines Volks, in denen Ernst, Scherz und Phantastik miteinander abwechseln. Die liebenswürdige Darstellung der Neger bei Harris hat ihr Gegenstück in der romantischen Darstellung des Indianers in HELEN HUNT JACKSONS41 (1830-85) vielgelesenem Roman Ramona (l 884), der, angeregt von Uncle Tom's Cabin, von den bedauernswerten Schicksalen des Indianers Alessandro und seiner halbblütigen Geliebten im spanischen Südkalifornien erzählt, das nach dem mexikanischen Krieg von den Amerikanern erobert wird. Im Gegensatz zu diesen Südstaaten-Autoren war KATE CHOPIN42 (1851-1904) mehr um Realismus bemüht. Sie schuf nach dem Vorbild Maupassants scharf umrissene Kurzgeschichten, in denen das Leben von Kreolen und 'Cajuns' beschrieben wird (Bayou Folk, 1894; A Night in Acadie, 1897), sowie den Roman The Awakening (1899), der durch seine realistische Darstellung von Themen wie dem der Ehe zwischen Negern und Weißen und des Ehebruchs bei seinem Erscheinen einen Sturm der Entrüstung auslöste und heute wieder neue Beachtung gefunden hat. Auch bei den in Neu-England erschienenen regionalen Romanen und Kurzgeschichten dominieren die weiblichen Autoren, von denen Harriet Beecher Stowe und Louisa May Alcott mit ihrem Kinderbuch Little Women (1868) bereits behandelt worden sind (s. S. 702). In ihrer Zeit außerordentlich erfolgreich, auch außerhalb der USA, war ebenfalls die gebürtige Engländerin FRAN40

The Complete Tales of Uncle Remus, ed. R. Chase (Boston/Cambr., Mass., 1955); Einzelausg. in AFS; J. C. H.: Editor and Essayist, ed. J. C. Harris (N. Y., 1971 [ 931]). - J. C. Harris, The Life and Letters of J. C. H. (Boston, 1918/Lo., 1919) [enthält auch Briefe]; P. M. Cousins, J. C. H. (Baton Rouge, La., 1968). - S. B. Brookes, J. C. H. (Athens, O., 1950); R. B. Bickley, Jr., J. C. H., TUSAS (Boston, 1978). 41 Poems (N. Y., 1972 [ 892]); A Century of Dishonour, ed. A. F. Rolle (N. Y., 1965), pb. - R. Odell, H. H. J. [H. H.] (N. Y., 1939); E. Banning, H. H. J. (N. Y., 1973). 42 The Complete Works of K. C., ed. P. Seyersted, 2 Bde. (Baton Rouge, La., 1969); The Awakening: An Authoritative Text, Contexts, Criticism, ed. M. Culley(N. Y., 1976); Einzelausg. in AFS. - D. S. Rankin, K. C. and Her Creole Stories (Philad., 1932); P. Seyersted, K. C. (Oslo/Baton Rouge, La., 1969).

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CES HODGSON BURNETT43 (1848-1924) mit ihrem rührseligen Roman Little Lord Fauntleroy (1886). Wertvoller sind die Regionalromane von SARAH ORNE JEWEIT44 (1849-1909), deren herbe Schilderung einer kleinen Hafenstadt in Maine in The Country of the Pointed Firs (1896) - mehr eine Sammlung von Skizzen als ein Roman - auf Willa Gather vorausdeutet. Ebenfalls zu nennen sind hier MARY E. WILKINS FREEMAN45 (1852-1930) mit ihrem Roman Jerome: A Poor Man (1897) und ihrem Kurzgeschichtenband A New England Nun (1891), der Methodistenprediger EDWARD EGGLESTON46 (1837-1902) mit seinem lehrhaften und detailfreudigen Roman The Hoosier School-Master (1871) sowie MARY NOAILLES MURFREE ('Charles Egbert Craddock')47 (1850-1922) mit ihrer an Lokalkolorit ebenfalls reichen Kurzgeschichtensammlung In the Tennessee Mountains (1884). Neben Erzählungen, welche die geographische und ethnologische Vielfalt der USA verarbeiten, gewinnt auch die historische Dimension erneut an Beliebtheit. Diese Popularität historischer Themen und abenteuerlicher Handlung geht nicht zuletzt zurück auf den Welterfolg des in viele Sprachen übersetzten Bestsellers Ben-Hur (1880) von LEWIS WALLACE48 (1827-1905), der den Kampf zwischen Juden, Christen und römischem Reich in leuchtenden Farben und einer spannenden Handlung gestaltet. Ebenfalls sehr erfolgreich war der außerordentlich produktive FRANCIS MARION CRAWFORD49 (1854-1909), dessen Ziel ausschließlich die spannende Unterhaltung war. Einer seiner beliebtesten historischen Romane ist Via Crucis (1899), in dem 43

Einzelausg. in AFS, CIS, EL, PB; The One I knew the Best of All (N. Y., 1974 [ 893]) [Autobiographie]. - V. Burnett, The Romantic Lady: F. H. B.: The Life Story of an Imagination (N. Y., 1927). 44 Collected Works of S. O. J„ 14 Bde. (N. Y.; repr., o. J. [ 877-1901]); The Best Stories of S. O. J., ed. W. Cather, 2 Bde. (Boston, 1925) [in einem Band als The Country of the Pointed Firs and Other Stories (N. Y., 1968)]; The World of Dünnet Landing: A S. O. J. Collection, ed. D. B. Green (Lincoln, Nebr., 1962); S. O.J. Letters, ed. R. Gary (Waterville, Me., 1967 [ 956]). - F. O. Matthiessen, S. O. J. (Boston, 1929); J. E. Frost, S. O. J, (Kittery Point, Me., 1960). - R. Cary, S. O. J., TUSAS (N. Y., 1962). 45 The Best Stories of M. E. W., ed. H. W. Lanier (N. Y., 1971 [ 927]); Einzelausg. in AFS. - E. Foster, M. E. W. F. (N. Y., 1956). - A. A. Hamblen, The New England Art of M. E. W. F. (Amherst, Mass., 1966); P. D. Westbrook, M. W. F, TUSAS (N. Y., 1967). "Collected Works, 12 Bde. (N. Y.; repr., o.J. ['1870-93]); Einzelausg. in AFS, CIS. W. Randel, E. E. (Gloucester, 1962 [ 946]); E. Eggleston, Spoon River Homestead (N. Y., 1960). - S. C. Paine, A Critical Study of the Novels of E. E. (Ann Arbor, 1962); W. Randel, E. E., TUSAS (N. Y., 1963). 47 Einzelausg. in AFS. - E. W. Parks, Charles Egbert Craddock [M. N. M.] (N. Y., 1971 [11941]); R. Gary, M. N. M., TUSAS (N. Y., 1967). 48 Ben Hur, ed. J. Kenneth (Glasgow, 1973), pb.; weitere Einzelausg. in CIS, NAL u. a.; An Autobiography, 2 Bde. (N. Y., 1972 [ 906]). - J. McKee, Ben Hur W.: The Life of General L. W. (Berkeley, 1947). 49 The Complete Works of F. M. C., Authorized Edn., 32 Bde. (N. Y., 1882-1904); The Novel: What It Is (Freeport, N. Y., 1969 [ 893]), auch pb. - M. H. Elliott, My Cousin F. M. C. (1934). - J. Pilkington, Jr., F. M. C., TUSAS (N. Y., 1964). - J. C. Moran, A F. M. C. Companion (Westport, Conn., 1981).

IV. Der Roman

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er mit der Gabe des geborenen Erzählers die Geschichte des zweiten Kreuzzuges eingehend und liebevoll wie Scott schildert, aber ohne dessen Verweilen bei ermüdenden Einzelheiten und mit einer psychologisch genauen, geradezu modern wirkenden Charakterdarstellung. Die Hinwendung zum historischen Roman führte zugleich zu einer immer stärkeren Berücksichtigung von Themen aus der amerikanischen Nationalgeschichte, insbesondere des Unabhängigkeitskrieges und des Bürgerkrieges. Dabei ist in diesen Romanen eine ähnliche Vorliebe für das Lokalkolorit wie in den Regionalromanen zu beobachten, wie umgekehrt ein beträchtlicher Teil der Regionalromane ihren Schauplatz in die Vergangenheit verlegt. Die Reihe der in den Südstaaten lokalisierten und deren Geschichtsauffassung vertretenden Werke dieser Art beginnt bereits mit The Virginia Comedians (1854) von JOHN ESTEN CooKE50 (1830-86), in dem die historische Thematik allerdings noch eine untergeordnete Rolle spielt, und wird durch nicht wenige weitere Romane - so etwa durch die in Richmond, Virginia, lokalisierten, die vergangene aristokratische Kultur des Südens verklärenden Romane (The Battle-Ground (1902), The Deliverance (1904) und The Romance of a Plain Man (1909) der begabten Ellen Glasgow (s. S. 966) - fortgesetzt, die aber alle den Erfolg von Margaret Mitchells Bestseller Gone with the Wind (1936) nicht erreichen konnten. Unter den in den Nordstaaten spielenden historischen Romanen sind vor allem die Werke des Arztes SILAS WEIR MITCHELLM (1829-1914) zu nennen. Repräsentativ dafür ist Hugh Wynne: Free Quaker (1897), der beste den Unabhängigkeitskrieg schildernde amerikanische Roman, der in Bericht- und Tagebuchform die Atmosphäre im revolutionären Philadelphia vergegenwärtigt und das abenteuerliche Schicksal des Helden als Spion, Gefangener und Mitglied von Lafayettes Stab erzählt, sowie der im Bürgerkrieg spielende Roman Roland Blake (1886). Auch WINSTON CHURCHILLS52 (1871-1947) historische Romane Richard Carvel (1899), The Crisis (1901) und The Crossing (1904) haben den Unabhängigkeitskrieg bzw. den Bürgerkrieg zum Hintergrund und fanden damals große Beachtung, obwohl sie mit Einzelheiten überladen sind und Mängel im Aufbau des 'plot' aufweisen. Während Churchill sich bald nach der Jahrhundertwende dem politischen Gegenwartsroman zuwandte, wurde die Mode des historischen Romans durch andere Autoren fortgesetzt, so etwa durch GERTRUDE ATHERTON53 50

Einzelausg. in AFS; Virginia: A History of the People ( . ., 1972 [ 883]). - J. . Beaty, J. E. C. ( . ., 1922). 51 Works of S. W. M., The Author's Definitive Edn., 16 Bde. (N. Y., 1910-14); The Complete Poems (N. Y., 1914); Einzelausg. in AFS. - A. R. Burr, W. M.: His Life and Letters (N. Y., 1930 [ 929]) [enthält auch Briefe]; E. Earnest, S. W. M. (Philad., 1950). - D. M. Rein, S. W. M. äs a Psychiatrie Novelist (N. Y., 1952); J. P. Lovering, S. W. M., TUSAS (N. Y., 1971). "The Works of W. C, New Uniform Edn. (1927). - C. C. Walcutt, The Romantic Compromise in the Novels of W. C. (Ann Arbor, 1951); W. I. Titus, W. C., TUSAS (N. Y., 1963). 53 Einzelausg. in AFS; Adventures of a Novelist (N. Y./Lo., 1932) [Autobiographie]. J. H. Jackson, G. A. (N. Y., 1940); C. D. Forrey, G. A. and the New Woman (Ann Arbor, 1974); C. S. McClure, G. A., TUSAS (Boston, 1979).

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(1857-1948) mit ihrer effekthaschenden „dramatisierten" Alexander-Hamilton-Biographie The Conqueror (1902) und MARY JOHNSTONS54 (1870-1936) Bürgerkriegspanoramen The Long Roll (1911) und dessen Fortsetzung Cease Firing (1912). Eine weitere im ausgehenden 19. Jahrhundert außerordentlich beliebte Thematik und Romangattung repräsentiert schließlich die Utopie. Während die meisten der überaus zahlreichen Utopien, die in dieser Zeit erschienen, längst vergessen sind, hat EDWARD BELLAMYS55 (1850-98) Roman Looking Backward: 2000-1887 (1888), der entscheidend zu der großen Popularität utopischen Schrifttums in den USA beitrug, heute wieder eine gewisse Bedeutung gewonnen. Dieser Roman, in dem der Held Julian West aus einem von Streiks und sozialen Spannungen erschütterten Boston des Jahres 1887 in ein sozialistisches Boston des Jahres 2000 versetzt wird, ist charakteristisch für die Utopien dieser Zeit: Was Handlung und Charakterdarstellung betrifft, bleibt dieser Roman weit hinter den gegen Ende des Jahrhunderts erschienenen 'romances' zurück; aber er verrät ein steigendes soziales Verantwortungsgefühl, für das in den meisten historischen Romanen dieser Periode kein Platz war.

8. Mark Twain, Bret Harte und die Kurzgeschichte56 Was den amerikanischen Roman immer wieder vor Blutleere und Künstlichkeit bewahrte, war seine Verwurzelung im heimatlichen Land; und es war gerade das Fehlen eines literarischen und traditionell bindenden Mittelpunkts, das allen Teilen des Landes eine gleichberechtigte Stimme gab. Das bezeichnendste Beispiel dafür ist das Pionierskind 'MARK TWAIN'57 (Samuel 54

Einzelausg. in CIS. Einzelausg. in LS, ML, NAL; E. B. Speaks Again: Articles, Public Addresses, Letters, ed. R. L. McBride (Kansas City, Mo., 1937); Selected Writings on Religion and Society, ed. J. Schiff man (N. Y., 1955). - S.E. Bowman, The Year 2000: A Critical Biography of E. B. (N. Y., 1958). - A. E. Morgan, The Philosophy of E. B. (N. Y., 1945); S. E. Bowman et al., E. B. Abroad: An American Prophet's Influence (N. Y., 1962). 56 American Local-Colour Stories, edd. H. R. Warfei and G. H. Orians (N. Y., 1941); The Local Colorists: American Short Stories 1857-1900, ed. C. M. Simpson (N. Y., 1959); Sammlung auch in EL. - R. D. Rhode, Setting in the American Short Story of Local Color 1865-1900 (The Hague, 1975). "The Writings of M.T., ed. A. B. Paine, 37 Bde. (N. Y., 1922-25); wiss. Ausg.: The Works of M. T, Iowa-California Edn., edd. J. C. Gerber et al., 25 Bde. (Berkeley, 1972 ff., bisher 5 Bde. erschienen); wiss. Ausg.: The M. T. Papers, edd. W. Blair et al., 15 Bde. (Berkeley, 1967 ff., bisher 11 Bde. erschienen) [Bde. 2 und 7: Briefe]; Sammlung und Einzelausg. in AWS, EL, NAL, PB, WC; M. T.'s Letters, ed. A. B. Paine, 2 Bde. (N. Y., 1917). - J. Kaplan, Mr. Clemens and M. T. (N. Y., 1966); C. Graves, M. T. (N. Y., 1972); K. Hassler, M. T. (Charlottesville, Va., 1979). - B. De Voto, M. T. at Work (Cambr., Mass., 1942); G. C. Bellamy, M. T. as a Literary Artist (Norman, Okla., 1950); P. S. Foner, M. T. (N. Y., 1958); F. R. Rogers, M.T's Burlesque Patterns (Dallas, Tex., 1960); F. Baldanza, M. T. (N. Y., 1961), auch pb.; P. Covici, Jr., 55

IV. Der Roman

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Langhorne Clemens, 1835-1910). Mark Twain, der in Missouri geboren wurde und als Journalist viele Teile der USA, aber insbesondere den Mittleren Westen kennenlernte, entdeckte für die amerikanische Literatur einen neuen Menschenschlag und machte eine neue Gegend literaturfähig. Das Leben im Mittelwesten, das er häufig beschrieb, war ungefüge und ungeschlacht, hatte aber etwas episch Großzügiges wie die Landschaft der riesigen Wälder, Prärien und Ströme. Die hier einen harten Kampf ums Dasein führende Pionierbevölkerung stand den kulturellen Überlieferungen Europas fern; sie liebte derbe Spaße, Übertreibungen und Realismus. Diesen 'western humour' brachte Mark Twain in die Literatur. Er schrieb eine laute und aufdringliche Prosa, aber seine Erzählungen sind urwüchsig und allem Phrasentum feind. Mark Twain hatte einen durchschlagenden Erfolg, als er in Zeitungen, und dann in dem Band The Celebrated Jumping Frog of Calaveras County, and other Sketches (1867) zusammengefaßt, derartige grobkomische Humoresken, Anekdoten und Skizzen veröffentlichte. Schon die in der Tradition der amerikanischen 'tall tale' stehende Titelgeschichte zeigt seine besondere Begabung für die kurze Erzählform, für eine Kurzgeschichte, deren Wirkung auf 'local colour', Humor, Volkstümlichkeit und Erzählfreude, nicht aber so sehr auf einer subtilen Formgebung beruht. Auch später - bis etwa zu seiner Erzählung The Man that corrupted Hadleyburg (1900), in der Misanthropic und moralistische Absicht den Humor zurückdrängten - nahm diese Art der Kurzgeschichte in seinem Schaffen einen bedeutenden Raum ein; und sogar in jenen Werken, die äußerlich Romanumfang annehmen, zeigt sich in der lockeren, episodischen Struktur, daß sein eigentliches Talent in der Kurzgeschichte lag. Dies gilt in besonderem Maße für seine Reiseberichte. So schildert er etwa in Roughing It (1872) eine Reise durch den amerikanischen Westen und, ebenfalls in episodischer Form, in The Innocents Abroad (1869) mit journalistischer Unbedenklichkeit Erlebnisse auf einer Europa- und Palästinafahrt, an der er als Zeitungsberichterstatter teilnahm. Er macht sich über Ausländer und ihre Sitten lustig, begleitet alles, was er nicht kennt, mit drollig-skeptischen Bemerkungen und stellt unbekümmert Begegnungen mit betrügerischen Wirten und Führern neben sentimentale Beschreibungen biblischer Szenen. Auch A Tramp Abroad (1880), die Beschreibung einer trotz des Titels per Bahn und Schiff zurückgelegten Reise durch Deutschland und die Schweiz, vermischt journalistische Information, farcenhafte Episoden und satirische Bemerkungen etwa über die „schreckliche deutsche Sprache", die Wagneropern und anderes, das ihm fremd ist. M. T.'s Humor (Dallas, Tex., 1962); H. N. Smith, M. T. (Cambr., Mass., 1962); J. M. Cox, M. T. (Princeton, 1966); C. Neider, M. T. (N. Y., 1967); M. Geismar, M. T. (Boston, 1970); W. M. Gibson, The Art of M. T. (N. Y., 1976). - E. H. Long, M. T. Handbook (N. Y., 1957); M. T., ed. H. N. Smith, TCV (Englewood Cliffs, N. J., 1963); M. T., ed. D. M. Schmitter (N. Y., 1974).

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In anderen Büchern bemühte er sich dagegen mehr als in seinen Reiseberichten um eine sorgfältigere Komposition. Dies gelang noch nicht in seinem Roman The Gilded Age (1873), den er mit Charles Dudley Warner zusammen verfaßte und der nur durch die Schilderung der Ära des „Goldenen Westens" in Erinnerung blieb. Weit höheren literarischen Rang erreichten im Gegensatz zu diesem Roman jene Bücher, in denen Mark Twain autobiographische Erlebnisse, insbesondere Erlebnisse seiner Kindheit, verarbeitete. Die 1873 im Atlantic Monthly und 1883 in überarbeiteter Form als Buch veröffentlichten Erinnerungen an seine Lotsenzeit auf einem Mississippi-Dampfer (Life on the Mississippi} geben in den ersten 28 Kapiteln ein überaus anschauliches, wenn auch in der Erinnerung verschöntes Bild des damaligen Flußlebens, während der zweite, später geschriebene und schwächere Teil die Rückkehr des Autors nach 21 Jahren erzählt und in die Klage ausmündet, daß die Bahn den Reiz der Flußfahrt zerstört habe. Die Form des Romans wählte Mark Twain dann wieder in The Adventures of Tom Sawyer (1876) und der Fortsetzung The Adventures of Huckleberry Finn (1884), in denen er Lausbubengeschichten aus seinem Heimatdorf erzählt. Besonders der zweite Roman ist aber weit mehr als das: Er ist ein Schelmenroman, in dem der Mississippi die Rolle der Landstraße im alten pikaresken Roman einnimmt, eine 'novel of initiation' und zugleich ein Epos des alten Amerika, wie es vor dem Bürgerkrieg war: eine Welt voller Gewalttat und Grausamkeit, aber auch voller Hilfsbereitschaft und Vitalität, frei von der Herrschaft des Geldes und mit der Möglichkeit, sich den gesellschaftlichen Zwängen immer wieder zu entziehen. Darüber hinaus hat Mark Twain noch andere Werke geschrieben, die seinem literarischen Porträt weitere interessante Züge hinzufügen, wie etwa seine Burleske A Connecticut Yankee in King Arthur's Court (1889), bei der es sich zugleich um eine Satire auf eine verlogene Romantik handelt, oder seine ehrgeizigen Personal Recollections of Joan of Arc (1896), die ein Fehlschlag wurden. Auch heute noch zur Weltliteratur gehört er jedoch fast auschließlich durch Tom Sawyer, Huckleberry Finn sowie durch die besten seiner Kurzgeschichten. Im Gegensatz zu Mark Twain sind BRET HARTES58 (1836-1902) Romane heute vergessen, und aus seinem Werk sind nur seine Kurzgeschichten lebendig geblieben. Auch am Anfang seines schriftstellerischen Ruhms steht eine Kurzgeschichte: Als er in seiner Zeitschrift Overland Monthly in San Francisco die kalifornische Goldsuchererzählung The Luck of Roaring Camp (1868) veröffentlichte, hatte er einen ebenso großen Erfolg wie Mark Twain 1865 mit The Celebrated Frog of Calaveras County und mußte auf stürmisches Verlangen seiner Leser weitere Kurzgeschichten dieser Art schreiben, 58

The Writings of B. H., Standard Library Edn., 20 Bde. (Boston, 1896-1914); Sammlung in AWS, NAL; The Letters of B. H., ed. G. B. Harte (N. Y., 1973 [ 926]). G. R. Stewart, B. H. (Port Washington, N. Y., 1968 [ 931]); M. Duckett, Mark Twain and B. H. (Norman, Okla., 1964); R. O'Connor, B. H. (Boston, 1966). - P. Morrow, B. H. (Boise, Id., 1972).

IV. Der Roman

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von denen The Outcasts of Poker Flat, Tennessee's Partner, The Idyl of Red Gulch und Brown of Calaveras als seine besten gelten. Es war nicht nur das stoffliche Interesse an dem romantischen Leben in Kalifornien und die damalige Vorliebe für 'local colour', die seinen zahlreichen Kurzgeschichten Leser in allen Teilen Amerikas und in aller Welt verschafften, sondern auch die künstlerische Leistung der Zusammendrängung, das Gefühl für Kontraste und Proportion und die Fähigkeit, Charaktere und Situation aufeinander abzustimmen. Der lockeren Form der Kurzgeschichte, wie sie Washington Irving begründete, hatte Poe, der wie später Henry James Einheit, Auschluß des Unwesentlichen und einen auf den Höhepunkt ausgerichteten Aufbau forderte, festen Umriß gegeben. Bret Harte, der spannende Handlung, dramatische und effektvolle Höhepunkte sowie Kürze und Tempo als wesentliche Merkmale der Kurzgeschichte beibehielt, suchte die Einheit der Wirkung vor allem in der Lokalfarbe, in der fast impressionistischen Schilderung der Umwelt. Allerdings ist diese Umwelt romantisiert, wie auch seine gesellschaftlich deklassierten Goldgräber unweigerlich ein gutes Herz haben. Dies kam der Sentimentalität seiner damaligen Leser entgegen; heute jedoch hat man bei der Lektüre seiner durchweg nach demselben Rezept geschriebenen Geschichten das Gefühl der Einförmigkeit und wird diesem einst hochgeschätzten Erzähler ein zwar unbezweifelbares, aber sehr begrenztes Talent zusprechen. Als Bret Hartes Schüler begann der ebenfalls als Journalist tätige AMBROSE BiERCE59 (1842-1914?), dessen beste Kurzgeschichten (gesammelt in Tales of Soldiers and Civilians, 1891; Can Such Things Be?, 1893) fast alle von Tod und Grauen handeln und auf Episoden des Bürgerkriegs beruhen, an dem er teilgenommen hatte. Bierce stellt den Krieg nicht romantisch, sondern als grausam und schrecklich dar: Er erzählt von dem Soldaten, der einen feindlichen Spion erschießt, obwohl er in ihm seinen eigenen Vater erkannt hat (A Horseman in the Sky, 1889), von den Illusionsvorstellungen eines zum Tode verurteilten Südstaatenpflanzers zwischen dem Umlegen der Schlinge und dem Brechen seines Genicks (An Occurrence at Owl Creek Bridge, 1889), von dem taubstummen Kind, das in den Greueln der Schlacht Heim und Familie verliert (Chickamauga, 1890). Aufgrund seiner Themen und Technik könnte man Bierce als Fortsetzer der Poeschen 'tales of horror' einordnen, wenn nicht das Okkulte und Übernatürliche, dessen Handhabung bei Poe unser Verstandesurteil ausschließt, bei Bierce allzu bewußt als sensationelle und oft melodramatische Schlußpointe der Geschichte verwendet würde. Während dieses effektvolle 'surprise ending' in besonderem Maße charakteristisch für Bierce ist, verbindet ihn mit Mark Twain und Bret Harte eine generelle Vorliebe für äußere Effekte, überraschende Wendungen und überhaupt für einen durch die Handlung bestimmten Typ der Kurzgeschichte, 59

The Collected Works of A. B., 12 Bde. (N. Y., 1966 ['1909-12]); Sammlung in ML, NAL; The Letters of A. B., ed. B. C. Pope (N. Y., 1967 [ 922]). - C. MC Williams, A.B. (Hamden, Conn., 1967 [ 929]); P. Fatout, A.B. (Norman, Okla., 1951); R. O'Connor, A. B. (Boston, 1967). - S. C. Woodruff, The Short Stories of A. B. (Pittsburgh, Pa., 1964); M. E. Grenander, A. B., TUSAS ( . ., 1971).

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Siebtes Buch: Die viktorianische Zeit

während ein Realismus im engeren Sinn kaum als Ziel dieser drei Autoren bezeichnet werden kann. Realistisch wurde die amerikanische Kurzgeschichte vielmehr erst mit Autoren wie Garland und Stephen Crane. HAMLIN GARLANDS60 (1860-1940) schonungslose Wirklichkeitsdarstellung weist auf die französischen Naturalisten hin, insbesondere auf Zola, für den er sich ähnlich wie Howells einsetzte. Besonders in seinen Erzählungen in den Sammlungen Main-Travelled Roads (1891) und Other Main-Travelled Roads (1910) bemühte er sich darum, die vom Naturalismus empfangenen Anregungen auf amerikanische Stoffe zu übertragen. Die 'main-travelled road' im Westen der USA erscheint dabei als ein Bild der Lebensstraße, auf der Menschen aller sozialen Klassen vorbeiziehen und die Armen und Müden vorherrschen. Garland wurde Haupt einer literarischen Schule in Chicago, und zweifellos geben seine Erzählungen ein wahrheitsgetreues Bild des agrarischen Mittelwestens; in künstlerischer Hinsicht bedeuten sie jedoch heute nicht mehr allzuviel. Die besten Erzählungen von Stephen Crane (s. S. 830) bemühten sich dagegen, Realismus mit strenger Formgebung zu verbinden. Neben The Blue Hotel (1898) ist besonders seine Erzählung The Open Boat (1897), die Darstellung eines selbsterlebten Schiffbruchs, lebendig geblieben. Hier erhält die spannende Handlung tiefere Bedeutung, weil das Motiv des Schiffbruchs in Cranes intensiver, impressionistisch-subtiler Gestaltungskraft das Grundbild des Kampfes gegen elementare Lebensbedrohung überhaupt sichtbar werden läßt. Mit seiner reportagehaft knappen Sprache wie auch mit der Dichte der Struktur, die sich aus der Konzentration auf einen Ort, eine kurze Zeitspanne und eine menschliche Grundsituation ergibt, nimmt Crane gerade in dieser Erzählung die 'short story' des 20. Jahrhunderts, besonders aber Hemingways, vorweg. Die meisten Erzählungen der bisher genannten Autoren verband, daß sie in starkem Maße durch 'local colour' und durch Handlung, durch eine „sich ereignete unerhörte Begebenheit" (Goethe über die Novelle), geprägt wurden. Von dieser Tradition wich Henry James (s. S. 830 ff.) entschieden ab. Er bevorzugte nicht die äußere Welt mit ihrer 'local colour', sondern das Interieur, nicht das außergewöhnliche Geschehen, sondern alltägliche Ereignisse, Probleme zwischenmenschlicher Beziehungen und des künstlerischen Schaffens, nicht das herkömmliche 'surprise ending', sondern den abschließenden Moment der Erkenntnis; und sein Realismus war nicht sozialer, sondern psychologischer Natur (vgl. die beispielhaften Erzählungen The Madonna of the Future, 1875; The Real Thing, 1893; The Beast in the Jungle, 1903; Broken Wings, 1903). Selbst dann, wenn er wie in The Turn of the Screw (1898) die Geschichte einer Geistererscheinung schrieb, erreichte er eine Vertiefung der 60

Collected Works, 45 Bde. (N.Y.; repr., o.J. [M890-1939]); Sammlung in NAL; H. G.'s Diaries, ed. D. Pizer (San Marino, Cal., 1968). - J. Holloway, H. G. (Austin, Tex., 1960). - R. Mane, H. G.: L'Homme et l'oeuvre (Paris, 1968); H. Horchers, H. G. (Bern/Frankfurt, 1975); R. Gish, H. G. (Boise, Id., 1976); J. B. MC Cullough, H. G., TUSAS (Boston, 1978).

IV. Der Roman

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'tale of horror' Poes zu einer Erzählung, die primär durch ihre psychologisch interessante Situation fesselt. In seinen über hundert Kurzgeschichten und Novellen suchte er, wie in seinen Romanen, zeitlos-moralische Themen zu gestalten, indem er immer wieder verschiedene gesellschaftliche Typen und Konventionen miteinander konfrontierte. So begegnen sich in seinen Erzählungen Bürger und Künstler, ahnungslose Jugend und wissende, oft verderbte Erwachsene, puritanische Amerikaner und kultivierte oder dekadente Europäer. Durch brennpunktartige Einengung der Erzählperspektive auf das „Bewußtseinszentrum" der handelnden Personen erreichte er eine geschlossene Kunstform, der allerdings die sprachliche Knappheit und Verdichtung der modernen 'short story' noch fehlt; denn James liebte die ruhige Entfaltung der oft etwas künstlichen psychologischen Ausgangssituation durch eingehende Darstellung der Beobachtungen, Gefühlsregungen und Reflexionen der Handlungsträger. Auf die Kurzgeschichte des 20. Jahrhunderts hat James einen starken Einfluß ausgeübt; und Autorinnen wie Katherine Anne Porter, Edith Wharton und Katherine Mansfield setzten seine Art des kurzen Erzählens fort.

9. Der soziale und psychologische Realismus im amerikanischen Roman61 Lange Zeit dominierte in der amerikanischen Literatur ein Roman, der den Leser in räumliche oder zeitliche Fernen führte. Auch die Mehrzahl der Regionalromane sowie jener Romane, deren Schauplatz die immer weiter nach Westen vordringende 'frontier' war, faszinierte die meisten ihrer Leser durch das Unvertraute, Exotische ihrer Handlungsräume. Wie in der Kurzgeschichte setzte sich auch im amerikanischen Roman nur langsam ein stärkeres Interesse an einer genauen und kritischen Darstellung der dem Leser vertrauten gesellschaftlichen Wirklichkeit und an einer psychologischen Analyse menschlicher Beziehungen durch. Wegbereiter dieser Entwicklung waren die beiden miteinander befreundeten Schriftsteller William Dean Howells und Henry James. Beide übten in ihrer Zeit einen großen Einfluß aus; dieser ging jedoch in verschiedene Richtungen: Howells trug maßgeblich zur Herausbildung eines sozialen Realismus im amerikanischen Roman bei, während Henry James dem psychologischen Realismus im amerikanischen und auch im englischen Roman starke Impulse gab und überdies neue Erzähltechniken entwickelte. 61

L. Ahnebrink, The Beginnings of Naturalism in American Fiction 1891-1903 (Uppsala, 1950); C. C. Walcutt, American Literary Naturalism (Minneapolis, 1956); D. Pizer, Realism and Naturalism in Nineteenth-Century American Literature (Carbondale, 111., 1966); H. H. Kolb, Jr., The Illusion of Life: American Realism as a Literary Form (Charlottesville, Va., 1969); E. H. Cady, The Light of Common Day: Realism in American Fiction (Bloomington, 1971); K. Poenicke, Der amerikanische Naturalismus: Crane, Norris, Dreiser (Darmstadt, 1982).

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Siebtes Buch: Die viktorianische Zeit

Am Anfang des Schaffens von WILLIAM DEAN HOWELLS" (1837-1920) stehen Reiseberichte (Venetian Life, 1866; Italian Journeys, 1867); aber schon bald wandte er sich dem Roman und der realistischen Darstellung der amerikanischen Gesellschaft im Roman zu. Sowohl A Modern Instance (1882), den Howells selbst als seinen stärksten Roman bezeichnete und der die überstürzte Ehe einer Frau mit einem unwürdigen Partner zum Gegenstand hat, als auch The Rise of Silas Lapham (1885), der von der Kritik am höchsten bewertet wurde und der die Geschichte des raschen Aufstiegs, äußeren Niedergangs und sittlichen Siegs eines neuenglischen Industriellen erzählt, sind realistische Darstellungen des Schicksals von Durchschnittsmenschen, deren innerer Wert durch den Gegensatz zu einer kritisch gesehenen Gesellschaft hervortritt. Howells' Gesellschaftskritik führte ihn dann zu einer Annäherung an den Sozialismus; und diese weltanschauliche Wende schlug sich auch in seinen Romanen nieder, so etwa in A Hazard of New Fortunes (1890), der von Arbeitskämpfen handelt, und in der Utopie A Traveller from Altruria (1894), in dem ein sozialistischer Idealstaat nicht wie etwa bei Bellamy (s. S. 822) durch einen Erzähler, der aus unserer Welt nach Utopia gelangt, sondern durch einen Besucher aus Utopia in unserer Welt geschildert wird. Trotz dieser Hinwendung zum Sozialismus enthalten Howells' Werke jedoch keine Anklage und sind durch eine Abneigung gegenüber jeglicher Gewalt und Radikalität gekennzeichnet: So läßt er mit nachgerade Dickensscher Furchtsamkeit den revolutionären Sozialisten in A Hazard of New Fortunes den Tod finden, als dieser die Streikenden beruhigen will. Auch als Literarkritiker vermied Howells extreme Positionen: So fühlte er sich schon früh durch Zola angezogen, bekannte sich jedoch erst spät öffentlich zu ihm. Aber gerade seine zwischen Altem und Neuem vermittelnde Position ermöglichte ihm einen großen Einfluß auf die Leser und Schriftsteller seiner Zeit, und als Literarkritiker sowie als Herausgeber der Zeitschrift Atlantic Monthly hat er den literarischen Geschmack einer ganzen Generation entscheidend geprägt. Andere Autoren, die sich ebenfalls um die Entwicklung eines realistischen Romans bemühten, blieben in künstlerischer Hinsicht weit hinter Howells 62

Wiss. Ausg.: A Selected Edn. of W. D. H., Indiana Edn., edd. G. Arms et al., ca. 40 Bde. (Bloomington, 1968 ff., bisher 16 Bde. erschienen); The Complete Plays of W. D. H., ed. W. J. Meserve (N. Y., 1960); W. D. H. as Critic, ed. E. H. Cady (1973); Einzelausg. in NAL, RE, WC; M. Howells, Life in Letters of W. D. H., 2 Bde. (Garden City, N. Y., 1928). - E. Cady, The Road to Realism: The Early Years, 1837-1885, of W. D. H. und The Realist at War: The Mature Years, 1885-1920, of W. D. H. (Syracuse, N. Y., 1956 und 1958); V. W. Brooks, H.: His Life and World (N. Y., 1959); K. S. Lynn, W. D. H. (N. Y., 1971). - O. W. Firkins, W. D. H. (N. Y., 1963 [4924]); E. Carter, H. and the Age of Realism (Philad., 1954); O. W. Fryckstedt, In Quest of America: A Study of H.'s Early Development as a Novelist (Cambr., Mass., 1958); C. M. and R. Kirk, W. D. H., TUSAS (N. Y., 1962); G. C. Carrington, Jr., The Immense Complex Drama: The World and Art of the H. Novel (Columbus, O., 1966); W. McMurray, The Literary Realism of W. D. H. (Carbondale, 111., 1967); G. N. Bennett, The Realism of W. D. H. 1889-1920 (Nashville, Tenn., 1973). - H., ed. K. E. Eble (Dallas, Tex., 1962).

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zurück. Dies gilt etwa für EDGAR WATSON HowEs63 (1853-1937) unverblümte Schilderung des zu Unrecht gepriesenen ländlichen Lebens im mittleren Westen in The Story of a Country Town (1883), in der der realistische Anspruch durch die melodramatische Häufung des Unglücks unglaubwürdig wird, und auch für HAROLD FREDERIC64 (1856-98), der mit dem künstlerisch schwachen Thesenroman The Damnation of Theron Ware (1896) eine vorübergehende Berühmtheit erreichte. Konsequenter und radikaler ist der Realismus bei drei anderen Autoren, deren Romane auch über ihre Entstehungszeit hinaus von Einfluß blieben, und zwar bei Hamlin Garland, Frank Norris und Stephen Crane. Hamlin Garland, der auch zur Hinwendung der amerikanischen Kurzgeschichte zum Realismus beitrug (s. S. 826), stellte in seinen frühen Romanen die realistische Gesellschaftsdarstellung weit nachdrücklicher als Howells in den Dienst des Kampfes um politische und soziale Reformen. So propagierte er in Jason Edwards: An Average Man (1892) den Landbesteuerungsplan von Henry George, setzte sich in A Spoil of Off ice (1892) für die Ziele der Populisten ein und kritisierte in The Captain of the Gray-Horse Troop (1902) das an den Indianern verübte Unrecht. Einen bleibenden künstlerischen Rang vermochte er jedoch mit diesen Romanen nicht zu erreichen. Bedeutender sind die Romane des stark vom französischen Naturalismus beeinflußten FRANK NoRRis65 (1870-1902), obwohl sie nicht selten durch eine Vorliebe des Verfassers für sensationelle und melodramatische Effekte beeinträchtigt werden. So schilderte er in seinem Roman McTeague (1899) nach dem Rezept des europäischen Naturalismus das allmähliche Verkommen eines Dentisten aus San Francisco, läßt diesen Roman jedoch mit einer im Death Valley spielenden sensationellen Szene enden, die eher an einen schlechten Film erinnert. Norris plante dann eine Romantrilogie mit dem Weizen als Thema, die Kalifornien als das Erzeugerland, Chicago als die Verteilungszentrale und Europa als den Konsumenten schildern sollte. Von dieser Trilogie wurden allerdings nur zwei Bände vollendet, und von künstlerischem Niveau ist allein der erste Band The Octopus (1901). Dieser Roman schildert den Kampf der kalifornischen Weizenfarmer gegen die kapitalistische Eisenbahn, 63

Collected Works, 15 Bde. (N. Y.; repr., o. J. [ 884-1933]). - C. M. Pickett, E. H. (Lawrence, Kans., 1968). - S. J. Sackett, E. W. H. (N. Y., 1972); M. Busto, E. W. H. (Boise, Id., 1977). 64 Collected Works, 14 Bde. (N. Y.; repr, o. J. ['1887-99]); wiss. Ausg.: The H. F. Edn., edd. G. E. Fortenberry et al. (Fort Worth, Tex, 1977 ff, bisher Bd. l: Briefe). - T. F. O'Donnell and H. C. Franchers, H. F, TUSAS (N. Y, 1961); A. Briggs, Jr., The Novels of H. F. (Ithaca, N. Y, 1969). 65 The Complete Edn. of F. N, 10 Bde. (Garden City, N. Y, 1928); The Literary Criticism of F. N, ed. D. Pizer (Austin, Tex, 1964); Einzelausg. in ML, NAL; The Letters of F. N, ed. F. Walker (San Francisco, 1956). - F. Walker, F. N. (N. Y, 1963 [ 932]). - E. Marchand, F. N. (Lo./Stanford, 1942); L. Ahnebrink, The Influence of Emile Zola on F. N. (Uppsala/Cambr, Mass, 1947); W. French, F. N, TUSAS (N. Y, 1962); D. Pizer, The Novels of F. N. (Bloomington, 1966); W. B. Dillingham, F. N. (Lincoln, Nebr, 1969); D. Graham, The Fiction of F. N. (Lo./Columbia, O, 1978).

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diesen gigantischen Polypen, von dessen Fangarmen sie schließlich erdrückt werden. Aber der Weizen ist noch mächtiger: Der Eisenbahnmagnat wird beim Beladen eines Schiffes von der goldenen Fracht erstickt. Bilder der riesigen Weizenfelder und der aus vielen Nationen zusammengewürfelten Farmerbevölkerung wechseln in diesem Roman ab mit Kampfszenen und Beschreibungen des städtischen Elends, und insgesamt erreicht dieses Werk trotz gewisser Inkonsequenzen epische Größe und bleibenden Wert. Ebenfalls durch eine Annäherung an den französischen Naturalismus gekennzeichnet ist das Werk des ebenso wie Norris früh verstorbenen STEPHEN CRANE66 (1871-1900). Sein erster Roman Maggie: A Girl of the Streets (1893), dessen im Privatdruck erschienene erste Auflage der Verfasser zurückziehen mußte, erzählt ohne Sentimentalität, ohne Rechtfertigungsversuch und ohne Einmischung des Autors als Tatsachenbericht und typischen Fall die Geschichte der Verführung und des Selbstmords eines Fabrikmädchens aus den Slums von New York. Wie Zola räumt Crane hier dem die Menschen determinierenden Milieu eine beherrschende Rolle ein, die Dialoge ähneln Protokollen wirklicher Gespräche, und die knappe, distanzierte Erzählweise wirkt provozierend. Unmittelbaren Erfolg hatte Crane dagegen mit seinem Kriegsroman The Red Badge of Courage (1895). Crane beschränkt sich hier auf die Darstellung der psychischen Erlebnisse eines Soldaten während der dreitägigen Schlacht von Chancellorsville im amerikanischen Bürgerkrieg. Der junge Henry Fleming wird Teil einer uniformierten Masse und reagiert fast willenlos. Zuerst patriotisch begeistert, wird er plötzlich von Angst gepackt und flieht mit den anderen, gerät unter die Verwundeten, bekommt einen Kolbenhieb, stürzt wieder nach vorn, ergreift automatisch die Fahne und gilt als Held. Daß Crane auch hier weniger einen individuellen als vielmehr einen typischen Fall darstellt und diesen mit kühler, distanzierter Sachlichkeit gestaltet, macht die Entromantisierung des Heldentums besonders eindringlich. Kein englischer Autor vor 1914 hat einen ähnlichen Kriegsroman geschrieben; und mit diesem Roman sowie mit den besten seiner Kurzgeschichten (s. S. 826) spricht Crane - ähnlich wie Norris - auch den Leser unserer Zeit mit einer Intensität an, die Howells heute nicht mehr zu erreichen vermag. Die Bedeutung dieser frühen Realisten für die weitere Entwicklung des Romans liegt auf der Hand; die entscheidende Wendung zum modernen Roman brachte jedoch erst der psychologische Realismus von HENRY JAMES67 66

The Work of S. C, ed. W. S. Follett, 12 Bde. (N. Y., 1963 ['1925-26]); wiss. Ausg.: The University of Virginia Edn. of the Works of S. C., ed. F. Bowers, 10 Bde. (Charlottesville, Va., 1969-76); wiss. Ausg.: The Poems of S. C, ed. J. Katz (N. Y., 1966); Teilsammlungen und Einzelausg. in NAL, OP, RE, WC; Letters, edd. R. W. Stallman and L. Gilkes (N. Y., 1960). - J. Berryman, S. C. (N. Y., 1950); R. W. Stallman, S. C. (N. Y., 1968). - E. H. Cady, S. C., TUSAS (N. Y., 1962); E. Solomon, S. C. (Cambr., Mass., 1966); D.B. Gibson, The Fiction of S. C. (Carbondale, 111., 1968); M. LaFrance, A Reading of S. C. (Oxf., 1971); F. Bergon, S. C.'s Artistry (N. Y., 1975). S. C., ed. M. Bassan, TCV (Englewood Cliffs, N. J., 1967). 67 The Novels and Tales of H. J. (N. Y. Edn.], 26 Bde. (N. Y., 1961-64 [ 907-17]); The

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(1843-1916). Allerdings gehörte James ebensosehr dem 19. wie dem 20. Jahrhundert an. Sein „internationaler" oder „atlantischer" Roman, der in einer von Alltagssorgen abgerückten Welt kosmopolitischer Müßiggänger spielt, spiegelt eine heute vergangene Welt; er geht der Arbeitswelt, den sozialen Konflikten und den Mißständen des Industriezeitalters aus dem Weg; und seine plots sind durchweg konventionell. In die Zukunft dagegen weist seine Romantechnik, die, beeinflußt von George Eliot, Flaubert und Turgenjew (und weniger von amerikanischen Autoren), die feinsten und flüchtigsten seelischen Schattierungen und Reaktionen aufzeichnet und die mitarbeitende Aufmerksamkeit des Lesers verlangt. Das Schaffen von Henry James wurde entscheidend beeinflußt durch seinen kosmopolitischen Bildungsgang und dadurch, daß er wie T. S. Eliot zwischen Amerika und Europa stand - er lebte seit 1866 vorwiegend in England und ließ sich dort 1915 naturalisieren. Schon seine frühen Werke, die dem konventionellen Roman noch nahestehen, haben diese kosmopolitische Existenz und das Schwanken zwischen den verschiedenen künstlerischen und gesellschaftlichen Sphären Amerikas und Europas zum Thema. So erzählt sein Roman Roderick Hudson (1876) das Schicksal eines amerikanischen Bildhauers in einem internationalen Kreis in Rom; und der in Frankreich spielende Roman The American (1877) verbindet mit einer konventionellen Liebesgeschichte eine fast wissenschaftliche Studie des Kosmopolitismus. In den folgenden Romanen wird die Haltung des Erzählers mehr und mehr die eines distanzierten Beobachters, so etwa in The Europeans (1878), wo James nun auch umgekehrt das Verhalten der Europäer in Amerika studiert, oder in dem Kurzroman Daisy Miller (1879), dessen Titelfigur, eine unbekümmert offene und zugleich naive Amerikanerin in Rom, in Europa sprichwörtlich für die typische Amerikanerin wurde, oder in Washington Square (1881), wo James Bodley Head H.J., 11 Bde. (1967-74); The Complete Plays of H.J., ed. L. Edel (1949); The Art of the Novel: Critical Prefaces by H. J., ed. R. P. Blackmur (N. Y., 1962 [ 934]); zahlr. weitere Essay-Sammlungen; The Notebooks of H. J., edd. F. O. Matthiessen et al. ( . ., 1961 [ 947]); Teilsammlungen und Einzelausg. in EL, NAL, PB, WC; The Letters of H. J., ed. P. Lubbock, 2 Bde. (N. Y., 1920); Letters, ed. L. Edel (Lo./Cambr., Mass., 1974 ff., bisher 3 Bde. erschienen). - F. W. Dupee, H. J. (Garden City, N. Y., 1956 [ 951]); L. Edel, H. J., 5 Bde. (Philad., 1953-72); H. T. Moore, H. J. and His World (Lo./N. Y., 1974). - F. O. Matthiessen, H. J. (N. Y., 1944); E. T. Bowden, The Themes of H. J. (Lo./New Haven, 1956); O. Cargill, The Novels of H. J. (N. Y., 1961); D. Krook, The Ordeal of Consciousness in H. J. (Cambr., 1962); L. B. Holland, The Expense of Vision: Essays on the Craft of H. J. (Princeton, 1964); J. A. Ward, The Search for Form: Studies in the Structure of J.'s Fiction (Chapel Hill, N. C, 1967); P. Buitenhuis, The Grasping Imagination: The American Writings of H. J. (Toronto, 1970); C. T. Samuels, The Ambiguity of H. J. (Urbana, III, 1971); K. Graham, H.J. (Oxf., 1975); B. Lee, The Novels of H.J. (1978); D. J. Schneider, The Crystal Cage: Adventures of the Imagination in the Fiction of H.J. (Lawrence, Kans., 1978). - The Question of H. J., ed. F. W. Dupee (N. Y., 1973 [ 945]); H. J., ed. L. Edel, TCV (Englewood Cliffs, N.J., 1963); S. G. Putt, A Reader's Guide to H. J. (1966); H. J., ed. T. Tanner, MJ (1968); H. J.'s Major Novels, ed. L. H. Powers (East Lansing, Mich., 1973).

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auf den internationalen Schauplatz zugunsten einer psychologisch eindringlichen Studie amerikanischer Charaktere und Umwelt verzichtet. Der bedeutendste Roman seiner mittleren Schaffensperiode und zugleich ein erster künstlerischer Höhepunkt ist The Portrait of a Lady (1881). Dieser in englischen und italienischen Gesellschaftskreisen spielende Roman erzählt die Geschichte der jungen Amerikanerin lsabel Archer, die sich, wie sie glaubt, frei für einen von drei Bewerbern entscheidet und dann erkennt, daß ihre beste Freundin sie zu dieser Wahl ihres früheren Geliebten verleitete. Aber dieser unerfreuliche Inhalt ist nebensächlich. Wie die anderen großen Romane von James stellt auch The Portrait of a Lady nicht eine unterhaltsame Geschichte in den Mittelpunkt, sondern eine moralische Situation: Die „Geschichte" ist die Summe der verwickelt-vielfältigen Beziehungen und Reaktionen der Heldin. Das Kompositionsgesetz des Romans wird von James so formuliert: 'employing but one centre and keeping it all within my hero's consciousness', wobei er dieses Prinzip hier allerdings noch nicht mit der gleichen Konsequenz wie in seinen späten Romanen verwendet. Der Leser sieht also nicht das Geschehen selbst, sondern die in dem zentralen Bewußtsein der Protagonistin gespiegelten Eindrücke und Reaktionen, wobei er auch das Informationsdefizit der Heldin teilt. In dem ganz aus dem 'point of view' eines Kindes erzählten Roman What Maisie Knew (1897) wird dieses Prinzip noch konsequenter und mit noch ausgeklügelterer Kunst als in The Portrait of a Lady durchgeführt. Maisie ist die unschuldige und unverstehende Zeugin der Liebesaffären ihrer geschiedenen Eltern; und ihr ungerechtfertigter Glaube an die Güte der Erwachsenen gibt ihrer Perspektive eine ironische Note, wobei allein aus dieser Ironie die Haltung des nicht direkt in Erscheinung tretenden Erzählers zu erschließen ist. In seinen letzten Romanen, die nicht weniger unsympathische Menschen auftreten lassen, verfeinert James seine Technik zu einer für den modernen Roman wegweisenden impressionistischen Methode. Die Inhalte besagen nicht viel, was durch die Banalität und Ähnlichkeit der 'plots' unterstrichen wird; aber sie können doch Hinweise auf das geben, worauf es James ankam. Die dem Leser nur allmählich enthüllte Intrige in The Wings of the Dove (1902) variiert das Thema von The Portrait of a Lady: Eine reiche, aber todkranke Amerikanerin wird von ihrer Freundin zu einer Ehe mit deren unvermögendem Geliebten gedrängt. Obwohl die Intrige nach Wunsch verläuft, ist das Ende tragisch, da dem Opfer der Betrug enthüllt wird und das Schuldbewußtsein des Mannes fortan zwischen den Intriganten steht. In dem von James als sein Meisterwerk angesehenen Roman The Ambassadors (1903) wird die Handlung dagegen am Rande durch Komik aufgehellt. Strether, der Verlobte der höchst konventionellen und vermögenden Mrs. Newsome in Massachusetts, wird von dieser ausgesandt, um deren Sohn Chad aus Paris, wo er eine Geliebte haben soll, zurückzuholen. Strether sieht bald die Aussichtslosigkeit seiner Mission, da er erkennt, daß der verlorene Sohn eine enge Bindung mit der hochkultivierten Gräfin de Vionnet eingegangen ist, und da er überdies selbst der Gräfin mehr und mehr verfällt. Obwohl er in

IV. Der Roman

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seinem sensiblen Moralempfinden von der Banalität der Beziehung Chads zu der Gräfin verletzt ist, veranlaßt er, aus Mitleid mit Madame de Vionnet, Chad zu bleiben; und obwohl er Mrs. Newsomes Welt entwachsen ist, kehrt er nach Amerika zurück. Der Aufbau des Romans ist eine tour de force: James vermeidet die sich eigentlich anbietende autobiographische Ich-Form und macht statt dessen Strether zum zentralen 'reflector', aus dessen Perspektive der Leser das Geschehen und die Reaktionen aller Figuren erlebt. Mit dem letzten Roman The Golden Bowl (1904) kehrt James nochmals zu der moralisch brüchigen Welt von The Wings of the Dove und The Portrait of a Lady zurück, einer Welt, die in diesem Roman durch eine goldene Schale mit einer unsichtbaren Bruchstelle symbolisiert wird. Auch im Mittelpunkt dieses Romans stehen zwei Freundinnen, deren eine erkennen muß, daß der italienische Prinz, den sie geheiratet hat, ein früheres Liebesverhältnis mit der jetzt mit ihrem Vater verheirateten Freundin erneuerte. Die krude Situation ist so zart verhüllt, daß man sie aus den Gesprächen der sensiblen, überkultivierten Charaktere nur erahnen kann; und sie wird überdies gemildert durch den feinen Takt, mit dem die Amerikanerin und ihr Vater stillschweigend die Lösung durch eine räumliche Trennung der beiden Paare herbeiführen. Der Roman führt James' Methode zu einem Höhepunkt: Eine Erzählung im herkömmlichen Sinn ist überhaupt nicht mehr vorhanden, und an ihre Stelle tritt eine nur mit Halblichtern und Andeutungen arbeitende Spiegelung in den Äußerungen der Hauptpersonen. Die von James in seinen letzten Romanen konsequent durchgeführte Technik bedeutet eine radikale Absage an die alte Romankonvention. Der allwissende und den Leser über alles unterrichtende Erzähler gehört einer vergangenen Zeit an; der Leser erfährt nur - insbesondere aus einer Vielzahl von Dialogen sowie den in der Form der erlebten Rede wiedergegebenen Bewußtseinsvorgängen der Charaktere -, wie die auftretenden Figuren die gewissermaßen hinter der Bühne geschehenden Ereignisse sehen, empfinden und erörtern; es ergibt sich also eine Vielzahl einzelner Eindrücke, aus deren Zusammenfügung der Leser nur allmählich ein Gesamtbild entwickeln kann. Die Seelenerkenntnis geschieht dabei wie im wirklichen Leben durch das Erfassen kleinster, halbverhüllter Anzeichen, und das Ausschalten eines Vermittlers zwischen Romanwelt und Leser ermöglicht einen konsequenten psychologischen Realismus. Es liegt auf der Hand, daß diese mit subtilen Nuancen arbeitende Kunst für die vereinfachte Charaktere fordernde Bühne ungeeignet ist; und so hatte James mit seinen zahlreichen Dramen und den Dramatisierungen seiner Romane keinen Erfolg. In seinen Kurzgeschichten und Novellen (s. S. 826 f.) konnte er dagegen sein erzählerisches Konzept ebenso überzeugend realisieren wie in seinen Romanen. Richtungweisend wurde James darüber hinaus auch durch seine romantheoretischen Schriften (z. B. The Art of Fiction, 1884), durch die 'prefaces' zu seinen in der New Yorker Ausgabe gesammelten Romanen sowie durch seine zahlreichen Rezensionen von Romanen. Während sich die Literaturtheorie des 19. Jahrhunderts bis dahin vorwiegend

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Siebtes Buch: Die viktorianische Zeit

mit anderen Gattungen und mit allgemeinen literatur- und kunsttheoretischen Fragen beschäftigt hatte und die romantheoretischen Schriften keine größere Bedeutung erlangten, nahm James den Roman als Kunstform ernster als seine Vorgänger und legte daher die Prinzipien seiner Romankunst auch in theoretischen Schriften nieder, durch die er die moderne Romantheorie begründete. James ist nie ein vielgelesener Autor gewesen, dafür waren seine Romane zu handlungsarm, komplex und schwierig. Während aber sein damals soviel erfolgreicherer Freund Howells seinen Ruhm schon bei seinem Tode weitgehend überlebt hatte, übte James im 20. Jahrhundert eine starke Wirkung auf das Romanschaffen aus, und zwar sowohl in England, wo in seiner Nachfolge der „Bewußtseinsroman" bis zu seinen letzten Grenzen weiterentwikkelt wurde (Conrad, Joyce, Woolf und Dorothy Richardson) wie auch in den USA, wo James' Freundin und größte Schülerin Edith Wharton (s. S. 965 f.) die Prinzipien seiner Romankunst weiterführte. Allerdings trug James dadurch zugleich zu einer nicht unbedenklichen Entwicklung bei: Während Romanautoren wie Cooper und Mark Twain, Scott und Dickens für ein breiteres Publikum schrieben und von Lesern nahezu aller sozialen Schichten gelesen wurden, spaltete sich der Roman, nicht zuletzt unter dem Einfluß von James, um die Jahrhundertwende in einen künstlerisch anspruchsvollen und in formaler Hinsicht innovativen Roman, der sich an eine kleine Leserschicht wandte, und in den in formaler Hinsicht konservativen Unterhaltungsroman, der das Massenpublikum des 20. Jahrhunderts besser anzusprechen vermochte.

ACHTES BUCH

DAS ZWANZIGSTE J A H R H U N D E R T

837 LITERATUR

B i b l i o g r a p h i e n und N a c h s c h l a g e w e r k e : NCBEL, Bd. IV, 1900-1950, ed. I. R. Wilson (Cambr., 1972);Twentieth Century Authors: A Biographical Dictionary of Modern Lit., edd. J. Kunitz and H. Haycraft (N. Y., 1942; 1st suppl., 1955); C. Gohdes, Bibliographical Guide to the Study of the Lit. of the U. S. A. (Durham, N. C., 24964); H. M. Jones and R. M. Ludwig, Guide to American Lit. and Its Background Since 1890 (Cambr., Mass., 31964). K u l t u r - und G e i s t e s g e s c h i c h t e : E. Barker, Political Thought in England from Herbert Spencer to Today (1947); W. N. Medlicott, Contemporary England 1914-1965 (1967); The Twentieth Century Mind: History, Ideas, and Lit. in Britain, edd. C. B.Cox and A. E. Dyson, 3 Bde. (1972). - H. S. Commager, The American Mind (New Haven, 1950); M. Lerner, America as a Civilization, 2 Bde. (N. Y., 1960). L i t e r a t u r g e s c h i c h t e : W.W. Robson, Modern Engl. Lit. (1970); J. I. M. Stewart, Eight Modern Writers (Oxf., 1963) [OHELXII]; The Twentieth Century, ed. B. Bergonzi (1970) [Sphere History of Lit. in the Engl. Language, Bd. 7]; The Modern Age, ed. B. Ford (Harmondsworth, 1973) [The Pelican Guide to Engl. Lit., Bd. VII]; G. S. Fräser, The Modern Writer and His World (Harmondsworth, 21970); Engl. Dichter der Moderne: Ihr Leben und Werk, edd. R. Sühnel u. D. Riesner (Bln., 1971); Engl. Lit. der Gegenwart in Einzeldarstellungen, ed. H. W. Drescher (Stuttgart, 1970); R. Lengeier, Engl. Lit. der Gegenwart 1971-75 (Düsseldorf, 1977); W. Karrer u. E. Kreutzer, Daten der engl. u. amerikan. Lit. von 1890 bis zur Gegenwart (München, 1980, dt v.). - American Lit. Since 1900, ed. M. Cunliffe (1975) [Sphere Hist, of Lit. in the Engl. Language, Bd. 9]; H. Straumann, American Lit. in the 20th Century (N. Y., 31965); W. Thorp, American Writing in the 20th Century (Cambr., Mass., 1960); I. Hassan, Contemporary American Lit. 1945-72: An Introduction (N. Y., 1973); Amerikan. Lit. der Gegenwart in Einzeldarstellungen, ed. M. Christadler (Stuttgart, 1973); Die amerikan. Lit. der Gegenwart: Aspekte und Tendenzen, ed. H. Bungert (Stuttgart, 1977). V e r s d i c h t u n g : D. Perkins, A History of Modern Poetry from the 1890s to the High Modernist Mode (Cambr., Mass., 1976); J. Press, A Map of Modern English Verse (1969); A Thwaite, Twentieth-Century English Poetry: An Introduction (1978); Die moderne englische Lyrik: Interpretationen, ed. H. Oppel (Bln., 1967); M. L. Rosenthal, The Modern Poets: A Critical Introduction (1960); ders., The New Poets: American and British Poetry Since World War II (1967). R. H. Pearce, The Continuity of American Poetry (Princeton, 1961 u. ö.); Die amerikan. Lyrik von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart, ed. K. Lubbers (Düsseldorf, 1974). D r a m a : The Revels History of Drama in English, VII, 1880 to the Present Day (1978) u. VIII, American Drama (1977); R. Fricker, Das moderne engl. Drama (Göttingen, 2 1974); E. Roy, British Drama Since Shaw (1972); Das moderne engl. Drama: Interpretationen, ed. H. Oppel (Bln., 21966). - W. J. Meserve, An Outline of American Drama (Totowa, N. J., 1965); Das amerikan. Drama von den Anfängen bis zur Gegenwart, ed. H. Itschert (Darmstadt, 1972); A. S. Downer, Fifty Years of American Drama 1900-50 (Chicago, 1951); The American Theater Today, ed. A. S. Downer (N. Y., 1967); A. Lewis, American Plays and Playwrights of the Contemporary Theater (N. Y., 21970); Das amerikanische Drama, ed. P. Goetsch (Düsseldorf, 1974). R o m a n : F. R. Karl, The Contemporary Engl. Novel (N. Y., 1962); L. Borinski, Meister des modernen engl. Romans (Heidelberg, 1963); R. Fricker, Der moderne engl. Roman (Göttingen, 21966); Der moderne engl. Roman: Interpretationen, ed. H. Oppel (Bln., 2 1971); W. Allen, Tradition and Dream: The English and American Novel from the Twenties to Our Time (1964). - F. J. Hoffman, The Modern Novel in America 1900-

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Literatur

1950 (Chicago, 21964); M. Donald, The American Novel in the 20th Century (Newton Abbott, 1978); I. Hassan, Radical Innocence: Studies in the Contemporary American Novel (Princeton, 1961); J. H. Bryant, The Open Decision: The Contemporary American Novel and Its Intellectual Background (N. Y., 1970); R. M. Olderman, Beyond the Waste Land: A Study of the American Novel in the 1960s (New Haven, 1973); T. Tanner, City of Words: American Fiction 1950-1970 (1971).

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DER POLITISCHE UND GEISTESGESCHICHTLICHE HINTERGRUND In England ist mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts die viktorianische Zeit abgeschlossen. Mit Eduard VII. (1901-10) wurde der englische Hof wieder geselliger Mittelpunkt, und die Bindung an Frankreich in der Entente Cordiale (1904) förderte einen aufgelockerten, kosmopolitisch erscheinenden Lebensstil. Die Wendung in Englands Europapolitik war begleitet von einer innenpolitischen Umschichtung, derzufolge der Einfluß des Bürgertums zugunsten der sozial tiefer stehenden Schichten langsam zurückging. Der Aufstieg des vierten Standes, dessen Organisationen vergeblich versucht hatten, Einfluß auf die liberale Partei zu gewinnen, fand eigenen politischen Ausdruck in der Labour Party, die 1899 aus dem Zusammenschluß von Gewerkschaften 1 und sozialistischen Gesellschaften (Independent Labour Party, Fabian Society2 u. a.) entstand. Schon bei den beiden Wahlen von 1910 erlangte die Labour Party 40 bzw. 42 Parlamentssitze, wurde 1918 durch den Zustrom der im ersten Weltkrieg desillusionierten Massen 'His Majesty's Opposition' und übernahm zunächst kurzfristig 1923, dann 1929-31 und schließlich nach dem zweiten Weltkrieg in den Jahren 1945-1951 die Regierungsgewalt. Das gleichzeitige Bestehen von drei großen Parteien war gegenüber dem Zweiparteiensystem des 18. und 19. Jahrhunderts ein politisches Novum, das jedoch nur Übergangscharakter hatte, denn nach dem zweiten Weltkrieg stellte sich das Gleichgewicht der konservativen und der progressiven Kräfte auf Kosten der ehemals mächtigen liberalen Partei wieder her. Die ganze Entwicklung wird bestimmt von einer bedeutsamen Wandlung des politischen Denkens. Schon zu Ende der viktorianischen Epoche zeigte die Selbstkritik der Mittelklassen ein Schwinden der früheren Selbstgefälligkeit und Zuversicht. Gegenüber dem viktorianischen Grunddogma der individuellen Freiheit setzte sich eine kollektivistische Haltung durch, die religiöse und soziale Impulse zu einem idealistischen (nicht marxistischen) Sozialismus zusammenfaßte und in der Asquithschen Sozialgesetzgebung, insbesondere dem National Insurance Act von 1911 (Arbeitslosen- und Krankenversicherung), die ersten praktischen Ergebnisse zeitigte. Diese Bestrebungen ergriffen im Laufe der Entwicklung auch die konservativen Bevölkerungsschichten; sie wurden jedoch erst nach dem zweiten Weltkrieg voll verwirklicht, als die Labourregierung, gestützt auf eine absolute Mehrheit, die wichtigsten Großindustrien und das Verkehrswesen verstaatlichen und ein umfassendes Sozialversicherungssystem aufbauen konnte. Die konservativen Regierungen, die ab 1951 für die nächsten 13 Jahre die Geschicke Englands bestimmten, haben die Eisen- und Stahlindustrie sowie den Güterlastverkehr wieder reprivatisiert, aber erst in unseren Tagen hat die Regierung Thatcher mit einer großen Privatisierungsaktion begonnen. 1 2

Vgl. Sidney and Beatrice Webb, The History of Trade Unionism (1894, 21920). G. B. Shaw, The Fabian Society (1892).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

Auch auf dem Gebiet der Weltreichspolitik brachte die neue Epoche tiefgreifende Wandlungen. Schon der Burenkrieg (1899-1902) hatte das frühere Vertrauen in die Unerschütterlichkeit des Empire beeinträchtigt, und unter den Regierungen von Georg V. (1910-36), Eduard VIII. (1936), Georg VI. (1936-52) und Elisabeth II. wurde der machtpolitische Zusammenhalt schrittweise gelockert und durch das Commonwealth ersetzt, demzufolge den früheren Reichsteilen unter verschieden enger Bindung an Krone und Mutterland mehr Selbständigkeit und Selbstregierung gewährt wurde. Auch dieser Commonwealth-Gedanke wurde schließlich unter dem wachsenden Einfluß der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Idee einer kollektiven Sicherheit vorübergehend in den Hintergrund gedrängt. Dies zeigte sich in der Mitarbeit Englands an der Gründung des Völkerbundes nach dem ersten und der Vereinten Nationen nach dem zweiten Weltkrieg. Wichtige Abschnitte dieser Entwicklung sind die Gewährung des Dominion-Status an Irland (1921) und das völlige Ausscheiden Eires aus dem Commonwealth (1949), die rechtliche Gleichstellung der Commonwealth-Länder mit dem Mutterland im Westminster-Statut (1931) und die Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit (1947). Auch in Ägypten, Irak und anderwärts hat England seinen Einfluß eingebüßt, und die Kolonien sind zu selbständigen Staaten innerhalb des Reichsverbandes geworden oder in der Umwandlung begriffen. In diesem Umschichtungsprozeß behauptete sich jedoch der Gedanke des Commonwealth, der den Beitritt Englands zur EG lange Zeit erschwerte. Während der ganzen Periode blieb die Monarchie das lebendige Sinnbild für die aus der Vergangenheit überkommenen Werte. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, die moralischen Erschütterungen der Zeit nach dem ersten Weltkrieg und den weit verbreiteten Kulturpessimismus zu überwinden. Dagegen hat das philosophische Denken in England seit dem Ende des Idealismus Hegelscher Prägung nicht mehr versucht, Führung in den unmittelbaren Lebensfragen zu geben oder Systemphilosophie zu sein3. Es suchte vielmehr Anschluß an die Naturwissenschaften und machte sich in zunehmendem Maße mathematische Methoden zunutze. Die ersten Anstöße hierzu gingen von William James' Pragmatism (1907) und von F. C. S. Schillers Humanism (1903) aus. Mit dem Grundsatz: Wahr ist, was sich praktisch bewährt, ist eine Relativierung des Wahrheitsbegriffs gegeben, die dem gedanklichen Experimentieren weite Möglichkeiten eröffnete. Mathematische Methoden setzten sich vollends durch in der Philosophie Bertrand Russells (Principia Mathematica, zusammen mit Alfred North Whitehead, 1910-1913; Inquiry into Meaning and Truth, 1940; Human Knowledge, 1940), George Edward Moores (Principia Ethica, 1903; Philosophical Studies, 1922), A. N. Whiteheads (Science and the Modern World, 1925; Process and Reality, 1929) sowie Ludwig Wittgensteins (Tractatus Logico-Philosophicus, dt. 1921, dt.-engl. 1922; Philosophical Investigations, 1953). Nachhaltige Wirkungen haben die psychologischen Lehren von Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und Alfred Adler 3

G. J. Warnock, English Philosophy since 1900 (1958) [Home Univ. Libr.].

Der politische und geistesgeschichtliche Hintergrund

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gezeitigt. Auf dem Gebiet der allgemeinen Kulturphilosophie ist der bedeutendste Beitrag das monumentale Werk von Arnold Joseph Toynbee A Study of History, das die Kulturmorphologie Spenglers fortbildet, ohne dessen Pessimismus zu verfallen. In Amerika ging die politisch-soziale und kulturelle Entwicklung in diesem Zeitraum andere Wege. Schon am Ende des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Stimmen derjenigen, die eine Umbildung der wirtschaftlichen und sozialen Struktur des Landes für notwendig erachteten. Diese Kritik fand Gehör bei dem republikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt (1901-09), der den Angriff auf die allmächtigen Trusts eröffnete, und bei dem Demokraten Woodrow Wilson (1913-21), der diesen Kampf fortführte und die öffentliche Verwaltung demokratisierte. Damit war zum ersten Male das alte individualistische Dogma eines wirtschaftlichen Laissez-faire zurückgedrängt. Einen grundlegenden Wandel der wirtschaftspolitischen Lage brachte die angelsächsische Schicksalsverbundenheit im ersten Weltkrieg (1917-18). Man zog in den Krieg mit dem Glauben an die Überlegenheit der eigenen Demokratie und in der Zukunftshoffnung auf ein von Amerika und England gemeinsam zu verwirklichendes demokratisches Weltreich. Aber in Versailles wurde der Idealist Wilson überspielt, und die Enttäuschung über die europäische Machtpolitik, zusammen mit einem ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung, in dem sich das Finanzzentrum der Welt von London nach New York verlagerte, gab dem amerikanischen Isolationismus und dem 'Big Business' unter den republikanischen Präsidenten W. G. Harding (1921-23) und C. Coolidge (1923-29) nochmals Aufschwung. Dem entsprach die kulturelle Botschaft von John Dewey4 (1859-1952), dessen „Instrumentalismus" den Jamesschen Pragmatismus fortsetzte und ins Pädagogische wendete. Philosophie wurde das Mittel zur Bewältigung der Lebensfragen; sie sollte ein besseres Menschengeschlecht erziehen helfen und eine gerechtere Gesellschaftsordnung heraufführen (Democracy and Education, 1916; Human Nature and Conduct, 1922; Experience and Nature, 1925). Deweys Bücher begleiteten die hektischen, durch eine Welle von Nationalismus und Antiliberalismus gekennzeichneten zwanziger Jahre, das 'Jazz Age'. Bedrängt von technischen Errungenschaften und von der Lebensgier einer oberflächlich-hohlen Gesellschaft, setzte sich das geistige Leben zur Wehr. Durch das Kriegserlebnis erschüttert, wandten sich die schöpferischen Kräfte gegen ihre Zeit und gaben ihrer Kritik, ihrem Protest oder ihrer Verzweiflung heftigen Ausdruck. Die wirtschaftliche Blüte der zwanziger Jahre fand ein jähes Ende in dem Börsenkrach von 1929 und der anschließenden Wirtschaftskrise. Dadurch kam die arbeiterfreundliche Demokratische Partei wieder ans Ruder, und Franklin Delano Roosevelt (1933-1945) durchbrach mit dem 'New Deal', der mit revolutionären Mitteln der Depression begegnete, die kapitalistische Vor4

Intelligence in the Modern World: John Dewey's Philosophy, ed. J. Ratner (N. Y., 1939); The Philosophy of John Dewey, ed. P. A. Schupp (N. Y., 21951).

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Achfes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

Stellung vom freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte zugunsten sozialer Reformen und einer maßvollen staatlichen Planwirtschaft. Auch die Geistesgeschichte dieser 'pink decade', wie man die dreißiger Jahre genannt hat, ist durch eine zum Sozialismus neigende Haltung bestimmt. Doch brachten die Jahre zwischen den Kriegen auch eine Neubesinnung auf die charakteristisch amerikanischen Werte, sei es, daß man sich von der übrigen Welt absetzte, sei es, daß man sich als den jüngsten verantwortlichen Wahrer der abendländischen Tradition sah. Diese Haltung wurde vor allem von einem kleinen Kreis von Humanisten eingenommen, der die bis dahin maßgebliche Philosophie Deweys in die Verteidigungsstellung drängte. Die Psychoanalyse Freuds, die in England der Tiefenpsychologie C. G. Jungs Platz gemacht hatte, stand in Amerika weiterhin im Mittelpunkt der Diskussion. Von Bedeutung ist ferner, daß das Wiederanknüpfen an die vorindustriellen regionalen Traditionen wieder Fürsprecher fand, vornehmlich im Alten Süden. Auch die erzieherische Tätigkeit der zahllosen Colleges und die zunehmende Befürwortung einer stärkeren häuslichen Kultur richteten sich auf eine Lösung der Krise der technischen Zivilisation. Die Illusion jedoch, daß Amerika fern von den Streitereien der Alten Welt eine Sonderexistenz führen könne, schwand im zweiten Weltkrieg, der wesentlich mitentschieden wurde durch die gewaltigen Lieferungen amerikanischen Kriegsmaterials an die Alliierten. Roosevelts Konzessionen an Rußland in der Konferenz von Jalta führten aber auch zu einer Ausweitung des kommunistischen Einflusses. Sein Nachfolger Truman (1945-1953) konnte zwar weithin nur die von Roosevelt eingeleiteten Maßnahmen durchführen, doch kehrte er sich seit 1947 von dessen Rußlandpolitik ab, um das russische Vordringen im vorderen Orient, in Griechenland und in Berlin einzudämmen. 1952 gewannen zum erstenmal seit 1933 die Republikaner wieder die Wahl mit D. D. Eisenhower als populärem Kandidaten. Seine beiden Amtsperioden (1953-1960) brachten neue wirtschaftliche Blüte, aber auch zunehmende Verhärtung der Fronten zwischen den beiden über atomare Waffen verfügenden Supermächten, und die Probleme unter den wechselnden Regierungen der folgenden Zeit (Koreakrieg, Kubakrise, Vietnamkrieg, Rassenunruhen, Bügerrechtsbewegung) brachten weitere außen- und innenpolitische Unruhe.

I. K R I T I S C H E PROSA

1. Englische Literaturkritik, Historiographie, Biographie und Essaykunst Das Prosaschrifttum ist im 20. Jahrhundert so vielfältig geworden, daß eine klare Unterscheidung von Gattungen kaum möglich ist. Noch im 19. Jahr-

/. Kritische Prosa

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hundert wurde der Essay als eigene Form der literarischen Behandlung von Gegenständen aller Art gepflegt; im 20. Jahrhundert sind die Grenzen der Essayistik gegenüber anderen Prosaformen verwischt. Zwar tritt auch in diesem Jahrhundert die Essaykunst alten Stils immer noch stärker hervor als etwa in Deutschland, aber das formale Interesse schwindet zugunsten des sachlichen. Das gilt vor allem für die literarische Kritik, dann aber auch für die Historiographie und Biographie. Soweit solche Werke eigene literarische Bedeutung haben, gehören sie zur Literaturgeschichte; wenn das sachliche Interesse überwiegt, gehören sie zur Fachliteratur. Es erscheint angebracht, die unter dem umstrittenen Gesichtspunkt der bleibenden literarischen Bedeutung ausgewählten Autoren unter den vier Gruppen Kritik, Historiographie, Biographie und Essaykunst aufzuführen. So verschiedenartig diese Gruppen zunächst anmuten, so herrscht doch ein verbindender Zug in ihnen vor: die Kritik an der Gegenwart, sei es an der Literatur als Äußerung des Lebens, an der Geschichte als einer die Gegenwart formenden Kraft, an den in der Geschichte und in der Gegenwart wirkenden Persönlichkeiten oder auch an den mannigfaltigen Erscheinungen des täglichen Lebens. Als geschichtliche Wurzel dieser allgemeinen Zeitkritik hat die l i t e r a r i sche K r i t i k 1 zu gelten. Soweit sich ihre Aufgabe im akademischen und wissenschaftlichen Bereich erschöpft, gehört sie nicht hierher. Jedoch wirkten einige Gelehrte über den Universitätsbereich hinaus, und zwar sowohl durch die Weite und Bedeutsamkeit ihres Stoffgebietes als auch durch die Art der Darstellung. Zu diesen gehören Shakespearekritiker wie EDWARD DOWDEN (1843-1913), A. C. BRADLEY (1851-1935) und E. K. CHAMBERS (1866-1954). Auch GEORGE SAINTSBURY (1845-1933), der in zahlreichen temperamentvollen Büchern Sinn und Geschmack für Literatur zu wecken wußte, W. P. KER (1855-1923), OLIVER ELTON (1861-1945), H. J. C. GRIERSON (1866-1960), letzterer besonders durch seine für die Renaissance der Metaphysical Poets bahnbrechenden Studien, haben weit über die Fachkreise hinaus Bedeutung erlangt. Die von diesen Gelehrten vertretene akademische Tradition wurde fortgesetzt von Shakespeareforschern wie J. DOVER WILSON (1881-1969) und G. WILSON KNIGHT (geb. 1897), von einem so urbanen Gelehrten wie C. M. BOWRA (1898-1971) und von C. S. LEWIS (1898-1963), dessen weitgespannte Interessen die Literatur von der Antike bis zur Moderne und die Theologie umfaßten, der Kinderbücher und 'science fiction' schrieb und sich wiederholt auch zu grundsätzlichen Fragen der Literaturkritik äußerte (An Experiment in Criticism, 1961). Der mit C. S. Lewis befreundete Schriftsteller CHARLES WILLIAMS (1886-1945) wollte, ähnlich wie T. S. Eliot, mit seiner literarkritischen Dantestudie The Figure of Beatrice (1943) ein neues Traditionsbewußt1

Moderne englische und amerikanische Literaturkritik, ed. W. Erzgräber (Darmstadt, 1970); H. Winter, Literaturtheorie und Literaturkritik (Düsseldorf, 1975); Contemporary Criticism, edd. M. Bradbury and D. Palmer, Stratford-upon-Avon Studies 12 (1970).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

sein wecken und gab in der von Anne Ridler herausgegebenen Essaysammlung The Image of the City (1958) subtile Studien poetisch-religiöser Symbole. Als überzeugter Anglikaner fußte er auf den frühen Kirchenlehrern und bekannte sich zu der literarischen Tradition, die von Dante über Malory zu Blake, Wordsworth und den Präraffaeliten reicht. Als Dichter wollte er das Epos neu beleben durch seinen den Arthursagenkreis behandelnden Gedichtzyklus Taliessin through Logres (1938). Erneutes Interesse für die der Moderne etwas entfremdete Romantik erweckte EDMUND BLUNDEN (s. S. 866) durch eine Reihe literarischer Studien (Leigh Hunt, 1930; Charles Lamb, 1933; Shelley, 1946), die sich durch den sensitiven Impressionismus der Darstellungskunst auszeichnen. Neue Impulse erhielt die literarische Kritik durch T. E. Hulme, den Initiator des englisch-amerikanischen Kreises der Imagisten, und den Psychologen I. A. Richards, den Vater des 'New Criticism' diesseits und jenseits des Atlantik. THOMAS ERNEST HuLME 2 (1883-1917) suchte in seiner Ästhetik Einflüsse Bergsons mit solchen von Charles Sorel und Wilhelm Worringer zu verbinden und in der Dichtung einem neuen Klassizismus den Weg zu bahnen. Wenn er auch Dinge zu vereinen strebte, die sich unmöglich zur Dekkung bringen ließen, so hat er doch durch seine Gedanken auf die damals jüngere Generation einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Wie Irving Babbitt wandte er sich gegen die Philosophie und Kunst der Romantik, die nach seiner Meinung den Menschen zum Maß aller Dinge machte und die letzte Ausprägung einer in der Renaissance einsetzenden Fehlentwicklung darstellte. Dieser „humanistischen" Haltung stellte er als Vorbild die byzantinische, ägyptische und indianische Kunst gegenüber, deren abstrakte, geometrische Formen von der Unterwerfung.des Menschen unter eine ethische Ordnung zeugten. Da der Mensch nur durch zuchtvolle Arbeit etwas zu leisten vermag, entwickelte Hulme eine Dichtungstheorie, die auf Entpersönlichung der Kunst, auf Sprachgenauigkeit und Härte der Bildersprache abzielte. Hulmes ästhetische Anschauungen wurden bestimmend für den Imagismus (s. S. 868 f.); sie haben, in Verbindung mit der zeitgenössischen französischen Lyrik, auf Ezra Pound ebenso eingewirkt wie auf die Kunst des jungen T. S. Eliot. IVOR ARMSTRONG RICHARDS3 (1893-1979) suchte objektive Maßstäbe für die Literaturkritik von der Psychologie und der Sprachphilosophie her zu gewinnen. Zusammen mit C. K. Ogden veröffentlichte er 1923 The Meaning of Meaning. Die aus der psychologischen Betrachtung des Problems der Sprache gewonnenen Erkenntnisse wandte er in seinen Hauptwerken Principles of Literary Criticism (1924) und The Philosophy of Rhetoric (1936) auf die Literaturkritik an und stellte die Interpretation literarischer Texte auf eine neue 2

Speculations, ed. H. Read (1924, 21936); Further Speculations, ed. S. Hynes (Minneapolis, 1955). - A. R. Jones, The Life and Opinions of T. E. H. (1960). 3 W. H. N. Hotopf, Language, Thought and Comprehension: A Case Study of the Writings of I. A. R. (1965); J. P. Schiller, I. A. R.'s Theory of Literature (New Haven, 1969).

/. Kritische Prosa

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wissenschaftliche Grundlage. Dichtung ist für Richards nicht Aussage, sondern Übermittlung komplexer Seelenzustände und Empfindungen. Die poetische Sprache dient folglich anderen Zwecken als die wissenschaftliche oder philosophische und muß dementsprechend anders gewertet werden. Ihre Wirkung beruht nicht auf Eindeutigkeit, sondern auf semantischer Vielschichtigkeit. Diese Einsichten wiesen die Literaturwissenschaft auf Strukturuntersuchungen und förderten, besonders mit dem einflußreichen Buch Practical Criticism (1929), die literarische Kultur eines breiteren Publikums. Durch seine dichtungstheoretischen Folgerungen wurde I. A. Richards zum Anreger für WILLIAM EMPSON4 (geb. 1906), der semantische und psychoanalytische Sehweise verband und das Problem der Mehrdeutigkeit der Sprache wie auch den Einfluß der Gattungsmerkmale auf das Gefüge einer Dichtung geistvoll und provozierend untersuchte. In sozialethischer Richtung wurden Richards' Gedankengänge fruchtbar weiterentwickelt von FRANK RAYMOND LEAVISS (1895-1978) und einem Kreis von Kritikern, der sich um die von ihm redigierte Zeitschrift Scrutiny6 (1932-1953) sammelte. Für Leavis hat Literatur in erster Linie eine moralische Funktion. Abwägendes Lesen und wertendes Vergleichen sind ihm wesentlicher als Entwicklungslinien oder verallgemeinernde Urteile. New Bearings in English Poetry (1932, 21950) trat bahnbrechend für die Dichtung von Eliot, Pound und Hopkins ein. Der Roman hat seine „große Tradition" im Werk von Jane Austen, George Eliot, Henry James, Joseph Conrad und D. H. Lawrence (The Great Tradition, 1948; D. H. Lawrence, 1955). Leavis und seine Anhänger haben ihre Wertungen mit großer Leidenschaft und häufig schroffer Einseitigkeit verfochten. Entschieden wandte sich Leavis gegen C. P. Snows These von den zwei „Kulturen", der herkömmlichen literarisch-ästhetischen und der für die Bewältigung der Probleme unserer Zeit wichtigeren naturwissenschaftlichen Ausbildung (The Two Cultures and the Scientific Revolution, 1959) und trat mit scharfer Polemik für die Erhaltung der traditionellen Bildung ein (Two Cultures? The Significance of C. P. Snow, 1962). Auch die Tiefenpsychologie hinterließ beträchtliche Spuren, wie die Essays der VIRGINIA WOOLF (The Common Reader, 1925 und 1932) zeigen. Die konsequenteste Anwendung der Jungschen Kategorien auf die Dichtungsinterpretation nahm MAUD BODKIN vor (ArchetypalPatterns in Poetry, 1934,21948; Studies of Type-Images in Poetry, Religion and Philosophy, 1951). Ein anderer Anstoß kam von der Soziologie her, wobei marxistische Theorien eine "Seven Types of Ambiguity (1930, 31953); Some Versions of Pastoral (1935); The Structure of Complex Words (1951); Milton's God (1961, 21965). - Vgl. S. 888, Anm. 58. 5 Vgl. V. Buckley, Poetry and Morality: Studies on the Criticism of Matthew Arnold, T. S. Eliot and F. R. Leavis (1959), 6 The Importance of Scrutiny: Selections from Scrutiny, A Quarterly Review, 1932-1948, ed. E. Bentley (N. Y., 1948). Die wichtigsten von Leavis' Scrutiny-Aufsätzen gesammelt in F. R. L.: Revaluation: Tradition and Development in English Poetry (1936); The Common Pursuit (1952).

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nicht unbedeutende Rolle spielten. Hier sind vor allem die Dichter der dreißiger Jahre zu nennen, wie Auden, Spender und C. Day Lewis, sowie aus einer größeren Anzahl weniger bedeutender Kritiker der im Spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite gefallene CHRISTOPHER CAUDWELL (St. John Sprigg, 1907-1937) mit Illusion and Reality (1937). Während in Schriften dieser Art die Zusammenhänge zwischen Literatur und Gesellschaft im Mittelpunkt stehen, befaßt sich eine andere Richtung mit dem geistesgeschichtlichen und philosophischen Hintergrund der Literatur, womit eine Betrachtungsweise eingeleitet ist, die in England im Gegensatz zu Deutschland keine zusammenhängende Tradition hat. Der wichtigste Vertreter dieser Richtung ist BASIL WILLEY (geb. 1897; The Seventeenth Century Background, 1934; The Eighteenth Century Background, 1940; Nineteenth Century Studies, 1949; More Nineteenth Century Studies, 1956). Die h i s t o r i o g r a p h i s c h e und in engem Zusammenhang mit ihr die geschichtsphilosophische Prosa erreichte in diesem Jahrhundert einen beträchtlichen Umfang und in einigen Vertretern hohes Niveau. In erster Linie stehen die Schriften des 1953 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichneten englischen Staatsmannes Sir WINSTON CHURCHILL (1874-1965), der bereits 1906 mit einer Biographie seines Vaters Lord Randolph Churchill und 1933-38 mit dem Porträt seines großen Vorfahren Marlborough: His Life and Times hervorgetreten war. Bemerkenswerte schriftstellerische Qualitäten bewies er auch in seiner Autobiographie My Early Life (1930). Die vierbändige Geschichte des ersten Weltkrieges The World Crisis (1923-29) zeigt die umfassende Schau, die durchdringende Analyse und die große Geste der Darstellung eines Historikers, der die Traditionen der englischen und der antiken Historiographie fortzusetzen wohl in der Lage war. Das gleiche gilt von Churchills sechsbändiger Darstellung des zweiten Weltkrieges (The Second World War, 1948-54). Erwähnung verdienen auch die zahllosen, teilweise im Druck erschienenen Rundfunkreden Churchills, die während des letzten Krieges einen wichtigen Beitrag zur Stärkung des englischen Widerstandswillens bildeten, sowie seine eigenwillige History of the English-Speaking Peoples (in vier Bänden 1956-58). Unter den akademischen Historikern nimmt G. M. TREVELYAN (1876-1962; History of England, 1926; English Social History, 1942) einen hervorragenden Platz ein. G. G. COULTON (1858-1947) zeichnete ein neues Bild des englischen Mittelalters (Chaucer and his England, 1908, und Five Centuries of Religion, 1923-50), womit ein Gegengewicht zu der einseitig katholisierenden Auffassung Chestertons geschaffen war. Die umstrittene Outline of History (1920) von H. G. WELLS wurde durch zwei bedeutende neue geschichtsphilosophische Konzeptionen ersetzt bzw. erweitert: A. J. TOYNBEES (1889-1975) elfbändiges Werk A Study of History (1934-59)7 sucht den Kulturpessimismus Spenglers unter Beibehaltung und Erweiterung seiner Theorie zu überwinden; H. BUTTERFIELD (geb. 1900), dessen Whig Interpretation of History (1931) einen Neuansatz in der englischen Geschichts7

Kurzfassung von D. C. Somervell, 2 Bde. (1946 u. 1957).

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Schreibung bedeutete, beurteilt die Geschichte von christlichem Blickpunkt aus (Christianity and History, 1949, und The Origins of Modern Science, 1949). Von besonderer Bedeutung für zahlreiche Dichter wurde das Werk von Sir JAMES FRAZER (1854-1941), The Golden Bough* das eine umfassende und neuartige Studie primitiver Gesellschaften darstellt und gleichzeitig eine kritische Bewertung der rationalen Kultur unserer Zeit vorbereitet. Aus dem Bereich der B i o g r a p h i e seien nur einige hervorragende Vertreter genannt. G. LYTTON STRACHEYS (1880-1932) Eminent Victorians (1918) erneuerten die Gattung des biographischen Essays mit einem die französische Schule verratenden, gedrängten und glitzernden Stil und der gallischen Neigung, das Ehrwürdige ironisch zu belächeln. Die größeren, an die 'biographies romancees' anklingenden geschichtlichen Lebensdarstellungen der Queen Victoria (1921) und Elizabeth and Essex (1928) sind durch den Hang zum leicht karikierten Miniaturbild beeinträchtigt. Strachey fand eine Reihe von Nachahmern oder übte doch, direkt oder indirekt, starken Einfluß aus. Am nächsten steht seiner Darstellungsart PHILIP GUEDALLA (1889-1944), dessen Frühwerk Strachey noch an Glanz und Ironie übertraf. Supers and Supermen (1920), Masters and Men (1923) und A Gallery (1924) bestehen aus kurzen Skizzen über Viktorianer und Zeitgenossen wie Disraeli, Asquith, Hardy und Wells. In seinem späteren Werk, in Palmerston (1926) und in dem Wellingtonbuch The Duke (1931), fand Guedalla eine der Bedeutung der behandelten Persönlichkeiten angemessenere Darstellungsart. Von Strachey mehr oder weniger beeinflußt sind auch LORD DAVID CECILS Cowperbiographie The Stricken Deer (1929), sein The Young Melbourne (1939) und Two Quiet Lives (1948), die sich würdig der großen englischenTradition der Biographik einordnen. In der gleichen Linie steht JOHN BUCHAN, Baron Tweedsmuir (1875-1940), mit Montrose (1928), Oliver Cromwell (1934) und Augustus (1937). Eine besondere Stellung nimmt das Werk von Sir OSBERT SITWELL (1892-1969) ein. Sein als Autobiographie bezeichnetes Werk Left Hand, Right Hand gibt in fünf Bänden, 1944 mit dem Titelband beginnend und 1950 mit Noble Essence endend, außer dem eigenen Lebensbild eine Reihe biographischer Porträts und ein eindruckvolles Bild einer grausamen und sinnlosen Zeit. Auch in der eigentlich e s s a y i s t i s c h e n G a t t u n g bildet die Zeitkritik einen wichtigen Gegenstand. Gleichzeitig aber versuchen einige Essayisten des 20. Jahrhunderts, mehr noch als die Kulturphilosophie oder die Geschichtsschreibung, den Anschluß an die geistige Tradition der Vergangenheit zu finden. Dabei spielt, wie im 19. Jahrhundert, das Mittelalter eine gewisse Rolle, nur daß jetzt mehr als bei den früheren Mediaevalisten das religiöse Gut und die metaphysische Ordnung des Mittelalters gesucht und als verbindlich erkannt werden. So kam HILAIRE BELLOC' (1870-1953) von der Historic, war 8

1890-1915; 3. erw. Aufl., 12 Bde. (1907-15), und Aftermath: A Supplement (1936); abr. edn. (1922, repr. 1967). »The Verse of H. B., ed. W. N. Roughead (1954); Selected Essays of H. B., ed. J. B. Morton (1948); Letters, ed. R. Speaight (1958); ders., The Life of H. B., (1957).

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aber ein vollendeter Essayist. Seine Essays zeichnen sich aus durch große Vielfalt der behandelten Gegenstände, außerordentliche Klarheit der Darstellung und die Anziehungskraft einer starken Persönlichkeit, die den scheinbar ziellos dahinfließenden Strom der Sätze lenkt. Seine Gedankenwelt wurzelt in einer tiefen Achtung vor der christlichen Tradition des Abendlandes, als deren Hüterin er die katholische Kirche ansah; unaufhörlich mündeten seine Gedanken in das Bekenntnis zu dieser Tradition. Seine Abneigung gegenüber dem modernen Fortschrittsdenken, seine Ablehnung der Philosophie als Religionsersatz sind getragen von der Überzeugung, daß seit Renaissance und Reformation der Mensch dem Chaos ausgeliefert ist. Obgleich er in England stets ein Außenseiter blieb, gehört er zu den bedeutenden Prosaschriftstellern des Jahrhunderts. Als Beispiel seiner historischen Studien seien Danton (1899) und Wolsey (1930) genannt, als Beispiel seiner Reisebücher The Path to Rome (1902) und The Cruise of the 'Nona' (1925), die seine Liebe zu den romanischen Ländern zeigen. Eine typische Sammlung seiner Essays ist On Nothing and Kindred Subjects (1908). Als Verfechter des Katholizismus und einer lebensfreudigen und humorvollen Bekämpfung des Intellektualismus geht Belloc zusammen mit GILBERT KEITH CHESTERTON10 (1874-1936), der indessen, vom Journalismus herkommend, seine Gabe des Argumentierens mit Antithesen und Paradoxen und der witzigen und erhellenden Betrachtung eines Problems von einem ungewohnten Gesichtspunkt aus zur Manier erhob. In frühen Zeitschriftenartikeln, die als Twelve Types (1902) in Buchform gedruckt wurden, und den herausfordernden, unter dem Titel Heretics (1905) zusammengefaßten Essays zeigt sich diese originelle Betrachtungsweise des Gewohnten am vorteilhaftesten. Der Bellocs klassischen Neigungen entgegengesetzte Hang zu Groteske und Übertreibung, sowie die Begabung, den Leser durch stilistische und gedankliche Kunststücke zu verblüffen und zu spannen, kommt neben lachenden Parodien und ernst-komischen Balladen (Poems, 1915 und 1933) in Detektivgeschichten (The Innocence of Father Brown, 1911 u.a.) zum Ausdruck und in reizvoll phantastischen Romanen (u. a. The Napoleon of Netting Hill, 1904; The Flying Inn, 1914), die den volkswirtschaftlichen Beweisführungen eines Wells die Unlogik des Lebens entgegenhalten. Von den literarhistorischen Schriften sind die Bücher über Dickens (1906 und 1911) und The Victorian Age in Literature (1913) die besten und für den Leser ergiebigsten. Durch das Bestreben, den ihm am Herzen liegenden Thesen Wirkung zu verschaffen, wurde auch der wissenschaftlich veranlagte WILLIAM RALPH INGE (1860-1954, von 1911-34 Dean von St. Paul's) zum Journalismus geführt. Seine wöchentlichen Artikel im Evening Standard können geradezu als 10

The Man who was Orthodox: A Selection from the Uncollected Writings of G. K. C, ed. A. L. Maycock (1963); G. K. C.: A Selection from His Non-Fictional Prose, ed. W. H. Auden (1970); Selected Stories, ed. K. Amis (1972). - D. Barker, G. K. C.: A Biography (1973); M. Evans, G. K. C. (Cambr., 1939); G. Wills, C.: Man and Masks (N. Y., 1961); G. K. C: A Centenary Appraisal, ed. J. Sullivan (N. Y., 1974); I. Boyd, The Novels of G. K. C.: A Study in Art and Propaganda (1975).

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eine journalistische Verwendung der Baconschen Essayform bezeichnet werden. Seine besten Leistungen in dieser Form finden sich in Outspoken Essays (1919 und 1922). In seinem England-Buch (1926) behandelt er brennende Zeitfragen wie das Verhältnis von Freiheit und Lenkung, entwarf ein pessimistisches Bild der Zukunft und sagte den Abstieg des englischen Mutterlandes zugunsten der großen Kolonialstaaten voraus. In seinen Vorlesungen und philosophischen Abhandlungen (The Platonic Tradition, 1926) gab er dem Studium der christlichen Mystik einen neuen Auftrieb. Zeitbedingt erscheinen auch die von Inge bekämpfte, an anderer Stelle (s. S.951 ff.) erörterte Publizistik von H. G. WELLS, sowie die nationalökonomischen und politischen Flugschriften von G. B. SHAW (s. S. 904). Hier wie in den soziale und sexuelle Fragen behandelnden Aufsätzen steht die Lehre derart im Vordergrund, daß die sprachliche Kunst verkümmert. Das ist anders bei HENRY HAVELOCK ELLIS (1859-1939), dessen Studies in the Psychology of Sex (1897-1928) einer freieren Anschauung den Weg bahnten, und der in literaturkritischen Views and Reviews (1932) sowie in mehreren Essaybänden (z. B. The Dance of Life, 1923) These und Darstellungskunst zu verbinden wußte. Zeitloser berührt die erlesene Prosa, in der GOLDSWORTHY LOWES DICKINSON (1862-1932) in The Greek View of Life (1896) seine weltanschauliche Haltung darlegte und von hier aus Fragen verschiedener Kulturgebiete erörterte (The Magic Flute, 1920). Andererseits verdankt GILBERT MURRAY (18661957) seinen Namen als Schriftsteller mehr der politisch-publizistischen Tätigkeit (vgl. etwa Essays and Adresses, 1921) denn seiner großen Leistung als klassischer Philologe und Übersetzer griechischer Dramen. Ein überreiches Schrifttum zeigt der als Biograph von Charles Lamb (1905) hervorgetretene EDWARD VERRALL LUCAS (1868-1938). Essaybände wie Character and Comedy (1907) und Loiterer's Harvest (1913) wechseln mit humoristischen Schriften und vermischten Aufsätzen leichterer Art. Erfolg hatte Lucas mit seinen eine Art Kunst- und Reiseführer darstellenden Wanderer-Büchern (1905-26), die indessen, als Literatur betrachtet, unter dem Niveau der Reisebücher liegen, die NORMAN DOUGLAS (1868-1952) über den von ihm als wahlverwandt empfundenen Süden schrieb (z. B. Siren Land, 1911; Old Calabria, 1915); auch der Roman South Wind (1917) fesselt zu-~ meist durch die Schilderung des südlichen Schauplatzes. Ähnlich wird man von MAURICE BARING (1874-1945), der gleichfalls mit Romanen hervortrat, die leicht spöttischen Dead Letters (1910) vorziehen oder das reizvolle Einblicke in seine geistige Autobiographie gebende Buch Have You Anything to Declare/"(1936). Klassisches Ansehen haben die Prosaschriften von KENNETH GRAHAME (1859-1932) errungen, sowohl die humorvollen Kinderskizzen in The Golden Age (1895) wie die phantasievollen Naturbilder The Wind in the Willows (1908). Wirkliche Essays der alten Art gab der aus dem Wilde-Beardsley-Kreis der neunziger Jahre stammende MAX BEERBOHM " (1872-1956), der 11

Works, 10 Bde. (1922-28); M. B.: The Incomparable Max: A Selection, ed. S. C. Roberts (1962). - D. Cecil, Max: A Biography (1964); J. G. Riewald, Sir M.B. (The Hague, 1953); B. R. McElderry, M. B., TEAS (N. Y., 1972).

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auch als Karikaturenzeichner (Rossetti and his Circle, 1922) und geschickter Parodist {A Christmas Garland, 1912) hervortrat. Beerbohm vertritt keine Thesen außer der des gesunden Menschenverstandes; er ist der geborene Essayist mit sicherem Urteil und treffendem Witz, in den späteren Sammlungen Yet Again (1909) und And Even Now (1920) noch vorteilhafter als in dem gezierten Frühwerk The Works of Max Beerbohm (1896). Das phantastische Narrenspiel seines Oxfordromans Zuleika Dobson (1911) ist trotz kritischer Spitzen zeitentrückt. Auch die Theaterkritiken, die Beerbohm als Nachfolger G. B. Shaws 1898-1910 für die Saturday Review schrieb (Around Theatres, 2 Bde. 1924, in einem Bd. 1953), sind eine lesenswerte Chronik des englischen Theaters geblieben und haben erwiesen, daß auch diese an sich zeitgebundene Literatur durch persönlichen Charme und Eleganz der Darstellung zeitlosen Wert erhält.

2. Amerikanische Literaturkritik 12 In Amerika tritt das kritische Schrifttum noch beherrschender hervor als in England. Zu Anfang des Jahrhunderts schrieb P. E. More, ohne eine amerikanische Kritik könne es auch keine amerikanische Dichtung geben. Schon in Neuenglands 'genteel tradition' - der amerikanischen Entsprechung des Viktorianismus -, die sich so universal gebildeter, wenn auch konservativer Kritiker wie J. R. Lowell, W. C. Brownell, G. E. Woodberry rühmen kann, vertrat der Romancier W. D. HOWELLS (s.S. 827f.) revolutionäre Ansichten. Sein literarisches Credo Criticism and Fiction (1891) forderte eine realistische Kunst, der Wahrheitsliebe als Richtschnur zu gelten habe und die eine gesellschaftliche Neuordnung anstreben müsse. So hat er den Weg geebnet für den Naturalismus des 20. Jahrhunderts und für dessen Vorläufer Stephen Crane, Frank Norris, Hamlin Garland, für die er sich persönlich einsetzte. Durch die leidenschaftliche Diskussion um Emile Zola - vor allem in Harry Thurston Pecks kritischer Zeitschrift The Bookman' - gewann der Naturalismus an Boden, besonders in den Großstädten New York und Chicago, aber auch in Kalifornien, wo FRANK NORRIS (s.S. 829) in The Responsibilities of the Novelist (1903) vom Romancier die Darstellung sozialer Zustände forderte. Gegen das Eindringen naturwissenschaftlichen Denkens in Kunst und Kunstbetrachtung wandten sich, wie in Europa, die Ästheten und Individualisten, die dem Gesetzmäßigen gegenüber das Einmalige von Künstler und Kunstwerk betonten und, wie ihr Vorbild Walter Pater, die Aufgabe des Kri12

A n t h o l o g i e n : Literary Opinion in America, ed. M. D. Zabel (N. Y., 31962); Criticism: The Foundations of Modern Literary Judgment, edd. M. Schorer et al. (N. Y., 1958); Modern Literary Criticism 1900-1970, edd. L.J. Lipking and A.W. Litz (N. Y., 1972). - D a r s t e l l u n g : S. E. Hyman, The Armed Vision (N. Y., 1948; rev. abr. edn. 1955, Vintage Books); W. Van O'Connor, An Age of Criticism (Chicago, 1952); I. P. Pritchard, Criticism in America (Norman, Okla., 1956); H.-J. Lang, Studien zur Entstehung der neueren amerikan. Literaturkritik (Hamburg, 1961).

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tikers im verstehenden Nacherleben eines Kunstwerks sahen. Der Kritiker solle 'the adventures of a soul among masterpieces' aufzeichnen. Die Hauptvertreter dieser Richtung in Amerika sind: LEWIS E. GATES (1860-1924), dessen Studies and Appreciations (1900) schon im Titel ihr englisches Vorbild verraten (auch G. SANTA YANAS The Sense of Beauty, 1896, ist Pater verpflichtet); VANCE THOMPSON (1863-1925), der sich in den von ihm herausgegebenen French Portraits (1900) für die französischen Symbolisten einsetzte; P. POLLARD (1869-1911), der das gleiche für die deutsche Neuromantik tat; JOEL E. SPINGARN (1875-1939), der später in den Bannkreis Benedetto Croces geriet; seine History of Literary Criticism in the Renaissance (1899) ist noch heute ein Standardwerk; schließlich J. G. HUNEKER (1860-1921), der als vielseitiger Musik-, Kunst- und Literaturkritiker eine jüngere Generation avantgardistischer Kritiker nachhaltig beeinflußte, so vor allem H. L. MENCKEN 13 (1880-1956) und den Theaterkritiker G. J. NATHAN (1882-1958), die als Herausgeber des 'American Mercury' tonangebende Kritiker der zwanziger Jahre waren und als radikale Liberale und rücksichtslose Bilderstürmer im amerikanischen Kulturleben eine ähnliche Stellung einnahmen wie G. B. Shaw in England. Inzwischen hatte VAN WYCK BROOKS (1886-1962) sein idealistisches Programm für die amerikanische Literatur unter dem Titel America's Comingof-Age (1915) veröffentlicht, in dem er - nach einem heftigen Angriff auf die kunst- und kulturfeindliche Tradition des Puritanismus in The Wine of the Puritans (1908) - das Nebeneinander von romantischer Ideenwelt und geschäftigem Alltag kritisierte und die Forderung nach einer eigenständigen amerikanischen Dichtung und Kultur aufstellte. In Büchern über Mark Twain (1920) und Henry James (1925) machte er geltend, daß diese amerikanischen Klassiker sich nicht voll entfalten konnten, da sie keinen anerkannten Platz im nationalen Dasein hatten. Das gleiche hatte schon Henry James von Hawthorne gesagt (Hawthorne, 1879), womit er indirekt seine eigene Abkehr von Amerika rechtfertigte. Später hat Brooks in Umkehrung seiner Ausgangshaltung in einer fünfbändigen Geschichte der amerikanischen Literatur von Washington Irving bis T. S. Eliot, Makers and Finders: A History of the Writer in America, 1800-191514, einen bisher übersehenen Reichtum charakteristisch amerikanischen Kulturguts aufgedeckt, auf dem die Gegenwart aufbauen sollte. In gemilderter Form wird die gleiche nationalbewußte Richtung vertreten von CONSTANCE ROURKE (1885-1941), die in American Humor: A Study of the National Character (1931), The Roots of American Culture (1942) und anderen Studien volkstümlichen Traditionen nachspürte, und R. S. BOURNE (1886-1918), der die nationalen Traditionen der Ein13

Selected Prejudices (ML); The American Language (1919, 41936, Supplements 1945, 1948). - C. Angoff, H. L. M. (N. Y., 1956); C. Bode, M. (Carbondale, 1969); C. A. Fecher, M.: A Study of His Thought (N. Y., 1978). "»The World of Washington Irving (1944); The Flowering of New England 1815-1865 (1936); The Times of Melville and Whitman (1947); New England: Indian Summer 1865-1915 (1940); The Confident Years 1885-1915 (1952).

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wanderer bewahrt und zu einer „transnationalen" Einheit im Amerika der Zukunft verwoben wissen wollte (The History of a Literary Radical and Other Essays, 1920). Daneben suchte eine Gruppe von Schriftstellern und Kritikern aus dem Alten Süden, darunter John Crowe Ransom, Allen Täte, R. P. Warren, Donald Davidson, wieder an die agrarfeudale Überlieferung ihrer Heimat anzuknüpfen, die seit dem Ende des Bürgerkrieges durch die kommerzielle Zivilisation unterdrückt wurde (Sammelband: /'// Take My Stand, 1930). Neben diesem konservativen Flügel der Literaturkritik, der eine Erneuerung aus nationalem Gut anstrebt, gibt es einen linken Flügel, der die Gedanken Taines und des Naturalismus weiterführt, wonach Mensch und Kunst durch wirtschaftliche und soziale Bedingungen determiniert sind, und der im Anschluß an Karl Marx und THORSTEN VEBLEN (The Theory of the Leisure Class, 1899) eine völlige Revolutionierung der Gesellschaft als Voraussetzung einer neuen Kultur propagiert (J. C. UNDERWOOD: Literature and Insurgency, 1914). Die schwere Wirtschaftskrise von 1929 gab dieser Richtung in den dreißiger Jahren starken Auftrieb und förderte ihre Verbindung mit marxistischen Lehren. Für UPTON SINCLAIR entscheiden die politischen Anschauungen eines Künstlers über den Wert seiner Kunst; Kunst ist aktivistisch, ist Propaganda (Mammonart, 1925). Erst eine durch den Sozialismus erneuerte Gesellschaft wird wieder kulturelle Ausdrucksformen finden (V. F. CALVERTON: The Liberation of American Literature, 1932). MAX EASTMAN betrachtet die Kunst als die atavistische Ausdrucksform einer vorwissenschaftlichen Zeit; der Fortschritt der Wissenschaft wird die Kunst allmählich überflüssig machen (The Literary Mind: Its Place in an Age of Science, 1931). Der Staat selbst wird zum Kunstwerk werden (EDMUND WILSON: Marxism and Literature, in: The Triple Thinkers', 193815). GRANVILLE HICKS, Herausgeber der 'New Masses', gibt in The Crisis of Criticism (1933) Anweisungen für das Verfassen eines vollkommenen marxistischen Romans, und in The Great Tradition (1933) nennt er als wichtigste Vorläufer auf dem Wege zur sozialistischen Gesellschaftsordnung Emerson, Thoreau, Whitman, Mark Twain, W. D. Howells, H. Garland, F. Norris, R. Herrick, D. G. Phillips, Upton Sinclair und Jack London. Von solchen Vereinfachungen suchten sich Einsichtige wie JAMES R. FARRELL (A Note on Literary Criticism, 1936) fernzuhalten, und der zweite Weltkrieg brachte eine Besinnung dieser Kreise auf die liberale, demokratische Vergangenheit Amerikas (Dos PASSOS: The Ground We Stand On, 1941). Das Interesse für soziologische Fragen blieb jedoch erhalten (vgl. das bedeutende Buch Main Currents in American Thought, 1927-30, von V. L. PARRINGTON) und führte in Verbindung mit ästhetischer Betrachtung zu wertvollen literarkritischen Werken (F. O. MATTHIESSEN : 15

Ferner: Axel's Castle (1931); The Wound and the Bow (1941); Classics and Commercials: A Literary Chronicle of the Forties (1950); The Shores of Light: A Lit. Chron. of the Twenties and Thirties (1952); The Bit Between My Teeth: A Lit. Chron. of 1950-1965 (1965). - C. Frank, E. W., TUSAS (N. Y., 1970).

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American Renaissance: Art und Expression in the Age of Emerson and Whitman, 1941; LIONEL TRILLING: The Liberal Imagination, 1950; The Opposing Self, 1955; Beyond Culture, 1965). Gegen jede Form von Naturalismus wandten sich die Neuhumanisten IR16 VING (1865-1933) und PAUL ELMER MORE 17 (1864-1937), die durch das Betonen eines Dualismus von natürlicher und moralischer Welt in den Verruf kamen, reaktionäre und antidemokratische Verfechter eines säkularisierten Kalvinismus zu sein. Kunst verstehen sie, ebenso wie Staat und Kultur, als eine dem Formlosen vom Menschen aufgeprägte Form; Konfuzius, Christus und Sokrates sind zeitlose Vorbilder der Humanität, der sie die Maßstäbe ihrer Kunst- und Kulturkritik entnehmen. Der Erzfeind ist Rousseau, dessen subjektive und „naturalistische" Anschauungen zum Verfall der modernen Kultur führten. Anläßlich der Herausgabe des Essaybandes Humanism and America, gesammelt durch Norman Foerster, und der Entgegnung The Critique of Humanism, gesammelt durch C. H. Grattan (beide 1930), stand der Neuhumanismus im Mittelpunkt einer leidenschaftlichen Erörterung, die zwar nicht zur Bildung einer Schule führte, aber doch bewies, welchen tiefen Einfluß Irving Babbitt auf seine Zeitgenossen ausübte. Während T. S. Eliot sich durch seinen Anglokatholizismus über Babbitts Humanismus hinausentwickelte, führte NORMAN FOERSTER die alte Linie fort (American Criticism, 1928; Towards Standards, 1930). Die bedeutendsten Vertreter sind auf dem extremen Flügel YVOR WINTERS (1900-1968; In Defense of Reason, 1947), auf dem gemäßigten DOUGLAS BUSH (geb. 1896; English Literature in the Earlier 17th Century, 1945, 21962; Engaged and Disengaged, 1966). Ein neuer Zweig des Humanismus bildete sich an der Universität Chicago heraus um den Dewey-Gegner und Reformator der amerikanischen Hochschulerziehung R. M. HUTCHINS (The Higher Learning in America, 1936) und den gelehrten Aristoteliker R. S. CRANE (Critics and Criticism, ed. by R. S. Crane, 1952). Bei diesem Grundsatzstreit zwischen Naturalisten, Soziologen und Humanisten drohte die Dichtung als Dichtung dem Auge zu entschwinden. Dem wirkten Kritiker entgegen, die selbst schaffende Künstler waren, vor allem EZRA POUND und T. S. ELIOT, die an Remy de Gourmont und T. E. Hulme anknüpften und eine Neubewertung des kritischen und theoretischen Werks ihres Landsmanns Henry James herbeiführten. Diese Gruppe ist durch die Überzeugung von der organischen Einheit des Kunstwerks verbunden. Schon Henry James hatte die Untrennbarkeit der ästhetischen und moralischen Welt vertreten. Moralische Werte haben auch in der künstlerischen Welt als Ordnungsprinzipien zu gelten, und die Beziehung von Künstler und Gesell16

Literature and the American College: Essays in Defense of the Humanities (1908); The New Laokoon: An Essay on the Confusion of the Arts (1910); The Masters of Modern French Criticism (1912); Rousseau and Romanticism (1919); Humanism: An Essay at Definition (1930). 17 Shelburne Essays, 14 Bde. (1904-36); Platonism (1917); The Greek Tradition (1921-31).

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schaft ist für Pound so eng, daß er jede Störung dieses Verhältnisses als ein Zeichen des Kulturverfalls deutet. Der Künstler drückt seine Zeit unmittelbarer aus als die in ihr handelnden Menschen; er ist aber nicht seiner Zeit direkt verantwortlich - hier liegt der Unterschied zu den Soziologen -, sondern gegenüber den in der Weltliteratur gegenwärtigen ewigen Werten, denen er in der Sprache seiner Zeit Ausdruck gibt. T. S. Eliots Essay Tradition and the Individual Talent (1919) hat in diesem Sinne programmatische Bedeutung. Das Bestreben, die Normen für die Beurteilung eines Kunstwerks aus diesem selbst und durch Vergleich mit anderen Kunstwerken zu gewinnen, bedeutet eine Umstellung von vorwiegend historischer Interpretation zu Struktur- und Stilanalyse, wie sie auf die verschiedenartigste Weise von den an I. A. Richards anknüpfenden 'New Critics' betrieben wird: JOHN CROWE RANSOM (1888-1974), KENNETH BURKE (geb. 1897), ALLEN TÄTE (geb. 1899), RICHARD P. BLACKMUR (1904-1965), ROBERT PENN WARREN (geb. 1905), CLEANTH BROOKS (geb. 1906). Die Vertreter des 'New Criticism' - der Name wurde als Titel und Programm zuerst von J. C. Ransom verwendet (1941) - haben unsere Einsicht in die Vielschichtigkeit des Kunstwerks ungemein vertieft, wenn sie auch den Blick häufig zu ausschließlich auf die subtile, werkimmanente Interpretation richteten. Selbst so universale Kritiker wie RENE WELLEK (geb. 1903) haben trotz mancher Auseinandersetzung mit dem 'New Criticism' dessen positive Ergebnisse durchaus anerkannt, sie jedoch historisch unterbaut. Als „praktische Ästhetik" ist seitdem die Literaturinterpretation Gegenstand des akademischen Unterrichts an amerikanischen Hochschulen geworden. Dichter und Schriftsteller erhalten Lehraufträge für moderne Literatur und „praktische Kritik", und dienen so - zusammen mit einer Anzahl literarkritischer Zeitschriften18 - der Heranbildung einer empfänglichen und kritischen Leserschaft. Die beiden einflußreichsten Richtungen der Literaturtheorie seit den fünfziger Jahren sind der sog. 'Myth Criticism' und der 'New Historicism'. Die von dem Kanadier Northrop Frye am konsequentesten und mit umfassendem Wissen vertretene Mythokritik (Anatomy of Criticism, 1957; Fables of Identity, 1963) sieht die Literatur als Ausdruck des Mythos und damit der Archetypen als der ihn prägenden Kräfte des kollektiven Unbewußten. Ist die Mythokritik von Grund aus ahistorisch, so sucht die neuhistorische Kritik (Eliseo Vivas, "The Object of the Poem" in: Creation and Discovery, 1955; The Artistic Transaction, 1963; Murray Krieger, A Window of Criticism, 1964; The Play and Place of Criticism, 1967; The Classic Vision, 1971) nach einer Methode, die der Überzeitlichkeit der Dichtung ebenso gerecht wird wie ihrer Zeit- und Traditionsverbundenheit. Sie analysiert zu diesem Zweck das Wortmaterial in seiner historischen Bedingtheit und seiner einmaligen Umgestaltung durch den Dichter und begründet somit die Interpretation als eine zu18

Kenyon Review, Partisan Review, Sewanee Review, Hudson Review, Western Review, New England Quarterly.

//. Die Versdichtung

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gleich historische und künstlerische Erschließung des Dichtwerks. Es ist eine die Kontinuität wahrende Synthese, die den New Criticism um die historische Komponente erweitert und ebenfalls für andere Erweiterungen Raum läßt.

II. DIE VERSDICHTUNG 1. W. B. Yeats und die keltische Renaissance2 Der größte Dichter englischer Sprache in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war W. B. Yeats. Sein Name ist mit der „keltischen Renaissance" verbunden, die eine auf das irische Brauchtum gegründete Neubelebung der Dichtung erstrebte. Da die Wurzeln der Bewegung politische und nationale waren, bilden vaterländische Prosawerke den Ausgangspunkt dieser Renaissance. STANDISH JAMES O'GRAOY3 (1846-1928) schrieb wie einst Geoffrey of Monmouth als epischer Dichter Geschichte und stellte den Arthursagen von ehemals die Erzählungen um Cuchulain zur Seite (History of Ireland, 1878-80 u. 1881). DOUGLAS HYDE (1860-1949), der Gründer der Gaelic League (1893), übersetzte keltische Dichtungen (The Love Songs of Connacht, 1893; The Religious Songs of Connacht, 1906) und schrieb eine Literary History of Ireland (1899). GEORGE SiGERSON4 (1838-1925) gab sorgfältige metrische Übertragungen in Bards of the Gael and Gall (1897). Mit diesen folkloristischen und poetischen Sammlungen hatte die nationalirische Bewegung Vorbild und Anreiz zu dichterischer Betätigung gegeben. Schon 1888 erschienen die Poems and Ballads of Young Ireland, zu deren Beiträgern auch Yeats gehörte, und wenige Jahre später (1892) wurde die alle bedeutenden Namen vereinigende Irish Literary Society ins Leben gerufen. WILLIAM BUTLER YEATSS (1865-1939) hat der irischen Renaissance Weltgeltung verschafft. Den künstlerischen Anschauungen seines Vaters, eines ' A n t h o l o g i e n : Modern British Literature, edd. F. Kermode and J. Hollander (N. Y./Lo., 1973) [Oxf. Anthology of Engl. Lit.]; The Faber Book of Modern Verse, edd. M. Roberts and D. Hall (1965); The Penguin Book of Contemporary Verse, ed. K. Allott (Harmondsworth, 21962); Poetry 1900 to 1965, ed. G. MacBeth (1967); The Oxford Book of 20th Century Engl. Verse, ed. P. Larkin (Oxf., 1973); The New Oxford Book of American Verse, ed R. Ellmann (Oxf., 1976); American Poetry of the 20th Century, ed. R. Gray (Cambr., 1976). - Abhandlungen s.S. 837. 2 E. Boyd, Ireland's Literary Renaissance (Dublin, 1916; repr. 1968); D. Morton, The Renaissance of Irish Poetry (N. Y., 1929); P. L. Marcus, Y. and the Beginning of the Irish Renaissance (Ithaca, 1970). - Zum irischen Drama s.S. 907ff. 3 Selected Essays and Passages, ed. E. Boyd (1918). "ed. D. Hyde (Dublin, 1925) [mit 'memorial preface']. 5 W e r k e : Collected Poems (1950); Variorum Edn. of the Poems, edd. P. Allt and R. K. Alspach (N. Y., 1957); Autobiographies (1955); Memoirs, Autobiography, First Draft Journal, ed. D. Donoghue (1972); Mythologies (1959); Essays and Introductions (1961); Explorations, ed. Mrs. Yeats (1962); A Critical Edn. of Y.'s A Vision (1925), edd. G. M. Harper and W. K. Hood (1978); Uncollected Prose, ed. J. P.

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präraffaelitischen Malers, und der Dubliner Freunde folgend, geriet er zunächst in den Bannkreis von Rossetti und Morris, von Shelley und Keats. Nachdem er seinen Glauben durch Thomas Huxley und die Agnostiker der Zeit verloren hatte, suchte er nach einer Mythologie, die ihm ermöglichte, seine literarischen, philosophischen und nationalen Interessen zur Einheit zu fügen, und er entdeckte sie in den keltischen Sagen um Cuchulain und Fergus. Er träumte von einer großen irischen Dichtung und der Freiheit Irlands und wurde darin bestärkt von der Patriotin Maud Gönne, seiner Helena, die er leidenschaftlich und aussichtslos liebte. Dazu trat schon früh die Beschäftigung mit Theosophie und Okkultismus. Neben den irischen Sagen lieferten ihm die Blakesche Mystik und die indische Philosophie Symbole zur Deutung seines eigenen Erlebens. Yeats' Wirklichkeit lag jenseits der Welt der Erscheinungen, und so sehr sich auch im Laufe seines Lebens seine Ausdrucksformen wandelten, Dichtung war für ihn nie, wie für Matthew Arnold, 'a criticism of life', sondern stets 'the revelation of a hidden life'. Seine erste bedeutendere Dichtung ist The Wanderings of Oisin (1889), in der Ossian von seinem dreihundertjährigen Aufenthalt im Feenreich Niamhs berichtet. Das keltische Sagen und Folklore verwebende Gedicht erinnert mit seiner vagen Traumstimmung und dem Schwelgen in Farbe und Klang an Keats' Endymion, aber anders als der junge Keats behält Yeats seine Erzählung fest im Auge und verliert sich nicht ins Detail. Auch seine frühen lyrischen Sammlungen Crossways (1889) und The Rose (1893) zeigen in Thema, Bildlichkeit und Rhythmus den beherrschenden Einfluß der spätromantischen Dichtung: Die ruhelose Seele des Menschen hat ein ungestilltes Heimweh nach dem Land „jenseits von Zufall und Zeit und Wechsel" und sehnt sich nach Frieden (The Lake Isle of Innisfree; The White Birds)', in Wasser und Wald klingt der „alte und müde Ruf der Erde", und die mythischen Figuren werden zu Zeichen der Wechselwirkung zwischen der sichtbaren und der Geisterwelt. Im Lauf der neunziger Jahre geriet Yeats, eingeführt durch seinen Freund Arthur Symons, in zunehmendem Maße unter den Einfluß des französischen Symbolismus. The Wind among the Reeds (1899) zeigt die neue Entwicklung, die in dem dramatischen Gedicht The Shadowy Waters (1900 [s. S. 908]) ihren Höhepunkt erreicht. Yeats übernahm Mallarmes Gedanken einer 'poesie pure' und benutzte jetzt die irischen Mythen nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern als poetische Masken oder Mittel zur Aussprache seines perFrayne, 2 Bde. (N. Y., 1970); Selected Poetry, ed. A. N. Jeffares (Pan Books, 1964), desgl. Selected Plays, Selected Prose und Selected Criticism. Letters, ed. A. Wade (1954); Letters on Poetry to Dorothy Wellesley( 1940). - B i o g r a p h i e und K r i t i k : J. Hone, W. . . (21962); . . Jeffares, W. . .: Man and Poet (21962); . Rajan, W. . .: A Critical Introduction (1965); R. Ellmann, Y.: The Man and the Masks (1949); ders., The Identity of Y. (1954); T. R. Henn, The Lonely Tower: Studies in the Poetry of W. B. Y. (21965); H. Bloom, Y. (N. Y., 1970). J. Unterecker, A Reader's Guide to W. B. Y. (1959); A. N. Jeffares, A Commentary on the Collected Poems of W. B. Y. (1968); C. Bradford, Y. at Work (Carbondale, 1965); W. B. Y.: A Collection of Criticism, ed. P. J. Keane (N. Y., 1973). - Zu Y.' Dramatik s.S. 907ff.

//. Die Versdichtung

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sönlichen Empfindens (The Song of Wandering Aengus). Die Symbolik ist dunkler geworden und entzieht sich häufig der Enträtselung (The Lover tells of the Rose in his Heart; The Poet pleads with the Elemental Powers); aber auch in den von esoterischen Gedanken oder Traumsymbolen belasteten Gedichten bleibt die lyrische Musik rein, eine eigene Welt der Schönheit offenbarend. Für Yeats bedeutet dieses Stadium des Tart pour Part' nur einen Übergang. Bereits einige Stücke von In the Seven Woods (1904) deuten den Wandel an (Adam's Curse), und die Bände The Green Helmet (1910) und Responsibilities (1914) zeigen den Durchbruch zu einer neuen Haltung, die das frühere Schwelgen im Klang dämpft, den überreichen Schmuck abstößt und in den besten Gedichten eine bemerkenswerte Klarheit und Straffheit der Aussage erreicht (No Second Troy; The Cold Heaven). Mit diesem Streben nach Einfachheit und Härte der Diktion (zu dem Ezra Pound beitrug, der in den Wintermonaten 1912-15 Yeats' Privatsekretär war) erhielt auch die politische Lyrik festere Umrisse. Der Dichter bekennt sich zu politischer und sozialer Verantwortung; das romantische Irland ist fortan tot. Damit hatte Yeats einen Stil errungen, der Traum und Präzision, Rhetorik und Umgangssprache, fließende und gebrochene Rhythmen vereinigt. Die Bände The Wild Swans at Coole (1919), Michael Robartes and the Dancer (1921) sowie vor allem The Tower (1928) und The Winding Stair (1933) zeigen seine Kunst auf ihrem Höhepunkt. Sie enthalten zahlreiche Gedichte, die zum Besten moderner Lyrik gehören, wie In Memory of Major Robert Gregory, Meditations in Time of Civil War, Nineteen Hundred and Nineteen oder das Sonett Leda and the Swan, das den mythischen Augenblick der Vereinigung von Gott und Mensch mit ihren todbringenden Folgen verbindet, dem Untergang Trojas und dem Mord an Agamemnon. Easter 1916 sieht in dem irischen Osteraufstand die Geburt einer „schrecklichen Schönheit"; The Second Corning begreift die hereinbrechende Anarchie als das Ende einer Ära und beschreibt visionär den schaurigen Beginn eines neuen Weltzyklus; Among School Children umkreist die Frage nach dem Verhältnis von Idee und Wirklichkeit und findet eine Antwort auf die gedanklich nicht auflösbaren Antinomien des Lebens in zwei Bildern aus Natur und Kunst, dem blühenden Kastanienbaum und dem rituellen Tanz, in denen im vergänglichen Augenblick die Einheit, Ganzheit und Schönheit des Seins aufleuchtet. Dichten war für Yeats symbolisches Gestalten, und wie ihm Thoor Ballylee, der Turm, den er unweit Coole Park (südöstlich von Galway) gekauft hatte, als ein vieldeutiges Symbol für die Einsamkeit des Künstlers und sein unablässiges Streben nach Erkenntnis diente, so wurde ihm das vorchristliche Byzanz, in dem er zum letztenmal in der Menschheitsgeschichte die Einheit des religiösen, ästhetischen und praktischen Lebens verwirklicht sah, zu einem ausdrucksstarken Symbol der Verbindung von Natur und Übernatur. Im ersten der beiden Byzanz-Gedichte, Sailing to Byzantium, befindet sich der Dichter auf der Reise aus der Welt des Werdens und Vergehens in die Stadt des unsterblichen Geistes. Er will sich des Kreatürlichen entheben, in das Kunstwerk eingehen und teilhaben an der Ewigkeit, die der Künstler

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durch sein Werk schafft. Das zweite Gedicht, Byzantium, führt uns in die heilige Stadt selbst und beschreibt den Akt des Eingehens in das 'artifice of eternity', das im ersten Gedicht von den 'sages standing in God's holy fire' erbeten wurde. Wie alle menschliche Schöpfung bleibt auch das Kunstwerk von den anbrandenden zerstörerischen Fluten des Lebens und der Vergänglichkeit bedroht. Kunst und Leben, Geist und Herz stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Obwohl der Dichter sich danach sehnt, von den Antinomien und Verworrenheiten des Lebens befreit zu werden, so weiß er doch, daß das menschliche Herz mit seinen Leidenschaften, 'the foul ragand-bone shop of the heart' (The Circus Animals' Desertion), der Quellpunkt allen Dichtens ist. "What theme had Homer but original sin?", hält das Herz in Vacillation der asketischen Seele entgegen, und noch der alte Yeats bekennt sich, mit offener Sinnlichkeit und häufig im Ton der Straßenballade, zu 'rage and lust' (Last Poems, 1939). Yeats' Anlage war wesentlich lyrisch, doch besaß er auch die Gabe eines farbigen und kraftvollen Prosastils. Auf dieser Verbindung beruht der Reiz seiner zahlreichen literarischen und autobiographischen Essays, angefangen von den Sammlungen irischer Geschichten, The Celtic Twilight (1893) und The Secret Rose (1897), über Ideas of Good and Evil (1903), The Cutting of an Agate (1912) und Per Arnica Silentia Lunae (1918) - die in dem Band Essays (1924) zusammengefaßt wurden - bis hin zu den als Autobiographies (1926) vereinigten beiden Erinnerungsbänden Reveries over Childhood and Youth (1915) und The Trembling of the Veil (1922), die seine beste Leistung darstellen. Ein Labyrinth Yeatsschen Denkens ist A Vision (1925, völlig umgearbeitet 1937), dessen Bedeutung jedoch weniger in den esoterischen Ansichten über Geschichtszyklen, objektive und subjektive Mondphasen, Persönlichkeitstypen und Seelenkräfte liegt; vielmehr schuf sich Yeats mit diesem pedantisch ausgeführten philosophischen System einen Bezugsrahmen für die Bildlichkeit und Symbolik seiner Dichtung. Gleich Yeats war GEORGE WILLIAM RUSSELLO ( . E.', 1867-1935, abgeleitet von 'Aeon') ein lyrischer Sänger des mystischen Einklangs von menschlicher Seele und ewigen Mächten. Seine Dichtung will nicht Kunst sein, sondern Verkündigung. Sein Hauptthema - von der ersten als Sprecher der Dubliner Theosophischen Gesellschaft veröffentlichten Sammlung Homeward: Songs by the Way (1894) über The Earth Breath (1897) und The Divine Vision (1904) bis zu Enchantment (1930) und The House of the Titans (1934) - ist die Einheit von Sichtbarem und Unsichtbarem. Wir sind von Übernatürlichem umgeben: ein Engelwesen schwebt über dem Pflüger, eine Frauengestalt erscheint aus dem Boden, überall sind Zeichen eines das All erfüllenden Geistes. Durch die glutvolle Darstellung der beseligten Vereinigung mit diesem 6

Collected Poems (21926); Selected Poems (1935); Imaginations and Reveries [Prosa] (Dublin, 1915); The Living Torch: A. E., ed. M. Gibbon (1937) [mit Einl.]. - Vgl. J. Eglinton, A Memoir of A. E., (1937); H. Summerfield, The Myriad-Minded Man: A Biography of G. W. R., . E.' (Gerrards Cross, 1975).

//. Die Versdichiung

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Geist wurde A. E. nach dem Urteil von Yeats zum ersten irischen Dichter geistiger Verzückung. Volkstümlichkeit errang Russell jedoch nicht, auch nicht mit seinem in ausgezeichneter Prosa geschriebenen Deirdre-Orama (1902, gedruckt 1907).

2. E. A. Robinson, R. Frost und die Vertreter des Mittelwestens In Amerika brachte das zweite Jahrzehnt eine rasche Entfaltung der Lyrik, zu der die Zeitschrift 'Poetry' wesentlich beitrug, die Harriet Monroe 1912 im kulturell aufblühenden Chicago7 begründete und für die Ezra Pound als Auslandskorrespondent die avantgardistische und internationale Note von vornherein gewährleistete. Diese Zeitschrift bewirkte beim Publikum eine Neubewertung der Dichtung als ernsthafte, ja revolutionäre Lebensdeutung und Kritik und führte eine förmliche Mode kleiner literarischer Zeitschriften herauf. 8 Jetzt wurde EDWIN ARLINGTON ROBINSON' (1869-1935) als bedeutender Dichter entdeckt, und seine an Hardy erinnernde tragische Lebensschau als modernes Glaubensbekenntnis begrüßt. Ohne technische Neuerungssucht, romanische Strophenformen wie Ritornell und Sonett bevorzugend, dabei alles Schmuckhafte und im herkömmlichen Sinn Romantische einer scharfen und knappen Umgangssprache opfernd, nahm Robinson den Menschen zum Vorwurf, mit Vorliebe den Menschen der Stadt, und schuf mit grübelnder Seelenzergliederung eine Reihe kurzumrissener, gelegentlich von bitterer Komik umspielter Biographien und Charakterbilder. Überaus ernst wie Hawthorne, von sozialem Mitleid und steter Suche nach moralischen Werten erfüllt, ist seine psychologische Wahrheitssuche dem im Lebensausblick so anders gearteten Browning ähnlich, dessen dramatische Monologe er erneuerte. Schon in den ersten, für seine strenge handwerkliche Schulung aufschlußreichen Gedichtbänden The Children of the Night (1897), Captain Craig (1902), The Town Down the River (1910) hat er als Zeichner psychologischer Porträts eine Reihe fast sprichwörtlich gewordener Figuren geschaffen: den trotz seines Erfolges am Leben verzweifelten Richard Cory, den Träumer Miniver Cheevy, den Geizhals Aaron Stark, den Zyniker Cliff Klingenhagen, den Idealisten Captain Craig und den eines rührenden Zartgefühls fähigen Metzger Reuben Bright. Diese Dichtung erreichte in der Sammlung 7

B. Duffey, The Chicago Renaissance in American Letters (East Lansing, Mich., 1954); D. J. Cahill, Harriet Monroe, TUSAS (Boston, 1974). 8 F. J. Hoffman and C. Ulrich, The Little Magazine: A History and a Bibliography (Princeton, 21947). 'Collected Poems of E. A. R. (N. Y., 1937); Selected Letters, ed. R. Torrence (N. Y., 1940); ed. D. Sutcliffe (Cambr., Mass., 1947). - Biographie von E. Neff (N. Y., 1948). W. L. Anderson, E. A. R.: A Critical Introduction (Cambr., Mass., 1968); L. Coxe, E. A. R.: The Life of Poetry (N. Y., 1969); E. A. R.: Centenary Essays, ed. E. Bernard (Athens, Ga., 1969); Appreciation of E. A. R.: 28 Interpretative Essays, ed. R. Cary (Waterville, Me., 1969).

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The Man Against the Sky (1916), dem besten und repräsentativsten der Gedichtbände, ihren Höhepunkt. Das alle Weltanschauungen erörternde und verwerfende Titelgedicht sowie die Blankverse Ben Jonson entertains a Man from Stratford, worin Robinson das menschliche Bild Shakespeares zu zeichnen versucht, erweisen ihn als einen Lyriker von Format. Die in diesem Bande auffällig hervortretende agnostisch-stoische Haltung gab einer Zeitwende bündigen Ausdruck. Fortan pflegte Robinson von den überkommenen kurzen Gedichtformen nur noch das Sonett (Sonnets 1889-1927, 1928). Er bevorzugte jetzt Verserzählungen epischen Umfangs, zu denen jedoch weder die Erzählergabe noch die dramatische Kraft des geborenen Lyrikers ausreichten. Im Gegensatz zu Tennyson erzählte er mehrere Arthurgeschichten unromantisch und unsentimental {Merlin, 1917; Lancelot, 1920), aber so sehr in die moderne Zeit gerückt, daß die mittelalterlichen Figuren zu Decknamen des Autors werden und die Geschichte lediglich allegorischen Wert besitzt. Nur in Tristram (1927) vermochte er dem Stoff eine gegenwartsnahe Wirkung zu geben; schicksalhaft und menschlich sind die Figuren dargestellt, allerdings weniger in einer Erzählung als in einer Reihe architektonisch fest zusammengefügter Selbst- und Zwiegespräche, deren Reiz sich erst dem Kenner der poetischen Tradition voll erschließt. Seine letzten Dichtungen sind Verserzählungen mit modernen Vorwürfen, deren Dunkelheiten und oft übersubtile Seelenzergliederung auch banalen Geschichten Bedeutsamkeit zu geben versuchen - angefangen von Avon's Harvest (1921) und Roman Bartholow (1923) über die der Groteske nahe Geschichte The Man Who Died Twice (1924) und das einen melodramatischen Stoff behandelnde Cavender's House (1929) bis zu dem ironischen Talifer (1933) und den düsteren letzten Werken Amaranth (1934) und King Jasper (1935); doch können sie, gerade weil sie Browning in Erinnerung rufen, trotz psychologisch und dichterisch fesselnder Partien neben dem viktorianischen Meister nicht bestehen. In allen diesen Dichtungen zeigt sich ein fortschreitendes Abrücken von der überkommenen Verstechnik, von der Robinson ausging, und ein stärkeres Experimentieren mit Rhythmus und Wortschatz. Im wesentlichen aber bleiben Denken und dichterisches Verfahren Robinsons sein ganzes Werk hindurch unverändert, was die Originalität, aber auch die Begrenztheit seines Schaffens bestätigt. Die Annäherung an die Alltagssprache und das Sich-Begnügen mit einfachen Reim- und Blankversen teilt Robinson mit dem sonst gegensätzlichen ROBERT FROST'° (1874-1963), dessen Leben nach Jahren unruhevollen Wechsels fernab der Stadt in schlichter Verbundenheit mit der Natur verlief. Frosts Welt ist Neuengland, insbesondere New Hampshire, dessen herbe Landschaft 10

Complete Poems (N. Y., 1949); Poetry and Prose, edd. E. C. Lathem and L. Thompson (N. Y., 1972); Selected Letters, ed. L. Thompson (N. Y., 1964). - L. Thompson and R. H. Winnick, R. F., 3 Bde. (N. Y., 1966-76); R. A. Brower, The Poetry of R. F.: Constellations of Intention (N. Y., 1963); P. L. Gerber, R. F. (N. Y., 1966); F. Lentricchia, R. F.: Modern Poetics and the Landscape of Self (Durham, N. C., 1975); R. Poirier, R. F.: The Work of Knowing (N. Y., 1977).

II. Die Versdichtung

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und wortkarge Bewohner das Hauptthema seiner Dichtung bilden. Schon in den ersten beiden Bänden, A Boy's Will (1913) und North of Boston (1914), die er während seines dreijährigen Aufenthalts in England veröffentlichte, ist die „poetische" Ausdrucksweise durch eine einfache, verhaltene, untertreibende Diktion ersetzt, die sich bis in die Satzmelodie hinein der Alltagssprache nähert. Handelt A Boy's Will von den Fragen und Antworten, den Zweifeln und Freuden des jungen Dichters, wobei die verschiedenen Stimmungen mit dem Lauf der Jahreszeit verknüpft werden, so wendet North of Boston den Blick nach außen, auf die Menschen, denen sich der Farmer Frost verbunden weiß und die er mitfühlend, aber auch humorvoll und ironisch betrachtet (Mending Wall; The Wood-pile; After Apple-Picking). Er zeichnet sie in ihrem Scheitern und ihrem Erfolg mit knappen, scharfen Strichen, vorzugsweise im dramatischen Monolog oder Dialog. Er versteht es, in seelische Tiefen zu leuchten und Angst (The Fear), stummes Entsetzen und qualvolles Nichtverstehen (Home Burial) oder das traurige Los des unbehausten Knechtes (The Death of the Hired Man) blitzartig zu erhellen. Mountain Interval (1916) verbindet die bisher meist getrennten Weisen der lyrisch-subjektiven Aussage und des erzählenden Berichts in der Form der kurzen Meditation über eine Person oder ein Ereignis, das ihn bewegt hat. Versonnener als Burns, vertrauender als Hardy singt er von Aussaat und Ernte, von Quelle und Erde, von Wind und Schneefall und dem sinnbildhaften Leuchten der Sterne. New Hampshire (1923) erweitert diese Skala mit Gedichten, die in offen satirischem Ton das materialistische Zweckdenken der Zeit angreifen. In den Notes wird ein elfisches Moment, Geistererscheinung und Hexenweben wie selbstverständlich in den Kreislauf der Dinge als ein Stück menschlich-abergläubischer Erfahrung mithineingenommen. In manchen der längeren Stücke meldet sich eine Neigung zu geheimnisvoller, epigrammatischer Formulierung; anderseits enthält die Sammlung einige seiner klarsten und anziehendsten Gedichte (Stopping by Woods on a Snowy Evening; The Need of Being Versed in Country Things). West-Running Brook (1928), das alle bisherigen Formen aufweist, bringt zwar keine neuen Entwicklungen, wohl aber eine Vertiefung, die vor allem in dem Titelgedicht auffällt. Dieser Bach, der in einer Gegend nach Westen fließt, wo alle anderen Bäche in entgegengesetzter Richtung dem Meer zueilen, und der, als er auf einen tieferliegenden Felsen stößt, eine weiße Welle gegen die Strömung zurückwirft, wird zum Symbol der Rückwärtsbewegung des Menschen zu seiner Quelle. Die späteren Sammlungen A Further Range (1936), A Witness Tree (1942) und Steeple Bush (1947) zeugen von unverminderter Kraft und enthalten einige seiner schönsten lyrischen Gedichte. Aber sie beweisen ebenfalls, daß Frost sich in zunehmendem Maße von der Konkretheit und Frische seiner früheren Verse gelöst hat und zu Sentenz und Abstraktion neigt. Diese Betonung des Gedanklichen beeinträchtigt auch die beiden späten Versdramen, das moderne Hiobspiel A Masque of Reason (1945) und das Jonaspiel A Masque of Mercy (1947), in dem Gott auf die menschliche Herausforderung antwortet; trotz eindrucksvoller dichterischer Stellen tritt hier die Di-

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daxis zu stark hervor und wirkt im dramatischen Zusammenhang zu unverbunden. Mensch und Natur sind in der Frostschen Lyrik durch eine scharfe Trennungslinie geschieden; es gibt kein Idyll und kein romantisches Einsgefühl. Der Mensch bleibt bedrängt von Angst, Trauer und Verlorenheit, aber er kann sich über alle Anfechtung und Ungewißheit erheben durch die Tat, durch Liebe und Toleranz. Mag der Sinn des Lebens verborgen sein, es liegt ein Plan zugrunde, an dem der Mensch mitarbeitet, bevor er zurückkehrt zu dem Ursprung allen Seins. Davon kündet die Frostsche Lyrik, zugleich enthüllend und verhüllend, im symbolischen Bild. Frost gehört in die Tradition von Emerson und Emily Dickinson, er ist ein Transzendentalist des 20. Jahrhunderts. Seine auf der Oberfläche so einfache, in Wirklichkeit höchst subtile Kunst wird sich als dauerhaft erweisen, weil in ihr Beobachtung und Deutung, Spontaneität und bewußter Gestaltungswille, eigene Vision und Tradition eins geworden sind. Bewunderer Whitmans sind die Vertreter des Mittleren Westens: Vachel Lindsay, Edgar Lee Masters und Carl Sandburg. Die Gedichte von (NICHOLAS) VACHEL LINDSAY" (1879-1931) sind nicht zum Lesen bestimmt, sondern zum Vortrag mit Musikbegleitung, unter Mitwirkung des Publikums beim Singen des Refrains. Wie ein Bänkelsänger erstrebte Lindsay in seiner Volkskunst die Einheit von Wort, Musik und Gebärde. Seine Mittel sind auf Massenwirkung berechnet: volltönende Sprache, Klangmalerei und kraftvolle Rhythmik. Sein bekanntes Gedicht General William Booth Enters Into Heaven (1913) ist zu lärmender Heilsarmeemusik geschrieben, und die Verwendung von Negerrhythmen in The Congo and other Poems (1914) hat zahlreiche Künstler zu eigenen Experimenten angeregt. Lindsay wollte in Liedern und Gedichten das Volk mit großen Amerikanern bekannt machen, und er stellte in naivem Enthusiasmus Helden der Pionierzeit, Zirkuskünstler, Wanderprediger und Filmstars neben Abraham Lincoln und Andrew Jackson oder neben Poe, Whitman, Mark Twain und O. Henry. Am besten gelang ihm mit den Mitteln seiner Kunst die Darstellung leidenschaftlich bewegter Menschenansammlungen. Von den zahlreichen Schriften EDGAR LEE MASTERS' (1868-1950) ist nur sein aufsehenerregendes Werk Spoon River Anthologyn (1915) bedeutsam geworden. Dieses durch das Vorbild der „Griechischen Anthologie" angeregte Buch bringt an die 250 kurze Grabinschriften, in denen die Verstorbenen einer Kleinstadt in Illinois ihre wahren Lebensschicksale unverblümt aufdekken. Das herkömmliche Idyll enthüllt sich als bittere menschliche Komödie, in der vergebliches Bemühen (Petit, The Poet), grausames Unglück ("Butch" 11

Selected Poems of V. L., ed. M. Harris (N. Y., 1963). - E. Ruggles, The West-Going Heart: A Life of V. L. ( . ., 1959); A. Massa, V. L.: Fieldworker for the American Dream (Bloomington, 1970). 12 Enlarged Edn. ( . ., 1916); Selected Poems ( . ., 1925). - . Flaccus, The Vermont Background of E. L. M. (N. Y., 1955); J. T. Flanagan, E. L. M.: The Spoon River Poet and His Critics (Metuchen, 1974).

//. Die Versdichtung

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Weldy), Heuchelei und kleinliche Intrigen dominieren, und die nur selten und meist am unvermuteten Ort versöhnende Werte birgt (Anne Rutledge; Luanda Matlock; Fiddler Jones). Wie der satirische Inhalt erregten auch die reimlosen und der Prosa oft bedenklich nahen Freiverse Aufsehen. Welche Ausdruckskraft diese auf Whitman zurückgehenden freien Rhythmen erreichen können, zeigt der einer schwedischen Familie entstammende CARL SANDBURG 13 (1878-1967). Aufgewachsen inmitten der Industrie, die dem Einwanderer ebenso herrisch entgegentrat wie einst die wilde Natur, besang er das Leben der jungen Riesenstadt Chicago (Chicago Poems, 1916), die bei aller Unbändigkeit und Roheit jenes unbegrenzte Zukunftshoffen ausstrahlt, das auch den zähen Farmer der weiten, sonnüberbrannten Prärie erfüllt (Cornhuskers, 1918; Slabs of the Sunburnt West, 1922). Sandburgs Kunst ist oft laut und schreiend, als ob sie das Surren der Dynamos und Dreschmaschinen, die moderne Romantik des Stahls, übertönen möchte. Aber wenn sie auch häufig zu leerer Rhetorik absinkt, so vermittelt sie doch ein überwältigendes Bild des auf Rauch und Stahl und das Blut der Menschen gegründeten Industriezeitalters (Smoke and Steel, 1920), und hinter der lärmenden Außenseite spürt man ein tiefes Mitgefühl. Die freien Rhythmen, die bald als kurz hervorgestoßene Eintakter, bald als atemberaubende, durch mehrere Zeilen hindurchhastende Verse erscheinen, vermögen ebenfalls zarte und stille Stimmungen wiederzugeben: die liebevolle Schilderung der Alten, Armen und Gebeugten und die immer wieder durchklingende Liebe zu den Kindern, für die Sandburg auch Erzählungen in der Kindersprache schrieb (Rootabaga Stories, 1922), Er sammelte amerikanische Volksballaden und Volkslieder (The American Songbag, 1927; The New American Songbag, 1950), schlug in Good Morning, America (1928) einen pessimistischen, die brutale Seite des amerikanischen Lebens hervorkehrenden Ton an, bekannte sich jedoch in The People, Yes (1936) zur Demokratie und zum amerikanischen Geist in seiner Vielfalt. In der Prosa ist Sandburgs große Leistung die monumentale Lincolnbiographie,14 während der Roman Remembrance Rock (1948) durch Sentimentalität enttäuscht.

3. Von den 'Georgians' zu den Imagisten Spiegelte das Werk von Yeats geradezu beispielhaft die Entwicklung von der Spätromantik bis zur Moderne, so begegnen wir den ersten Ansätzen einer Neuorientierung im 20. Jahrhundert bei den 'Georgians', die den Regierungsantritt Georgs V. als den Beginn einer neuen Zeit sahen. Sie lehnten die Dichtung der voraufgehenden Generation der 'Edwardians' entschieden ab und 13

Complete Poems (N. Y., 21970); The Letters, ed. A. Mitgang (N. Y., 1968). - N. Callahan, C. S.: Lincoln of Our Literature. A Biography ( . ., 1970). H. Golden, C. S. (Cleveland, 1961); C. Crowder, C. S. (N. Y., 1964). '"The Prairie Years, 2 Bde. (N. Y., 1926); The War Years, 4 Bde. (N. Y., 1939); einbändige Kurzfassung (N. Y., 1954).

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empfanden sich als Wegbereiter einer neuen Kunst. Sie sind erst durch die simplifizierende Kritik der späteren Modernisten zu Dichtern epigonaler Spätromantik und eskapistischer Wochenendpoesie mit sentimentaler Liebe zur Natur gestempelt worden. In Wirklichkeit tragen die fünf Anthologien, die Edward Marsh zwischen 1912 und 1922 unter dem Titel Georgian Poetry^5 veröffentlichte, keineswegs ein einheitlich spätromantisches Gepräge. Die 'Georgians' hatten kein Programm und bildeten keine Schule, und bezeichnenderweise sind auch etwa D. H. Lawrence, Wilfred Owen und Robert Graves in den Sammelbänden vertreten. Die Anthologien sind in ihrer Vielfalt und Weite, die erst in den letzten beiden Sammlungen verloren ging, den anderen Anthologien der Zeit, denen des Sitwell-Kreises ebenso wie der Imagisten, zweifellos überlegen; sie wurden zudem von einem sehr viel größeren Publikum gelesen. Am nachhaltigsten der romantischen Tradition verhaftet blieb WALTER DE LA MÄRE16 (1873-1956). Seine an Blake und Christina Rossetti erinnernden Gedichte beschwören ein mit den Augen des Kindes gesehenes magisches Märchenreich (Songs of Childhood, 1902; Peacock Pie, 1913). Die Grenze zwischen Wachen und Traum verfließt, und der Leser wird eines Visionären und Verwunschenen teilhaftig, einer Welt der Schönheit und Freude, in der jedoch das Unheimliche, Gespenstische und Groteske nie fern ist (The Listeners, 1912). Dies gilt auch von den Kurzgeschichten und Romanen, unter denen das Tagebuch einer Liliputanerin, Memoirs of a Midget (1921), herausragt. Insgesamt zeigt de la Mares Dichtung keine wesentliche Entwicklung. Sie variiert mit gleichbleibender Feinheit und Suggestionskraft traditionelle romantische Bilder und Symbole und ist in ihrer reifsten Form ein zartes, sinnendes Träumen über Zeit, Leben und Tod (The Travellers, 1946; Winged Chariot, 1951). Dagegen gehörte das Idol der Georgians, RUPERT BROOKE I? (1887-1915), zu den Avantgardisten der Zeit. Er hatte, wie T. S. Eliot, die elisabethanischen und jakobäischen Dramatiker sowie die Metaphysical Poets gründlich studiert und schätzte Baudelaire, Tschechow und Strindberg. Charakteristisch für ihn sind weniger seine heute verblaßten patriotischen Kriegssonette (Brooke starb zu Beginn des Krieges an einer Blutvergiftung, bevor er überhaupt an einer Schlacht teilgenommen hatte), neuartig waren vielmehr die in einem leichten, informellen Ton gehaltenen Gedichte, die aller müden Dekadenz mit jugendlichem Spott begegnen, herausfordernd und brutal unkon15

Auswahl: Georgian Poetry, ed. J. Reeves (1962, PB). - R. H. Ross, The Georgian Revolt: Rise and Fall of a Poetic Ideal, 1910-1922 (1967); M. Simon, The Georgian Poetic (Berkeley, 1975; repr. 1978). 16 The Complete Poems, ed. R. de la Mare (1969); A Choice of de la M.'s Verse, ed. W. H. Auden (1963). - H. C. Duff in, W. de la M.: A Study of His Poetry (1949); D. Cecil, W. de la M. (Oxf., 1973). 17 The Poetical Works of R. B., ed. G. Keynes (1946; pb. 1970); Letters, ed. G. Keynes (1968). - C. Hassall, R. B.: A Biography (1964); T. Rogers, R. B.: A Reappraisal and Selection (1971); R. B. Pearsall, R. B.: The Man and Poet (Amsterdam, 1974).

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ventionelle Themen behandeln (Lust, A Channel Passage) oder, wie The Old Vicarage, Granichester, ironisierend eine idyllisch-sentimentale Situation umspielen. Ein abenteuerliches Fühlerausstrecken liegt auch den exotischen Gedichten zugrunde (z. B. Tiare, Tahiti). Fern von aller gedanklichen Beschwerung erneuerte WILLIAM HENRY DAviES18 (1871-1940) das schlichte und naive Lied. Unter seinem Losungswort des Heraussingens, das auch über seiner Autobiography of a Super-Tramp (1908) steht, berichtet er sein Entzücken über die Erde und die sie bevölkernden Tiere und Vögel mit den einfachsten Worten und unermüdlicher Beobachtungsgabe. Die Welt seiner Lieder spiegelt sich in den Überschriften der einzelnen Bände: Nature Poems (1908), Songs of Joy (1911), The Bird of Paradise (1914), Raptures (1918), Moss and Feather (1928) u. a. Hart und beklemmend sind die Gedichte von WILFRID WILSON GiBSON19 (1878-1962), der in Daily Bread (1910), Fires (1912), Thoroughfares (1914), Livelihood (1917) und anderen Bänden eine Darstellung der Armuts- und Arbeitertragik gab, Fischer, Leuchtturmwächter, Grubenarbeiter zu Helden seiner Erzählungen und dramatischen Reden machte und ihre Charakterbilder oft sicherer zeichnete als sein Altersgenosse Masefield. JOHN MASEFIELD20 (1878-1967), der auch als Dramatiker (vgl. S. 902 f.), Romancier und Essayist hervorgetreten ist, begann mit den kraftvollen Salt Water Ballads (1902), die Kiplings patriotische Themen allgemeingültiger abwandelten, indem sie den Nachdruck auf das menschliche Leiden legten. Aber Masefields eigentliche Anlage trat erst mit den Erzählgedichten The Everlasting Mercy (1911) und Dauber (1913) hervor, durch die er einer fast vergessenen Gattung neue Beliebtheit verschaffte. Dauber, die Geschichte des heimlich malenden Matrosen, dessen Bilder von den verständnislosen Kameraden zerstört werden, ist die Kampfansage des idealistischen Künstlers an eine feindliche Welt. Wie alle Dichtungen Masefields ist sie durch harte Wirklichkeitsschilderung und ein Streben nach Vergeistigung und Schönheit gekennzeichnet und enthält eindrucksvolle Meeresstimmungen. Mit erstaunlicher Vielseitigkeit benutzte Masefield die Form der Verserzählung für die verschiedenartigsten Themen. Reynard the Fox (1919), die Schilderung einer Fuchsjagd, zeigt ebenso Verständnis für die Jäger wie für die Klugheit und Ausdauer des Fuchses, der sich am Ende seinen Verfolgern zu entziehen weiß. Dieses Werk und Right Royal (1920), die Beschreibung eines Pferderennens, bedeuten den Höhepunkt des Masefieldschen Schaffens. Im Wiederanknüpfen an Chaucers gelassene und nicht moralisierende Erzählkunst, die sich auch im Versmaß der kurzen und heroischen Reimpaare ausdrückt, fügen sich Geschehen, Charakterbild und weiterreichende Bedeutung ohne Künstlichkeit zusammen. 18

The Complete Poems of W. H. D., with an Introduction by O. Sitwell, ed. D. George (21963). - R. J. Stonesifer, W. H. D.: A Critical Biography (1963). "Collected Poems 1905-25 (1926). 20 Collected Works (Wanderer Edn.), 5 Bde. (1935-37); Collected Poems (41946); So Long to Learn: Chapters of an Autobiography (1952). - C. B. Smith, J. M.: A Life (Oxf., 1978); G. Thomas, J. M. (1933); M. Spark, J. M. (1953).

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Obwohl der Name von EDWARD THOMAS21 (1878-1917) nicht in Edward Marshs Anthologien erscheint, kann seine unter dem Zuspruch von Robert Frost erst in den letzten beiden Lebensjahren entstandene Lyrik als die Erfüllung des Ideals der Georgians gelten. In Weiterentwicklung der Tradition von Wordsworth bis Hardy zeigen seine Gedichte eine genaue, konkrete Naturbeobachtung und kontemplative Haltung, und sie spiegeln zugleich in ihrer völlig unrhetorischen Diktion und einer dem Rhythmus der Umgangssprache angenäherten Metrik ein modern anmutendes Gefühl der Fremdheit und Vereinsamung. Der Agnostiker Thomas äußert Zweifel an Freiheit und Glück und fühlt sich - mit bezeichnendem Keatsanklang - 'half in love with pain' (Liberty). Seine Gedichte sind durchzogen von tastender Ungewißheit und tiefer Melancholie über die Begrenztheit des menschlichen Lebens (The Owl, Melancholy, Rain, Lights Out), und das faszinierende The Other schildert unter Nutzung des Doppelgängermotivs halb parodistisch die Suche des Dichters nach seiner Identität. Der englischen Landschaft zutiefst verbunden ist auch die Dichtung EDMUND BLUNDENs 22 (1896-1974). Er singt von den Bächen, Flüssen und Menschen von Sussex, Suffolk und Kent; er verfügt über Schärfe der Beobachtung und über Humor, er hat die Gabe der Beschreibung ebenso wie die der Meditation (The Pike; The Midnight Skaters). Er weiß den Geist einer Landschaft einzufangen und das Geheimnis einer Naturszene mit Staunen anzurühren. Das ländliche Leben und die Jahreszeiten, die Bäume und die Tiere haben stets eine große Anziehung auf ihn ausgeübt, nicht nur in England, sondern auch in Flandern, wohin ihn der erste Weltkrieg führte. Das Kriegsgeschehen, das seinen Niederschlag in Undertones of War (1928) fand, hat ihn tief geprägt; aber aus seiner Lyrik wie aus seiner Prosa sprechen weniger Empörung und Bitterkeit als ein tiefes, unpathetisches Mitleid. In den dreißiger Jahren hat Blunden unter dem Einfluß Hardys und der metaphysischen Dichter des 17. Jahrhunderts Lyrik meditierenden Charakters geschrieben, die in einer einfachen, klaren und doch subtilen Sprache nach dem Verhältnis des Menschen zu Natur und Geist und nach dem Sinn des Lebens fragt. Durch alle bedrängende Not hindurch fand er zu Hoffnung und Freude, zu einem Glauben an den Menschen, den auch, wie die Bände Shells by a Stream (1944) und,After the Bombing (1949) zeigen, die Enttäuschungen des zweiten Krieges nicht zerstören konnten. Blunden leitet bereits zur K r i e g s d i c h t u n g 2 3 über. Die zu Beginn des ersten Krieges entstandene Lyrik ist durchweg von einem starken patrioti21

The Collected Poems of E. T, ed. R. G. Thomas (Oxf., 1978); Poems and Last Poems, ed. E. Longley, Collins Annotated Student Texts (1973); Selected Poems, ed. R. S. Thomas (1964 u. ö.). - W. Cooke, E. T: A Critical Biography (1970); J. Marsh, E. T: A Poet for his Country (1978); H. U. Seeber, Moderne Pastoraldichtung in England. . . . mit bes. Berücksichtigung von E. T. (Frankfurt, 1979). 22 E. B.: A Selection of His Poetry and Prose, ed. K. Hopkins (1950); Poems of Many Years, ed. R. Hart-Davis (1957); Selected Poems, ed. R. Marsack (Manchester, 1982); Undertones of War, WC (1956). - M. Thorpe, The Poetry of E. B. (1971). 23 Up the Line to Death: The War Poets 1914-1918, ed. B. Gardner (1964); Men who March Away, ed. I. M. Parsons (1965); The Penguin Book of First World War Poetry,

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sehen Idealismus getragen; aber der Ton wandelte sich bald zu bitterer Kritik und Satire. Man haßte weniger den deutschen Gegner, der im gegenüberliegenden Graben ein Bruder in derselben Not war, als die Stabsoffiziere, die Regierung und den Heldenkult der Heimat. Der heftigste Sprecher solchen Aufbegehrens war SIEGFRIED SASSOON24 (1886-1967), der in der Tradition der Georgians begann, dessen eigentliche Begabung aber nicht die Lyrik, sondern die Satire war. Er hielt die Opfer des Krieges für sinnlos, die Ideale für morsch und prangerte die Generäle, die Etappe und die Journalisten an. Dem Pseudopatriotismus der Heimat, der die Augen vor der grauenhaften Wirklichkeit verschloß, hielt er die Nervenzusammenbrüche und Selbstmorde an der Front entgegen (Suicide in the Trenches}. Schon früh sah er voraus, daß die Lehren des Krieges nur allzu schnell vergessen werden würden, und griff nach dem Krieg mit derselben Aufrichtigkeit und Leidenschaft Heuchelei und Selbstgerechtigkeit an (Satirical Poems, 1926). Bedeutender als seine spätere Lyrik ist die Prosa: die halbautobiographischen Memoiren von George Sherston (Memoirs of a Fox-Hunting Man, 1928; Memoirs of an Infantry Officer, 1930; Sherston's Progress, 1936) wie auch die autobiographischen Bände (The Old Century and Seven More Years, 1938; The Weald of Youth, 1942; und Siegfried's Journey 1916-1920, 1945). Wollte Sassoons Dichtung entlarven und aufrütteln, so tat WILFRED OwEN25 (1893-1918) den Schritt zu einer Sinndeutung der Tragödie. Auch er begann als Romantiker, fand dann aber - nach satirischen Versen in der Art Sassoons (Parable of the Old and Young; Dulce et Decorum) - zu seinem eigentlichen Thema: dem erbarmungswürdigen Elend des Krieges. Damit führte sein Weg von der Satire zur Elegie, und in seinen besten Gedichten (Anthem for Doomed Youth; Strange Meeting) spricht eine fast überirdisch ruhige Stimme, die das Unvermeidliche gelassen hinnimmt und nur das Mitleid als Wert anerkennt. Durch alle Dissonanzen und Enttäuschungen, die durch die Technik des sog. Halbreims (d. h. die Übereinstimmung der Konsonanten bei differierenden Vokalen) sinnfällig zum Ausdruck kommen, klingt letztlich die Aussöhnung mit dem Schicksal. In den Jahren 1916-21 erschienen unter dem Titel Wheels sechs Anthologien des S i t w e l l - K r e i s e s , die der Dichtung der Georgians mit herausforderndem Spott begegneten. Von den drei Geschwistern SITWELL (EDITH, ed. J. Silkin (Harmondsworth, 1979). - J. H. Johnston, English Poetry of the First World War: A Study in the Evolution of Lyric and Narrative Form (Princeton, 1964); B. Bergonzi, Heroes' Twilight: A Study of the Literature of the Great War (1965). 24 Collected Poems 1908-1956 (1961); The Complete Memoirs of George Sherston (1937). - M. Thorpe, S. S.: A Critical Study (Leiden, 1966). 25 The Collected Poems of W. O., with a memoir by E. Blunden, ed. C. D. Lewis (1963); War Poems and Others, ed. D. Hibberd (1973); Collected Letters, edd. H. Owen and J. Bell (1967). - H. Owen, Journey from Obscurity: W.O. 1893-1918, 3 Bde. (1963-65); J. Stallworthy, W. O.: A Biography (1974); D. S. R. Weiland, W. O.: A Critical Study (1960); G. M. White, W. O. (N. Y., 1969); A. E. Lane, An Adequate Response: The War Poetry of W. O. and S. Sassoon (Detroit, 1972).

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1887-1964; OSBERT, 1892-1969; SACHEVERELL, geb. 1897)26 war Edith die begabteste. In ihren frühen Bänden, die so bezeichnende Titel tragen wie Clown's Houses (1918), The Wooden Pegasus (1920) und Fa fade (1922), schuf sie aus Familienerinnerungen, Kindheitsträumen und Rokoko-Reminiszenzen eine bizarre Phantasiewelt, in der sich Nymphen und Satyrn, Clowns, exotische Wesen und Marionetten bewegen. Edith Sitwell suchte die ausgeleierten Formen der herkömmlichen Metrik durch neue zu ersetzen und experimentierte mit Walzer-, Polka- und Foxtrottrhythmen, mit kecken Akzentund Klangkombinationen, bei denen der Sinn mehr oder weniger belanglos ist. In diesen Gedichten ist die Bildlichkeit zum Selbstzweck geworden; ohne Rücksicht auf den organischen Zusammenhang werden einzelne Teilstücke aus den verschiedensten Bereichen zu verblüffenden Kombinationen zusammengefügt, so daß man sich an Techniken der kubistischen Malerei erinnert fühlt. Die frühen Gedichte enthüllen ebenfalls eine unverkennbar satirische Anlage; sie kommt am deutlichsten zum Ausdruck in dem Gedicht Gold Coast Customs (1929), das in der Maske kannibalischer Negerbräuche ein grimmiges Bild der zeitgenössischen Gesellschaft zeichnet. Mit dem zweiten Weltkrieg wich das virtuose Spiel mit künstlichen Formen einem symbolischen Gestalten, wobei archetypische, antike und christliche Vorstellungen die frappierendsten Fusionen eingehen (Street Songs, 1942). Technisch ist der Übergang zu längeren Versen und freier Odenform auffällig. In einem Gedicht wie Still falls the Rain wird der todbringende Bombenregen auf London, der Schuldige und Unschuldige, Reiche und Arme unterschiedslos trifft, zum Blut, das aus Christi Seite auf die leidgeplagte Menschheit fällt. Mitten in der Bedrohung des Atomzeitalters bekannte sich die Dichterin, die 1954 zum römischen Katholizismus konvertierte, zum Glauben an die erlösende Kraft der Liebe (The Shadow of Cain; The Canticle of the Rose). Der Wert ihrer Lyrik, namentlich der sich prophetisch gebenden, volltönenden späteren Gedichte, ist umstritten geblieben. Eine andere Gruppe, die gegen die Dichtung der Georgians revoltierte, waren die I m a g i s t e n . 2 7 Unter diesem Namen faßt man eine Reihe von englischen und amerikanischen Autoren zusammen (T. E. Hulme, Richard Aldington, F. S. Flint; Ezra Pound, Hilda Doolittle [H. D.], Amy Lowell, John Gould Fletcher), die zwischen 1912 und 1917 mit mehreren Manifesten und Anthologien hervortraten. THOMAS ERNEST KULMES (s. S. 844) Bedeutung beruht auf seiner antiromantischen Dichtungstheorie, mit der er bestimmend 26

J. Lehmann, A Nest of Tigers: The Sitwells in their Times (1968); J. Pearson, Fa9ades: E., O., and S. S. (1978). - The Collected Poems of E. S. (1954); Selected Letters edd. J. Lehmann and D. Parker (1970); Taken Care Of (1965) [Autobiographie]. - V. Glendinning, E. S.: Unicorn among Lions (1981); S. Singleton, E. S.: The Hymn to Life (1961); R. J. Mills, Jr., E. S.: A Critical Essay (Grand Rapids, Mich., 1966). - The Collected Satires and Poems of O. S. (1931); Selected Poems of O. S., Old and New (1943). - Selected Poems of S. S. (1948). 27 Imagist Anthology, edd. P.M. Ford and G. Hughes (1931). - S. K. Coffman, Imagism: A Chapter for the History of Modern Poetry (Norman, Okla., 1951); G. Hughes, Imagism and the Imagists (1960).

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wurde für die moderne Ästhetik. Der Dichter war für ihn ein 'artifex', Dichtung nichts anderes als ein „Mosaik von Worten" oder, in Ezra Pounds späterer Formulierung, „eine Art von inspirierter Mathematik", die „Gleichungen gibt für menschliche Emotionen", womit T. S. Eliots bekannte Definition des „objektiven Korrelats" vorgedeutet ist. Deshalb forderten die Imagisten das exakte Wort, die knappe, gemeißelte Form, die festumrissene Bildlichkeit und „neue Kadenzen", womit vorzugsweise der disziplinierte Freivers gemeint war. Die imagistischen Gedichte entfalten zumeist eine einzige Grundmetapher, so daß lyrische Miniaturen charakteristisch wurden, die den Einfluß japanischer Kleinformen wie 'haiku' und 'tanka' verraten. Während Ezra Pound bald eigene Wege ging, bemühte sich AMY LowELL28 (1874-1925), deren Gedichte trotz ihrer geschliffenen Form wie leblose Museumsstücke anmuten, den Imagistenkreis zusammenzuhalten. JOHN GOULD FLETCHER29 (1886-1950), der mehrfach Wandlungen durchmachte, fand über den Imagismus zur Reife. Die buntleuchtenden Bildfolgen der Irradiations (1915) und die rauschhaften Färb- und Klangsymphonien der Goblins and Pagodas (1916) begründeten seinen Ruhm. Einen Höhepunkt imagistischer Dichtung bedeuten die griechischen Evokationen von HILDA DooLiTTLE30 (H. D.) (1886-1961) in Hymen (1921) und Heliodora (1924), die man mit Tanagrafiguren verglichen hat. Im ganzen gesehen liegt die Bedeutung des Imagismus weniger in den dichterischen Ergebnissen als in der Wegbereitung. Mit den Forderungen der Präzision und Ökonomie der Form und der direkten, „unpersönlichen" Aussage schuf der Imagismus die Voraussetzungen für die kommende Dichtung der Eliot-Generation. Er hat überdies das Verdienst, die englische Literatur wieder in Berührung mit der Weltliteratur gebracht zu haben. 1917 zerfiel der Kreis; die meisten Angehörigen der Gruppe waren inzwischen mit der ursprünglichen Theorie und der selbstauferlegten Beschränkung nicht mehr zufrieden. DAVID HERBERT LAWRENCE31 (1885-1930), der eine Zeitlang den Imagisten nahestand, griff bald über deren enge Grenzen hinaus und verkündete, seiner blutvolleren Veranlagung entsprechend, die Botschaft von der Wiedergeburt der Seele durch die Sinne. Die zahlreichen autobiographischen Gedichte, die von seiner ersten Liebe, der Beziehung zu seiner Mutter und von der Liebe zu Frieda von Richthofen handeln (Look, We have Come Through!, 1917), lassen die Themen anklingen, die in den Romanen eine tiefere Gestaltung er28

The Complete Poetical Works of A. L., ed. L. Untermeyer (Boston, 1955); A Shard of Silence: Selected Poems of A. L., ed. G. R. Ruihley (N. Y., 1957). - H. Gregory, A. L.: Portrait of the Poet in Her Time (N. Y., 1958); J. Gould, Amy: The World of A. L. and the Imagist Movement (N. Y., 1975); G. R. Ruihley, The Thorn of a Rose: A. L. Reconsidered (Hamden, 1975). 29 Selected Poems (N. Y., 1938); Life is my Song (N. Y., 1937) [Autobiographie]. - E. S. de Chasca, J. G. F. and Imagism (Columbia/Lo., 1978). 30 Collected Poems of H. D. (N. Y., 21940). - V. Quinn, H. D., TUSAS (N. Y., 1967). 31 The Complete Poems of D. H. L., edd. V. de S. Pinto and F. W. Roberts, 2 Bde. (1964). - S. M. Gilbert, Acts of Attention: The Poems of D. H. L. (Ithaca, 1973). Vgl. S. 970, Anm. 34.

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fuhren. Einzigartig ist dagegen seine Naturdichtung. Der Band Birds, Beasts, and Flowers (1923) enthüllt in den Gedichten über Känguruhs, Kröten, Schlangen, Moskitos ein unmittelbares Verhältnis zur Welt des Tieres, das völlig unsentimental in seinem Eigensein und, hervorragend eingefangen in den freien Rhythmen, gleichsam im lebendigen Augenblick erfaßt wird. Zwei bewegende spätere Gedichte verdienen besondere Erwähnung, Bavarian Gentians und The Ship of Death, in denen der Dichter den Gang in das geheimnisvolle Dunkel des Todes besingt. Jenseits aller Gruppen und Schulen steht auch ROBERT GRAVES32 (geb. 1895). Er begann in spätromantischen Bahnen und wurde danach durch das Kriegserlebnis, wie sein autobiographischer Band Goodbye to All That (1929, 2 1957) zeigt, zutiefst erschüttert. Seine Nachkriegslyrik suchte die Geister des Krieges zu bannen und behandelt die verschiedensten philosophischen und psychologischen Probleme in ironischer oder zynischer Weise. Die Sprache ist hart, unmetaphysisch und intellektuell und zeugt von Vereinsamung und schmerzvoller Unsicherheit. Bei der Lösung vom romantischen Vers hat ihm Skelton, der auch später sein Vorbild blieb, große Hilfe geleistet. 1929 verließ Graves England und ging nach Mallorca, wo er mit der Amerikanerin Laura Riding (geb. 1901), mit der er bereits A Survey of Modernist Poetry (1928) veröffentlicht hatte, bis 1938 zusammenarbeitete. In den Gedichten dieser Zeit tritt das Liebesthema beherrschend in den Vordergrund. Es erscheint in mannigfachen Variationen, von flüchtiger Sinnenlust bis zu Verzweiflung und Ekel, und wird bald geistreich und zart umspielt, bald bitter und satirisch mit Freudschen Kategorien analysiert. Die Liebe ist eine zerstörerische Macht; sie bringt keine volle Erfüllung und bleibt doch der einzige Weg des Menschen zur Selbstfindung und Erlösung. In den vierziger und fünfziger Jahren erfuhr Graves' Lyrik eine Erweiterung und Vertiefung durch die Einbeziehung mythischer und magischer Elemente. Er schuf sich mit The White Goddess^ (1948, erw. 1952, 1961) eine Mythologie, die zwar eine höchst eigenwillige Klitterung darstellt, aber seiner bisherigen intellektuellen Kunst eine neue emotionale Tiefe und feste Mitte gab. Graves hat auch eine Reihe von Übersetzungen und Romanen verfaßt, von denen I Claudius und Claudius the God (1934) grossen Erfolg errangen. Sein literarischer Rang beruht jedoch auf der Lyrik, und Graves' kompromißlose Hingabe an die Kunst, seine leidenschaftliche Suche nach Wahrheit und sein handwerkliches Können haben ihm in den fünfziger Jahren höchste Anerkennung errungen. Der von den Orkney-Inseln stammende EDWIN MuiR34 (1887-1959), der sich als Kritiker und (zusammen mit seiner Frau Willa Muir) als Kafka- und 32

Collected Poems (1975); The Common Asphodel: Collected Essays on Poetry 1922-1949 (l949); The Crowning Privilege (1955); Oxford Lectures on Poetry (1962). - D. Day, Swifter than Reason: The Poetry and Criticism of R. G. (Chapel Hill, N. C, 1963); M. Kirkham, The Poetry of R. G. (1969); J. B. Vickery, R. G. and the White Goddess (Lincoln, Nebr., 1972). 33 Vgl. auch das zweibändige Kompendium The Greek Myths (1955). 34 Collected Poems 1921-1958 (1960); An Autobiography (1954); Selected Letters, ed. P. H. Butter (1973). - P. H. Butter, E. M.: Man and Poet (Edinb., 1966); E. Huberman, The Poetry of E. M.: The Field of Good and 111 (N. Y., 1971); E. W. Mellown, E. M., TEAS (Boston, 1979).

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Broch-Übersetzer Verdienste erworben hat, fand mit seiner Lyrik erst spät Anerkennung. Unablässig hat ihn das Zeitproblem beschäftigt (Variations on a Time Theme, 1934); mit dem Titel seines Bandes von 1937 könnte man die meisten seiner Gedichte als Journeys and Places bezeichnen. Scheint in Muirs früher Lyrik keine Straße dem Ziel näher zu führen, und ist die Zeit das Bedrohende und Zerstörende, so wird sie in seiner späteren Dichtung zum Hinweis auf die Ewigkeit (The Voyage, 1946). Aus dem Labyrinth der Vereinsamung fand der Dichter zur erlösenden Freiheit (The Labyrinth, 1949), zu der Gewißheit, daß trotz gegenteiligen Anscheins die Mächte des Guten am Ende über das Böse siegen werden. Alle Wege führen zum Ausgangspunkt zurück, und das Stückwerk des Lebens wird sich einmal als ein planvolles Ganzes erweisen (One Foot in Eden, 1956). Unsere Träume, Phantasien und Eingebungen sind bereits Schatten aus der anderen Welt. Muirs Bereich ist begrenzt, aber er hatte eine eigene Schau und kündete von ihr in einer Sprache, die in ihrer Einfachheit an Traherne und Wordsworth und die schottischen Balladen erinnert.

4. Ezra Pound und T. S. Eliot Wie die imagistischen Dichter beweisen auch Pound und Eliot erneut die Zusammengehörigkeit der englischen und amerikanischen Literatur. EZRA POUND35 (1885-1972) hat durch sein Werk als 'poets' poet' und durch direkte persönliche Einflußnahme auf die künstlerische Formung führender zeitgenössischer Dichter (T. S. Eliot, Yeats, Joyce, Hart Crane, Hemingway u. a.) entscheidend eingewirkt. Als amerikanischen Kosmopoliten, der nach romanistischem Studium und kurzer Universitätslaufbahn von 1908-20 in London, von 1920-24 in Paris und von 1924-45 in Rapallo lebte, ist ihm Literatur gleichbedeutend mit Weltliteratur: Aus Homer und Dante, griechischer und lateinischer Lyrik, den Troubadours und Villon entwickelte er - ein poeta 35

W e r k e : Personae: Collected Shorter Poems of E. P. (1952); Collected Early Poems, ed. M. J. King (1976); The Cantos 1-109 (1964) [dazu: J. H. Edwards and W.W. Vasse, Annotated Index to the Cantos 1-84 (Berkeley, 1957)]; Drafts and Fragments of Cantos 110-117 (1970); The Spirit of Romance (21952); ABC of Reading (1934); Make It New (1934); Guide to Kulchur (1938,21951); Confucius: The Great Digest, Unwobbling Pivot, The Analects (N. Y., 1969); Women of Trachis (N. Y., 1956); Selected Prose 1909-1965, ed. W. Cookson (1973); Literary Essays, ed. T. S. Eliot (1954);The Letters 1907-1941, ed. D. D. Paige (1951). - B i o g r a p h i e und K r i t i k : N. Stock, The Life of E. P. (1970); H. Kenner, The Poetry of E. P. (1951); ders., The Pound Era (Berkeley, 1971); D. Davie, E. P.: The Poet as Sculptor (1965); M. Alexander, The Poetic Achievement of E. P. (1979); K. K. Ruthven, A Guide to E. P.'s Personae (1926) [Berkeley, 1969]; J. Espey, E. P.'s Mauberley: A Study in Composition (1955); W. L. Yip, E. P.'s Cathay (Princeton, 1969); G. Dekker, Sailing after Knowledge: The Cantos of E. P. (1963); N. Stock, Reading the Cantos: A Study of Meaning in E. P. (1967); D. P. Pearlman, The Barb of Time: On the Unity of E. P.'s Cantos (Oxf., 1969); E. P. Nassar, The Cantos of E. P.: The Lyric Mode (Baltimore, 1975); M. Motsch, E. P. und China (Heidelberg, 1976).

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doctus - seine Maßstäbe, denen er die literarischen Werke der letzten zwei Jahrhunderte sarkastisch unterwarf. Sein programmatisches Frühwerk über die Literatur des Mittelalters, The Spirit of Romance (1910), ist in seiner erstaunlichen Spannweite charakteristisch für Pounds assoziativ vielgesichtige und künstlerisch freie Betrachtungsweise der Literatur. Auch in seinen avantgardistischen Schriften zur bildenden Kunst und zur Musik knüpfte er an den strengen Formalismus des Mittelalters an. Pound ist kein systematischer Denker, sondern eine zugleich sensitiv und temperamentvoll reagierende Künstlernatur; seine ungeglätteten, polemischen Essays dienen der Selbsterhellung und der künstlerischen Erziehung intelligenter Leser (ABC of Reading, 1934). Die Vergangenheit wird „aktive Gegenwart" in seinen zahlreichen Nachdichtungen, die nicht philologisch-korrekte Wiedergaben, sondern selbständige 'imitations' in der Art der Klassizisten Dryden und Pope sind. Sie gehören zu den echten Leistungen englischsprachiger Übersetzungskunst und haben - vor allem die Übertragung der altenglischen Elegie The Seafarer' die moderne Dichtung mehr beeinflußt als die historischen Vorbilder selbst. Auch in seinem dichterischen Werk in engerem Sinne - Pound hätte diese Abgrenzung gegenüber seinen Übersetzungen allerdings nicht gelten lassen herrscht ein fortwährendes Nachklingen literarischer Vorbilder, wie dies der spätere Sammeltitel seiner ersten Gedichtbände Personae (1909) andeutet. In diesen frühen Gedichten erweist er sich als der Erbe der neunziger Jahre, vor allem Brownings, dessen Form des dramatischen Monologs er aufnimmt und mit dem er das Experimentieren mit den Rhythmen der Umgangssprache, die Liebe zur poetischen Kurzschrift durch zahllose Andeutungen, die Ablehnung romantischer Gefühlsdichtung und eine bewußt spröde Intellektualität gemeinsam hat. Die Verehrung für das Italien der Frührenaissance und für die Griechen teilt Pound aber auch mit den Präraffaeliten, deren Einfluß er durch immer stärker werdende Ironie in der Art Heines und besonders Laforgues überwindet. Mit den durch das programmatische Gedicht 'Salutation the Second' eingeleiteten Lustra (1916), d. i. Sühnopfer für die Sünden der Zeitgenossen, hat Pound einen neuen, herberen Ton erreicht. Inzwischen war er die treibende Kraft der locker verbundenen Londoner Dichtergruppe der Imagisten geworden, (s. S. 868 f.), deren antiromantische Programmpunkte in den Lustragedichten verwirklicht sind: geschliffene Form, vignettenhafte Bildlichkeit, epigrammatische Kürze, unliterarische Diktion. Pound definiert das poetische Bild unter Berufung auf Aristoteles, der es den Prüfstein des Genies genannt hatte, mit den Worten 'an image is that which presents an intellectual and emotional complex in an instant of time'. Es steht gleichnishaft und ist zeitlos wie eine mathematische Formel. In gleiche Richtung führte die damals beginnende Beschäftigung mit chinesischer Lyrik, mit der ihn die Herausgabe des Nachlasses des Ostasienforschers Ernest Fenollosa vertraut machte und woraus er in der (dem Lustraband angefügten) Sammlung Cathay (1915) freie Übertragungen brachte. Fenollosas Aufsatz The Chinese Written Character

//. Die Versdichlung

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as a Medium for Poetry' behandelt die Bildersprache der chinesischen Schriftzeichen (das „Ideogramm") und erklärt deren Einfügung in Pounds spätere Dichtungen. Einen Höhepunkt erreichte seine Lyrik in Homage to Sextus Properlius (1919), einer freien Übertragung des römischen Elegikers in Ton und Stil unserer Zeit, und in dem Gedichtzyklus Hugh Selwyn Mauberley (1920), einer dichterischen Autobiographie, in welcher der Autor sich selbst ironisiert: Er ist der Künstler, der im Exil seiner griechischen Träume lebt (I), unfähig zu Kompromissen mit den Ansprüchen einer kommerziellen Zivilisation (II, III), die den Idealismus der Jugend zynischen Parolen auf den Schlachtfeldern opfert (IV, V) und den widerstrebenden Künstler ins Verderben zieht, wie der Hinweis auf die Präraffaeliten (VI) und die Ästheten der neunziger Jahre (VII, IX) andeutet; auch Dr. Johnsons heroische Isolierung von seinen aristokratischen Gönnern ist heute unmöglich (XII); durch das bloße Echo vergangener Schönheit ist die Gegenwart gerichtet (XIII). Mit sprachlicher Virtuosität ist im zweiten Teil das allmähliche Zurücksinken des Künstlers in einen unschöpferischen Zustand passiver Träumerei dargestellt eine Gefahr, der Pound selbst durch seine fluchtartige Übersiedlung in die Mittelmeerwelt entging. 'Hugh Selwyn Mauberley' ist ein heftiger Angriff auf die museale und korrupte zeitgenössische Kultur. Über die Thematik hinaus wurde auch Pounds Technik vorbildlich durch den elliptischen Stil, die Zitate aus den verschiedensten Literaturen, durch die Verwendung journalistischer Klischees und die stechenden Kontraste zwischen großer, lebendiger Vergangenheit und schaler, chaotischer Gegenwart. Die in Italien erneuerte Berührung mit der Renaissance und der korporative Staatsgedanke Mussolinis (für den er während des Weltkriegs öffentlich eintrat) gaben ihm neuen Anstoß für seine größte Dichtung, The Cantos. Von dem auf 120 Cantos geplanten Werk erschienen bis 1963 die Cantos 1-109 (ohne 72 und 73); von den Cantos 110-117 wurden Entwürfe und Fragmente veröffentlicht. Indem Pound die Kunstfertigkeit seiner kleineren Dichtungen und die subtile Technik von Mauberley auf ein Werk von epischen Ausmaßen anwandte, erhöhte er die Schwierigkeit des Verstehens. Denn die Cantos, ein poetisches Gegenstück zu Joyces Ulysses, haben keinen Erzählfaden; ihre Substanz ist die Geschichte, aber nicht chronologisch, sondern morphologisch gesehen, als Wiederholung oder Variation bestimmter Leitmotive, mit maskenhaften Akteuren kaleidoskopartig in ständiger Verwandlung ineinander verfließend. Aus Gegenwart, Vergangenheit und Mythos schöpfend, setzt Pound in einem elliptischen Stil Bild neben Bild, Motiv neben Motiv. Die angestrebte Wirkung ist - abgesehen von der oft überraschenden Schönheit der einzelnen Mosaikstücke - die einer musikalischen Kompostion: aus der Beziehung der einzelnen Teile zueinander, aus ihrer intensivierenden Reihung oder ironischen Kontrastierung soll das komplexe Ganze erwachsen. Yeats verglich die Komposition der Cantos mit der einer Bach-Fuge, und Pound selbst äußerte, „reine Dichtung" stünde Musik und Malerei näher als den anderen Formen der Literatur. Dementsprechend tritt das logische Ele-

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ment in den Cantos hinter den bildhaften und metrischen Wirkungen zurück. Pounds Fähigkeit der poetischen Verschmelzung heterogener Stoffe ist größer als seine Kraft zur strukturellen Durchdringung. Als die idealen Richtpunkte dienen ihm in seinem Werk die in sich geschlossene Welt der griechischen Naturreligion, die Harmonie des konfuzianischen Staates und der 'uomo universale' der Renaissance; ihr Gegenpol ist 'Usura', die Macht, die Staat und Kultur untergräbt. Als Ebene, auf der sich beide auseinandersetzen, wählte Pound anstelle der kriegerischen Vorgänge des alten Epos das Ringen kulturbildender mit kulturzerstörenden Kräften innerhalb der weltweiten wirtschaftlichen Kämpfe der modernen Welt. Pounds Cantos sind der kühne Versuch, die disparaten Elemente unserer Gegenwart und das Erbe unserer kulturellen Vergangenheit in einer neuen dichterischen Gesamtvision zu verbinden. Doch es gelang dem Dichter nicht, das gewaltige Material zur Einheit zu fügen, und er mußte am Ende bekennen: "And I am not a demigod /1 cannot make it cohere" (Canto 116). So ist man vom Ganzen weniger beeindruckt als von virtuosen Passagen, einzelnen Cantos (l, 2, 13, 17) und der ergreifenden Sequenz der in seiner Gefangenschaft entstandenen „Pisaner Gesänge" (74-84). THOMAS STEARNS Euox36 (1888-1965) gehört in die Reihe der großen englischen Dichter-Kritiker, die mit Sir Philip Sidney beginnt und über Ben Jonson, Dryden, Dr. Johnson zu Coleridge und Matthew Arnold führt. In Harvard erzogen, wo Babbitt und Santayana zu seinen Lehrern zählten, kehrte er vor dem ersten Weltkrieg in die Heimat seiner puritanischen Vorfahren zurück und wurde 1927 englischer Staatsbürger. Eliots Kritik hat den Geschmack der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wesentlich mitgeformt. Seine erste Aufsatzsammlung The Sacred Wood (1920), insbesondere der Essay Tradition and the Individual Talent (1919), kann als das Manifest einer neuen Dichtungstheorie gelten, die in der Nachfolge von Remy de Gourmont und Ezra Pound die spätromantische Ästhetik ablehnte und vom Kunstwerk „Unpersönlichkeit" verlangte. Erst indem das persönliche Erleben des Dichters objektiviert wird und sich mit der Tradition verbindet, entsteht für Eliot große Dichtung, wie er sie in den Leitbildern Dante und Vergil ver36

W e r k e : Complete Poems and Plays (l969);The Waste Land: A Facsimile and Transcript of the Original Drafts, ed. V. Eliot (1971); Selected Essays (31951); On Poetry and Poets (1957); To Criticize the Critic and Other Writings (1965); The Use of Poetry and the Use of Criticism (21964); The Idea of a Christian Society (1939); Notes Towards the Definition of Culture (1948). - B i o g r a p h i e und K r i t i k : F.O. Matthiessen, The Achievement of T. S. E. (31959); H. Gardner, The Art of T. S. E. (1949 u. o.); H. Kenner, The Invisible Poet: T. S. E. (1960); B. Bergonzi, T S. E. (1972); J. Chiari, T. S. E.: Poet and Dramatist (1972); A. D. Moody, T S. E.: Poet (Cambr., 1979); G. Smith, T S. E.'s Poetry and Plays: A Study in Sources and Meaning (Chicago, 21975); V. Brombert, The Criticism of T. S. E. (New Haven, 1949); A. Austin, T. S. E.: The Literary and Social Criticism (Bloomington, 1971); A. P. Frank, Die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein: Motive und Motivationen in der Literaturkritik T. S. E.'s (München, 1973); D. Lee, Theory and Personality: The Significance of T. S. E.'s Criticism (1979).

77. Die Versdichtung

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körpert sieht. Der Dichter muß, so formuliert es der Hamlet-Aufsatz (1919), für seine Emotion jeweils die „gegenständliche Entsprechung" ('the objective correlative') finden, die diese Emotion vollkommen ausdrückt und im Leser die entsprechende Reaktion erzeugt. Die hierzu notwendige Einheit von Fühlen und Denken sieht Eliot zum letztenmal bei den 'metaphysical poets' des 17. Jahrhunderts verwirklicht. Mit Milton habe eine 'dissociation of sensibility' eingesetzt, an der alle folgende Dichtung kranke. In zahlreichen Aufsätzen hat Eliot diese Grundeinsichten erweitert, angewandt und im Laufe der Zeit modifiziert oder revidiert, wie seine späteren positiveren Äußerungen über Milton, Tennyson, Kipling oder Goethe beweisen. Seine Harvarder Vorlesungen The Use of Poetry and the Use of Criticism (1933) behandeln die bedeutenden englischen Kritiker und fragen nach dem Sinn und Wert literarischer Kritik. Als Herausgeber der Zeitschrift 'The Criterion', die kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs ihr Erscheinen einstellte, ist Eliot für eine abendländische Zielsetzung der Kritik eingetreten. Wie Matthew Arnold hat sich Eliot in zunehmendem Maße auch theologischen und sozialen Fragestellungen zugewandt und Literatur- und Kulturkritik miteinander verknüpft (Religion and Literature, 1935; The Idea of a Christian Society, 1939; Notes towards the Definition of Culture, 1948). Eliots lyrisches Werk ist gering an Umfang, zeigt aber den Maßstab strenger Auswahl. Schon die erste Sammlung, Prufrock and Other Observations (1917), stellt sich, worauf das vorangestellte Zitat verweist, bewußt in den Schatten Dantes. Als distanzierter Beobachter zeichnet der Dichter eine Reihe satirischer Porträts, Bilder der tödlichen Langeweile, der Vereinzelung, der Entfremdung. Das Titelgedicht, The Love Song of J. Alfred Prufrock (durch Zusammenziehung von 'prüde' und 'frock' gebildet), der innere Monolog eines sich verbraucht fühlenden, neurotischen Junggesellen, der, zur Liebe unfähig, ihr nur in Tagträumen nachhängt, zeigt die auch für die übrigen Gedichte bezeichnenden Stilzüge: den Aufbau in kurzen, unverbundenen, typischen Szenen; die ironische und zugleich wertende Kontrastierung der trivialen Gegenwart mit dem sinnerfüllten Leben der Vergangenheit; Eliots feines Ohr für die Rhythmen der Umgangssprache wie seine Gabe, durch das Hineinweben geprägter Bilder aus der abendländischen Kulturtradition höchste Eindringlichkeit zu erreichen. Der Einfluß der französischen Symbolisten, vor allem Laforgues, des Imagismus, der jakobäischen Dramatiker und der Metaphysicals ist ebenso unverkennbar wie Eliots Fähigkeit, modern-mythische Gestalten zu schaffen - von Prufrock, dem Typ des Inhibierten, bis zu Sweeney, dem Typ des brutalen, geistlosen Gegenwartsmenschen. Die vorzugsweise dem amerikanischen Schauplatz verpflichteten Porträts von 'Prufrock' ergänzt der folgende Band, Poems (1920), durch eine kosmopolitische Gesellschaft schäbiger Touristen. Mit Nachdruck an die Spitze gestellt ist Gerontion, der innere Monolog eines zusammengeschrumpften Greises, der in einem verfallenen Haus, dem Symbol der abendländischen Kultur, dahinvegetiert und vergeblich auf Regen wartet. Obwohl er das Abgeschnittensein von den Kräften des Lebens schmerzlich empfindet,

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sieht er keinen Ausweg. So bleiben seine Gedanken, ein Vorklang zum „Wüsten Land", 'thoughts of a dry brain in a dry season'. In The Waste Land (1922) sucht der Dichter nach einem Weg, der aus der Öde und Leere, der 'terra deserta et inaquosa' des Psalmisten, zu den Quellen des Lebens führt. Als Grundgerüst für sein Gedicht hat Eliot James Frazers Forschungen über die Vegetationsmythen benutzt, sowie Jessie L. Westons 'From Ritual to Romance', das die Gralsmythe als einen Fruchtbarkeitsritus deutet. Die fünf „Sätze" des Waste Land geben in zeitgenössischen und historischen Szenen, Bildern und Visionen das Panorama einer Welt, die, von ihren Lebenswurzeln abgeschnitten, nur noch ein Schattendasein führt. Die Bewohner des Waste Land kennen keine Liebe, keine fruchtbare Begegnung, sondern nur brennende Lust und öde Langeweile. The Burial of the Dead' (I) schlägt das Thema des Todes an als der Voraussetzung für ein Leben der Fruchtbarkeit. Game of Chess' (II) entwickelt das Gegenthema der Unfruchtbarkeit in der Beziehung der Geschlechter. The Fire Sermon' (III) führt zum Höhepunkt des allgemeinen Brandes, und 'Death by Water' (IV) setzt dem Feuer das löschende und reinigende Element des Wassers entgegen. Wenn auch die Initiation scheitert, so deuten doch die geheimnisvollen Donnerworte in 'What the Thunder said' (V) die Möglichkeit einer künftigen Erlösung an. Wirkungsvoll werden Gestalten, Zeiten, Räume und Stile ineinandergeschoben und damit des Einmaligen und Zufälligen entkleidet. Die Gleichzeitigkeit aller Zeiten und Räume gibt dem Gedicht die umfassende Gültigkeit und erweist die Nachkriegssituation als das zeitlose Dilemma des Menschen zwischen Sünde und Erlösung. Die Anspielungen und Implikationen des Gedichts sind kaum ausschöpfbar und bewirken seine Vieldeutigkeit. Da zudem Eliots Mentor Pound den ursprünglichen Entwurf erheblich gekürzt hat, ist die Dichtung noch fragmentarischer und kryptischer geworden. Es gibt weder Handlung noch Erzählung, es werden vielmehr Motive angeschlagen, nebeneinandergesetzt, wiederaufgenommen, verschlungen, moduliert, bis sie in einer Coda ausklingen. Zusammengehalten sind die verschiedenen Teile durch das „zentrale Bewußtsein" des Protagonisten, der mit dem griechischen Seher Tiresias und dem Fischerkönig der Gralsgeschichte identifiziert wird. Seiner Gralssuche ist zwar kein Erfolg beschieden; der Protagonist muß weiter auf Regen warten. Gleichwohl steht am Ende nicht Verzweiflung; die drei Donnerworte künden von einem Weg, der aus der geistigen und seelischen Öde und Dürre herausführt. Er besteht in der Hingabe an das Du, im Mitgefühl und in der Selbstzucht. Schien Eliots Weg mit The Hollow Men (1925), den Bewohnern des „Kaktuslandes", die nicht das Leben, sondern die Selbstzerstörung wählen, in noch größere Ausweglosigkeit zu führen, so zeigen die nach seinem Übertritt zum Anglokatholizismus (1927) entstandenen Gedichte einen Künstler, der aus dem Inferno zum Purgatorio gefunden hat. Die als Ariel Poems zusammengefaßten Weihnachtsgedichte Journey of the Magi (1927), A Song for Simeon (1928), Animula (1929) kreisen um die Wiedergeburt, ein Erleben voller Schmerz und Anfechtung, künden aber schließlich in dem schönen Pericles-

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Monolog Marina (1930) von neuer Hoffnung. Die ebenfalls in den Jahren 1927-1930 geschriebenen und später unter dem Titel Ash Wednesday (1930) vereinigten Gedichte sind Meditationen über das Thema der Läuterung. Sie zeugen von dem qualvollen Ringen des Dichters, Willen und Verstand mit seinem Fühlen in Einklang zu bringen und Frieden zu finden. Die ersten drei der insgesamt sechs Gedichte behandeln die Abwendung von der Welt und das Stillewerden im Gebet, die Katharsis in der Selbstauflösung des Ichs und den mühsamen Aufstieg auf der Wendeltreppe der Läuterung. Die folgenden drei Gedichte werden durch die Gestalt einer Fürbitterin zusammengehalten und umkreisen das Wunder der Inkarnation, in der die Zeit erlöst, d. h. erfüllt und zugleich überwunden ist. Der loseren Struktur des Werkes entspricht auch ein loserer, zur Wiederholung neigender Stil, der häufig litaneihaft dringlich wirkt. Liturgische Formeln und Symbole treten stärker in den Vordergrund und verbinden das persönliche Bekenntnis mit der Stimme der Kirche, und neben Dante wird Johannes vom Kreuz eine der tragenden Stützen seiner Dichtung. Eliots letzte große Schöpfung, zugleich der bedeutendste Beitrag zur religiösen Literatur des 20. Jahrhunderts, sind die Four Quartets311 (1943). Die vier Gedichte tragen als Titel Namen von Orten, die in Eliots Leben von Bedeutung gewesen sind. Burnt Norton (1936) ist nach einem Landhaus in Gloucesterhire benannt, mit dessen Garten der Dichter die Erinnerung an einen begnadeten Augenblick des Enthobenseins verknüpft; East Coker (1940) ist ein kleines Dorf in Somersetshire, aus dem Eliots Vorfahren im 17. Jahrhundert nach Amerika auswanderten; The Dry Salvages (1941) sind drei Felsen an der Küste von Massachusetts, einer Landschaft mit der den Dichter Kindheitserinnerungen verbinden; Little Gidding (1942) ist ein Dorf in Huntingdonshire, in dem Nicholas Ferrar im 17. Jahrhundert ein anglikanisches Kloster gründete, das seitdem der Wallfahrtsort zahlloser gläubiger Christen wurde. Die „Vier Quartette" sind 'exercitia spiritualia' über die Frage, wie der Mensch zugleich 'in and out of time' sein könne, wie er jenen Punkt erreicht, 'when time stops and time is never ending'. Die Zeit selbst ist zur Erlösung nicht fähig. Eine Erlösung des Menschen aus dem Kreislauf der Zeit ist nur durch den Einbruch des Zeitlosen in die Zeit möglich. In Eliots früher Dichtung hatte das Zeitproblem ebenfalls eine Rolle gespielt. Aber dort ging es um die Gegenwärtigkeit, die Simultaneität aller Zeit. Die Zeit hatte noch keinen Gegenpol in einem Begriff der Zeitlosigkeit. Hier dagegen möchte der Dichter dem Verhaftetsein in der Zeit entrinnen, den Achsenpunkt des sich drehenden Rades erreichen, der zugleich rotiert und stillsteht. Ein solches Transzendieren der Zeit ist nach Eliot möglich in der Vision, im glückhaften Erleben eines begnadeten Augenblicks oder auch in der Erinnerung daran, in der religiösen Versenkung und Selbstentäußerung oder schließlich im intensiven Erleben eines Kunstwerks, das zwar nur im Nacheinander der Teile zu erfassen, dessen Gesamtmuster jedoch zeitenthoben ist. In sol37

Vgl. H. Gardner, The Composition of Four Quartets (1978).

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chen Augenblicken wird der Mensch empfänglich für die Ewigkeit im zeitlosen Augenblick. Dieser Schnittpunkt von Zeit und Zeitlosigkeit ist, religiös gesprochen, das Wunder der Inkarnation. Technisch sind die Four Quartets der Versuch, den symbolistischen Traum einer Musik in Worten zu verwirklichen, womit Ansätze des Waste Land weitergeführt werden. Nach Eliots eigenen Worten wollte er in 'frontiers of consciousness' vorstoßen, 'beyond which words fail, though meanings still exist'. Jedes Quartett besteht aus fünf in Tempo, Tonart und Stil deutlich voneinander abgehobenen „Sätzen": der erste führt die kontrastierenden Themen ein, die im dritten entwickelt und im letzten aufgelöst werden. Der zweite Satz verbindet eine lyrische mit einer im Umgangston gehaltenen Passage, während der vierte aus einem kunstvollen lyrischen Stück besteht. In dieses mannigfach variierte Grundschema hat der Dichter eine Fülle weiterer Bezüge verwoben: die Jahreszeiten, die vier Elemente Luft, Erde, Wasser und Feuer, kirchliche Feste und vor allem auch Reflexionen über das dichterische Medium des Wortes. Neben diesem reifsten Eliotschen Werk sei am Rande wenigstens das reizvolle Parergon Old Possum's Book of Practical Cats (1939) erwähnt, in dem das spielerische Element und der sonst zurücktretende Humor einmal zur Geltung kommen.

5. Die Zeitgenossen Pounds und Eliots in Amerika Zum Freundeskreis von Ezra Pound und Hilda Doolittle gehörte seit der gemeinsamen Studienzeit in Philadelphia WILLIAM CARLOS WILLIAMS38 (1883-1963). Sein Hang zum objektiven, schmucklos knappen und präzisen Ausdruck zeigt ihn unter dem deutlichen Einfluß des Imagismus. In betontem Gegensatz zu Pound und Eliot lehnte er die Hinwendung zur europäischen Kulturüberlieferung ab und suchte nach einem rein amerikanischen Stil. Williams' Themen sind mit Vorliebe dem prosaischen Alltag entnommen, für dessen tragische Untertöne er ein feines Ohr hatte. Mit dem scharfen Auge des Arztes für das noch kaum erkennbare Symptom und das bezeichnende Detail bannte er den jeweiligen Eindruck, wie von einem Blitz erhellt, in kurze, reimlose Verse. Er wurde der bewunderte Meister dichterischer Miniaturen. Seine Technik hat sich im Laufe der Zeit verfeinert, aber nicht 38

The Collected Earlier Poems (Norfolk, Conn., 1951); The Collected Later Poems (Norfolk, 21963); Selected Poems (Norfolk, 21963); Selected Essays (Norfolk, 1954); Selected Letters, ed. J. C. Thirlwall (N. Y., 1957). - V. Koch, W. C. W. (Norfolk, 1950); A. Ostrom, The Poetic World of W. C. W. (Carbondale, 1966); L. W. Wagner, The Poems of W. C. W.: A Critical Study (Middletown, Conn., 21966); dies., The Prose of W. C. W. (Middletown, 1970); J. E. Breslin, W. C. W.: An American Artist (N. Y., 1970); M. Weaver, W. C. W.: The American Background (1971); R. Coles, W. C. W.: The Knack of Survival in America (New Brunswick, 1975); R. Whittemore, W. C. W.: Poet from Jersey (Boston, 1975); B. Sankey, A Companion to W. C. W.' Paterson (Berkeley, 1971); J. Conarroe, W. C. W.' Paterson: Language and Landscape (Philad., 1970).

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grundsätzlich gewandelt. Sein aus fünf Büchern bestehendes Hauptwerk Paterson (1946-1958) trägt seinen Namen nach jener Stadt am Passaic in New Jersey, die für Williams, wie Dublin für Joyce, zum Kosmos wurde. 'Paterson' ist eine Folge lyrisch-epischer Impressionen, wobei Verse mit kürzeren oder längeren Prosastücken abwechseln, die fest mit dem Grundthema verknüpft sind, es variieren oder durch Kontraste unterstreichen. Da 'Paterson' das Leben der Gegenwart wie der Vergangenheit bis in die geologische Vorzeit hinein umspannen will, verläuft die Darstellung horizontal wie vertikal und sucht im gegenwärtigen Augenblick zugleich die Vergangenheit und das allgemein Menschliche zu erfassen. Zusammengehalten wird die Dichtung mit ihrer Fülle von Einzelgestalten durch eine zentrale Figur, die sowohl den Autor wie die Stadt, die Geschichte, die Mythologie und die Urzeit des Menschen repräsentiert. Hierdurch hat Williams eine gewisse Einheit erreicht, wenn im einzelnen auch manches willkürlich und äußerlich wirkt. MARIANNE MOORE39 (1887-1972) die ebenfalls zum Kreis um Ezra Pound gehörte, pflegt, wie ihre eigenen Anmerkungen bestätigen, eine überaus bewußte Kompositionsweise. Dies führt gelegentlich zu einem geschickt gefügten Mosaik subtiler Gedankenspielerei. Sie liebt fremdartige Tiere ( The Jerboa; The Plumet Basilisk}, und ihre schönsten Schwäne sind aus Stein (No Swan so Fine}. Ihre Blumen leben in einer intellektuellen Treibhausluft. Der Eindruck des Gesuchten haftet auch ihren kritischen Äußerungen an (Predilections, 1955); doch entfaltet sie in ihren besten Gedichten einen eigenen Charme (Spenser's Ireland; When I buy Pictures; The Steeple-Jack), und ihre Technik des silbenzählenden Verses wurde für viele der jüngeren Dichter vorbildlich. Das Frühwerk des überaus produktiven ARCHIBALD MAcLEiSH40 (1892-1982) stand unter dem Einfluß der französischen Symbolisten und seiner Lehrmeister Pound und Eliot, so etwa The Pot of Earth (1925), das thematisch und metaphorisch an einen von James Frazer in The Golden Bough beschriebenen Fruchtbarkeitsritus anknüpft. The Hamlet of A. MacLeish (1928) kontrastiert den Hamlet der Tradition, der wenigstens das Böse noch mit eindeutigen Namen wie Mord und Inzest belegen konnte, mit seinem modernen Nachfahren, der die ihn bedrängende Macht nicht einmal kennt und daher auch nicht bekämpfen kann. Nachdem MacLeish zu Ende der zwanziger Jahre aus Paris nach Amerika zurückgekehrt war, erfolgte mit der Betonung der sozialen Funktion der Dichtung der Durchbruch zu einer positiveren Haltung. Angesichts der Krise der Zeit griff er die Lethargie der Demokratie an und wies auf die Gefahren der in Wirklichkeit auf Bluff beruhenden totalitären Diktaturen hin. Aber trotz seines begeisterten Eintre39

The Complete Poems (1968); Selected Poems (1969). - G.W. Nitchie, M. M.: An Introduction to the Poetry ( . ., 1969); D. Hall, M. M.: The Cage and the Animal (N. ., 1970); P. W. Hadas, M. M.: Poet of Affection (Syracuse, 1977); L. Stapleton, M. M.: The Poet's Advance (Princeton, 1978). 40 New and Collected Poems 1917-1976 (Boston, 1976); Riders on the Earth: Essays and Recollections (Boston, 1978). - S. L. Falk, A. M. (N. Y., 1965).

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tens für die Werte der amerikanischen Kultur und trotz seines bemerkenswerten technischen Könnens wird man seine Leistung zurückhaltend beurteilen. Seine Erzählgedichte neigen zu Typisierung und Verallgemeinerung, zu Detailhäufung und rhetorischer Deklamation, und auch seine Hörspiele und Versdramen, von denen das moderne Hiobspiel /. B. (1958) großen Erfolg hatte, sind mehr pathetisch als dramatisch gestaltet. MacLeish war stets zu empfänglich für Zeitströmungen, als daß er zu einer wirklich eigenen Stimme gefunden hätte. Wie Williams' Kunst durch seinen ärztlichen Beruf, so wird die Lyrik von EDWARD ESTLIN CuMMiNGS41 (1894-1962) durch sein Talent als Maler beeinflußt; auch als Schriftsteller arbeitet er mit malerischen Impressionen (Portraits; Impressions). Mit seinen eigenwilligen Versuchen der Versgestaltung hat Cummings in der an die zeitliche Abfolge gebundenen Sprache die Wiedergabe gleichzeitiger Wahrnehmung angestrebt und daher Worte und Zusammenhänge bewußt gespalten und das normale Sprachgefüge gesprengt. Dem Dadaismus verwandt, geht die Gesuchtheit bis in effekthaschende typographische Bizarrerien, die jedoch den Leser zwingen, das Gedicht mit den vom Autor gesetzten musikalischen Zeitwerten zu lesen. Cummings' feines Gehör kommt in einem Gedicht wie Sunset, sein jungenhafter Charme in den Chansons Innocentes zum Ausdruck. Neben philosophisch belasteten, komplizierten Gedichten wie wherelings whenlings und beißend ironischer Gesellschaftskritik (Poem, or Beauty hurts Mr. Vinal; my sweet old etcetera; this little bride & groom) hat der Individualist und Anarchist Cummings so zarte, elegische Liebeslyrik wie somewhere i have never travelled geschrieben. Seine manieristischen Experimente sind interessant, doch dürften sich seine einfacheren Gedichte, besonders seine Liebeslyrik, als dauerhafter erweisen. Das umfangreiche Werk von CONRAD AiKEN42 (1889-1973), der mit Eliot zusammen in Harvard studierte, zeigt Liebe zum Experiment und imaginative Kraft, aber auch große Unausgeglichenheit. Nur kurze Zeit war er dem Imagismus verbunden, den er bald als zu wenig emotional ablehnte; von nachhaltigerem Einfluß erwiesen sich Poe und Freud. Aiken strebte nach einer engen Verbindung von Dichtung, Psychoanalyse und Musik und suchte in seinen 'Symphonies' (z. B. The House of Dust, 1920) die Wirkung Debussyscher Kompositionen zu erreichen. Diese Fusion ist in Teilen brillant gelungen, aber die Gesamtwirkung bleibt oft diffus. Aikens entscheidende Wendung war der Übergang zu der metaphysischen Dichtung der 'Preludes' (Preludes for Memnon, 1931; Time in the Rock, Preludes to Definition, 1936). Im 41

Complete Poems, 2 Bde. ( . ., 1968); . . C: A Selection of his Poems, ed. H. Gregory (N. ., 1965); Selected Letters, edd. F. W. Dupee and G. Stade (N. Y., 1969). - C. Norman, E. E. C.: A Biography (N. Y., 1967); N. Friedman, E. E. C.: The Art of His Poetry (N. ., 1960); ders., E. E. C.: The Growth of a Writer (Carbondale, 1964); B. A. Marks, E. E. C. (N. Y., 1964); R. E. Wegner, The Poetry and Prose of E. E. C. (N. Y., 1965); R. M. Kidder, E. E. C.: An Introduction to the Poetry (N. Y., 1979). 42 Collected Poems 1916-1970 (N. Y., 1971); Selected Poems (N. Y., 1961); Selected Letters, ed. J. Killorin (New Haven, 1978). - F. J. Hoffman, C. A. (N. Y., 1962).

//. Die Versdichtung

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Gegensatz zur All-Einheits-Lehre der Transzendentalisten des 19. Jahrhunderts vermochte er sich nur noch als Teil eines allgemeinen Chaos zu erkennen und diese Situation als sein Schicksal hinzunehmen. Wie in seiner späteren Lyrik (The Kid, 1947; The Divine Pilgrim, 1949) ist auch in seinen in psychoanalytischer Manier geschriebenen Kurzgeschichten und Romanen (z. B. Great Circle, 1933) das Grundproblem die Suche nach einer Antwort auf die Seinsfrage. Doch zeigt Aiken, ähnlich wie MacLeish, eine zu große Bereitschaft, sich den verschiedenartigsten Einflüssen zu öffnen. Ein Einzelgänger war WALLACE STEVENS43 (1879-1955), dessen Schaffen der 'poesie pure' der Franzosen nahesteht. Er war bereits 43 Jahre, als seine erste, kaum beachtete Sammlung Harmonium (1923) erschien. Mit The Man with the Blue Guitar (1937) und seinen weiteren Bänden fand er jedoch bei einer künstlerischen Elite höchste Anerkennung und galt wie Mallarme als ein Dichter feinster Sensibilität und virtuoser Formensprache. Seine anspruchsvollen, häufig pointillistisch flimmernden Verse bewegen sich mit andeutungsreichen Bildern und schönen Vokalklängen in einer imaginativen, rein ästhetischen Welt (Peter Quince at the Clavier; Sea Surface full of Clouds; To the One of Fictive Music). Seine Metaphern stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern werden in klaren Fügungen in den Bewußtseinsstrom der Strophen verflochten. Stevens ist ein meditativer Dichter, dem in einer chaotischen Welt die Imagination die einzige Realität bedeutet. Sie allein vermag das Verlangen des Menschen nach Ordnung und Sinnerfüllung zu befriedigen, wie es das längste seiner Gedichte, Notes Toward a Supreme Fiction (1942), am umfassendsten zum Ausdruck bringt. Die dichterische Imagination übernimmt damit in einer Welt des Unglaubens die Funktion der verlorenen Religion. Aufschlußreich für das Verständnis von Stevens' Poetik ist die Aufsatzsammlung The Necessary Angel (1951). In schroffem Gegensatz zu diesem Stil steht die zivilisationsfeindliche Dichtung des eigenwilligen ROBINSON JEFFERS44 (1887-1962), der in der Einsamkeit von Carmel an der kalifornischen Küste lebte. Seine in freien Rhythmen abgefaßten, kraftvoll und dramatisch erzählten Gedichte sind von Wildheit 43

The Collected Poems (N. Y., 1954); Selected Poems, ed. D. Williamson (N. Y., 1952); Opus Posthumous, ed. S. F. Morse (N. Y., 1957); Letters, ed. H. Stevens (1966). - F. Kermode, W. S. (Edinb., 1960); D. Fuchs, The Comic Spirit of W. S. (Durham, N. C, 1963); J. N. Riddel, The Clairvoyant Eye: The Poetry and Poetics of W. S. (Baton Rouge, 1965); J. Baird, The Dome and the Rock: Structure in the Poetry of W. S. (Baltimore, 1968); H.H. Vendler, On Extended Wings: W. S.' Longer Poems (Cambr., Mass., 1969); S. F. Morse, W. S.: Poetry as Life (N. Y., 1970); M. Benamou, W. S. and the Symbolist Imagination (Princeton, 1972); A. W. Litz, Introspective Voyager: The Poetic Development of W. S. (N. Y., 1972); L. Beckett, W. S. (Cambr., 1974); H. Bloom, W. S.: The Poems of Our Climate (Ithaca, 1977). "Selected Poems (N. Y., 1965); Selected Letters 1897-1962, ed. A. N. Rideway (Baltimore, 1966). - F. I. Carpenter, R. J. (N. Y., 1962); M. B. Bennett, The Stone Mason of Tor House: The Life and Work of R. J. (Los Angeles, 1966); A. B. Coffin, R. J.: Poet of Inhumanism (Madison, 1971); R. Brophy, R. J.: Myth, Ritual, and Symbol in His Narrative Poems (Cleveland, 1973).

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und Perversion erfüllt und strömen einen tiefen Pessimismus aus (Tamar, 1924; Roan Stallion, 1925). Jeffers überantwortet den Menschen den ihm feindlichen kosmischen Mächten; die Erde wird erst Trost und Frieden finden, wenn sie von der Menschheit befreit ist. Jeffers' Dichtung verbindet antike, biblische und indianische Mythen mit großartigen Natureindrücken der urtümlichen Pazifikküste, deren ragende Felsen Zeugen der Zeitlosigkeit sind. So negativ seine Weltsicht ist, so ausdrucksstark und ekstatisch ist seine das Konkrete ganz konkret nehmende Kunst (Apology for Bad Dreams; Love the Wild Swan; Night and Original Sin}. Seine die grausigen Seiten überbetonende Nachdichtung der Medea des Euripides (1946) wurde ein sensationeller Theatererfolg. Die mit keiner Dichterschule verbundene EDNA ST. VINCENT MiLLAY45 (1892-1950) fand durch die Frische ihrer Empfindung, die offene Liebesaussprache und die mühelose technische Sicherheit großen Anklang. Die schwermutverhangene Melodie ihrer klingenden Strophen, die von verlorener Liebe und Trauer erfüllt sind, und die Aufgeschlossenheit gegenüber der Natur erinnern an romantische Vorbilder. Sie ist am überzeugendsten im einfachen lyrischen Gedicht und in ihren Sonetten. Die begabte ELINOR WvLiE46 (1885-1928) begann ebenfalls in romantischen Bahnen, aber neben Shelley bewunderte sie später auch die 'metaphysical poets' und gelangte von einer traumsilbernen Stimmungslyrik zu einer geistesscharfen, glitzernden Wortkunst. Ihre reifste Dichtung enthält der postume Band Angels and Earthly Creatures (1929) mit einer Reihe mystischer Gedichte und der Sonettsequenz One Person. 47 STEPHEN VINCENT (1898-1943) errang Erfolg mit klangvollen Balladen über Themen der amerikanischen Volksüberlieferung und mit seinem Epos John Brown's Body (1928), das der von Longfellow herrührenden heroischen Erzähltradition zuzuordnen ist. Dieses Werk über den amerikanischen Bürgerkrieg, das mit seinem unvermittelten Wechsel der Metra sich die sprunghafte Filmtechnik zunutze machte, ist eine spannende und mitfühlende Darstellung, wenn auch die flache Charakterzeichnung und die mangelnde gedankliche Durchdringung enttäuschen. Gleichwohl ist das Gedicht ebenso wie Western Star (postum 1943), der erste Teil eines weiteren, unvollendeten Epos über die 'frontier' - einer der begeistertsten Gesänge auf Amerika, seitdem Whitman dieses große Thema der eigenständig amerikanischen Dichtung angeschlagen hatte. 45

Collected Poems of E. St. V. M., ed. N. Millay (N. Y., 1956); Letters, ed. A. R. Macdougall (N. Y., 1952). - N. A. Brittin, E. St. V. M., TUSAS (N. Y., 1967). 46 Collected Poems of E. W., ed. W. R. Benet (N. Y., 1932); Last Poems, ed. J. D. Wise (N. Y., 1943); Collected Prose, ed. W. R. Benet (N. Y„ 1933). - T. A. Gray, E. W., TUSAS (N. Y., 1969). 47 Selected Poetry and Prose, ed. B. Davenport (N. ., 1960); Selected Letters, ed. C. A. Fenton (New Haven, 1960). - C. A. Fenton, S. V. B.: The Life and Times of an American Man of Letters (New Haven, 1958).

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Der unglückliche, durch Selbstmord geendete HART CRANE48 (1899-1932) begann unter dem Eindruck von Pounds und Eliots poetischer Technik und war um eine entsprechend vielschichtige Dichtung bemüht. Seine erste Sammlung, White Buildings (1926), kündet von der Suche nach der verlorenen Ganzheit des Lebens. Die Freiheit, mit der er Logik durch Assoziation ersetzte, Wortfunktionen übertrug und Bewußtseinsinhalte zu ungewöhnlichen Bildern verdichtete, hat Crane in Briefen an Verleger und Freunde verteidigt. Die poetische Rechtfertigung versuchte er in dem wohl bedeutendsten Gedicht der Sammlung, For the Marriage of Faustus and Helen, das die Verbindung von Wissensdrang und Schönheit in verschiedenen Metamorphosen feiert. Selten ist die Faszination des Meeres überwältigender besungen worden als in dem sechsteiligen Zyklus Voyages und in der von eindringlicher Meeresmetaphorik getragenen Elegie At Melville's Tomb. Crane, der die technischen Errungenschaften und damit das neue Weltbild in die lyrische Sphäre aufzunehmen forderte (Modern Poetry: An Essay, 1929, in: Collected Poems), fand sein gültiges Thema in der wechselnde Metra verwendenden Gedichtkette über die Brooklyn-Brücke, The Bridge (1930), die ihm zum Sinnbild amerikanischen Lebens überhaupt wurde. Die Brücke verbindet gleichnishaft auch die geschichtlichen Stufen Amerikas, die von Columbus über Pizarro und Rip Van Winkle und durch die namenlosen Abenteurer, die Mutter und das indianische Mädchen vergegenwärtigt werden. Wie sich die Bilder einzelner, nur umrißhaft erblickter Menschen assoziativ weiten, so leitet die Untergrundbahn der Brücke in den endlosen Schienenstrang über, in die Vision des Kontinents, des großen Flusses und endlich Atlantis'. Höhepunkt der reichen Orchestrierung sind der Flugzeugabsturz in Cape Hatteras (Teil IV), die panegyrische Ode auf den Sänger Amerikas, Walt Whitman, und The Tunnel (Teil VII), worin Fahrrhythmus, Bild- und Gesprächs fetze n zu einer düsteren Vision gefügt werden, in deren Mitte das von Todesschatten gezeichnete Antlitz Poes steht. Cranes eigene, nach Inkarnation drängende Gesichte haben in dieser Dichtung des modernen amerikanischen Bewußtseins Erfüllung gefunden. Doch mußte ein solcher Gesang, der die Ideale der Vergangenheit und die Anonymität und Ruhelosigkeit der Moderne gleichermaßen umfaßt, in dem Streben, Überdimensionales in die Dimensionen des Wortes und der Verse zu reißen, zum rauschhaften Hymnus werden. Im Gegensatz zu der die Technik bejahenden Kunst Hart Cranes wandte sich eine Dichtergruppe des Alten Südens, die sich um die Zeitschrift The 48

H. C: The Works, edd. F. Bowers et al., 10 Bde. (Virginia U. R, 1969-1976); The Complete Poems and Selected Letters, ed. B. Weber (N. Y., 1966); The Letters, ed. B. Weber (N. Y., 21965); Letters of H. C. and his Family, ed. T. S. W. Lewis (N. Y., 1974). - J. E. Unterecker, Voyager: A Life of H. C. (N. Y., 1969); B. Weber, H. C.: A Biographical and Critical Study (N. Y., 21970); R. W. B. Lewis, The Poetry of H. C.: A Critical Study (Princeton, 1967); H. A. Leibowitz, H. C.: An Introduction to the Poetry ( . ., 1968); R. W. Butterfield, The Broken Arc: A Study of H. C. (Edinb., 1969); M. D. Uroff, H. C.: The Patterns of his Poetry (Urbana, 1974).

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Fugitive' (1922-1925) an der Vanderbilt-Universität in Nashville, Tennessee, sammelte,49 gegen die Industrialisierung und forderte ein naturnäheres, auf ländliche Gemeinschaften aufgebautes Leben. Wichtiger als das etwas romantische Programm, das diese 'Southerners' in ihrem „agrarischen Manifest" (/'// Take My Stand, 1930) darlegten und das ohne praktische Auswirkung blieb, ist ihre Literaturkritik (s. S. 854) und ihre Dichtung. Der führende Kopf der Gruppe, JOHN CROWE RANSOMSO (1888-1974), ist zugleich ihr reifster Lyriker. Sein nicht sehr umfangreiches Werk weist hohe Formvollendung auf. In leicht spöttischem, spielerischem Ton kontrastiert er Traum und Wirklichkeit (Man without Sense of Direction), Leben und Tod (Bells for John Whiteside's Daughter; Here Lies a Lady), Jugend und Alter (Blue Girls; Piazza Piece), Leidenschaft und Moral (The Equilibrists) und, alle diese Themen einschließend, die stolze Kulturtradition des Südens mit der schal gewordenen Gegenwart (Blackberry While; Captain Carpenter; Antique Harvesters). Entsprechend mischt er in seinen klassizistisch eleganten Versen gern preziösen oder leicht antikisierenden mit handfest realistischem Wortschatz und weiß mit geistvollen Unregelmäßigkeiten des Metrums und des Reims seine gegensätzlichen Themen zu unterstreichen. Auch ALLEN TATESI (geb. 1899) sucht in seiner intellektuellen Lyrik nach einer strengen, verhaltenen Form, doch geht ihm Ransoms melodisch-rhythmisches Feingefühl ab. Die gelegentlich an Hart Crane anklingenden komplexen Sprachbilder und die vielen literarischen Anspielungen lassen seine Verse oft schwer und hart erscheinen. Wirklich abgerundete, vollendete Dichtungen gelangen ihm nur selten (Ode to the Confederate Dead; Mother and Son; The Mediterranean), obwohl sich immer wieder eindrucksvolle Teilstükke finden. Freier und ausgewogener wirken seine späteren metaphysischen Gedichte (Seasons of the Soul). In seinen kritischen Essays, die sich besonders mit dichtungstheoretischen Fragen und zeitgenössischen Dichtern, mit den französischen Symbolisten, Poe und Dante befassen, hat er Maßstäbe gesetzt für die moderne Literatur. Ein weiterer Vertreter der Gruppe ist ROBERT PENN WARREN 52 (geb. 1905), der neben erfolgreichen Romanen Gedichte geschrieben hat, die in ihrer viel49

J. M. Bradbury, The Fugitives: A Critical Account (Chapel Hill, N. C, 1958); L. Cowan, The Fugitive Group: A Literary History (Baton Rouge, 1959); J. L. Stewart, The Burden of Time: The Fugitives and Agrarians: The Nashville Groups of the 1920's and 1930's and the Writing of J. C. Ransom, Allen Täte, R. P. Warren (Princeton, 1965). 50 Selected Poems (N. Y., 31969); Poems and Essays (N. Y., 1955). - T. H. Parsons, J. C. R., TUSAS (N. Y., 1969); M. Williams, The Poetry of J. C. R. (New Brunswick, 1972). 51 Collected Poems 1919-1976 (N. Y., 1977); Essays of Four Decades (Chicago, 1969). R. Squires, A. T: A Literary Biography (N. Y., 1971). 52 Selected Poems New and Old, 1923-1975 (1977); Now and Then: Poems 1976-1978 (1979); Brother to Dragons: A Tale in Verse and Voices (N. Y, 1953). - V. H. Strandberg, A Colder Fire: The Poetry of R. P. W. (Lexington, Ky., 1965); ders., The Poetic Vision of R. P. W. (1977); K. Poenicke, R. P. W.: Kunstwerk und kritische Theorie (Hdbg., 1959).

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schichtigen Intellektualität und düsteren, auf unheilvolle psychische Mächte gerichteten Thematik der Lyrik Tates ähneln, aber blutvoller und erdverbundener sind und durch kraftvolle Metaphorik überzeugen. Von konkretem Erzählen und direktem Kommentieren (Pondy Woods; Kentucky Mountain Farm; The Ballad of Billie Potts} bewegte sich Warren zu einem komplexen, andeutungsreich reflektierenden Stil (Terror; Pursuit; Original Sin; End of Season).

6. Die englische Lyrik der dreißiger und vierziger Jahre53 Ende der zwanziger Jahre meldete sich mit W. H. Auden, C. D. Lewis, S. Spender und L. MacNeice eine neue Generation zu Wort, die unter dem Eindruck der schweren Erschütterungen der Zeit - der weltweiten Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit, der Notstandsgebiete, des Absinkens des gehobenen Bürgertums und des Aufstiegs des Faschismus - die soziale und politische Verantwortung des Dichters betonte. Die jungen Studenten sahen das Heilmittel für die Schäden im Marxismus, und da ihnen die Krankheit der Zeit zugleich als Neurose erschien, wurde die Freudsche Psychoanalyse ein weiteres Hauptthema ihrer Dichtung. 1927 und 1929 gaben sie zwei Sammelbände mit dem Titel Oxford Poetry heraus, dann propagierte Michael Roberts ihre Kunst in den Anthologien New Signatures (1932), New Country (1933) und The Faber Book of Modern Verse (1936). Im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) ergriffen sie aktiv Partei für die republikanische Seite. Der zweite Weltkrieg, den sie klar voraussahen, bestätigte die Richtigkeit ihrer Zeitdiagnose, aber er weckte auch zwangsläufig Zweifel an ihren politischen Idealen und bedingte eine Neuorientierung ihres Schaffens. Auden war bereits vor Kriegsbeginn nach Amerika gegangen; er fand den Weg von Marx und Freud zu Pascal, Kierkegaard und Reinhold Niebuhr. Seine einstigen Mitstreiter im Kampf gegen Bourgeoisie, Kirche, Generäle, Politiker und Pressemagnaten haben zwar seine christliche Wende nicht mitvollzogen, aber sie gaben ihre sozialistische Haltung auf und bekannten sich zur englischen Tradition. WYSTAN H. AUDEN M (1907-1973) war der unbestrittene Wortführer der Gruppe. Neben den Vorbildern Hopkins, Yeats, Eliot und Owen erkennt man in seiner frühen Dichtung den Einfluß von D. H. Lawrence, A. E. Housman, Skelton sowie des germanischen Verses. Auden hatte die Gabe überaus 53

A. T. Tolley, The Poetry of the Thirties (1975); S. Hynes, The Auden Generation (1976). 54 Collected Poems (1976); The English Auden: Poems, Essays and Dramatic Writings 1927-1939, ed. E. Mendelson (1977); The Dyer's Hand and Other Essays (1963). - H. Carpenter, W. . .: A Biography (1981); M. K. Spears, The Poetry of W. H. A. (N. Y., 21968); J. G. Blair, The Poetic Art of W. H. A. (Princeton, 1965); J. Replogle, A.'s Poetry (1969); G. T. Wright, W. H. A., TUSAS (N. Y., 1969); J. Fuller, A Reader's Guide to W. H. A. (1970).

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leichter Assimilation, aber trotz dieser so verschiedenartigen Stileinflüsse fand er schon bald zu einem unverwechselbar eigenen Stil, den er aus den anonymen Kräften und Klischees der Zeit entwickelte, dem Radio und Variete, dem Pressejargon und der Alltagssprache, einem Stil, der weniger sinnlich als intellektuell und moralisch ist. Schon aus den frühen Bänden Poems (1930) und The Orators (1932) spricht der Moralist, der nach einer geistigen Ordnung sucht und zur Verantwortung ruft. Vieles mutet zwar noch adoleszent an; die Klitterung von Marx und Freud überzeugt ebensowenig wie der Volkspredigerton, mit dem der revolutionäre Traum vorgetragen wird. Aber auffällig ist die brillante Beherrschung von Metrik und Diktion, auffällig auch, daß die sozialistische Utopie mehr Shelley und Morris als Marx verpflichtet ist. In den besten Gedichten von Look, Stranger! (1936) wird vollends deutlich, daß Audens politische und psychologische Interessen eine religiöse Wurzel haben, die einstweilen tastend mit dem Begriff „Liebe" umschrieben wird. Ein tieferes Fragen und größere Objektivität kennzeichnet den Band Another Time (1940), in dem die Porträts von Edward Lear, Melville, Pascal, Ernst Toller, Sigmund Freud und Henry James den stärksten Eindruck machen. Der Stil ist sicherer geworden, die Technik weniger aufdringlich, und die früheren Manierismen treten zurück. Bezeichnend ist vor allem das Vordringen des Gesprächstons. Mit der Übersiedlung nach Amerika im Januar 1939 begann eine neue Phase seines Dichtens. 'Aloneness is man's real condition' heißt es im New Year Letter (1941), der in Amerika unter dem bezeichnenderen Titel The Double Man erschien. Auden sah das Heilmittel jetzt nicht mehr in einer politisch-sozialen Revolution, sondern in der Erlösung von der Existenzangst, die mit Kierkegaard und Reinhold Niebuhr als Zeichen der Geschöpflichkeit, aber auch der Freiheit des Menschen begriffen wird. Das tiefere Fragen nach dem Lebenssinn ließ sich nicht mehr auf kurzem Raum abhandeln; daher erfolgte mit 'New Year Letter' der Übergang zum langen Gedicht, dem sich drei weitere Versuche anschlössen: das die biblischen Berichte aktualisierende Weihnachtsoratorium For the Time Being (1944); der im selben Band veröffentlichte poetische Kommentar zu Shakespeares „Sturm", The Sea and the Mirror, eine Erörterung der Wechselbeziehungen von Künstler, Kunst und Gesellschaft; und Audens Analyse des Zeitalters der Angst, die „barocke Ekloge" The Age of Anxiety (1947), ein wenn nicht als Ganzes, so doch in Teilen eindrucksvolles Gedicht. In Audens letzter Entwicklung zeigt sich, unter dem Einfluß Rilkes, die Neigung, menschliches Leben oder geistige Konflikte durch Landschaftsbilder zu symbolisieren, wofür In Praise of Limestone (Nones, 1951) und die 'Bucolics' in The Shield of Achilles (1955) als Beispiel genannt seien. Andererseits ist bezeichnend eine Vorliebe für komische Dichtung (Homage to Clio, 1960) sowie zu horazischer Betrachtung der Welt und liberaler Humanität (About the House, 1966; City Without Walls, 1967; Thank you, Fog, 1972). Wenn Audens Werk auch ungleich ist, er hat zum Selbstverständnis der Zeit entscheidend beigetragen, und einige seiner Elegien und Schriftstellerporträts, seiner Landschafts- und Liebesgedichte (Lay

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your sleeping head, my love) wie seiner balladesken und komischen Stücke zählen zu den besten modernen Gedichten. Im Vergleich mit Auden ist die dichterische Skala von CECIL DAY Lewis55 (1904-1972), der auch Romane und unter dem Namen Nicholas Blake Detektivgeschichten geschrieben hat, begrenzter. Lewis hat weder Audens ruhelos schweifenden, enzyklopädischen Geist noch seine proteushafte Wandlungsfähigkeit. Seine ersten dichterischen Versuche (Beechen Vigil, 1925; Country Cornels, 1928) zeigen ihn in den Bahnen der Georgians; dann geriet er in den Bannkreis Audens, predigte ein sozialistisches Evangelium und geißelte die Stützen des Staats, der Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft (The Magnetic Mountain, 1933). Aber schon mit A Time to Dance (1935) konzentrierte er sich nachdrücklicher auf das Kunstwerk als solches; und nachdem er den Audeneinfluß überwunden hatte, fand er immer mehr zur Tradition Hardys, de la Mares und Blundens, und er übersetzte mit feiner Einfühlung Vergils Gedicht vom Landbau (The Georgics of Virgil, 1940). Sein früheres politisches Pathos ist in seinen späteren Werken ebenso geschwunden wie die Audensche Bildlichkeit und Diktion. Er ist am überzeugendsten, wenn er von der englischen Landschaft und Natur singt, von gepflügten Feldern und Vögeln, von Wind und Wolken. Dann verwirklicht er das von Anfang an erstrebte Ideal der 'singlemindedness'. STEPHEN SPENDERS56 (geb. 1909) frühe Gedichte (Twenty Poems, 1930; Poems, 1933) gemahnten mit ihrem revolutionären Idealismus, ihrer Neigung zur Introspektion und ihrer zarten Sinnenhaftigkeit an Shelley. Aber die soziale Frage drängte sich ihm übermächtig auf, doch führte dieses Erleben, in bezeichnender Abweichung von Auden, weniger zu satirischer Bloßstellung der „Schuldigen" als zu einem tiefen menschlichen Mitgefühl mit den Arbeitslosen, den Slum-Kindern, den Unterlegenen, den Entrechteten. Er hat später seine frühe politische Lyrik als ein Abweichen von der eigentlichen Aufgabe des Dichters empfunden, der es mit den 'fundamental things of human life' zu tun habe. Die Bände seit den vierziger Jahren - Ruins and Visions, 1942; Poems of Dedication, 1947; The Edge of Being, 1949; The Generous Days, 1971 - zeugen von einer Verinnerlichung; sie umkreisen die Seinsfrage und finden zarte und reine Töne über Liebe, Leid und Tod, sind allerdings nicht immer frei von Füllseln und Wiederholungen. Stets etwas abgerückter vom Audenkreis, auch in seiner politischen Einstellung, war der Nordire Louis MACNEICE57 (1907-1963). Seine Dichtung ist 55

Poems 1925-1972, ed. I. Parson (1977); The Poetic Image (1947); The Buried Day (1960) und Never Look Back (1974) [Autobiographie]. - S. Day-Lewis, C. D.-L.: An English Literary Life (1979). 56 Collected Poems 1928-1953 (1955); Selected Poems (1965). Vgl. auch die Schriften zu seiner politischen Entwicklung: Forward from Liberalism (1937); Life and the Poet (1942) und die aufschlußreiche Autobiographie World within World (1951). "Collected Poems, ed. E. R. Dodds (1966); Varieties of Parable (Cambr., 1965) [krit. Prosa];The Strings are False: An Unfinished Autobiography, ed. E. R. Dodds (1965). - J. Press, L. M. (1965); D. B. Moore, The Poetry of L. M. (Leicester, 1972); T. Brown, Sceptical Vision: The Poetry of L. M. (N. Y., 1974).

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gekennzeichnet durch einen liberalen Humanismus, eine scharfe, oft satirische oder ironische Beobachtungsgabe, die im Vertrauten das Ungewöhnliche und häufig das Unheimliche entdeckt, und eine fast spielerische Handhabung von Sprache und Vers. Seine Lehrmeister waren neben T. S. Eliot und den Sitwells besonders die antiken Autoren. Er wirkte eine Zeitlang als Dozent für die alten Sprachen und übersetzte Äschylus' Agamemnon ins Englische (1936). Für eines seiner Hörspiele, The Dark Tower (1947), schrieb Benjamin Britten die Musik. MacNeices frühe Lyrik ermangelt wohl gelegentlich der Tiefe, doch ist sie stets phantasievoll, geistreich und klar. Vor allem aber zeigen MacNeices letzte Bände - Visitations, 1957; Solstices, 1961; The Burning Perch, 1963 - seine Entwicklung zu einem bedeutenden meditativen Dichter. Derselben Generation gehört WILLIAM EMPSON58 (geb. 1906) an, der in Cambridge neben englischer Literatur Mathematik studierte. Seine an Donne und vor allem an Marvell und den jungen Dryden erinnernde Lyrik (Poems, 1935; The Gathering Storm, 1940) ist trotz der Anmerkungen schwierig zu entschlüsseln und verlangt vom Leser intensive intellektuelle Anspannung. Empson nutzt mit dialektischem Scharfsinn und Ironie die Mehrdeutigkeit der Sprache und erreicht ein Optimum an sprachlicher Verdichtung. Stärker der viktorianischen Tradition verbunden geblieben ist der derzeitige Poeta laureatus JOHN BETJEMAN59 (geb. 1906), der in den fünfziger Jahren eine überwältigende Popularität erreichte. Auden hat ihn einen „topographischen" Dichter genannt, und in der Tat ist seine Kunst so lokal geprägt, daß er außerhalb der britischen Inseln keine größere Lesergemeinde gefunden hat. Der Anglikaner Betjeman ist ein Kenner der viktorianischen und edwardianischen Architektur und ein Liebhaber der englischen Landschaften und ihrer Menschen. Er bevorzugt schlichte, traditionelle Formen, in denen er, manchmal nostalgisch, die Schönheit einer vergangenen Zeit feiert. Aber er parodiert auch die viktorianischen Vorbilder und benutzt sie - wie später Larkin, der zu seinen Bewunderern zählt - als Instrument der Satire. Ein scharfsichtiger Beobachter und Kritiker der Gesellschaft und ihrer Torheiten, bekundet er zugleich Mitgefühl mit den Opfern, und seine besten Gedichte handeln bewegend von menschlicher Verlassenheit, Vergänglichkeit und Tod. Bereits um die Mitte der dreißiger Jahre setzte eine Reaktion gegen die Auden-Gruppe ein, deren wesentlich intellektuelle politisch-soziale Dichtung die neue Generation als eine Verengung des dichterischen Bereiches empfand. Sie suchte nach dem Mythischen und Archetypischen, nach dem Geheimnisvollen und Unbewußten im Leben. Man hat daher von Neuromantik gesprochen, aber die jungen Dichter dachten nicht an eine Rückkehr zu Shel58

Collected Poems (1955). - H. Meiler, Das Gedicht als Einübung: Zum Dichtungsverständnis W. E.'s (Heidelberg, 1974); W. E.: The Man and His Work, ed. R. Gill (1974); P. and A. Gardner, The God Approached: A Commentary on the Poems of W. E. (1978). Vgl. auch S. 845. 59 Collected Poems, enlarged edn. (1970); The Best of B., sei. J. Guest (1978). - J. Press, J. B. (1974).

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ley oder an eine Entthronung T. S. Eliots. Sie gehören in die Tradition von Blake und Yeats, und auf sie alle hat der Surrealismus eingewirkt. Bei der Abneigung gegen Extreme konnte sich jedoch in England der strenge Surrealismus französischer Prägung keinen Eingang verschaffen. Am stärksten beeinflußt wurde DAVID GASCOYNE60 (geb. 1916), der Eluard, Aragon und andere Franzosen übersetzte und A Short Survey of Surrealism (1935) verfaßte. Er versuchte sich auch selbst in alogischer Dichtung, ging jedoch bald wieder traditionellere Wege und fand Anerkennung mit beschreibender, visionärer und meditativer Lyrik. Dem Surrealismus nahe stand der bedeutendste Dichter der vierziger Jahre, der Waliser DYLAN THOMAS61 (1914-53). Vieles in seiner frühen Lyrik ist noch unausgegoren; aber trotz des Wortschwalls und des Bilderchaos verraten bereits seine ersten beiden Bände Eighteen Poems (1934) und Twenty-five Poems (1936) eine eigene Schau. Thomas sah das Leben als einen Prozeß, in dem das Getrennte und Gespaltene nach Vereinigung strebt, und er suchte nach einer Sprache, um dieses Grunderlebnis auszudrücken. Deshalb wiederholte er bis zum Überdruß Bilder aus der Sphäre der Zeugung, des embryonalen Stadiums, der Geburt, des Wachstums und des Todes, und auch den Kosmos sah er in sexuellen Bildern. Neben der Psychoanalyse hat ihn die biblische Bildlichkeit nachhaltig beeinflußt. In den zehn religiösen Sonetten des zweiten Bandes Altarwise by Owl-Light sind Bibel und Freud eine dunkle Fusion eingegangen. Die kühnen Klitterungen von Thomas' Sprache verraten die Abhängigkeit von James Joyce. Vieles in diesen frühen Gedichten mit ihrer sich überstürzenden Bildlichkeit wirkt wie ein trunkenes Stammeln, aber eindrucksvoll ist bereits die Rhythmik und der Orgelton seiner Verse. Auch der dritte Band, The Map of Love (1939), zeigt noch des öfteren mangelnde Durchformung des Themas und ein Übermaß an Metaphorik; er enthält aber so eindrucksvolle Gedichte wie die Elegie auf seine Tante Ann Jones (After the Funeral), in denen die Aussage menschlich schlichter wird. Den Weg zu direkter Beschreibung und größerer Einfachheit ist Thomas weitergegangen, und sein letzter Band, Deaths and Entrances (1946), zeigt ein erstaunliches Reifen. Manches mutet zwar noch labyrinthisch an, aber ebenso unverkennbar ist ein fester Formwille, der bis zum Extrem jener Figurengedichte geht, wie George Herbert und E. E. Cummings sie liebten ( Vision and Prayer). Gelegentlich erreicht Thomas sogar eine fast balladenhafte Einfachheit (The Hunchback in the Park). Der Alltag erscheint verklärt, und die Erinnerung an die Unschuld und den Frieden der Kindheit wird zur Vision 60 61

Collected Poems, ed. R. Skelton (1965). Collected Poems 1934-1952 (1952); The Poems, ed. D. Jones (1971); Notebooks, ed. R. Maud (N. Y., 1966); Selected Letters, ed. C. FitzGibbon (1966). - C. FitzGibbon, The Life of D. T. (1965); J. Ackerman, D. T.: His Life and Work (1964); R. Maud, Entrances to D. T.'s Poetry (Pittsburgh, 1963); W. T. Moynihan, The Craft and Art of D. T. (Ithaca, 1966); R. M. Kidder, D. T: The Country of the Spirit (Princeton, 1973); P. Ferries, D. T. (1977); W. Y. Tindall, A Reader's Guide to D. T. (N. Y., 1962).

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des wiedergewonnenen Paradieses (Fern Hill; Poem in October). Der Mensch bleibt zwar der Vergänglichkeit unterworfen, aber der Tod ist, wie der Titel des Bandes besagt, auch 'entrance': die Pforte, die ihn in die kosmische Einheit des Seins zurückführt (A Refusal to Mourn the Death, by Fire, of a Child in London). Von Thomas' Prosa seien erwähnt die reizvollen Kurzgeschichten Portrait of the Artist as a Young Dog (1940) und vor allem das postum veröffentlichte Under Milk Wood (1954). Dieses 'play for voices' fängt in einer evokativen Sprache einen Frühlingstag vom frühen Morgen bis in die Nacht im Leben des imaginären walisischen Ortes Llaregyb ein. Wir lernen eine Fülle von Personen kennen, deren Gedanken und Regungen und unterbewußte Wünsche das variationsreiche Zentralthema der Liebe umspielen. Umrauscht vom Meer und dem alten Wald reiht sich Episode an Episode, Impression an Impression - ein Hymnus auf den Kreislauf der Zeit. Die sprachliche Kraft, insbesondere der Sinn für die Sprachgroteske, ist bezwingend, wenn Thomas auch vieles der Tradition verdankt, der walisischen Literatur ebenso wie Joyce und Dickens. In die Nähe von Dylan Thomas gehört GEORGE BARKER62 (geb. 1913), dessen erste Bände (Thirty Preliminary Poems, 1933; Calamiterror, 1937; Lament and Triumph, 1940) zwar chaotisch waren, aber leidenschaftliche und visionäre Kraft verrieten. Die späteren Bände zeigten ein allmähliches Reifen (z. B. The True Confession of George Barker, 1950 und 1965; A Vision of Beasts and Gods, 1954; Villa Stellar, 1978); doch schwankt auch hier sein Stil zwischen ekstatischer Aussage und der Suche nach Einfachheit, und häufig stehen kraftvolle und flache Verse nebeneinander. Auf die weitere Entwicklung blieb Dylan Thomas ohne Einfluß. Eine an ihn anknüpfende Bewegung, die sich The New Apocalypse' nannte - die Sprecher waren HENRY TREECE (geb. 1912), JAMES F. W. HENDRY (geb. 1912) und GEORGE S. FRÄSER (1915-1980) -, versank nach drei Anthologien klanglos (The New Apocalypse, 1939; The White Horseman, 1941; The Crown and the Sickle, 1944). Ihr Programm vom mythischen Wesen der Dichtung und einer neuen Romantik, das sie der politisch-sozialen Ausrichtung des Auden-Kreises entgegenstellten, war zu vage, um sich als revolutionierend zu erweisen. Aus der großen Zahl kleinerer Dichter der Zeit verdienen Erwähnung die meditative KATHLEEN RAINE" (geb. 1908), deren mystische Spiritualität ihr Blake-Studium bekundet; LAWRENCE DuRRELL64 (geb. 1912), der von der Ägäis und dem Nahen Osten zu lyrischer Gestaltung inspiriert wurde; ROY FULLER65 (geb. 1912), für den Auden der Haupteinfluß blieb und der mit genauer, häufig ironischer Analyse die politische und gesellschaftliche Situa62

Collected "Collected 64 Collected 65 Collected

Poems Poems Poems Poems

1930-1955 (1957). - M. Fodaski, G. B., TEAS (N. Y., 1969). 1935-1980 (1981). 1931-1974, ed. J. A. Brigham (1981). 1936-1961 (1962); New Poems (1968).

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tton analysierte; JOHN -STUBBS66 (geb. 1918), dessen Interesse an mythischen Symbolen sich mit strengem Formwillen paart. Von den Kriegsdichtern des zweiten Weltkrieges67 sind drei Namen hervorzuheben, wenngleich keiner von ihnen den Rang eines Wilfred Owen erreichte: der introspektive, von Eliot, Yeats und Rilke beeinflußte SIDNEY KEYES68 (1922-1943), in dessen Gedichten Schmerz und Tod im Mittelpunkt stehen; der Waliser ALUN LEWis69 (1915-1944), der Land und Leute in Indien und Burma in treffenden Miniaturen mitfühlend schilderte; und KEITH DOUGLAS™ (1920-1944), der die Grausamkeit des Krieges mit distanziertem Interesse betrachtete. Nicht zufällig wird er von Ted Hughes bewundert, der eine Auswahl seiner Gedichte herausgab (1964).

7. Die englische Lyrik seit den fünfziger Jahren 71 Eine neue literarische Bewegung trat erst um die Mitte der fünfziger Jahre in Erscheinung, für die sich nach einem Artikel des Spectator der Name The Movement' einbürgerte. 1956 gab Robert Conquest eine Anthologie dieser Movement-Dichter unter dem Titel New Lines heraus, eine zweite folgte 1963. Neben dem Herausgeber waren die Beiträger Kingsley Amis, Donald Davie, D. J. Enright, Thorn Gunn, John Holloway, Elizabeth Jennings, Philip Larkin und John Wain. Sie alle hielten, wie das Vorwort des Herausgebers betont, nichts mehr von technischen Experimenten, gelehrten Anspielungen, großer Rhetorik und esoterischer Symbolik, sondern erstrebten wieder die klare, einfache, unpathetische Aussage. Sie lehnten die Modernisten der zwanziger Jahre ebenso ab wie die politisch engagierte Lyrik der Auden-Generation wie auch die bardische Lyrik von Dylan Thomas und bekannten sich zu den traditionellen Metren und Strophenformen. Sechs von den insgesamt neun Beiträgern wirkten oder wirken noch als Universitätslehrer, und sie alle sind - mit Ausnahme von Elizabeth Jennings, einer Katholikin - Agnostiker. 66

Selected Poems (1965). The Terrible Rain: The War Poets 1939-1945, ed. B. Gardner (1977). 68 Collected Poems, ed. M. Meyer (1945). 69 Selected Poetry and Prose, ed. I. Hamilton (1966). 70 Collected Poems (1966). 71 Anthologien: The New Poetry, ed. A. Alvarez (Harmondsworth, 1962 u. ö., PB); Cambridge Book of English Verse 1939-1975, ed. A. Bold (Cambr., 1976); Moderne englische Lyrik: English und Deutsch, edd. W. Erzgräber u. U. Knoedgen (Stuttgart, 1976). - Kritik: B. Morrison, The Movement: English Poetry and Fiction of the 1950s (1980); J. Press, Rule and Energy: Trends in British Poetry Since the Second World War (1963); M. L. Rosenthal, The New Poets: American and British Poetry Since World War II (1967); The Survival of Poetry: A Contemporary Survey, ed. M. Dodsworth (1970); C. Bedient, Eight Contemporary Poets (1974); P. R. King, Nine Contemporary Poets: A Critical Introduction (1979); A. Esch, Zur Situation der zeitgenössischen englischen Lyrik (Opladen, 1980). 67

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Indessen ist der Name, der die Vorstellung einer zusammengehörigen Schule nahelegt, irreführend; in Wirklichkeit ist die Lyrik der Movement-Dichter sehr verschiedenartig. Zudem beherrschten sie keineswegs allein das Feld. Ihre Anthologie rief fast gleichzeitig eine Reihe von Einzelgängern auf den Plan, die in der Preisgabe des dionysischen Elements der Dichtung eine Verarmung sahen (Mavericks, 1957). Ebenso kritisierten die Beiträger zu A Group Anthology (1963), zu denen neben Philip Hobsbaum, dem Herausgeber, Peter Porter, George MacBeth und Peter Redgrove gehörten, die Dichtung des Movement als zahm, prosaisch und klischiert. Sie hoben als Vorbilder D. H. Lawrence, Wilfred Owen und die amerikanische „Bekenntnislyrik" von Robert Lowell auf den Schild; ihre Bewunderung galt aber vor allem dem nicht zum engeren Kreis der 'Group' gehörenden Ted Hughes. Wichtiger als die wenig eindrucksvollen theoretischen Äußerungen sind indessen die dichterischen Ergebnisse, und hier heben sich als die stärksten Begabungen Larkin, Gunn und Ted Hughes heraus. Sie sollen im folgenden beispielhaft für die zeitgenössische Szene behandelt werden, obwohl eine Reihe weiterer Autoren Erwähnung verdienten, insbesondere Donald Davie (geb. 1922), Charles Tomlinson (geb. 1927), Geoffrey Hill (geb. 1932) und Seamus Heaney (geb. 1939). PHILIP LARKIN 72 (geb. 1922) veröffentlichte in dreißig Jahren neben zwei Romanen vier schmale Lyrikbände, die ihm in England den Ruhm eines ungekrönten Poeta laureatus eintrugen. The North Ship (1945) zeigt den Dichter noch im Bann der Yeatsschen Versmusik, doch klingen die Hauptthemen seiner späteren Lyrik - Vergänglichkeit, Trauer und Tod - bereits unüberhörbar an. In den folgenden Bänden, The Less Deceived (1955), The Whitsun Weddings (1964) und High Windows (1974), begegnet uns dann ein Larkin, der von dem als geistesverwandt empfundenen Thomas Hardy gelernt hatte, die Themen zu seiner Dichtung in seinem eigenen Leben zu finden, einem Leben ohne außergewöhnliche Ereignisse und Offenbarungen. Larkins Gedichte evozieren mit feiner Ironie die Trostlosigkeit des Daseins und die eigene Unzulänglichkeit {Ignorance). Das Leben ist 'first boredom, then fear', und am Ende stehen das Alter und der Tod (Dockery and Son). Immer wieder wird der Mensch in seinen Erwartungen enttäuscht, bis das Schicksalsschiff ihn ereilt und ihn Schweigen und Vergessen umfängt (Next, Please}. Der Sprecher von Toads möchte zwar aufbegehren gegen die „Kröte" der eintönigen Routine, aber er muß erkennen, daß diesem Wunsch etwas in ihm selbst entgegensteht, das 'toad-like' ist, und in dem späteren Toads Revisited erscheint der Alltagstrott geradezu als willkommenes Mittel der Lebensbewältigung bis hin zum Ende. Gelegentlich klingt sogar eine gewisse Genugtuung darüber an, daß man nicht länger, dem Erfolg nachjagend, in den zwecklosen Lauf der Welt verstrickt bleibt, sondern wie die ausgedienten 72

D. Timms, P. L. (Edinb., 1973); L. Kuby, An Uncommon Poet for the Common Man: A Study of P. L.'s Poetry (The Hague, 1974); B. K. Martin, P. L., TEAS (Boston, 1978).

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Rennpferde in At Grass im Schatten stehen und anonym werden kann. Nur selten begegnet man einer zagen Hoffnung. Am Ende des Titelgedichts von The Whitsun Weddings findet sich wenigstens eine Andeutung, daß das künftige Leben der Hochzeitspaare zu Fruchtbarkeit und Erfüllung führen kann, und in An Arundel Tomb leuchtet die allerdings keineswegs ganz verläßliche Erkenntnis auf, daß Liebe und Treue die Zeit überdauern. Bei aller Skepsis findet der agnostische Sprecher von Church Going zur Bejahung ererbter Ordnung und Tradition und gelangt zu der Einsicht, daß es immer Menschen geben wird, die, bedrängt von der Frage nach dem Sinn des Lebens, zu diesem 'cross of ground' kommen, und sei es auch nur, um in der Begegnung „mit so vielen Toten" sich ihrer Vergänglichkeit bewußt zu werden. Aber solche etwas trostvolleren Gedichte sind die Ausnahme, und in dem letzten Band High Windows ist der Ton eher schneidender geworden. In zynischer Maske wird in This Be The Verse die Fortpflanzung für unerwünscht erklärt, und das bedrückende The Old Fools gibt ein erbarmungsloses Bild des Alters. In The Building erscheint die Klinik, in der die aus der Selbsttäuschung erwachenden Menschen als eine dem Sterben entgegensehende anonyme Gemeinde versammelt sind, als der neuzeitliche Ersatz der Kathedrale. Larkins Dichtung, die das Leben in seiner Glanzlosigkeit und Enttäuschung als gegeben hinnimmt und ihre Aussagen zaghaft einschränkt oder halb wieder zurücknimmt, ist auf den Höhepunkten von durchdringender Trauer und zartem Mitgefühl und macht die trivialen Alltagssituationen in ihrer Gleichnishaftigkeit transparent. THOM GuNN 73 (geb. 1929) hat nichts von Larkins Verhaltenheit. Das Hauptthema seines ersten Bandes, Fighting Terms (1954), ist der aggressive Kampf der Geschlechter in ihrer Suche nach Selbstverwirklichung und die Erkenntnis, daß sexuelle Liebe den Antagonismus nicht überwinden kann. Unter dem Einfluß der Sartreschen Philosophie sieht der folgende Band, The Sense of Movement (1957), den Wert der menschlichen Existenz in der Verherrlichung des Willens und dem Wagnis der Wahl. On the Move sucht diese Philosophie unmotivierten Handelns am Beispiel der Lederjacken zu ergründen, die in den fünfziger Jahren auf ihren Motorrädern durch die amerikanischen Städte rasten. Der Sprecher identifiziert sich zwar nicht mit den 'Boys', steht ihnen aber doch mit einer gewissen Bewunderung gegenüber und meint, daß sie in einer sinnberaubten Welt durch ihre Aktion immerhin eine Teillösung ihres Problems erreichen; denn 'at best... One is always nearer by not keeping still'. Indessen vermag die symbolische Überhöhung ihres ziellosen Handelns zu der Suche des Menschen nach seiner Identität kaum recht zu befriedigen. Gunn hat allmählich erkannt, daß der Mythos der 'toughness' zu dürftig ist, um einen Ersatz für die nach seiner Meinung nicht mehr tragenden moralischen Werte abzugeben. In My Sad Captains (1961) nimmt er Abschied von seinen bisherigen Helden, deren ungestümes Handeln letztlich doch verpufft. Ein neuer Held begegnet in dem Gedicht In Santa Maria Del Popolo, in 73

A. Bold, T. G. and Ted Hughes (Edinb., 1976).

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welchem dem Dichter bei der Betrachtung von Caravaggios Gemälde „Die Bekehrung Pauli" in der Kontrastwirkung mit den im Kircheninneren betenden alten Frauen die Aussage des Malers bewußt wird. Er deutet die Geste der weit ausgestreckten Arme des Paulus als die Entscheidung des einsamen, auf sich gestellten Menschen, dem Nichts Widerstand zu leisten, indem er es umarmt. In ähnlicher Weise führt in The Book of the Dead des Odysseus Gang in die Unterwelt (Odyssee XI) zu der Erkenntnis, daß der Mensch für die sein Handeln bestimmenden Entscheidungen auf sich allein angewiesen bleibt. In Gunns späteren Bänden Touch (1967), Moly (1971) und Jack Straw's Castle (1976) werden die Gegenstände der Beat-Generation und die existentialistischen Gedankengänge abgelöst durch solche der amerikanischen 'Counter-Culture', der Hippies und der LSD-Visionen, eine Entwicklung, die man ebenso skeptisch beurteilen wird wie sein früheres Interesse an dem unbestimmten Freiheitsstreben der 'Beats'. Wurde Odysseus durch das ihm von Hermes übergebene Kraut Moly vor dem Zauber Circes bewahrt, so erstrebt Gunn durch das moderne Zaubermittel LSD die Möglichkeit vorbegrifflicher Erfahrung und eines kosmischen Einsgefühls (Sunlight). Gunn findet zwar zu größerer Mitmenschlichkeit, ihm gelingen auch einige interessante mythologische Gedichte, aber einstweilen ist Unausgeglichenheit noch das Hauptmerkmal seiner Lyrik. Nachteilig wirkt sich vor allem aus, daß ihn die Dinge der sinnlichen Wahrnehmungswelt zu ausschließlich als Verdeutlichung seiner Philosophie interessieren. Kaum ein zweiter englischer Dichter hat dem elementaren Lebensdrang in Tier- und Pflanzenwelt so vehementen Ausdruck verliehen wie TED HUGHES74 (geb. 1930). Das Titelgedicht von Hawk in the Rain (1957) kontrastiert den Menschen, den der regennasse Ackerlehm gleichsam in sein Grab zieht, mit dem mühelosen Flug des Habichts, dessen Auge unbewegt wie der Polarstern vom Himmel herunterblickt. Zwar findet der Habicht einmal seinen Tod, aber im Gegensatz zum Menschen bedrängt ihn nicht der Gedanke an seine Sterblichkeit, der Tod ist vielmehr die selbstverständliche Rückkehr zu den Elementen. Es ist bezeichnend, daß sich bei Hughes auch die dichterische Inspiration in animalischer Bildlichkeit konkretisiert (The Thought-Fox). In Lupercal (1960) ist die explosive Rhetorik des ersten Bandes weithin vermieden. Der Dichter ist fasziniert von der für Land und Wasser ausgerüsteten Doppelgestalt des Otters (An Otter), von dem Jaguar, der sich noch im Käfig als Mittelpunkt der Welt fühlt ( The Jaguar), von .den Drosseln, die mit der Gleichförmigkeit einer Schnellfeuerwaffe Sprung, Biß und Verschlingen der Beute wiederholen (Thrushes), von den Hechten mit ihrem 'malevolent aged grin', die selbst vor den Artgenossen nicht Halt machen (Pike), und wieder vom Habicht, dessen Körpergestalt in einzigartiger Weise auf das Töten ausgerichtet ist (Hawk Roosting). Ebenso ist die Pflanzenwelt beherrscht von einem unbändigen Lebenswillen. Das Schneeglöckchen durchbricht die Erdoberfläche wie ein gepanzerter Krieger (Snowdrop), und die 74

K. Sagar, The Art of T. H. (Cambr., 21978).

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waffenstarrenden Disteln stehen in immerwährender Blutfehde gegen Kühe und Menschen (Thistles). Radikalere Formulierung findet Hughes' Weltsicht in Wodwo (1967). In den „Dudelsackvariationen" (Pibroch) entdeckt der Dichter im Universum nur sinnlose Destruktion. Wie eine Parodie auf Shelleys Lerchengedicht mutet Skylarks an, in dem die Lerchen aufsteigen, als trügen sie eine Last zum Himmel, bis sie, von der Sonne leergesaugt, bleischwer wieder auf die Erde stürzen. Die Ordnungsmacht im Universum ist nichts anderes als 'the great Emptiness' (Stations); Gott drängt zwar auf Ordnung, aber er scheitert, weil die stärkere Natur gegen ihn steht (Logos). Der Mensch bleibt ein 'Wodwo', ein wilder Waldbewohner, der in einer Welt, die er nicht verstehen kann, durchhält und verwirrt nach seiner Identität sucht. Wenngleich die amoralische Natur für den Menschen kein Vorbild abgeben kann, so ist doch der Kontakt mit ihren vitalen Energien unerläßlich, um die Sterilität des modernen Lebens zu überwinden. Da dieser Kraftstrom jedoch auch zerstörerisch ist, muß er in Bahnen gelenkt werden, in denen er sich positiv auswirkt. Diese Aufgabe fällt nach Hughes, nachdem die Religion ihre Bedeutung eingebüßt hat, der Kunst zu, insbesondere der Dichtkunst, die mittels der Imagination die Verbindung zwischen innerer und äußerer Welt wiederherzustellen vermag. Die traditionelle Sprache hierfür ist der Mythos,und Hughes' folgende Dichtungen, Crow (1970) und Gaudete (1977), zeugen von der Suche nach einem Mythos, in dem er sein Verständnis des Lebensprozesses ausdrücken konnte. In dem Phantasiewesen der robusten, zynischen, häufig einer Karikatur ähnelnden Krähe hat sich Hughes die mythische Figur geschaffen, in deren Abenteuern, Streichen und Erfahrungen er mit schwarzem Humor seine Alpträume verkörpert. Der dem Nichts entstammende, Sinnverneinung und Energie verbindende, in allen Widrigkeiten durchhaltende, kaleidoskopisch sich ändernde Crow vereinigt Züge des duldenden Jedermann, des Clown-Teufels und des in vielen Mythologien beheimateten Tricksters (Sagar). Beklemmend an Hughes' Vision bleibt die Einseitigkeit und Undifferenziertheit seines Menschenbildes, in dem kaum einmal die Rationalität oder das soziale Verhalten eine Rolle spielt. Dieser Mangel an Modulation führt zu einer Monotonie der Darstellung, die noch akzentuiert wird durch die Überstrapazierung der Blut-, Krankheits- und Todesmetaphorik, durch das Übermaß an Invokationen und Reihungen sowie die durchgehende Reduktion der Bilder auf deformierte Bruchstücke. Das lange Erzählgedicht 'Gaudete' bedeutet insofern eine Entwicklung, als es erstmalig - wohl mitbedingt durch die ursprüngliche Konzeption als Drehbuch - eine im menschlichen Bereich verankerte Handlung aufweist. Der von Geistern entführte anglikanische Vikar Nicholas Lumb, dem es, wie der Prolog besagt, nicht gelingt, eine rätselhafte, kranke „Wolfsfrau" zu heilen, wird in einem surrealistischen Ritus anscheinend in seine beiden Identitäten gespalten. Sein von den Geistern geschaffenes Double kehrt in die Gemeinde zurück und redet dort allen Frauen ein, daß eine von ihnen einen neuen Heiland gebären soll, zu dessen irdischem Vater er bestimmt sei. Er wird

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schließlich von den aufgebrachten Männern des Dorfes nach einer rituellen Orgie getötet. Lumbs anderes, in der Geisterwelt zurückgebliebenes Ich erfährt dort offenbar eine Wandlung. Der Priester erscheint im Epilog als Dichter im Westen Irlands, wo das Christentum noch heidnisch durchsetzt ist, und hinterläßt dunkle Gedichte an eine namenlose Göttin, vermutlich die 'White Goddess', die zu beweisen scheinen, daß er gelernt hat, innere und äußere Welt miteinander zu versöhnen. Hughes' letzter Sammelband, Moortown (1979), ist eine etwas ungleiche Nachlese, deren bester Teil, die Titelsequenz, an seine frühe Dichtung anschließt und seine Eindrücke und Erfahrungen auf seiner Farm in Devon zum Thema hat.

8. Die amerikanische Lyrik seit der Jahrhundertmitte 75 Die Generation der zuerst in den vierziger Jahren hervortretenden Dichter ist ebensowenig auf einen Generalnenner zu bringen wie die vorangehende. Das Werk von THEODORE RoETHKE76 (1908-1963) erinnert des öfteren an die englischen Romantiker von Blake bis Yeats und ebenfalls an Emerson, Emily Dickinson und Whitman. Mit unverwechselbar eigener Stimme spricht Roethke dagegen in den kraftvollen 'greenhouse poems' seines zweiten Bandes, The Lost Son (1948). Sein Vater, ein deutscher Einwanderer, war Blumenzüchter, und die Gewächshauswelt wurde für den Sohn zum zentralen Symbol des Lebensganzen und zu einer Quelle seiner Meditationen und Träume. In der Welt der Pflanzen entdeckte Roethke eine Spiegelung der unbewußten seelischen Vorgänge des Menschen, die er mit bezwingender Suggestionskraft zu evozieren verstand. Das Titelgedicht The Lost Son' schildert in Form der archetypischen Reise die Suche nach der Identität und umkreist in der Nachfolge Vaughans das Geheimnis des Todes und der geistigen Wiedergeburt. Die Wanderung nach innen, dargestellt aus der animistischen Sicht des Kindes wie aus der Rückerinnerung des Erwachsenen an eine verlorene, uranfäng75

Anthologien: Mid-Century American Poets, ed. J. Ciardi (N. Y., 21952); The New American Poetry 1945-1960, ed. D. M. Allen (N. Y., 1960); The New Poets of England and America, edd. D. Hall et al. (N. Y., 1957 u. 1962); Contemporary American Poetry, ed. D. Hall (Harmondsworth, 1972 u. ö., PB). - Kritik: M. L. Rosenthal, s.S. 891, Anm.71; Seven American Poets from MacLeish to Nemerov: An Introduction, ed. D. Donoghue (Minneapolis, 1975) [die weiteren fünf sind: Lowell, Jarrell, Roethke, Berryman u. Eberhart]; D. Kaistone, Five Temperaments (N. Y., 1977) [Lowell, Bishop, Merrill, Rieh, Ashbery]; H. Vendler, Part of Nature, Part of Us: Modern American Poets (Cambr., Mass., 1980); Harvard Guide to Contemporary American Writing, ed. D. Hoffman (Cambr., Mass., 1980). 76 Collected Poems (Garden City, 1966; Lo., 1968); Straw for the Fire: From the Notebooks of T. R., 1943-1963, ed. D. Wagoner (N. Y, 1972); Selected Letters, ed. R. J. Mills (1970). - A. Seager, The Glass House: The Life of T. R. (N. Y., 1968); K. Malkoff, T. R.: An Introduction to the Poetry (N. Y., 1966); R. A. Blessing, T. R.'s Dynamic Vision (Bloomington/Lo., 1974); R. Sullivan, T. R.: The Garden Master (Seattle, 1975); J. LaBelle, The Echoing Wood of T. R. (Princeton, 1976).

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liehe Ganzheit, läßt den Dichter nach qualvoller Suche seinen Standortinnerhalb der Schöpfungerkennen. So führt RoethkesWegam Ende zu religiöser Dichtung, die der Vaterkult der frühen Gedichte und der Band Praise to the End (1951) vordeutete und die in dem postumen The Far Field (1964) direkte Aussprache fand. An RICHARD EBERHART77 (geb. 1904), dessen frühe Gedichte in der englischen Anthologie New Signatures (1932) erschienen, als er Student in Cambridge war, erweist die puritanische Tradition Neuenglands in der Begegnung mit Gegenwartsproblemen ihre immer noch wirksame schöpferische Kraft, die sich vom ersten amerikanischen 'metaphysical poet', dem Barockdichter Edward Taylor, an verfolgen und auch in der gnomischen Lyrik der Transzendentalisten und von Emily Dickinson erkennen läßt. Der unauffällige Unterhaltungston seiner zurückhaltenden und spröden Verse kommt gelegentlich farbloser Prosa bedenklich nahe, und die Mischung von einfacher Aussage und geistreichen Anspielungen wirkt mitunter gewollt. In Gedichten wie The Groundhog oder The Fury of Aerial Bombardment jedoch findet das moralische Grübeln bezwingenden Ausdruck. Ein starker moralischer Grundton ist auch in RANDALL JARRELLS78 (1914-1965) Dichtung vernehmlich. Jarrells Themen sind menschliche Grenzsituationen und Schuldverstrickungen im Alltag (Prisoners; A Country Life; Hope) sowie das Kriegsgeschehen (The Death of the Ball Turret Gunner; Pilots, Man your Planes; A Camp in the Prussian Forest). Die realistisch harte und doch symbolische und rhythmisch wie klanglich ausdrucksreiche Sprache und ein tiefes, aber unsentimentales Mitfühlen geben den Gedichten Überzeugungskraft ( The Knight, Death, and the Devil; A Girl in a Library). RICHARD WiLBUR79 (geb. 1921) ist in der neueren Lyrik ein Musterbeispiel für Präzision, Leichtigkeit und virtuose Technik. Er hat eine sorgfältige literarische Ausbildung genossen und die 'metaphysical poets', die französischen Symbolisten, Marianne Moore und Wallace Stevens gründlich studiert. Welches Thema aus Natur und Geistesgeschichte er auch immer behandelt, er umfaßt die Dinge dieser Welt mit Liebe, Freude und Ironie. Alle seine Gedichte zeigen dieselbe formale, kühle Eleganz; er mutet wie ein Geistesverwandter von Robert Herrick an. Gegen diese „akademische" Kunst und gegen die Vorherrschaft des Zerebralen über die Spontaneität im Schaffensvorgang wandten sich die „Antiformalisten". Ihr führender Kopf war CHARLES OLSONSO (1910-1970), der am 77

Collected Poems 1930-1976 (1976); Selected Poems (1978). - J. Roache, R. E.: The Progress of an American Poet (N. Y., 1971). 78 Complete Poems (1969); The Achievement of R. J.: A Comprehensive Selection of His Poems, ed. F. J. Hoffman (Glenview, 111., 1970). - S. Ferguson, The Poetry of R. J. (Baton Rouge, 1971). 79 The Poems of R. W. (1963); Walking to Sleep: New Poems and Translations (1969); The Mind-Reader (1976). - D. Hill, R. W., TUSAS (N. Y., 1967). 80 The Distances (1960); The Maximus Poems (1960); Maximus Poems IV, V, VI (1968); The Maximus Poems: Volume Three, edd. C. Boer and G. F. Butterick (1975); Selected Writings, ed. R. Creeley (N. Y., 1966) [hierin Projective Verse]. G. F. Butterick, A Guide to the Maximus Poems of C. O. (Berkeley, 1978).

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Black Mountain College, einer kleinen Kunst- und Literaturakademie nahe Asheville in North Carolina, deren letzter Rektor er war (1951-56), einen gleichgestimmten Künstlerkreis um sich sammelte. Olsons große Wirkung beruht weniger auf seiner Lyrik als auf seiner Dichtungstheorie, insbesondere seiner Schrift Projective Verse (1950). Nach Olsons an Pound und Williams anknüpfender Poetik ist ein Gedicht 'a high-energy construct and, at all points, an energy discharge'. Entscheidend für die Umsetzung der Emotion in Energie ist der spontane Atemrhythmus des Dichters, der das Gedicht mittels der Silben, Zeilen und einer die lineare Komposition ersetzenden „Feldkomposition" strukturiert. Olsons dichterisches Hauptwerk ist die epische Folge der Maximus Poems, die insgesamt drei Bände umfaßt, aber unvollendet geblieben ist. Im Mittelpunkt des langen Gedichts steht die kleine Küstenstadt Gloucester in Massachusetts, die für Olson, wie Paterson für Williams, den Schauplatz abgab, den er in seiner gegenwärtigen Gestalt wie in seiner geschichtlichen und mythischen Vergangenheit erkundete und der ihm zugleich für seine Kritik des amerikanischen Lebens wie für seine Vision eines neuen geistigen Bewußtseins diente. Das Werk ist ein ehrgeiziges Experiment im langen Gedicht, das den Vergleich mit Hart Crane, Williams und Pound herausfordert. Der „projektive" oder „offene" Vers hat recht verschiedene Ausprägungen erfahren. So stehen neben den verhaltenen, auf einfache Elemente reduzierten Versen von ROBERT CREELEY SI (geb. 1926) die Gedichte des in die mystischvisionäre Tradition von Plotin bis Swedenborg gehörenden ROBERT DUNCAN82 (geb. 1919). Außerhalb der Black Mountain School wurden Olsons Gedanken von der Bewegung der 'Beats'83 aufgenommen, als deren hervorragendstes, wenngleich unausgeglichenes Talent sich ALLEN GiNSBERG84 (geb. 1926) behauptet hat. Seine Dichtungen zeigen einen auf akustische Wirkung angelegten, lang flutenden Vers, der neben Olson von der hebräischen Poesie, von Whitman und den prophetischen Werken Blakes beeinflußt ist. Ginsberg erregte zuerst Aufsehen mit Howl (1956), einer Anklage der amerikanischen Gesellschaft und der die Besten zerstörenden Technokratie. Der hemmungslose Angriff, vorgetragen in der Sprache der Massenmedien und surrealistischer Bildlichkeit, artet häufig in Hysterie und Banalität aus; doch wird hinter dem wilden Gehabe ein Temperament sichtbar, das nicht nur des Zornes, sondern auch des Mitgefühls fähig ist. Ginsberg hat in die zeitgenössische Dichtung eine apokalyptische Note gebracht, die erneut aufklingt in Kaddish (1961), dem Trauergesang auf Leben, Paranoia und Sterben seiner Mutter. Seine auf Reiseeindrücken beruhenden Planet News (1968), die Nachrichten vom Planeten Erde, setzen sich mit der Sinnlosigkeit des modernen 81

Poems 1950-65 (1966); The Finger: Poems 1966-69 (1970); Selected Poems (1976). C. Edelberg, C.'s Poetry: A Critical Introduction (Albuquerque, 1978). 82 Selected Poems: I, The First Decade 1940-50, II, 1950-56 (1968). 83 A Casebook on the Beat, ed. T. Parkinson (N. Y., 1961); B. Cook, The Beat Generation (N. Y., 1971). 84 T. F. Merrill, A. G., TUSAS (N. Y., 1969).

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Lebens auseinander und handeln von der Möglichkeit, durch mystische Einheitserfahrung zu einem neuen Leben zu gelangen. Nach der durch Drogeneinwirkung erreichten Bewußtseinserweiterung der frühen Gedichte zeigt sich hier der Einfluß des Buddhismus und der transzendentalen Meditation, der auch in dem Bericht über seinen Indienaufenthalt, Indian Journals (1970), seinen Niederschlag findet. Selbst die so anders gearteten Buchstaben- und Wortarrangements der „konkreten" Dichtung (MARY ELLEN SOLT, geb. 1920, EMMET WILLIAMS, geb. 1925, u. a.) haben an die 'spatial experience' von Olsons „Feldkomposition" angeknüpft. In gegenläufiger Bewegung zu dem dionysischen Rausch von Worten und Bildern eines Ginsberg sind die Gedichte der Konkretisten syntaxfreie Buchstaben- und Wortkompositionen, die die Erstellung von Sinnzusammenhängen dem Leser übertragen, so daß dieser erst den Text konstituiert. Der überragende Dichter seiner Generation war der aus einer alten Neuenglandfamilie gebürtige ROBERT LowELL85 (1917-1977), der mit 23 Jahren zum römischen Katholizismus konvertierte (von dem er sich später wieder abwandte) und im zweiten Weltkrieg als Wehrdienstverweigerer inhaftiert wurde. Als Schüler von John Crowe Ransom und Allen Täte schrieb er in seinen frühen Bänden Land of Unlikeness (1944), Lord Weary's Castle (1946) und The Mills of the Kavanaughs (1951) formstrenge Gedichte, die leidenschaftlich die Gottferne seiner Zeit, den brutalen Geschäftssinn und die Sinnlosigkeit des Krieges geißelten. In The Drunken Fisherman vergleicht er sich dem Menschenfischer, der seine Angel in den Schmutz dieser Welt werfen will, um Christus zu fangen, und in The Quaker Graveyard in Nantucket stellt er dem Kalvinismus Neuenglands das gütige Gnadenbild Unserer Lieben Frau von Walsingham gegenüber. Lowells anklagend-schroffe Reflexionslyrik erinnert in ihren Kontrasten an Barockdichtung, in der eigenwillig gedrängten Bildsprache an Hart Crane; sie ist gekennzeichnet durch eine komplizierte Syntax und eine Überfrachtung mit Symbolen und Anspielungen aus Religion, Literatur und Historic. In Life Studies (1959) führte die Kritik des puritanischen Erbes zu eingehender Erforschung der Familientradition und seiner eigenen psychischen Probleme, wobei die strenge Form sich lockerte und die Diktion sich stärker dem Sprechrhythmus näherte. Schonungslos legt Lowell verborgene Schuld in seiner Familie und eigenes Versagen bloß und zerrt mit bekenntnishaftem Drang den Bereich des Privaten ans Licht: das Scheitern seiner ersten Ehe, den Alkoholismus, den Aufenthalt in der Nervenklinik. Mit solcher 'confessional poetry' hat Lowell nachhaltig auf JOHN BERRYMAN 86 85

Selected Poems (N. Y., 1976). - H. B. Staples, R. L.: The First Twenty Years (1962); J. Mazzaro, The Poetic Themes of R. L. (Ann Arbor, 1965); P. Cosgrave, The Public Poetry of R. L. (1970); M. G. Perloff, The Poetic Art of R. L. (Ithaca, 1973); J. Crick, R. L. (1974); S. Yenser, Circle to Circle: The Poetry of R. L. (Berkeley, 1975); S. G. Axelrod, R. L.: Life and Art (Princeton, 1978). 86 Homage to Mistress Bradstreet (1956); The Dream Songs (1969); Selected Poems 1938-68 (1972); Henry's Fate and Other Poems, ed. J. Haffenden (1977). - J. Linebarger, J. B., TUSAS (N. Y., 1974); G. Q. Arpin, The Poetry of J. B. (Port Washington/Lo., 1978); J. Haffenden, J. B.: A Critical Commentary (1980).

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(1914-1972), ANNE SEXTON87 (1928-1974) und SYLVIA PLATH88 (1932-1963) eingewirkt. For the Union Dead (1964) setzt die psychologische Analyse des amerikanischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart fort, verrät aber ebenfalls trotz der autobiographischen Bezüge ein Streben nach Überwindung subjektiver Aussage und nach einem übertriebene Rhetorik dämpfenden und die Anspielungen stärker integrierenden Stil. Diese Entwicklung wird von den folgenden Veröffentlichungen bestätigt, den reimlosen Sonetten des Notebook 1967-68 (1969) und vor allem dem dieses Material ordnenden, erweiternden und umformenden Band History (1973). Mit der Behandlung des menschlichen Lebens von der Weltschöpfung bis zur Gegenwart, der langen Folge von Persönlichkeiten der gesamten Menschheitsgeschichte und dem Dichter als dem zentralen Bewußtsein stellt dieses Werk einen weiteren Versuch dar, das 'long poem' zu verwirklichen. Seit Lowells Tod, gibt es keinen Dichter, der eine ähnlich weite Anerkennung findet. Zwar ist das Interesse für Lyrik nach wie vor groß, finden Autoren wie Gary Snyder (geb. 1930) oder Gregory Corso (geb. 1930) ein Echo bei den Anhängern der 'Counter Culture', werden die Veröffentlichungen von James Dickey (geb. 1923), James Merrill (geb. 1926), William Stanley Mervin (geb. 1927) und vielen anderen mit großem Interesse verfolgt, gelten einige - wie John Ashbery (geb. 1927; Selected Poems, 1967) und Howard Nemerov (geb. 1920; Collected Poems, 1977) gar als aussichtsreiche Kandidaten für die Nachfolge Lowells. Aber trotz eines beachtlichen technischen Könnens läßt sich unter den derzeitigen Lyrikern keine Figur vom Range eines Lowell erkennen. Man gewinnt eher den Eindruck einer kompetenten, aber weithin akademischen Lyrik.

I I I . DAS D R A M A 1. Das englische realistische Schauspiel Die meisten der in Nachfolge Ibsens geschriebenen Dramen mit ihrer Erörterung gesellschaftlicher und moralischer Fragen erscheinen heute veraltet und blaß. Damals jedoch gehörte Ibsenscher Mut dazu, um wie HARLEY GRANviLLE-BARKER2 (1877-1946) die aktuelle Frauenfrage und Sexualmord vor 87

Selected Poems (1964); Love Poems (1969); Transformations (1971); The Death Notebooks (1974); The Awful Rowing Towards God (1976). 88 The Colossus (1960); Ariel (1965). - C. K. Barnard, S. P., TUSAS (Boston, 1978); J. Rosenblatt, S. P.: The Poetry of Initiation (Chapel Hill, 1979). 1 Abhandlungen s. S. 837. 2 Three Plays [Leete, Voysey, Waste] (1909); Collected Plays (1967ff.). - C. B. Purdom, H. G.-B.: Man of the Theatre, Dramatist and Scholar (1966); M. M. Morgan, A Drama of Political Man: A Study in the Plays of H. G.-B. (1961).

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dem schicksalhaften Hintergrund der Gesellschaft auf der Bühne zur Diskussion zu stellen. Nach The Marrying of Anne Leete (1901), in dem sich der Held und seine Schwester gegen eine Konventionsehe entscheiden und beide unter ihrem Stand heiraten, schrieb er in realistisch durchgeführtem Dialog die bedeutenderen Schauspiele The Voysey Inheritance (1905), das den Erben eines einträglichen aber betrügerischen Geschäfts vor die Wahl stellt, weiter zu betrügen oder sich selbst zu vernichten, und Waste (1907), dessen Held von der Frau, die sich davor fürchtet, Mutter zu werden, zugrundegerichtet wird. Beide Male steht die Gesellschaft als unpersönliche Schicksalsmacht im Mittelpunkt. Auch in den späteren Werken The Madras House (1910) und The Secret Life (1923) liegt die Verwicklung im Widerstreit von Einzelwillen und sozialem Gesetz. Derselbe Gegensatz beherrscht die Kampfstücke von ST. JOHN HANKIN 3 (1869-1909), deren klug gebaute Handlung die Freiheitsforderungen der neuen Jugend zur These zuspitzte. In The Two Mr. Wetherbys (1903) geht es dem guten Bruder schlecht, in The Return of the Prodigal (1905) erpreßt ein junger, unverschämter Verschwender von seinem Vater und Bruder ein Jahresgehalt, in The Charity that Began at Home (1906) muß sich der Liebende eine Ehe versagen. Schuld ist jeweils die verlogene gesellschaftliche Konvention. In dem glänzend gebauten The Cassilis Engagement (1907) bewahrt eine Mutter ihren Sohn vor einer Mesalliance, indem sie nicht gegen die Heirat opponiert, sondern die Geliebte mit ihrer Mutter in ihr Landhaus einlädt und dem Sohn die Augen öffnet über die oberflächliche, triviale Angebetete, die am Ende, tödlich gelangweilt von dem gesellschaftlichen Leben, die Verbindung abbricht - eine Entwicklung, die Anlaß zu satirischer Betrachtung aller Beteiligten bietet. Janet, die Heldin von Hankins ernstestem Stück, The Last of the De Mullins (1908), bäumt sich gegen die Fesseln der Gesellschaftsordnung auf; sie will ihr eigenes Leben, ihr Recht auf Liebe und Kind. Die Thesen hatten Zugkraft, aber die Sprecher waren nur Marionetten; so blieb Hankins Bedeutung zeitlich begrenzt. Das gilt auch von WILLIAM STANLEY HouGHTONs4 (1881-1913) Dramen, deren Titel schon bezeichnend sind: Independent Means (1909), The Younger Generation (1910), The Fifth Commandment (1913). Am längsten hielt sich Hindle Wakes (1912) auf der Bühne, dessen verführte Heldin - in Umkehrung der alten Moral - ihren Liebhaber als Mittel zu einem Abenteuer betrachtet. Hankin und Houghton gehören zu der um Miss Hornimans Theater gruppierten Manchesterschule, die große Verdienste um die Einführung des realistischen Dramas in England hat. Als Vertreter der realistischen Richtung ist auch der Nordire ST. JOHN ERVINE (1883-1971) zu nennen mit den brutal wuchtigen Stücken Jane Clegg (1913) und John Ferguson (1915). Seine Bühnenerfolge errang Ervine indessen mit den das Verhältnis der Geschlechter erörternden Problemstücken The 3 4

The Dramatic Works, 3 Bde. (1912, rev. in 2 Bden. 1923). The Works of W. S. H., ed. H. Brighouse, 3 Bde. (1914).

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First Mrs. Fräser (1928) und Robert's Wife (1937) sowie Private Enterprise (1947), die jedoch künstlerisch weniger hoch stehen. In JOHN GALSWORTHYs5 (1867-1933) dramatischem Schaffen erscheinen diese 'problem plays', die ein Problem zur Debatte stellen und die Lösung offen lassen, zur Tragödie gewandt. Sein erstes Stück, The Silver Box (1906), dramatisiert folgenden Fall: Der Mann der armen Putzfrau, der im Trunk einen kleinen Diebstahl beging, muß dem Gerichtsapparat unserer Gesellschaft zufolge ins Gefängnis, während der desselben Vergehens schuldige Sohn des Parlamentsabgeordneten mit einer väterlichen Strafpredigt davonkommt. Die starke Bühnenwirkung beruht nicht nur auf der Thesenzuspitzung und Parteinahme für den Unterliegenden, sondern auf der folgerichtigen Entwicklung einer Situation, die sich aus den sozialen Bedingungen ergibt. Aus der Gegebenheit des Klassenkampfes muß sich in Strife (1909) der Streik entwickeln, der als übermenschliche Gewalt die Vertreter der Kapitalisten und der Arbeiter gleichermaßen entmachtet; das Stück endet ironisch mit dem Kompromiß, den die unnachgiebigen Führer der beiden Parteien zu Beginn der Auseinandersetzung abgelehnt hatten. Der Gesetzesvollzug in Justice (1910) erscheint als eine menschlichem Eingriff entzogene Maschine, die den bedauernswerten Kanzleibeamten wegen einer geringfügigen Tat zur Strekke bringt. Die späteren Stücke, wie The Skin Game (1920) und Loyalties (1922), betonen nachdrücklich die scheinbare Parteilosigkeit des Autors, wodurch das Problem unabwendbar und also tragischer hervortritt. Die sozialen Mächte waren für Galsworthy das unabänderliche Schicksal für die armen Sterblichen einer entgötterten Welt. Er wollte durch seine bühnenwirksamen, in treffendem Dialog geschriebenen Thesenstücke das Gewissen wecken und setzte seine Hoffnung auf die jüngere Generation. In der Tat hat 'Justice' eine Reform des englischen Gefängniswesens zur Folge gehabt. Allerdings ist Galsworthys Mitgefühl nicht frei von Sentimentalität, und einzelne Szenen geraten in die Nähe des Melodrams. Im Vergleich mit Galsworthy ist das dramatische Werk von JOHN MASEFIELD6 (1878-1967) uneinheitlich. Die ergreifende Tragedy of Nan (1908) erneuerte das bürgerliche Trauerspiel durch ein (vermutlich von den Iren angeregtes) Hineintragen eines symbolischen Sinns. Unter dem auf sie einstürmenden Leid erwächst die arme Waise zu einer in ihrer Leidenschaft betrogenen Frau, deren mütterlich gewandelte Liebe bei dem alten, halb blöden, halb seherischen Gaffer einen über die Zeitlichkeit hinausgreifenden Widerhall findet. Diese Ewigkeitsverklärung der Alltäglichkeit hat Masefield in seinen übrigen Dramen nicht wieder erreicht. Mit dem in dramatisch wirkungsvoller Prosa geschriebenen Charakterdrama Pompey the Great (1910) wandte er sich historischen Stoffen zu, die er in Philip the King (1914) nach 5

Plays (1929); Ten Famous Plays, ed. E. Gillet (1941; reiss. als Ten Best Plays, 1976). V. Dupont, J. G.: The Dramatic Artist (Toulouse, 1946); A. D. Choudhuri, G.'s Plays: A Critical Survey (Bombay, 1961). S. auch S. 950, Anm. 4. 6 S. die Literaturangaben S. 865, Anm. 20.

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dem Vorbild der klassischen französischen Tragödie in Versen und mit Botenberichten und schließlich, in dem Mary Stuart-Drama End and Beginning (1933), in der Art des mittelalterlichen Legendenspiels zu meistern suchte. Schon vorher hatte er, ebenfalls mit der indirekten Methode des französischen Dramas, das Passionsspiel Good Friday (1916) geschrieben, das jedoch, wie auch das spätere Mirakelspiel The Corning of Christ (1928), der Größe des Stoffes nicht gerecht wurde. Alle diese Stücke bekunden das Suchen nach einem tragischen Stil, der im realistischen Drama nicht mehr erreichbar scheint. In dem Geisterstück Melloney Holtspur (1922), das die Welt der Toten ins Leben hereinspielen läßt, wird, ähnlich wie in der 'Nan', aber ohne deren menschliche Überzeugungskraft, der Symbolismus bemüht, und in dem romantischen Drama Tristan and holt (1927) wird dem alten Stoff durch das Aufpfropfen einer Schweinehirtgroteske gröblich Gewalt angetan. Ein überzeugender Erfolg war Masefield nicht beschieden, doch sind seine Stücke vom Experiment her von Interesse. Wie Yeats und Eliot suchte er nach der Möglichkeit eines neuen poetischen Dramas. Stärker dem realistischen Problemdrama verpflichtet blieb der vielseitige und wendige JOHN BOYNTON PRIESTLEY7 (geb. 1894). Von dem Lustspielerfolg seiner Romandramatisierung The Good Companions (1931, zusammen mit Edward Knoblock) ging er zu ernsteren Themen und einer Reihe dramatischer Experimente über, die den Realismus mit expressionistischen Techniken zu verbinden suchten. Zwar schrieb er auch weiterhin erfolgreiche Komödien im herkömmlichen Stil; sie zeichnen das Bürgertum, vor allem seiner Heimat Yorkshire, mit kraftvollem, derbem Humor, einem Anflug von Pathos und leiser Sentimentalität sowie einer ausgesprochenen Neigung zu farcenhaften Zügen (Laburnum Grove, 1933; Eden End, 1934; When We Are Married, 1938). Von Anfang an erstrebte Priestley jedoch mehr. Er will zum Nachdenken anregen über Politik und Gesellschaft und den Sinn des Lebens. Moderne philosophische Untersuchungen zum Zeitbegriff haben ihn bei diesen Experimenten nachhaltig beeinflußt.8 Dangerous Corner (1932) geht von der einfachen Tatsache aus, daß es bei Entscheidungen stets mehrere Möglichkeiten gibt. Nachdem eine Unterhaltung einen für alle Partner unglücklichen Verlauf genommen hat, blendet Priestley an jenen Punkt zurück, an dem das Gespräch die verhängnisvolle Wendung nahm, und zeigt, wie die Gefahr umgangen und eine gute Lösung gefunden wird. Time and the Conways (1937) führt im ersten Akt das Leben der jungen Conways vor, Akt zwei spielt achtzehn Jahre später, während der dritte Akt wieder zu den jungen Conways zurückblendet, deren Hoffnungen und Träume der Zuschauer jetzt mit dem Bewußtsein des Scheiterns und künftigen Leids erlebt. / Have Been Here Before (1937) benutzt die Vorstellung vom Kreislauf der Zeit und der Reinkarnation, um die Frage zu beantworten, ob die Menschen aus früherem Versagen Folgerungen ziehen und ihr neues Leben zu einem besseren Ende 7 8

Plays (1948-50). - G. L. Evans, J. B. P.: The Dramatist (1964). S. auchS. 961, Anm. 19 Vgl. Over the Long High Wall: Some Reflections on Life, Death and Time (1972).

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führen. Johnson over Jordan (1939) ist im Kleid tibetanischer Glaubensüberzeugungen eine eindringliche Mahnung, daß nur die Teilhabe an den geistigen Werten bedeutsam ist. Nach dem Kriege trat das Experiment im Schaffen Priestleys zurück. The Linden Tree (1947) ist ein Charakterdrama mit herkömmlicherem Aufbau, in dem der an Ibsens „Volksfeind" erinnernde Geschichtsprofessor Robert Linden im Mittelpunkt steht, der wegen seiner Erziehungsgrundsätze mit den Universitätsbehörden in Konflikt geraten ist, aber dem Ansinnen, sein Amt niederzulegen, entschlossen Widerstand entgegensetzt. Erfolgreich waren, besonders auf dem Kontinent, An Inspector Calls (1945), das die Notwendigkeit gegenseitiger Verantwortung betont, und Take the Fool Away (1956), das den bedrückenden Traum eines Clowns dramatisiert, der sich in eine grauenhaft durchtechnisierte, an Orwells 1984 erinnernde Welt versetzt findet, aus der er jedoch am Ende noch einen Ausweg entdeckt. Priestley hat große Theatererfolge erzielt. Er hat es verstanden, seine politische und soziale Botschaft bühnenwirksam vorzutragen, die Nachdenklichkeit seines Publikums zu wecken und ihm ein schöneres, liebenswerteres Leben vor Augen zu halten. Dies lag ihm mehr am Herzen als künstlerische Vollendung.

2. G. B. Shaw und die Komödie Erfolgreicher als alle diese Schauspiele und Tragödien war die Ausgestaltung des Problemstücks zur realistischen Komödie durch GEORGE BERNARD SHAW9 (1856-1950), der in einer beispiellos langen Laufbahn die Theatergunst des Publikums errang und dem englischen Drama erneut Weltgeltung verschaffte. Nach fünf erfolglosen Romanen (z. B. Cashel Byron's Profession, 1886) verfaßte er nationalökonomische und sozialistische Flugschriften (z. B. Fabian Essays in Socialism, 1889) sowie eine lange Reihe von Kritiken, die sich besonders mit Wagner und Ibsen befassen (gesammelt in den Bänden: The Quintessence of Ibsenism, 1891; Dramatic Opinions and Essays, geschr. 1895-98, gedr. . . 1906, Lo. 1907; The Perfect Wagnerite, 1898). Diese in glänzend antithetischem Stil geschriebenen Aufsätze, welche die umfangreichen Vorreden, die er allen seinen Stücken mitgab, meisterhaft fortsetzen, stellen einen wesentlichen Beitrag zur Essayliteratur dar. Die vielfältigen The9

Works (Constable Standard Edn.), 36 Bde. (1931-50); The Bodley Head B. S.: Collected Plays with their Prefaces, ed. D. H. Laurence (1970ff., i. E.); Complete Plays (erw. Ausg. 1950; repr. 1965); Complete Prefaces (1965); PB; Collected Letters, ed. D.H. Laurence (1965ff., i. E.). - H. Pearson, G. B. S. (21961); D. MacCarthy, S. (1951); E. Bentley, B. S. (21967); W. Irvine, The Universe of G. B. S. (N. Y., 1949); C. Wilson, B. S.: A Reassessment (1969); L. Crompton, S. the Dramatist (Lincoln, Nebr., 1969); C. A. Berst, B. S. and the Art of Drama (Urbana, 1973); R. F. Whitman, S. and the Play of Ideas (Ithaca, 1977); R. Ohman, S.: The Style and the Man (Middletown, Conn., 1962); M. Meisel, S. and the Nineteenth-Century Theater (Princeton, 1963); C. B. Purdom, A Guide to the Plays of G. B. S. (1963).

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men lassen sich als Gesellschafts- und Lebenskritik zusammenfassen; sie unterstreichen und wiederholen die jeweiligen Probleme der Stücke, denn Shaw benutzte die Bühne als Kanzel und schrieb als Reformator. Unter dem Leitspruch „Die Kunst für das Leben", dem entsprechend er den reinen Künstler Shakespeare ablehnte (Better than Shakespear in: 'Dramatic Opinions') und Wagner und Ibsen als Gesinnungsgenossen in Anspruch nahm, gaben seine ersten Schauspiele (Widowers' Houses, 1892; The Philanderer, 1893; Mrs. Warren's Profession, 1893) eine ernste Kritik der Mittelstandsmoral und entkleideten Liebe und Heldentum ihres falschen romantischen Glanzes. Da das Publikum diese „unerquicklichen Stücke" ablehnte, machte Shaw seine Sozialkritik fortan durch witzige und närrische Einfalle „erquicklich". Man lachte über die Zerstörung des Heldenideals, wenn der geflüchtete 'chocolate soldier' Bluntschli seinem romantischen Offiziersrivalen den Rang abläuft (Arms and the Man, 1894) und Napoleon, Risotto essend, Schlachtpläne entwirft (The Man of Destiny, 1897). Die späteren Komödien steigern die witzig-spielerische Haltung zu größerer Leichtigkeit; sie bleiben aber Beiträge zur Kulturkritik. So ironisiert die „Historic" Caesar and C/eopa/rfl(1898)denherkömmlichenHeldenkultdesrömischenHerrschers,ohne ihm seine wirkliche Größe zu nehmen; John Bull's Other Island (1904) und O'Flaherty V. C. (1915) handeln über die irische Frage und die komische Figur des Theater-Iren, Candida (1895) und Getting Married (1908) über die wirkliche Gattin und ihre modernen Zerrbilder, The Devil's Disciple (1897) über die wahre Natur des Militarismus, The Doctor's Dilemma (1906) über Arzt und Kurpfuschertum. Major Barbara (1905) zeigt am Beispiel der Heilsarmee, daß auch eine religiöse Organisation für ihre Arbeit auf „beflecktes Geld" angewiesen ist, und bestätigt die These des Munitionsfabrikanten Undershaft, daß Armut das größte soziale Verbrechen ist. In Pygmalion (1913), einer brillanten Satire auf den Snobismus, gelingt es dem Phonetikprofessor Henry Higgins (für den Sweet das Vorbild abgab) durch intensive Sprachschulung das Cockney sprechende Londoner Blumenmädchen Eliza Doolittle in eine Dame zu verwandeln und somit die Klassenschranken zu überwinden. Da Higgins jedoch keinerlei Rücksicht auf Elizas Gefühle nimmt, berührt die Komödie zugleich das tiefere Problem, daß ein Mensch nie als Mittel zu einem Zweck benutzt werden darf. Auch die das Lachen der Zuschauer sichernde Umkehrung des Liebesthemas mit der den Mann verfolgenden Frau, ein Thema, das schon in You Never Can Tell (1900) anklang und in Man and Superman (1903, aufgef. 1905) die große Ausarbeitung erhielt, hat mit der auf Nietzsche, Butler und Schopenhauer gegründeten Lehre von der 'life-force' einen ernsten Kern. Der Frau als unbewußter Trägerin dieses Willens zur Evolution kommt eine aktive und biologisch wichtige Rolle für die Höherentwicklung des Menschengeschlechtes zu. Die 'life-force' erscheint dem Evolutionisten Shaw geradezu als die im Menschen wirkende göttliche Kraft, und ein fast religiöser Ton, der bereits in Captain Brassbound's Conversion (1900) vorklang, durchdringt das melodramatische The Shewing-up of Blanco Posnet (1909) und bleibt auch in der grotesken Komik von Androcles and the Lion

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(1913) vernehmlich. Der erste Weltkrieg bedeutete eine Erschütterung der Shawschen Philosophie, und das unter Tschechows Einfluß geschriebene Heartbreak House (1920, geschr. 1916) warnt vor den zum geistigen Tod führenden Irrwegen unserer Kultur. Back to Methuselah (1921) wird zur eindringlichen Mahnung an die Pflicht des Menschen zur Aufwärtsentwicklung. An die Stelle der Darwinschen Lehre der natürlichen Auslese tritt die vitalistische Theorie schöpferischer Evolution: Der Weg zum Übermenschen liegt vor uns; es bedarf zur Verwirklichung dieser Möglichkeit nur eines nie erlahmenden Willens. Das Ziel der Entwicklung ist nicht Glück, sondern die der Lebenskraft gehorchende Tat. Das ist die Botschaft dieses überlangen modernen Pentateuchs. In dem Drama Saint Joan (1923), welches das Wirken der 'life-force' in einem bestimmten historischen Augenblick darstellt, erscheint Johanna als die erste „protestantische" Märtyrerin, weil sie ihre „Stimmen", d. h. ihr Gewissen, über das Urteil der Kirche stellte; und da sie in der Kriegführung wie in der Sozialordnung die feudalistischen Vorstellungen sprengte, wurde sie zur ersten modernen Heerführerin und zur ersten Nationalistin. Der Skeptiker Shaw hatte kein Organ für die Gläubigkeit des Mittelalters, so daß sich zwangsläufig Verzeichnungen ergaben. Gleichwohl gestaltet sein „Chronikstück" einen echten tragischen Konflikt: den Zusammenstoß des seine Zeit überragenden Einzelnen mit den auf Stabilität bedachten Vertretern der hergebrachten Ordnung. Da Shaw in unparteiischer Weise beide Standpunkte als notwendig und damit den Konflikt als unvermeidlich anerkennt, wird die große Gerichtsszene zu einem ergreifenden Höhepunkt. Der Epilog gestaltet die tragische Einsicht, daß die Nachwelt Johanna zwar heilig gesprochen hat, ihr aber bei einer Rückkehr auf die Erde das gleiche Schicksal bereiten würde. 'Saint Joan', Shaws Version von Dostojewskis „Großinquisitor", ist sein bewegendstes und zugleich sein letztes bedeutendes Drama. Die späteren Schauspiele (The Apple Cart, 1929; The Millionairess, 1936; In King Charles's Golden Days, 1939) erreichen nur noch in Einzelszenen die frühere Brillanz. Indem die Shawsche Komödie ein Thema von verschiedenen Standpunkten her erörtert, formt sie die Einzelszene zur Debatte um. Es herrscht folglich keine Handlungs-, sondern eine Ideenspannung, die in dem gewandten, witzigen und paradoxen Dialog eine ungemein lebendige Wirkung ausübt. Shaw hat die Bühne zur Plattform gemacht und auf ihr die brennenden Fragen seiner Zeit erörtert. Gleichwohl wird man zögern, seinen soziologischen Thesen ausschlaggebende Bedeutung für seine Kunst zuzumessen, obwohl Shaw selbst dies immer wieder behauptet hat. Seine besten Komödien sind mehr als Diskussionsstücke, sie stoßen in den Bereich des allgemein Menschlichen vor und haben deshalb die Zeitprobe bestanden. Dieser so nüchterne und praktische Geist besaß eine einzigartige Kraft schöpferischer Phantasie; er schuf eine unverwechselbar eigene Welt mit einer vielfarbigen Gestaltenfülle. Shaws Einfluß, der die meisten Dramatiker berührte, ist auch in der stärker satirischen Komödie von WILLIAM SOMERSET MAUGHAM10 (1874-1965) 10

Collected Plays, 3 Bde. (1952). - P. Dottin, Le theatre de W. S. M. (Paris, 1937); R.

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fühlbar. Aber nach dem „unerquicklichen" Erstling A Man of Honour (1903) wandte sich Maugham einer erfolgreichen Theaterschriftstellerei zu, die sich mit Neuformung überkommenen dramatischen Guts begnügte, jedoch brillante Stücke zeitigte (Penelope, 1909). Tiefer greifen Our Betters (1923, geschr. 1915) und The Constant Wife (1926), in denen sich das witzig-desillusionistische Spiel der Restaurationskomödie erneuert. Einen Höhepunkt in seinem Schaffen bedeutet The Circle (1919), während die späteren Stücke The Breadwinner (1930), For Services Rendered (1932) und Sheppey (1933) das Komödienlachen in bitter zynischer Lebenskritik ersticken. Offenbar ließ die hoffnungslose Stimmung der Nachkriegsgeneration eine heiter-spielende Komödie nicht mehr zu, und selbst Theatertalente wie FREDERICK LONSDALE (1881-1954) und NOEL COWARD" (1899-1973) bringen meist ein kritisch-spöttisches oder zynisches Lächeln, wofür als Beispiele etwa Lonsdales The Last of Mrs. Cheyney (1925) und Cowards Design for Living (1933) genannt seien. Beachtliche Theatererfolge erzielte auch TERENCE RATTIGAN (1911-1977) mit unterhaltsamen Komödien (French Without Tears, 1936; Love in Idleness, 1944) und Problemstücken (The Winslow Boy, 1946; The Deep Blue Sea, 1952) sowie PETER USTINOV (geb. 1921) (z. B. Romanoff and Juliet, 1957; Photo Finish, 1963).

3. Das irische Drama12 Von größter Bedeutung für die Entwicklung des irischen Dramas war die Gründung des Irish Literary Theatre (1899), aus dem die Irish National Theatre Society hervorging, die das Abbey Theatre13 in Dublin trotz vielfacher Widerstände zu einer Stätte hoher Kunst machte. WILLIAM BUTLER YEATS14 (1865-1939) war die treibende Kraft dieser Gründungen. Mit seinem Namen ist die Wiedergeburt des poetischen Dramas verbunden, das in Abwendung von dem herrschenden Realismus das Drama in den Bereich des Typischen, der großen, überindividuellen Leidenschaften zurückzuführen suchte. Mander and J. Mitchenson, A.Theatrical Companion to S. M. (1955). S. auch S. 957, Anm. 10. 11 Play Parade, 6 Bde. (1934-62). - C. Lesley, N. C. (1976). 12 U. Ellis-Fermor, The Irish Dramatic Movement (21954); R. Hogan, After the Irish Renaissance: A Critical History of the Irish Drama Since The Plough and the Stars' (Minneapolis, 1967). 13 L. Robinson, Ireland's Abbey Theatre (1951); G. Fay, The Abbey Theatre: Cradle of Genius (1958). 14 The Collected Plays (21952); The Variorum Edition of the Plays, ed. R. K. Alspach (1966). - G. B. Saul, Prolegomena to the Study of Y.'s Plays (Philad., 1958); P. Ure, Y. the Playwright (1963); L. E. Nathan, The Tragic Drama of W. B. Y.: Figures in a Dance (N. Y., 1965); K. P. Jochum, Die dramatische Struktur der Spiele von W. B. Yeats (Frankfurt, 1971); J. R. Moore, Masks of Love and Death: Y. as Dramatist (Ithaca, 1971); R. Taylor, The Drama of W. B. Y.: Irish Myth and the Japanese No (New Haven, 1976). S. auch S. 855, Anm. 5.

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Seine dramatische Entwicklung läuft seiner früher abgehandelten dichterischen Entwicklung parallel (s. S. 855 ff.)· Er begann mit dem Legendenspiel The Countess Cathleen (1892, aufgef. 1899). Die Heldin Cathleen - Verkörperung der Seele Irlands und Spiegelbild seiner Geliebten Maud Gönne, die ihr Leben in den Dienst der irischen Sache stellte - verschreibt sich dem Teufel, um ihre Landsleute, die in einer Hungersnot ihre Seelen verkauft haben, vor der Hölle zu retten. Als Cathleen stirbt, belohnt jedoch der Himmel ihren selbstlosen Opferwillen und bewahrt ihre Seele vor dem Zugriff der Dämonen. Märchenspiel ist auch The Land of Heart's Desire (1894), in welchem der Ruf der Naturgottheiten die junge Bauersfrau in die Feenwelt entführt. Diese an Maeterlinck oder Morrissche Bildteppiche gemahnenden Frühwerke haben große poetische Schönheiten, doch ist die Verschmelzung der Phantasiewelt mit der realen, heimisch-bäuerlichen Sphäre nicht restlos gelungen. Einen weiteren Schritt zum Symbolismus hin bedeutet das dramatische Gedicht The Shadowy Waters (1900). Mehrfach umgeschrieben, am überzeugendsten in der Fassung von 1906, gestaltet das Stück das Lieblingsthema des jungen Yeats: das Heimweh der Seele nach der idealen Welt, ihr Streben nach Selbstvollendung. Von der Sehnsucht nach vollkommener Liebe getrieben, folgt König Forgael den grauen Seelenvögeln und durchfährt die zeichenlose Einsamkeit unbekannter Meere, bis er, mit Dectora vereinigt in 'unimaginable happiness', eingeht in die Wirklichkeit des Traumes. In dieser Dichtung von eindringlicher Klang- und Farbschönheit haben die Charaktere kaum noch individuelle Züge, sie sind gestaltgewordene Emotionen und Traumsymbole. Im ahnenden Umspielen des Symbols wurzelt Yeats' Glaube an die königliche Berufung des Dichters (The King's Threshold, 1903); seine Träume erheben sich zu der ersehnten Welt, sie sind das Wesentliche, von dem die Wirklichkeit nur ein blasses Abbild ist. Darum sind die Figuren mit Ausnahme der die irische Freiheitsstimme bedeutenden Cathleen ni Houlihan (1902) - schattenhaft gezeichnet; sie sind „nur Spiegel, auf die schlafmüde Götter Träume hauchten". Solche Dramen müssen auf Theaterwirkung verzichten, sie brachten jedoch die Wiedereroberung der dichterischen Phantasie. Die Zeit war reif dafür, wie die freundliche Aufnahme von Deirdre und On Baile's Strand zeigt. Die Tragödie der Deirdre (1906), der von allen Dichtern der keltischen Renaissance besungenen irischen Helena, drängte Yeats nach dem Vorbild des antiken Dramas auf die letzte Phase ihres Lebens zusammen, ihre Liebesvollendung im Tod. On Baile's Strand (1904) gestaltet jene tragische Episode in Cuchulains Leben, in welcher der Held im Kampf unwissentlich den eigenen Sohn tötet, den er mit der Kriegerkönigin Aoife gezeugt hatte. Als er erfährt, wer der Erschlagene ist, stürzt er sich, vor Schmerz wahnsinnig, in die anbrandenden Fluten, die er für seine Feinde hält, und schlägt mit dem Schwert auf sie ein, bis er von ihnen überwältigt wird. Um die Zeit des ersten Weltkriegs erfolgte eine Neuwendung der Yeatsschen Dramatik. Yeats hatte im Winter 1913/14 durch Ezra Pound das ja-

///. Das Drama

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panische Nö-Spiel kennengelernt, dessen rein symbolische Form er als eine künstlerische Befreiung empfand. Nach diesem Vorbild schrieb er At the Hawk's Well (1917), das später mit The Only Jealousy of Emer (1919), The Dreaming of the Bones (1919) und Calvary (1920) als Four Plays for Dancers (1921) zusammengefaßt wurde. Das ins 14. Jahrhundert zurückreichende Nö ist ein kurzes, stilisiertes Drama mit wenigen Schauspielern und geringer szenischer Ausstattung. Die Schauspieler tragen Masken oder sind entsprechend geschminkt; ihre Sprache ist streng und karg. Musiker begleiten das Bühnengeschehen mit Trommel und Zither sowie Gong oder Flöte; ein stilisierter Tanz bildet den Höhepunkt des Spiels. Dieses aristokratische Drama, das die vollendete Harmonie von Wort, Tanz, Gesang und Musik erstrebt, erschien Yeats als die Form, nach der er von Anfang an gesucht hatte. Fortan schrieb er für ein kleines, ausgewähltes Publikum. In At the Hawk's Well, das als Beispiel dienen mag, kommt der junge Cuchulain zu einem magischen Brunnen, dessen Wasser Unsterblichkeit verleiht. Schon seit fünfzig Jahren wartet hier ein alter Mann auf den heiligen Trank, doch bei jedem Aufwallen der wunderwirkenden Quelle versenkte ihn eine Fee in tiefen Schlaf. Auch der junge Cuchulain wird im entscheidenden Augenblick von dem Zauberbrunnen fortgelockt. Immer wieder wird der Mensch durch das Leben um die Erkenntnis seiner eigentlichen Bestimmung betrogen. Wie in den früheren Dramen beruht der Konflikt in den Four Plays for Dancers auf der Spannung zwischen der natürlichen Welt und einer höheren Realität. Auch hier ist die Atmosphäre irisch; nicht der zarte Hauch japanischer Kirschblüten liegt über diesen Spielen, sondern die herbe Kraft irischer Mythen und Symbole. Aber im Unterschied zu früher ist die Sprache ganz zum Gefäß des Geistigen geworden, und die Symbole sind nicht mehr von einem Halbschatten vager, emotionaler Assoziationen umgeben. Auf diesem Weg ist Yeats weitergegangen bis hin zu Purgatory (1939), in dem die Toten erneut ihre Schuld durchleben und ihre Vergehen sühnen, und The Death of Cuchulain (1939), einem rituellen Spiel vom Ende Cuchulains, dem ein Blinder den Hals durchschneidet, nachdem ihn Aoife mit ihrem Schleier festgebunden hat. Wenn man auch Bedenken hegen wird, ob das magische Ritual, die esoterische Philosophie und der erstrebte reine Symbolismus, der vom Zuschauer tiefe Versenkung verlangt, geeignete Mittel für eine Neugeburt des Dramas waren, so ist doch Yeats' Wiedereroberung des Verses, des Mythos, des Symbols als der eigentlich dichterischen Elemente für alle folgenden Versuche im poetischen Drama von großer Bedeutung. Der begabteste Dramatiker der keltischen Renaissance war JOHN MILLINGTON SYNGE15 (1871-1909). Yeats, der ihn 1896 in Paris entdeckte, riet ihm, die 15

Collected Works, edd. R. Skelton et al., 4 Bde. (1962-68, OET); Plays and Poems, ed. T. R. Henn (1963); EL; Autobiography, ed. A. Price (Dublin, 1963); Interviews and Recollections, ed. E. H. Mikhail (1977); Letters to Molly, ed. A Saddlemyer (Cambr., Mass., 1971); Some Letters to Lady Gregory and W. B. Yeats, ed. A. Saddlemyer (Dublin, 1971). - D. H. Greene and E. M. Stephens, J. M. S. (1959); A. Price, S. and Anglo-Irish Drama (1961); N. Grene, S.: A Critical Study of the Plays (1975); R. Skelton, The Writings of J. M. S. (1971).

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Aran Islands an der irischen Westküste zu besuchen, die damals von der modernen Welt noch fast unberührt geblieben waren/Der Aufenthalt kam für Synge einer Entdeckung gleich. Seine tagebuchartigen Skizzen The Aran Islands (1907) zeichnen eindrucksvolle Bilder der einfachen Fischer und Bauern, die ein einsames, stets bedrohtes, aber intensives Leben führen und der Gefahr lachend ins Auge sehen. Die Berührung mit den Inselbewohnern hat nicht nur Synges Weltanschauung geprägt und ihm Stoffe und Themen für seine Dramen geliefert, hier fand er vor allem eine kraftvolle, bildhafte und kadenzenreiche Sprache, die noch eine unmittelbarere Beziehung zur Seele des Volkes hatte als die Hochsprache. Diesen angloirischen Dialekt, der in Rhythmik, Metaphorik und syntaktischen Fügungen nachhaltig vom Gälischen beeinflußt war, hat Synge für seine Zwecke nutzbar gemacht. Zwei von den sechs Bühnenwerken Synges sind Tragödien. Das Kurzdrama Riders to the Sea (1904) stellt das heldenhafte Dulden der ihres letzten Sohnes beraubten Mutter der Elementargewalt des Meeres gegenüber. Die alte Maurya muß den bitteren Kelch trostlosen Leidens bis zur Neige austrinken. Doch indem sie die unausweichliche Tragik des Lebens hinnimmt und durchsteht, erhebt sie sich über das Schicksal und findet zur Aussöhnung mit dem Leben. Deirdre of the Sorrows (1910) ist die vielleicht ergreifendste dramatische Gestaltung dieser irischen Sage, obwohl es Synge nicht vergönnt war, letzte Hand an das Werk zu legen. Anders als Yeats konzentriert er seine Tragödie nicht auf die Schlußphase, die Liebesvollendung im Tod, sondern stellt in drei Akten die wichtigsten Stationen im Leben der Liebenden dar. Weil Deirdre weiß, daß ihr einzigartiges Liebesglück mit Naisi unwiederbringlich dahin ist, wird für sie der Tod das Mittel, der Vergänglichkeit zuvorzukommen und die Vollkommenheit ihrer Liebe zu bewahren. Synges früheste Komödie, das Kurzdrama In the Shadow of the Glen (1903), benutzt das alte Possenmotiv von dem Mann, der seine Frau der Untreue verdächtigt und sich totstellt, um sie zu ertappen. Aber wenn die Volkserzählung darauf angelegt ist, die weibliche Treulosigkeit bloßzustellen und zu bestrafen, so zeigt Synge Verständnis für die Sehnsucht der Frau, die sich in einer lieblosen Ehe um ihr Lebensglück betrogen fühlt. Sie ist ohne weiteres bereit, auf ihre Sicherheit zu verzichten, und geht mit einem Landstreicher hinaus in die Freiheit, in ein Leben der Gefahr, aber, wie sie hofft, auch der Erfüllung, während ironischerweise ihr alter Mann und der ursprüngliche Liebhaber sich zu einem Trunk zusammenfinden. Der Konflikt zwischen einem ehrbar-phantasielosen und einem ungesicherten, aber leidenschaftlichen Leben ist ebenfalls das Thema des derben Schwanks The Tinker's Wedding (1907). Synges erstes dreiaktiges Drama, The Well of the Saints (1905), handelt von einem alten blinden Bettlerpaar, das eines Tages durch einen Heiligen von seinem Leiden geheilt wird. Enttäuscht über die eigene Häßlichkeit geraten die beiden bald in bitteren Streit, bis das erneute Erlöschen des Augenlichts sie wieder in alter Kameradschaft vereint. Sie sind glücklich in ihrer Illusion und lehnen eine neuerliche Heilung durch das Brunnenwasser ab - eine bittere Komödie mit einem scharfen Blick für die menschliche Situation.

III. Das Drama

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Auch Synges bestes Drama, The Playboy of the Western World (1907), ist eine Variation über das Thema von Sein und Schein. Die Handlung ist reizvoll ungereimt. Christy Mahon erzählt in einem einsamen Dorf an der Westküste, daß er seinen betrunkenen Vater erschlagen habe, und unter der staunenden Bewunderung der Dorfbewohner erwacht seine üppig ausgestaltende Phantasie. Der Mythenbildner wider Willen wächst immer stärker in seine Heldenrolle hinein, besiegt im sportlichen Wettkampf alle Männer des Dorfes und gewinnt sogar die Liebe der Wirtstochter Pegeen, die fasziniert ist von seiner Wildheit und poetischen Sprache. Doch im Augenblick des Triumphes erscheint plötzlich der „tote" Vater, schlägt seinen aufschneiderischen Sohn zu Boden, und aus dem Staunen des Dorfes wird schallendes Lachen. Um Pegeens Achtung wiederzuerlangen, stürzt Christy dem Vater nach und schlägt ihn anscheinend wirklich tot. Das Dorf ist entsetzt und bindet ihn als Mörder; denn es besteht, wie Pegeen sagt, ein großer Unterschied zwischen einer schönen Erzählung und einer schmutzigen Tat. Da erscheint der Vater ein zweites Mal und rettet den Sohn vor dem Galgen. Mit dem Fortgang der beiden verlischt jedoch für Pegeen ein Licht. Verblendet hatte sie nicht erkannt, daß in Christy der Traum ihrer Seele Wirklichkeit geworden war. Pegeens Weh um das verlorene Ideal, das sich Luft macht, indem sie ihren früheren Bräutigam ohrfeigt, unterstreicht die komödienhafte Gestaltung des tragischen Enttäuschungsthemas. Die anderen Beiträger des irischen Theaters waren kleinere Talente. LADY ISABELLA AUGUSTA GREGORY16 (1852-1932), deren Leben so völlig dem irischen Theater gewidmet war, daß dessen Geschichte zugleich ihre Autobiographie ist (Our Irish Theatre, 1913), betätigte sich in allen dramatischen Gattungen. Von den Trauerspielen sind die kurzen Einakter von der Art des The Gaol Gate (1906) mit der realistischen Frauenklage um den zu Unrecht Gehenkten wirksamer als die längeren Stücke (z. B. Grania, 1912); und der Versuch, die irische Bauernsprache auf das historische Drama anzuwenden (in den 'Irish Folk-History Plays', z.B. The White Cockade, 1905, über James II), mußte in seiner Bedeutung auf Irland beschränkt bleiben. Anders liegt der Fall bei den Komödien, die wie Synge, wenn auch weniger tief, das irische Wesen als eine Ausdrucksform der Menschheitskomödie betrachten. Meist sind es groteske Situationen - der vergeblich gegen seinen tugendhaften Ruf angehende Hyacinth Halvey (1906), die väterliche Trostrede des Gauners an den übertölpelten Schutzmann in The Rising of the Moon (1907), die Wirklichkeitskraft eines unsinnigen Gerüchtes in Spreading the News (1904) -, aus denen sich in lautem Humor die Einakter entfalten. Neben diesen Heimatstücken schrieb Lady Gregory eine Übersetzung Molieres in die anglo-irische Mundart (The Kiltartan Moliere', 1910), um der irischen Bühne den Anschluß an die Weltliteratur zu verschaffen. '*The Coole Edition of the Works, edd. T. R. Henn and C. Smythe, 13 Bde. (Gerrards Cross, 1970ff., i. E.); Selected Plays and Prose, ed. E. Coxhead (1962); Journals, ed. L. Robinson (1946); Interviews and Recollection, ed. E. H. Mikhail (1977). - E. Coxhead, Lady G.: A Literary Portrait (1961); A. Saddlemyer, In Defense of Lady G., Playwright (Dublin, 1966).

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EDWARD MARTYN I? (1859-1923) versuchte dasselbe mit der Übertragung des europäischen Realismus (The Tale of a Town, von George Moore umgearbeitet als The Bending of the Bough, 1900), näherte sich dann aber Ibsens Symbolismus (The Heather Field, 1899), um in Maeve (1900), wie vor ihm Yeats, die Welt der Feen oder das heimliche Irland mit der stofflichen Tatsachenwelt zusammenstoßen zu lassen. Martyns Begabung für diese Mischung von Realismus mit Übernatürlichem ist in An Enchanted Sea (1902) und The Dream Physician (1914) weiterentwickelt, aber in keinem der Stücke gelang ein dramatisch überzeugender Ausdruck. Ebensowenig vermochte sich PADRAIC COLUM IS (1881-1972) mit seinen realistischen Stücken The Broken Soil (1903, später umgearbeitet als The Fiddler's House, 1907), The Land (1905) und Thomas Muskerry (1910) durchzusetzen, obwohl er schon in seinem Erstling eine eigene und theatergerechte Begabung verriet. LENNOX ROBINSON19 (1886-1958) gab in den Bauernstücken The Clancy Name (1908) und Harvest (1910) realistische Bilder des irischen Lebens, zeigte aber, beginnend mit dem Bühnenerfolg The White-Headed Boy (1916), eine Entwicklung in Richtung auf die Sittenkomödie, die, besonders in tragikomischer Wendung, seine Stärke blieb (The Far-Off Hills, 1928; Church Street, 1934). SEAN O'CASEY20 (1880-1964), der in naturalistischen Bahnen begann, aber bald unter den Einfluß des Expressionismus geriet, ist der bedeutendste irische Dramatiker nach Synge. Er hatte seinen ersten Erfolg beim Publikum mit dem Zweiakter The Shadow of a Gunman (1923). Ihm folgte das Meisterwerk Juno and the Paycock (1924), das vor dem Hintergrund des irischen Freiheitskampfes und der revolutionären Feme das Schicksal einer Familie aus dem Dubliner Elendsviertel gestaltet. Das Drama vereinigt in nachdenklich machender Mischung Melodram und Ironie, grotesk lebensfreudigen Humor und ergreifende Tragik. Als die Familie am Ende ruiniert ist, steht die derbe, zupackende Juno in schlichter Selbstverständlichkeit zu ihrer verführten, verzweifelten Tochter und trennt sich von ihrem arbeitsscheuen „Pfau", einem Nachfahren von Synges Playboy und Shakespeares Falstaff. Juno ist das moralische Zentrum der Tragikomödie. Ihre Botschaft, daß die Menschen Dummheit, Haß und vor allem ihre „Grundsätze" überwinden müssen, bildet 17

The Heather Field und Maeve (repr. 1917); beide Dramen auch in der DePaul University Irish Drama Series, ed. W. J. Feeney (Chicago, 1966 und 1967). - D. Gwynn, E. M. and the Irish Revival (1930); M.-T. Courtney, E. M. and the Irish Theatre (N. Y., 1956). 18 Three Plays (Dublin, 1963). - Z. R. Bowen, P. C: A Biographical-Critical Introduction (Carbondale, 111., 1970). 19 Selected Plays, intr. C. Murray (Gerrards Cross, 1983) [Irish Drama Selections 1].— M. J. O'Neill, L. R., TEAS (N. Y., 1964). 20 Collected Plays, 4 Bde. (1949-51); Three Plays (1966); Three More Plays (1966); Autobiographies, 6 Bde. (1939-51; repr. in 2 Bden. 1981); Letters, ed. D. Krause (1975ff., i. E.). - D. Krause, S. O'C: The Man and His Work (1960); R. Hogan, The Experiments of S. O'C. (N. Y., 1960); S. Cowasjee, S. O'C.: The Man Behind the Plays (Edinb., 1963); H. Kosok, S. O'C: Das dramatische Werk (Berlin, 1972); J. R. Scrimgeour, S. O'C., TEAS (Lo./Boston, 1978).

III. Das Drama

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auch das Thema des nach dem Symbol des irischen Freiheitskampfes benannten Dramas The Plough and the Stars (1926). Das Stück hat keine Mittelpunktsfigur, sondern, die Zerrissenheit Irlands spiegelnd, eine Reihe gleichberechtigter Figuren mit nebeneinander herlaufenden und kontrastierenden Handlungssträngen, die das Geschehen intensivieren. Daß der Dichter den Osteraufstand von 1916 als ein sinnloses Opfer deutete, entfachte einen Sturm der Entrüstung, der O'Casey ins englische Exil trieb. In seiner weiteren Entwicklung verband O'Casey den Realismus mit expressionistischer Allegorik. Die bezeichnendsten Beispiele dieser neuen Phase sind die zum Bruch mit Yeats führende pazifistische Tragikomödie The Silver Tassie (1928), die in dem Schicksal eines gelähmt aus dem Krieg zurückkehrenden Fußballstars die Inhumanität des Krieges dokumentiert, und das im Londoner Hyde Park spielende Within the Gates (1933), in dem ein junges Mädchen, bedrängt von lebensbejahenden und -verneinenden Kräften, seinem Dasein einen Sinn zu geben versucht. Das in den Rahmen des Jahreszeitenzyklus gespannte Stück wird am Ende zu einem Hymnus auf die Lebensfreude und Schönheit, doch wird seine Wirkung beeinträchtigt durch die Didaktik und eine zu große Vielfalt von Figuren, Formen und Gedanken. In dem unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs geschriebenen The Star Turns Red (1940), das seine Vision des neuen kommunistischen Zeitalters propagiert, ebenso wie in Red Roses for Me (1942) und Oak Leaves and Lavender (1946) benutzt O'Casey seine Helden zu sehr als Sprachrohr für seine politischen Überzeugungen. Für alle diese Stücke ist charakteristisch, daß die Einzelszenen stärker verselbständigt sind und Bühnenbild und szenische Ausstattung dazu dienen, das Sinnbildhafte des Geschehens hervorzukehren. Bis zu einem gewissen Grade trifft dies auch auf O'Caseys Alterswerk zu, jene Stücke, die man als Erweckungsdramen für Irland bezeichnet hat: CockA-Doodle Dandy (1949), The Bishop's Bonfire (1955) und The Drums of Father Ned (1958). Sie üben Kritik an der Bevormundung durch Kirche und Staat im neuen Irland und fordern die Jugend auf, entgegen dem Willen ihrer Väter und des Klerus, der neuen Heilsbotschaft von Father Ned zu folgen und ein Reich von dieser Welt zu bauen. Erst die letzten Dramen (Behind the Green Curtains u. a., 1961) zeigen ein Nachlassen der Gestaltungskraft. Wenn O'Casey durch die tendenziöse Ausrichtung seiner Dramatik an künstlerischer Überzeugungskraft eingebüßt hat, so beweisen selbst diese Dramen seine Gabe, Alltagsmenschen in dichterischer Sprache reden zu lassen und einen Schwebezustand zwischen Traum und Wirklichkeit zu beschwören. Auch seine große Autobiographie kennzeichnet dieselbe faszinierende Mischung von Phantasie und Realismus. Mit O'Casey verbindet DENIS JOHNSTON21 (geb. 1901) eine große Experimentierfreude. Seine von Strindberg und Pirandello beeinflußten Dramen 21

Collected Plays, 2 Bde. (1960); The Dramatic Works of D. J. (Gerrards Cross, 1977ff.). - H. Ferrar, D. J.'s Irish Theatre (Dublin, 1973).

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erörtern scharfsinnig und unkonventionell mit ausgesprochener Neigung zu ironischer Betrachtung und Groteske politische und ethische Probleme (The Old Lady Says, No!, 1929; The Moon in the Yellow River, 1931; A Bride for the Unicorn, 1933; The Scythe and the Sunset, 1958).

4. Das nachrealistische und das poetische Drama in England22 Wie in Irland fand auch in England eine Erneuerung des poetischen Dramas statt. Keltische Abstammung mag mit diesem Hervortreten der Phantasie zu tun haben, und es ist wohl berechtigt, die Übersicht mit dem Schotten JAMES MATTHEW BARRIE23 (1860-1937) zu beginnen. Barrie, der mit schottischen Heimatgeschichten anfing (Auld Licht Idylls, 1888) und als einziger der 'Kailyard School' das sentimentale Idyll durch Humor erhöhte, gab sein Bestes und Eigenartigstes im Drama. Schon vor Shaw errang er Theatergeltung mit gefühlsreichen Humoresken wie der Dramatisierung seines Romans The Little Minister (1897), so daß er es wagen konnte, auch unerquickliche Stücke wie The Wedding Guest (1900) auf die Bühne zu bringen. Durchschlagend war der Erfolg des Peter Pan (1904), eines gleicherweise an die Iren und an Maeterlinck erinnenden Märchenspiels, in dem sich Wirklichkeit, Groteske und Feenherrlichkeit verbinden; gleichzeitig weben sich Träume der Seele in die des Kindes, und wie das berühmteste englische Märchenbuch Alice's Adventures in Wonderland (s. S. 812) spricht dies Spiel zum Kinde in uns allen. Nachdenklichkeit mischt sich auch in das Lachen über The Admirable Crichton (1902), den konservativen Diener, der seines Herrn neuzeitliche Gleichheitsideen nicht anerkennt und, auf eine Insel verschlagen, zeitweilig die seiner praktischen Tüchtigkeit gebührende Machtstellung einnimmt. Schon in dem Einakter The Twelve-Pound Look (1910) wies Barrie mit ironischem Humor behutsam, aber ebenso wirkungsvoll wie die naturalistische Gesellschaftskritik, alle Illusionen zurück; und in der reizvoll erfundenen Handlung von Dear Brutus (1917) bleiben die Menschen in den von ihnen erträumten Lebenslagen das, wozu sie ihr Charakter bestimmte. Barries Dramen verbinden Sentimentalität und Pathos mit gutmütigem Spott und Ironie; wie Andersens Märchen sehen sie das Leben mit den Augen des Kindes, aber mit plötzlich qualvollem Erfassen von Leid und Grausamkeit. Das freie Spielen mit der Wirklichkeit, das sich z. B. nicht scheut, eine geheimnisvoll 23 Jahre entrückte Person gespenstig wiederauftreten zu lassen (in Mary Rose, 1920), um zu zeigen, daß es nicht gut ist, die Rückkehr derer zu wünschen, die wir verloren haben, mag dramatisch nicht immer überzeugen, es sucht aber einen Weg vom Realismus zum symbolischen Drama. 22

P. Thouless, Modern Poetic Drama (Oxf., 1934); E. Bentley, The Modern Theatre: A Study of Dramatists and the Drama (1948); D. Donoghue, The Third Voice: Modern British and American Verse Drama (Princeton, 1959). 23 The Works of J. M. B., 14 Bde. (N. ., 1929-31); The Plays of J. M. B., ed. A. E. Wilson (1942); Letters, ed. V. Meynell (1942). - J. A. Roy, J. M. B. (1937); J. Dunbar, J. . .: The Man behind the Image (1970).

III. Das Drama

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Als einen Nachfolger Barries kann man den schottischen Arzt JAMES BRIDIE24 (Pseudonym für Osborne Henry Mavor, 1888-1951) ansprechen. Wie Barrie durch das Nebeneinander von Alltagsrealismus und poetischer Phantasie moderne Fragestellungen erörterte, so hat Bridie anachronistisch und grotesk in zahlreichen Dramen Lehre und Zeitkritik gegeben. Mehrere seiner Stücke haben biblische Stoffe zum Vorwurf, wie Jonah and the Whale (1930), das den Propheten als einen gewöhnlichen Menschen sieht und seine Schwächen humorvoll entlarvt. Bridie will auf unterhaltsame Weise zur Nachdenklichkeit anregen und enthüllt im scheinbar Außergewöhnlichen das Durchschnittliche und Alltägliche. A Sleeping Clergyman (1933) rafft in einer revueartigen Folge von neun Szenen das Leben dreier Generationen und beweist, entgegen der landläufigen Auffassung von Vererbung, daß scheinbar negative, zerstörerische Anlagen sich in einer späteren Generation durchaus positiv auswirken können. In Mr. Bolfry (1943) legt der in einer Seance beschworene Teufel beredt dar, daß das Universum nur als ein Gefüge von einander widerstreitenden Mächten zu verstehen sei und daß es ohne das Böse überhaupt keine Bewegung im Leben gebe. Daphne Laureola (1949), Bridies größter Bühnenerfolg, ist ein realistisch-analytisches Drama, das Zug um Zug die Lebensgeschichte einer Neurotikerin enthüllt, die sich dem Trunke ergeben hat, weil sie (wie die Apollo-Daphne-Mythe andeutet) keinen Partner fand, der ihr Erfüllung gab. Bridie ist ein geschickter Dramatiker, der uns mit Witz und Ironie in Spannung zu halten versteht. Unglücklicherweise schrieb er mit zu leichter und flinker Hand, so daß die meisten seiner Stücke einen lockeren, sorglosen Bau und schwachen Schluß aufweisen. Das Versdrama war seit der Romantik bühnenfremd. Das änderte sich, als der bühnenkundige STEPHEN PHILLIPS25 (1864-1915) mit Paolo and Francesco (1899, aufgef. 1902) einen Publikumserfolg errang. Statt der monologischen Reden (die z. B. Brownings Dramen kennzeichnen) brachte Phillips einen sprechwirksamen Dialog und ersetzte die undramatisch-zergliedernde Charakterdarstellung durch spannende Handlung. Diese dramatischen Werte, die in der Aneinanderreihung gegensätzlich gestimmter Szenen besonders wirkungsvoll hervortraten, erlaubten eine starke lyrische Belastung. Die späteren Dramen (Nero, 1906; Pietro ofSiena, 1910; The King, 1912) zeigen allerdings ein Überwuchern des Lyrischen bei gleichzeitiger Neigung zu opernhaften und melodramatischen Effekten - Schwächen, die bei kleineren Talenten wie JAMES ELROY FLECKER26 (1884-1915) in Künstlichkeit und orientalischen Schauprunk ausarten. Auch die Dramen von GORDON BorroMLEY27 (1874-1948), die vorzugsweise grausame Heldinnen in den Mittelpunkt stellen, haben etwas 24

Moral Plays (1949); Plays for Plain People (1950). - W. Bannister, J.B. and His Theatre (1955); H. B. Luyben, J. B.: Clown and Philosopher (Philad., 1965). 25 Collected Plays (N. Y., 1921); Lyrics and Dramas (1913). 26 Collected Poems, ed. J. Squire (31946); Dramen: Hassan (1922) [in Prosa]; Don Juan (1925) [in Prosa und Reimvers]. - J. Sherwood, No Golden Journey: A Biography of J. E. F. (1973). 27 Poems and Plays, ed. C. C. Abbott (1953).

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Übersteigertes, was jedoch bei den in nordischer Vorzeit spielenden Handlungen weniger hervortritt. Insbesondere die Hauptgestalten in den Vorgeschichten Shakespearescher Tragödien - Goneril in King Lear's Wife (1915) und die zukünftige Lady Macbeth in Gruach (1921) - haben Größe und Kraft. Die tragische Linienführung dieser beiden Stücke ist in Britain 's Daughters (1921) zu den weicheren Umrissen der Oper gewandelt, und Stimmungsszenen ist größerer Raum gegönnt; die Erfordernisse der Bühne sind aber auch hier gewahrt. Gerade das lassen andere Vertreter des poetischen Dramas wie THOMAS STURGE MooRE28 (1870-1944: Aphrodite against Artemis, 1901; Attila, 1907; Judas, 1923) und LASCELLES ABERCROMBIE (1881-1938: Four Short Plays, 1922; The Sale of St. Thomas, 1931) trotz dichterischer und gedanklicher Schönheiten vermissen. Die ersten Dramen von JOHN DRiNKWATER29 (1882-1937) waren ebenfalls mehr Dichtungen als Theaterstücke. Als er aber, vom Vers zur Prosa übergehend, geschichtliche Stoffe dramatisierte, überwand er die Leblosigkeit der zeitgenössischen, in Swinburnes Art sich bewegenden historischen Versdramen und begründete eine neue Historienart. Mit einer Bilderfolge, die weniger dem alten Chronikstück als dem Film verpflichtet ist, erreichte er in Abraham Lincoln (1918) eine wirksame Zeitraffung zur Dramatisierung eines psychologischen Themas. Lyrische Zwischenstücke verbinden sechs Bilder, die Lincolns Suchen nach einem Mittelweg zwischen den Gefahren des Hasses und der Schwächung des Kriegswillens aufzeigen. Auch Mary Stuart (1921) ist ein psychologisches Drama. Um das Zeitlose ihres Schicksals auszudrücken, beginnt und schließt das Stück mit einer Gegenwartsszene, deren Spielern die historischen Figuren entsprechen, und es geht nicht um die Königin und politisch tätige Frau, sondern um die große Liebende, die den Frieden sucht. In gleicher Weise steht in Oliver Cromwell (1921) nicht der geschichtliche Vorwurf im Vordergrund, sondern das geistige Ausharren und das Freiheitsproblem. Der damit verbundenen Gefahr eines Erlahmens der Handlungsspannung sucht das historische Drama über den Gegner Lincolns, den General Robert E. Lee (1923), durch raschere Bildfolge zu entgehen. Trotz unbestreitbarer Schwächen, die sich zwangsläufig aus der Überhöhung der Zentralfigur und der mangelnden Berücksichtigung des Hintergrundes ergeben, hat Drinkwater durch die psychologische Ausrichtung und die bühnenwirksame Bildtechnik das Theater erneut für das historische Spiel gewonnen. Dies bezeugt auch der Erfolg der anekdotischen Geschichtsbilder von LAURENCE HOUSMAN (1865-1959), insbesondere die „dramatische Biographie" Victoria Regina (1934). Eine wirklich neue dramatische Bewegung größeren Ausmaßes knüpft sich jedoch nicht an diese vereinzelt bleibenden Versuche, sondern an das von T. S. EuoT30 programmatisch vertretene „poetische Drama". Eliots Wendung 28

The Poems of T. S. M., 4 Bde. (1931-33); Selected Poems (1934). - F. L. Gwynn, S. M. and the Life of Art (Lawrence, Kan., 1951). 29 Collected Plays, 2 Bde. (1925); Collected Poems, 3 Bde. (1937). 30 S.S.874,Anm.36.Ferner:D.E.Jones,ThePlaysofT.S.E.(1960);C.H.Smith,T.S.E.'s

lII. Das Drama

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zum Versdrama ging eine eingehende theoretische Besinnung voraus. In zahlreichen Äußerungen hat er zu dem Problem des poetischen Dramas Stellung genommen und auch seine eigenen Experimente kritisch analysiert. Wie Yeats sah er in dem zeitgenössischen realistischen Prosadrama einen Irrweg. Das Streben nach photographischer Wirklichkeitstreue hielt nach seiner Ansicht das Drama im Bereich des Zufälligen und Oberflächlichen, und der Verzicht auf den Vers, auf Bilder und Symbole und die dramatischen „Konventionen" bedeutete die Preisgabe der eigentlich dichterischen Ausdrucksmittel. Vorbild für ein neues poetisches Drama konnte jedoch nicht das komplexe elisabethanische Theater sein, es galt vielmehr, zu den einfachen, strengen, aus dem Kult erwachsenen Formen des mittelalterlichen und des griechischen Dramas zurückzukehren. Andererseits boten das moderne Variete und Ballett mögliche Anknüpfungspunkte. Eliot begann mit Sweeney Agonistes (zuerst 1926/27 im 'Criterion' veröffentlicht). In diesen beiden „Fragmenten eines aristophanischen Melodramas", die uns in die Welt des Waste Land und der Hollow Men führen, versucht Eliot, durch Anlehnung an Jazzrhythmen und Music Hall Songs einen modernen dramatischen Sprechvers zu entwickeln und tragische Gefühle in der Form der Farce auszudrücken. Mit Eliots Konversion zum Anglokatholizismus (1927) traten neue Themen in den Vordergrund, und so wurde das mit Sweeney Agonistes begonnene Experiment zunächst nicht fortgesetzt. Der folgende Versuch ist das kirchliche Festspiel The Rock (1934), eine als Ganzes kaum interessante Gemeinschaftsarbeit verschiedener Autoren. Seine Bedeutung liegt in den aus Eliots Feder stammenden Chorversen, die durch die unvermittelte Koppelung der Sprache und der Rhythmen unserer Zeit mit Elementen der Liturgie, der Authorized Version und der christlichen Hymnen eine eindrucksvolle Wirkung erzielen. Von The Rock führt eine direkte Linie zu Murder in the Cathedral (1935). Das Stück besteht aus zwei etwa gleich langen Teilen - der Auseinandersetzung Thomas Beckets mit vier Versuchern und seinem Martyrium -, die durch das Zwischenspiel der Weihnachtspredigt des Erzbischofs verbunden sind. Der Kampf Beckets um die Reinheit seiner Motive in dieser Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche findet eine Spiegelung im Chor der Scheuerfrauen von Canterbury; als christliche Durchschnittsmenschen fragen sie hilflos nach dem Sinn des Geschehens und intensivieren es in einer Weise, daß dem Zuschauer die Mängel des Stücks, seine schwache Handlung und der starre Charakter des Helden, kaum bewußt werden. Einen ähnlichen Zweck verfolgt Eliot mit der Verteidigungsrede der Ritter, die nach dem Mord aus dem Rahmen des Spiels heraustreten, in bewußtem Stilbruch ihre Tat in moderner politisch-juristischer Prosarede mit glänzender Kasuistik rechtfertigen und das Publikum aus jeder Selbstgefälligkeit aufschrecken. In Dramatic Theory and Practice (Princeton, 1963); R. M. Browne, The Making of T. S. E.'s Plays (Cambridge, 1969).

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dieser dem Epilog von Shaws St. Joan verpflichteten Szene argumentieren die Ritter, Becket habe seinen Tod selbst verschuldet, weil er sich einem geschichtlich notwendigen Vorgang, der Vereinigung der Ämter des Kanzlers und des Erzbischofs in einer Hand, widersetzt habe. Die Schwierigkeit dramatischer Konventionen ist in diesem christlichen Mysterienspiel überzeugend gemeistert. Eliot hat sich geschickt an den Vers des 'Everyman', an die Liturgie und christliche Hymnen angelehnt und auch die Prosa einer im Stil von Lancelot Andrewes geschriebenen Predigt wirkungsvoll einzusetzen verstanden. Aber die Form erwuchs hier gleichsam aus dem Vorwurf und bedeutete keine Lösung von Eliots Ausgangsproblem, ein Versdrama aus dem Geist unserer Zeit zu schaffen. Diesen Vorsatz nahm der Dichter mit The Family Reunion (1939) wieder auf. Der Held des Stückes, Harry, Lord Monchensey, hat wirklich oder vermeintlich seine Frau bei einem Sturm auf dem Atlantik über Bord gestoßen und wird seitdem von den Furien verfolgt. Erst nachdem er erkennt, daß seine Schuld Glied in einer Kette von Ursache und Wirkung ist, kann er den Weg zur Läuterung finden. Die äußere Handlung des Dramas ist wieder nebensächlich; entscheidend ist allein das innere Geschehen dieser christlichen Orestie, das Drama von Schuld und Sühne. Aber die Umdeutung der antiken Schicksalsidee in die christliche Vorstellung der Erbsünde ist nicht recht gelungen, und die Verwandlung der Erinnyen in die Eumeniden ist aus dem Drama selbst nicht verständlich, sondern setzt die Kenntnis des letzten Stücks der äschyleischen Orestie voraus. Technisch bedeutet das Werk jedoch einen Fortschritt. Eliot hat vor allem einen Vers gefunden, der fast wie Prosa wirkt und nur an Stellen emotionaler Verdichtung als Vers empfunden wird. The Cocktail Party (1949) ist eine Variation desselben Grundthemas. Die guten Geister des Spiels, die „Wächter" (wie Celia sie nennt), dirigieren ihre „Patienten" zu einem Psychiater, von dem niemand weiß, woher er stammt. Dieser „Fremde" bringt die Partner einer gestörten Ehe dazu, ihr Leben in dem vollen Bewußtsein ihrer gegenseitigen Fremdheit und Mittelmäßigkeit neu zu beginnen. Celia dagegen, die sich mit einer solchen Aussöhnung mit dem Leben nicht abzufinden vermag, schickt er auf den schwierigeren Weg; er führt zur vollen Erleuchtung, in ihrem Falle zum Martyrium, das die „Komödie" (in einem mittelalterlichen Sinn) als ein gutes Ende mit einzuschließen vermag. Für die Ausgangssituation seines Dramas hat Eliot die „Alkestis" des Euripides benutzt und damit die übliche Liebesverwicklung der Gesellschaftskomödie verbunden. Allerdings gelangen Oberflächengeschehen und spirituelle Ebene nicht vollständig zur Deckung, und der dritte Akt wirkt mehr wie ein Epilog. Das an den „Ion" des Euripides anknüpfende Drama The Confidential Clerk (1953) geht noch weiter in Richtung auf die Posse. Das Verwechslungsspiel um das Thema der unehelichen Kinder wäre eine reine Komödie der Irrungen, wenn nicht scheinbare Nebenfiguren wie der alte Privatsekretär und „Wächter" Eggerson und die halb mythische Pflegemutter Mrs. Guzzard den tieferen Sinn des Spieles offenbarten. Alle müssen erfahren, daß nur

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derjenige zu seiner eigensten Bestimmung findet, der seine Herkunft kennt und zu Liebe und Opfer bereit ist. Auch in Eliots letztem Drama The Eider Statesman (1958), das den „Ödipus auf Kolonos" als Anregung benutzt, geht es um die Frage der Identität. Lord Ciaverton, der sein Leben auf dem Schein der äußeren Erfolge aufgebaut hat, wird von Erinnerungen gequält, die ihm in zwei Gestalten seiner Vergangenheit erscheinen und ihm sein Versagen an zwei Bewährungspunkten seines Lebens erneut bewußt machen. Erst indem sich Ciaverton zu seiner Schuld bekennt, vermag er die „Geister" zu bannen, und er stirbt in der Gewißheit, daß er aus einem Scheindasein zur Wirklichkeit gefunden hat. Galt Eliots Interesse in den frühen Dramen wesentlich dem außergewöhnlichen Leben des Erwählten, so trat in The Confidential Clerk erstmalig ein Durchschnittsmensch in den Mittelpunkt, und in The Elder Statesman wird die frühere Isolierung des Helden sogar überwunden, indem der Läuterungsvorgang innerhalb seiner Familie erfolgt. Eliots Verdienste um das Versdrama sind groß. Gleichwohl ist die Dramatik der schwächste Teil seines Werks, und inzwischen ist deutlich, daß trotz aller theoretischen und praktischen Bemühungen das Versdrama Episode geblieben ist. Eine gewisse Bedeutung haben die politischen Dramen des Auden-Kreises behalten, insbesondere die Experimente von WYSTAN H. AuDEN 31 und CHRISTOPHER ISHERWOOD (geb. 1904). Ihre Zusammenarbeit begann nach dem von Auden allein verfaßten dramatischen Gedicht The Dance of Death (1933) im Jahre 1935 mit The Dog Beneath the Skin; 1936 folgte The Ascent ofF6, 1938 ihr schwächeres letztes Drama On the Frontier. Die Dramen sind heute in der Hauptsache als Zeitstücke von Interesse, aber The Ascent of F6, das vor dem Hintergrund einer Bergbezwingung die Tragödie eines Idealisten und das Problem der Macht abhandelt, hat einige starke Szenen. Die Einbeziehung von Rundfunk- und Presseberichten in das Spielgeschehen und die Reaktion zweier Durchschnittsmenschen auf die politische Propaganda ist technisch ebenso interessant wie die große surrealistische Schlußszene, wenngleich die psychoanalytische Verengung des Problems, die Identifizierung des den Berg bewohnenden Dämons mit dem Mutterkomplex des Helden, enttäuscht. In allen Stücken wechseln Vers und Prosa, alle benutzen einen Chor als Kommentator, der nachdrücklich die Moral herausstellt, in allen geht es um eine These. Aber man liest die Stücke nicht wegen des Angriffs auf Kirche, Staat und die besitzenden Klassen oder wegen der Freudschen Psychologie, man liest sie als einen interessanten Versuch, sich Techniken des deutschen expressionistischen Dramas (Ernst Toller und Georg Kaiser) und des epischen Dramas Bert Brechts zu eigen zu machen. Neben T. S. Eliot ist CHRISTOPHER FRY32 (geb. 1907) der bemerkenswerteste Vertreter des poetischen Dramas. Ist Eliot der stärker konstruierende Intel31 32

Literaturangaben s. S. 885, Anm. 54. Eigentlich: Christopher Harris; Fry ist der Name der einer Quäkerfamilie entstammenden Mutter. - Plays [Phoenix, Thor, Lady's Not For Burning] (1969); Plays [A Sleep of Prisoners, The Dark is Light Enough, Curtmantle] (1971). - E. Roy, C. F. (Carbondale, 1968); H. Itschert, Studien zur Dramaturgie des 'Religious Festival Play' bei C. F. (Tübingen, 1963).

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lekt, so hat Fry, der selbst Schauspieler und Regisseur war, mehr Theaterblut. Seine frühen mysterienähnlichen Stücke, deren bestes, The Boy with a Cart (1937), ein chorisches Legendenspiel über Cuthman, den Lokalheiligen von Sussex, im Stile T. S. Eliots ist, lassen seine eigentlichen Gaben noch nicht deutlich hervortreten. Nach dem Kriege entstanden drei weitere religiöse Spiele: The Firstborn (1946) gestaltet Moses' Kampf gegen Pharao um den Auszug der Israeliten aus Ägypten; das schwächere, Thor, with Angels (1948), behandelt die Auseinandersetzung des germanischen Heidentums mit dem Christentum zu Ende des 6. Jahrhunderts, als Augustin mit seinen Missionaren nach England kam; das bedeutendste, A Sleep of Prisoners (1951), dramatisiert die Träume von vier vorübergehend in einer Kirche eingesperrten Kriegsgefangenen, deren Ängste und Hoffnungen sich mit Kindheitserinnerungen und Szenen aus dem Alten Testament verbinden. Die vier Stationen dieses Passionsspiels, mit den Geschichten von Kain und Abel, David und Absalom, Isaaks Opferung und, als Höhepunkt, den vier Jünglingen im Feuerofen, deuten die Menschheitsgeschichte als eine Kette von Unduldsamkeit, Haß und Mord. Am Ende steht jedoch nicht Verzweiflung, sondern Opfer und Läuterung. Mag die Dichte der Aussage das Publikum gelegentlich überfordern, das Experiment beeindruckt durch die kunstvolle Verflechtung von Traumund Wachgeschehen, den durchdachten Bau, die sprachliche Durchformung und den strengen Vers. Stärker als die religiösen Spiele wirken die Komödien. Abweichend von ihren Vorgängern lebt die Frysche Komödie in einer dem Zuschauer suggestiv nahegebrachten Grundstimmung. Eine raffiniert gehandhabte Metaphorik übersprüht den schwachen dramatischen Bau mit poetischen Katarakten und verblüffenden Bildern und Wortspielen. Schon der Einakter A Phoenix too Frequent (1946), der auf Petronius' Geschichte der ephesischen Witwe zurückgeht, die ihrem verstorbenen Gemahl im Tode nachfolgen will, aber mitten in Trauer und Todesentschlossenheit am Grabe des Verblichenen von der Allgewalt des Lebens und der Liebe unwiderstehlich ergriffen wird, schlägt den Grundakkord der Fryschen Komödie an: Leben und Tod sind wie Katze und Hund; der Tod ist zwar am Ende der Stärkere, aber viele Male entwindet sich das Leben geschmeidig seinem Zugriff. Das Geheimnisvolle und Unentrinnbare des Wechselbezuges von Tod und Liebe ist auch das Thema von The Lady's Not for Burning (1948). In dieser in einer pseudomittelalterlichen Zeit spielenden Komödie wird die junge, der Hexerei verdächtigte Jennet Jourdemayne in demselben Augenblick verhaftet, in dem ein entlassener Soldat sich aus Ekel am Leben des Mords bezichtigt und hartnäckig verlangt, gehängt zu werden. Hier beginnt Frys erregende Meditation über die Nachbarschaft von Tod und Leben und den Sieg der lebenschenkenden Liebe. In dieser 'Comedy of mood' - wie Fry sie nennt - ist die Liebe mit ihren Übertreibungen und Träumen, ihren jugendlichen Verstiegenheiten und ihrem kosmischen Hauch stimmungsmäßig in Einklang gebracht mit dem von Hexenglauben und Furcht vor dem Jüngsten Gericht durchschauerten 15. Jahrhundert, mit der Jahreszeit - dem gärenden, über-

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quellenden Frühling - und mit den Charakteren, die im Mann die selige Souveränität des Fahrenden, in der Frau den Schimmer der Zauberei und damit die Berührung mit dem Geheimnis ausdrücken. Wie in A Phoenix too Frequent trägt die welterhaltende Kraft der Liebe den Sieg davon, und in beiden Fällen empfängt die Komödie ihren Reiz von der Sprache her, der Sturzflut schillernder Bilder, rauschender Wortkaskaden, paradoxer Koppelungen und verblüffender Wortspiele. Steht The Lady's Not for Burning für den verwirrenden, drängenden Frühling, so spielt das zweite der vier Jahreszeitenstücke im Versöhnung bringenden Herbst: Venus Observed (1950) hat einen charmanten, alternden Herzog zum Helden, dem die leidenschaftlich betriebene Beobachtung der Sterne den Blick ins Unerreichbare eröffnet und damit den rettenden Sinn für das Wunderbare erhält. Die anläßlich einer Sonnenfinsternis in sein Observatorium eingeladenen drei Geliebten verkörpern das ihm erreichbare Leben, das er noch einmal zu genießen sich sehnt. Sein Sohn soll — ein moderner Paris seine künftige Mutter aus den drei Gefährtinnen auswählen. Aber nach der gemeinsamen Beobachtung der symbolisch wirkenden Sonnenfinsternis erscheint Perpetua (die aus Amerika heimgekehrte Tochter des Verwalters) im Licht und wird fortan von beiden, dem Herzog und seinem Sohn, begehrt. Doch der Herzog findet zur Entsagung und wählt Rosabel, die ihn wirklich liebt und deshalb aus Eifersucht das Observatorium anzündete. Milde und herbstliche Reife überdecken die unerfüllte Sehnsucht nach Vollendung. In gedämpftem Licht spielt die Winterkomödie The Dark is Light Enough (1954). Das Drama zeigt zwar Schwächen der Fabel, der Szenenführung und der Charakterzeichnung der Nebenfiguren, aber es hat intensives Leben durch die Hauptgestalt der alten Gräfin Rosmarin Ostenburg, die während der ungarischen Revolution 1848/49 auf ihrem österreichischen Landsitz den Deserteur Gettner, den ersten Mann ihrer Tochter Gelda, versteckt und rettet, obwohl seinetwegen Geldas zweiter Mann als Geisel festgenommen wird und obwohl ihr der Taugenichts diese Tat damit dankt, daß er Gelda zur Untreue zu verleiten sucht und den Sohn der Gräfin im Streit verwundet. Der Gräfin unbeirrbares Handeln entspringt einer ganz selbstverständlichen Achtung vor dem menschlichen Leben. Zwar vermag sie nicht die Welt zu verändern - das harte Klopfen an ihrer Tür, nachdem sie gestorben ist, läßt keinen Zweifel, daß weiterhin Haß und Verfolgung herrschen werden -, aber ihre tiefe Menschlichkeit reißt das uns allenthalben umgebende Dunkel so weit auf, daß wir einen Blick tun in eine andere Welt der Ordnung, der Güte, der Liebe. Den Zyklus beschließt die schwächere Sommerkomödie A Yard of Sun (1970), in der sich unmittelbar nach dem Kriege die Mitglieder gespaltener italienischer Familien in Siena während des Palio, des traditionellen Pferderennens und Volksfestes, wieder zu Versöhnung und Neubeginn zusammenfinden. Auch die Historic über Heinrich II., Curtmantle (1961), enttäuschte; sie ist zu einem historischen Bilderbogen geworden und hält den Vergleich mit dem 1959 erschienenen zwar unhistorischen, aber bühnenwirksamen BecketDrama von Jean Anouilh nicht aus.

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Anders als T. S. Eliot hat Fry zur Theorie des poetischen Dramas wenig beigetragen. Sein Vers ist im Grunde rhythmisierte Prosa, die sich, je nach der erstrebten Verdichtung, mehr oder weniger dem Versrhythmus nähert. Seine frühen Manierismen hat Fry in zunehmendem Maße überwunden, seine Wortvirtuosität gedämpft, seine Bilder mit der Thematik organischer verknüpft und eine größere Differenzierung der Sprechweisen erreicht. Seine Dramen, auch seine Komödien, verleugnen nicht den Abgrund des Bösen, aber sie betonen auch die menschlichen Werte und halten die Tür geöffnet für den Blick in eine andere, heile Welt. Sie sind (mit Frys Worten) 'an escape not from truth but from despair: a narrow escape into faith'.

5. Das englische Drama seit den fünfziger Jahren33 In der Mitte der fünfziger Jahre wurde das Versdrama aus dem Felde geschlagen durch das neu-naturalistische Drama der „zornigen jungen Männer" und das absurde Drama. Pflegestätten dieses modernen Dramas wurden vor allem das Royal Court Theatre im Westen Londons und der Theatre Workshop in Stratford East im Londoner Osten. Die 'angry young men' hatten kein Programm, erstrebten auch keine Reform, sondern waren im Gegenteil überzeugt, daß sich im Leben nichts ändern würde und es daher galt, ihm so viel wie möglich für die eigene Person abzujagen. Allen gemeinsam war aber ein Unbehagen über die Gesellschaft, das sich in einem ziellosen Aufbegehren äußerte. Dieser Zeitstimmung gab JOHN OsBORNE34 (geb. 1929) Ausdruck in Look Back in Anger (1956), dessen aus einer Arbeiterfamilie stammende „Held" Jimmy Porter, der als Staatsstipendiat an einer der Provinzuniversitäten studiert hat, unzufrieden mit sich selbst und dem Lauf der Dinge im Wohlfahrtsstaat England, sich in Haßtiraden auf das 'Establishment' abreagiert. Ohne Verbindung zu der Schicht, der er entstammt, und mit Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber der höheren Gesellschaftsschicht, in die er nicht hineinwachsen kann, richtet sich seine aggressive Rhetorik besonders gegen seine junge Frau Alison und deren Eltern, die dem Bürgertum angehören. Der Held handelt nicht, er räsonniert, aber in dieser monologischen Selbstdarstellung hat Osborne, überzeugender als irgendeiner der zeitgenössischen Romanciers (s.S. 988), den Typus des „zornigen jungen Mannes" getroffen. Die Lösung des Konflikts erinnert an die Frühzeit des Problemdramas: die gequälte Frau, die ihrem Mann davongelaufen ist, kehrt wieder zurück, und die Geliebte, die inzwischen ihre Stelle eingenommen hat, räumt den Platz, weil sie fühlt, daß sie sich aus ihrer bürgerlichen Welt nicht lösen und Alison nicht ersetzen kann. Jimmy und 33

J. R. Taylor, Anger and After (21969); ders., The Second Wave: British Drama for the Seventies (1971); K.J. Worth, Revolutions in Modern English Drama (1973); A. Hinchcliffe, British Theatre 1950-70 (Oxf., 1974). 34 A. Carter, J. O. (Edinb., 21973); S. Trassier, The Plays of J. O.: An Assessment (1969).

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Alison söhnen sich aus, indem sie sich in die Illusion und zeitweiliges Vergessen flüchten. Look Back in Anger wollte Problemstück und zugleich Seelenstudie sein, aber Osborne gelangte offenbar zu der Einsicht, daß die verwendete Dramenform für diese doppelte Absicht nicht geeignet war. In The Entertainer (1957) lehnt er sich an das Vorbild der Music Hall und an das epische Drama Brechts an und gliedert sein Stück in 13 „Nummern", die das Auseinanderbrechen einer Familie von Varietekünstlern schildern. The Entertainer ist revolutionärer als Look Back in Anger durch die stärkere Betonung der Tagespolitik, aber künstlerisch schwächer, überzeugend nur durch die tragische Figur des Titelhelden Archie Rice, der als Conferencier eine chorische Mittelstellung zwischen Bühne und Publikum innehat. Den wohl zeitgebundenen Erfolg von Look Back in Anger hat Osborne auch in den folgenden Dramen nicht mehr erreicht, weder in der sozialkritischen 'Comedy of Manners with Music', The World of Paul Slickey (1959), die ein Fehlschlag war, noch in der das epische Drama mit dem alten Chronikstück verbindenden „Historic" Luther (1960), die den Reformator als Rebellen gegen soziale Korruption und als Opfer seiner persönlichen Probleme deutet. Ein naher Verwandter Jimmy Porters erscheint in dem fast ganz monologischen Inadmissible Evidence (1964) mit dem abgewirtschafteten, neurotischen, sich von seiner Umwelt ignoriert fühlenden Rechtsanwalt Billy Maitland, der in aggressiven und selbstquälerischen Tiraden seine Enttäuschungen und Schuldgefühle ausströmt. Osbornes Dramatik zeigt keine Entwicklung, und auch seine späteren Stücke, wie A Patriot for Me (1965), das den Skandal um den von den Russen erpreßten homosexuellen österreichischen Oberst Alfred Redl am Vorabend des ersten Weltkriegs zum Vorwurf hat, bis hin zu The Hotel in Amsterdam (1968), West of Suez (1969), A Sense of Detachment (1973) oder Watch It Come Down (1976) haben seine Stellung nicht festigen können. Von den vom Theatre Workshop überarbeiteten und unter der Regie von Joan Littlewood in Stratford East aufgeführten Dramen sei SHELAGH DELANEYS (geb. 1939) proletarisches Milieustück A Taste of Honey (1959) genannt, vor allem aber BRENDAN BEHANS" (1923-1964) The Quare Fellow. Hatte diese Gefängnistragikomödie, als sie 1954 in Dublin über die Bretter ging, kaum Beachtung gefunden, so erlangte sie 1956 in London, im selben Jahr wie Look Back in Anger, in der revidierten Fassung durchschlagenden Erfolg. The Quare (queer) Fellow' - der Name bezeichnet im Slang der Strafgefangenen einen zum Tode Verurteilten - schildert die Gespräche von Gefängnisinsassen und Wärtern während der letzten 24 Stunden vor der Hinrichtung eines (selbst nicht auftretenden) Brudermörders. Das Drama, das eigene Erfahrungen Behans spiegelt, der als I. R. A.-Mitglied lange Zeit in Jugendstrafanstalten und Gefängnissen zubrachte, ist ein Plädoyer gegen die Todesstrafe und beeindruckt durch die Dichte der Atmosphäre, die Kraft der Sprache und 35

The Complete Plays, ed. A. Simpson (1978). - U. O'Connor, B. B. (1970); C. Kearney, The Writings of B. B. (Dublin, 1977); The Art of B. B., ed. E. H. Mikhail (1979).

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die Mischung von Tragik und schwarzem Humor. Das schwächere The Hostage (1958) spielt in einem zum Bordell abgesunkenen Dubliner Mietshaus, in dem ein junger englischer Soldat von der I. R. A. als Geisel festgehalten und schließlich bei einer Razzia der Polizei fast zufällig erschossen wird. Auch in diesem Drama erweist sich in aller Korruption die Unzerstörbarkeit des Lebens. Aber es fehlt an einer konsequenten Gestaltung des dramatischen Kerns: der Geiselkonflikt geht unter in den als labyrinthisches Abbild der Welt gedachten Vorgängen in dem Bordell. Schwächen der Charakterisierung kennzeichnen auch die nachgelassene unvollendete Farce Richard's Cork Leg (1973). Große Hoffnungen weckten die ersten Dramen von ARNOLD WESKER36 (geb. 1932) mit ihrem an William Morris erinnernden sozialistischen Engagement. In The Kitchen (1958, rev. 1961) fand Wesker in der Großküche eines Speiserestaurants, deren Hektik und Anonymität keinerlei Raum läßt für das Eigenleben der aus den verschiedensten Nationen zusammengewürfelten Menschen, ein Spiegelbild der modernen Gesellschaft. Eine umfassendere Gestaltung des sozialen Themas gibt die Trilogie Chicken Soup with Barley (1958), Roots (1959) und I'm Talking of Jerusalem (1960), die das Scheitern der politischen Hoffnungen einer jüdisch-ungarischen Einwandererfamilie in den Jahren zwischen 1936 und 1956 dramatisiert. Während die Mutter ihren kommunistischen Ideen treu bleibt, verlieren die Kinder den Glauben an einfache politische Lösungen. Es bleibt am Ende die Einsicht, daß Hilfsbereitschaft und tätige Liebe menschliche Werte jenseits aller politischen Programme bleiben. In den 60er Jahren hat sich Wesker in dem Centre 42 mit Hilfe der Gewerkschaften um eine Hebung des Kunstverständnisses der Arbeiter bemüht. Dramen wie Chips with Everything (1962), Their Very Own and Golden City (1966) oder The Wedding Guest (1976) treten ebenfalls leidenschaftlich für humanitäre Ideen ein, blieben aber insgesamt enttäuschend, da sie der Objektivität der früheren Trilogie ermangeln. Zwiespältig ist der Eindruck des begabten JOHN ARDEN" (geb. 1930). Schon TheWatersofBab y Ion (1957), das von dem Doppelleben eines nachLondon emigrierten Polen handelt, der tagsüber korrekt in einem Architektenbüro arbeitet, als Besitzer eines Slum-Wohnhauses aber Ausländer und Prostituierte ausbeutet, schlägt das Hauptthema von Anarchie und Ordnung an. Dabei werden „Held" und Prostituierte gleichermaßen nicht als abstoßend gezeichnet, und es fallen keine moralischen Urteile. Auch Live Like Pigs (1958) kontrastiert zwei durchaus mögliche Lebenshaltungen, die jedoch nicht nebeneinander bestehen können. Als in einem nordenglischen Industrievorort in das Nebenhaus der respektablen kleinbürgerlichen Jacksons eine Familie von Asozialen eingewiesen wird, korrumpieren diese Sawneys bald die Familie der Jacksons; doch übernehmen die Sawneys prompt die 36

R. Hayman, A.W. (1970); G. Leeming and S. Trassier, The Plays of A. W.: An Assessment (1971). 37 R. Hayman, J. A. (1968); A. Hunt, A.: A Study of His Plays (1974).

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Rolle der Ordnungshüter, als bei ihnen eine Zigeunersippe eindringt. Ein anderer Vertreter der „Ordnung" begegnet uns in Serjeant Musgrave's Dance (1959), in dem der desertierte Feldwebel Musgrave als Vergeltung für jeden von fünf bei einer kolonialen Strafexpedition getöteten Eingeborenen wieder fünf der für die Kolonialpolitik Verantwortlichen töten und damit den Krieg ein für allemal beseitigen will. Aber der Fanatiker scheitert am Widerstand der Frauen und seiner Begleiter, die für das Leben eintreten, in dem sich Gewalt nicht durch neue Gewalt ausmerzen läßt. Ardens ehrgeizigstes Drama, Armstrong's Last Goodnight (1964), greift, angeregt durch zeitgenössische Ereignisse im Kongo, auf eine historische Episode im Schottland des 16. Jahrhunderts zurück. Der Dichter und wendige Diplomat Lindsay, der Verfasser der Moralität Satire of the Three Estates (1540), versucht in den Grenzstreitigkeiten mit England, den Raubritter Armstrong of Gilnockie zu Gesetz und Ordnung zu bewegen. Lindsay hat die besten Absichten, aber um der Anarchie Herr zu werden, muß er am Ende gegen seine eigenen Grundsätze verstoßen und zu unlauteren Mitteln greifen. Der von ihm in eine Falle gelockte Armstrong wird bei einer Jagdexpedition ohne Gerichtsurteil auf Befehl des schottischen Königs gehängt. Auch in diesem Drama gibt es keine Figur, mit welcher der Zuschauer voll sympathisieren kann. Arden weckt vielmehr Verständnis für beide Seiten und überläßt das Urteil über eine Lösung dem Zuschauer. In dieser Ambivalenz dürfte der Grund liegen, daß Ardens technisch und sprachlich eindrucksvolle Dramen, die das Problem stets fest in der sozialen Wirklichkeit verankern und erfolgreich Einflüsse Brechts und der Volksballade verwenden, nicht populär geworden sind. Mitte der 60er Jahre führte Ardens Weg zur 'litterature engagee'. Unter dem Eindruck einer Indienreise (s. das autobiographische The Bagman, 1971) bekannten sich Arden und seine Frau Margaretta d'Arcy, mit der gemeinsam die meisten seiner späteren Stücke geschrieben sind, zu dem revolutionären Kampf der dritten Welt und zu einem marxistischen Engagement. In dem Propagandastück The Ballygombeen Bequest (1972) ergriffen sie Partei im irischen Konflikt, und in dem Mammutdrama The Non-Stop Connolly Show (1978), dessen Held der nach dem Osteraufstand von 1916 erschossene Sozialist James Connolly ist, treten sie für ein unabhängiges marxistisches Irland ein. Auch das mehrfach überarbeitete The Island of the Mighty (1974) ist ein Thesenstück, in dem der alternde König Arthur, der Christ und Vertreter der römischen Ordnung, der Unterdrücker der freiheitliebenden Kelten, bei dem Versuch scheitert, die drohende Anarchie aufzuhalten. Die anarchischen heidnischen Stämme finden am Ende in der wiedergewonnenen Freiheit ihre Selbstverwirklichung. Im Unterschied zum sozialkritischen Drama steht im Mittelpunkt des absurden Dramas38 die metaphysische Frage nach dem Zweck und Sinn des menschlichen Daseins. Sein Hauptvertreter ist SAMUEL BECKETT39 (geb. 1906), 38 39

M. Esslin, The Theatre of the Absurd (1961). D. Bair, S. B.: A Biography (N. Y„ 1978); R. Cohn, S. B.: The Comic Gamut (New Brunswick, N.J., 1962); dies., Back to B. (Princeton, 1973); dies., Just Play: B.'s Theater (Guildford, 1980); H. Kenner, S. B.: A Critical Study (Berkeley, 21968);

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dessen ort- und zeitlose Dramen und Hörspiele weder einen Konflikt noch ein zielgerichtetes Handeln aufweisen, und da jeder in seine Einsamkeit eingeschlossen ist, verliert auch die Sprache den Charakter der Kommunikation. Angesichts der Unmöglichkeit, die Realität zu erfassen, bleiben nur der Scheindialog, die widersprüchliche Aussage, das Schweigen, die clownhafte Pantomime. Das Gespräch der beiden Landstreicher in Waiting for Godot (1955), die auf den mysteriösen Godot warten, aber nicht wissen, ob sie überhaupt mit ihm verabredet sind, wird zu einem Ritual des Aneinandervorbeiredens und des Zeitvertreibs. Vladimir und Estragon warten ohne Hoffnung und leben passiv auf das Ende zu, wagen aber nicht, das Warten aufzugeben. Die Hoffnungs- und Sinnlosigkeit der menschlichen Situation wird noch verstärkt durch eine Nebenhandlung, in welcher der Diener Lucky von seinem Herrn Pozzo unbarmherzig tyrannisiert wird. Die Hilflosigkeit des Menschen verschärft sich in den folgenden Dramen. In Endgame (1958) ist Hamm blind und an seinen Rollstuhl gebunden; seine Eltern befinden sich, verstümmelt und schwachsinnig, in Mülleimern, und obwohl der Diener (oder Sohn?) Clov wiederholt mit seinem Fortgang droht, der für alle das Ende bedeuten würde, spielt man das sinnlose Spiel weiter. Krapp's Last Tape (1958) hat nur noch einen Akteur, der seiner eigenen Stimme auf dem Tonband mit den Reminiszenzen seiner ihm fremdgewordenen Vergangenheit zuhört; und die im Sand versinkende Winnie in Happy Days (1961), die sich am Ende nicht einmal vor der sengenden Sonne schützen oder zur Pistole greifen kann, begegnet dem Unausweichlichen dieser Hölle mit Indifferenz. Bar jeder Mimik sprechen in Play (1963) zwei namenlose Frauen und ein Mann auf Scheinwerfersignale hin tonlos aus Urnen und monologisieren über eine Dreiecksgeschichte. Sie können keine Ruhe finden, solange das Bewußtsein noch funktioniert. Wie in seinen Romanen (s. S. 983 f.) geht Becket den Weg fortschreitender Reduktion: Schritt um Schritt werden Handlung und Rollen weiter begrenzt, bis der Endpunkt erreicht ist mit dem Ein- und Ausatmen eines Neugeborenen in dem nur 35 Sekunden dauernden Breath (1968). In Not I (1972) bleibt es immerhin noch bei dem angestrahlten Mund einer siebzigjährigen Frau, die ihre eigene Lebensgeschichte verfremdend in der dritten Person berichtet, während in That Time (1974) das Geschehen auf ein lauschendes Gesicht reduziert ist. Beckett konfrontiert seine Zuschauer mit einer absurden Welt, versperrt ihnen jeglichen Ausweg in die Illusion oder eine Ideologie und läßt ihnen keine andere Möglichkeit, als sich der Realität des Nichts zu stellen. Obwohl das absurde Drama, für das etwa noch auf NORMAN FREDERICK SIMPSONS (geb. 1919) A Resounding Tinkle (1956, aufgef. 1968) und One WayPendulum (1959) hingewiesen sei, die zeitgenössischen gesellschaftskritischen G. C. Barnard, S. B.: A New Approach: A Study of the Novels and Plays (1970); F. Doherty, S. B. (1971); J. Fletcher and J. Spurling, B.: A Study of His Plays (1972); E. Webb, The Plays of S. B. (1972); H. Kenner, A Reader's Guide to S. B. (1973); B. S. Fletcher et al., A Student's Guide to the PlaysofS.B. (1978). S. auch S. 983, Anm. 54.

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Stücke künstlerisch überragt, mußte die konsequente Reduktion der Handlung und Figuren zwangsläufig in eine Sackgasse führen. Unverkennbar war der Höhepunkt dieses eine Zeitstimmung treffenden Dramas Mitte der sechziger Jahre überschritten, und es verwundert nicht, daß ein weiterer Vertreter des absurden Dramas wie Pinter zwar wesentliche Elemente übernahm, aber von Anfang an die Begrenzung zu durchbrechen suchte. Die Dramen, Hörspiele und Fernsehstücke HAROLD PiNTERs40 (geb. 1930) erweisen, daß sich die Kategorien „absurd" und „neu-naturalistisch" nur sehr bedingt verwenden lassen. Erinnert das Motiv der von anonymen Mächten bedrohten menschlichen Existenz an Kafka, Pirandello und Beckett, und bleibt es zweifelhaft, ob der Mensch zur Erkenntnis der Wirklichkeit, seiner selbst und der Mitmenschen überhaupt fähig ist, so sind anderseits Pinters Dialoge durchaus „realistisch" und verwenden mit unübertrefflicher Genauigkeit Sprachmuster, Redewendungen und Rhythmen der Alltagssprache. Bereits mit The Room und The Dumb Waiter (beide 1957) stieß Pinter auf eine der Grundsituationen seiner Dramatik: das Eindringen bedrohlicher Kräfte von außen in einen scheinbar sicheren, Schutz gewährenden Raum. Auch sein erstes abendfüllendes Drama, The Birthday Party (1958), ist eine solche 'comedy of menace', in der eine anonyme Macht plötzlich einbricht und die Alltagsrealität zum Einsturz bringt. Stanley wird von zwei Eindringlingen verfolgt, ohne daß wir etwas über deren Auftraggeber oder Genaueres über Stanleys angebliches oder tatsächliches Vergehen erfahren, so daß die Grenzlinie zwischen Faktum und Vermutung verschwimmt. Man stand diesen Stücken zunächst etwas ratlos gegenüber, bis das Hörspiel A Night Out (1960) den Weg zum Verständnis Pinters ebnete (wie überhaupt Rundfunk und Fernsehen für das Drama der letzten Jahrzehnte eine entscheidende Mittlerrolle übernommen haben). Anerkennung fand bereits im selben Jahr The Caretaker (1960), in dem der alte Landstreicher Davies zwei Brüder gegeneinander auszuspielen versucht und dadurch seine Hoffnung auf eine Hausmeisterstelle gerade durchkreuzt. Das Element der Bedrohung von außen hat hier keine zentrale Bedeutung mehr, die Gefahr liegt vielmehr im Menschen, und der Konflikt entspringt der Charakterveranlagung der drei Akteure. Die folgenden Stücke rücken die Suche nach der Identität in den Mittelpunkt. The Collection (1962) und The Lover (1963) handeln von verschiedenen Existenzmöglichkeiten derselben Person. Umfassenderen Ausdruck findet die Pintersche Problematik in The Homecoming (1965). Als der älteste Sohn einer Londoner Cockneyfamilie, ein in Amerika tätiger Philosophiedozent, mit seiner Frau Ruth nach sechs Jahren seine Angehörigen besucht, bringt dieser Besuch den seit dem Tode 40

Plays: One (1976); Plays: Two (1977); Poems and Prose 1949-77 (1978). - M. Esslin, The Peopled Wound: The Work of H. P. (Garden City, 1970); S. Trussler, The Plays of H. P.: An Assessment (1973); K. H. Burkman, The Dramatic World of H. P.: Its Basis in Ritual (Ohio State U. P., 1971); J. R. Hollis, H. P.: The Poetics of Silence (Carbondale and Edwardsville, 1970); A. E. Quigley, The P. Problem (Princeton, 1975).

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der Mutter schwelenden Konflikt um die Vorherrschaft in der Familie zum Aufflammen. In der 'battle for positions' erringt am Ende Ruth die dominierende Stellung. Während ihr Mann zu den drei Söhnen zurückkehrt, bedeutet für sie, das frühere Photomodell, die Übernahme der neuen Rolle ihre „Heimkehr", das Wiederfinden ihrer Identität. Die späteren Dramen Pinters umkreisen das Proustsche Thema des Verhältnisses von Gegenwart und erinnerter Vergangenheit (Landscape, 1968; Silence, 1969; Old Times, 1971; No Man's Land, 1975; Betrayal, 1978). Bei der Vergegenwärtigung der zurückliegenden Ereignisse und Beziehungen bleibt offen, ob die Äußerungen über das frühere Erleben der Wirklichkeit entsprechen oder ob es sich um Wunschbilder, Träume oder gar um bewußte Erfindungen handelt. Eine Entscheidung ist nicht möglich, weil die Wirklichkeit selbst ambivalent ist. Wie in jeder Zeit laufen auch im gegenwärtigen Theater herkömmliche Formen weiter. So schreibt ALAN AYCKBOURN (geb. 1933) technisch überaus geschickte Farcen und Boulevardkomödien, als deren beste The Norman Conquests (1975) hervorzuheben ist, und ROBERT BOLT (geb. 1924) hatte Erfolg mit seinem an Tschechow erinnernden Flowering Cherry (1957) und der Thomas Morus-Historie A Man for All Seasons (1960). Ein vielseitigerer Vertreter des 'well written play' ist DAVID STOREY (geb. 1933), der in The Restoration of Arnold Middleton (1966) die Persönlichkeitskrise eines Geschichtslehrers und ihre Überwindung behandelt. In Celebration (1969) dramatisiert qualvolle Familienbeziehungen, Home (1970) in Pinterscher Weise die kommunikationslose Unterhaltung von Insassen einer Nervenanstalt, The Changing Room (1972) die Gespräche von Spielern und Betreuern einer Rugbymannschaft während ihres Aufenthalts im Umkleideraum. In Cromwell (1973), einer unter dem Eindruck des Krieges in Nordirland und Vietnam geschriebenen Anklage gegen jede Art von Gewalt, greift Storey zum Vorbild des epischen Dramas. Aber seine Stärke liegt eher im streng gebauten realistischen Drama, zu dem er mit Life Class (1974) zurückkehrt, das im Rahmen der Aktklasse einer Kunstschule mit der Vergewaltigung des Modells als makabrem Höhepunkt das Verhältnis der Kunst zur Realität erörtert. PETER SHAFFER (geb. 1926), der sich zuerst mit dem Familiendrama Five Finger Exercise (1958) einen Namen machte, versuchte sich in The Royal Hunt of the Sun (1964), das die spanische Eroberung Perus zum Vorwurf hat, an der ehrgeizigen, aber nicht recht bewältigten Verbindung von Chronikstück, Ideendrama und Charaktertragödie. Black Comedy (1965) ist eine brillante Farce, die ihre Wirkung durch eine Umkehrung der Lichtwerte erreicht, so daß, wenn sich die Akteure im Dunklen befinden, die Bühne für die Zuschauer hell erleuchtet wird. Shaffers bisher interessantestes Drama ist Equus (1973), das die unbegreifliche Tat des jungen Alan Strang, der sechs Pferden die Augen ausgestochen hat, psychoanalytisch klärt, diese „Heilung" aber mit der Krise des Psychiaters verbindet, dem das Ziel seiner Therapie, die Rückführung des Patienten zur sog. Normalität, fragwürdig wird. Auf eine ähnlich tragische Figur stößt Shaffer in dem Mozart-Drama Amadeus (1979) in Mo-

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zarts Gegenspieler, dem italienischen Hofkomponisten Antonio Salieri, einem Mann von nur mäßiger schöpferischer Begabung, aber von einem eminenten Kunstverstand, von dem das Gerücht ging, er habe Mozart aus Eifersucht vergiftet. Als Salieri dann die Notenschrift von Mozarts Requiem sieht, erkennt er darin die Hand des Genies, und da ihm unbegreiflich ist, wie dem in seinen Augen Unwürdigen solche Gnade zuteil werden konnte, sagt er sich voller Empörung von Gott los. JOE ORTONS (1933-1967) Dramen sind von skandalöser Thematik, technisch jedoch konservativ. In Entertaining Mr. Shane (1964) persifliert Orton das Vorbild der Wildeschen Komödie, indem er die ungewöhnliche Dreieckssituation zwischen dem Mörder Sloane und einem Geschwisterpaar dahin löst, daß Sloane die sexuellen Bedürfnisse der Schwester und die homosexuellen des Bruders in einem jeweils sechsmonatigen Turnus befriedigt. Indem Orton die abscheulichsten Vorfälle und Dialoge in gehobener Sprache wiedergibt, tritt durch die Kontrastwirkung die Fragwürdigkeit der Moral umso erschreckender zutage. Ähnlich ist die Amoralität in der schwächeren Kriminalgroteske Loot (1965) behandelt, in der Bankraub, Mord, Korruption und Perversität geradezu als normal erscheinen. PETER BARNES (geb. 1931) erreichte nach der „barocken Komödie" The Ruling Class (1%8), in der er der englischen Aristokratie einen Zerrspiegel vorhält, sowie der Adaptation von Wedekinds „Erdgeist" und „Die Büchse der Pandora" in Lulu: A Sex Tragedy (1970) einen nachhaltigen Eindruck mit The Bewitched (1974). Dieses Drama über das Ende der habsburgischen Dynastie wirkt in seinen absurden und grotesken Verzerrungen komisch und tragisch zugleich. Eine surrealistische Bilderfolge entfaltet eine sinnlose Welt, die von dem 'Lord of Unreason' und von 'Chance' regiert wird. Ebenfalls vom absurden Drama beeinflußt ist JAMES SAUNDERS (geb. 1923) in seinem erfolgreichen Next Time I'll Sing to You (1969) wie auch TOM STOPPARD (geb. 1937) in Rosencrantz and Guildenstern Are Dead (1967), das die Hamlettragödie aus dem Blickwinkel der beiden Werkzeuge des Claudius sieht. Während die beiden Aushorcher, die in Shakespeares Drama die entscheidenden Szenen nicht miterlebt haben, dem ganzen Geschehen ratlos gegenüberstehen, begreifen die Zuschauer, bei denen die Kenntnis der Shakespeareschen Tragödie vorausgesetzt wird, die Stichworte und Zusammenhänge, so daß sie gleichsam Ze'ugen zweier gleichzeitig ablaufender Dramen werden. Stoppard verfügt über eine glänzende Beherrschung der absurden Dialogtechnik, obwohl insgesamt seine Berührung mit dem absurden Drama an der Oberfläche bleibt, wie schon seine dem absurden Theater fremde Vorliebe für Montagen zeigt. Stoppard ist wie Saunders ein Eklektiker, der ebenso brillant und witzig eine Familienfarce {Enter a Free Man, 1968), eine Kriminalparodie (The Real Inspector Hound, 1968) wie eine philosophische Farce zu schreiben versteht (Jumpers, 1973). Unter seinen übrigen Stücken ragt noch Travesties (1974) hervor, in dem sich ein alter britischer Konsulatsangestellter seiner Erlebnisse aus dem Kriegsjahr 1917 erinnert, in dem er in Zürich mit dem damals dort lebenden James Joyce, dem Dadaisten Tzara

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und mit Lenin engere Berührung gehabt zu haben behauptet. Auch in diesem komplexen Gedankenspiel arbeitet Stoppard mit Montagen von historischen Dokumenten sowie literarischen Einblendungen, insbesondere aus der von Konsulatsangehörigen aufgeführten Wilde-Komödie The Importance of Being Earnest. Mitbedingt durch die fortschreitende Auflösung moralischer Verhaltensnormen und die Aufhebung der Theaterzensur (1968) hat die Darstellung von Aggression und Gewalt in weitem Umfang die Bühne erobert. Der bedeutendste Vertreter dieses 'theatre of violence' ist EDWARD BOND41 (geb. 1935). Bond sieht die sittliche Verwahrlosung unserer Zeit als eine Folge der Einengung der persönlichen Freiheit, die zwangsläufig zur Frustration führe und sich in Gewalttaten entlade. In seinem ersten, noch unbeholfenen Drama The Pope's Wedding (1962) - die Redensart meint etwas, das so unvorstellbar ist wie die Hochzeit des Papstes - wird ein Eremit sinnlos erschlagen, in Saved (1965) steinigt eine Gruppe von Rockern ein Baby, Early Morning (1968) prangert die viktorianische Gesellschaft als kannibalisch an, mit Florence Nightingale als der lesbischen Geliebten der Königin Viktoria und Prince Arthur als Märtyrer in einer korrupten Welt, und Narrow Road to the Deep North (1968) gibt in der Form einer im mittelalterlichen Japan spielenden Parabel ein erschrekkendes Bild des korrumpierenden Einflusses der Macht. Für Bond sind wie für Rousseau die Menschen nicht von Natur aus böse, sondern werden erst durch Erziehung und falsche Moralvorstellungen verdorben. Da er die religiöse Begründung der Moral für antiquiert hält, versteht er seine Dramatik als eine Suche nach neuen Lösungen; denn der Künstler hat nach Bond die Aufgabe, nicht nur nach der Wahrheit und Gerechtigkeit zu fragen, sondern sie in der Gesellschaft zu verwirklichen. Deshalb wendet er sich in seinen beiden folgenden Dramen gegen den Shakespeare-Mythos. In seinem Lear (1971), in dem der Mauerbau als ein Symbol der Gewalt steht, kritisiert er, daß Shakespeares König, obwohl er am Ende zur Einsicht in die menschliche Situation gelangt, sich der notwendigen Veränderung der Gesellschaft verschließt. In Bingo: Scenes of Money and Death (1974) begeht Shakespeare in Bonds Augen Verrat an der Kunst, die eben kein belangloses Bingospiel ist, als er sich bei den Einhegungen in Stratford auf die Seite der Grundbesitzer stellt, statt Partei für die kleinen, ihres Unterhalts beraubten Pächter zu ergreifen. Er macht sich schuldig durch sein Schweigen und seinen Konformismus, und in Umkehrung des Bildes vom heiteren Lebensabend des Dichters begegnet uns ein verzweifelter, seine Familie und sich selbst hassender Mann, der sein verpfuschtes, auf Reichtum gegründetes Leben mit dem Selbstmord besiegelt. Es geht Bond in seiner Auseinandersetzung mit Shakespeare nicht um historische Wahrheit, sondern um eine paradigmatische Erörterung der Stellung des Künstlers zur Gesellschaft. In allen diesen Dramen wird der 41

E. B.: Collected Plays, 2 Bde. (1968); Plays Two (1978). - T. Coult, The Plays of E. B. (21980); M. Hay and P. Roberts, The Theatre of E. B. (1980); dies., B.: A Study of His Plays (1981).

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Zuschauer geradezu erdrückt durch die Häufung von Blutrunst und haarsträubender Brutalität, doch durchzieht die Stücke ebenfalls ein gedämpfter Unterton von Schmerz und menschlichem Mitgefühl. Ohne Mitleid ist der Mensch, wie es im 'Lear' heißt, ein Wahnsinniger. Die späteren Dramen bleiben von derselben Grundthematik beherrscht. Der Held von The Fool (1975) ist der im Gegensatz zu Shakespeare nicht mit den Mächtigen paktierende Lyriker John Cläre, der sich zunächst großer Beliebtheit erfreut, dann aber von eben der Gesellschaft, die ihn hätschelte, in den Wahnsinn und das Irrenhaus getrieben wird. The Swing (1976), Bonds schwarzes Antifestspiel zur Zweihundertjahrfeier der amerikanischen Unabhängigkeit, handelt von einem Lynchmord, wobei das Opfer auf eine Schaukel gebunden und von den belustigten Theaterbesuchern durch Revolverschüsse getötet wird. The Bündle (1978) greift, wie der Untertitel New Narrow Road to the Deep North deutlich macht, auf die Form der politischen Parabel zurück, mit der eindeutigen Lehre, daß eine Änderung der Verhältnisse nur durch planvolles Vorgehen, notfalls mit Gewalt, herbeigeführt werden kann. Und das Antikriegsstück über den trojanischen Krieg, The Woman: Scenes of War and Freedom (1978), gibt von neuem der Überzeugung Ausdruck, daß das menschliche Elend nicht durch Opfer, sondern nur durch List und Mord zu beseitigen ist. Bond befindet sich noch mitten in seiner Laufbahn, und ein abschließendes Urteil wäre verfrüht. Doch waren seine letzten Dramen enttäuschend, und die Hoffnung auf ein großes Talent hat sich bislang nicht erfüllt. Die Forderung nach gewaltsamer Veränderung der Verhältnisse ist für eine ganze Reihe von jüngeren, linksorientierten Dramatikern kennzeichnend, die für eine sozialistische „Systemveränderung" und im Unterschied zu Bond für ein experimentelles Theater eintreten. Zu ihnen gehören DAVID HARE (geb. 1948), HEATHCOTE WILLIAMS (geb. 1941), DAVID HALLIWELL (geb. 1937) und als bekanntester HOWARD BRENTON (geb. 1942). Brenton hat zahlreiche Stücke für Fringe-Theater geschrieben und mit Improvisation und Happening experimentiert. Die Bühne ist für ihn 'the place for really savage insight', und er setzt hierzu brutale Mittel und eine obszöne Sprache ein. Magnificence (1973) handelt von einer Hausbesetzung, doch werden die Besetzer durch die Gefängnisstrafe nicht resozialisiert, sondern radikalisiert. Als sie nach der Verbüßung der Haft einen politischen Sprengstoffanschlag begehen, kommen sie selbst dabei um. Die Heftigkeit des Angriffs ist in den folgenden Stücken, bis hin zu dem zynischen The Romans in Britain (1980), das einen Skandal entfachte, noch weiter gesteigert.

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6. Die Anfänge des amerikanischen Dramas Das Drama war der am meisten vernachlässigte Zweig der amerikanischen Literatur.42 Das mag mit der traditionellen Theaterfeindlichkeit der Puritaner zusammenhängen, die ihrerseits mitverantwortlich ist für das Fehlen einer dramatischen Begabung unter den amerikanischen Dichtern. Erklärend ist auch, daß das amerikanische Leben im 19. Jahrhundert keine weltanschaulichen Kontraste bot, aus denen ein ernstes Drama hätte entstehen können. So war das amerikanische Theater wie auch das englische der viktorianischen Zeit eine der Unterhaltung dienende Schaubühne. Leichte dramatische Ware, insbesondere Lustspiele und sentimentale Schauspiele, konnte man zwangslos von Europa übernehmen, da bis 1891 keinerlei Schutzrechte bestanden, und mit den guten zur Verfügung stehenden Schauspielern wurden die Theaterbedürfnisse vollauf befriedigt. Es genügt, auf Joseph Jefferson (1829-1905) hinzuweisen, der mit der 'Rip van Winkle'-Bearbeitung Boucicaults Triumphe feierte. Es bestand also wenig Anreiz für eine eigene dramatische Produktion, zumal für Stücke über Fragen des modernen Lebens kein Publikum da war. Noch in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als in England mit Wilde und Shaw eine den anderen europäischen Ländern ähnliche Blüte des Theaters begann, sah man in Amerika in CLYDE FiTCH43 (1865-1909) einen großen Dramatiker und begrüßte seine meist für einen Schauspielerstar geschriebenen Bearbeitungen französischer und deutscher Komödien und Farcen. Fitch bemühte sich dann um das soziale Problemstück (The Climbers, 1901; The Truth, 1906; The City, 1909) und galt als amerikanischer Jones oder Pinero; aber er hatte im Grunde nichts zu sagen, und auf die Dauer war diese Leere durch bloße Theatergeschicklichkeit nicht zu verdecken. Ebenso veraltet erscheint heute AUGUSTUS THOMAS44 (1857-1934), der neben melodramatischen, mit einem äußerlichen Lokalkolorit versehenen Theaterstücken (z. B. Arizona, 1899) eine Reihe von Thesen- oder Gesellschaftsdramen schrieb, die Spiritismus und zweites Gesicht zu wirkungsvollen Situationen verwerten, aber keine menschlichen Probleme behandeln (The Witching Hour, 1907; As a Man Thinks, 1911). Auch das patriotische Drama The Copperhead (1918), das als sein bestes gilt, ist in Charakterzeichnung und Gedankenführung unsicher und nicht mit europäischen Maßstäben zu messen. 42

Abhandlungen s. S. 837. - Texte in: Representative American Plays, ed. A. H. Quinn (N. Y., 71953); Chief Contemporary Dramatists, ed. T. H. Dickinson, 3 Bde. (Boston, 1915-1930), und Best Plays Series, 6 Bde. (1916-29, 1930-39, 1939-46, 1945-51, 1951-57, 1957-63), ed. J. Gassner (N. Y., 1939-63). 43 Plays, edd. M. J. Moses and V. Gerson, 4 Bde. (Boston, 1915). - M. J. Moses and V. Gerson, F. and his Letters (Boston, 1924). 44 Keine Gesamtausgabe vorhanden.

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Der dritte geschickte Theaterschriftsteller und der einzige, der in Europa Geltung erlangte, DAVID BELASCO45 (1853-1931), verdankt diesen Erfolg Puccini, der die rührselige Madame Butterfly (1900) und das theatralische Cowboystück The Girl of the Golden West (1905) vertonte. Belascos Verdienste um das Theater bestehen in dem Kampf gegen die Theatertrusts, in der hohen Technik seiner Inszenierungen und der verblüffenden Bühnengeschicklichkeit, die schwierigste Aufgaben, wie das spiritistische Motiv des Verkehrs mit Toten, bühnengerecht durchführte (The Return of Peter Grimm, 1911). Der einzige wirkliche Dramatiker dieser älteren Generation war WILLIAM 46 VAUGHN (1869-1910), der dem europäischen Realismus entsprechend amerikanische Stoffe zu gestalten versuchte. The Great Divide (1906) behandelt den Gegensatz zwischen der puritanischen Kultur Neuenglands und dem ungezügelten Lebensdrang des Westens. Die Heldin hat „die große Scheide" des Ost und West trennenden Felsengebirges überschritten, indem sie einwilligte, als Gattin dem Manne zu folgen, der sie mit Vergewaltigung bedrohte. Sie geht aber zurück, da sie es nicht ertragen kann, auf ihr Selbstbestimmungsrecht zu verzichten und als primitive Beute zu gelten. Der Gesundbeter (The Faith Healer, 1909) hat die im Menschen wirkende Gottesgnade der alles heilenden Liebe zum Grundthema; es ist ein gutes Theaterstück, aber kein bedeutendes Drama, denn Moodys Zugeständnisse an das Publikum näherten das Problem Play dem banalen Rührstück. Die für einen ernsten Dramatiker unbefriedigenden Theaterverhältnisse veranlaßten den gelehrten Verfasser - Moody war Universitätsprofessor in Chicago -, unter Verzicht auf die Bühne Aussprache im Versdrama zu suchen. In einer geplanten Trilogie schildert er, wie Prometheus, der Fire Bringer (1904), die zwischen Gott und Mensch bestehende Einheit durch das unabhängig machende Geschenk des Feuers zerstört. Aber Gott - so entwickelt es The Masque of Judgment (1900) - kann den Menschen nicht vernichten, ohne sich selbst zu vernichten, und der als Bruchstück hinterlassene dritte Teil, The Death of Eve, sollte die Versöhnung und erneute Einheit von Gott und Mensch zum Thema haben. Amerika gelangte auch nicht zu einem dem irischen und englischen vergleichbaren poetischen Drama. Als Verdienst um die Hebung des Theaters müssen jedoch The Piper (1910), das mit der Geschichte des Rattenfängers von Hameln den Konflikt zwischen christlicher Liebe und der Macht des Teufels gestaltet, und andere Versdramen von JOSEPHINE PRESTON PEABODY (MARKS)47 (1874-1922) sowie die Maskenspiele von PERCY MAcKAYE48 45

Six Plays, ed. M. J. Moses (Boston, 1928). - C. Timberlake, The Bishop of Broadway: The Life and Work of D. B. (N. Y., 1954). 46 Poems and Plays, ed. J. M. Manly, 2 Bde. (Boston, 1912); Some Letters of W. V. M., ed. D. G. Mason (Boston, 1913); Letters to Harriet, ed. P. MacKaye (Boston, 1935). M. F. Brown, Estranging Dawn: The Life and Works of W. V. M. (Carbondale, 111., 1973). 47 Poems and Plays (N. Y., 1927). Diary and Letters, ed. C. H. Baker (N. Y., 1925). 48 Poems and Plays, 2 Bde. (1916).

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(1875-1956) genannt werden. Nach dem bühnenwirksamen Märchenstück The Scarecrow (1908), einer Dramatisierung von Hawthornes 'Feathertop', und mehreren Versdramen suchte MacKaye auf das Theater der Zukunft hinzuarbeiten durch große Gemeinschaftsspiele, die, ähnlich wie es Vachel Lindsay für seine Lyrik durchführte, die Mitarbeit des Publikums erfordern. Das Festspiel zum 150jährigen Bestehen von Saint Louis (1914) verlangte Tausende von Mitwirkenden, und die als 'ballad-play' und 'folk opera' bezeichneten volkstümlichen Spiele Washington, the Man Who Made Us (1919) und Rip van Winkle (1919) erneuerten die breite Wirkung des früher unter puritanischer Anfeindung stehenden Theaters. Noch erfolgreicher für die Hebung des allgemeinen Interesses am Theater war der umgekehrte Weg über die Kammerspiele, die Abfassung und Aufführung anspruchsvoller Stücke förderten, wie das die freien Bühnen in Europa getan hatten. Die amerikanischen Theaterverhältnisse waren seit Anfang des Jahrhunderts in durchgreifender Umbildung begriffen. Die herumreisenden Truppen, die im 19. Jahrhundert das amerikanische Theaterleben bestimmt hatten, verschwanden allmählich, da sie sich infolge der steigenden Tourneekosten und der Konkurrenz des Films nicht mehr rentierten. So konzentrierte sich das Theaterleben auf die großen Städte, insbesondere New York, wo 1927 achtzig Theater spielten. Bei diesem Wettbewerb war man auf zugkräftige Stücke angewiesen. Versuche kleiner Repertoiretruppen in den Provinzstädten - etwa der Hornimanschen Truppe in Manchester entsprechend - schlugen fehl, da es kein entsprechendes Publikum gab. Es ist das Verdienst der amerikanischen Universitäten, hier geschmacksbildend eingegriffen zu haben. Brander Matthews (1852-1929), der selbst Theaterstücke verfaßte und 20 Jahre lang an der Columbia-Universität die erste Professur für dramatische Literatur bekleidete, hat durch Vorlesungen und Bücher das Interesse breiter Kreise am Drama geweckt, und William Lyon Phelps (1865-1943) hat in Yale eine ähnliche Wirksamkeit entfaltet. Entscheidend war die Tätigkeit von GEORGE PIERCE BAKER49 (1866-1935), dessen '47 Workshop' in Harvard (1905-25) eine Dramatiker- und Theaterschule war. O'Neill, S. N. Behrman, Sidney Howard nahmen an seinen Übungen teil, und Thomas Wolfe hat das Bild des Lehrers als 'Professor Hatcher' in seinem Roman Of Time and the River' verewigt. Nach dem Universitätsvorbild entstanden eine Fülle von Kleinbühnen im ganzen Land, von denen drei größere Bedeutung erlangten: das Neighbourhood Playhouse, 1915 von einer Gruppe junger Leute aus dem New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village gegründet, das gleichzeitige, von den Washington Square Players und dann von der Theatre Guild geleitete Theater, das in den zwanziger Jahren führend war, und das Playwrights' Theatre, das deshalb besonderes Interesse hat, weil es im Gegensatz zu den anderen ganz amerikanisch blieb. Von der Dramatikerin SUSAN GLASPELL (1882-1948) in Provincetown, Mass., 1915 gegründet und geleitet und 1916 nach New York verlegt, brachte es fortschrittliche Stücke 49

Vgl. W. P. Kinne, G. P. B. and the American Theatre (Cambr., Mass., 1954).

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verschiedener Richtung zur Aufführung: die frühen Stücke O'Neills, Glaspells an Shaw anklingende Kurzdramen (Suppressed Desires, 1914; Trifles, 1916) und Problemstücke (Bernice, 1919; Inheritors, 1921; Alison's House, 1930), die poetischen, sich an Yeats anlehnenden Spiele von EDNA ST. VINCENT MILLAY (1892-1950) (The Princess Marries the Page, 1918; Aria da capo, 1919), u. a. mehr. Mit dieser Neugestaltung des Theaters waren, wenn auch zwei Jahrzehnte später als in Europa, einem neuen, in Themen und Form experimentierenden Drama in Amerika alle Möglichkeiten eröffnet. Dies Drama neigte teils zu einem vom Realismus sich entfernenden, gelegentlich auch zu einem in der Form expressionistischen Theater, teils suchte es in einer Weiterentwicklung des realistischen Problem Play das neue Lebensgefühl und die neuen sozialen und weltanschaulichen Probleme der Nachkriegszeit zur Diskussion zu stellen. Beide Richtungen sollen zum Zweck der Übersichtlichkeit getrennt verfolgt werden, obwohl damit kein zeitliches Nacheinander und keine absolute Trennung der beiden Zweige des dramatischen Schaffens behauptet wird. Neben ihnen lief die Entwicklung eines literarisch nicht bedeutenden, aber für die amerikanische Bühne des 20. Jahrhunderts kennzeichnenden Lustspiels einher, dessen volkstümlich optimistische Grundhaltung, bühnenwirksame Handlungsbewegtheit und Verbindung von farcenhaften und sentimentalen, vielfach auch Singspiel- und varietehaften Elementen eine eigene amerikanische Note mitbringen. Diese populäre Komödie verspottet, wie schon Mark Twain und der amerikanische Volkshumor, vor allem das Überpathetische und Feierliche, stellt aber diese und andere Schwächen - naive Überheblichkeit, ein wendiges bluffendes, auf den Dollar gerichtetes Erfolgsstreben, eine jungenhaft-ahnungslose Unbekümmertheit oder ein ruheloses Neuerungsbedürfnis - nicht ätzend kritisch, sondern in wohlwollenden, im Grunde zustimmend gemeinten Karikaturen heraus. Der komische Charakter - meist der simple kleine Mann - wird nicht nur, wie durchweg in der europäischen Komödie, verlacht, sondern auch als derjenige, der die Erfahreneren, Gebildeteren, Wohlhabenderen und scheinbar Klügeren überlistet, bewundert, worin sich deutlich das Selbstvertrauen des Durchschnittsamerikaners zeigt. Stücke dieser Art schrieb schon GEORGE ADE (1866-1944), in dessen The County Chairman (1903) z. B. kauderwelschende Rede, Hurrapatriotismus und politische Anmaßung auf belustigende Weise bloßgestellt werden. In einem Spiel wie The Yankee Prince (1908) von GEORGE M. COHAN (1878-1942) wird der zielsicher-witzige Dialog der populären Schaubühne mit seinen typisch amerikanischen 'wisecracks' - den schlagfertig-umgangssprachlichen, knappen komischen Bemerkungen - zum wichtigen Darbietungsmittel, das sich deutlich von der geistvoll geschliffenen längeren Rede in der europäischen Komödientradition unterscheidet. Dem Muster folgen WINCHELL SMITH (1871-1933), dessen The Fortune Hunter (1909) die kennzeichnende Mischung von Burleskkomik und Sentimentalität besonders deutlich zeigt, und GEORGE KELLY (1887-1974), in dessen The Show-Off (1924) die Großspurigkeit eines amerikanischen Aufschneiders lächerlich gemacht, zu-

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gleich aber - als eine Spielart der 'success story' - anerkannt wird. Weitere Vertreter dieses volkstümlichen Komödientypus sind EDNA FERBER (1887 bis 1968), Moss HART (1904-1961) und besonders GEORGE S. KAUFMAN (1889 bis 1961), der seine bekanntesten Stücke, wie Once in a Lifetime (1930), Of Thee I Sing (1931) und The Man Who Came to Dinner (1939), in Zusammenarbeit mit anderen Autoren schrieb. Auch einige der kurzen Bühnenstücke von WILLIAM SAROYAN (1908-1981), deren Spontaneität zunächst überraschte (My Heart's in the Highlands, 1939; The Time of Your Life, 1939), die aber immer formloser wurden, kann man in diesem Zusammenhang sehen. Nach dem Kriege wurde die amerikanische Lustspieltradition fortgesetzt mit so erfolgreichen Dramen wie Born Yesterday (1946) von GARSON KANIN (geb. 1912), Mister Roberts (1948) von THOMAS HEGGEN (1919-1949) und JOSHUA LOGAN (geb. 1908) und dem liebevoll ironischen The Teahouse of the August Moon (1953) von JOHN PATRICK (geb. 1905), das die demokratische Umerziehung japanischer Insulaner nach den in Washington ausgearbeiteten schematischen Vorschriften durch die gewitzte und humane Bevölkerung ad absurdum führt.

7. Das poetische und expressionistische Drama in Amerika Mit dieser Überschrift, die in weiterem Sinne gemeint ist und die vom Realismus wegführenden Bestrebungen zusammenfassen soll, sei auch eine Verbindung zu den gleichgerichteten europäischen Theaterbestrebungen geschlagen; ohne irgendwelche Abhängigkeit zu untersuchen, sei nur die Gleichgestimmtheit betont mit dem symbolischen Drama eines Yeats und mit dem stilisierten Theater eines Gordon Craig, mit dem deutschen expressionistischen Theater eines Georg Kaiser und anderen Autoren der Zwischenkriegszeit und mit den russischen Anregungen, die von Meierholds Moskauer Bühne ausgingen. Da Amerika keine der europäischen ähnliche dramatische Tradition besaß, sind die extremen Formen expressionistischer Dramatik stärker vertreten als die überleitenden, den Realismus allmählich zurückdrängenden poetischen, symbolischen und stilisierten Theaterstücke. Immerhin erinnern die auf Glaspells Bühne aufgeführten Versspiele von Edna St. Vincent Millay an Yeats, wie auch die Puppet-Plays von ALFRED KREYMBORG (1883-1966), die bezeichnenderweise mit einem Vorwort von Gordon Craig 1923 erschienen, den Yeatsschen „Spielen für Tänzer" gleichgerichtet sind. Sie ersetzen die Charaktere durch stilisierte Figuren, und wenn sie auch nicht das Tragen von Masken vorschreiben, so weisen der Titel der ursprünglichen Sammlung Plays for Poem-Mimes (1918) und die Überschriften der einzelnen Spiele als 'a dance play', 'a cubic play' etc. in dieselbe Richtung. Eine deutsche Anregung zeigt sich bei MARC CONNELLY (geb. 1890), der an G. S. Kaufmans Beggar on Horseback (1924) mitarbeitete, einer freien Gestaltung von Paul Apels Traumlustspiel „Hans Sonnenstößers Höllenfahrt",

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das des Künstlers Bedrängung durch die Bourgeoisie zum Thema hat. Originell ist Connellys Dramatisierung von Roark Bradfords (1896-1948) Negergeschichten unter dem Titel The Green Pastures (1930), die, zugleich rührend und grotesk, biblische Szenen aus der Vorstellungswelt der Negerchristen auf die Bühne bringen. Ist das nur ein Brückenschlägen von Realismus zu Phantastik, so nutzt ELMER Rice50 (Reizenstein, 1892-1967) wirkungsvoll expressionistische Technik in seiner Phantasmagoric The Adding Machine (1923), einer bitteren Satire auf Unterdrückung und Konformismus. THORNTON WILDER 51 (1897-1975) suchte nach Wegen, das naturalistische Theater zu überwinden durch eine stärkere Wechselwirkung zwischen Bühne und Zuschauer. Nach einer Reihe von Kurzdramen errang er mit Our Town (1938) einen großen Erfolg. Ohne Bühnenausstattung, nur mit ein paar Tischen, Stühlen und Leitern, spielt sich das Geschehen in episodischer Reihung und unter Zuhilfenahme der Pantomime ab. Ein Spielleiter begleitet das Stück mit Erklärungen und ermahnt das Publikum zur Besinnung. Gelegentlich übernimmt er auch selbst eine Rolle. Stilisierung und epischen Erzähler fand Wilder im chinesischen Theater, aber es klingen auch antike und mittelalterliche Vorbilder an, sowie der Marionettenspieler und der Conferencier. Die Handlung, die in einer kleinen Stadt Neuenglands in den Jahren 1901-1913 spielt, ist unwichtig. Es geht nur darum, das Verhalten einer Durchschnittsfamilie in menschlichen Grundsituationen sichtbar zu machen, die man bereits an den Überschriften der drei Akte ablesen kann: 'Daily Life', 'Love and Marriage' und 'Death'. Den Sinn des schlicht menschlichen, idyllisch-sentimentalen Stücks unterstreicht der Schluß, wenn die junge, im Kindbett gestorbene Frau sich vom Kirchhof in ihr früheres Leben zurückwünscht, das sie, weise und zufrieden geworden, aber auch betroffen über die Blindheit der noch Lebenden, bereits nach einem Tage wieder verläßt. Das Glückhafte dieses Spiels erhielt in The Skin of Our Teeth (1942) sein apokalyptisches Gegenstück. Das von 'Finnegans Wake' beeinflußte Menschheitsdrama rückt die Zeiten und Räume an- und ineinander und zeigt, wie der Mensch immer wieder vom Untergang bedroht war, in der Eiszeit, der Sintflut, dem Krieg. Mit unbändigem Lebenswillen hat er sich jedoch stets mit knapper Not der Vernichtung entziehen und mit trotzigem Glauben immer wieder neu beginnen können - ein humanistisches Credo, das in der aufgestörten Welt unmittelbar nach dem letzten Krieg auf die noch einmal „Davongekommenen" von tiefer Wirkung war. Der zuerst 1955 in Edinburgh aufgeführten, auf Euripides fußenden „Alkestiade", A Life in the Sun, die das Grundthema der Berührung von Diesseits und metaphysischer Welt weiterführt und von der Überbrückung der Kluft zwischen Mensch und Gott im stellvertretenden Opfer handelt, blieb der Erfolg versagt. Das gleiche gilt von 50 51

Seven Plays (N. Y., 1950). - F. Durham, E. R., TUSAS (N. Y., 1970). Three Plays: Our Town, The Skin of Our Teeth, The Matchmaker (N. Y., 1957); The Alcestiad: or, A Life in the Sun, and The Drunken Sisters: A Satyr Play (N. Y., 1977). - D. Haberman, The Plays of T. W.: A Critical Study (Middletown, Conn., 1967); s. auch S. 968, Anm. 32.

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drei Stücken, die zu einem geplanten 14 teiligen Zyklus über die sieben Lebensalter und die sieben Todsünden gehören sollten: Infancy, Childhood und Someone from Assist, die J 962 als Playsfor Bleecker Street (nach der Lage des Theaters benannt) in New York aufgeführt wurden. Der bedeutendste Vertreter des poetischen Dramas in Amerika ist MAXWELL ANDERSON 52 (1888-1959), der nach dem Bühnenerfolg seines abstoßend brutalen und für die revolutionäre Erschütterung der Nachkriegsgeneration bezeichnenden Kriegsstücks What Price Glory? (1924, zusammen mit Laurence Stallings) sich bald ganz dem Versdrama zuwandte. In den historischen Tragödien Elizabeth the Queen (1930) und Mary of Scotland (1933) gestaltete er in freier Verwertung der geschichtlichen Tatsachen den vielfach behandelten Stoff der Essexliebschaft und der Rivalität der Königinnen. Da Essex auf das ihm nahegelegte Gnadengesuch verzichtet, ist auch für Elisabeth der Ausgang tragisch. Maria Stuart ist wie bei Schiller idealisiert und erscheint gegenüber der herrischen, intrigierenden Elisabeth als Inbild der Schönheit, Reinheit und Glaubensstärke. Wie in Drinkwaters historischen Dramen handelt es sich um menschliche Konflikte, die durch den Widerstreit der dynastischen Interessen nur akzentuiert werden. Die Geschichte ist gewissermaßen der das Thema effektvoll herausstellende Rahmen. Auch der Ton ist weniger der historischen Figur als dem psychologischen Thema angepaßt, und der Blankvers wirkt häufig wie Prosa. In The Masque of Kings (1936) wird in die Mayerlingtragödie ein Don Carlos-Philipp-Gegensatz zwischen dem liberalistischen Kronprinzen Rudolf und seinem starren Vater Franz Joseph hineininterpretiert, und Valley Forge (1934) benutzt eine historisch nicht erwiesene Friedensverhandlung zwischen Washington und dem englischen Befehlshaber William Howe, um dem Entschluß zur Fortsetzung des Befreiungskrieges dramatisches Relief zu geben. Geschichtliche Persönlichkeiten behandeln auch Joan of Lorraine (1946), eines der vielen Jeanne d'Arc-Dramen, und das Anne Boleyns Schicksal abwandelnde Anne of the Thousand Days (1948). Historische Stoffe haben ihre Gefahren; wenn Washington ein Kongreßmitglied aus dem Zimmer wirft und demokratisch mit den Soldaten argumentiert, so ist für den historisch denkenden Europäer die dem Dichter zuzubilligende Freiheit überschritten. Diesem Vorwurf entgeht Anderson in Wintersei (1935), einer freien Bearbeitung der berüchtigten Sacco-Vanzetti-Justizaffäre. Hier kann er den Schrei nach Gerechtigkeit expressionistisch zu stärkstem Ausdruck bringen, wozu auch die symbolischen Bühnenbilder beitragen. In High Tor (1936), einer satirischen Phantasie über die industrielle Vergewaltigung persönlicher Freiheit, herrscht ebenfalls eine weit52

Three American Plays (N. Y., 1926) [enthält die mit L. Stallings verfaßten Stücke: What Price Glory? (1924), First Flight (1925), The Buccaneer (1925)]; Eleven Verse Plays (N. Y., 1940) [die im Text genannten Titel enthaltend]; Ausgaben der späteren Stücke: Lost in the Stars (N. Y., 1950); The Bad Seed (N. Y., 1955); The Golden Six (N. Y., 1958). Dramatist in America: Letters of M. ., ed. L. G. Avery (Chapel Hill, 1977). - M. D. Bailey, M. A.: The Playwright as Prophet (N. Y., 1957); A. S. Shivers, M. A., TUSAS (Boston, 1976).

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gehende Abkehr vom Realismus. Wie sehr die Bühne für Maxwell Anderson „moralische Anstalt" war, zeigt das in der französischen Revolution spielende Hörspiel The Feast of Ortolans (1937) wie auch das idealistische Versdrama Key Largo (1939), dessen Held, der als amerikanischer Freiwilliger im Spanischen Bürgerkrieg sein eigenes Leben rettete, seine Schuld zu tilgen sucht, indem er die Geschichte vom Heldentod seiner Kameraden erzählt und sich am Ende für eine ihn persönlich überhaupt nicht berührende Sache opfert. Maxwell Andersons Eintreten für das Versdrama, das er im Gegensatz zu O'Neill für den überlegenen Dramentyp hielt, ist in Amerika ohne Nachfolge geblieben. Weniger tröstlich, aber von ungleich größerer dynamischer Wucht sind die Dramen EUGENE O'NEILLS53 (l 888-1953), des größten Theatertalents, das Amerika bisher hervorgebracht hat. Schon sein früher Einakter The Moon of the Caribbees (1918), der eine in der Tropennacht aufflammende und dann wieder verlöschende Orgie der Matrosen mit Rum und schwarzen Mädchen szenisch gestaltet, zeigt technische Meisterschaft und künstlerische Eigenart, obwohl Einflüsse von Conrad, Strindberg und dem deutschen Expressionismus offenkundig sind. Die dabei auffällige Neigung zu episch-lyrischer Stimmungsmalerei - das Stück beginnt und schließt mit einem vom Land herüberklingenden melancholisch-eintönigen Negerlied - ist auch für das erste längere Stück Beyond the Horizon (1920) bezeichnend, das im Schicksal zweier Brüder und der zwischen ihnen stehenden und nachher ungeliebt zurückbleibenden Frau eine tragische Lebensauffassung zu erkennen gibt. Das tritt noch stärker hervor in Anna Christie (1921), O'Neills erstem Bühnenerfolg, vielleicht wegen des sehr geschickten, aber trotzdem nicht recht überzeugenden versöhnlichen Schlußausblicks. Die Spannung des Stücks beruht auf der seltsam gemischten tragisch-ironischen Atmosphäre und der starken Betonung eines allerdings von außen an die Menschen herantretenden Schicksals. Das erscheint verinnerlicht in The Emperor Jones (1920), einer Folge von sechs spukhaften Monologszenen, in denen sich, in Gespensterfurcht und Todesangst, das Schicksal eines Negerkaisers vollendet. Das in der expressionistischen Form dieses Dramas angedeutete Abrücken von dem frühen naturalistischen Stil vollzieht sich in The Hairy Ape (1922) durch einen auch in der Sprache hervortretenden Zug zum Symbolhaften. Auf der Suche nach seiner Identität und „Zugehörigkeit" erbricht der primitive Heizer Yank (der „haarige Affe") schließlich im Zoo den Käfig eines Gorilla, um ihn als Gefährten zu gewinnen, wird von diesem jedoch ironischerweise erdrückt. In dem Negerstück All God's Chillun Got Wings (1924), das die zu Wahnsinn 53

The Plays of E. O'N., 16 Bde. (1922-65); Nine Plays, ed. J. W. Krutch (ML). - A. and B. Gelb, O'N. (rev. edn. N. Y., 1973); L. Sheaffer, O'N.: Son and Playwright (1969) und O'N.: Son and Artist (1973); F. I. Carpenter, E. O'N. (N. Y., 1964); T. Tiusanen, O'N.'s Scenic Images (Princeton, 1968); H. Frenz, E. O'N. (N. Y., 1971); T. Bogard, Contour in Time: The Plays of E. O'N. (N. Y., 1972); G. Ahrends, Traumwelt und Wirklichkeit im Spätwerk E. O.'s (Heidelberg, 1978). O'N. and His Plays: Four Decades of Criticism, edd. O. Cargill et al. (N. Y., 1961).

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und Elend führende Ehe eines intelligenten Negers mit einer minderwertigen Weißen schildert, wird das Bühnenbild, dessen Formen sich verzerrend die menschliche Entartung begleiten, expressionistisch verlebendigt, wie überhaupt die theatralische Begabung O'Neills den modernen Bühnenmechanismus sinnvoll in das Spiel einzubeziehen strebt zu einer oft überwältigenden einheitlichen Stimmungswirkung. In der packenden Bauerntragödie Desire Under the Elms (1924) überschatten vier Riesenulmen bedrohlich die alte Neuenglandfarm, die zum Schauplatz für ein menschliches Schicksal wird, das Geist und Ausmaß der antiken Tragödie ins Gedächtnis ruft. In Marco Millions (1927, aufgef. 1928) gestattet die orientalische Szenerie, den Gegensatz zwischen dem geschäftstüchtigen venezianischen Abenteurer und der feinen Kultur des Ostens expressionistisch zu steigern. Dem auf materiellen Gewinn ausgehenden Marco Polo wird dieser Gegensatz gar nicht bewußt, was menschlich ergreifend durch die unbeachtete Liebe Kukachins zum Titelhelden zum Ausdruck kommt. O'Neills Einspruch gegen die materialistischen Maßstäbe richtet sich nicht gegen das Leben selbst. Bei aller Härte und der ungeschminkt gezeigten Grausamkeit des Lebens fühlt man eine sich behauptende Kraft, die in dem symbolisch Leben und Tod umspielenden Lazarus Laughed (1927, aufgef. 1928) zur Heiligsprechung des Lebens wird: 'Fear not life'! - sagt Lazarus zum Volk - 'you die, but there is no death for Man!' Das Lazarusdrama, das nicht zu den bühnenwirksamsten gehört, ist formal interessant; es hat in freier Verwertung des griechischen Vorbildes sieben maskentragende Chöre, die sieben Lebensepochen darstellen mit je sieben Charaktertypen. Aus dem vielfältigen und stets durch neues Experimentieren überraschenden Schaffen O'Neills heben sich das „Seltsame Zwischenspiel" und „Trauern ziemt Elektra" heraus. Entsprechend dem Einfall in einem früheren Stück (The Great God Brown, 1926), die Menschen Masken tragen und abnehmen zu lassen, je nachdem sie ihre wirkliche Persönlichkeit verhüllen oder zeigen, begleiten in dem neunaktigen, Strindberg verpflichteten Strange Interlude (1928) die 'monologues Interieurs' der halbbewußten Gedanken die zwischen den Spielern gesprochenen Worte. Denn dies das Leben bedeutende seltsame Zwischenspiel läßt die Konflikte aus dem Unbewußten der handelnden Charaktere aufsteigen, aus der unbewußten Eifersucht des Vaters, der die Vereinigung der Tochter mit dem Verlobten hindert, und aus der sexuellen Enttäuschung der Tochter durch den Tod des Verlobten. Den hier durch ein resigniertes Weiterleben vermiedenen tragischen Ausgang, den das Geschehen fordert, bringt die dreizehnaktige Trilogie Mourning Becomes Electra (1931), der bedeutendste Versuch des Expressionismus, sich des Atridenmythos zu bemächtigen. An die Stelle des antiken Glaubens an den Fluch der Götter tritt eine psychoanalytische Motivierung: der in den Ahnen nicht gelöste Konflikt zwischen puritanischer Unterdrückung des Trieblebens und der Sinnenfreude kommt in der nachfolgenden Generation in neuer, gesteigerter Form zum Ausdruck, bis er die Familie vernichtet. Das Geschehen ist auf wenige Gestalten zusammengedrängt; sie alle sind Getriebene, haben einen Vater- oder Mutterkomplex

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und handeln in dauernden Krisen von Liebe und Haß. Ihre Beziehungen sind unheimlich: jede Figur ist auf die andere eifersüchtig und redet anders als sie denkt, und wie schon bei Strindberg werden Örtlichkeiten und Unbelebtes zu lebendigen Symbolen. Das Stück endet mit dem bis zum letzten erfüllten Fluch: Lavinia (die der Elektra des Äschylus entspricht) läßt die Läden des Hauses zunageln; lebendig begraben, will sie die Schuld sühnen. Die Toten haben über die Lebenden gesiegt. Die Trilogie ist O'Neills größtes und geschlossenstes Werk. Das 1934 folgende Mysterienspiel Days without End greift wieder das religiöse Thema auf. Die zwei Seelen in der Brust des agnostischen Helden sind in zwei Personen verkörpert, deren Kampf endet durch die rettende Liebe der Frau mit dem Sieg des Guten und der Wiedergewinnung des Glaubens. Man ist versucht, die geringe dramatische Durchschlagskraft dieses mit einem religiösen Ausblick schließenden Stückes durch eine biographische Deutung zu erklären, aber die Dramen der letzten Phase führen erneut in O'Neills düstere, hoffnungslose, vom Lebensekel gezeichnete Welt. The Iceman Cometh (1946), das autobiographische Züge ebenso wie den Einfluß von Gorkis „Nachtasyl" aufweist, spielt in einer schmutzigen New Yorker Bar, in der eine Gesellschaft gescheiterter Existenzen sich dauernd betrinkt, um ihre Illusionen aufrechtzuerhalten. In diese Gesellschaft dringen zwei Besucher: Don Parritt, der seine Mutter ins Gefängnis gebracht hat, und der von allen bereits erwartete Handlungsreisende Hickey, der die Runde stets fidel unterhielt. Doch Hickey erscheint merkwürdig gewandelt. In der Rolle eines Erweckungspredigers fordert er alle auf, sich von ihren 'pipe dreams' zu befreien und in die Wirklichkeit zurückzukehren. Dieser Zwang zur Wahrheit, zu der keiner den Mut hat, wirkt wie ein von Hickey ausgehender lähmender Todesschatten. Der Bote des Heils ist in Wirklichkeit der „Eismann", ein Bote des Todes, ein Mörder, der seine Frau tötete, um ihr die Illusion zu erhalten, einen besserungsfähigen Mann zu haben. Das Stück endet in völliger Negation, denn Hickey wird von der Polizei, die er selbst gerufen hat, abgeführt. Alles atmet erleichtert auf; offensichtlich war Hickey irrsinnig, und man kann, um mit Ibsen zu sprechen, die alte Lebenslüge fortsetzen. Nur Don Parritt prüft, vom Eismann angerührt, sein Gewissen und stürzt sich aus dem Fenster. Der ehemalige Anarchist Larry, der Don Parritts Mutter liebte, möchte ihm folgen, hat aber nicht den Mut dazu. In eine ähnliche Atmosphäre führt Long Day's Journey into Night (abgeschl. 1941, aufgef. 1956). Das Stück gibt das (stark autobiographische) Bild einer zerrütteten Familie, in welcher der ausschweifend lebende Vater es der Mutter unmöglich macht, ihren Kindern ein Zuhause zu schaffen. Sie greift daher zum Rauschgift, und in solchem Milieu wird der eine ihrer Söhne zum Zyniker und Nichtstuer, der andere - der spätere Autor - zum tragisch gestimmten Philosophen. In den Selbstanschuldigungen und gegenseitigen Vorwürfen der Familienmitglieder klingt die Frage nach Schuld und Verantwortung und nach dem Sinn des Lebens an; die Katastrophe ist nach dem Verlauf des einen Tages offenkundig. A Moon for the Misbegotten (1947)

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ist die Geschichte des Säufers Jim Tyrone, der sich seiner Mutter zuliebe besserte und nicht darüber hinwegkommt, daß sie ihn in ihrer Sterbestunde wieder betrunken sah, und der nun in alkoholischen und sexuellen Ausschweifungen Vergessen sucht. Das thematisch straffe, nur drei Hauptpersonen enthaltende und die Einheiten wahrende Stück hat dieselbe gespannte und menschlich beklemmende Atmosphäre wie der 'Iceman', aber die Szene (im 3. Akt), in der die Heldin Josie erkennt, daß der von ihr begehrte Tyrone nicht körperliche Liebe braucht, von der er genug hatte, sondern Verstehen, vermag menschlich zu ergreifen. Doch es ist nur ein flüchtiges Aufleuchten in einer hoffnungslosen Welt. O'Neill hat uns kein versöhnliches Abschiedswort gegeben. Aus dieser letzten Zeit stammen auch die erst postum aufgeführten Dramen A Touch of the Poet (1957), der Einakter Hughie (1958), und More Stately Mansions (1962). Sie waren als Teilstücke geplant für einen Tteiligen Zyklus, A Tale of Possessors Self-Dispossessed.

8. Das neu-naturalistische Drama in Amerika Ähnlich hoffnungslos düster sind die meisten der einer neu-naturalistischen Richtung zuzuordnenden Schauspiele, die nur gelegentlich durch Ironie erhellt werden. Die Dinge, die der europäische Realismus der Ibsenzeit aussprach und mit dieser Aussprache erledigte, tauchen in Amerika erst später auf und finden eine gröbere Darstellung. Eine Erörterung der Rechte der Frau und Verwerfung der doppelten Moral, wie sie die Schauspielerin RACHEL CROTHERS (1878-1958) in Stücken mit so bezeichnenden Titeln wie A Man's World (1909) und He and She (1911) vertritt, war in Europa schon damals ein abgedroschenes Thema. Auch die Gesellschaftskomödie eines PHILIP BARRY54 (1896-1949) hat es mit in Europa überholten Themen wie dem Konflikt der Generationen und der materiellen und geistigen Interessen zu tun (z. B. You and I, 1922; Holiday, 1928). Die dramatische Phantasie White Wings (1926) ist eine Satire auf die Feinde des Fortschritts, Hotel Universe (1930) handelt von den Schwierigkeiten und Frustrationen amerikanischer Emigranten, die am Ende durch die seelische Kraft des alten Stephen Field zu einem neuen Glauben an das Leben finden, und Tomorrow and Tomorrow (1931) baut ein ausgeklügeltes psychoanalytisches Problem zusammen. Barrys große Bühnenerfolge beruhen auf seiner sicheren Dialogführung und Charakterzeichnung. Bei seinen vom Realismus abweichenden dramatischen Phantasien stellt sich des öfteren eine Groteskkomik ein, die etwas Versöhnendes hat. Auch die Stücke von SAMUEL NATHANIEL BEHRMAN 55 (1893-1973) können keine bleibende literarische Bedeutung beanspruchen. Wenn in The Second Man (1927) ein junger zweitrangiger Schauspieler sich gegen das Ideal ro54 55

G. Hamm, The Drama of P. B. (Philad., 1948); J. Rappolo, P. B. (N. Y., 1965). K. T. Reed, S. N. B., TUSAS (Boston, 1975).

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mantischer Liebe und für eine ihn wirtschaftlich unabhängig machende Vernunftehe entscheidet, oder wenn in Brief Moment (1931) ein reicher junger Mann die Ehe mit einer Kabarett-Tänzerin, in der er Natürlichkeit zu finden glaubte, als Mesalliance erkennt, so sind die Konflikte, die einen Pinero immerhin ernstlich beschäftigten, durch die hereingetragene oberflächliche Komik entwertet. In ähnlicher Weise bleibt die in Biography (1932) von einem politischen Opportunisten und einem fanatischen Revolutionär umworbene Malerin in einer belustigend beobachtenden Neutralität. Die im Grunde vage gedankliche Position wird deutlicher in späteren Stücken, besonders dem bezeichnenderweise No Time for Comedy (1939) benannten, worin Elemente der realen Welt auftauchen, die das spielerische Gleichgewicht stören, etwa in der fast tragischen Gestalt des politischen Flüchtlings aus Deutschland, der in die Schrecken seiner Welt zurückkehren muß. PAUL GREEN 56 (geb. 1894) schrieb für seine Bühne der 'Carolina Playmakers' Kurzdramen im Negerdialekt; er malt in dem tragischen Dreiakter In Abraham's Bosom (1926) die hoffnungslose Lage des Negers in den Südstaaten. SIDNEY HOWARD (1891-1939), der in der tragikomischen Brautwerbungsgeschichte They Knew What They Wanted (1924) die menschlich ergreifende Gestalt des alten in Kalifornien angesiedelten italienischen Winzers Tony prachtvoll herausarbeitet, wählte in seinem bekanntesten Stück, The Silver Cord (1926), einen pathologischen Fall. Die Mutter, deren Eifersucht und Herrschbegierde das Liebesglück ihrer Söhne zerstört, mag eine willkommene Rolle für eine gute Schauspielerin bieten, sie ist aber eher von psychoanalytischem als allgemein menschlichem Interesse. Alle diese Stücke zeigen dramentechnisches Geschick; dafür sorgte schon die Schulung in dem Harvard Workshop. Auffallend ist die Neigung zu epischer Breite. Dem Dialog fehlt es an Gedankenspannung und Witz, wie der Vergleich einiger Seiten der Gesellschaftsstücke von S. N. Behrman oder G. S. Kaufman mit einem beliebigen Stück von Shaw sofort deutlich macht; der Dialog mäandert und hat keinen dramatischen Nerv. Deshalb die Vorliebe für starke Effekte, äußerste Situationen. Der Neu-Naturalismus stellt chaotische Moralzustände dar, die eher Gerichtsakten als dem normalen menschlichen Leben entnommen sind, und die Unparteilichkeit der Registrierung scheint Ausdruck einer bis zum menschlichen Bankrott gehenden Desillusion zu sein. Als Beispiel diene die Street Scene (1929) von Elmer Rice (s. S. 937). Sie schildert hoffnungslos zerrüttete Familienverhältnisse aus niederen New Yorker Kreisen. Die Mutter begeht Ehebruch mit dem Milchmann, der Vater schlägt in trunkener Wut beide tot, die Kinder haben ein freudloses Leben vor sich. CLIFFORD ODETs'57 (1906-1963) erfolgreichstes, technisch interessantes Stück Waiting for Lefty (1935) hat einen Streik der New Yorker Taxifahrer zum Thema. Vor der den Chor darstellenden Streikversammlung, die ihn 56

A. B. Adams, P. G. of Chapel Hill (Chapel Hill, 1951); V. S. Kenny, P. G. (N. Y., 1971). 57 Six Plays (N. Y., 1935). - G. Weales, C. O., Playwright (N. Y., 1971).

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durch Zwischenrufe unterbricht, hält der Kapitalist, die Verkörperung der Schicksalsmacht, eine Rede, und Redner wie Versammlung bleiben im Halblicht sichtbar, während sechs Szenen ohne Requisiten gespielt werden, die (in filmischen Rückblenden) die Ursachen des Streiks zeigen. Die Nachricht von der Ermordung des erwarteten Gewerkschaftsführers Lefty Costello führt den Streikbeschluß herbei. In derselben sozialistischen Richtung, technisch jedoch in der realistischen Tradition verbleibend, bewegen sich Till the Day I Die (1935), das den Kampf der deutschen Kommunisten zu Beginn des Hitlerregimes schildert, und das ebenfalls im Jahre 1935 aufgeführte Stück über die Wirtschaftskrise, Awake and Sing!. Auch LILLIAN HELLMAN 58 (geb. 1905) schrieb eindringliche sozialethische Dramen mit starken melodramatischen Effekten. The Little Foxes (1939) handelt von einer Familie im amerikanischen Süden, den Hubbards, deren Habgier die Neger rücksichtslos ausbeutet, die familiären Beziehungen vergiftet und alle menschlichen Werte erstickt. Doch am Ende bekennt sich die Tochter zur Wahrheit und sucht nach Mitkämpfern gegen die Korruption und Mißstände der Gesellschaft. Während des Krieges schrieb Lillian Hellman zwei antifaschistische Dramen, Watch on the Rhine (1941) und The Searching Wind (1944), kehrte danach noch einmal zu den erpresserischen Konflikten der Hubbard-Familie zurück (Another Part of the Forest, 1946), um dann ihrem neuen Vorbild Tschechow zu folgen (The Autumn Garden, 1951, und Toys in the Attic, 1960).

9. Das amerikanische Drama seit den fünfziger Jahren59 Aus der Vielfalt des amerikanischen Dramas nach dem zweiten Weltkrieg ragen drei Namen heraus, die zugleich Hauptrichtungen der zeitgenössischen Dramatik repräsentieren: das sozialkritische Drama Arthur Millers, das psychologische Drama Tennessee Williams' und das von Beckett und lonesco beeinflußte absurde Drama Edward Albees. ARTHUR MiLLER60 (geb. 1915) ist von dem Ehrgeiz beseelt, ein moderner Ibsen zu werden, dessen „Volksfeind" er frei bearbeitete (aufgef. 1950). Sein erstes bedeutenderes Drama war All My Sons (1947), das in Ibserischer analytischer Technik die Entlarvung eines Kriegsgewinnlers darstellt, der durch 58

The Collected Plays (N. Y., 1972). - R. Moody, L. H., Playwright (N. Y., 1972); L. R. Holmin, The Dramatic Works of L. H. (Uppsala, 1973); D. V. Falk, L. H. (N. Y., 1978). 59 C. W. E. Bigsby, Confrontation and Commitment: A Study of Contemporary American Drama 1959-1966 (1967); Amerikanisches Drama und Theater im 20. Jahrhundert, edd. A. Weber u. S. Neuweiler (Göttingen, 1975); Das amerikanische Drama der Gegenwart, ed. H. Grabes (Kronberg, 1976); C. Hughes, American Playwrights 1945-1975 (1976). 60 Collected Plays (N. Y., 1957). - E. Murray, A. M.: Dramatist (N. Y., 1967); B. Nelson, A. M: Portrait of a Playwright ( . ., 1970); D. Weiland, A. M.: A Study of His Plays (1979).

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die Lieferung fehlerhafter Flugzeugteile den Tod vieler Menschen verursachte und bei dem späteren Prozeß die Schuld auf den Geschäftspartner schob. Millers Ruhm begründete Death of a Salesman (1949), dessen Held, Willy Loman, das Opfer einer auf erbarmungslosen Wettbewerb aufgebauten Wirtschaftsordnung wird, den aber auch persönliche Schuld trifft, da er seinen eigentlichen Lebenswunsch an den „amerikanischen Traum" vom Erfolg verriet und eine von seinem heranwachsenden Sohn beobachtete sittliche Verfehlung auf sich lud. Um seiner Familie die Versicherungssumme zu verschaffen, rast er mit seinem Wagen in den Tod. Ironischerweise hat jedoch sein Lieblingssohn Biff den Wohlstandstraum des Vaters bereits aufgegeben. Die Aufdeckung der Lebenslüge vollzieht sich, modernem Erzählverfahren nicht unähnlich, unter technisch geschickten Rückblenden und Bewußtseinsvergegenwärtigungen. The Crucible (1953) erörtert im Spiegel der Salemer Hexenprozesse von 1692 die Frage der Gewissensfreiheit als mahnendes Gleichnis für moderne Massenhysterie und Gewissenszwang. In A View from the Bridge (1955), der psychologischen Studie eines tragischen Geschehens in den Docks von New York, tritt die moralische Grundnote ebenso deutlich hervor wie in dem weithin autobiographischen After the Fall (1964). Das Drama, das mit der simultanen Entfaltung früherer Ereignisse im Bewußtsein der Hauptfigur technisch an Death of a Salesman anknüpft, ist die schonungslose Beichte eines Mannes, der an den Frauen, die ihm in seinem Leben begegneten, schuldig wurde. Auch der schwächere Einakter Incident at Vichy (1964) handelt von der Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der menschlichen Gemeinschaft, und in The Price (1968) halten zwei in Haßliebe verbundene Brüder „Gerichtstag" über ihre früher getroffene Lebensentscheidung und rollen im Rückblick die Frage nach Schuld und Verantwortung auf. Trennen sich die beiden Brüder am Ende ohne gegenseitiges Verständnis, so zeigt der als Möbelkäufer auftretende alte Jude Gregory Salomon, wie sich im Leben des Einzelnen Mitmenschlichkeit und Selbstverwirklichung durchaus verbinden lassen. Salomon ist zudem die erste überzeugende komische Figur in Millers Werk. Trotz des Ernstes und des großen handwerklichen Könnens haben Millers spätere Dramen (The Creation of the World and Other Business, 1972; The Archbishop's Ceiling, 1976; The American Clock, 1980) die Erwartungen nicht erfüllt, da sie zu sehr intellektuelle Demonstrationsstücke bleiben. Ist Arthur Miller mit seiner Erörterung moralischer und sozialer Fragen der realistischen Tradition einzuordnen, so erstrebt TENNESSEE (Thomas Lanier) WILLIAMS61 (1911-1983) ein Drama, das den psychologischen Realismus um poetisch-symbolische Elemente erweitert ('plastic theater'). Seine Dra61

Four Plays: The Glass Menagerie, A Streetcar Named Desire, Summer and Smoke, Camino Real (1956); Five Plays: Cat on a Hot Tin Roof, The Rose Tattoo, Something Unspoken, Suddenly Last Summer, Orpheus Descending (1962). - S. L. Falk, T. W. (N. Y., 1961); B. Nelson, T. W.: The Man and His Work (N. Y., 1961); F. Donahue, The Dramatic World of T. W. (N. Y., 1964); E. M. Jackson, The Broken World of T. W. (Madison, 1965); R. F. Leavitt, The World of T W. (N. Y., 1978).

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matik ist neben Ibsen vor allem Strindberg, D. H. Lawrence und der Psychoanalyse verpflichtet. Das Erinnerungsspiel The Glass Menagerie (1944) gestaltet den Zusammenstoß von Illusion und Wirklichkeit in dem einsamen Dasein der zerbrechlichen, hinkenden Laura, die in einer von Glastieren symbolisierten Traumwelt lebt. Kurz leuchtet die scheue Erfahrung einer Liebe auf, die jedoch gleich wieder zerbricht und Laura in ihr unerfülltes Leben zurücksinken und sich vor der verständnislosen Welt verschließen läßt. Seinen größten Erfolg errang Williams mit A Streetcar Named Desire (1947), in dessen Mittelpunkt die einer alten Pflanzerfamilie des Südens entstammende Blanche DuBois steht. Wirtschaftlich und moralisch abgesunken, aber den Schein aufrechterhaltend, kommt die Neurotikerin zu ihrer jüngeren Schwester nach New Orleans und stößt hier in ihrem Schwager auf die animalische Gegenwelt. Das Drama ist die psychopathologische Studie einer hypersensitiven, labilen Frau, die, ein Opfer eigener Schuld und der brutalen Umwelt, allmählich zerbricht, von ihrem Schwager vergewaltigt und schließlich ins Irrenhaus eingeliefert wird. Dabei bleibt die Sympathielenkung merkwürdig in der Schwebe, wodurch sich das Mitleid mit der bedauernswerten Blanche mit dem als unabwendbar empfundenen Untergang einer morschen Kultur verbindet. Williams hat einen sicheren Instinkt für Theaterwirksamkeit, aber er arbeitet zu stark mit übertemperierten, melodramatischen Effekten. Gelegentlich, wie in The Rose Tattoo (1951), in dem die trügerische Erinnerung an den zum Idol erhobenen verstorbenen Mann grausam zerstört, die Witwe aber dem Leben zurückgewonnen wird, begegnen auch einmal komödienhafte Züge. In dem interessanten, auf Realismus verzichtenden Camino Real (1953) ist die Besessenheit vom sexuellen Thema einer abenteuerlichen Suche nach dem Leben gewichen. In diesem Traumspiel begegnet der ehemalige Preisboxer Kilroy, der Amerikaner mit dem goldenen Herzen, auf der Königstraße des Lebens, zu der der Eintrittspreis Verzweiflung ist, der ganzen Welt, den Abenteurern und großen Liebenden, den Dichtern und den Magnaten - ein amerikanischer Peer Gynt, aber ohne die heimliche Genialität des Ibsenschen Helden. Cat on a Hot Tin Roof(\955), das den Familienstreit um eine Pflanzung im Mississippi-Delta zum Gegenstand hat, kehrt zur sexuellen Problematik und einer von Haß, Habgier und Verlogenheit getriebenen Welt zurück, einer Welt, die noch erschreckender in dem Kannibalismus von Suddenly Last Summer (1958) und der Kastration von Sweet Bird of Youth (1958) erscheint. Die späteren Stücke, wie Period of Adjustment (1959) oder The Milk Train Doesn't Stop Here Anymore (1962), fügen dem Bild keine neuen Züge hinzu. Sie variieren die Grundthemen von Frustration und Vereinsamung, Begierde und Perversion, Gewalt und Selbstzerstörung, und nur gelegentlich, wie in Orpheus Descending (1957) und dem mexikanischen Notturno The Night of the Iguana (1959, rev. 1961), finden Menschen für einen flüchtigen Ausblick zu gegenseitigem Verstehen und Frieden. Trotz der pathologischen Züge, der grellen Effekte und einer häufig aufdringlichen Symbolik ist Williams jedoch ein packender Dramatiker, der in seinen besten Dramen über virtuosen Dialog und poetische Sprache verfügt.

///. Das Drama

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Der eindrucksstärkste der heutigen Dramatiker ist EDWARD ALBEE62 (geb. 1928), der in seinen frühen, von der Kommunikationslosigkeit und Leere des amerikanischen Lebens handelnden Einaktern The Zoo Story (1959) und The American Dream (1961) den Einfluß des europäischen absurden Dramas zeigt. Nach The Death of Bessie Smith (1960), in dem Albee am Beispiel einer Blues-Sängerin, die nach einem Autounfall in zwei weißen Krankenhäusern nicht aufgenommen wurde, den Rassenhaß erörterte, errang er Erfolg mit seinem ersten abendfüllenden Stück, Who's Afraid of Virginia Woolf? (1962). Das Drama führt bei einem nächtlichen Zusammensein zweier Professoren-Ehepaare über gefährliche „Gesellschaftsspiele" und „Walpurgisnacht" zum „Exorzismus", in dem der imaginäre Sohn von George und Martha, der sich durch andeutende Verweise als die Lebenslüge des „amerikanischen Traums" enthüllt, begraben wird. In dem Strindbergschen Geschlechterkampf treten Haß, Enttäuschung und Schuldkomplexe zutage, und Albee führt seine Protagonisten durch konsequente, zynische Zerstörung ihrer Illusionen zur Erkenntnis der Realität. Allerdings werden in dem offen endenden Drama die Konsequenzen für das Leben der beiden Ehepaare nicht mehr gezogen. In dem „metaphysischen Traumspiel" Tiny Alice (1964) wirkt das Rituelle der Handlungsführung gesteigert, und die Antwort auf eine mögliche Überwindung der Illusionen ist noch dunkler geworden. Obwohl seine weiteren Denkspiele, wie A Delicate Balance (1966), anzudeuten scheinen, daß Haß, Angst und Vereinsamung nur durch Verantwortung und Hingabe an einen Menschen zu überwinden sind, bleibt doch das Dunkel beherrschender als das Licht. Auch nach den letzten Dramen, die ebenfalls die Frage von Illusion und Wirklichkeit umkreisen - im Mittelpunkt von All Over (1971) und The Lady of Dubuque (1980) steht das Sterben als das Hinübergleiten in die „neue Realität" -, erscheint im Rückblick Who's Afraid of Virginia Woolf? als der bisherige Höhepunkt in Albees Schaffen. Neben Miller, Williams und Albee wären zahlreiche andere Autoren zu nennen, die z.T. große Theatererfolge erzielten. So errang WILLIAM INGE (1913-1973) begeisterte Zustimmung beim Publikum mit Come Back, Little Sheba (1950), Picnic (1953) und Bus Stop (1955), die, technisch überaus geschickt, realistische Alltagsvorwürfe mit sentimentalen und melodramatischen Zügen ausstatteten. Doch beginnt sein Name bereits ebenso zu verblassen wie derjenige von ARTHUR LAURENTS (geb. 1918), dessen Home of the Brave (1945) und The Time of the Cuckoo (1952) den Publikumsgeschmack mit populärer Psychoanalyse traf. Er war am erfolgreichsten als Autor von Drehbüchern und Musicals (wie der bekannten West Side Story, 1957). Für das experimentelle Theater off-Broadway, wo in Greenwich Village auch Albees frühe Einakter zuerst aufgeführt wurden, sei JACK GELBER (geb. 1932) erwähnt, der mit The Connection (1959) Aufsehen erregte, einem Drama mit Jazzmusik über Drogensucht. Gelbers späteren Stücken, wie The 62

M. E. Rutenberg, E. A.: Playwright in Protest (N. Y., 1969); A. Paolucci, From Tension to Tonic: The Plays of E. A. (Carbondale, 1972).

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Apple (1960), Square in the Eye (1965), The Cuban Thing (1968), Sleep (1972) blieb der Erfolg jedoch versagt. Brillant sind die Dramen von ARTHUR KOPIT (geb. 1937), die amerikanische Lieblingsvorstellungen und Mythen satirisieren. Oh Dad, Poor Dad, Mama's Hung You in the Closet and I'm Feelin' So Sad (1960) ist eine surrealistische Groteske über das Matriarchat in der amerikanischen Gesellschaft und zugleich eine Parodie auf Tennessee Williams' Dramatik; Indians (1969) entmythologisiert die Figur Buffalo Bills und sieht die Auseinandersetzungen mit den Indianern als Glied in einer Kette von Grausamkeiten bis hin zum Vietnamkrieg. Was sich aus den Experimenten und Happenings im off-off-BroadwayTheater vielleicht entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Von Bedeutung dagegen ist bereits das Theater der Schwarzen.63 LORRAINE HANSBERRY (19301965) sah die Rolle der Schwarzen als ein allgemein menschliches Problem innerhalb der amerikanischen Gesellschaft und glaubte trotz der Spannungen an die Möglichkeit einer Wende zum Besseren (A Raisin in the Sun, 1959; The Sign on Sidney Brustein's Window, 1964). JAMES BALDWIN (geb. 1924), der in Amen Corner (1955) eindrucksvoll die Religiosität der Schwarzen dramatisiert hatte, befürwortete bereits in Blues for Mr. Charlie (1964) - Mr. Charlie ist ein Spottname für den Weißen - die Anwendung von Gewalt, wenn er auch die Hoffnung auf Aussöhnung noch nicht ganz aufgab. Diesen weiteren Schritt tat LERoi JONES (geb. 1934), für den die Rebellion unvermeidbar ist. Hatte LeRoi Jones in der schwarzen Literatur zunächst nur eine Art von Folklore gesehen, so führte ein Besuch Cubas zu einer Politisierung seiner Anschauungen {Cuba Libre, 1961). Enttäuscht verwarf er jetzt jegliche Kooperation mit den Weißen, ging 1965 nach Harlem und bald danach in das Getto von Newark, trennte sich von seiner weißen Frau und nahm den afrikanischen Namen Imamu Amiri Baraka an. In seinen militanten Dramen, wie Dutchman (1964), The Slave (1964), Slave Ship: A Historical Pageant (1967), sieht er den Rassenkonflikt nur noch durch Gewalt lösbar. Ebenso extrem sind auch die Dramen des produktiven ED BULLINS (geb. 1935).

IV. DER R O M A N 1 1. Realismus und soziale Kritik im englischen Roman Viele der spätviktorianischen Romanschriftsteller, wie Butler, Hardy und Henry James, wirken kräftig in das 20. Jahrhundert herein. Auch die hier zu 63

The Black American Writer, Bd. II: Poetry and Drama, ed. E. E. W. Bigsby (Deland, Fla., 1969); T. R. Hudson, From LeRoi Jones to Amiri Baraka: The Literary Works (Durham, N. C, 1973). 1 Vgl. die S. 837f. genannten Darstellungen.

IV. Der Roman

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besprechenden Romanciers, die in den Jahren zwischen 1890 und 1920 zu den meistgelesenen Autoren gehörten, haben entscheidende Jahre ihres Lebens in der spätviktorianischen Epoche verbracht und sind weitgehend von ihr geprägt worden. Das Werk des Iren GEORGE MooRE2 (1852-1933) zeigt mannigfache Wandlungen. Er begann in naturalistischen Bahnen (s. S. 809), redete in den Confessions of a Young Man (1888) mit herausfordernder Offenheit von geschlechtlichen Beziehungen, überwand aber schon in Esther Waters (1894) den konsequenten Determinismus und schrieb mit Evelyn Innes (1898) und der Fortsetzung Sister Teresa (1901) die Seelenstudie einer Sängerin, deren Leben über die Stufen Liebe, Kunst und Religion sich erfüllt und erlischt. 1901 ging Moore nach Irland und war in dem folgenden Jahrzehnt, allerdings ohne inneres Verhältnis, der keltischen Renaissance verbunden. Neben mehreren in Irland spielenden Novellen (The UntilledField, 1903) gehört in diese Phase der Roman The Lake (1905), der den Seelenkampf eines irischen Geistlichen darstellt, der an seiner Berufung zweifelt, der Liebe zu einer jungen Lehrerin nachgibt und nach Amerika flieht. Der z. T. in Briefen verfaßte Roman hat etwas Künstliches. Father Oliver repräsentiert eine erlesene kosmopolitische Kultur, die in dem Milieu ebenso wenig glaubhaft erscheint wie die vollendeten Briefe seiner Geliebten. Moore hat zwar mit diesen Büchern der irischen Bewegung kaum einen Dienst erwiesen, aber in ihnen den für seine Spätwerke bezeichnenden Erzählstil entwickelt, der weitgehend auf den Dialog verzichtet zugunsten eines ununterbrochenen epischen Berichts in einem gleichmäßig ruhigen, aber unaufhaltsamen Fluß der Sätze. Moores 'melodic line' mit ihrem an Pater erinnernden Reichtum der Kadenzen ist charakteristisch für die Werke seiner letzten Phase (ab 1911). Der Christusroman The Brook Kerilh (1916), ein Nachklang von Moores Wendung vom Katholizismus zum Protestantismus (1903), ist eigentlich bereits aus einer agnostischen Haltung heraus geschrieben, die sich in Aphrodite in Aulis (1930) vollendet. Als Kunstwerk überzeugender ist der virtuos erzählte Heloise and Abelard-Roman (1921). Moore hat in einer Reihe autobiographischer Bücher über seine Entwicklung Aufschluß gegeben, von den Erinnerungsbildern seiner französischen Zeit (Memoirs of my Dead Life, 1906; Reminiscences of the Impressionist Painters, 1906) über die in Irland verbrachten Jahre (Hail and Farewell! A Trilogy, 1911-14) bis zum Seßhaftwerden in London (Avowals, 1919; Conversations in Ebury Street, 1924). Diese Bücher, die sich zu einer großen Selbstbiographie zusammenschließen, rufen eine ganze Epoche wach und zeichnen ein farbiges, höchst amüsantes und häufig maliziöses Bild der zeitgenössischen Künstler, mit denen Moore in Berührung kam. Trotz aller Umweltschilderungen wird in dieser Autobiographie, wie in den Romanen, die eigent2

Vgl. S. 809, Anm. 26; ferner: The Works of G. M., Ebury Edn., 20 Bde. (1936-38); Letters, ed. J. Eglinton (Bournemouth, 1942). - G. Hough, Image and Experience (1960); A Farrow, G. M., TEAS (Boston, 1978).

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liehe Handlung in die Seele hineinverlegt und nach dem Muster der Franzosen die Summe eines Lebens gezogen. Dem von Moore beschrittenen Weg einer künstlerischen Lebensdarstellung folgte in engerem Rahmen auch ARNOLD BENNETT3 (1867-1931). Er begann mit einer gut geschriebenen tragikomischen Erzählung, Anna of the Five Towns (1902), als deren Schauplatz er - wie in den besten seiner Romane, vor allem in The Old Wives' Tale (1908) und dem ersten Band der Clayhanger-Tnlogie (1910) - seine Heimat wählte, die fünf Städte des Töpfereibezirks in Staffordshire. Nur selten gelang ein den Potteries-Romanen vergleichbares Buch, wie etwa die Geizhalsgeschichte Riceyman Steps (1923). Bennett schildert das eintönige Leben des kleinen Bürgertums mit minuziösem und illusionslosem Realismus, aber doch auch im grauen Alltag noch etwas Schönheit entdeckend. So wie in dem Meisterroman The Old Wives' Tale den Geschwistern Baines, die lebenslustig ihre Backfischnäschen an die Scheiben des elterlichen Ladens pressen, der provinzielle Marktplatz eine große Welt reicher Möglichkeiten bedeutet, so sah ihn Bennett selbst, und so läßt er ihn vor dem Leser erstehen. Mit dem Eindruck realistischer Wahrheit wird gleichzeitig ein Gefühl verstehender Güte und ein Behagen an dem bunten Menschengewimmel geweckt. Es wird nicht beklagt, daß das Leben dieser Menschen armselig, beschränkt und oberflächlich sei und daß es die Daseinsmöglichkeiten verpasse; seine Tragik ist die Tragik alles Lebens: die Vergänglichkeit. Anders als die Naturalisten kehrt Bennett nicht die häßliche Seite des Daseins hervor. Der Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit ist nicht niederdrückend, wie in manchen französischen Vorbildern; es ist eher belustigend zu sehen, wie sich die Menschen mit ihrem Los abfinden. Bennetts Kunst bewegt sich auf engem Feld; auch formal ist er kein Neuerer gewesen. Aber innerhalb dieser Grenzen zeigt er hervorragendes handwerkliches Können, und es verwundert nicht, daß er bei John Wain und der Nachkriegsgeneration neue Anerkennung gefunden hat. Die gewinnende Persönlichkeit des Autors, wie sie in den Journals und den Letters to his Nephew hervortritt, erwärmt die Wirklichkeitsgestaltung, aber sie reichte nicht aus, um größere Vorwürfe, wie die mehrmals versuchte Schilderung eines Hotels als Romanmittelpunkt (z. B. Imperial Palace, 1930), zu meistern. Der europäische Ruhm, der JOHN GALSWORTHY** (1867-1933) zuteil wurde, ist seit seinem Tode verblaßt. Als Angehöriger der oberen Mittelschicht hielt 3

Works (Minerva Edn.), 7 Bde. (1926); The Journals of A.B. 1896-1928, ed. N. Flower, 3 Bde. (1932-33), ed. F. Swinnerton (Harmondsworth, 1971); Letters, ed. J. Hepburn, 3 Bde. (1966-70); Letters to his Nephew, ed. R. Bennett (1935); A. B. and H. G. Wells: A Record of a Personal and a Literary Friendship, ed. H. Wilson (I960).- R. Pound, A.B.: A Biography (1952); M. Drabble, A.B.: A. Biography (1974); J. G. Hepburn, The Art of A. B. (Bloomington, 1963); W. F. Wright, A. B.: Romantic Realist (Lincoln, Neb., 1971); J. Lucas, A. B.: A Study of His Fiction (1974). "Works (Manaton Edn.), 30 Bde. (1923-26); Collected Poems (1934); Letters from J. G. 1900-32, ed. E. Garnett (1934). - C. Dupree, J. G.: A Biography (1976); H. V. Marrott, The Life and Letters of J. G. (1935); D. R. Barker, The Man of Principle: A View of J. G. (1963). - Vgl. auch S. 902, Anm. 5.

. Der Roman

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er dem Bürgertum und Landadel den Spiegel vor (The Island Pharisees, 1904; The Country House, 1907), rief er der in Tradition erstarrten viktorianischen Lebensführung das alte und nie erreichte Ideal der Brüderlichkeit in Erinnerung (Fraternity, 1909; The Patrician, 1911) und zeigte die im Künstler noch lebendige Kraft des Herzens und der Sinne auf, die in unserer Welt in Enttäuschung endet (The Dark Flower, 1913; Beyond, 1917). Den Erfolg brachte die große Folge der Forsyte Saga5 (1922) und der schwächeren Fortsetzung A Modern Comedy** (1929), die, als umfassendes Panorama der englischen bürgerlichen Welt, in einer nach beiden Seiten hin Gerechtigkeit wahrenden Darstellung die Auflösung der alten herrschenden Gesellschaftsschicht in einer neuen Wertungen zustrebenden Zeit durch vier Generationen hindurch verfolgt. Das in Soames Forsyte verkörperte Besitzdenken, gegen das seine Frau Irene vergeblich aufbegehrt, bricht schon in der Generation von Soames' Tochter Fleur völlig zusammen. Die durch den Krieg in ihren Grundfesten erschütterte Gesellschaft der „Modernen Komödie" ist ohne Glauben und Grundsätze, so daß in der Rückschau die Ordnung und Stabilität der viktorianischen Zeit und selbst die Figur eines Soames Forsyte achtungheischend erscheinen. Galsworthy hat damit ein Selbstbekenntnis abgelegt, demzufolge die letzte Trilogie, die den bezeichnenden Titel End of the Chapter1 (1934) trägt und Dinny Cherrells Kampf gegen das gesellschaftliche Vorurteil zeigt, mit dem Glauben an das zeitlose England versöhnlich schließt. Galsworthys künstlerische Kraft reichte nicht aus, eine so weitgespannte Romanfolge durchzugestalten. Eindrucksvoll, namentlich in den ersten Forsyte-Romanen, ist die Kunst, mit der Galsworthy den unaufhaltsamen Fluß der Zeit und unter dem mit „photographischer Treue" gezeichneten Äußeren die seelische Innenwelt suggeriert. Aber die feine, an den Impressionismus erinnernde Stimmungsmalerei kann ebensowenig wie die von Henry James beeinflußte psychologische Darstellung den Mangel an vollblütiger Menschengestaltung überdecken. Die Grenzen von Galsworthys Kunst enthüllt das ätherische Porträt der Irene, das sich in Duft, Licht und Farbe auflöst und die weiblichen Idealfiguren der ästhetischen Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts ins Gedächtnis ruft. Das breite Gesellschaftsbild des endenden viktorianischen Zeitalters hat eher kulturhistorische als literarische Bedeutung. Der Vergleich mit Thomas Manns Familienroman „Die Buddenbrooks" macht den Abstand deutlich. HERBERT GEORGE WELLSS (1866-1946) hat auf die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts einen kaum zu überschätzenden Einfluß ausgeübt. Er be5

Trilogie: The Man of Property, 1906; In Chancery, 1920; To Let 1921, mit zwei novellistischen Zwischenstücken: The Indian Summer of a Forsyte, 1918, und Awakening, 1920. 6 Trilogie: The White Monkey, 1924; The Silver Spoon, 1926; Swan Song, 1928, mit den Zwischenspielen: A Silent Wooing, 1927, und Passers By, 1927. 7 Maid in Waiting, 1931; Flowering Wilderness, 1932; Over the River, 1933. 8 Works (Atlantic Edn.), 28 Bde. (1924-27); Experiment in Autobiography, 2 Bde. (1934); Sammelbände: The Short Stories (1927); A Quartette of Comedies (1928); The Scientific Romances (1933); Early Writings in Science and Science Fiction, edd. R. Philmus and D. Y. Hughes (Berkeley, 1975); Henry James and H. G. W., edd. L.

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gann mit Jules Verneschen Wissenschaftsphantasien, die in Vergangenheit und Zukunft führen (The Time Machine, 1895), in das Reich der Röntgenstrahlen (Invisible Man, 1897) und auf andere Planeten (The First Men in the Moon, 1901), oder er beschrieb einen Angriff der Marsbewohner auf die Erde (The War of the Worlds, 1898). Sein Vorbild überragte er sowohl durch die Kraft und Präzision seiner Phantasie wie durch das Gespenstische und Alptraumhafte der Vision. Neben diesen naturwissenschaftlichen Utopien und der teilweise mit ihnen verbundenen soziologischen Argumentation schrieb Wells eine Anzahl von Romanen, die sich durch scharfe Beobachtung und Dickensschen Humor auszeichnen. Sie spielen in der ihm vertrauten Welt des Kleinbürgertums und tragen weithin autobiographische Züge. So handelt Kipps (1905) von dem Weg eines kleinen Londoner Ladenangestellten zum Glück. The History of Mr. Polly (1910) schildert einen ärmlichen Ladenbesitzer, der nach einem Ausweg aus seinem trostlosen Dasein sucht und am Ende Befriedigung in dem einfachen Leben eines Hausknechts in einem Landgasthaus findet. Wells' Meisterwerk Tono-Bungay (1909) ist die Geschichte eines grandiosen Reklamebetrugs mit einer Patentmedizin. Alle diese Romane geben ein treffendes Zeitbild, etwas aus der Froschperspektive gesehen, aber ungeniert frisch und mit sprühender Vitalität erzählt. Die Vorliebe, das Weltbild aus dem Gesichtswinkel einer Person zu geben, hat nicht formkünstlerische Bedeutung wie bei Henry James, sondern soziologische: die Romanwelt ist eingeschränkt auf die dem Autor zugänglichen gesellschaftlichen und menschlichen Bezirke. Trotz seiner großen erzählerischen Begabung war es Wells weniger um die Kunst des Romans zu tun als um die Kritik und Reform unserer Zivilisation. Die Schilderung eines Vertreters der herrschenden oder dienenden Klasse ist geleitet von dem Bestreben, das der jeweiligen Klasse unter den gegebenen sozialen Verhältnissen eigene Gesetz bloßzulegen. Die Charaktere sind nur da, um eine These des Autors zu exemplifizieren. Wenn der Roman Christina Alberta's Father (1925) die Unabhängigkeit und Rechte der Frau verficht, so geschieht es im Zusammenhang mit der liberalistisch-fortschrittlichen Doktrin des Autors und nicht wie bei Meredith aus Einfühlung in das naturnahe und ein eigenes Gesetz bergende Wesen der Frau. Einmal, in der erdichteten Autobiographie The World of William Clissold (3 Bde., 1926), die in tagebuchartiger Betrachtung die verschiedensten politischen, sozialen und ökonomischen Fragen des zeitgenössischen Lebens erörtert, fand Wells eine seiner Zielsetzung entsprechende Form. Häufig gefährdet jedoch der Prophet und Kritiker das Werk des Romanciers, und die Erzählfreude wird von den soziologischen Absichten beeinträchtigt. Edel and G. N. Ray (1958); George Gissing and H.G.W, ed. R. A. Gettmann (1961); Journalism and Prophecy 1893-1946: An Anthology, ed. W. Wagar (Boston, 1964). - N. and J. Mackenzie, The Time Traveller: The Life of H. G. W. (1973); L. Dickson, H. G. W.: His Turbulent Life and Times (1969); B. Bergonzi, The Early H. G. W.: A Study of the Scientific Romances (Manchester, 1961); J. R. Hammond, An H. G. W. Companion: A Guide to the Novels, Romances and Short Stories (1979).

IV. Der Roman

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Wells entwickelt einen Weltstaat der Zukunft in A Modern Utopia (1905), schreibt utopische Träume (Men like Gods, 1923; The Dream, 1924) oder verläßt die Romanform ganz und predigt in Flugschriften und Aufsätzen (An Englishman looks at the World, 1914; The Way the World is going, 1928) und großen volkstümlichen Geschichtsüberblicken (The Outline of History, 1920; A Short History of the World, 1922). Er ist bedrückt von der „Ziellosigkeit unserer Zivilisation", die nicht nur im Wirtschaftsleben sinnlos Kräfte vergeudet (The Future in America, 1906), sondern wichtige Gemeinschaftsangelegenheiten der blind tappenden Jugend überläßt (The New Macchiavelli, 1911) und einem falschen Erziehungssystem huldigt (Mr. Britling sees it through, 1916; Joan and Peter, 1918). Das alles, so meint er, wäre durch etwas Vernunft zu bessern; und, dem Optimisme scientifique' Auguste Comtes ähnlich, erstrebt er eine logische Ordnung der menschlichen Gesellschaft, die aber mit dem Vermeiden von Torheit und Gefahr auch den Reiz und das innerste Wesen des Menschseins aufhebt. Wells hat den Entwicklungsgedanken in vielen, auch biologisch-technischen Büchern bis ins Gargantueske Gestalt werden lassen und endete dennoch bei dem Widerruf seiner Fortschrittsgläubigkeit (Mind at the End of its Tether, 1945).

2. Joseph Conrad Der zeitlichen Begrenzung eines Wells enthoben ist das Werk JOSEPH CONRADs9 (Jozef Teodor Konrad Nal?cz Korzeniowski, 1857-1924). In dem Bemühen um eine vollendete Erzählform fordert er den Vergleich mit Flaubert und Maupassant heraus, wie überhaupt die französische Schulung und der große russische Roman die Bildung des gebürtigen Polen bestimmten. So steht Conrad etwas außerhalb der englischen Tradition; er ist auch weniger ein Fortsetzer des Stevensonschen Abenteuerromans als ein Erbe von Henry James. Er teilt dessen Kunstanschauung und indirekte Erzählweise und das unruhige, fast gequälte psychologische Fragen, das auch dem Oeuvre eines Proust zugrunde liegt. Ton und Thema seines jeder Klassifizierung widerstrebenden Schaffens werden bereits in seinem ersten, noch tastenden Buch, Almayer's Folly (1895), angegeben, der psychologischen Studie eines Weißen, der unter Malayen lebt, eine Farbige heiratet und in der ihm fremd bleiben9

Uniform Edn., 22 Bde. (1923-28); Collected Edn., 22 Bde. (1946-55); J. C: Life and Leiters, ed. G. Jean-Aubry, 2 Bde. (1927); eine umfassende Ausgabe der Briefe von F. R. Karl ist in Vorbereitung (ca. 8 Bde.). - J. Baines, J. C.: A Critical Biography (1960); F. R. Karl, J. C.:TheThree Lives (1979); N. Sherry, C. and His World (1972); D. Hewitt, C.: A Reassessment (1952,21968); A. J. Guerard, C. the Novelist (Cambr., Mass., 1958); L. Gurko, J. C: Giant in Exile (N. Y., 1962); J. I. M. Stewart, J. C. (1968); J. A. Palmer, J. C.'s Fiction: A Study in Literary Growth (Ithaca, 1968); C. B. Cox, J. C.: The Modern Imagination (1974); H. M. Daleski, J. C: The Way of Dispossession (1977); L. Graver, C.'s Short Fiction (Berkeley, 1969); F. R. Karl, A Reader's Guide to J. C. (1960); F. Schunck, J. C. (Darmstadt, 1979) [Erträge der Forschung Bd. 112].

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den Umgebung den Tod dankbar hinnimmt, da er nicht verschmerzen kann, daß seine Tochter ihn um des Malaien Dain Maroola willen verlassen hat. Auch das folgende Buch, An Outcast of the Islands (l 896), das mit dem Schicksal von Almayers Widersacher Willems, dem der Urwald Borneos zum Richter für seinen Verrat wird, die Vorgeschichte des ersten Romans nachholt, ist noch als Vorstufe zu betrachten. Schon in diesen Frühwerken zeigt sich Conrads Eigenart, die Menschen aus der gewohnten Welt herauszunehmen und sie in völlig fremder Umgebung in eine äußerste Situation zu stellen, in der sie ihr eigentliches Sein enthüllen müssen. Seine Romane gehören nicht einfach in die Tradition der See- und Abenteuererzählungen, sie stellen vielmehr Versuche zur Seinsergründung dar. Die dem Menschen feindliche Macht ist hier - ebenso wie in den Novellen Karain (1898), The Lagoon (1898) und dem erst später vollendeten Roman The Rescue (1920) - symbolisiert in der tropischen Natur des Malaiischen Archipels mit ihrer fremdartigen Farbigkeit, der schwülen Atmosphäre und der wuchernden Fülle; in anderen Geschichten ist sie verkörpert in der Elementargewalt des Meeres, im zentralafrikanischen Urwald, in einem Silberbergwerk oder einem London, das ebenso unheimlich ist wie die Wildnis. In The Nigger of the "Narcissus" (1897) findet Conrad seinen eigenen Stil. Es ist eine Schiffsgeschichte mit der unvergeßlichen Figur des vom Tode gezeichneten Negers James Wait, der zugleich Meuterei und Gemeinschaftssinn der Schiffsbesatzung hervorruft. Ein ausführliches Vorwort gibt Aufschluß über Conrads künstlerisches Wollen, seinen Impressionismus und das in allen Romanen fühlbare Mitschwingen einer weiterreichenden symbolischen Bedeutung. Der folgende Roman Lord Jim (1900), in dessen Mittelpunkt ein Charakter steht, dem eine unbedachte feige Handlung zum unabwendbaren Schicksal wird, zeigt den Dichter auf der Höhe seines Könnens. Jim, der von Mut und Ehre träumt, verläßt in einer plötzlichen, ihm selbst später unbegreiflichen Verwirrung das scheinbar sinkende Pilgerschiff. Besessen von dem Verlangen, seine verlorene Ehre wiederzugewinnen, wandert er unstet von Ort zu Ort, da er immer wieder, in zufälligen Begegnungen und gelegentlichen Bemerkungen, an den Augenblick erinnert wird, in dem er versagte. Erst sein Tod, den er am Ende sucht, bringt ihm den ersehnten Frieden; Jim stirbt mit einem Lächeln auf den Lippen. Erzählt wird die Geschichte nicht in direktem Autorbericht, sondern von dem Kapitän Marlow, dessen Kenntnis von Ereignissen und Charakteren bruchstückhaft ist: einiges hat er selbst erlebt, anderes kennt er nur vom Hörensagen, und manches muß er erschließen. Da die Charaktere nicht eindeutig sind, das Leben sich folglich nicht analysieren läßt, ist ein fester Erzählstandpunkt nicht mehr möglich. Marlow sagt selbst, daß ihm der Fall nicht ganz klar sei. Die Wahrheit ist nur perspektivisch zu erfassen, sie erscheint gebrochen, und der Leser muß ordnen und abwägen. Das Zusammenfügen und Ergründen der Geschichte, das gleichsam vor unseren Augen erfolgt, verstärkt den Eindruck der unlösbaren Verflechtung von Schuld und Schicksal.

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Noch mehrmals wird Marlow als Regiefigur verwendet: in der autobiographischen Novelle You(h.(\902) und in dem ausnahmsweise versöhnlich oder glimpflich ausgehenden-Roman- Chance (1913)^ Mari sitzt zusammen und plaudert, Kapitän Powell erzählt, wie er seinen ersten Posten bekam; Marlow horcht auf beim Namen des Schiffs, und dann enthüllt sich Schritt um Schritt die Geschichte der Bankierstochter Flora de Barral, deren Vater durch betrügerisches Finanzgebaren die Familie ins Elend bringt, aber bestimmenden Einfluß behält, bis er durch Selbstmord endet. Verflochten mit dieser Erzählung ist die Geschichte des Kapitäns Anthony, der Flora entführt und sich dadurch die Todfeindschaft ihres Vaters und die Entrüstung seiner Schwester, Mrs. Fyne, zuzieht. Die Figuren und Fakten sind nicht bedeutsam, wohl aber das Spiel des Zufalls, das zwischen ihnen eine Wirklichkeit entstehen läßt. Es ist wesentlich in Conrads Kunst, daß er Fakten in ein Gespinst von Beziehungen auflöst, deren Fäden nach allen Richtungen hin über das berichtete Ereignis hinausführen. Leichter als die romantischen Idealisten vom Schlage Jims haben es die phantasielosen Tatmenschen, welche die Schwierigkeiten einer Situation gar nicht durchschauen, sondern sich mit schlichter Selbstverständlichkeit dem Schicksal stellen und ohne Anfechtung ihren Mann stehen. So fährt der Held von Typhoon (1902), Captain MacWhirr, blind in die Gefahr hinein, erweist sich aber in der äußersten Not als ein mutiger, vorbildlicher Kapitän, der Mannschaft und Passagiere rettet. In Heart of Darkness (1902) ist die bedrückende Atmosphäre der Dunkelheit tragendes Symbol. Auch hier ist Marlow der Erzähler, der grübelnd und andeutend den Sinn des unheimlichen Geschehens zu enträtseln sucht. Erfüllt von missionarischen Idealen, war der Elfenbein-Agent Kurtz zum Kongo aufgebrochen, wo er bald in dem geheimnisvollen Grauen des Urwalds den depravierenden Mächten der Wildnis erlag. Er stirbt mit einem Hauch des Entsetzens auf seinen Lippen, und es bleibt in der Schwebe, ob seine letzten Worte als 'moral victory' oder als Schaudern vor dem Abgrund des Bösen zu deuten sind. Der figurenreichste und vielschichtigste Roman, Noslromo (1904), spielt in der imaginären südamerikanischen Republik Costaguana. Vor dem Hintergrund der politischen Wirren des ehemaligen Koloniallandes konzentriert sich das Geschehen in einem Wirbel von Handlungen und Gegenhandlungen um das Silberbergwerk der Gould Concession. Die Titel der drei Romanteile benennen jeweils den Ort des Silbers, von dem aus die Handlung in Gang kommt. Das explosive Geschehen wird dem Leser aus verschiedenen Perspektiven vermittelt: durch den Erzähler, durch den optimistischen Captain Mitchell und den durch Selbstmord endenden Journalisten Decoud. Der ständige Wechsel des Blickpunktes und das Zerschlagen der zeitlichen Abfolge durch Rückblenden, Vorgriffe und das Nachholen gleichzeitiger Handlungen lassen das historische Panorama noch umfassender erscheinen, als es ohnehin ist. Der chronologische Verlauf ist durch eine räumlich-symbolische Ordnung ersetzt worden. Schon die großartige Eingangsschilderung der Ebene um Sulaco und die Schatzgräberepisode haben Symbolcharakter und vorausdeu-

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tende Funktion. Bei allen Hauptpersonen taucht das Silber leitmotivisch auf und wird zum Prüfstein der moralischen Gesinnung. An ihm erweist sich in fein nuancierter Skala die Anfälligkeit der Charaktere. Die Silbermine schlägt fast alle in Bann, den englischen Leiter Charles Gould ebenso wie die abenteuernden Generale und Politiker. Sie treibt die Menschen an und richtet sie zugrunde, sie entfacht die Revolution und schlägt sie nieder, sie korrumpiert den als unbestechlich geltenden Nostromo, den Capataz der Hafenarbeiter, dem der Silberschatz zum Verhängnis wird, als er sich scheinbar auf dem Gipfel seines ehrgeizigen Daseins befindet. Nostromo ist Conrads Meisterwerk. Aber auch die Romane des folgenden Jahrzehnts stehen auf beachtlicher Höhe und erst die letzten zeigen ein Nachlassen seiner Kraft. The Secret Agent (1907), in seiner äußeren Handlung, dem Sprengstoffanschlag auf die Sternwarte von Greenwich, eine Kriminalgeschichte, verbindet hiermit die psychologische Analyse eines Familiendramas und der Korruption einer absurden Welt, in der sich Diplomaten, Anarchisten und die Hüter der Ordnung kaum noch unterscheiden und am Ende makabre Zerstörung triumphiert. Under Western Eyes (1911) handelt von Verrat, Schuld und Sühne des Petersburger Philosophiestudenten Razumov. Der Roman ist eine Studie der revolutionären Idee unter der zaristischen Gewaltherrschaft mit dem Ergebnis, daß sich bei den Revolutionären dieselbe Mischung von Idealismus und Brutalität findet wie bei den zaristischen Reaktionären - ein Pendant zur Analyse des Kapitalismus in Nostromo. Victory (1915) erzählt die Geschichte des schwedischen Sonderlings Axel Heyst, der sich mit seiner Geliebten auf eine ferne Insel flüchtet und dort tragisch endet, nachdem er den ihm anerzogenen Nihilismus und seine Skepsis gegenüber allen menschlichen Beziehungen überwunden hat in der Erkenntnis, daß Hoffnung, Liebe und Vertrauen für das Leben unentbehrlich sind. In der Carlistengeschichte The Arrow of Gold (1919), die, wie das Spätwerk The Rover (1923), das Mittelmeer und seine Küsten zum Schauplatz hat und Erinnerungen aus Conrads früher Zeit in Marseille verwertet, steht eine überdimensionale Frauengestalt, Rita, schicksalhaft im Brennpunkt des Geschehens. In vollendeter Weise zeigt sich Conrads Darstellungsgabe noch einmal in der Erzählung The Shadow Line (1917), in der ein junger Kapitän bei seinem ersten Kommando die Feuerprobe besteht. Es ist die Bewährung auf dem Meer des Lebens, durch die der unbekümmerte Jüngling zum verantwortungsbewußten Mann wird. Unter dem zwingenden Eindruck seiner Persönlichkeit gibt die vom Fieber gequälte und zum Skelett abgemagerte Mannschaft in schweigendem Gehorsam ihr Letztes her. So vermag er den verhexten Breitengrad, die Schattenlinie der dunklen Mächte, zu überwinden und sein Schiff durch alle Fährnisse sicher in den schützenden Hafen zu steuern. Conrads Welt- und Menschenbild, seine Charaktergestaltung und seine Romanform erweisen seine Zwischenstellung zwischen dem viktorianischen und modernen Roman. Verbindet ihn das Bewußtsein des undurchdringlichen Dunkels der Welt, der Fremdheit des Lebens und der Fragwürdigkeit

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unserer Erkenntnis mit dem modernen Roman, so blieben für ihn anderseits Treue, Ehre, Disziplin und Solidarität, die hohen Tugenden der 'naval tradition', unverrückbare sittliche Werte. Ebenso unverkennbar ist er mit dem Aufbrechen der zeitlichen Abfolge, dem Standpunktwechsel, der ironischen und ambivalenten Darstellung und der symbolischen Erzählstruktur einer der konsequentesten Neuerer der Romanform. Aber trotz der Subjektivierung der Aussagen und der ironischen Distanz bleibt bei Conrad das Bewußtsein einer, wenn auch erkenntnismäßig nicht erfaßbaren, objektiven Wirklichkeit und Wahrheit.

3. Ausklang des Realismus und Wandel Große Popularität errangen die Romane und Erzählungen von WILLIAM SOMERSET MAUGHAM 10 (1874-1965). Er begann kraftvoll in Gissings Art mit Liza of Lambeth (1897) und schrieb mit dem das Thema sexueller Hörigkeit behandelnden, stark autobiographischen Entwicklungsroman Of Human Bondage (1915) sowie dem brillant satirischen Cakes and Ale (1930), einem beißendenPorträtzweier Autoren, seinebedeutendstenBücher.Dermiterstaunlicher Leichtigkeit schaffende Künstler zeigte in zahlreichen weiteren Romanen (z. B. The Moon and Sixpence, 1919; The Painted Veil, 1925; The Razor's Edge, 1944) und mehreren Novellenbänden (z. B. The Trembling of a Leaf, 1921; The Casuarina Tree, 1926; Altogether, 1934) einen scharfen, klinischen, häufig zynischen Blick für menschliche Schwächen und eine agnostisch-pessimistische Haltung zum Leben, und er verfügte über hervorragende Technik und einen glanzvollen Stil. FORD MADOX FORD (HuEFFER)11 (1873-1939), setzte nach vielfältiger schriftstellerischer Tätigkeit mit der vier Romane zusammenfassenden Folge Parade's Endn den 'roman fleuve' fort, nahezu gleichzeitig mit Bennett und Galsworthy und mit demselben Ziel, durch die Lebensgeschichten mehrerer Charaktere oder Familien ein objektives Bild der sozialen Wirklichkeit zu geben. Es ist die vor dem Hintergrund des ersten Weltkriegs gesehene Ge10

Collected Works, 22 Bde. (1934-59); Selected Novels, 3 Bde. (1953); The Partial View (1954) [enthält The Summing Up u. A Writer's Notebook]. - R. A. Cordeil, W. S. M. (21961); L. Brander, S. M.: A Guide (1963); T. Morgan, S. M. (1979); R. L. Calder, W. S. M. and the Quest for Freedom (1972); A. Curtis, The Pattern of M.: A Critical Portrait (1974). - S. auch S. 906, Anm. 10, und S. 1012, Anm. 103. "The Bodley Head F. M. F., ed. G. Greene, 5 Bde. (1962-71); Parade's End, intr. R. Macauley (N. Y., 1950); Letters, ed. R. M. Ludwig (Princeton, 1965). - A. Mizener, The Saddest Story: A Biography of F. M. F. (1971); F. MacShane, The Life and Work of F. M. F. (1965); R. A. Cassell, F. M. F.: A Study of his Novels (Baltimore, 1962); J. A. Meixner, F. M. F.'s Novels (Minneapolis, 1962); C. G. Hoffmann, F. M. F., TEAS (N. Y., 1967); H. R. Huntley, The Alien Protagonist of F. M. F. (Chapel Hill, 1970). 12 Die einzelnen Titel sind: Some Do Not (1924); No More Parades (1925); A Man Could Stand Up (1926); Last Post (1928).

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schichte des in der englischen Gesellschaft verwurzelten Yorkshire gentleman Christopher Tietjens, der in seiner christlich-konservativen Haltung eine Scheidung von seiner lieblosen Frau ablehnt und dadurch sich und das geliebte Mädchen unglücklich macht. Seine Bejahung der bestehenden Gesellschaftsordnung, die das Verhalten der nicht zu verteidigenden Charaktere Sylvia Tietjens und General Campions duldet, erweist die Unhaltbarkeit des gegenwärtigen Zustande. Der Zusammenbruch kommt, als der Krieg vorbei ist: Tietjens Bruder Mark, der im Krieg ein hoher Verwaltungsoffizier war, ist völlig gelähmt, Christopher handelt mit alten Möbeln (es ist das einzige, von dem er etwas versteht); keiner kann das alte Herrenhaus Groby erhalten. Der amerikanische Mieter läßt die alte Groby-Eiche fällen - das alte England ist tot. Ford, der die englisch-amerikanische Romankunst genau kannte, auch kritische Studien über Henry James (1914) und Joseph Conrad (1924) geschrieben hat, benutzte das Kriegsthema und die Zerstörung der sozialen Ordnung, um die psychologischen Reaktionen seiner Helden auszuloten. Die Situationen werden vorzugsweise im Dialog entwickelt, die Ereignisse gewinnen durch das fast aufdringliche 'understatement' etwas Tragikomisches, und der monologue interieur, den mehrere Charaktere, oft verwirrend, vor sich hinsprechen, betont, daß nicht der Krieg, sondern die menschlichen Beziehungen das Thema des Romans sind. Er ist ein Zeitdokument, auch der Form nach, ein Seitentrieb des realistischen Romans. Weiter vom realistischen Roman und seinen Vorbildern entfernen sich einige Romanciers, die jedoch keine breitere Leserschaft fanden. Dazu gehören THEODORE FRANCIS POWYS (1875-1953; Mr. Weston's Good Wine, 1927) und sein Bruder JOHN COWPER Powvs13 (1872-1963; Wolf Solent, 1929; A Glastonbury Romance, 1933; Owen Glendower 1940), in deren Werk Groteske und Mythus stark hervortreten. Ganz vom Realismus löste sich PERCY WYNDHAM LEWISM (1882-1957), dessen Trilogie The Human Age (The Childermass, 1928; Monstre Gai, 1955; Malign Fiesta, 1955) jenseits der Welt auf dem Wege zu Purgatorium, Himmel und Hölle spielt. Zwei ehemalige Schulkameraden, der agnostische Pullman, der ein bekannter Autor auf Erden war, und der lächerliche Satterthwaite, der sein Leben lang ein Schuljunge blieb, treffen sich in dem Verteilungslager, wo sie warten müssen, bis sie die Reise zu dem weiteren Bestimmungsort über einen styxartigen Fluß fortsetzen können. Sie kommen in die Magnetic City, dann in die Infernal City, die aber nicht viel schlimmer ist; denn wie der sie dirigierende Vogt erklärt, gehören Himmel und Hölle der Vergangenheit an, jetzt ist alles modernisiert und die Grenzen von Gut und Böse sind verwischt. Man braucht kaum des Autors kritische Schrift Time and Western Man (1927) zur Deutung 13

G. W. Knight, The Saturnian Quest: A Chart of the Prose Works of J. C. P. (1964); H. P. Collins, J. C. P.: Old Earth Man (1966); J. Brebner, The Demon Within: A Study of J. C. P.' Novels (N. Y., 1973); G. Cavaliero, J. C. P. Novelist (Oxf., 1973). 14 Collected Poems and Plays, ed. A. Munton (Manchester, 1979); W. L.: An Anthology of His Prose, ed. E. W. F. Tomlin (1969). - H. Kenner, W. L. (1954); W. H. Pritchard, W. L., TEAS (N. Y., 1968); T. Materer, W. L. the Novelist (Detroit, 1976).

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heranzuziehen: ein Alp liegt über der modernen Menschheit. Die Originalität zeigt sich in der anthropomorphen Phantasie, mit der die ungestümen, tumultuös-grotesken Szenen gestaltet sind. Böse Satire ist auch der Roman SelfCondemned (1954) über das Schicksal eines im Krieg nach Kanada ausgewichenen Professors; hier wird jedoch der Abstand zu einem Satiriker wie Swift überdeutlich offenbar, weil es Lewis nicht gelingt, seiner zeitbedingten Kritik Allgemeingültigkeit zu geben. Der bedeutendste und einflußreichste der hier aufgeführten Autoren ist EDWARD MORGAN FORSTERIS (1879-1970), der neben Kurzgeschichten (The Celestial Omnibus, 1911; The Eternal Moment, geschr. vor 1914, gedr. 1928), der Biographie seines Freundes G. L. Dickinson und einer interessanten Abhandlung über die Kunstform des Romans (Aspects of the Novel, 1927) insgesamt sechs Romane geschrieben hat. Der Realismus der Bennett-Generation hat ihn nur oberflächlich berührt, er knüpft eher an Henry James und Meredith an. Schon der erste Roman, Where Angels Fear to Tread (1905), entfaltet die Forstersche Grundthematik des 'undeveloped heart'. Bei dem Kampf, den der ungebildete, aber natürlich empfindende Italiener Gino gegen die engstirnigen, snobistischen englischen Verwandten um sein Kind führt, geht es um den Widerstreit gegensätzlicher Lebensformen. Zwar verharren die eingefleischten Philister weiter in ihrer Selbstgerechtigkeit, aber Philip Herriton und Caroline Abbott werden von Ginos Natürlichkeit angerührt und verwandelt. Auch den von Freundschaft und glücklicher Ehe handelnden, tragisch ausgehenden Roman The Longest Journey (1907) durchzieht die Frage, wie man in einer Welt erstarrter Konventionen, der Herzensträgheit und des Scheins seine Integrität bewahren und ein gutes Verhältnis zu seinen Mitmenschen herstellen könne. (Das hier bereits anklingende homosexuelle Thema hat Forster in dem schwachen nachgelassenen Roman Maurice (1971) in den Mittelpunkt gerückt). Der ausgewogenste der frühen Romane, A Room with a View (1908) kehrt zum italienischen Schauplatz zurück und behandelt das Thema des ersten Romans ohne dessen etwas aufdringliche Melodramatik als brillante Komödie. Verständnisbereitschaft und Mitmenschlichkeit vermögen nach Forsters Einsicht den Gegensatz der Lebensformen und Weltanschauungen zu überwinden. Das ist der Sinn des Mottos Only Connect', das er Howards End (1910) voranstellt. Die kultivierten Schlegels haben die Aufgabe, die Wilcoxes aus ihrem materialistischen Denken zu befreien und für eine von geistigen Werten bestimmte Lebenshaltung zu gewinnen. Allerdings ist die künstlerische Gestaltung der Versöhnung der beiden Sphären kaum ganz geglückt. 15

Abinger Edn. of E. M. F., ed. O. Stallybrass (1972ff.). - P. N. Furbank, E. M. F.: A Life, 2 Bde. (1977-78); L. Trilling, E. M. F. (1944); F. C Crews, E. M. F.: The Perils of Humanism (Princeton, 1962); W. Stone, The Cave and the Mountain: A Study of E. M. F. (Stanford, 1966); G. H. Thomson, The Fiction of E. M. F. (Detroit, 1967); F. P. McDowell, E. M. F., TEAS (N. Y., 1969); L. Brander, E. M. F.: A Critical Study (Lewisburg, Pa., 1970); J. Colmer, E. M. F.: The Personal Voice (1975). - Vgl. auch J. K. Johnstone, The Bloomsbury Group: A Study of E. M. F., Lytton Strachey, Virginia Woolf and their Circle (1954).

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Forsters bekanntester und bester Roman, A Passage to India (1924), weitet die Problematik auf die politische Ebene aus, indem er den Gegensatz zwischen Orient und Okzident, den der Autor auf zwei Indienreisen und im Dienst eines indischen Fürsten kennengelernt hatte, in den Mittelpunkt stellt.16 Die Bedeutung des Buches erschöpft sich jedoch nicht in der politischen Problematik. Die Spannung zwischen Ost und West steht vielmehr beispielhaft für die Gegensätzlichkeit des menschlichen Lebens. Mochte die Zeit noch nicht reif sein für eine Aussöhnung zwischen England und Indien, Toleranz und Liebe können über alle Unterschiede und Parteiungen hinweg eine Brücke schlagen von Mensch zu Mensch. Das große Hindu-Fest am Schluß des Romans, an dem die Gläubigen für einen Augenblick die Einheit alles Seienden erleben, läßt im 'symbolic moment' die große Harmonie kurz aufleuchten. Forsters Komik und Tragik mischende Erzählkunst erstrebt in ihrer fein nuancierten Prosa eine symbolische und musikalische Wirkung. Aber trotz des nachdenklich stimmenden Gehalts und der eindringlichen Prosa hinterlassen Forsters Romane einen etwas zwiespältigen Eindruck, weil es ihm nicht immer gelingt, die realistischen Elemente seiner Darstellung mit den symbolhaften zur Deckung zu bringen. Seinen liberalen Humanismus hat Forster auch theoretisch in Aufsätzen und Rundfunkvorträgen dargelegt, die in den Bänden Abinger Harvest (1936) und Two Cheers for Democracy (1951) gesammelt sind. Zweifelnder wird man das Werk von CHARLES LANGBRIDGE MORGAN I? (1894-1958) beurteilen. Seine drei thematisch eng miteinander verwandten Romane Portrait in a Mirror (1929), The Fountain (1932) und Sparkenbroke (1936) behandeln in platonisierender Weise das Thema von Liebe, Kunst und Tod als Weg zur Transzendenz. Durch die Überbürdung mit einer philosophisch-idealistischen Lebensschau wird jedoch das Gleichgewicht zwischen Handlung und Reflexion gestört. Das dem Problem zugewandte Interesse des Autors löst die Gestalten aus dem Lebenszusammenhang und läßt sie isoliert erscheinen. Die Neigung zur Abstraktion, die sich auch in der erlesenen, vom Alltagsdialog abgerückten Prosakunst spiegelt, verleiht Morgans epischem Werk eine vornehme Blässe. Das in Morgans The Fountain verwendete Kriegsthema wurde in vielen Romanen abgewandelt, aber nur wenige dieser eigentlichen Kriegsromane haben künstlerische Geltung. Dazu gehören C (1924) von MAURICE BARING (1874-1945) und Rough Justice (1926) von C. E. MONTAGUE (1867-1928), deren Thema der Widerstreit persönlicher und nationaler Interessen ist. RICHARD ALDINGTON (1892-1962) gestaltet die Lebensbeichte Death of a Hero (1929) schon in der Titelgebung zur bitter verneinenden Anklage; nur RALPH HALE MOTTRAM (1883-1971) erreichte in The Spanish Farm (1924; 1927 erweitert um die Romane Sixty-four, Ninety-four, 1925, und The Crime at Vanderlynden's, 1926, unter dem Titel The Spanish Farm Trilogy, 1914-19]8) 16 17

Vgl. hierzu sein Brief- und Erinnerungstagebuch The Hill of Devi (1953). H. C. Duffin, The Novels and Plays of C. M. (1959); V. de Fange, C. M. (Paris, 1963).

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eine ironische Verlebendigung des unpersönlichen Krieges, der zu einer Maschine des Leerlaufs wird und sich gleichsam selbst auflöst. Daß trotzdem eine Darstellung des Heldentums ohne romantischen Flitter möglich blieb, bewies im Drama ROBERT SHERRIFF (1896-1975) in Journey's End (1928), das als bezeichnendstes englisches Kriegsdrama zu gelten hat. HUGH SEYMOUR WALPOLEIS (1884-1941), der schon mit seinen ersten Büchern die Gunst des Publikums gewann, erwies sich als ernstzunehmender Romancier mit Fortitude (1913) und The Duchess of Wrexe (1914). Der in Rußland spielende Kriegsroman The Dark Forest (1916) erweckte hohe Erwartungen; die späteren, gleichfalls erfolgreichen Bücher bestätigten diese Erwartungen nicht, hielten sich aber auf angemessener Höhe. Den Rußlandroman und „Die Herzogin von Wrexe" gestaltete er durch Fortsetzungen zu Serien aus, schrieb die drei Fortsetzungen der gewinnenden Kindergeschichte von Jeremy (1919, 1923, 1927) und schuf in dem umfassenden vierbändigen Romanzyklus der vom achtzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart reichenden Chronik The Herries Chronicle (Rogue Herries, 1930; Judith Paris, 1931; The Fortress, 1932; Vanessa, 1933) ein großes Panorama englischer Kultur. Walpole war weder in der Wahl des Stoffes noch in der Form ein Neuerer; er kann nur einen bescheidenen Platz in der Geschichte des Romans beanspruchen, aber er war ein fruchtbarer Erzähler und hielt Niveau. Das gilt auch für JOHN BOYNTON PRIESTLEY'* (geb. 1894), dessen von Daseinsfreude, Lebensglauben und Humanität durchsonntes, die Geschichte einer Wanderbühne erzählendes Buch The Good Companions (1929) als Roman und in Bühnenbearbeitung einen Riesenerfolg errang. Man fühlte, daß hier die Dickenssche Tradition, aus den Hoffnungen des Alltagslebens Abenteuer zu spinnen, erneuert war; und in der lockeren, die vielfältigen Charaktere zueinander führenden epischen Fabel erstand in dem Großstadtroman Angel Pavement (1930) nochmals ein versöhnliches Bild der Londoner Bevölkerung. Auch in den anderen, nicht ganz auf derselben Höhe stehenden Romanen erweist Priestley seine humorvolle Humanität und charakterschöpferische Fähigkeit, die keineswegs schönfärberisch ist. Der Roman They Walk in the City (1936) zeigt unbestechlichen Wirklichkeitssinn, und das Tagebuch English Journey (1934) bringt ebenso wie seine späteren Romane (vgl. Three Men in New Suits, 1945; Jenny Villiers, 1947) sein sozialkritisches Anliegen zum Ausdruck. Festival at Farbridge (1951) erinnert wieder mehr an seinen ersten Roman, und auch Lost Empires (1965) ist eine Wiederbelebung der Atmosphäre der 'Good Companions'. Der Anklang, den Priestleys sorgfältige, bei der viktorianischen Erzähltradition anknüpfende Romankunst fand, erklärt sich zum Teil aus dem Überdruß an den vielfach problematischen Versuchen, Substanz und Form des Romans umstürzend zu ändern. 18 19

R. Hart-Davis, H. W.: A Biography (1952). D. Hughes, J. B. R: An Informal Study of his Work (1958); S. Cooper, J. B. P.: Portrait of an Author (1970).

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4. Der amerikanische naturalistische Roman20 Um die Jahrhundertwende hatte sich der Naturalismus im amerikanischen Roman durchgesetzt; mit der zwangsläufig ihm zufallenden Rolle einer unverblümten Kritik der sozialen Zustände und moralischen Anschauungen der Zeit trat er gleichberechtigt in Wettbewerb mit dem europäischen Roman. Nach dem frühen Tod von Stephen Crane und Frank Norris (s. S. 829f.), die die Annäherung an den französischen Naturalismus vollzogen hatten, setzte THEODORE DREISER ZI (1871-1945) die von ihnen begonnene Darstellung der ungeschminkten Wahrheit fort und wurde zum führenden Vertreter des amerikanischen Naturalismus. Sein erster Roman, Sister Carrie (1900), verrät die strenge Schule Zolas mit dem Porträt eines jungen Mädchens, das vom Lande nach Chicago kommt, die Geliebte eines Handlungsreisenden wird, sich dessen verheiratetem Freund zuwendet, mit ihm nach Montreal und später nach New York flieht, allmählich verarmt und schließlich den Weg zum Theater und zu neuen Bewunderern findet, während ihr Partner weiter herunterkommt und durch Selbstmord endet. Die Parteilosigkeit der Darstellung, die das Hauptthema bildenden geschlechtlichen Beziehungen und der schwerfällig-ungefüge, aber wuchtige sprachliche Ausdruck erweckten Widerspruch, der jedoch Dreisers Haltung nur bestärkte. Mit dem künstlerisch reiferen Werk Jennie Gerhardt (1911) setzte er sich durch. Auch hier wird chronikartig die Geschichte eines gefallenen Mädchens erzählt, aber die liebevollgenaue Schilderung, die einem tiefen menschlichen Mitleid entspringt, mildert den Eindruck zu leiser Resignation. Nicht immer gelingt es Dreiser, aus einzelnen zusammengetragenen Dokumenten einen Charakter überzeugend aufzubauen. Die Trilogie The Financier (1912), The Titan (1914) und The Stoic (1947), die den Aufstieg und Fall eines rücksichtslosen Finanzgenies zu gestalten sucht, bleibt künstlerisch ungemeistertes Rohmaterial. Das gilt in verstärktem Maße für den Roman eines Künstlerschicksals in Amerika, The 'Genius' (1915), dessen Lebensfetzen, hauptsächlich sexuelle Affären, mit monotonem Ernst berichtet werden. Dreisers repräsentativstes Werk, An American Tragedy (1925), handelt von einem charakterschwachen jungen Mann, der sich von einem Mädchen, das ein Kind von ihm erwartet, wieder trennen will, da es seinem sozialen Aufstieg im Wege steht. Er plant sorgfältig den Mord, braucht ihn dann aber nicht auszuführen, da ihm im entscheidenden Augenblick bei einer Bootsfahrt der Zufall zu Hilfe kommt. Gleichwohl wird er auf Grund der Indizien zum Tode verurteilt. Der Erfolg des Romans war mehr der sensationellen Schilderung des Falles und der dabei geübten Kritik 20 21

S. die Literaturangaben S. 827, Anm. 61. Keine Gesamtausgabe; zahlreiche Neudrucke, bes. ML; A D. Reader, ed. J. T. Farrell (N. Y., 1962); A Selection of Uncollected Prose, ed. D. Pizer (Detroit, 1977); Letters: A Selection, ed. R. H. Elias, 3 Bde. (Philad., 1959).- R. H. Elias, T. D.: Apostle of Nature (Ithaca, 1970); W. A. Swanberg, D. ( . ., 1965); R. Lehan, T. D.: His World and His Novels (Carbondale, 1969); J. Lundquist, D. (N. Y., 1974); D. Pizer, The Novels of T. D.: A Critical Study (Minneapolis, 1976).

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am Gerichtswesen und an der amerikanischen Gesellschaft zuzuschreiben als der psychologischen Zergliederungskunst, die Dreiser nach dem Vorbild Dostojewskis anstrebte. Trotzdem ist Dreisers historische Bedeutung groß; er ging den von Crane und Norris eingeschlagenen Weg zu Ende, und ohne sein mutiges Vorgehen hätten die feineren Naturen sich nicht durchzusetzen vermocht. DAVID GRAHAM PHILLIPS' (1867-1911) vielfach an Dreiser erinnernde Studie eines Dirnenschicksals, Susan Lenox (1908), wurde erst 1917 veröffentlicht. ROBERT HERRiCK 22 (1868-1938) hatte schon vor Dreisers The Titan' in The Memoirs of an American Citizen (1905) das große Porträt des erfolgreichen amerikanischen Geschäftsmannes gezeichnet, der, ohne Verbrecher zu sein, die herkömmlichen moralischen Maßstäbe sprengt. Er faßt den Helden als Repräsentanten der amerikanischen Gesellschaft, die auch in dem einen sozialen Querschnitt ziehenden Eheroman Together (1908) zur Erörterung steht. In einem weiten Panorama öffentlichen und privaten Lebens - aber ohne die propagandistische Haltung, die einen UPTON SINCLAIR" (1878-1968) zu sozialkritischen Thesenromanen wie The Jungle (1906) und Oil! (1927) bestimmte - schildert Herrick in seinem letzten großen Roman Waste (1924) den Niedergang der amerikanischen Humanität. Jedes hohe Streben, geistige Würde und Menschlichkeit sind vergeudet in einer Zeit, die kein Gefühl mehr dafür besitzt. Der humorlose Problemroman, der von CHARLES GILMAN NORRIS (1881-1945: Salt, 1918; Bread, 1923) und Schriftstellerinnen wie ZONA GALE24 (1874-1938: Birth, 1918; Miss Lulu Bett, 1920) fortgesetzt und verbreitert wurde, endet in der kritischen Haltung der Nachkriegsgeneration, die nun auch Dreisers menschliches Mitleid über Bord wirft und sich weniger gegen die herrschende Gesellschaftsordnung wendet als gegen das Banausentum des kleinbürgerlichen Daseins. Der bedeutendste Vertreter dieser Richtung ist SINCLAIR LEWis25 (1885-1951), dessen Roman Main Street (1920) die kleinen amerikanischen Provinzstädte mit ihrer tödlichen Langeweile treffend karikiert. In Babbitt (1922) wird diese Karikatur auf die Geschäftswelt des Mittleren Westens übertragen, deren Vertreter so glänzend getroffen sind, daß Babbitt zum Spottnamen für diese ganze Schicht wurde. Ihre geistige Enge, die trostlos einförmige und dabei selbstgefällige Lebenshaltung wird in eindringlicher Satire, aber zugleich mit so liebevoller Zuneigung gezeichnet, daß Babbitts hilflose Befangenheit in dieser Sphäre unser Verständnis erweckt. In 22

B. Nevius, R. H.: The Development of a Novelist (Berkeley, 1962); L. J. Budd, R. H., TUSAS (N. Y., 1971). 23 J. A. Yoder, U. S. (N. Y., 1975); L. Harris, U. S.: American Rebel (N. Y., 1975). 24 A. Derleth, Still Small Voice: The Biography of Z. G. (N. Y., 1940); H. P. Simonson, Z. G. (N. Y., 1962). 25 Nobel Prize Edn. of the Novels [Main Street, Babbitt, Elmer Gantry, Dodsworth] ( . ., 1931); From Main Street to Stockholm: Letters of S. L. 1919-1930, ed. H. Smith (N. Y., 1952).- M. Schorer, S. L.: An American Life (N. Y., 1961); D. J. Dooley, The Art of S. L. (Lincoln, Neb., 1967); J. Lundquist, S. L. (N. Y., 1973); M. Light, The Quixotic Vision of S. L. (West Lafayette, Ind., 1975).

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beiden Büchern werden zahllose Einzelzüge mosaikartig zusammengetragen und um ihrer selbst willen aufgezeigt. Sie bauen weder einen lebendigen Charakter auf noch dienen sie zur Entwicklung einer Handlung. Auch der Arztroman Arrowsmith (1925) wurde zu keiner überzeugenden Charakterstudie. Der Gegensatz zwischen ärztlichem Idealismus und egoistischen Kapitalsinteressen, der den Hintergrund für einen Charakter von geistiger Bedeutung hätte abgeben sollen, ist zum Hauptthema geworden, und es entstand eine zeitgebundene gesellschaftskritische Satire im Stil maliziöser Reportage. In Elmer Gantry (1927) wendet sich die im Ton noch grimmigere Satire gegen scheinheilige Frömmigkeit. Auch Dodsworth (1929), worin amerikanische und europäische Kultur kontrastiert werden, die Charaktere aber marionettenhaft bleiben, konnte Lewis' großen Ruf als Romancier nicht rechtfertigen, zumal seine Erzählergabe durch einen Mangel an Stil beeinträchtigt wird. Bei JACK (John Griffith) LONDON 26 (1876-1916), der seine Gaben in einem rücksichtslosen Leben vergeudete, fehlt der sorgfältige Aufbau, und von seinen einst vielgelesenen Tendenzromanen ist höchstens der autobiographische Martin Eden (1909) von Interesse, der von den Nöten des werdenden Schriftstellers, seinem plötzlichen Erfolg und seinem Ekel an der Gesellschaft berichtet und den eigenen Selbstmord vordeutet. Londons beste Leistung ist The Call of the Wild (1903), die Geschichte eines Schlittenhundes in Alaska, der wieder zu den Wölfen zurückkehrt, von denen seine Vorfahren einst kamen. Diese Erzählung, zu der eigene Erinnerung den knapp gezeichneten, großartig wilden Naturhintergrund lieferte, reicht, wohl ohne des Autors Absicht, über den naturalistischen Rahmen hinaus. Die Romane des ähnlich umhergetriebenen SHERWOOD ANDERSON 27 (1876-1941) streben dagegen bewußt ein solches Ziel an. So anregend seine Kurzgeschichten (s. S. 1017) und auch seine Autobiographie A Story-Teller's Story (1924) waren, seine Romane - die Kleinstadtschilderung Poor White (1920) und der von Hemingway in The Torrents of Spring (1926) treffend parodierte Roman Dark Laughter (1925) - sind als Romane verfehlt, diffus in Denken und Methode und ohne Gefühl für Proportion. Der autobiographische Grundton seines Schaffens und die Themen, insbesondere das aufdringliche Betonen des sexuellen Lebens, erinnern an D. H. Lawrence, den er jedoch eher verflacht und karikiert als nachahmt.

26

Works, ed. I. O. Evans, 18 Bde. (1962-68); The Bodley Head J. L., ed. A. CalderMarshal, 4 Bde. (1963-66); Letters from J. L., edd. K. Hendricks and I. Shepard (1966). - R. O'Connor, J. L.: A Biography (Boston, 1964); A. Sinclair, Jack: A Biography of J. L. (1978); E. Labor, J. L, TUSAS (Boston, 1975). 27 The S. A. Reader, ed. P. Rosenfeld (Boston, 1947); The Portable S. A., ed. H. Gregory (N. Y., 1949). Letters, edd. H. M. Jones and W. B. Rideout (Boston, 1953). - J. E. Schevill, S. A.: His Life and Work (Denver, 1951); I. Howe, S. A. (1951); R. Burbank, S.A. (N. Y., 1964); D.D. Anderson, S.A.: An Introduction and Interpretation (N. Y., 1967); W. D. Taylor, S. A. (N. Y., 1977).

. Der Roman

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5. Der amerikanische Roman zwischen Realismus und Romance Bedeutender als der im Grunde stillos bleibende amerikanische Naturalismus ist der gemäßigte, auf die Vorbilder Howells und James zurückgehende Realismus, der in den namentlich von Frauen vertretenen Gesellschaftsromanen seine reinste Ausprägung erhielt. EDITH WHARTON 28 (1862-1937), die geistesverwandte Freundin und bedeutendste Schülerin von Henry James, erwarb sich schnell die Gunst des Publikums, weil der durchklingende Glaube an mutige persönliche Haltung einer des naturalistischen Desillusionsromans überdrüssigen Zeit zukunftweisend erschien. Ihre Kunst, über die sie sich mehrfach äußerte (The Writing of Fiction, 1925), ist eine Stilkunst, die anspruchsvolle Leser voraussetzt, das Auswahlprinzip der Tranche-de-vie-Methode gegenüberstellt und, zumal in den Frühwerken, eine ironische Färbung liebt. Ihre in fein abgetönter Prosa geschriebenen Gesellschaftsromane spielen wie die Jamesschen in kultivierten, oft europäischen Kreisen und sind sorgsam um ein moralisches Problem aufgebaut, das fast kasuistisch abgehandelt wird. Sie begann mit einem historischen Roman, The Valley of Decision (1902), dessen Schauplatz Italien ist, das die Verfasserin aus vielfachen Reisen kannte und in interessanten Reisebüchern beschrieben hat (Italian Villas and their Gardens, 1904; Italian Backgrounds, 1905). Der im Thema an George Eliots 'Romola' erinnernde Roman, der einen Anhänger der Aufklärung zwischen die reaktionäre italienische Aristokratie und das aus Frankreich eindringende Sansculottentum stellt und scheitern läßt, hat bereits die tragische, aber nicht fatalistische Grundstimmung ihrer Gesellschaftsromane. Der erste, The House of Mirth (1905), zeigt schon in dem biblischen Titel die ironische Haltung. Das Haus der Freuden ist die der Verfasserin vertraute, vornehme New Yorker Welt, deren äußerer Glanz und innere Leere das Lebensschicksal der Heldin Lily Bart bestimmt; die mittellose, um ihre gesellschaftliche Stellung besorgte Frau schwankt zwischen Geldheirat und Liebe, wird in einen Skandal verwickelt und verliert beides. Sie begeht Selbstmord in dem Augenblick, als der Mann, den sie liebt, ihr einen Heiratsantrag machen will. Diesem ersten großen Wurf folgen zwei das Eheproblem erörternde Romane: im ersten, The Fruit of the Tree (1907), erlöst eine Krankenschwester eine unheilbar kranke Frau durch Morphium, aber als sie dann die Gattin des Mannes wird, steht der Tod der ersten Frau zwischen ihnen; der andere, dem Thema der Jamesschen 'Golden Bowl' nahestehende Eheroman The Reef (1912), der amerikanische Charaktere vor französischem Schauplatz ins Relief setzt, weiß die Jamessche Wertung der Moral als einer mehr persönlichen denn gesellschaftlichen Angelegenheit überzeugend und als ein den Leser angehendes Problem zu verlebendigen. 28

A W. Reader, ed. L. Auchincloss (N. Y., 1965). - R. W. B. Lewis, E. W.: A Biography (1975); L. Auchincloss, E. W.: A Woman in Her Time (N. Y., 1971); H. Lindberg, E. W. and the Novel of Manners (Charlottesville, 1975); R. H. Lawson, E. W. (N. Y., 1977); C. G. Wolff, A Feast of Words: The Triumph of E. W. (N. Y., 1977).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

Edith Wharton hat das Eheproblem noch öfter behandelt, mit Vorliebe unter dem Aspekt der verschiedenen Moraltraditionen der französischen und amerikanischen Gesellschaft (The Custom of the Country, 1913). Vor allem ist The Age of Innocence (1920), der reifste ihrer Gesellschaftsromane, hervorzuheben, der vor dem Hintergrund des vornehmen New York der siebziger Jahre das zeitlose Eheproblem erörtert, mitfühlend, lebensklug und, wie der Titel andeutet, mit leiser Ironie. Der Roman ist in der Jamesschen Art vom Blickpunkt einer Figur aus geschrieben, und da der Vorwurf und nicht nur die Art seiner Behandlung interessiert, ist dieser Roman lebendiger als ähnliche von James. Die Verfasserin hat nicht die strenge Objektivität des Meisters; wie sie in The Fruit of the Tree die Unlösbarkeit der Ehe vertrat und in The Age of Innocence die tragische Entsagung als notwendiges Ende herbeiführte, so fällt sie ein schneidendes Urteil in der Geschichte Kates (The Mother's Recompense, 1925), die ihres früheren Liebhabers Heirat mit ihrer Tochter nicht verhindern kann und entsagend im selbstgewählten Exil Vergessen sucht. Mrs. Wharton beschränkt sich jedoch nicht auf den Gesellschaftsroman. In der kraftvollen, in düsterer Winterstimmung gehaltenen Erzählung aus der bäuerlichen Umwelt Neuenglands, Ethan Frame (1911), gestaltet sie den Kampf um einen Augenblick Glück und das tragische Schicksal eines der Pflicht verhafteten Charakters. Die auf einen Höhepunkt und plötzlichen Fall hin angelegte novellistische Kunst wandte die Verfasserin auch in einer Reihe kürzerer Erzählungen an, von denen die vier, das Leben in Old New York (1924) beschreibenden Novellen (False Dawn, The Old Maid, The Spark, New Year's Day) besondere Beachtung verdienen. Ihren künstlerischen Werdegang schildert sie in ihrer Autobiographie A Backward Glance (1934). Die aus Virginia stammende ELLEN GLASGOW29 (1874-1945) begann mit sentimentalen Heimatromanen, die das Ende der aristokratischen Kultur des Südens beklagten (s.S. 821), ging dann aber zu einem härteren Realismus über mit sozialgeschichtlichen Darstellungen und satirischen Sittenschilderungen. Als ihr bestes Werk gilt Barren Ground (1925), in dem Dorina Oakley, vom Leben enttäuscht, nach dem Tod ihres Vaters nach Virginia zurückkehrt, den Kampf gegen den das unbebaute Land verschlingenden Ginster aufnimmt und mit fortschrittlichen Methoden die heruntergekommene Farm wieder zu Wohlstand bringt. In weiterer Steigerung der seelischen Zustandsschilderung ist They Stooped to Folly (1929) ganz auf das Wesen der Frau gerichtet, vom herkömmlichen realistisch-psychologischen Roman jedoch unterschieden durch einen starken Optimismus, einen Zug ins Philosophische und eine an Meredith erinnernde Ironie. 29

Works (Virginia Edn.), 12 Bde. (N. Y., 1938); A Certain Measure: An Interpretation of Prose Fiction (N. ., 1943) [gesammelte Vorreden]; The Woman Within (N. ., 1954) [Autobiographie]; Letters, ed. B. Rouse (N. ., 1958).- F.P.W. McDowell, E. G. and the Ironie Art of Fiction (Madison, 1960); B. Rouse, E. G. (N. Y., 1962); J. R. Raper, Without Shelter: The Early Career of E. G. (Baton Rouge, 1971).

IV. Der Roman

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Das Thema heroischer Selbstbehauptung gegenüber widrigen Zuständen und einer feindlichen Natur durchzieht auch das Werk von WILLA (SIBERT) GATHER30 (1873-1947), die gleichfalls aus Virginia stammt, aber in Nebraska aufwuchs und mit Vorliebe das Schicksal der bäuerlichen schwedischen und böhmischen Einwanderer in den großen Ebenen des Nordwestens beschrieb (O Pioneers!, 1913; My Antonio, 1918). Willa Gathers Romane verzichten auf kunstvoll verschlungene Handlung und wirken wie eine Folge von Episoden, die, frisch und mit einfühlender Beobachtungsgabe erzählt, in den örtlichen und nationalen Besonderheiten das allgemein Menschliche hervortreten lassen. Als Schülerin von James, dessen sprachliche Sorgfalt sie sich zu eigen machte, bringt Willa Gather dem geistigen Pionier besonderes Interesse entgegen. Der Künstlerroman The Song of the Lark (1915) erzählt die Laufbahn einer Sängerin schwedischer Abstammung, die sich durch Gefühls- und Berufskämpfe in der unkongenialen Umwelt des Mittelwestens durchsetzt und schließlich, ganz in ihrer Kunst aufgehend, eine gefeierte Wagnersängerin der Metropolitan Opera wird. Das Schicksal feinorganisierter und kultivierter Charaktere im amerikanischen Mittelwesten behandelt auch der Desillusionsroman The Professor's House (1925), dessen idealistischer Held zwar in seinem Familienleben scheitert, aber zu einer gelassenen Hinnahme des Lebens gelangt und als sein eigener bester Kamerad einen Triumph des Individuums über seine Umwelt verkündet. Schon vorher hatte Willa Gather in dem kompositionell fein ausgewogenen Roman A Lost Lady (1923) das Charakterbild einer ihre Umgebung geistig überragenden Frau gezeichnet, die Lebenskunst und weibliche Grazie in das neue Land der Pioniere bringt, aber im Grunde die ewige Kurtisane ist, was in milderem Licht erscheint, weil die Geschichte in den Mund eines bewundernden Erzählers gelegt ist. Epische Größe erreichte die Verfasserin in dem historischen Gemälde Death Comes for the Archbishop (1927). Der aus kultivierter französischer Familie stammende Jean Marie Latour erhält nach zehnjähriger Missionsarbeit in Ohio den Auftrag, in New Mexico, nachdem es ein Teil der Vereinigten Staaten geworden ist, ein selbständiges Bistum aufzubauen. Nur von seinem Jugendfreund unterstützt, dem schlichten Pater Vaillant, arbeitet der Bischof unermüdlich in seiner grenzenlos weiten Diözese und kämpft gegen Aberglauben und Gleichgültigkeit, Haß und Ablehnung, Irrlehren und Unmoral der Priester. Als im hohen Alter der Tod kommt, kann er auf die Vollendung seines Werkes zurückschauen; er wird in der von ihm erbauten Kathedrale von Santa Fe aufgebahrt. Willa Gathers spätere Romane, wie der im 17. Jahrhundert in Quebec spielende Shadows on the Rock (1931), haben nicht mehr dieselbe Kraft oder nähern sich dem Unterhaltungsroman (Lucy Gayheart, 1935). 30

The Novels and Stories of W. C, 13 Bde. (Boston, 1937-41); On Writing: Critical Studies on Writing and Art (N. Y., 1949). - E. K. Brown, W. C: A Critical Biography, completed by L. Edel (N. ., 1953); D. Daiches, W. C: A Critical Introduction (Ithaca, 1951); J. Woodress, W. C: Her Life and Art (N. Y., 1970); P. Gerber, W. C., TUSAS (Boston, 1975); D. Stouck, W. C.'s Imagination (N. Y., 1975).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

Unter scharfer Absage an den Realismus träumte der romantische Ironiker JAMES BRANCH GABELI?' (1879-1958) seinen von der Wirklichkeit unbeschwerten Schönheitstraum. Seine Phantasie schuf ein mittelalterliches Land Poictesme, wo die meisten seiner Erzählungen spielen, entwarf eine Landkarte dieses Traumreiches, gab ihm Geschichte und Folklore und bevölkerte es mit Figuren, die ihren Stammbaum auf den Landesherrn Dom Manuel zurückführen. Dieser Manuel ist der ewige Komödiant, stets enttäuscht und doch stets hoffend, ein Symbol der menschlichen Seele, die Endgültigkeit und Ziel erstrebt in einer verwirrenden und nur durch die Illusion von Schönheit, Kunst und Liebe erträglichen Welt. Jürgen (1919), das bekannteste seiner Bücher, läßt einen Pfandleiher in Erfüllung seiner Wunschträume Herzog, König und Kaiser werden, Hölle und Himmel besuchen und mannigfache Liebesabenteuer erleben, bis er schließlich zufrieden und resigniert in seinen alten, bescheidenen Beruf zurückkehrt. Figures of Earth (1921), genannt nach den Figuren, die der Held aus Erde knetet, die ihm aber nie ganz gelingen, berichtet die Geschichte Dom Manuels; und The Silver Stallion (1926) bringt eine Parallele seiner Laufbahn mit Christus. Gegenüber der Vielschichtigkeit seiner mit Anspielungen, Zweideutigkeiten und ironischen Lichtern erfüllten Romane haben einzelne kürzere Erzählungen wie die Geschichte der treuen Liebe von Manuels Tochter (The Soul of Melicent, 1913, umgearbeitet als Domnei, 1920) den Vorzug klarer Handlungsführung. Cabell neigt dazu, einen Roman zu einer Folge kurzer Geschichten zu machen, die als Abenteuer einer Leitfigur verbunden sind. Das gilt auch von Cabells anderen Werken, die außerhalb der Poictesme-Reihe stehen, aber eine ähnliche Phantastik aufweisen. Cabells Bedeutung beruht im wesentlichen auf seiner vollendeten Kunstprosa. Seine Romantheorie, die Phantasie und Traum gegenüber dem als Erzfeind bezeichneten Realismus ausspielt, hat er in Beyond Life (1919) dargelegt; seine Lebensanschauung fand in Essaybänden wie Straws and Prayer-Books (1924) herausfordernden und gelegentlich zynischen Ausdruck. Ironie und Ästhetizismus werden immer nur einen beschränkten Leserkreis ansprechen; auch die weiteren Vertreter der Romance wenden sich an den anspruchsvollen, literarisch gebildeten Leser. Dies gilt für THORNTON WILDER32 (1897-1975), dessen Bücher weniger Romane als thematisch verknüpfte Charakteristiken oder Novellen sind. The Cabala (1926) schildert einen exklusiven Kreis italienischer, der Vergangenheit verhafteter Aristokraten nach dem ersten Weltkrieg, die einem jungen Amerikaner, der sie ironisch und doch fasziniert betrachtet, als die geschrumpften heidnischen Götter erscheinen. Sie sind nach einer mehr als zweitausendjährigen Ge31

The Works of J. B. C., 18 Bde. (N. Y., 1927-30); Letters, ed. E. Wagenknecht (N. Y., 1975). - J. L. Davis, J. B. C. (N. Y., 1962); D. Tarrant, J. B. C.: The Dream and the Reality (Norman, Okla., 1967); L. Untermeyer, J. B. C.: The Man and his Masks (Richmond, 1970). 32 R. Burbank, T. W. (N. Y., 1961); H. Papajewski, T. W. (Frankfurt, 1961); M. Goldstein, The Art of T. W. (Lincoln, Nebr., 1965); M. C. Kuner, T. W.: The Bright and the Dark (N. Y., 1972). S. auch S. 937, Anm. 51.

IV. Der Roman

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schichte nicht mehr lebensfähig, und den Heimreisenden verweist der beschworene Geist Vergils auf New York als das neue Rom. In The Bridge of San Luis Rey (1927) ist ein Brückeneinsturz in Peru im Jahre 1714 Anlaß zu der Frage, ob sich in dieser Katastrophe das Walten einer göttlichen Vorsehung erkennen läßt. Für die fünf Opfer kommt der Tod unerwartet, aber die mühevollen Nachforschungen des Franziskanerpaters Juniper über ihr Leben erweisen bei allen Verunglückten den Tod als sinnvolle Lösung. Die darüber hinausgehende Frage nach dem göttlichen Plan überschreitet jedoch die Erkenntnismöglichkeit des Menschen. Pater Juniper erkennt seine Vermessenheit, unterwirft sich dem Urteil der Kirche und stirbt demütig den Flammentod. Als letzter Sinn des Daseins erschließt sich dem Menschen einzig die selbstlose Liebe. Wilder hat das Geschehen kunstvoll mit der Rahmenhandlung verwoben und in den Bereich der Weiterlebenden hineinwirken lassen. Allerdings mußten durch die Anlage der Erzählung alle fünf Lebensbeschreibungen an eine ähnliche Wende geführt und die Thematik zwangsläufig wiederholt werden. Der schwächere Roman The Woman of Andros (1930) behandelt, auf des Terenz 'Andria' fußend, das Theodizeeproblem in der Gestalt der Hetäre Chrysis, die sich trotz allem Leid zum Preis des Lebens bekennt und in dem Glauben stirbt, daß die Götter noch ein Wunder bereithalten. Wilders kammermusikartige Kunst erreichte einen Höhepunkt in The Ides of March (1948), das die letzten Monate im Leben des Diktators Caesar behandelt. Virtuos hat der Dichter hier fingierte Briefe, Catullgedichte, Auszüge aus Tagebüchern und Staatsakten, Polizeiberichte und Erlasse zusammengefügt und ein höchst dramatisches und modernes Bild dieses mit geheimer Staatspolizei und allen Errungenschaften politischer Überwachung arbeitenden Staatsmannes und seiner Zeit gezeichnet. The Eighth Day (1967) fragt mit der Geschichte eines unschuldig zum Tode verurteilten, flüchtigen Mannes erneut nach dem Sinn des menschlichen Schicksals und gibt der Überzeugung Ausdruck, daß die Menschen nicht am Ende der Schöpfung stehen, sondern an einem Neubeginn. Theophilus North (1973) schließlich, der „Heilige wider Willen", schildert einen Zwilling des Dichters, der all die Möglichkeiten verkörpert, die Wilder als Kind vorschwebten, und bekennt sich zu der zuversichtlichen Hoffnung, daß der Mensch die Zeiten überdauern wird. Wilder ist ein kultivierter und nachdenklicher Erzähler, der jedoch stärker in der europäischen als in der amerikanischen Tradition verwurzelt ist. GEORGE SANTAYANAS" The Last Puritan (1935) zeigt im bunten Wechsel von Schauplätzen und Persönlichkeiten, in den lebendigen Charakteristiken und anschaulichen Gesellschaftsbildern epische Fülle; im autobiographischen Gehalt bildet es eine Art Gegenstück zu The Education of Henry Adams' (s. S. 749), wie es der Untertitel Memoir in the Form of a Novel' andeutet. Durch den autobiographischen Grundriß ist die in Santayanas philosophischen Büchern ablehnende Auseinandersetzung mit der puritanischen 33

S. S. 744, Anm. 42.

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Tradition Neuenglands menschlich unterbaut. Diese puritanische Welt, die im Transzendentalismus die geistige Kultur Amerikas begründete, wird gerecht und verstehend geschildert, aber das idealistische Gedankengut ist, wie der Onkel und die engstirnige Mutter des Helden zeigen, zu einer leeren Form geworden. In Oliver Alden wurde es ein belastendes Erbe: trotz bester Veranlagung kann er das Leben nicht meistern; sein anerzogenes Pflichtbewußtsein verwehrt ihm unbekümmerten Lebensgenuß sowie das Verständnis für den Hedonismus seines Freundes Mario. Von der geliebten Frau aufgegeben, beendet er als Kriegsfreiwilliger in Frankreich sein sinnloses Leben mit einem sinnlosen Tod. Der Puritanismus hat seine lebengestaltende Kraft verloren.

6. D. H. Lawrence, J. Joyce und der Bewußtseinsroman Für DAVID HERBERT LAWRENCE34 (1885-1930) stand das Verhältnis der Geschlechter im Mittelpunkt seines Schaffens. Die Unterdrückung des Trieblebens hatte nach seiner Ansicht zu einer Verkümmerung des Menschen geführt und die Einheit von Sinnen und Seele zerbrochen. Lawrence forderte den Mut, die dunklen Mächte des Unterbewußten durch klare Erkenntnis zu ergründen und durch offene Aussprache des sexuellen Lebens den Menschen wieder zu einem 'integrated life' zu führen. Lawrences erster vollgültiger Roman, Sons and Lovers (1913), behandelt mit psychologischer Eindringlichkeit die weithin autobiographische Entwicklungsgeschichte von Paul Morel, dem künstlerisch veranlagten Sohn eines Grubenarbeiters aus Nottinghamshire. In der niederdrückenden Umwelt von Armut und häuslichem Unfrieden ist dem jungen Paul die Liebe zu seiner in ihrer Ehe enttäuschten, willensstarken Mutter Halt und Hoffnung; die starke Mutterbindung bedingt aber eine Abhängigkeit, die Pauls Beziehung zu zwei Frauen durchkreuzt. Der qualvolle Tod der Mutter bedeutet für ihn die schwerste Erschütterung; doch der Roman schließt nicht in Verzweiflung, sondern mit dem entschlossenen Willen des Helden, sich dem Leben zu stellen. Umfassendere Aussprache fand das Thema der Geschlechterbeziehung in The Rainbow (1915) und Women in Love (geschr. 1916, gedr. 1920). Hier verfolgt Lawrence den Antagonismus zwischen Mann und Frau durch drei 34

Works (Phoenix Edn.), 24 Bde. (1954-64); Collected Letters, ed. H. T. Moore, 2 Bde. (N. Y., 1962); The Letters of D. H. L., ed. J. T. Boulton, ca. 7 Bde. u. Index (Cambr., 1979ff.) [bisher Bd. l erschienen].- H.T. Moore, The Priest of Love: A Life of D. H. L. (1974); F. R. Leavis, D. H. L.: Novelist (1955); G. Hough, The Dark Sun: A Study of D. H. L. (1956); J. Moynahan, The Deed of Life: The Novels and Tales of D. H. L. (Princeton, 1963); G. H. Ford, Double Measure: A Study of the Novels and Stories of D. H. L. (N. Y., 1965); H. M. Daleski, The Forked Flame: A Study of D. H. L. (1965); K. Sagar, The Art of D. H. L. (Cambr., 1966); K. Alldritt, The Visual Imagination of D. H. L. (1971); S. Saunders, D. H. L.: The World of the Major Novels (1973). - Vgl. auch S. 869f. und 1014f.

IV. Der Roman

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Generationen der Brangwens, bis es schließlich in der Begegnung von Ursula und Birkin zu einer echten Ich-Du-Beziehung kommt, in der das Eigensein des Partners bejaht wird. Ursula und Birkin erreichen jenes „Gleichgewicht der Sterne, das allein Freiheit ist". Der Geschlechtsinstinkt wirkt in The Lost Girl (1920) als Schicksalsmacht; die Heldin Alvina Haughton ist „verloren" von dem Augenblick an, da der ungebildete, starke, primitive Mann als Schicksal in ihr Leben tritt. Alle Lawrenceschen Helden suchen nach solcher Selbstverwirklichung. Deshalb verläßt Aaron Sisson in Aaron's Rod (1922) Frau und Kinder, obwohl er sie liebt. Die in ferne Länder verlegten Romane Kangaroo (1923), The Plumed Serpent (1926) und die Titelnovelle der Sammlung The Woman who Rode Away (1928) bringen das Unheimliche, das die Menschen rätselvoll und schicksalhaft umwittert, zu beklemmendem Ausdruck. Kate in der in Mexiko spielenden „Gefiederten Schlange" erlebt in dem magischen Ritual der wiederbelebten aztekischen Religion das Einswerden ihrer Seele mit der in der Lust des Tötens und des Geschlechts wirksamen bläulichdunklen Macht der Erde, und die Heldin der Novelle wird im Opfertod der höchsten Lust teilhaftig. In dem 1929 in Paris unter dem Titel The Escaped Cock erschienenen und postum in London veröffentlichten The Man who Died (1931) erlebt der durch die Pflege eines Bauern dem Leben zurückgewonnene gekreuzigte Christus im Isistempel die Vereinigung mit einer jungen Priesterin, einer Inkarnation der Mondgöttin und Hüterin ihrer dunklen Geheimnisse. In dem einst heftig umstrittenen, aber künstlerisch schwachen Roman des „phallischen Bewußtseins", Lady Chatterley's Lover (1928), entscheidet sich die Heldin für den Wildhüter Mellors und damit für die Ganzheit des Lebens und gegen den sterilen Intellekt. Neben den Romanen und zahlreichen Erzählungen sind auch die kritischen Abhandlungen bemerkenswert (Psychoanalysis and the Unconscious, 1921; Fantasia of the Unconscious, 1922; Apocalypse, 1931) sowie die fesselnden Reisebeschreibungen (Twilight in Italy, 1916; Sea and Sardinia, 1921; Mornings in Mexico, 1927, und das unvollendete Etruscan Places, 1932). Lawrence hielt nichts von den Experimenten eines Proust oder Joyce. Er übernahm die von den Viktorianern überlieferte Form des Romans und wandte seine ganze Kraft an die dichterische Prägung seiner Lebens- und Weltschau. Seine Botschaft von der Hingabe an die dunklen Tiefen des Unbewußten hat er mit leidenschaftlicher Intensität und Besessenheit zum Ausdruck gebracht. Mag sein Angriff häufig hemmungslos sein, selbst in den schwächeren Werken sind seine Natur- und Landschaftsbeschreibungen einzigartig. Sein Fühlen und Denken hat das Unmittelbare des Lebens; seine poetischen Symbole und der Rhythmus seiner Prosa scheinen das Leben selbst einzufangen. Die künstlerische Eigenart und Absicht des Bewußtseinsromans35 wird am leichtesten verständlich an dem Werk der DOROTHY RICHARDSON36 35

M. Friedman, Stream of Consciousness: A Study in Literary Method (New Haven, 1955); R. Humphrey, Stream of Consciousness in the Modern Novel (Berkeley, 1954); L. Edel, The Psychological Novel 1900-1950 (N. Y., 1955). 36 J. Rosenberg, D. R.: The Genius They Forgot: A Critical Biography (1973).

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(1873-1957), die 1915 mit Pointed Roofs eine später unter dem Gesamttitel Pilgrimage (1915-38) in zwölf Bänden durchgeführte Romanreihe begann, worin die Erlebnisse, d. h. die Impressionen, Erinnerungen und Assoziationen der Lehrerin Miriam Henderson dargestellt werden. An die Stelle der an sich belanglosen äußeren Ereignisse tritt das innere Geschehen der Reaktionen der Heldin. Alle Ereignisse werden aus ihrer Perspektive berichtet, ohne Kommentar eines auktorialen Erzählers. Thema des Romans, in dem es keinen Handlungsablauf, keine Verwicklung oder Erzählspannung gibt, ist die Ausbreitung des Bewußtseinsinhalts, der ohne Anfang und Ende dahingleitende „Bewußtseinsstrom" der Titelfigur, die jedoch eine zu durchschnittliche Frau ist, als daß sie unser Interesse über eine so lange Strecke hin wachhalten könnte. Dieser neuen expressionistischen Romanform hat der Ire JAMES JoYCE37 (1882-1941) mit ungleich größerer künstlerischer Gestaltungskraft zu einem Welterfolg verhelfen. Joyce begann mit Kurzgeschichten (Dubliners, 1914, s. S. 1012 f.), die das Thema der die Menschen einengenden Konventionen abwandeln. Derselbe Vorwurf wird in dem Roman A Portrait of the Artist as a Young Man (1916) zu dem menschlichen Dokument einer die jesuitischen Erziehungsfesseln sprengenden, sinnlich-geistigen Explosion des inneren Menschen. Trotzig entsagt Stephen Dedalus allen Bindungen, folgt dem Ruf des Lebens und der Kunst und geht den Weg ins Exil. Die erste Fassung des Romans, Stephen Hero, von der uns ein Teil erhalten ist, war noch in ausführlichem Erzählbericht geschrieben mit Stephen als Zentralfigur; im 'Portrait' dagegen ist die Handlung in das Bewußtsein des Helden verlegt. Stephen ist zur einzigen Figur geworden, und die übrigen Charaktere haben nur in37

W e r k e : The Essential J. J., ed. H. Levin (1948); Dubliners: Text, Criticism, and Notes, edd. R. Scholes and A. W. Litz (N. Y., 1969); Portrait of the Artist: Text, Criticism, and Notes, ed. C. G. Anderson (N. ., 1968); Stephen Hero, edd. J. J. Slocum and H. Cahoon (N. Y., 1959); Ulysses: A Facsimile of the Manuscript with a Critical Introduction by H. Levin and Bibliographical Preface by C. Driver (1975). Letters, Bd. 1, ed. S. Gilbert (1957), corn R. Ellmann (1966); Bd. 2 u. 3, ed. R. E11mann (1966); Selected Letters, ed. ders. (1975); The Critical Writings, edd. E. Mason and R. Ellmann (1959).- Biographie: R. Ellmann, J. J. (21982); S. Joyce, My Brother's Keeper, ed. R. Ellmann (1958). - Kritik: W. Y. Tindall, A Reader's Guide to J. J. (N. Y., 1959); H. Levin, J. J.: A Critical Introduction (Norfolk, Conn., 21960); H. Kenner, Dublin's J. (Bloomington, 1956); ders., J.'s Voices (Berkeley, 1978); A. Goldman, The J. Paradox: Form and Freedom in His Fiction (Evanston, 111., 1966); A. W. Litz, J. J., TEAS (N. Y., 1966); ders., The Art of J. J.: Method and Design in Ulysses and Finnegans Wake (N. Y., 1961). - Zu Ulysses: S. Gilbert, J. J.'s Ulysses (N. Y., 2 1952); F. Budgen, J.J. and the Making of Ulysses (1934, reiss. C. Hart, 1972); S. Sultan, The Argument of Ulysses (Columbus, O., 1965); H. Blamires, The Bloomsday Book: A Guide through J.'s Ulysses (1966); S. L. Goldberg, The Classical Temper: A Study of J. J.'s Ulysses (1961); C. Hart, J. J.'s Ulysses (Sydney, 1968); J. J.'s Ulysses: Critical Essays, edd. C. Hart and D. Hayman (Berkeley, 1974); W. Thornton, Allusions in Ulysses: An Annotated List (Chapel Hill, 1961). - Zu Finnegans Wake: J. S. Atherton, The Books at the Wake (1959); C. Hart, Structure and Motif in F. W. (Evanston, 111., 1962); A. Glasheen, A Second Census of F. W. (Evanston, 1963); W. Y. Tindall, A Reader's Guide to F. W. (N. Y., 1969).

1 . Der Roman

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soweit Existenz, als sie in sein Bewußtsein treten. Sein Inneres erscheint gleichsam bloßgelegt, und auch das Halb- und Unterbewußte findet in Leitmotivketten und Bildgruppen angemessenen Ausdruck. In dem monumentalen Hauptwerk Ulysses (1922) wird diese Methode konsequent weiterentwickelt. Der Roman spielt an einem bestimmten Tag, dem 16. Juni 1904, in und bei Dublin und handelt von den mannigfachen geistigen und sinnlichen Abenteuern dreier Hauptpersonen, des jungen Stephen Dedalus, des Inseratenagenten Leopold Bloom und dessen Frau Molly. Alles Erleben und alle Gedanken dieser Personen werden zeitlupenartig registriert, vom Aufstehen am Morgen bis zu dem abschließenden inneren Monolog Mollys in der späten Nacht, der sich pausen- und satzzeichenlos durch mehr als vierzig Seiten hinzieht und in dem sie im Zustand des Halbschlafs ihr sinnliches Leben noch einmal Revue passieren läßt. Joyce hat die Wünsche, Hoffnungen und Ängste seiner Figuren mit Geschichte und Politik, Philosophie und Theologie und den Mythen und Symbolen der Menschheit verbunden, so daß die kleine Welt Dublins zum Kosmos geweitet und eine Summe des modernen Bewußtseins gezogen scheint. Um das Werk zur Einheit zu fügen, ist von Joyce eine Vielfalt neuartiger Darstellungsmittel verwendet worden, die an die Bergsonsche Philosophie, die Assoziationspsychologie, die musikalische Leitmotivtechnik und die Filmmontage erinnern. Eine wichtige Rolle spielen die Odysseeparallelen. Sie dienen nicht nur der Kontrastierung der trivialen Gegenwart mit der heroischen Vergangenheit; bei aller Gegensätzlichkeit erweisen sie auch eine geheimnisvolle Gleichheit von menschlichen Grundsituationen und Charakteren durch die Jahrhunderte. Bloom beispielsweise ist in merkwürdiger Klitterung identisch sowohl mit Odysseus wie dem Wandernden Juden, mit Hamlets Vater und mit Shakespeare: Ulysses ist ein ganzer Irrgarten kaleidoskopartiger Identifikationen. Unter den zahlreichen anderen durchlaufenden Themen ist das der Suche nach dem geistigen Vater zu einem ausdrucksstarken Symbol für die Heimatlosigkeit des Menschen geworden. Das schwierigste Problem war jedoch, eine für die Zwecke der Bewußtseinskunst geeignete Sprache zu entwickeln. Um Vorgänge, die nicht nach den Regeln der Logik und Grammatik verlaufen, sondern vorsprachlicher Natur sind, im Medium der Sprache auszudrücken, hat Joyce in mannigfacher Weise experimentiert. Seine Versuche reichen von isolierten Wortfetzen und unverbundenen Bewußtseinsstenogrammen bis zu konventionelleren Kompromißlösungen. Fast alle modernen englischen und amerikanischen Romanschriftsteller sind von ihm beeinflußt worden. War die Darstellung des Irrationalen im Ulysses noch am Bewußtsein orientiert und also enträtselbar, so hat es das letzte Werk, Finnegans Wake (1939), mit der unbewußten Welt des Traums zu tun, dessen Wesen die Inkohärenz ist. In dieser zyklisch verlaufenden Traumsaga vom Fall und der Wiederauferstehung der Menschheit steigert sich Joyces wortschöpferische Kunst zu einer höchst manieristischen Sprache, die zwar großartiger Wirkungen fähig ist, wie etwa in dem abschließenden Monolog von Anna Livia Plurabelle (der

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Stimme des Flusses Liffey), aber als Ganzes kann das Buch, das man als eine gewaltige Endmoräne des gesamten Denkens und Wissens der Menschheit bezeichnet hat, nur von dem Joyce-Experten verstanden werden. Neben Joyce erhebt sich das Schaffen von VIRGINIA WoOLF38 (1882-1941) zu selbständiger Bedeutung. Ihre Kritik an der voraufgegangenen Generation der Bennett und Wells macht deutlich, daß das Realitätsbewußtsein sich gewandelt hatte. Das Leben war für Mrs. Woolf etwas viel Flüchtigeres, Entgleitenderes, als es den Realisten erschienen war. Sie wollte die seelische Wirklichkeit erfassen, die unzusammenhängenden, fließenden, sich verwischenden Erlebniseindrücke, die Empfindungen in ihrem Halbdunkel, ihrer Trübung, bevor der ordnende Verstand verfälschend eingreift. Jacob's Room (1922), das den Helden und seine geistige Atmosphäre durch die flüchtigen Eindrücke anderer schildert, war der erste Vorstoß zu einer solchen impressionistischen Kunst. In Mrs. Dalloway (1925) gelang es ihr, in die nur etwa fünfzehn Stunden umfassende äußere Handlung, die mit den morgendlichen Einkäufen der fünfzigjährigen Clarissa Dalloway beginnt und der abendlichen Gesellschaft und dem Abschied der Gäste endet, das vielfältige, sich von Augenblick zu Augenblick verändernde Leben zu bannen. Erinnert der Simultanquerschnitt von Mrs. Dalloway an Joyce, so ruft To the Lighthouse (1927) Proust ins Gedächtnis. Die beiden Motive der Fahrt zum Leuchtturm und des von Lily Briscoe gemalten Porträts der Mrs. Ramsay binden den ausgewogenen Roman fest zusammen. Die zwischen dem Plan und der Ausführung des Leuchtturmbesuchs verstreichende Zeit von zehn Jahren wird in dem kurzen Mittelteil in einem lyrisch getönten, direkten Bericht gegeben. Anfangs- und Schlußteil sind ganz der Darstellung der Innenwelt gewidmet, und das aufleuchtende und wieder verlöschende Licht des Leuchtturms wird zum Sinnbild menschlichen Lebens. The Waves (1931) ist Mrs. Woolf s extremstes Experiment; hier ist die Außenwelt völlig ausgeschaltet und die Wirklichkeit in den inneren Monologen der sechs Personen in fließende Bewegtheit aufgelöst. Das freie Schalten mit der Außenwelt hat einen reizvollen Niederschlag gefunden in Orlando (1928), ihrem heitersten Buch, halb Roman, halb imaginäre Biographie der ihr befreundeten Dichterin Victoria Sackville-West, der Verfasserin der Edwardians (1930) und der charmanten Pepita (1937). Bald als Held, bald als Heldin, durchlebt Orlando, ständig sich wandelnd und doch sich gleichbleibend, die Zeit von Elisabeth I. bis zur Gegenwart: der lojährige, schwärmerische Jüngling von 1586 ist im Jahre 1928 eine 36jährige Frau 38

Uniform Edn., 17 Bde. (1929-42); Collected Essays, ed. L. Woolf, 4 Bde. (1966-67); The Diaries, ed. A. O. Bell, 5 Bde. (1977ff., i. E.); Letters, edd. N. Nicolson and J. Trautmann, 6 Bde. (1975-80).- Q. Bell, V. W.: A Biography, 2 Bde. (1972-73); B. Blackstone, V. W.: A Commentary (N. Y., 1949); D. Daiches, V, W. (Norfolk, Conn., 2 1963); J. R. Hafley, The Glass Roof: V. W. as Novelist (Berkeley, 1954); H. Richter, V. W.: The Inward Voyage (Princeton, 1970); H. Lee, The Novels of V.W. (1977); S.R.Gorski,V.W.,TEAS(N.Y.,1978);W.Erzgräber,V.W.:EineEinführung(Mchn., 1982. - Vgl. auch die Autobiographie von Leonard Woolf, 5 Bde. (1960-69).

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und Mutter und hat inzwischen dreieinhalb Jahrhunderte der englischen Geistesgeschichte durchschritten. In keinem Roman hat Mrs. Woolfs Prosa größere Leuchtkraft als hier, wofür die Beschreibung des großen Frostes im Januar 1604 beispielhaft ist. Ein weiteres jeu d'esprit ist Flush (1933), die graziösspielende, aus der Perspektive ihres Lieblingshündchens geschriebene Biographie der Elizabeth Barrett-Browning. Von hohem künstlerischem Niveau ist auch Virginia Woolfs letztes Werk, Between the Acts (1941). Das Thema des menschlichen Daseins wird in dreifacher Sicht entfaltet: einmal in dem gegenwärtigen Geschehen, der seelischen Entfremdung und dem erneuten Zusammenfinden der jungen Eheleute Giles und Isa Oliver; sodann durch die Einbeziehung der historischen Vergangenheit Englands, die lebendig wird in einem 'pageant', das die Dorfbewohner im Park von Pointz Hall aufführen; schließlich durch die noch umfassendere, bis in die menschliche Urzeit zurückreichende Perspektive, die Mrs. Swithin eröffnet, die Schwester des alten Oliver. Noch ein anderes Thema klingt an, das des künstlerischen Menschen, die qualvolle Diskrepanz zwischen Vision und Gestaltung. Es wird in der die pageant-Aufführung leitenden Dorfschullehrerin verkörpert, einem burlesken Selbstporträt der Dichterin. Mrs. Woolfs Romane spielen in einer überaus kultivierten, ästhetischen Atmosphäre. Sie kennen keine außergewöhnliche oder mitreißende Handlung, kein notwendiges Schicksal. Ihre Menschen sind Gefangene ihrer eigenen Innenwelt, und es gibt höchstens für einen flüchtigen Augenblick einmal eine kurze Berührung mit einem anderen Bewußtsein. Ein Lebenssinn ist nicht erkennbar, allenfalls läßt sich ein Ordnungsprinzip vermuten. Der Mensch kann nur den gegenwärtigen Augenblick ergreifen, in dem sich Vergangenes und Werdendes treffen. Weniger von Joyce als von Henry James beeinflußt erscheint der psychologische Roman von Ivy Compton-Burnett und Elizabeth Bowen. IVY COMPTON-BuRNETTs39 (1892-1969) Werk ist überaus homogen. Sie hat an die zwanzig Romane40 geschrieben, die alle im mittleren und oberen Bürgertum zu Ende der viktorianischen Epoche spielen. Äußerlich gesehen scheint es die Welt der Jane Austen zu sein: ihre Personen sind wohlsituiert, leben in geräumigen Landhäusern mit vorzüglichen Dienstboten, und ihr Gesichtskreis ist auf die Familie beschränkt. Aber in Wirklichkeit herrscht in diesen Häusern das Grauen mit Ehebruch, Inzest, gefälschten Testamenten, Brutalität und Mord. Vermittelt werden die Auseinandersetzungen und melodramatischen Verwicklungen fast ausschließlich im Dialog; Beschreibung und Bericht treten vollständig zurück und sind oft knapper als die Regiebemerkun39

E.Sprigge,TheLifeofI.C.-B.(1973);C.Burkhart,I.C.-B.(1965);V.Powell,AC.-B. Compendium (1973). 40 Vgl. etwa Pastors and Masters (1925); Men and Wives (1931); A House and Its Head (1935); A Family and a Fortune (1939); Parents and Children (1941); Manservant and Maidservant (1947); The Present and the Past (1953); A Heritage and Its History (1959); The Mighty and Their Fall (1961).

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gen in einem Bühnenstück. Der Leser muß nahezu alles den nur relativ gültigen Äußerungen der verschiedenen Figuren entnehmen, die einzelnen Teilstücke zusammenfügen und durch Vermutungen und Rückschlüsse ergänzen. Alle Personen sprechen zudem dieselbe zur Pointierung neigende, stilisierte Sprache, die mit zahlreichen Redewendungen und Sprichwörtern durchsetzt ist. Gleichwohl bleiben die Figuren keineswegs völlig umrißlos: sie argumentieren, bekunden ihren Willen, und wir erfahren aus den Unterhaltungen auch von ihrem Handeln, das den schwelenden Spannungen und Konflikten entspringt. Die knappen, geschliffenen, schneidenden Gespräche wirken manchmal wie von der Bühne gesprochene Dialoge, durch die sich die Charaktere enthüllen. Der Scharfblick der Compton-Burnett ist erbarmungslos; oft denkt man an Ibsen und gelegentlich, wenn die Familienkomödie zu Wort kommt, an Congreve. Ivy Compton-Burnett schloß die Kriegs- und Nachkriegswelt aus, im Werk der Anglo-Irin ELIZABETH Bo WEN41 (1899-1973) ist sie auf Schritt und Tritt fühlbar. Alle ihre Romane, angefangen von The Hotel (1927) und The Last September (1929) bis zu The Little Girls (1964) und Eva Trout (1968) sind subtil und komplex wie die Virginia Woolfs, suchen aber die Bindung mit dem Gegenständlichen zu erhalten. Mrs. Bowen behandelt mit Vorliebe das Jamessche Thema der Unschuld und Erfahrung, das sie zu tragischen Konflikten zuspitzt. Bezeichnende Beispiele sind The House in Paris (1935) und ihr bester Roman, The Death of the Heart (1938). Auch ihre andeutungsreiche, sensible und leicht ironische Prosa erinnert an den späten James. Sie versteht Atmosphäre zu schaffen, feinste Schwingungen einzufangen und die Tragödie des Lebens unentwirrbar mit der Komödie zu verflechten. Mrs. Bowen erstrebt ein Gleichgewicht zwischen Erzählung und Analyse. Ihre Stärke liegt in der psychoanalytisch fundierten Zeichnung der labilen seelischen Verfassung reifender Menschen, besonders junger Mädchen. Diese lyrische Stimmungskunst eignet sich weniger für die Breite eines Romans, dessen Handlung gelegentlich durch sensationelle Zugaben gestützt werden muß, wie z. B. die landesverräterische Verwicklung des in der Kriegszeit in London spielenden Romans The Heat of the Day (1949); sie kann sich voll entfalten in den Kurzgeschichten, die auf knappem Raum eine Fülle scharf umrissener Charaktere zeichnen (s. S. 1014). Bemerkenswerte Romane der Zeit sind auch RICHARD HuGHES'42 (19001976) A High Wind in Jamaica (1929), eine eindringliche Studie der Kinderseele, sowie LESLIE POLES HARTLEYS 43 (1895-1972) The Go-Between (1953) und die zartfühlend und verhalten gestaltete, Melancholie-überschattete Trilogie eines Geschwisterpaares (The Shrimp and the Anemone, 1944; The Sixth Heaven, 1946; Eustace and Hilda, 1947). 41

Works, Collected Edn. (1948ff.). - V. Glendinning, E. B.: Portait of a Writer (1977); W. Heath, E. B.: An Introduction to Her Novels (Madison, 1961). 42 P. Thomas, R. H. (Univ. of Wales Pr., 1974). 43 E. T. Jones, L. P. H, TEAS (Boston, 1978).

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7. Aldous Huxley, Graham Greene und ihre Zeitgenossen Schärfe des Intellekts, geistreiche Kritik und eine geschliffene Sprache kennzeichnen das literarische Werk von ALDOUS HuxLEY 44 (1894-1963), einem Enkel des Naturwissenschaftlers Thomas Henry Huxley. Bei ihm entbehrt die Romanform oft innerer Berechtigung. Essaybände wie On the Margin (1923) und Music at Night (1931) und Reiseerzählungen wie Along the Road (1925) und Beyond the Mexique Bay (1934) hinterlassen beim Leser einen ganz ähnlichen Eindruck wie die Romane. Huxley ist vor allem Kulturkritiker, der, sei es auch unbewußt, die Fabel den Ideen unterordnet. Darstellungsfreude zeigt sich zumeist bei den mit scharfen, vorwiegend satirischen Strichen gezeichneten Porträts, was besonders glücklich in den Novellen und Kurzgeschichten hervortritt (vgl. die Bände Mortal Coils, 1922; Two or Three Graces, 1926; Little Mexican, 1924). In seinen frühen Romanen, wie Crome Yellow (1921), Antic Hay (1923) und Those Barren Leaves (1925), sind große Teile nach dem Vorbild von Thomas Love Peacock durch Gespräche ausgefüllt, in denen die verschiedensten Zeitprobleme witzig und boshaft erörtert werden. Höher griff Huxley in dem von Gides 'Faux Monnayeurs' beeinflußten Roman Point Counter Point (1928), der inhaltlich ein den Schlüsselroman streifendes Zeitgemälde der zwanziger Jahre entwirft und technisch den Versuch einer 'musicalization of fiction' darstellt. Trotz seiner großen Anlage erfaßt der Roman jedoch nur einen kleinen Gesellschaftsausschnitt und fängt mit ihm, kühl und zynisch, das Bild einer kranken Menschheit ein, welche die Lebensganzheit (wie sie durch den D. H. Lawrence repräsentierenden Mark Rampion vertreten wird) im Laufe einer 2000jährigen christlichen Geschichte verloren hat. Brave New World (1932), eine satirische Utopie in Swiftschem Geist, schildert eine ganz vom wissenschaftlichen Denken beherrschte, mechanisierte Welt, in der die menschliche Persönlichkeit und alle ethischen und ästhetischen Werte vernichtet sind. Als Zukunftsbild erschreckend, bedeutet Brave New World als Roman wenig; erst das folgende Werk, Eyeless in Gaza (1936), zeigt gehaltlich und formal eine neue Entwicklung. Huxley gönnt hier in stärkerem Maße den ethischen Forderungen einer Loslösung vom Materialismus Raum und predigt eine pazifistische und buddhistische Reform des Abendlandes als einzige Rettung. Technisch ist der Roman ein Experiment, das die Ereignisse nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern in einem bunten Wechsel von vier entscheidenden Perioden im Leben des Helden vorführt. Mit diesem Roman ist Huxley aus der Rolle des Betrachters herausgetreten, hat sich zur Verantwortung bekannt und eine positive Lebensphilosophie entwickelt. Die neue Philosophie wird in den Bänden Ends and "Collected Edn., 23 Bde. (1946-50); Collected Short Stories (1956); Letters, ed. G. Smith (1969). - S. Bedford, A. H.: A Biography, 2 Bde. (1973-74); A. Henderson, A. H. (N. Y., 1965); P. Bowering, A. H.: A Study of the Major Novels (1968); L. Brander, A. H.: A Critical Study (Lewisburg, Pa., 1970); G. Woodcock, Dawn and the Darkest Hour: A Study of A. H. (1972); C. S. Ferns, A. H.: Novelist (1980).

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Means (1937), The Perennial Philosophy (1945) und Themes and Variations (1950) in wissenschaftlicher Begründung dargelegt. Die einzige Möglichkeit einer Rettung der Kultur sieht Huxley, der 1937 nach Kalifornien auswanderte, in der aus östlicher Gnosis übernommenen Lehre des 'non-attachment', die besagt, daß der Mensch nicht dem Leben dieser Welt, weder der Liebe, noch der Macht, dem Besitz, der Kunst oder der Wissenschaft verfallen darf. Eine Illustration seiner Philosophie ist Grey Eminence (1941), die Studie des Mystikers Pere Joseph, des Ratgebers von Richelieu. Dieser Kapuzinermönch, der Frankreichs Bündnis mit den Protestanten förderte, um Habsburg niederzuringen, hat nach Huxleys Ansicht den Geist verraten, indem er das Staatsinteresse mit dem göttlichen Willen gleichsetzte. Er machte sich dadurch mitschuldig nicht nur am Dreißigjährigen Krieg, sondern in Huxleys Perspektive auch an den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Der zweite Weltkrieg hat Huxleys Pessimismus weiter verschärft. Das zeigen Bücher wie After many a Summer (1939), Time must have a Stop (1944) und vor allem Ape and Essence (1948), das die völlige Vertierung des Menschengeschlechts nach einem dritten Weltkrieg mit Atomwaffen voraussagt. Auch die als Roman geschriebene Geschichtsstudie The Devils of Loudun (1952), die kritische Sichtung der gegen Pater Grandier vorgebrachten SchuldBeweise, daß er Teufel aus der Hölle in die Körper aller Nonnen des Ursulinenklosters geschickt habe, ist ein Inferno. Das Bild des Grauens, das Huxley in seinen Schreckutopien zeichnete, macht erst in seinem letzten Buch, The Island (1962), einer etwas milderen Form des Pessimismus Platz. Hier sind die Bewohner der noch paradiesischen indischen Insel Pala durch ihre buddhistische Tradition und psychedelische Drogen vor der dualistischen Weltsicht des Westens bewahrt geblieben, werden aber bereits von einer benachbarten Militärdiktatur bedroht. Insgesamt zeigt Huxleys Alterswerk keine künstlerische Entwicklung mehr; es begegnen uns, schwächer und matter, die alten Typen, so daß rückschauend seine frühen Werke als seine besten bestätigt werden. Als politisch-satirischer Romanschriftsteller im Gefolge der Huxleyschen Schreckensvisionen verdient GEORGE ORWELL45 (Pseudonym für Eric Arthur Blair, 1903-50) Erwähnung, dessen Animal Farm (1945) das Wesen der Revolution im Bilde eines Bauernhofes deutet, auf dem sich unter den Tieren nach der Absetzung des Bauern bald ein autoritäres Regime herausbildet mit dem Schwein als Diktator. Sein letzter Roman, Nineteen Eighty-Four (1949), denkt die Grundsätze des totalitären Staates konsequent zu Ende und zeichnet (im Anschluß an Samjatins „Wir") ein düsteres Zukunftsbild totaler Manipulation durch die Parteidiktatur. Mittels technischer Einrichtungen über45

Works, Uniform Edn. (1949ff.); Collected Essays, Journalism, and Letters, edd. S. Orwell and I. Angus, 4 Bde. (1968). - P. Stansky and W. Abrahams, The Unknown O. (1972) und O.: The Transformation (1979) [Biographie]; K. Alldritt, The Making of G. O. (1969); R. A. Lee, O.'s Fiction (Notre Dame, 1969); D. L. Kubal, Outside the Whale: G. O.'s Art and Politics (Notre Dame, 1972); J. Meyers, A Reader's Guide to G. O. (1975).

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wacht die Gedankenpolizei die Parteimitglieder bis in die Intimsphäre; historische Dokumente werden durch das „Wahrheitsministerium" je nach Bedarf umgeschrieben oder getilgt, und 'newspeak' und 'double-think' dienen der Gleichsetzung von Wahrheit und Lüge und schalten jedes selbständige Denken aus. Orwell sah die sein Gewissen bewegenden politischen Probleme mit den Augen des Mahners und Künstlers, wenngleich es ihm nicht immer gelungen ist, seine politische Vision dichterisch umzusetzen. Düstere Zukunftsbilder entwerfen auch EVELYN WAUGHS46 (1903-1966) Satiren Decline and Fall (1928), Vile Bodies (1930) und Black Mischief (1932), in denen bitter, aber mit amüsiertem Zynismus die im Verfall befindliche höhere Gesellschaft seziert wird. Der Kulturpessimismus, der auch den „edlen Wilden" Rousseaus nicht mehr gelten läßt (A Handful of Dust, 1934), drängte den glänzenden Schriftsteller zu einer weiteren Folge von Satiren (Put Out More Flags, 1942; Scott-King's Modern Europe, 1947). Von makabrer Brillanz ist die Satire auf die kommerzialisierten kalifornischen Begräbnissitten in The Loved One (1948). Umstrittener sind die ernsten Werke Waughs, der 1930 zum Katholizismus übertrat. In ihnen nehmen neben der Gesellschaftskritik die Religion und ein elegisches Heimweh nach aristokratischer Kultur eine beherrschende Stellung ein. Als sein bester Roman gilt Brideshead Revisited (1945, neue Fassung 1960), der innerhalb einer Gruppe eng miteinander verbundener, in Sünde und Schuld verstrickter Menschen das Wirken der göttlichen Gnade und die überdauernde Kraft religiöser Werte aufzeigt. Aber Waughs Sicherheit läßt nach, wenn er zum Moralisten oder Metaphysiker wird. Gewiß gibt es auch hier, ebenso wie in seiner Chronik des zweiten Weltkriegs, der Trilogie Men at Arms (1952), Officers and Gentlemen (1955) und Unconditional Surrender (196l),47 in der ein weiterer Vertreter der katholischen Oberschicht am Ende zur „bedingungslosen Kapitulation" vor dem Willen Gottes findet, glänzende Beobachtungen und Beschreibungen, aber häufig scheinen die Charaktere mehr um der These willen vorhanden zu sein. Fesselnd schildert Waugh das Leben in den Grenzräumen, in denen Kulturen aneinanderstoßen oder ineinanderfließen (vgl. den Journalistenroman Scoop, 1938, und die vorzüglichen Reisebeschreibungen Waugh in Abyssinia, 1936, und When the Going was Good, 1946). Lesenswert ist ebenfalls The Ordeal of Gilbert Pinfold (1957), die freimütig autobiographische Studie eines Schriftstellers in mittleren Jahren. Wie Waugh ist GRAHAM GREENE48 (geb. 1904) zur römischen Kirche übergetreten, und seine katholische Sicht ist für seine Romane bestimmend. Ne46

Works, Uniform Edn. (1949ff.); Collected Essays (1961); Young Evelyn: E. W.'s Diaries 1911-1916 (1979);The Letters, ed. M. Amory (1980). - C. Sykes, E. W.: A Biography (1975, rev. edn. Harmondsworth, 1977); F. J. Stopp, E. W.: Portrait of an Artist (1958); J. F. Garens, The Satiric Art of E. W. (Seattle, 1966). 47 Rev., gekürzte Ausg. der drei Romane unter dem Titel Sword of Honour (1965). 48 Collected Works, ca. 35 Bde. (1970ff.); Collected Stories (1972); Collected Essays (1969); A Sort of Life (1971) u. Ways of Escape (1980) [Autobiogr.]. - K. Allott and M. Farris, The Art of G. G. (N. Y., 21963); A. A. de Vitis, G. G., TEAS (N. Y., 1964); J. A. Atkins, G. G. (21966); D. Pryce-Jones, G. G. (Edinb., 21973).

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ben einer Reihe von Unterhaltungsromanen ('entertainments'), die meist nicht mehr als spannende Kriminalgeschichten sind, schrieb er anspruchsvolle, literarischen Rang erstrebende 'novels', in denen er die Kriminal- und Abenteuergeschichte mit Psychologie, zeitgeschichtlichen Bezügen und dem religiösen Thema verband. Der im Gangstermilieu spielende Brighton Rock (1938) schildert ein Inferno von Verrat, Verfolgung und Mord, wobei aber selbst in dieser satanischen Welt Strahlen der Gnade Gottes sichtbar bleiben. Das Buch ist noch kein überzeugender Roman. Durch die reißerische Art der Darstellung kommt es zu keiner glaubwürdigen Verkörperung des Satanismus, aber geradezu unheimlich wird die Schäbigkeit und Erbärmlichkeit des Daseins vergegenwärtigt. 1938 bereiste Greene Mexiko, um sich über die dortige Christenverfolgung zu informieren. Sein Reisebericht, The Lawless Roads (1939), wurde zur Quelle seines bedeutendsten Romans, The Power and the Glory (1940). Der Verfolgte und Gehetzte ist hier ein katholischer Priester, der um 1930 in einem kommunistischen mexikanischen Staat illegal weiterwirkt, bis er wissentlich in die ihm von seinem Verfolger, dem für eine glücklichere Zukunft kämpfenden kommunistischen Polizeileutnant, gestellte Falle und damit in den Tod geht. Der das Martyrium erleidende Priester ist kein Glaubensheros, sondern ein armseliger, sündiger Mensch, dem Whisky verfallen und Vater einer Tochter, aber auch in seiner Sünde Werkzeug Gottes. Das Thema der Angst und Verlassenheit des Menschen, der Schuld und der Hoffnung auf die Erlösung der Verdammten ist mit sparsamen Mitteln, filmischen Techniken und einer den metaphysischen Sinn suggerierenden Bildlichkeit spannend und kraftvoll durchgeführt. In The Heart of the Matter (1948) wird der Held nicht von Detektiven oder der Polizei verfolgt, sondern von seinem eigenen Gewissen. Scobie begeht nach sündhafter Kommunion in vollem Bewußtsein seiner ewigen Verdammnis Selbstmord aus „Liebe zu Gott", wie er meint, den er nicht länger beleidigen will, und aus Mitleid mit zwei Frauen, die dieses Opfers keineswegs würdig sind. Psychologisch scheint die Lösung kaum überzeugend, wenn auch Father Rank am Schluß gegenüber der mitleidlosen Witwe einwendet, daß wir über die Gnade Gottes nichts wissen. Aber der Roman beeindruckt durch den klaren Bau, das rasche Erzähltempo und die atmosphärische Dichte. Die folgenden Romane Greenes zeichnet dasselbe virtuose Können aus. The End of the Affair (1951) behandelt mit einem etwas gewaltsamen Sprung in das Wunder die Wandlung einer sündigen menschlichen Liebe zur Gottesliebe. The Quiet American (1955) führt den zynischen, glaubenslosen Korrespondenten einer Londoner Zeitung während des Indochinakrieges in den Jahren 1952-1955 in einen Konflikt zwischen Kameradschaft, Liebe und Politik. In A Burnt-Out Case (1961) flieht der lebensmüde Kirchenbaumeister Querry seinen Ruhm und sucht, an seinem Talent und seiner Berufung zweifelnd, Zuflucht auf einer Leprastation im tiefsten Kongo, wo er seinem Schicksal begegnet. The Comedians (1966) zeigt die bewährte Mischung von Angst, Verfolgung, Folterung, Mord, Sexualität, Atheismus und Glauben, diesmal im Polizeistaat Haiti. Ähnlich erschließt The Honorary Consul (1973) am

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Schicksal des irrtümlich von paraguayischen Guerilleros entführten Honorarkonsuls ein weiteres Stück der bekannten Greeneschen Welt und seiner Theologie vom rätselhaft handelnden, jedoch letztlich gnädigen Gott. Greene ist besessen vom Problem des Bösen, aber ebenso real wie der Abgrund von Schuld und Sühne ist für ihn das Mysterium der göttlichen Gnade. Gerade weil die Menschen auf der Erde die Hölle haben, muß nach Greenes negativem Gottesbeweis Gott existieren. Greene hat den Instinkt des Reporters für die Krisenherde, und er ist ein kraftvoller Erzähler; aber seine Kunst liebt zu sehr die Extreme und ermangelt der Zwischentöne. Der große Erfolg, den er gefunden hat, beruht ebenso auf der Anziehungskraft der Kriminalgeschichte wie auf dem Protest gegen den intellektuellen, introspektiven, subtilen psychologischen Roman der Zeit zwischen den beiden Kriegen. Freude an der bunten Fülle des Lebens, an den herkömmlichen Romanfiguren und am schnellen Erzähltempo charakterisiert auch das Werk des Anglo-Iren JOYCE CARY49 (1888-1957). Cary geht nicht von einer Idee, sondern von Charakteren und Situationen aus. Das gilt schon für die Gruppe seiner Afrika-Romane, deren bester, Mr. Johnson (1939), in der Gestalt des unglücklichen, halb europäisierten Afrikaners den Zusammenstoß zwischen der Zivilisation und der Welt des Primitiven darstellt. Nach zwei Kindheitsromanen, von denen A House of Children (1941) ein stark autobiographisches Erinnerungsbild der eigenen Kindheit gibt, erreichte Carys Kunst ihren Höhepunkt mit der Trilogie Herself Surprised (1941), To Be a Pilgrim (1942) und The Horse's Mouth (1944), in der drei Ich-Erzähler ihre miteinander verflochtenen Lebensschicksale berichten: der von seinen Visionen besessene Maler Gulley Jimson, Verkörperung des romantischen Künstlertums (The Horse's Mouth); der alterslüsterne, sein Tagebuch schreibende Jurist Thomas Wucher, der durch seine Verwandten daran gehindert wurde, Sara Monday, seine Köchin und langjährige Gefährtin Gulley Jimsons, zu heiraten (To Be a Pilgrim); und schließlich Sara selbst, die durch das Eingreifen der Verwandten wegen kleinerer Unregelmäßigkeiten ins Gefängnis wanderte und nun ihre Geschichte schreibt, so wie sie sich ihren Augen darstellt (Herself Surprised). Auf diese Weise erhalten wir ein vielseitiges Bild der einzelnen Charaktere und ihrer Lebensanschauungen und in Wuchers Bericht zudem ein Zeitbild Englands während des letzten halben Jahrhunderts. Ein ähnlich umfassendes Zeit- und Menschenbild gibt der Roman A Fearful Joy (1949), worin Tabitha Baskett im historischen Präsens ihre viktorianische Jugend erzählt, ihre in die Zeit der Edwardians fallende Mädchenzeit, ihr mittleres Alter unter den Georgians und ihren Lebensabend bis zu ihrem Tod 1947. Alle sozialen und politischen Ereignisse kommen zu Wort, Frauenbewegung und Industrialisierung, Burenkrieg und beide Weltkriege, Generationenge49

The Novels of J. C. (Carfax Edn., mit Vorworten des Dichters), 14 Bde. (1951-63). R. Bloom, The Indeterminate World: A Study of the Novels of J. C. (Philad., 1962); M. M. Mahood, J. C.'s Africa (1964); J. Wolkenfeld, J. C: The Developing Style (N. Y., 1968).

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gensatz und Sexualmord, so daß bei dem notwendigerweise hetzenden Erzähltempo gelegentlich der Eindruck einer forcierten Vitalität erweckt wird. Aber die all diese Wandlungen überdauernden Charaktere werden lebendig; sie erinnern oft an Dickenssche Gestalten, sie sind pickwickartig, sympathieerweckend, lebensbejahend - allerdings nicht ganz wirklich und allzu oft dem literarischen Warenlager entstammend. Carys spätere Romane zeigen ein Nachlassen seiner Kraft. Das trifft ebenfalls zu für eine zweite Trilogie, in deren Mittelpunkt der liberale Politiker Chester Nimmo steht, der, aus kleinsten Sektiererkreisen stammend, am Vorabend des ersten Weltkrieges bis zum Minister aufsteigt (Prisoner of Grace, 1952; Except the Lord, 1953; Not Honour More, 1955). Gary gehört in die von Defoe über Smollett und Peacock zu Dickens führende Tradition, doch auch der Einfluß von Joyce und D. H. Lawrence ist nicht zu übersehen. Sein Werk zeigt eine gewisse Unausgeglichenheit, eine Spannung zwischen Altem und Neuem, eine mangelnde Schärfe der Analyse, aber diese Nachteile werden aufgewogen durch die sprudelnde Kraft seiner Phantasie und eine anschauliche Prosa. Ein anderer Parteigänger des viktorianischen Romans ist CHARLES PERCY SNOWSO (1905-1980), der in Trollopes Art einen elfbändigen Zyklus Strangers and Brothers (1940-70) schrieb. Der Held und Erzähler ist der aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Lewis Eliot, den eine glänzende juristische Karriere in höchste Staatsstellungen führt. Er kommt mit den verschiedensten Kreisen in Berührung, lernt Industrie und Politik, die Universität und die höhere Gesellschaft von innen her kennen, so daß sein Leben zu einem Spiegel der Entwicklung Englands vom ersten Weltkrieg bis in unsere Zeit wird. Snow erfaßt mit scharfem Blick die politischen, sozialen und moralischen Fragen, aber sein Denken ist stärker als sein ästhetisches Vermögen. Seine Darstellung ist immer solide, aber seinem gelegentlich abstrakten Stil fehlt der Glanz. Einer der besten Bände ist The Masters (1951), der die kleine Welt eines Cambridger College anheimelnd und humorvoll zeichnet und die Vorgänge um die Wahl des neuen Master als Abbild der großen Politik erscheinen läßt. Ein weiterer Vertreter des 'roman fleuve' ist ANTHONY POWELLSI (geb. 1905), dessen zwölfbändiges, in vier Trilogien untergliedertes Werk A Dance to the Music of Time (1951-75) ein Panorama des englischen Lebens in dem halben Jahrhundert von 1921-71 entwirft. Auch Powell bedient sich eines Erzählers, Nicholas Jenkins, der sich jedoch im Unterschied zu Snows Erzähler in der Oberschicht bewegt, der er selber angehört. Er spricht die gepflegte und oft manierierte Sprache dieser Kreise und übernimmt nicht die Rolle eines Moralisten, sondern eines Ästheten. Er sieht das Leben im Bild eines Tanzes, in dem die einzelnen Akteure ihre Schritte ausführen und sich danach wieder dem ewigen Kreislauf der Zeit einordnen, ohne daß sie den Sinn ihres Auftritts begreifen könnten. 50 51

F. R. Karl, C. P. S.: The Politics of Conscience (Carbondale-Edwardsville, 1963). N. Brennan, A. P., TEAS (N. ., 1974); J. Tucker, The Novels of A. P. (N. Y., 1976); H. Spurling, Handbook to A. P.'s Music of Time (1977).

IV. Der Roman

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Sui generis ist JOHN RONALD REUEL TOLKIENS" (1892-1973) Trilogie The Lord of the Rings (1954-55), die zunächst ein studentisches Publikum, bald danach aber die Welt in Bann schlug. Das mit einzigartiger Erfindungsgabe gestaltete Werk, für das Tolkien Motive und Analogien im Beowulf, in der Edda und im Kalevala, in Malory und Spenser, in Märchen und Volkserzählungen fand, wurde zum Buch einer Kultgemeinde, die in Frodos Kämpfen gegen das Böse ihre Ängste gespiegelt sah wie auch ihre Hoffnung auf eine Welt ohne korrumpierende Macht.

8. Der zeitgenössische englische Roman53 Mitte der fünfziger Jahre schien es zunächst, daß die Generation der 'Angries' (s. S. 922 ff.) mit der Rückkehr zum traditionellen realistischen Gesellschaftsroman einen Umbruch einleitete. Aber schon bald ließ sich erkennen, daß der zeitgenössische Roman eine weit größere Vielfalt aufwies. Nicht nur fanden manche der früheren Romanschriftsteller erst jetzt ihr Publikum (wie Samuel Beckett, Malcolm Lowry oder Lawrence Durrell), auch erstmals hervortretende Autoren wie William Golding und Iris Murdoch waren der herrschenden Richtung keineswegs einzuordnen, und unter den im folgenden Jahrzehnt sich durchsetzenden Jüngeren fanden sich zahlreiche Romanciers, die Tradition und Experiment verbanden. Anders als Joyce, der immer weitere Bereiche in seine Kunst einbezog, ging SAMUEL BECKETT54 (geb. 1906) den umgekehrten Weg eines konsequenten Rückzugs aus der Realität. Beckett, in Paris Joyces zeitweiliger Helfer und Freund, veröffentlichte neben Gedichten und Studien über Proust und Joyce schon früh einige Romane, die indessen erst nach dem Erfolg seiner Dramen (s. S. 925 ff.) ein stärkeres Echo fanden. Auf eine Sammlung von Kurzgeschichten, More Pricks than Kicks (1934), die durch einen gemeinsamen Helden zu einer losen Einheit verbunden sind, folgten die Romane Murphy (1938) und der 1942-44 im nichtbesetzten Teil Frankreichs geschriebene, aber erst 1953 publizierte Watt. Bewegt sich der arbeitsscheue Dubliner Murphy noch in einer bestimmten Umwelt und an einem bestimmten Ort und hat der Roman sogar eine fortlaufende Handlung mit dem Höhepunkt des Todes, so spielt Watt in einer fiktiven Welt. In dem 52

H. Carpenter, J. R. R. T.: A Biography (1977). P. H. Kocher, Master of Middle-Earth: The Achievement of J. R. R. T. (1972); R. Helms, T.'s World (1974). 53 F. Karl, A Reader's Guide to the Contemporary English Novel (1963); J. Gindin, Postwar British Fiction (Berkeley, 1962); K. Allsop, The Angry Decade (1958); W. Van O'Connor, The New University Wits and the End of Modernism (Carbondale, 1963); The Contemporary English Novel, edd. M. Bradbury and D. Palmer, Stratfordupon-Avon Studies 18 (1979). 54 J. Fletcher, The Novels of S. B. (1964); ders., S. B.'s Art (1967); R. Federman, Journey to Chaos: S. B.'s Early Fiction (Berkeley, 1965); E. Webb, S. B.: A Study of His Novels (Seattle, 1970); H. P. Abbott, The Fiction of S. B.: Form and Effect (Berkeley, 1973). S. auch S. 925f., Anm. 39.

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surrealistisch anmutenden Haus von Mr. Knott sucht der introvertierte Watt in den Lebensgewohnheiten seines Herrn irgendeine Gesetzmäßigkeit zu entdecken, stößt aber nur auf Inkonsequenzen. Immerhin verhilft ihm die genaue Registrierung belangloser, parodistisch wirkender Einzelheiten dazu, die Zeit zu vertreiben. Becketts Hauptwerk ist die zuerst 1951-53 in französischer Sprache veröffentlichte Trilogie Molloy (1955), Mahne Dies (1956) und The Unnamable (1958), die durch How It Is (1964, französische Fassung Comment C'est, 1961) zur Tetralogie erweitert wurde. Beckett bedient sich der Fremdsprache, um, wie er sagt, 'without style' zu schreiben, m. a. W. um die Sprache stereotyp zu gestalten und alle Gefühlsnuancen auszuschließen. Die späteren Übersetzungen ins Englische (von ihm selbst und anderen) sind daher weniger Übersetzungen als Neuschöpfungen. Im ersten Teil von Molloy berichtet der gelähmte und bettlägerige Held von der Suche nach seiner Mutter, während im zweiten Teil der Privatdetektiv Moran, der ebenfalls zusehends gebrechlicher wird, nach Molloy sucht, wobei die Beziehungen zwischen den beiden Figuren ambivalent bleiben und die Handlung eher einer Kreisbewegung gleicht. In Mahne Dies scheint der Verfallsprozeß weiter fortgeschritten: der auf seinen Tod wartende Malone erzählt sich Geschichten, die mit Selbstbetrachtungen und Erinnerungen wechseln. Dabei werden reale und fiktive Begebenheiten derart miteinander verwoben, daß sie am Ende nicht mehr zu unterscheiden sind. Dem Sprecher von The Unnamable ist auch die Bewegungsmöglichkeit genommen, und er scheint ohne Identität, da er nicht einmal mehr einen Namen besitzt. Selbst in diesem Stadium absoluter Hilflosigkeit fühlt er den Zwang, weiterzumachen und durch Fiktionen und schwarzen Humor das Nichts zu bannen. In How It is, in dessen Mittelpunkt ein nacktes, durch den Schlamm kriechendes und einen Sack von Sardinenbüchsen schleppendes Wesen steht, sind die letzten Reste der realen Welt geschwunden, und die Sprache gerät in die Nähe des Verstummens. In Fing (1967) und Lessness (1970) scheint ein Ende des Reduktionsprozesses der Sprache erreicht, und in The Lost Ones (1972, französische Fassung Le Depeupleur, 1970) schreibt Beckett in einer konventionelleren Form sein Höllengleichnis über die namen- und sprachlosen Insassen eines geheimnisvollen Zylinders, die darin ohne Möglichkeit zur Flucht und ohne Aussicht auf Erfolg ihrer Suche umherirren. MALCOLM LowRYs55 (1909-1957) über Jahre hinweg umgearbeitetes Hauptwerk Under the Volcano (1947) schildert den letzten Tag im Leben eines ehemaligen britischen Konsuls, eines Alkoholikers, der in einem kleinen, von den Vulkanen Popocatepetl und Iztaccihuatl überragten mexikanischen Ort von seiner geschiedenen Frau und seinem Halbbruder besucht worden ist, die "Selected Letters, edd. H. Breit and M. Lowry (Philad., 1965). - D. Day, M. L: A Biography (N. Y., 1973); T. Kilgallin, L. (Orin, Ont., 1973); M. C. Bradbrook, M. L: His Art and Early Life (Cambr., 1974); K. Dorosz, M. L.'s Infernal Paradise (Stockholm, 1976); W. H. New, M. L: A Reference Guide (Boston, 1978).

l V. Der Roman

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indessen schon bald erkennen müssen, daß alle Hoffnung auf Rettung vergeblich ist. Absurderweise erreicht ihn der Tod am Ende des Tages in Gestalt mexikanischer Faschisten, die ihn erschießen. Das Bild des Konsuls bleibt in einer eigentümlichen Schwebe zwischen tragischem Helden und armseligem Trunksüchtigen, der in der vulkangekrönten Dschungellandschaft seiner Hölle der Verzweiflung und Selbstzerstörung entgegeneilt. Der Roman ist von Joyceschem Zuschnitt in der Verbindung von realer und mythischer Ebene, den Korrespondenzen und literarischen Anspielungen, in dem Monologisieren und den Wortspielen. Doch ebenso evident ist der Unterschied zu Ulysses: der geschilderte Tag ist nicht der Alltag eines Durchschnittsmenschen, sondern der Tag eines abnormen Schicksals, einer Agonie, die zugleich Lowrys eigenes Leben wie die absurde Situation des Menschen spiegelt. Der auch als Lyriker bekannte LAWRENCE DuRRELL 56 (geb. 1912) errang einen Welterfolg mit seinem Alexandria Quartet. In dem ersten Band, Justine (1957), schildert der junge Schriftsteller Darley aus der Rückschau sein bewegtes Leben in Alexandria, insbesondere seine Liebe zu der rätselhaften schönen Jüdin Justine, der Frau des koptischen Millionärs Nessim. Darley ist auch der Erzähler des zweiten Romans, Balthazar (1958), aber er benutzt zusätzlich den Kommentar des Arztes Balthazar zu dem ersten Band (die sog. große Interlinearversion), durch den Ereignisse und Charaktere in eine völlig neue Beleuchtung geraten. Mountolive (1958), in dem Darley zu einer Nebenfigur wird und der neue englische Botschafter, David Mountolive, in den Mittelpunkt tritt, ist ein in der dritten Person geschriebener Bericht, in dem die politische Verflechtung der bisherigen Vorgänge zutage tritt. Der wieder von Darley erzählte, schwächere letzte Band, Clea (1960), bietet keine neue Brechung des bereits dreifach erzählten Geschehens, sondern führt es weiter, füllt Lücken aus und klärt noch offene Fragen. Die Gesamtfolge ist zu unausgeglichen, als daß sie sich mit Joyce oder Proust messen könnte, mit denen sie den Vergleich herausfordert. Die Charaktere bleiben weithin schattenhaft und erinnern an das Fin de siecle, wie auch der Stil spätromantische Vorbilder ins Gedächtnis ruft. Gleichwohl ist die Tetralogie eine beachtenswerte, auch technisch interessante Leistung. Eindrucksvoll sind die Beschreibungen, wie die Entenjagd auf dem Mareotis-See, die Skala der Farben, die vieldeutige, flimmernde Atmosphäre und der Zauber dieser dekadenten, geheimnisvollen und schicksalhaften Stadt, die der eigentliche Mittelpunkt und Hauptakteur ist. Durrells spätere Romane haben enttäuscht, das Diptychon Tunc (1968) und Numquam (1970) ebenso wie die in Avignon und der Provence spielenden ersten Bände eines geplanten Quintetts, Monsieur, or the Prince of Darkness (1974) und Livia, or Buried Alive (1978), die thematisch zum Alexandria-Quartett zurückkehren. Der derselben Generation angehörende ANGUS WILSON" (geb. 1913) trat nach dem Krieg zunächst mit Kurzgeschichten hervor, in denen er die eng56

G. S. Fräser, L. D.: A Study (1968); A.W. Friedman, L. D. and the Alexandria Quartet (Norman, 1970). 57 J. L. Halio, The Novels of A. W. (Edinburgh, 1964); K. W. Gransden, A. W. (1969); P. Faulkner, A. W.: Mimic and Moralist (1980).

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lische Gesellschaft in einer Porträtgalerie von Käuzen und Exzentrikern humorvoll und maliziös bloßstellt (The Wrong Set, 1949; Such Darling Dodos, 1950). Seine Vorliebe für kurze Erzähleinheiten zeigt sich auch in seinem ersten Roman, Hemlock and After (1952), der mit der Homosexualität ein Problem behandelt, das bis dahin als tabu galt. Das Thema der Befreiung aus der Selbsttäuschung in Verbindung mit Moralkritik und Satire findet seine Fortsetzung in Anglo-Saxon Attitudes (1956), in dem die Aufdeckung eines archäologischen Betrugs den emeritierten Mediävisten Gerald Middleton dazu führt, seinem Versagen im eigenen Familienleben nachzugehen .Wie in den Kurzgeschichten zeigt sich Wilsons Stärke in der scharfen, realistischen Beobachtung, den virtuosen Charaktervignetten und Karikaturen sowie in dem geschliffenen Stil und brillanten Dialog. Der ausgewogenste seiner frühen Romane ist The Middle Age of Mrs Eliot (1958). Hatte bisher der Einfluß von Dickens und Zola überwogen, so ist bei der Gestaltung der Lebenskrise der plötzlich verwitweten, sensiblen Mrs Eliot das Vorbild von George Eliot unverkennbar. Die folgenden Romane erreichen eine Weitung des bisherigen Rahmens. In der Antiutopie The Old Men at the Zoo (1961) tritt neben der Satire eine extravagante Fabulierlust zutage, wobei allerdings die realistischen und die fantastischen Elemente kaum fest genug miteinander verknüpft sind. Das gelingt besser in Late Call (1964), der die geistige Verödung in einer New Town in den Midlands während der „progressiven" 60er Jahre erörtert. No Laughing Matter (1967) schildert im Spiegel des Absinkens und Zusammenbruchs einer Familie den Niedergang Englands, und As If By Magic (1973) versucht, das Lebensgefühl der Zeit mittels der Randgruppen der Homosexuellen und Hippies zu erfassen. Zwar führt der Weg die Protagonisten am Ende - wenn auch anders als erwartet - zur Übernahme einer wirklichkeitsnahen Aufgabe und damit zur Selbsterkenntnis. Doch hat Wilson sein Ziel einer Integration von Realismus und Fiktion - auch in dem die Mythologie einbeziehenden Setting the world on Fire (1980) - noch nicht voll erreicht. Abweichend von der traditionellen Hauptlinie des englischen Romans zeigt das Werk von WILLIAM GoLDiNG58 (geb. 1911) eine ausgesprochen metaphysische und didaktische Prägung. In seinem ersten Roman, Lord of the Flies (1954), wird eine Gruppe britischer Schuljungen, die in einem Atomkrieg offenbar evakuiert werden sollten, bei einem Flugzeugabsturz auf eine tropische Insel verschlagen. Zunächst erscheint ihnen ihr Inseldasein als die Erfüllung eines Wunschtraums. Aber obwohl alle schädlichen Umwelteinflüsse ausgeschaltet sind, verwahrlosen die Jungen zusehends und gleiten - in Umkehrung von Ballantynes viktorianischer Robinsonade The Coral Island auf eine primitive Kulturstufe zurück. Immer stärker gewinnen destruktive Kräfte die Oberhand; der anständige Ralph muß dem brutalen Jack weichen, und mit unheimlicher Folgerichtigkeit entsteht das Miniaturbild eines tota58

M. Kinkead-Weekes and I. Gregor, W. G.: A Critical Study (1967); V. Tiger, W. G.: The Dark Fields of Discovery (1974).

IV. Der Roman

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litären Regimes mit allen Begleiterscheinungen wie Elitegefühl, Stammesriten, Blutrausch, Folter und Mord. Vor dem sicheren Tod rettet den über die brennende Insel gehetzten Ralph am Ende die Ankunft eines britischen Schiffes. Der Spuk ist vorbei - aber ironischerweise ist der Deus ex machina aus der Erwachsenenwelt ein Kriegsschiff. Das Thema des Sündenfalls in dieser Anti-Robinsonade bleibt auch in den folgenden Romanen Goldings Hauptthema. The Inheritors (1955) stellt die These von der Aufwärtsentwicklung des Menschen auf den Kopf, indem der Homo sapiens als der böse und grausame Zerstörer der glücklichen und unschuldigen Welt des Neandertalers erscheint. Pincher Martin (1956) erzählt von den verzweifelten Anstrengungen eines Marineleutnants, die Torpedierung zu überleben. Die rettende Felseninsel, an die er sich klammert, existierte jedoch, wie wir in den letzten Zeilen des Romans erfahren, nur in seiner Phantasie. In Wirklichkeit ertrank der Leutnant so schnell, daß er nicht einmal Zeit hatte, sich seiner schweren Stiefel zu entledigen. In dem schwächeren Free Fall (1959) sucht ein berühmter Maler in seiner Haftzelle nach dem Punkt in seinem Leben, an dem er die falsche Wendung nahm und seine Seele verlor. The Spire (1964) schildert den Bau des Glockenturms einer mittelalterlichen Kathedrale (Salisbury), den Dean Jocelin mit unbeugsamer Energie und unter vielen Opfern zur höheren Ehre Gottes vollendet. Aber die Verwirklichung des göttlichen Auftrags, auf den er sich beruft, entspringt nicht nur reinen Motiven, sie ist verquickt mit Stolz und Eitelkeit und der Liebe zu einer Frau. Goldings frühe Romane spielen in einem eng umgrenzten Raum, auf einer einsamen Insel, im Urwald der Vorzeit, auf einem kahlen Felsen, in einer Haftzelle oder in der Domfreiheit. Der Dichter analysiert seine Protagonisten gleichsam in einer Retorte, legt ihre Gedanken, Ängste, Wünsche und Motive bloß und verbindet eine realistische Fabel mit allegorischer Sinngebung, wobei der Moralist gelegentlich stärker als der Erzähler ist und die Verschmelzung der beiden Ebenen nicht immer nahtlos gelingt. Der einfachere, in der frühviktorianischen Zeit spielende Bildungsroman The Pyramid (1967) schien mit seinem größeren Reichtum an individuell gezeichneten Charakteren, dem Motiv der Liebe und dem Hintergrund von Trollopes Barsetshire eine Wende anzudeuten. Doch der nach drei Kurzromanen (The Scorpion God, 1971) veröffentlichte Roman Darkness Visible (1979) umkreist erneut, wie schon der von Milton entlehnte Titel andeutet das Oxymoron kennzeichnet im Paradise Lost (I, 62-63) die Hölle - die Frage nach der Herkunft des Bösen und dem Sinn des Lebens in einer Welt des Schreckens. Der Roman verbindet die Geschichte des verstümmelten, in der Hölle eines Bombenangriffs geborenen Matty Windrove, der in Pflegeheimen und Schulen heranwächst, Gelegenheitsarbeiter und schließlich ein Erleuchteter wird, mit der des homosexuellen Lehrers Sebastian Pedigree und der Zwillingsschwestern Toni und Sophy Stanhope, von denen die erste eine Terroristin wird und die andere nach von Sadismus begleiteten sexuellen Erfahrungen versucht, durch die Entführung eines arabischen Prinzen aus einer

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Internatsschule Lösegeld zu erpressen. Im Gegensatz zu dieser Diagnose unserer Zeit in einem ereignisreichen, weit ausgreifenden Roman spielt Rites of Passage (1980) auf dem begrenzten Raum eines Linienschiffes, das sich während der napoleonischen Kriege auf der Fahrt nach Australien befindet. Unterschiedlich ist auch die Darstellung: die Ereignisse an Bord des Schiffes werden nicht im allwissenden Autorbericht geschildert, sondern durch die Tagebücher zweier Passagiere, wodurch eine doppelte Perspektive erreicht wird und der Leser allmählich ein umfassenderes, aber ihn auch zu Korrekturen nötigendes Bild der Vorgänge erhält. Erinnert die realistische, manchmal sogar humorvolle Darstellung an The Pyramid, so sind anderseits die metaphysischen Bezüge offensichtlich, so daß das Werk als ein weiterer Versuch zu einer Synthese von realistischem Roman und Fabel gelten kann. Im Vergleich mit diesen bereits vor dem ersten Weltkrieg geborenen Autoren sind die Romane der 'Angries', der Generation der zwanziger Jahre, eher unter soziologischem Aspekt von Interesse. Von JOHN WAINS (geb. 1925) Romanen ist der erste, Hurry On Down (1953), der bekannteste geblieben. Sein Antiheld Charles Lumley ist ein junger Mann aus bürgerlichem Milieu mit mittelmäßigem Universitätsexamen, der aus Protest gegen das Establishment zum Außenseiter wird und die verschiedensten Gelegenheitsarbeiten vom Fensterputzer bis zum Rausschmeißer in einem Nachtlokal übernimmt. Aber wenn Lumley eine Anpassung an die etablierte Gesellschaft auch ablehnt, so geht es ihm doch keineswegs um revolutionäre Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse; er erstrebt vielmehr eine lukrative, „Neutralität" gestattende Stellung, die er schließlich als 'gag-writer' am Rundfunk findet. Wie Wain knüpft KINGSLEY AMIS (geb. 1922) an den pikaresken Roman des 18. Jahrhunderts an. Sein Lucky Jim (1954) übt in der Form einer Komödie des menschlichen Lebens Kritik an der Amtshierarchie und der falschen Einschätzung der menschlichen Werte, die unsere Erziehung und gesellschaftliche Ordnung mit sich bringt. Diese Kritik wird durch die farcenhaften, an Karikaturen erinnernden Szenen in der Laufbahn eines unmöglichen jungen Dozenten an einer Provinzuniversität unterhaltsam ins Komische gewendet, wozu ein glücklicher Ausgang mit Heirat und reichem Onkel gehört. In seinen zahlreichen späteren Romanen, die ebenfalls Selbstgerechtigkeit und Heuchelei bloßstellen, hat Amis eine komplexere Darstellung der sozialen Problematik erreicht, doch beruht ihr Erfolg wesentlich auf den parodistischen und farcenhaften Elementen. Tiefer dringt JOHN BRAINE59 (geb. 1922) in seinem in der Ich-Form aus der Retrospektive erzählten Room at the Top (1957). Das an den Arbeiterroman der Gissing-Zeit erinnernde Buch behandelt den sozialen Aufstieg eines ehrgeizigen Arbeitersohns, der sich den Weg in die bürgerliche Gesellschaft erkämpft, indem er die Tochter eines reichen Industriellen heiratet, damit jedoch seine Geliebte in den Tod treibt und seine Ideale verrät. Die in ihn gesetzten Hoffnungen hat Braine in seinen weiteren Romanen nicht erfüllt. 59

J. W. Lee, J. B., TEAS (N. Y., 1968).

IV. Der Roman

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Ähnliches gilt von dem talentierten, aus der Arbeiterklasse stammenden ALAN SiLLiTOE60 (geb. 1928), der mit Saturday Night and Sunday Morning (1958) als ein neuer D. H. Lawrence begrüßt wurde. Er hatte ebenfalls Erfolg mit der Erzählung The Loneliness of the Long-Distance Runner (1959), der Geschichte eines 17jährigen Langstreckenläufers in einer Erziehungsanstalt, der bei dem Lauf absichtlich unterliegt, da er es ablehnt, sich den Normen der „Gesellschaft" anzupassen. Doch hat Sillitoe mit seinen späteren Werken, die des öfteren über die realistische Dokumentation hinausdrängen, ebensowenig wie mit einer Trilogie - The Death of William Posters (1965), A Tree on Fire (1967) und The Flame of Life (1974) - seine Stellung festigen können. Obwohl die Anglo-Irin IRIS MURDOCH 61 (geb. 1919) zunächst mit den 'Angries' verbunden wurde, bewies schon ihr erster, in der Londoner Boheme spielender Roman Under the Net (1954), daß sie näher bei Beckett und Sartre stand und mit Wain und Amis allenfalls die farcenhafte, pikareske Struktur gemein hatte. Nach Iris Murdoch, die mehrere Jahre Philosophiedozentin war und eine Studie über Sartre veröffentlicht hat, befindet sich der Mensch in einer transzendenzlosen Welt. Doch verfügt er, im Unterschied zu der existentialistischen Auffassung, über keine Entscheidungsfreiheit; er muß vielmehr die Undurchsichtigkeit und Nicht-Notwendigkeit des Lebens, seine Kontingenz, akzeptieren, sich von den falschen Bildern, von Selbstbetrug und Konventionen, den gesellschaftlichen „Netzen", befreien und einem neuen Verständnis der Liebe öffnen. Hierzu ist es notwendig, die Individualität anderer Menschen zu achten und nach dem rechten Leben zu suchen. Abgesehen von einigen Versuchen im „gotischen" Roman (wie The Unicorn, 1963, oder The Time of the Angels, 1966) stehen fast alle Romane Iris Murdochs in der Tradition von Jane Austen, George Eliot und Henry James. Sie spielen in der oberen Mittelschicht und zeigen Handlungsfülle sowie einen die Zufälligkeit des Geschehens formalisierenden, kunstfertigen 'plot'. Sie verbinden Realismus der Darstellung und Symbolik (The Bell, 1958; An Unofficial Rose, 1962), wozu in späteren Romanen noch eine geschickte Verwendung Shakespearescher Motive und Anspielungen tritt, wie etwa in The Nice and the Good (1968), A Fairly Honourable Defeat (1970) sowie dem erfolgreichen The Black Prince (1973), dem Versuch eines wahrheitsgetreuen Lebensberichts des unschuldig in der Haft gestorbenen Bradley Pearson, der durch die Liebe zu der Tochter seines ermordeten Freundes und Rivalen Baffin von seinen Frustrationen befreit wurde und den Durchbruch zum Dichter erfuhr. Die psychologisch aufschlußreichen Berichte der übrigen beteiligten Personen ergänzen und nuancieren im Detail, bestätigen aber das Gesamtbild. Iris Murdoch hat inzwischen mehr als zwanzig Romane geschrieben und sich als eine versierte Erzählerin von hoher Intelligenz und technischer Si60 61

S. S. Atherton, A. S.: A Critical Assessment (1979). F. Baldanza, I. M., TEAS (N. Y., 1974); A. S. Byatt, Degrees of Freedom: The Novels of I. M. (1965).

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cherheit erwiesen. Wenn auch die Frage, ob ihre Kunst das Niveau des anspruchsvollen Unterhaltungsromans überragt, umstritten geblieben ist, so behauptet sie doch zweifellos den ersten Platz unter den heutigen Schriftstellerinnen. Von ihnen seien wenigstens erwähnt MURIEL SPARK62 (geb. 1918; The Mandelbaum Gate, 1965, und The Abbess of Crewe, 1974), MARGARET DRABBLE (geb. 1939; The Needle's Eye, 1972) sowie die von einem starken sozialen und politischen Verantwortungsgefühl getragenen Romane der in Rhodesien aufgewachsenen DORIS LESSING" (geb. 1919). Ihre Hauptthemen sind die Probleme von Herrschaft und Unterdrückung, Schwarz und Weiß und die Stellung der Frau in einer männlich bestimmten Welt (The Grass is Singing, 1950; die fünfbändige Folge Children of Violence, 1952-69; The Golden Notebook, 1962). Auch ihre neue Romanfolge Canapus in Argos: Archives (1979ff.), von der bisher drei Bände erschienen sind, behandelt dieselben Probleme, diesmal jedoch von einem kosmischen Blickpunkt her, in der Form von 'space fiction', wodurch der Roman Parabelcharakter erhält. In die Nähe von Iris Murdoch gehört JOHN FowLES64 (geb. 1929), der mit ihr dieselbe philosophische Grundposition teilt. Auch für ihn muß der Mensch, allein auf sich gestellt, ohne Hilfe einer metaphysischen Macht ein Verhältnis zur Realität finden, doch besitzt er hierzu, anders als bei Iris Murdoch, die notwendige Willens- und Entscheidungsfreiheit. Sein aus der Retroperspektive geschriebener, voluminöser erster Roman, The Magus (1966, rev. Fassung 1977), handelt von dem Mißverständnis von Freiheit und Liebe, von der schrittweisen Zerstörung der Illusionen des adoleszenten, narzistischen Erzählers Nicholas Urfe durch den Magus Conchis, einen rätselhaften Psychotherapeuten. Die phantastische Initiationsgeschichte verbindet Elemente des erotischen, philosophischen und Sensationsromans und enthält ein Übermaß an magischen und psychoanalytischen Mystifikationen und Anspielungen . Der nach dem Magus verfaßte,aber früher veröffentlichte The Collector (1963) schildert einen Schmetterlingssammler, dessen neue Passion schönen Frauen gilt. Als er im Fußballtoto eine große Summe gewinnt, erwirbt er ein Haus, entführt eine junge Frau und sperrt sie in einen feuchten Keller, wo sie, nachdem alle Versuche zu entkommen fehlgeschlagen sind, an einer Lungenentzündung stirbt. Der an das absurde Drama erinnernde Roman endet offen: Clegg beschließt, nun ein Mädchen aus einem Woolworthgeschäft zu entführen. Erzähltechnisch von Interesse ist, daß Clegg später ein Tagebuch entdeckt, indem die junge Frau ihre Version der Vorgänge gibt, so daß für den Leser eine doppelte Perspektive entsteht. In The French Lieutenant's Woman (1969) sucht Fowles einen Roman zu schreiben, wie ihn ein mittviktorianischer Autor hätte schreiben können, wenn er bereits über das existentialistische Vokabular verfügt hätte. Er läßt die Geschichte der rätselhaften Sarah Woodruffe aus viktorianischem Blick62

P. Kemp, M. S. (1974); A. Massie, M. S. (Edinb. 1979). M. Thorpe, D. L. (1973). 64 B. N. Olshen, J. F. (N. Y., 1978).

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IV. Der Roman

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winkel von einem Ich-Erzähler berichten, der sich zugleich als ein Zeitgenosse von Robbe-Grillet weiß, der überdies unter zwei weiteren Masken erscheint und am Ende dem Leser die Entscheidung überläßt, welchen von zwei Schlüssen er für den authentischen halten will. Nach diesem interessanten, wenn auch kaum ganz überzeugenden Versuch einer Synthese von realistischem und experimentellem Roman bedeutet Daniel Martin (1977) ein weiteres Experiment. Zwei Freunde haben vor über zwanzig Jahren zwei Schwestern geheiratet, obwohl jeder der vier wußte, daß eigentlich der andere der rechte Partner gewesen wäre. Diesen „Fehlentwurf' des Lebens versucht nun der im letzten Stadium einer Krebserkrankung stehende Anthony Mallory, ein Oxforder Philosophiedozent und praktizierender Katholik, zu korrigieren. Da alle fühlen, daß sie die Liebe verraten haben, gelingt ihm nicht nur die Aussöhnung mit dem ihm entfremdeten Freund, dessen Ehe zur Scheidung führte; durch seinen Freitod ebnet er auch den Weg zu einer Wiederherstellung der gestörten Beziehung seiner Frau zu dem Freund. Der Roman zeigt ein gereiftes Verständnis von Liebe und Freundschaft, von Verantwortung und Mitmenschlichkeit, doch verlangt die Achronologie der Darstellung mit zahlreichen Rückblenden und Meditationen sowie dem Wechsel der Erzählperspektive intensive Mitarbeit des Lesers.

9. Der amerikanische Neu-Realismus Von großem Einfluß auf die nach dem ersten Weltkrieg auf den Plan tretende Schriftstellergeneration, für die sie die Formel 'the lost generation' prägte, war GERTRUDE STEIN65 (1874-1946), die 1903 nach Europa übersiedelte und in Paris der Mittelpunkt eines Kreises von französischen und amerikanischen Malern und Schriftstellern wurde. Ihre revolutionierenden, dem Dadaismus verwandten stilistischen Theorien hat sie in vielen Schriften, am aufschlußreichsten in Composition as Explanation (1926) und Lectures in America (1935), vorgetragen und durch ein Buch von Beispielen erläutert {How to Write, 1931). Sie suchte die ästhetische Theorie ihres Lehrers William James mit Bergsons Verräumlichung (temps longueur) und Erlebniszeit (duree) zu verbinden und die Intuition zum Schlüssel des künstlerischen Schaffens zu machen. Mit Flauberts Trois Contes' vor Augen, analysierte sie in Three Lives (1909) in einem rhythmischen Stil mit den für ihre Technik bezeichnenden Wiederholungen das Bewußtsein von zwei deutschen Dienstmädchen und einer einfachen Negerin, deren Reaktionen sich als ebenso komplex er65

Three Lives in ML; The Making of Americans, ed. B. Fay (N. ., 1934) [Kürzung, m. Einl.]; The Yale Edn. of the Unpublished Writings of G. S., ed. C. Van Vechten (New Haven, 1951 ff.); Selected Writings of G. S., ed. C. Van Vechten (N. Y., 1946). - D. Sutherland, G. S.: A Biography of Her Work (New Haven, 1951); E. Sprigge, G. S.: Her Life and Work (N. Y., 1957); N. Weinstein, G. S. and the Literature of the Modern Consciousness (N. Y., 1970); J. R. Mellow, Charmed Circle: G. S. and Company (N. Y., 1974).

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weisen wie diejenigen der Jamesschen Charaktere aus den höheren Schichten. Ihr bereits 1906-1911 verfaßter Roman The Making of Americans (1925), den sie für den Beginn der modernen Literatur hielt, berichtet in einer Gedankenbewegung, die in Variationen stets zum Anfang zurückkehrt, durch drei Generationen hindurch die Geschichte der Wanderung und des geistigen Aufstiegs ihrer eigenen Familie, die stellvertretend für jeden steht, 'who ever was or is or will be living'. Diesem Ziel entsprechend, ist der Roman in einfacher, volkstümlicher Sprache geschrieben, mit stets sich wiederholenden Wendungen, die dem Leser das Gefühl der Dauer und des steten 'beginning again and again' geben sollen. Da Miss Stein, um die filmähnliche, fortwährende Bewegung auszudrücken, Verben bevorzugt und Substantive sowie die den Satzfluß hemmende Interpunktion (ähnlich wie Joyce in Molly Blooms innerem Monolog) weitgehend vermeidet, ist das Verständnis ihrer Bücher streckenweise nicht ohne Schwierigkeit. Am leichtesten zugänglich und als Zeitdokumente aus dem Frankreich zwischen und nach den Kriegen aufschlußreich, sind ihre autobiographischen Bücher Paris France (1940) und Wars I Have Seen (1945) sowie The Autobiography of Alice B. Tokios (1933), die ihr eigenes Leben in der Pariser Künstlerwelt vom Blickpunkt ihrer Sekretärin aus betrachtet. In Everybody's Autobiography (1937) berichtet sie ihre Erlebnisse auf einer Vortragsreise in Amerika. Das Oeuvre der Gertrude Stein ist ein Experiment, dessen eigentliche Bedeutung auf der Anregung beruht, die es für zeitgenössische Schriftsteller wie Dos Passos und Hemingway gehabt hat, die beide ihrem Pariser Kreis angehörten. JOHN Dos PASSOS66 (1896-1970) möchte der Chronist der verlorenen Nachkriegsgeneration sein; als solcher setzte er Sinclair Lewis fort, von dem er enthusiastisch begrüßt wurde. Lewis hatte die Kleinstadtbevölkerung in einem typischen Vertreter zusammengefaßt; Dos Passos entrollt ein figurenund episodenreiches Panorama des Großstadtelends. Vorstufe ist der pazifistische Kriegsroman Three Soldiers (1921), der in revolutionärer BarbusseStimmung im Krieg die verkörperte Sinnlosigkeit sieht, die den sensiblen Musiker John Andrews als einen von vielen zu Desertion und Untergang treibt. Wandte sich Dos Passos schon hier gegen jede Beeinträchtigung der individuellen Freiheit, so richtete sich sein Angriff bald allgemein gegen den Kapitalismus amerikanischer Ausprägung. Manhattan Transfer (1925) entrollte in impressionistischen Augenblicksbildern ein filmisches Kollektivporträt des Lebens und Treibens der Millionenstadt, und die sich zu der Trilogie U. S. A. (1937) zusammenschließenden Romane The 42nd Parallel (1930), 1919 (1932), The Big Money (1936) entwarfen in Kolossaldimension eine von jeder Gefühlsäußerung freie, desillusionistische Chronik der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. In zahllosen Episoden aus dem Leben verschiedener Menschen bringt Don Passos den um sich greifenden Materialismus 66

J. H. Wrenn, J. D. P., TUSAS (N. Y., 1961); J. D. Brantley, The Fiction of J. D. P. (The Hague, 1968); G. J. Becker, J. D. P. (N. Y., 1974); I. Colley, D. P. and the Fiction of Despair (1978); L. W. Wagner, D. P.: Artist äs American (Austin, 1979).

IV. Der Roman

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des amerikanischen Lebens, die soziale Ungerechtigkeit und den fortschreitenden Kulturverfall der Zeit zu überzeugender Veranschaulichung. Der Zeithintergrund wird in expressionistischer Technik aufgebaut durch die sog. „Wochenschau", d. h. eine Montage von Schlagzeilen, Zeitungsausschnitten, Inseraten und Bruchstücken von Schlagern sowie durch die Einblendung kurzer Lebensskizzen bekannter amerikanischer Zeitgenossen. Ergänzt wird diese Methode durch das „Kameraauge", worunter Dos Passos kurze, die Form des Bewußtseinsstroms verwendende Prosastücke versteht, in denen der Autor zur sozialen Wirklichkeit Stellung nimmt und für eine sozialistische Gesellschaftsordnung eintritt. Die Trilogie ist ein thematisch und technisch eindrucksvolles Werk, das jedoch stärker als Zeitdokument von Interesse bleiben dürfte, da der Dichter nicht die tieferen menschlichen Wurzeln hinter den ökonomischen Kräften freizulegen vermag. Unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs und des zweiten Weltkriegs brach Dos Passos mit der politischen Linken und bekannte sich zu einer demokratisch-konservativen Haltung. Seine späteren Werke, in denen er auch seine früheren experimentellen Techniken wieder aufgab, halten jedoch den Vergleich mit 'U. S. A.' nicht aus, auch nicht eine zweite Trilogie mit dem Titel District of Columbia (1952), welche die Romane The Adventures of a Young Man (1939), Number One (1943) und The Grand Design (1949) vereinigt. ERNEST HEMINGWAY*" (1899-1961), der andere Exponent der 'lost generation', ist der bei weitem größere Künstler. In kargen Worten, ohne jedes Pathos, mit Vorliebe in natürlichem Alltagsdialog und lakonischem Stakkatostil, enthüllt Hemingway in knappen, meist lose verbundenen Szenen das Leben als ein brutales, unerbittliches Ereignis. Der im Grunde angsterfüllten Kreatur bleibt nur der Mut, dem ins Auge zu sehen und das Bestmögliche herauszuholen. Die Hemingwayschen Helden sind nüchtern, mutig und sensitiv; sie handeln nicht nach den herkömmlichen moralischen Maßstäben, erkennen jedoch bestimmte Verhaltensweisen als verpflichtend an. Der Held muß in jeder Situation selbstverständlich und phrasenlos seinen Mann stehen und das Unabänderliche, auch die Niederlage und den Tod, gefaßt hinnehmen. Die Bewährung in der äußersten Situation erklärt Hemingways besondere Vorliebe für den Stierkampf und die Jagd (Death in the Afternoon, 1932; The Green Hills of Africa, 1935). Gedanken und Gefühle werden verborgen hinter den mit genauer Sachlichkeit verzeichneten äußeren Tatsachen. Aber gerade dadurch, daß der Autor seine Personen nicht analysiert, sondern sich auf das Äußere beschränkt und auch dies nur untertreibend berichtet, wird der Leser angeregt, aus einer Handlung, einem kurzen Ge67

The Portable H., ed. M. Cowley (N. Y., 1944); The H. Reader, ed. C. Poore (N. Y., 1953); Selected Letters 1917-1961, ed. C. Baker (St. Albans, Herts., 1981). - C. Baker, E. H.: A Life Story (1969); A. Waldhorn, A Reader's Guide to E. H. (N. Y., 1972); C. Baker, H.: The Writer as Artist (Princeton, "1972); P. Young, E. H.: A Reconsideration (University Park, Pa.,21966); S. Baker, E. H.: An Introduction and Interpretation (N. Y., 1967); L. Gurko, E. H. and the Pursuit of Heroism (N. Y., 1968); A. Burgess, E. H. and His World (1978).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

sprach oder einer Geste das Seelische zu erschließen. Diese vom Bild und von der Gebärdensprache des Stummfilms übernommene und von Gertrude Stein vorgebildete Technik schien zunächst für Kurzgeschichten angemessen, mit denen Hemingway begann (s. S. 1019 f.). Die erste Übertragung der Thematik und Technik der frühen Kurzgeschichten auf den Roman brachte The Sun Also Rises (1926), der in England unter dem Titel Fiesta erschien. Das Buch zeichnet ein Bild der „verlorenen Generation", einer Gruppe entwurzelter junger Leute, die durch den Krieg aus ihrem Gleis geworfen wurden und in Alkohol, sexuellen Exzessen und Stierkampf die Verzweiflung und den Überdruß am Leben zu betäuben suchen. Daß die Oberflächenspiegelung einer faden Nichtigkeit noch kein erschöpfender Ausdruck von Hemingways Lebensanschauung war, zeigt der halb autobiographische Kriegsroman A Farewell to Arms (1929). Die mit zynisch wirkender Sachlichkeit erzählten Erlebnisse des in der italienischen Armee dienenden amerikanischen Sanitätsoffiziers mit dem Höhepunkt des katastrophalen Rückzugs nach dem deutschen Durchbruch bei Caporetto stehen in schneidendem Kontrast zu der im Vordergrund sich abspielenden Liebesgeschichte des Helden mit einer englischen Krankenschwester. Die Desertion und die Flucht des Paares im Ruderboot über die Schweizer Grenze am Lago Maggiore haben die Spannung eines atemberaubenden Abenteuerromans. Dann folgt als Antiklimax der Tod der Geliebten im Kindbett und das trostlose Zurückbleiben des Helden im fremden Land. Begleitet wird das Geschehen von der kommentarlos-eindrucksvollen Gegenüberstellung des reinen Berglands und des natürlichen Triebs nach Geborgenheit mit der schlammbesudelten Ebene, den zerstampften Straßen und der Widernatürlichkeit des Kriegs. In dem nicht mehr ganz auf der gleichen Höhe stehenden Roman aus dem Spanischen Bürgerkrieg For Whom the Bell Tolls (1940) läßt die beide Seiten verstehende, aber achselzuckende Haltung das Furchtbare des Geschehens um so schärfer hervortreten. Die Handlung ist auf drei Tage begrenzt: ein amerikanischer Freiwilliger in der republikanischen Armee hat den Auftrag, eine strategisch wichtige Brücke zu sprengen, und er erfüllt diese Aufgabe, obwohl sie inzwischen durch die Ereignisse überholt und sinnlos geworden ist, mit der selbstverständlichen Hingabe des Freiheitskämpfers. Von den Grausamkeiten des Krieges auf beiden Seiten hört man nur durch die prachtvoll gezeichneten Insurgenten, die fast mythische Pilar und die mißbrauchte Maria. Das sich zwischen Maria und dem Helden entspinnende romantische Liebesverhältnis ergibt ein menschliches Gegengewicht zu dem unmenschlichen Kriegsgeschehen; und es ist ein ergreifendes Romanende, wenn der verwundete Held sich ohne Bitterkeit opfert und seinem sicheren Tod entgegensieht. Noch ein drittes Mal hat Hemingway den Krieg als menschliches Schicksal verwendet in Across the River and Into the Trees (1950), diesmal aber nur im erinnernden Rückblick eines vom Tode gezeichneten amerikanischen Obersten, der zu Ende des zweiten Weltkrieges in Venedig Gespräche mit seiner

IV. Der Roman

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Geliebten, einer jungen italienischen Gräfin, führt. Während die zurückhaltende Sprache bei den von wilden Geschehnissen handelnden Werken intensivierend wirkte, erscheint sie in diesem kontemplativen Roman blaß, und die durchschnittlichen Charaktere, die nicht mehr wie in den anderen Büchern durch das gegenüberstehende Schicksal gehoben sind, bleiben uninteressant. Hemingways letzte bedeutende Leistung ist die Erzählung The Old Man and the Sea (1952). Der alte Kubaner Santiago, der seit 84 Tagen erfolglos gefischt hat, fängt plötzlich einen riesigen, schönen Schwertfisch. Zwei Tage und zwei Nächte muß er ihn jagen, bevor er ihn harpunieren kann; und als er die Beute gesichert hat, beginnt der Kampf gegen die Haie, die Stück um Stück das kostbare Fleich herausreißen, so daß Santiago am Ende, völlig erschöpft, nur noch das gewaltige Skelett heimbringt. Der alte Fischer verkörpert ein letztes Mal den Hemingwayschen Helden in seiner reinsten Form. Durch hohes Alter in seiner Kraft geschwächt, hält Santiago den aussichtslosen Kampf mit unverzagtem Wagemut durch und bewahrt in dem ungleichen Ringen mit dem Schicksal Haltung und Würde. Das nachgelassene Islands in the Stream (1970) wirkt dagegen wie eine Variation früherer Themen. Ohne Hemingways Gewicht, ohne seine Unbedingtheit, aber durch kurze Zugehörigkeit zu dem Pariser Kreis ihm lose verbunden, war der Schilderer des 'Jazz Age', FRANCIS SCOTT FITZGERALD68 (1896-1940). In seinem erfolgreichen ersten Roman This Side of Paradise (1920) und zwei Kurzgeschichtenbänden (Flappers and Philosophers, 1920; Tales of the Jazz Age, 1922; s. S. 1018 f.) schildert er als faszinierter Beobachter die mondäne Welt der hektischen zwanziger Jahre, die sich von dem Gesellschaftsleben der Jahrhundertwende, wie es Henry James beschrieben, durch ihre Frivolität und zynische Lebensgier unterscheidet. Trimalchio' war der ursprünglich geplante Titel seines bekanntesten Romans The Great Gatsby (1925), der Geschichte eines gesellschaftlich arrivierten Alkoholschmugglers, der nach Erreichung seines Lebensziels den 'American Dream' als Illusion durchschaut. Das Buch ist mehr als nur Zeitdokument: kunstvoll läßt der Autor in geschicktem Aufbau und brillantem Stil das Bild Gatsbys allmählich schärfere Konturen gewinnen und auch die Symbolfunktion seiner Darstellung deutlich werden. Der nach Keats' Nachtigall-Ode benannte Roman Tender is the Night (1934) gestaltet den Lebensweg eines Nervenarztes, der die geisteskranke Nicole heilt, indem er eine Festigkeit und Sicherheit vorgibt, die ihm gar nicht eigen ist, 68

The Bodley Head S. F., edd. M. Cowley and J. B. Priestley (1958-63); Three Novels (The Great Gatsby, Tender is the Night, The Last Tycoon), edd. M. Cowley and E. Wilson (N. Y., 1953); Afternoon of an Author: A Selection of Uncollected Stories and Essays ed. A. Mizener (Princeton, 1957); The Letters of F. S. F. ed. A. Turnbull ( . ., 1963). - A. Mizener, The Far Side of Paradise: A Biography of F. S. F. (Boston, 1951); H.D. Piper, F. S. F.: A Critical Portrait ( . ., 1965); . Hindus, F. S. F.: An Introduction and Interpretation (N. Y., 1968); M. R. Stern, The Golden Moment: The Novels of F. S. F. (Urbana, 1970); W. A. Fahey, F. S. F. and the American Dream (N. Y., 1973); H. Greenfield, F. S. F. (N. Y., 1974); B. Way, F. S. F. and the Art of Social Fiction (1980).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

der dann aber, nachdem er Nicole geheiratet hat, verkommt, während seine Frau völlig gesundet. Der Roman zeigt, daß Fitzgerald auch zarterer Stimmungen fähig ist. Sein letzter, Fragment gebliebener Roman The Last Tycoon (1941) ließ ihn einen neuen angemessenen Vorwurf in der Hollywoodwelt finden. Aus dem ungleichen Schaffen von JOHN STEINBECK69 (1902-1968) ragen zwei der sozialkritischen Werke als die besten heraus: Of Mice and Men (1937), die dramatischer Form sich nähernde, packende Erzählung von den Träumen und dem ergreifenden Schicksal zweier landwirtschaftlicher Wanderarbeiter in Kalifornien, und The Grapes of Wrath (1939), die Saga der mühevollen Wanderung der durch die Dürre heimatlos gewordenen kleinen Farmer von Oklahoma nach dem gelobten Land Kalifornien. Das Schicksal der Familie Joad, deren zwölf Mitglieder auf dem alten Lastauto zusammengepfercht sind, weitet sich zur Schicksalsgemeinschaft der Armen, Arbeitslosen und Hungernden, und das Hoffen auf künftige Seßhaftigkeit wird zum Symbol menschlichen Hoffens überhaupt. Eine ähnlich überzeugende Darstellung menschlicher Charaktere und der aus der Wirtschaftskrise erwachsenden Tragödie hat Steinbeck in seinen späteren Romanen nicht wieder erreicht, auch nicht in East of Eden (1952), seinem ehrgeizigen Versuch, die Macht der Sünde zu gestalten. Neben einigen Kurzgeschichten (s. S. 1017 f.) sind die humoristisch-komischen Prosaidyllen Tortilla Flat (1935) und Cannery Row (1945), in denen er auf Problemerörterung verzichtet, künstlerisch ausgeglichenere Leistungen. Ein konsequenter, schonungsloser Realismus spricht aus den zahllosen Bänden von JAMES T(HOMAS) FARRELL?O (1904-1979), dessen bekanntestes und geschlossenstes Werk die frühe Trilogie Studs Lonigan (1935) ist. Farrell schildert unsentimental das Leben eines in den Slums von Chicago aufwachsenden, intelligenten Jungen aus irisch-katholischer Familie, der in einer Gesellschaft, die kein anderes Ziel als den materiellen Erfolg kennt, dem Vorbild des 'tough guy' nachjagt und durch Alkohol, Promiskuität und Kriminalität sich ruiniert, so daß er mit 29 Jahren stirbt. Tiefe Trauer durchzieht den grotesk-komischen Roman Miss Lonelyhearts (1933) von NATHANAEL WEST?I (1906-1940). Der Titel ist das Pseudonym eines Journalisten, der in der „Seufzerspalte" einer Zeitung Liebeskranken Rat und Trost zu spenden hat. Betrachtet dieser seine Tätigkeit zunächst mit Zynismus, so macht ihm allmählich das andrängende menschliche Leid seine 69

P. Lisca, The Wide World of J. S. (New Brunswick, 1958); W. French, J. S., TUSAS (N. Y. 1961, 21975); J. Fontenrose, J. S.: An Introduction and Interpretation (N. Y., 1963); N. Valjean, J. S.: The Errant Knight (San Francisco, 1975); T. Hayashi, A Study Guide to J. S.: A Handbook to His Major Works (Metuchen, 1974). 70 E. M. Branch, J. T. F., TUSAS (N. Y., 1970). 71 The Collected Works (N. Y., 1957). - J. Martin, N. W.: The Art of His Life (1970); J. F. Light, N. W.: An Interpretative Study (Evanston, 111, 1961, 2 1971); V. Comerchero, N. W.: The Ironie Prophet (Syracuse, 1964); R. Reid, The Fiction of N. W.: No Redeemer, No Promised Land (Chicago, 1967); N. A. Scott, N. W. (Grand Rapids, Mich., 1971).

IV. Der Roman

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eigene Situation und die Nichtigkeit des Lebens bewußt, die nur mit schwarzem Humor zu ertragen ist. In The Day of the Locust (1939) legt West unter der glitzernden Oberfläche der Traumfabrik Hollywood die Grausamkeit und das Elend des Lebens bloß. Wenn der Roman mit einem gewalttätigen Massentumult anläßlich einer Filmpremiere endet, so erscheint das von Hackett unter dem Eindruck von Goya und Daumier begonnene Riesengemälde The Burning of Los Angeles' als weitere Spiegelung einer apokalyptischen Vision des Lebens.

10. Thomas Wolfe, William Faulkner und der Süden In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts traten in den Südstaaten beheimatete Romanciers in den Vordergrund des literarischen Interesses; zwei von ihnen, Wolfe und Faulkner, zählen zu den angesehensten Vertretern des neueren Romans. Gegenüber Faulkner, der die makabre Welt einer verfallenen Kultur ausmalt, zeigt das Romanwerk des früh verstorbenen THOMAS WOLFE72 (1900-38), der als Sohn eines Steinmetzen seine Kindheit in einer der aufblühenden Städte in den Bergen der Alleghanies verlebte, einen anderen, hoffnungsvolleren Aspekt des Südens. Wolfe plante einen großangelegten, weithin autobiographischen Bildungsroman, über dessen Entstehungsgeschichte er sich in The Story of a Novel (1936) geäußert hat. Von dem Gesamtwerk konnte er nur zwei Bruchstücke vollenden, welche die Kindheit und Jugend des Helden erzählen: Look Homeward Angel (1929), das die Zeit von 1884-1920 umfaßt, und Of Time and the River (1935) über die Jahre 19201925. Ihnen folgte, aus dem Nachlaß herausgegeben, The Web and the Rock (1939), dessen Personen andere Namen tragen, obwohl die im ersten Teil geschilderten Ereignisse denen von 'Look Homeward Angel' parallel laufen, und der zweite Teil, eine Liebesgeschichte aus Wolfes New Yorker Zeit (1929-1930), die Fortsetzung bildet zu Of Time and the River'. 1940 wurde aus den nachgelassenen Papieren Wolfes noch als vierter Roman You Can't Go Home Again veröffentlicht, der von dem Leben des Helden nach seiner Rückkehr aus Deutschland erzählt, von seinem beginnenden schriftstellerischen Ruhm und der tiefen Enttäuschung über eine im Innersten kranke Kultur, sowohl in dem einst geliebten Deutschland wie in seiner Heimat, in die kein Weg mehr zurückführt. Die ganze Romanfolge ist die Geschichte eines Menschen, der den Glauben verloren hat und doch weiß, daß die Er72

The T. W. Reader, ed. C. H. Holman (N. Y., 1962); The Short Novels of T. W., ed. C. H. Holman (N. Y., 1961); The Letters of T. W., ed. E. Nowell (N. Y., 1956); The Notebooks of T. W., edd. R. S. Kennedy and P. Reeves, 2 Bde. (Chapel Hill, 1970). E. Nowell, T. W.: A Biography (Garden City, N. Y., 1960); N. F. Austin, A Biography of T.W. (Austin, 1968); R. G. Waiser, T. W.: An Introduction and Interpretation (N. Y., 1961); R. S. Kennedy, The Window of Memory: The Literary Career of T. W. (Chapel Hill, 1962); A. Turnbull, T. W. (N. Y., 1967); L. Gurko, T. W.: Beyond the Romantic Ego (N. Y., 1975).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

füllung Of our spirit, of our people, of our mighty and immortal land is yet to come'. Das von Lebenskraft überquellende Epos einer Jugend in seinem vorwärtsdrängenden Stil will mit seinen vielfältigen Charakteren, Geschehnissen, Szenen und Stimmungen die Fülle des Lebens vergegenwärtigen. Deshalb haben wir nicht einen fortlaufenden Bericht, sondern eine äußerlich oft unverbundene Zusammenstellung des Simultangeschehens: das Leben rauscht als breiter Strom dahin, aber der einzelne hat nur teil an einem schmalen Ausschnitt. Die 'recherche du temps perdu' ist bei Wolfe weniger intellektuell oder psychologisch als mythisch und sinnlich. Die Vergangenheit wird nicht bewußt ins Gedächtnis zurückgerufen, sondern bricht als unmittelbare Erinnerung elementar hervor. Drei Zeitbegriffe sind ständig miteinander verbunden: die verrinnende Gegenwart, die erinnerte Zeit, die auch das aufgespeicherte Erleben der vergangenen Generation umfaßt, und die dem Menschen unwandelbar erscheinende Zeit der Ströme, der Gebirge, und der Meere. Wenn dadurch die Welt der Gants und Pentlands auf den ersten Blick überdimensional in Proportion und Perspektive erscheint, so macht andererseits diese Vergrößerung dem sich einfühlenden Leser alle emotionalen und sonst unausgedrückt bleibenden Ober- und Untertöne der menschlichen Erfahrung vernehmbar. Sie vermittelt die Städte, Felder, Flüsse, Gebräuche und Gerüche eines ganzen Kontinents und offenbart die Verwirklichung suchenden Seelen der Menschen. Kaum eine andere Romanfolge ist so reich an unvergeßlichen Szenen, deren Zusammenhang allerdings allein durch die autobiographische Achse gewährleistet ist. Auch Wolfes Kurzgeschichten (From Death to Morning, 1935; The Hills Beyond, 1941) sind nur Szenen, eher Romanteile als Novellen. Der ebenfalls in den Südstaaten beheimatete ERSKINE CALDWELL73 (geb. 1903) hat eine ausgesprochen novellistische Begabung. Sein Thema ist die Notlage der „armen Weißen" in seiner Heimat Georgia. In prägnanten Kurzgeschichten (s. S. 1018) und kurzen, zu Novellenumfang zusammengedrängten Romanen (Tobacco Road, 1932; God's Little Acre, 1933) hat er das Elendsdasein der 'poor white' als einen neuen, wuchtigen Stoff erschlossen, der in der Dramatisierung von Tobacco Road (durch Jack Kirkland, 1933) einen nachhaltigen Eindruck machte. Caldwells Technik ist der Upton Sinclairs entgegengesetzt: sparsam im Wort und zurückhaltend in der Wertung, wird eine formale Vollendung erstrebt, die oft in einem Mißverhältnis zum Thema steht. Die dargestellte Welt ist nicht nur häßlich, sie wird durch die naturalistisch übersteigerte Art der Darstellung geradezu unmenschlich und wirkt durch die stete Wiederholung in den vielen auf den Erfolg der Tobacco Road folgenden Erzählungen wie ein Alpdruck. Man glaubt, in eine Hölle von unbeschreiblichem Elend, Rassenhaß, Sadismus, unkontrollierten Gefühlsausbrüchen, Alkoholismus und Geschlechtsgier zu schauen, und wird, wie bei allen die Extreme häufenden Geschichten, abgestumpft. Ein das Einerlei be73

J. Korges, E. C. (Minneapolis, 1969).

IV. Der Roman

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lebender Zug findet sich nur dann, wenn Caldwell, wie besonders in einigen Kurzgeschichten, bewußt karikiert. Im Werk von WILLIAM FAULKNER™ (1897-1962), der aus der jetzt verarmten ehemaligen Aristokratie der Plantagenbesitzer stammt, bilden Hybris und Schuld den Hintergrund, vor dem sich das Schicksal des Alten Südens vollzieht. Das Rassenproblem, das wie ein Fluch über der Geschichte der Südstaaten lastet, wird zum Symbol der moralischen Verwirrung einer verlorenen Menschheit. Faulkners erster Roman, Soldier's Pay (1926), ist noch tastendes Suchen. Er schildert, wie auch die späteren Kriegsnovellen These Thirteen (1931), mit verbissenem, sich jeglichen Kommentars enthaltendem Ernst die Zerstörungen des Krieges im Leben der Heimkehrer, die keine Verbindung zur Heimat mehr finden. Auch Bayard Sartoris, der Held von Sartoris (1929), ist ein Heimkehrer aus dem Weltkrieg, der auf das Unverständnis der Heimat stößt und, seiner Familie entfremdet, bei einem Testflug den ersehnten Tod findet. Aber im Unterschied zu dem früheren Roman entfaltet Faulkner hier die sozialkritische Haltung gegenüber der Heimat zu der gewaltigen, durch drei Generationen vom Bürgerkrieg bis zum ersten Weltkrieg verfolgten Tragödie des hoffnungslos dem Untergang verfallenen Südens und stößt damit auf sein eigenstes Thema. Die in der Sartorisfamilie verkörperte feudale Ordnung war bereits im Bürgerkrieg zerbrochen, und inzwischen hat sich mit der plebejisch-skrupellosen Sippe der Snopes ein neuer militaristischer Geist breit gemacht. Für die Sartorisfamilie konnte Faulkner eigene Familienerinnerungen verwerten. Mit der teils imaginären, teils seinem heimischen Oxford, Mississippi, entsprechenden Kreisstadt Jefferson und ihrer Umgebung (Yoknapatawpha County) schuf er sich den halb mythischen Raum für fast alle folgenden Romane. The Sound and the Fury (1929) beschreibt den Niedergang einer anderen Familie des Südens, der Compsons, deren Degeneration in dreifacher Gestalt erscheint: in dem schwachsinnigen Benjy, dem neurotischen Harvardstudenten Quentin, der später Selbstmord begeht, und dem habsüchtigen und skrupellosen Jason, der dem materialistischen Snopes-Geist verfallen ist. Die inneren Monologe der drei Brüder werden im vierten Teil ergänzt durch einen direkten Autorbericht, in dessen Mittelpunkt die alte die Familie zusammenhaltende Negerin Dilsey steht. Dem Joyce-Vorbild entsprechend, ist in den Monologen die Chronologie aufgebrochen, Vergangenheit und Gegenwart 74

The Portable F., ed. M. Cowley (N. Y., 21965); Essays, Speeches & Public Letters, ed. J. B. Meriwether (N. Y., 1965); Selected Letters, ed. J. Blotner (1977). - J. Blotner, F.: A Biography, 2 Bde. (N. Y., 1974); O. W. Vickery, The Novels of W. F.: A Critical Interpretation (Baton Rouge, La., 21964); C. Brooks, W. F.: The Yoknapatawpha Country (New Haven, 1963); ders., W. F. Toward Yoknapatawpha and Beyond (New Haven, 1978); M. Millgate, The Achievement of W. F. (1966); H. Straumann, W. F. (Frankfurt, 1969); J. W. Reed, F.'s Narrative (New Haven, 1973); R. P. Adams, F.: Myth and Notion (Princeton, 1968); H. Bungert, W. F. und die humoristische Tradition des amerikanischen Südens (Heidelberg, 1971); LG. Levins, F.'s Heroic Design: The Yoknapatawpha Novels (Athens, 1976); E. Volpe, A Reader's Guide to W. F. (N. Y., 1964, repr. 1974).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

greifen ineinander, und die einzelnen Bruchstücke fügen sich zu einem großen Gesamtgemälde des Alten Südens. Die schweren, gedrängten, überlangen Sätze verwirren zunächst den Leser, erreichen aber Wirkungen, die sonst nur in der Poesie möglich sind. As I Lay Dying (1930) ist die grausig-groteske Geschichte des Leichenzuges der Addie Bundren, der sich mit vielen Hindernissen nach Jefferson bewegt - eine virtuose Schilderung in rund sechzig inneren Monologen, die auf insgesamt fünfzehn Erzähler verteilt sind. Der zunächst des Gelderwerbs wegen geschriebene Reißer Sanctuary (1931) wurde vor seiner Veröffentlichung völlig umgearbeitet; aber trotz großer Darstellungskunst überschreitet hier eine makabre, sadistische Phantasie die Grenze des Erträglichen. Faulkner zeichnet eine Welt des Schreckens und des Hasses, der Lust, Brutalität und Besessenheit und läßt zugleich in der Kraft des Ertragens und Duldens eine alle Grausamkeit überwindende Menschlichkeit fühlbar werden, die an russische Erzähler erinnert. Das gilt besonders von Faulkners Meisterwerk Light in August (1932), in dem furchtbare Verbrechen und Liebe einander die Waage halten. Der Roman verbindet die rührende Geschichte von Lena Grove, die in Jefferson nach dem Vater des Kindes sucht, das sie im August zur Welt bringen soll, mit dem Schicksal des vermutlich mischblütigen Joe Christmas, der durch ein Leben unsäglicher Härte und schwerster Schuld zur Vernichtung gehetzt wird. In Absalom, Absalom! (1936) wird die Chronik der den Sartoris benachbarten Sutpenfamilie, die 1828 nach Jefferson kam, berichtet. Thomas Sutpen war einer der „armen Weißen", der energisch und rücksichtslos seinen großen Traum der Gründung einer angesehenen Familie verfolgte, aber dabei verhängnisvolle Schuld auf sich lud, die schließlich drei Generationen in Tod und Verderben treibt Sinnbild der Schuldverstrickung des gesamten Südens. Der Erzählbericht wird, dem sprunghaften Geschehen angemessen, in mehrfache Spiegelungen gebrochen; der aus The Sound and the Fury bereits bekannte Quentin Compson muß den Verlauf aus Berichten seines Vaters und eines alten, den Sutpens verwandten Fräuleins rekonstruieren. Die sich zu einem episodischen Roman zusammenschließenden Erzählungen von The Unvanquished (1938) schildern in Rückblende aus der Sicht des jungen Bayard Sartoris - er ist der Großvater des nach ihm benannten Titelhelden im ersten JeffersonRoman - das Schicksal seiner Familie während des Bürgerkriegs und unmittelbar danach. Eine andere bedeutende Kurzgeschichten-Sammlung ist Go Down, Moses (1942), die als bekannteste und beste seiner Erzählungen The Bear enthält (s. S. 1020). The Hamlet (1940) behandelt in lockerer Fügung und mit grimmigem Humor die Geschichte der Parvenüfamilie der Snopes. Faulkner weitete ihre Chronik später mit The Town (1957) und The Mansion (1959) zu einer fünfzig Jahre umspannenden Trilogie aus. Die Werke seiner letzten Phase erreichen allerdings nicht mehr die frühere Höhe. Das gilt auch von A Fable (1954), in dem Christus seine Passion noch einmal in einem kleinen Korporal am Ende des ersten Weltkrieges auf dem französischen Kriegsschauplatz er-

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lebt. Der Held vermag die anspruchsvolle allegorische Analogie ebensowenig zu rechtfertigen wie die Negerin Nancy in dem 'Sanctuary' fortführenden Lesedrama Requiem for a Nun (1951). The Reivers (1962), eine komische, fast farcenhafte Erzählung, ist der letzte Baustein, den Faulkner seiner Yoknapatawpha-Saga einfügen konnte. Der amerikanische Süden ist durch eine Reihe weiterer Schriftsteller vertreten. KATHERINE ANNE PORTER (1890-1980) hat durch ihren Roman Ship of Fools (1962) weniger überzeugt als durch ihre Kurzgeschichten (s. S. 1021). Auch bei CAROLINE GORDON (geb. 1895), EUDORA WELTY (geb. 1909) und FLANNERY O'CONNOR (1925-1964) liegt die stärkere Leistung auf dem Gebiet der Kurzgeschichte (s. S. 1021 f.). Der bereits als Lyriker erwähnte (s. S. 884f.) ROBERT PHNN WARREN" (geb. 1905) behandelt in seinem erfolgreichen Roman All the King's Men (1946), angeregt von historischen Ereignissen in Louisiana am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre unter dem berüchtigten Gouverneur Huey Long, das Problem von politischer Macht und moralischer Verantwortung in dem Aufstieg und Fall des intelligenten Bauernsolines Willie Stark. Von CARSON McCuLLERs'76 (1917-1967) Werken ist neben der langen Erzählung The Ballad of the Sad Cafe (1951) ihr erster Roman, The Heart is a Lonely Hunter (1940), der beeindruckendste. In seinem Mittelpunkt steht ein taubstummer Graveur, der sich nach dem Tod seines kindlichen Gefährten das Leben nimmt, und eine Gruppe von Freunden, die bei ihm Zuflucht und Verständnis fanden, hilf- und trostlos zurückläßt - eine traurige Geschichte menschlicher Illusion und Vereinsamung in suggestiver, poetischer Sprache. Auch in ihren übrigen Romanen (Reflections in a Golden Eye, 1941; The Member of the Wedding, 1946; Clock Without Hands, 1961) ist das Thema die seelische Vereinsamung adoleszenter und grotesker Menschen und ihr Verlangen nach mitmenschlichem Kontakt, das mit feiner Einfühlungsgabe und ausgesprochenem Sinn für die Lebensweise und Atmosphäre des Südens gestaltet wird. Ähnlich wie Faulkner sah WILLIAM STYRON" (geb. 1925) in der Familientragödie von Lie Down in Darkness (1951) den schuldhaften Niedergang des gesamten Südens gespiegelt. Seinen größten Erfolg errang er mit The Confessions of Nat Turner (1967), der Schilderung eines Sklavenauf stands in Virginia im Jahre 1831. In dieser 'meditation on History' sucht Styron das Rassenproblem in seiner komplexen historischen Verflechtung zu deuten. Seine Hauptquelle sind die von dem Sklavenführer und religiösen Visionär Nat Turner gegenüber seinem Anwalt Thomas R. Gray abgegebenen Erklärungen. Da das dokumentarische Material recht bescheiden ist, blieb dem Autor reichlich Raum zu einer freien Gestaltung der Vorgänge durch Reflexionen 75

L. Casper, R. P. W.: The Dark and Bloody Ground (Seattle, 1960); B. Guttenberg, Web of Being: The Novels of R. P. W. (Nashville, 1975). 76 V. S. Carr, The Lonely Hunter: A Biography of C. McC. (N. Y., 1975); O. Evans, C. McC: Her Life and Work (1965); R. M. Cook, C. McC. (N. Y., 1975). 77 M. L. Ratner, W. S., TUSAS ( . ., 1972); . J. Friedman, W. S. (Bowling Green, O., 1974).

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über die Motive der Rebellion und den Rückgriff auf Erinnerungen und Träume. Der Roman ist umstritten geblieben, aber seine Wirkung in der explosiven Situation unmittelbar nach den Rassenunruhen des Jahres 1965 war groß. Aus dem Süden stammt auch TRUMAN CAPOTE™ (geb. 1924), der jedoch schon seit 1942 in New York lebt. In seinen frühen Romanen verbinden sich Wirklichkeit, Traum und Phantasie. In der geheimnisvollen Initiationsgeschichte Other Voices, Other Rooms (1948) begegnen wir den für den Süden bezeichnenden Schauereffekten, den grotesken Figuren und der poetischen Sprache, während The Grass Harp (1951), in der eine kleine Gruppe von Außenseitern versucht, ein auf der Liebe zur Natur und den Mitmenschen begründetes Leben zu beginnen, humorvollere und nostalgische Züge aufweist. Schauplatz und Form wandeln sich mit dem hauptsächlich in New York spielenden und im Ich-Bericht geschriebenen Kurzroman über die 18jährige, kapriziöse und frivole Holly Golightly, Breakfast at Tiffany (1958). Eine neue Wende erfolgte mit der 'nonfiction novel' In Cold Blood (1966), der Rekonstruktion der grauenhaften Ermordung einer vierköpfigen Farmerfamilie in Kansas im Jahre 1959. Mit diesem Typ einer faktengebundenen Darstellung, die auf jahrelangen, 6000 Seiten umfassenden Recherchen und Interviews beruht, glaubte Capote, eine neue epische Form entdeckt zu haben, in der Fakten und dichterische Einbildungskraft konvergieren. Doch lassen sich Vorläufer solcher 'nonfiction' unschwer in Dos Passos und schon im dokumentarischen Roman des 19. Jahrhunderts erkennen, wenngleich Capote ein „wissenschaftlicheres" Vorgehen für sich in Anspruch nimmt. Capotes Vorbild ist von anderen erfolgreich nachgeahmt bzw. modifiziert worden, wie etwa von Norman Mailer (s. S. 1003), der in Armies of the Night auch die eigene Person in den Vordergrund rückt.

11. Der zeitgenössische amerikanische Roman79 Neben den bereits im vorigen Abschnitt behandelten jüngeren Vertretern des Südens sind im ersten Jahrzehnt nach dem Kriege nur Salinger, Mailer und Bellow als versprechende Autoren zu nennen, und von ihnen ist Salinger bald verstummt, Mailers Kunst entwickelte sich in anderer Richtung, einzig Bellow hat die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Der Ruhm von JEROME DAVID SALINGER80 (geb. 1919) beruht neben seinen Kurzgeschichten auf seinem Roman The Catcher in the Rye (1951), einem etwas über 200 Seiten umfassenden Bericht, den Holden Caulfield in einer kalifornischen Nervenklinik über seine zweieinhalbtägige Odyssee in New York schreibt. Holden sehnt sich nach Kommunikation, aber ihn ekelt vor 78

W. Nance, The World of T. C. (N. Y., 1970). - Zur Kurzgeschichte vgl. S. 1022. Vgl. die Epochenliteratur S. 837f. 80 F. L. Gwynn and J. L. Blotner, The Fiction of J. D. S. (Pittsburgh, 1958); W. French, J. D. S., TUSAS (N. Y., 1963, 21976). 79

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der korrupten Welt der Erwachsenen, aus der er sich heraussehnt in eine naturnahe Welt der Reinheit. Er liebt seine kleine Schwester Phoebe und möchte alle kleinen Kinder vor dem Verlust ihrer Unschuld bewahren, vor jenem Fall in den Abgrund, den er selbst gerade qualvoll durchleidet. Aber trotz seines Protestes ist Holden kein Rebell; er erkennt, daß der Weg aus der Unschuld in die Erfahrung unvermeidbar ist. Holdens Reflexionen werden aufrichtig, unpathetisch und im saloppen Umgangston wiedergegeben. Salinger hat den Jargon der High School dieser Zeit so haarscharf getroffen, daß der Roman, wie ein Vierteljahrhundert früher Hemingways 'Fiesta', zum Buch einer Generation wurde. In der technischen Darbietung wie der sprachlichen Beherrschung ist das kleine Werk makellos; doch ist Salingers Feld begrenzt und durch die seitdem veröffentlichten Teilstücke der Chronik der Familie Glass nicht wesentlich erweitert worden (s. S. 1022 f.). NORMAN MAILER SI (geb. 1923) errang gleich mit seinem ersten Werk Erfolg, dem Kriegsroman The Naked and the Dead (1948), der in der Nachfolge von Dos Passos die realistische Schilderung eines militärischen Unternehmens auf dem pazifischen Kriegsschauplatz mit Gesellschaftskritik verbindet. Aber Mailer erschien die traditionelle Form des Romans schon bald nicht mehr als die unserer Zeit gemäße Ausdrucksform, und er suchte nach einem engeren Anschluß des Romans an die Wissenschaft, insbesondere an die Psychoanalyse und die Historic. Das führte zu den verschiedensten Formen von 'para-fiction': dem psychoanalytischen Sensationsroman {An American Dream, 1965), der Verknüpfung zeitgeschichtlicher Dokumentation und Autobiographie in dem Bericht über eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg (Armies of the Night, 1968) oder der Erörterung der mit der ApolloLandung verbundenen Probleme (Of a Fire on the Moon, 1970). SAUL BELLOW82 (geb. 1915) begann mit subtilen, introspektiven Romanen (Dangling Man, 1944; The Victim, 1947), die das Existenzproblem umkreisen und den Menschen als Opfer anonymer Mächte sehen. Mit dem kraft- und phantasievollcn pikaresken Roman The Adventures of Augie March (1953) durchbrach er diese Innenschau, und an die Stelle des Kafka- und DostojewskiVorbilds traten Mark Twain, Balzac und Fielding. Augie ist nicht mehr das Opfer, gegen das sich eine Welt verschworen hat, er führt vielmehr, von brennender Neugier getrieben, ein abenteuerliches Leben, das ihn am Ende das Mittelmaß als das eigentlich Menschliche erkennen läßt. Die pikareske Form gestattete Bellow, in dem grotesken Henderson the Rain King (1959) weiter auszugreifen. Stammte Augie aus dem armen polnischen Judenviertel Chicagos, so ist Henderson ein mehrfacher Millionär, den der Weg von New Jersey und New York in eine afrikanische Phantasiewelt führt. Auf der Suche 81

R. Poirier, N. M. (1972); J. Radford, N. M.: A Critical Study (N. ., 1975); R. Merrill, N. M., TUSAS (Boston, 1978). 82 K. M. Opdahl, The Novels of S. B.: An Introduction (University Park, Pa., 1967);J.J. Clayton, S. B.: In Defense of Man (Bloomington, 1968); I. Malin, S. B/s Fiction (Carbondale, 1969); R. R. Dutton, S. B., TUSAS (Boston, 1971); S. B. Cohen, S. B.'s Enigmatic Laughter (Urbana, 1974); B. Scheer-Schaezler, S. B. (N. Y., 1972).

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nach innerer Zufriedenheit erreichen seine Abenteuer ihren Höhepunkt in der Stellung eines Regenmachers bei einem wilden Negerstamm. In der Welt der Primitiven, in der sich ihm die Bedeutung des Irrationalen erschließt, findet er schließlich zu seiner Identität. In Bellows bisher bestem Roman, dem offenbar autobiographisch beeinflußten Herzog (1964), befindet sich der Protagonist, ein Universitätsdozent für Philosophie und Geschichte, nach zwei gescheiterten Ehen in einer Krise, in der er mit sich selbst und der Wirklichkeit wieder in Einklang zu kommen sucht. Das geschieht in Monologen und in (meist nicht abgeschickten) Briefen an die verschiedensten lebenden und bereits gestorbenen Adressaten, in denen er sich zu allen möglichen Fragen des menschlichen Lebens äußert. Es scheint am Ende, daß er seine Verzweiflung überwindet und wieder zu Ausgeglichenheit und Mitmenschlichkeit findet. Ein weiterer Sucher nach dem Lebenssinn ist der kosmopolitische Jude und Überlebende von Auschwitz Sammler, der Held von Mr. Sammler's Planet (1970), der angesichts der Selbstzerstörung unserer Zeit zu seinem Glauben steht, daß der Mensch der Regeln und Vorbilder bedarf. Der schwächere Roman Humboldt's Gift (1975) behandelt erneut das Bellowsche Grundproblem der Wahrheitssuche in einer Auseinandersetzung mit dem Streben nach Reichtum und findet in der Reflexion über den Tod zu einer Bestätigung der transzendenten Werte. Ein auffälliges Merkmal des zeitgenössischen Romans ist das Hervortreten zweier ethnischer Minderheitsgruppen: der Juden und der Schwarzen. War bisher fast die gesamte amerikanische Literatur eine WASP-Literatur ('White Anglo-Saxon Protestants') und kann man selbst bei Mailer, Bellow und dem Halbjuden Salinger nur mit Einschränkungen von einer spezifisch jüdischen Literatur sprechen, so kehren Autoren wie Malamud oder Philip Roth nachdrücklich die Eigenständigkeit des Judentums in einer nicht-jüdischen Gesellschaft hervor. BERNARD MALAMUDS" (geb. 1914) Protagonisten sind jüdische Kleinbürger, wie der arme New Yorker Kolonialwarenhändler in The Assistant (1957) oder der Gelegenheitsarbeiten übernehmende Handwerker in The Fixer (1966), der im zaristischen Rußland zu Unrecht eines Ritualmordes angeklagt wird, einfache Menschen, die Not und Verfolgung erdulden und im Leid ihre Würde bewahren. Eine tiefe Mitmenschlichkeit kennzeichnet auch seine übrigen Romane (A New Life, 1961; Dubin's Lives, 1977). Erzähltechnisch stehen sie alle in der Tradition einer durch symbolische Züge angereicherten realistischen Romankunst. Der einer jüngeren Generation angehörende PHILIP RoTH84 (geb. 1933) schildert jüdische Intellektuelle und legt schonungslos ihre abstoßenden Seiten bloß. Nach Letting Go (1962) und When She Was Good (1964) erreichte 83

S. Richman, B. M., TUSAS (N. Y., 1966); B. M. and the Critics, edd. L. A. and J. W. Field (N. Y., 1970); B. M., CCE, edd. dies. (Englewood Cliffs, N. J., 1975); The Fiction of B. M., edd. R. Astro and J. J. Benson (Corvallis, Oreg., 1977). 84 B. F. Rodgers, P. R., TUSAS (Boston, 1978); S. Pinsker, The Comedy that "Hoits": An Essay on the Fiction of P. R. (Columbia, Mo., 1975).

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er mit dem narzißtischen Portnoy's Complaint (1968), der grotesken, psychoanalytischen Studie der sexuellen Zwangsvorstellungen und Schuldkomplexe eines Außenseiters, einen Skandalerfolg. Ebenfalls umstritten blieb sein letzter Roman, The Professor of Desire (1977), in dem ein Professor Selbstverwirklichung durch Literatur und Sexualität sucht. Der erste bedeutende Roman der Schwarzen ist RICHARD WaiGHTs85 (1908-1960) Native Son (1940), der den Weg eines Negerjungen aus den Chicagoer Slums schildert, der nur Haß, Mißtrauen und Gewalt kennengelernt hat, aus Angst zum Mörder an einer Weißen wird und auf dem elektrischen Stuhl endet. Ein verständnisvoller Anwalt bringt ihn allmählich zur Überwindung seines Hasses, zum Bewußtsein seiner Schuld und zum Selbstverständnis. Außenseitertum und Identitätssuche, die das zentrale Problem der schwarzen Literatur bilden, haben auch in Wrights leidvollen Kindheits- und Jugenderinnerungen erschütternden, unsentimentalen Ausdruck gefunden (Black Boy, 1945). Den eindrucksvollsten schwarzen Roman schrieb RALPH ELLISON86 (geb. 1914) mit The Invisible Man (1952). Die Geschichte erschöpft sich nicht in einer Anklage der weißen Gesellschaft, sondern entfaltet die Suche des Helden nach sich selbst, die ihn zu der Erkenntnis führt, daß er, um sich selbst zu finden, sein eigenes Gesicht wiedererringen muß. Damit aber gewinnt seine Entwicklung über das Ausgangsproblem hinaus allgemeinmenschliche Bedeutsamkeit. JAMES BALDWIN 87 (geb. 1924), der in Go Tell It on the Mountain (1953) eine der besten Darstellungen der ekstatischen Religiosiät der Schwarzen schrieb, verband in Another Country (1962) das Rassenproblem mit der Situation der Homosexuellen als einer anderen Gruppe von Ausgestoßenen der Gesellschaft. In späteren Romanen hat sich Baldwin immer stärker der Predigt von Haß und Gewalt zugewandt (Tell Me How Long the Train's Been Gone, 1968). Es ist eine ähnliche Wendung zur Militanz wie die von LeRoi Jones (s. S. 948), der zunächst eine eigenständige schwarze Literatur sogar abgelehnt hatte, sie aber Mitte der sechziger Jahre als eine großartige Leistung pries. Eine weitere charakteristische Gruppe der Zeit ist die Beat-Bewegung, die sich mit Berufung auf Thoreau, Whitman und Buddha von der bürgerlichen Gesellschaft abkehrte. Die Beats suchten ein Leben der Intensität und Ekstase in einem vagabundierenden Unterwegssein mit Jazz, Sex, Alkohol und Drogen. Eine ihrer Vaterfiguren ist HENRY MiLLER 88 (geb. 1891) mit seiner 85

C. Webb, R. W.: A Biography (N. Y., 1968); E. Margolies, The Art of R. W. (Carbondale, 1969); K. Kinnamon, The Emergence of R. W. (Urbana, 1972); D. Bakish, R. W. (N. Y., 1973). 86 R. E., ed. J. Mersey, CCE (Englewood Cliffs, N. J., 1974); R. G. O'Meally, The Craft of R. W. (Cambr., Mass., 1980). 87 S. Macebuh, J. B.: A Critical Study (N. Y., 1973); J. B.: A Critical Evaluation, ed. T. B. O'Daniel (1977). 88 W. A. Gordon, The Mind and Art of H. M. (Baton Rouge, 1967); K. Widmer, H. M., TUSAS (N. Y., 1963).

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Botschaft freizügiger Sexualität (Tropic of Cancer, 1934, und die Trilogie The Rosy Crucifixion: Sexus, 1949; Plexus, 1953; und Nexus, 1960). Ihre Bibel wurde JACK KEROUACs89 (1922-1969) On the Road (1957): ein Dokument des anarchischen Lebensgefühls eines Teiles der amerikanischen Jugend der fünfziger Jahre. Aus der Beat-Bewegung entwickelte sich die durch Drogen, Perversion und Nihilismus gekennzeichnete Bewegung der Hipsters. Von ihnen erreichte WILLIAM BURROUGHS 90 (geb. 1914) Popularität mit dem Drogen- und Homosexualitätsthema in Junkie (1953) und vor allem mit The Naked Lunch (1959), in dem er zur Beschreibung seiner Alpträume während verschiedener Entziehungskuren surrealistische Techniken des Films nutzt. Alle sein Bücher sind Nachtgemälde von apokalyptischen Halluzinationen, Zwängen und Angstzuständen in jeweils verschiedenem Kontext (The Ticket that Exploded, 1962; Nova Express, 1964) und künden von einem Goldenen Zeitalter, in dem alles erlaubt ist (The Wild Boys, 1972). Zusammen mit Brion Gyson setzt er in The Third Mind (1979) seine Idee einer Anti-Literatur fort, indem er Ausschnitte aus Zeitungsartikeln beliebig arrangiert, um mittels der Schere Spontaneität zu erreichen. Stärker als in England ist in der amerikanischen Literatur der experimentelle Roman weitergeführt worden und eine vorherrschende Form geblieben. So schildert JOHN HAWKES91 (geb. 1925) in seinen vom Schauerroman und von Kafka beeinflußten Romanen eine absurde Wirklichkeit mit phantastischen Landschaften und schauderhaften Vorgängen, indem er den Erzählvorgang fragmentiert. Mord, Kannibalismus und Wahnsinn herrschen in dem im Nachkriegs-Deutschland spielenden The Cannibal (1949) und dem im Kriegs-England spielenden The Lime Twig (1961), die in ihrer Brutalität und Schäbigkeit an die Greene-Welt von Brighton Rock erinnern. In Second Skin (1964), das die Neuenglandküste und den Pazifik als Schauplatz hat, entgeht der Held zwar dem Tod, doch bleibt die Zuverlässigkeit des Ich-Erzählers zweifelhaft, und die in ein mythisches Illyrien verlegte Idylle Blood Oranges (1971) scheitert am Ende. Hawkes ist ein Meister des Prosastils, aber seine Welt ist eine Welt der Scheußlichkeiten und des Ekels. WILLIAM GADDIS (geb. 1922) behandelt in seinem äußerst komplexen und schwierig zu lesenden The Recognitions (1955), einem Werk von Joyceschem Ausmaß und Stilwillen, am Beispiel eines Imitators alter niederländischer Malerei das Thema von Originalität und Fälschung und bezieht neben dem Bereich der Kunst die Wissenschaft, Religion und weitere Gebiete des menschlichen Lebens ein. Ein ähnliches Problem erörtert sein zweiter Roman JR (1977), der die betrügerischen Manipulationen des Schülers einer Schule für jugendliche Straffällige beschreibt, dem es gelingt, die Dummheit und Einfalt 89

A. Charters, J. K.: A Biography (San Francisco, 1973). E. Mottram, W. B.: The Algebra of Need (1977). 91 D. J. Greiner, Comic Terror:The Novels of J. H. (Memphis, 1973); F. Busch, J. H.: A Guide to His Fictions (Syracuse, . ., 1973); J. Kuehl, J. H. and the Craft of Conflict (New Brunswick, N.J., 1975). 90

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der amerikanischen Geschäftswelt in großem Stil auszubeuten. Das umfangreiche Werk ist ohne Kapiteleinteilung und fast ganz im Dialog geschrieben, der zudem von oft betrunkenen, verrückten und sich ändernden Charakteren gesprochen wird. THOMAS PvNCHON 92 (geb. 1937) führt den experimentellen Roman bis zur äußersten Grenze. Die Erzählung Entropy (zuerst 1960 in der Kenyon Review publiziert) ist mit der literarischen Umsetzung des wissenschaftlichen Entropiesatzes eine grundlegende Schlüsselgeschichte für die Weltsicht seiner Romane. Wie hier die Kommunikationsfähigkeit zusammenbricht und die Welt in Desorganisation endet, so handelt sein erster Roman, V (1963), von der Suche nach einer mysteriösen Frau aus der Agentenwelt und entlarvt alle Suche nach der Realität als sinnlos. The Crying of Lot 49 (1966), die Versteigerung von Nr. 49 (einer Briefmarkensammlung), ist eine Variation solcher Suche, voller grotesker, mehrdeutiger Ereignisse. Mit großer Erfindungsgabe und umfassender Gelehrsamkeit hat Pynchon auch in seinem dritten, den Vergleich mit Joyce herausfordernden Roman, Gravity's Rainbow (1973), den Sinn des Lebens und aller Philosophie in Zweifel gezogen, aber die verzweifelte Situation des Menschen zugleich in eine komplexe künstlerische Form gebannt. Alle seine Romane sind mit bizarren Charakteren bevölkert, sie sind voller Anspielungen und Wortspiele und nutzen die verschiedensten Erzähltechniken. Auch DONALD BARTHELME (geb. 1931), dessen stärkere Leistung in seinen Kurzgeschichten liegt (s. S. 1024), experimentiert in seinen Romanen mit surrealistischen Techniken: Fragmenten, Listen, Fragebögen, Zwischentiteln, Collagen. Sein Pop-Roman Snow-White (1967) versetzt die Märchenfigur als Nymphomanin in witzig zerstückelten Episoden in die moderne Zeit, und The Dead Father (1975) hat die Vaterfigur zum Thema, die von den Söhnen und Töchtern unter die Erde gewünscht wird, der sie aber doch nicht entgehen können. Aber all das bleibt literarisches Spiel und bedeutet keine Weiterentwicklung des experimentellen Romans. Ähnliches gilt für RICHARD BRAUTiGAN 93 (geb. 1933), dessen Romane, wie etwa In Watermelon Sugar (1964) und A Confederate General from Big Sur (1965), unter der Oberfläche der parodistischen und witzigen Fragmente ironisch die Leere des amerikanischen Lebens fühlbar machen. Einer der brillantesten Autoren ist JOHN BARTH94 (geb. 1930). Er begann mit zwei Romanen über das moderne amerikanische Leben, von denen nach seinen eigenen Worten The Floating Opera (1956) die komischen und The End of the Road (1958) die tragischen Aspekte des philosophischen Nihilismus schildert. Obwohl die beiden Werke sich durch die Umweltbeschreibung 92

J.W. Slade, T. P. (N. Y., 1974); W. M. Plater, The Grim Phoenix: Reconstructing T. P. (Bloomington, 1978); Ordnung und Entropie: Zum Romanwerk von T. P., ed. H. Ickstadt (Reinbek, 1981). 93 T. Melley, R. B. (N. Y., 1972). 94 J. Tharpe, J. B.: The Comic Sublimity of Paradox (Carbondale, 1974); D. Morell, J. B.: An Introduction (University Park, Pa., 1976).

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noch einigermaßen der realistischen Erzähltradition einfügen, so deuten der schwarze Humor und die ironischen metaphysischen Spekulationen bereits die Richtung an, die Barth mit The Sot Weed Factor (1960) einschlagen sollte. „Der Tabakhändler" ist ein Bericht über die Besiedlung von Maryland, wie sie von Ebenezer Cook, dem Poeta laureatus dieser Provinz, erlebt wird, der 1708 in London ein Gedicht im Hudibras-Stil mit dem Titel The Sot Weed Factor' veröffentlichte. In seiner Mischung von Historic, Pseudohistorie und Legende ist der über 800 Seiten lange Roman, in dem Barth seinem Fabulierdrang, der Freude an unwahrscheinlichen Begebenheiten und dem Spiel mit dem Obszönen freien Lauf läßt, eine virtuose Parodie des historischen und pikaresken Romans. An die Stelle der Pseudohistorie tritt in Giles Goatboy (1966) eine satirische Mythenklitterung, die sich, wie der Untertitel The Revised New Syllabus' andeutet, als eine Revision des Neuen Testaments gibt. Die Welt erscheint unter dem Bild einer Universität mit sich befehdendem Ost- und West-Campus. Hier wieder Frieden zu stiften, fühlt sich der Züge von Christus und Pan verbindende Giles berufen, der von einer Jungfrau geboren, von einem Computer gezeugt und unter Ziegen aufgewachsen ist. Der Roman ist eine routinierte Travestie des Initiationsromans, der beim Leser allerdings umfassende Literaturkenntnisse voraussetzt. In seinem jüngsten Roman, Letters (1979), setzt Barth auch die Kenntnis seiner eigenen Bücher voraus; denn die Briefe werden vom Autor und sechs weiteren Korrespondenten geschrieben, von denen vier frühere Romanfiguren sind. Wird damit der Leserkreis einerseits begrenzter, so scheint Barth anderseits mit der Brieftechnik und vor allem mit dem Bezug auf aktuelle Ereignisse des Jahres 1969 zum realistischen Roman zurückzukehren. Doch wird die scheinbar realistische Technik gleich wieder relativiert, indem die Fakten als Fiktion erscheinen, wodurch der Roman zu einem Kuriosum wird. Der experimentelle Roman mit seinen surrealistischen und absurden Techniken dient auch politisch und sozial engagierten Schriftstellern als Ausdrucksmittel. So brandmarkt JOSEPH HELLER95 (geb. 1923) in seinem Antikriegsroman Catch-22 (1961) die unmenschliche Kriegsmaschinerie und den 'American way of life' als ein absurdes Chaos, in dem Alpträume sich als Wirklichkeit erweisen. KURT VON N EG 96 (geb. 1922) schildert in Slaughterhouse-Five (1969) das grauenhafte Bombardement von Dresden, das er als Kriegsgefangener in einem bunkerähnlichen Kühlhaus unter dem Schlachthof überlebte, und zeichnet mit den Mitteln von Antiutopie und Science fiction eine Welt der Greuel und Torheiten, die man nur mit Ironie und einem achselzuckenden 'So it goes' ertragen kann. KEN KESEY (geb. 1935) nutzt in One Flew Over the Cuckoo's Nest (1962) für das moderne Unterdrückungssystem die Allegorie einer Nervenklinik, in der die Insassen durch Gruppentherapie, Elek95 96

Critical Essays on Catch-22, ed. J. Nagel (Encino, Cal., 1974). P. Reed, K. V. (N. Y., 1972); J. Lundquist, K. V. (N. Y., 1977); R. Giannone, K. V.: A Preface to His Novels (Port Washington/Lo., 1977).

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troschock und Lobotomie vollkommen manipuliert werden; er zeigt aber zugleich die Möglichkeit des Widerstands auf: es gelingt einem Naturburschen, der sich selbst opfert, die übrigen „Patienten" von ihrer Angst zu befreien. JAMES PuRDYS97 (geb. 1923) Romane handeln von Menschen, die sich dem materialistischen Lebensstil nicht anpassen können, die sich nach Liebe sehnen, aber in ihr nur Eigensucht entdecken. In seinem bekanntesten Roman, Malcolm (1959), wird sich der vom Vater verlassene Fünfzehnjährige der Vergeblichkeit seiner Vatersuche bewußt und verliert, von einer lieblosen Welt brutalisiert, seinen Glauben und geht zugrunde. Der groteske Roman Cabot Wright Begins (1964), dessen Protagonist sich nur durch Vergewaltigungen bestätigen kann, benutzt Pornographie zur Sozialkritik. Auch in Eustace Chisolm and the Works (1967) und The House of the Solitary Maggot (1974) prangert Purdy Gewalttätigkeit und Selbstsucht an, paart jedoch seine erbarmungslose Satire mit märchenhaften und allegorischen Zügen und weckt so zugleich Mitgefühl mit den Unschuldigen und Vereinsamten. Sozialkritische Anklage ist auch das Thema von HUBERT SELBYS (geb. 1928) brutalen Romanen, von denen der erste, Last Exit to Brooklyn (1964) in seinem nicht zu überbietenden Naturalismus der beachtlichste geblieben ist - ein wahres Inferno des Großstadtelends mit seiner Kriminalität, Perversion und Gewalttätigkeit. Stärker dem Realismus des traditionellen Romans ist JOHN UPDIKE 98 (geb. 1932) verbunden geblieben. Das Thema seiner Romane sind die menschlichen Beziehungen, vornehmlich im bürgerlichen Mittelstand der Provinz. In dem bizarren The Poorhouse Fair (1959) dienen die Konflikte in einem Altenheim als Spiegel der Probleme des Wohlfahrtsstaats, der an den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen vorbeigeht. Private, soziale und religiöse Verwirrung kennzeichnet in Rabbit, Run (1960) das Leben des 26jährigen Harry Angstrom, der Sohn und Frau verläßt und richtungs- und ziellos aus seinem Durchschnittsdasein auszubrechen versucht. Ehrgeiziger ist The Centaur (1963), in dem Updike mit der Geschichte eines gutmütigen, aber lebensuntüchtigen Lehrers der Naturwissenschaften eine Neugestaltung des Mythos des weisen und menschenfreundlichen Kentauren Chiron versucht. Es ist ein anspruchsvolles Experiment, das jedoch problematisch bleibt, da Updike zu aufdringlich die Parallelen hervorkehrt, das Buch sogar mit einem 'Mythological Index' versieht, statt seine Geschichte für den Mythos nur durchlässig zu machen. Die bis dahin unverkennbare Entwicklung Updikes scheint in den folgenden Romanen unterbrochen, die eher in die Nähe von Sensationsromanen gehören. Dies gilt für den von sexueller Promiskuität handelnden Roman Couples (1967) ebenso wie für Rabbit Redux (1971), in dem der jetzt 10 Jahre 97

H. Chupack, J. P., TUSAS (Boston, 1975); S. D. Adams, J. P. (1976). - Zu P.'s Kurzgeschichten vgl. S. 1023. 98 A. and K. Hamilton, The Elements of J. U. (Grand Rapids, Mich., 1970); R. Detweiler, J. U., TUSAS (N. Y., 1972); J. B. Markle, Fighters and Lovers: Theme in the Novels of J. U. (N. Y., 1973).

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Achtes Buch: Das zwanzigste Jahrhundert

ältere Harry Angstrom seinerseits von seiner Frau verlassen wird und mit seinem Sohn, einer 18jährigen Ausreißerin und einem schwarzen Rebellen einen ungeregelten Haushalt führt. Angstrom bleibt ein Mann, der bereit ist, für alles die Schuld auf sichzunehmen, vor der Verantwortung jedoch immer wieder flieht. In dem letzthin erschienenen Rabbit is Rich (1981) begegnen wir einem abermals 10 Jahre älteren, gereiften Angstrom, der tolerant geworden ist, aber nicht durch die Auseinandersetzung mit seiner Schuld, sondern durch den materiellen Erfolg im Geschäft seines Schwiegervaters. So ist Updike im Grunde ein 'novelist of manners', der jedoch selbst in seinen schwächeren Romanen über eine virtuose, bildkräftige Sprache verfügt. Eine Schriftstellerin von erstaunlicher Produktivität ist JOYCE CAROL OATES" (geb. 1938), Professorin für europäische Literatur an der Universität von Windsor, Ontario. Seit ihrer ersten Sammlung von Short Stories, By the North Gate (1963), hat sie neben Lyrik, Dramen und wissenschaftlichen Arbeiten zehn Romane und ein Dutzend Bände Kurzgeschichten veröffentlicht. Ihr Interesse gilt den 'moral and social conditions' ihrer Generation, und da sie die heutige Welt gekennzeichnet sieht durch Gewalt, Greuel, Existenzangst und Identitätsverlust, stehen ungeheuerliche Vorgänge im Mittelpunkt ihrer Romane und Kurzgeschichten. Blut und Horror, Melodramatik und eine Neigung zu Überzeichnung sind charakteristische Merkmale. Obwohl Miss Oates aus Lockport (nahe Buffalo) stammt, zeigt ihre Kunst eine Verwandtschaft mit der Literatur des Südens. Aber in ihren Augen ist 'Gothicism' keine bestimmte literarische Richtung, sondern 'a fairly realistic assessment of modern life'. Am sichersten erscheint ihre Zeichnung von Figuren aus dem akademischen Leben. Häufig haben ihre Menschen ein Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft, empfinden aber zugleich Furcht vor einer Bindung und Einschränkung ihrer Freiheit. Einige ihrer Erzählungen sind experimentell, in der Regel folgt sie jedoch traditioneller Technik und führt das Geschehen in dramatischer Entwicklung ohne Ruhepunkte zur Katastrophe. Ihr Werk macht bislang einen unausgeglichenen Eindruck. Nicht zuletzt durch die nur variierte Wiederholung ihrer Grundthematik ist ihr bereits umfangreiches Oeuvre umstritten geblieben.

12. Die englische und amerikanische Kurzgeschichte des 20. Jahrhunderts 100 Künstlerischen Rang erreichte die Kurzgeschichte, die als eigene Kunstform gesonderte Betrachtung erfordert. Wie im Drama und Roman wurde in ihr "E. G. Friedman, J. C. O. (N. Y., 1980). - Vgl. etwa die Romane: Childwold (1977); Son of Morning (1978); Unholy Loves (1979); Bellefleur (1980); ferner die Kurzgeschichtensammlungen: Upon the Sweeping Flood (1966); The Wheel of Love (1970); The Seduction (1974); Crossing the Border (1976); A Sentimental Education (1980). 100 Vgl. die Literaturangaben zu Gattungsgeschichte, Interpretationen und Anthologien S. 672, Anm. 54. Ferner: H. E. Bates, The Modern Sh. St.: A Critical Survey (1941); F. O'Connor, The Lonely Voice: A Study of the Sh. St. (N. Y., 1962, Lo. 1963); W. Allen, The Sh. St. in English (Oxf., 1981). - R. B. West, Jr., The Sh. St. in America 1900-50 (Chicago, 1952); W. Peden, The American Sh. St.: Continuity and Change 1940-1975 (Boston, 21975); P. Freese, Die amerikan. Kurzgeschichte nach 1945: Sa-

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zunächst die vom 19. Jahrhundert überkommene realistisch-naturalistische Grundrichtung weitergeführt, dann aber mehr und mehr aufgegeben zugunsten eines vielfältigen formalen Experimentierens, das zu einer eigenen Ausdrucksform führte. Die moderne Short Story will eine Situation ausleuchten, ein Problem oder eine menschliche Haltung enthüllen und ist deshalb als „Erhellungsgeschichte" (story of recognition, revelation oder initiation) bezeichnet worden. Sie unterscheidet sich von der herkömmlichen, handlungsbetonten Erzählung und Novelle und graduell auch vom modernen Roman, da sie sich unter Verzicht auf individuelle Charakterdarstellung und Materialfülle auf menschliche Typen und Grundsituationen beschränken muß und dazu weitgehend verdichteter, andeutungsreicher und symbolkräftiger Darbietungsmittel bedarf. Sie berührt sich darin mit Formtendenzen der modernen Lyrik und hat eine Parallele im modernen auf Entlarvung von Lebensgeheimnissen gerichteten Drama. Im Strahlbereich aller Gattungen stehend und als Kurzform die Möglichkeit bietend, skeptische, beunruhigende Seinsfragen aufzuwerfen, ohne sie beantworten zu müssen, ist so die Short Story eine der modernen Welt gemäße literarische Form geworden. Da sie - scheinbar - leicht zu handhaben ist, in praktischen Handbüchern und Kursen gelehrt und auch gewerbsmäßig für die populären Magazine verfaßt wird, liegt eine überreiche Produktion vor, deren literarhistorisch ordnende Übersicht nur eine umrißhafte Orientierung bieten kann. Während die Kurzgeschichte in Amerika von Anfang an eine große Rolle spielte, wurde sie in England noch um die Jahrhundertwende als künstlerisch leichtwiegendes Nebenprodukt der Romanciers gewertet. Die englischen Kurzgeschichten sind also zunächst Erzählungen herkömmlicher Art, die mit den Mitteln des Romans - sukzessivem Bericht, detailliertem Beschreiben, moralischem Kommentar des allwissenden Autors - eine spannende Handlung, einen interessanten Stoff oder Charakter anschaulich darstellen, nicht aber neue Einsichten oder Fragen erzählerisch darzubieten suchen. Dieser Art sind etwa die Erzählungen von JOHN GALSWORTHY"" (s. S. 950 f.), der eindeutige moralische Konflikte eindeutiger Gesellschaftstypen, verbunden mit reicher Handlung, in den Mittelpunkt stellte (The First and the Last) und nur gelegentlich (wie z. B. in Spindleberries) mit impressionistisch andeutender Technik arbeitet. Ebenfalls in herkömmlichen Bahnen bleiben die Erzählungen von THOMAS HARDY 102 (s. S. 809 ff.), in denen düster-komische, volkstümliche Motive wie in The Three Strangers (in: Wessex Tales, 1888) oder bittere Enttäuschung und Ironie in den Charakterstudien der Sammlung Life's Little Ironies (1894) und A Changed Man (1913) dargestellt werden. Ebenso tradilinger, Malamud, Baldwin, Purdy, Barth (Frankfurt, 1974).- Die amerikan. Sh. St. der Gegenwart: Interpretationen, ed. P. Freese (Bln., 1976). - The Oxford Book of Sh. St.s, ed. V. S. Pritchett (1981); Modern Sh. St.s, EL; 44 Irish Sh. St.s, ed. D. A. Garrity (N. Y., 1955); Great American Sh. St.s, edd. W. and M. Stegner (N. Y., 1957); The Penguin Book of American Sh. St.s, ed. J. Cochrane (Harmondsworth, 1969). 101 Caravan: The Assembled Tales of J. G. (1925). 102 The Short Stories of T. H. (1928).

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tionell wirken die liebenswürdig-humorvollen, u. a. das spätviktorianische Leben englischer Kleinstädte malenden Geschichten von HUGH SEYMOUR WALPOLE (s. S. 961) und die parabelhaft durchsichtigen Erzählungen von ROBERT Louis STEVENSON (s. S. 813 f.), in denen, recht kunstvoll und an Poe geschult, Handlungsverlauf, Raumbeschreibung und Figurendarstellung aufeinander bezogen und zu einheitlichem Ausdruck des meist moralischen Sinngehalts gebracht werden. Noch knapper wußte RUDYARD KIPLING (s. S. 815f.) zu erzählen, jedoch verbleibt seine journalistisch stoffbunte, schnelle und auf grell gesteigerte Szenen und Sprachgebung gerichtete Kurzgeschichte im Bereich der von einer kräftigen Handlung getragenen, herkömmlichen Erzählung. Denkt man hier schon an die französische 'conte', so erst recht bei WILLIAM S. MAUGHAM 103 (s.S. 957), der, seinem Vorbild Maupassant folgend und wie Kipling ferne Schauplätze bevorzugend, mit scharfem Blick für menschliche Schwächen erbarmungslose, aber nie wirklich tief dringende Charakterstudien gab (z. B. Louise, Rain). Selbst der von der perspektivischen Technik des Amerikaners Henry James beeinflußte JOSEPH CONRAD (s.S. 953 ff.), der in die Geheimnisse der menschlichen Existenz hineinzuleuchten sucht und dadurch der Erzählung ein außerordentliches thematisches Gewicht gibt, arbeitet noch mit traditionellen Mitteln, allerdings in neuer Wendung: Die Situationen äußerster Vereinsamung und Bedrohung, in die er seine Menschen stellt, vergegenwärtigt er durch abenteuerlichen Handlungsbericht und gehäuft wortreiche Beschreibung, bringt jedoch diese Elemente wie z. B. in Heart of Darkness - zur Deckung mit dem schrittweisen Eindringen des beunruhigt grübelnden Erzählers in den dunklen Sinn des Geschehens, wodurch sowohl die Handlung wie die räumlichen Gegebenheiten symbolische Bedeutung gewinnen. Dabei arbeitet Conrad wie in seinen Romanen mit reichen Stoffmassen. Auf die Formgeschichte der modernen Kurzgeschichte haben die meist umfänglichen Erzählungen kaum eingewirkt. Erst mit der Sammlung Dubliners (1914)104 von JAMES JOYCE (s. S. 972 ff.), in der sich naturalistische und symbolische Stiltendenzen und Einflüsse durchdringen, tritt die moderne, die weitere Entwicklung der Gattung bestimmende Form der Short Story in den Bereich der englischen Literatur. Zwischen 1903 und 1907 entstanden und bis zu ihrer Veröffentlichung mehrmals umgeschrieben, bilden die fünfzehn Geschichten einen Zyklus, in dem psychologische Streiflichter auf Menschen des Dubliner Alltags geworfen werden zunächst auf Kinder, dann Jugendliche und Erwachsene, dann auf ganze Gesellschaftsgruppen -, die in den Konventionen der Religion, der Bürgerlichkeit, des Berufs oder der Ehe wie in einem Käfig gefangen sind. Die meisten bleiben hoffnungslos in ihrer Illusion und Lähmung befangen, nur einige hochsensible, dem Autor verwandte Naturen erkennen resignierend ihre Lage, so der junge Ich-Erzähler der ersten drei Geschichten, der in The Sisters 103

The Complete Short Stories of W. S. M., 3 Bde. (1951); Best Short Stories of S. M., ed. J. Beecroft, ML (N. V., 1957). 104 Nachdruck PB(1956 u. ö.).

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von dem merkwürdigen Verhalten des gerade gestorbenen Priesters erregt ist und verwirrt die Reden von dessen Schwestern hört, der in An Encounter von Angst vor dem Pervertierten erfaßt wird, und dessen hochgespannte Erwartungen in Araby durch die banale Alltäglichkeit des Basars grausam zerstört werden. Am eindringlichsten vollzieht sich das Erkennen in der großen Schlußerzählung The Dead, worin sich der Autor teils mit der Hauptfigur identifiziert, teils sie aus ironischer Distanz beobachtet. Gabriel Conroy bleibt während einer äußerlich fröhlichen und ganz konventionellen Weihnachtsfeier zunächst in der Illusion seines gesellschaftlichen Erfolges befangen, dann aber durchschaut er - was sich von Anfang an schrittweise vorbereitet - seine Selbsttäuschungen und die Brüchigkeit seiner Ehe und erkennt sich mit den Augen seiner Frau als den Versagenden. Die meisten anderen Personen der Erzählungen verbleiben in der Enge ihrer Illusionen, so etwa Eveline (in der gleichnamigen Geschichte), die nicht wagt, sich aus dem dienenden Verhältnis zu ihrem brutalen Vater zu lösen und dem Werben des auswandernden jungen Mannes zu folgen; oder die vereinsamte, vom Leben betrogene Wäscherin Maria in Clay, die dreamt that I dwelt in marble halls ...' singt; oder die Bürger in Grace, die sich mit einer nur noch äußerlich verstandenen Religiosität zufrieden geben. Wie in den anderen Geschichten das Ahnen oder Erkennen, so unterstreicht Joyce hier das NichtErkenncn durch emotional gesteigerte, pointenhafte Schlußbilder: z. B. in 'Eveline' durch die hilflose, wie gelähmte Haltung des Mädchens, in 'Clay' durch das Lied, in 'Grace' durch die Predigt. Ob mit oder ohne Selbsteinsicht der agierenden Personen, für den Leser sind alle diese Geschichten Augenblicke des Enthüllens und Erkennens, die bei Joyce im Unterschied zu vielen anderen modernen Erhellungsgeschichten einen spirituellen Zug annehmen, gemäß der u. a. in 'Stephen Hero' formulierten Kunstauffassung, wonach die Aufgabe des Künstlers die Darstellung von 'epiphanies' ist. Das erklärt sowohl die Handlungslosigkeit der Joyceschen Geschichten wie ihre Atmosphäre; sie ist nicht Milieu im herkömmlichen Sinn, sondern die in Irland aus Katholizismus und Volkstum erwachsene Situation, die in ihrer konventionellen Erstarrung zu lähmenden Verhaltensweisen zwingt. Zur Vergegenwärtigung der Hoffnungen, Träume und widersprechenden Emotionen seiner Figuren gebraucht Joyce die Technik verschiedener Perspektiven: Ich-Form, erlebte Rede, wechselnden Standpunkt des Autors zu seiner Erzählfigur. Auf diese Weise gelingt es ihm, sein großes Thema - die Spannung zwischen Illusion und Wirklichkeit - überzeugend zu entwickeln. Mit dem russischen Meister der Kurzgeschichte, Tschechow, verbindet ihn die Technik des beiläufigen Anfangs und offenen, schwebenden Endes der Geschichten sowie der Verzicht auf kunstvoll arrangierte, effektvolle Handlung. Ganz in Tschechows Bahnen bewegte sich die, allerdings begrenztere, Kunst der KATHERINE MANSFIELD 105 (= Kathleen Beauchamp, 1888-1923), 105

Collected Stories (1945 u. ö.); Short Stories (1975); Selected Stories, WC; Letters and Journals, ed. C. K. Stead (1977). - A. Alpers, The Life of K. M. (1980); S. L. Berk-

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die, wie Virginia Woolf, in zarten Bildern nach der Erfüllung des menschlich Wesentlichen im gegenwärtigen Augenblick strebte. Ihre Erzählungen werden zur Geschichte dieses Augenblicks, und die Geschichte ihrer Menschen wird in einem momentanen Aufleuchten gegeben. Auffällig ist dabei ihre Liebe zur Miniatur, zum Zerbrechlichen, zu Kindheitserinnerungen und ihre Bevorzugung heranwachsender Mädchen gegenüber Männergestalten. Sie greift in ihren atmosphärischen Gemälden mit Vorliebe zum Schlüsselwort oder zum Symbol, wie der kleinen Lampe im Puppenhaus, dem alten Pelz der Miss Brill, dem Aloestrauch oder dem Birnbaum in 'Bliss'. Sie schrieb nur sehr kurze Geschichten, deren beste in Bliss (1920), The Garden Party (1922), The Dove's Nest (1923) und Something Childish (1924) gesammelt sind; die längste Erzählung Prelude (1918), die in einzelne Stimmungsbilder zerlegbar ist, zeigt die Grenze ihrer Kunst. Sie tritt auch in anderen Geschichten zutage, welche die persönliche Stimme der Erzählerin mit der ihrer Figuren verschwimmen lassen. Ohne über Tschechows künstlerische Objektivität und reife Menschenkenntnis zu verfügen, gelingen ihr am besten die knappen, mit behutsamen Strichen zeichnenden Wortskizzen, in denen sie gleichsam für einen Augenblick den Vorhang von der gewöhnlichen Erscheinungswelt zurückzieht, um den Leser mit den Augen und Empfindungen ihrer Jungmädchengestalten Wahres und Erschreckendes sehen zu lassen. Welche Beseelung dieser impressionistischen Kunst innewohnt, und wie hingebend das dichterische Ringen dieser früh verstorbenen Künstlerin war, offenbaren das von ihrem Gatten, dem Kritiker und Literarhistoriker J. M. Murry (1889-1957) herausgegebene Journal (1927, 21954), die Letters (1928 und 1951) und das Scrapbook (1939). Wie Katherine Mansfield brachte auch ALFRED EDGAR COPPARD106 (1878-1957) in Sammlungen wie Adam and Eve and Pinch Me (1921), Clorinda Walks in Heaven (1922) und Silver Circus (1928) eine lyrische Tönung in das Erzählen, ohne allerdings das Niveau der Mansfield zu erlangen. Ähnliches gilt für die träumerisch schwebenden Geschichten von WALTER DE LA MÄRE107 (s. S. 864). Beachtlich sind die zwischen Erzählung und Analyse schwebenden Kurzgeschichten von ELIZABETH BowEN108 (s. S. 976) (vgl. die Bücher Joining Charles, 1929; The Cat Jumps, 1934; Look at all those Roses, 1941; The Demon Lover, 1945). Auch die stillen, an Tschechow geschulten Geschichten von HERBERT ERNEST BATES109 (geb. 1905) zeigen einen sensiblen Künstler der Kurzform. Größeres Gewicht haben Handlung und Thematik in den Erzählungen von DAVID HERBERT LAWRENCE HO (s.S. 970ff.). Wie in seinen Romanen steman, K. M.: A Critical Study (New Haven, 1951). Vgl. auch F. A. Lea, The Life of J. M. Murry (1959). 106 Selected Stories (l972). 107 Collected Tales (N. Y., 1950); Best Stories (1942). 108 Selected Stories (1946); Collected Stories, intr. A. Wilson (1980). 109 Selected Short Stories (1951); Country Tales: Collected Short Stories (Bath, 1974). 110 Complete Short Stories in der Phoenix Edn. (1955); Short Stories, PB (1971).

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hen auch hier Menschen im Mittelpunkt, die den magischen Kräften des Eros ausgeliefert sind. Lawrence überzeugt durch die Intensität der alle Sinne ansprechenden Darstellung des Elementaren, was ihm in der Kurzform oft besser gelingt als in seinen Romanen, da sie ihn zu objektiverem, die Flut seiner Emotionen zügelnden Gestalten zwingt. Das gilt schon für einige seiner f rühesten Kurzgeschichten (z. B. Daughters of the Vicar, The Shades of Spring, Love Among the Haystacks) und besonders für die späten und längeren Erzählungen The Man Who Loved Islands, The Fox, The White Stocking, The Ladybird, The Captain's Doll, The Horsedealer's Daughter. Während Lawrence im allgemeinen die herkömmlichen Mittel eines klaren beschreibenden und berichtenden Erzählens wählt, verwendet er in einigen Skizzen die andeutende Technik der Erhellungsgeschichte, wie etwa in You Touched Me, Goose Fair, The Christening und vor allem in Second Best, worin das Heranreifen des von Liebe angerührten Mädchens Francis durch Kontrastierung mit der noch ganz naiven Anne bei einer zufälligen Alltagsepisode „enthüllt" wird. In Irland traten nach James Joyce noch eine Reihe bedeutender Kurzgeschichtenautoren hervor. LIAM O'FLAHERTY'" (geb. 1897) schrieb überraschend lebendige Skizzen und ereignisreiche Geschichten über irische Bauern, Fischer und Landstreicher, wobei er dramatische Bewegung mit einer das Idyllische wie das Rauhe umgreifenden Darstellungskraft verband. Poetisch stiller sind die Kurzgeschichten von SEÄN O'FAOLÄiN112 (geb. 1900), die den Zauber der irischen Landschaft und ihrer Menschen einfangen. Von seinen Sammlungen (Midsummer Night Madness, 1932; A Purse of Coppers, 1937; Teresa, 1947) ist die letzte die reifste, in deren Titelgeschichte das Seelenbild einer jungen schönen Nonne gezeichnet wird, die schließlich das Kloster verläßt. In dem Buch The Short Story (1951) hat O'Faoläin seine Gedanken über die Kurzgeschichte niedergelegt. Der bedeutendste der neueren irischen Autoren, FRANK O'CONNOR 113 (Pseudonym für Michael O'Donovan, 1903-1966), ist zwar weniger feinsinnig als O'Faoläin, erreicht aber gelegentlich das Niveau der Dubliners. Er schrieb vorwiegend temperamentvoll bewegte Geschichten wie First Confession oder The Drunkard, worin er die problematische Spannung und seelische Not mit possenhafter Komik verband, und vielleicht hat gerade dieser karikierende Zug dem Autor eine große Leserschaft in Amerika gebracht. Eindrucksvoll ist Guests of the Nation (1931), die Geschichte von zwei Soldaten der I. R. A., die zwei gefangene Engländer zu bewachen haben und mit ihnen Freundschaft schließen, sie dann aber auf Befehl als Geiseln erschießen müssen. Aus der Ich-Perspektive 111

The Stories of L. O'F. (1937, 1966). - P. A. Doyle, L. O'F., TEAS (N. Y., 1971); J. Zneimer, The Literary Vision of L.O'F. (Syracuse, N. Y., 1970); A. A. Kelly, L. O'F.: The Storyteller (1976). 112 The Stories of S. O'F. (1958); Selected Stories (1978). - P.A. Doyle, S. O'F., TEAS (N. Y., 1968); J. S. Rippier, The Short Stories of S. O'F.: A Study in Descriptive Techniques (Gerrards Cross, 1976). 113 Stories of F. O'C. ( . ., 1952, 1966).

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eines der Iren erzählend, fügte O'Connor die seelische Komplikation und ihre grausame Auflösung, die den Erzähler in grenzenloser Vereinsamung zurückläßt, zu seltener dramatischer und psychischer Dichte. Stärker als in den europäischen Ländern steht die Kurzgeschichte im literarischen Schaffen Amerikas im Vordergrund, begünstigt durch den großen Bedarf der Zeitschriften, das Fehlen einer dem viktorianischen England vergleichbaren Romantradition und die Vorliebe des Amerikaners für die knappe Form. Die um die Jahrhundertwende dominierenden Geschichten mit straffer Handlung, interessantem Stoff und realistischem Lokalkolorit setzen E. A. Poe und Bret Harte fort. Dabei entartete die Kurzgeschichte vielfach zum Massenartikel, wofür die mit journalistischem Geschick geschriebenen Kurzgeschichten (z. B. Gallegher and Other Sories, 1891, oder Van Bibberand Others, 1892) des als Kriegsberichterstatter geschätzten RICHARD HARDING DAVis114 (1864-1916) ein Beispiel sind. Auch das liebenswürdige Talent von HENRY C. BUNNER (1855-96) erreichte mit seinen an Maupassant geschulten Novellen Short Sixes (1890), denen er zahlreiche New Yorker Erzählungen und Skizzen folgen ließ, nur eine Oberflächenwiedergabe des Lebens. Das gilt ebenso für die treffsicheren, teils komischen, teils rührenden Geschichten von O. HENRY 115 (Pseudonym für William Sydney Porter, 1862-1910), der (besonders durch die Sammlung The Four Million, 1906) eine beispiellose Beliebtheit errang. Aber wirkungsvolle Halbweltgestalten wie Soapy in The Cop and the Anthem und die zahlreichen burlesken Begebenheiten haben nur die Einprägsamkeit der Karikatur; auch das Überraschungsmoment der O. Henryschen Geschichten ist nur der alte Kunstgriff, den Leser eine Zeitlang in Unkenntnis des wahren Sachverhalts zu lassen. Selbst die berühmte Erzählung The Gift of the Magi, in der die junge Ehefrau ihr schönes Haar verkauft, um ihrem Mann zu Weihnachten eine Uhrkette zu schenken, und ihr Mann seine Uhr versetzt, um seiner Frau einen kostbaren Kamm kaufen zu können, enthält außer dem konventionell Rührenden nur eine geschickt über Kreuz geführte, dem Leser erst am Schluß ganz aufgedeckte Handlung. Neue Stoff- und Gefühlsbereiche will JACK LONDON 116 (s. S. 964) mit seinen Erzählungen erschließen. Dem Beispiel Kiplings folgend, bevorzugt er die Darstellung des Primitiven und Brutalen im Leben von Mensch und Tier am Rande der Zivilisation, in Alaska und der Südsee. Meist bleibt es beim Bericht sensationell aufgemachter Gewaltsamkeiten; nur selten, wie z. B. in der Goldgräbergeschichte The Faith of Men oder der von religiöser Glaubenstreue handelnden Erzählung The God of His Fathers, kann man von Tragik oder weltanschaulichem Gewicht sprechen. 114

The Novels and Stories of R. H. D., 12 Bde. (N. Y., 1916); gute Kurzgeschichtenauswahl: From 'Gallegher' to The Deserters', ed. R. Burlingame (N. Y., 1927). 115 The Complete Works of O. H., ed. W. L. Phelps (Garden City, N. Y, 1937); Best Short Stories of . ., ed. B. Cerf and Van H. Cartmell, ML ( . ., 1945). Biographie von G. Langford (N. Y, 1957). 116 Auswahlbände: Best Short Stories of J. L. (Garden City, N. Y., 1945); Short Stories, ed. M. Geismar (N.Y., 1960).

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In diesen stofflich vordergründigen Kurzgeschichten spürt man den Einfluß des französischen Naturalismus, der in der einseitig sozialkritischen Wirklichkeitsdarstellung THEODORE DREISERS II? (s. S. 962 f.) beherrschend wird. Da aber Dreiser stets mit großer Stoffhäufung arbeitete, ist er überzeugender im Roman. Was dort zu einer Welt sozialen Unrechts anwächst und greifbar wird, muß in der Kurzform unausgefüllte Skizze bleiben, zumal der Autor kaum den Versuch macht, die Sonderart eines Menschen oder die psychologische Vielschichtigkeit einer Situation in den Mittelpunkt zu stellen. Seine Milieubilder sind immer nur Illustrationen der vereinfachenden Annahme, daß das Böse die Folge einer widersinnigen modernen Gesellschaftsordnung sei. Dies beeinträchtigt auch so starke Erzählungen wie Typhoon; lediglich in The Lost Phoebe gelingt es Dreiser, der hier mehr den Grundmotiven einer Volkserzählung als einer sozialen Theorie folgt, die Fülle der menschlichen Existenz zu gestalten. Im Gegensatz zu Dreiser weisen die Kurzgeschichten von SHERWOOD ANDERSON118 (s. S. 964) über die Grenzen des naturalistischen Milieus und Menschenbildes hinaus. Er erregte zuerst Aufsehen mit Winesburg, Ohio (1919), einer Reihe von Charakterskizzen, die das Gefühlsleben von Männern und Frauen einer Kleinstadt des mittleren Westens in den Mittelpunkt rücken. Die Geschichten des Zyklus werden zusammengehalten durch den Schauplatz, die Thematik, den Erzähler und den jungen Reporter John Willard, dessen Bewußtseinsentwicklung für Anderson von zentraler Bedeutung war. Im Kontakt mit Bewohnern von Winesburg, die sich dem „normalen" Leben nicht einfügen und ihm ihre Isolation und ihre Frustrationen enthüllen, werden unter der scheinbar intakten Oberfläche Verkümmerung, Dumpfheit und Verbitterung sichtbar. Die Zeitgenossen waren fasziniert von den Porträts, die tagträumerisch monologisierend ins Formlose zu verschwimmen scheinen und dadurch den Eindruck des Lebens als eines 'loose flowing thing' geben. Die späteren Sammlungen wie The Triumph of the Egg (1921), Horses and Men (1923), Death in the Woods (1933) stehen nicht mehr auf derselben Höhe, obwohl einzelne Geschichten technisch vollendete Gestaltungen sind, so I'm a Fool, The Egg, Seeds und / Want to Know Why. Besonders die letztgenannte Erzählung ist von Bedeutung, da sie das Desillusions- und Erkenntnisthema in die amerikanische Kurzgeschichte einführte und unmittelbar auf Hemingways 'My Old Man' eingewirkt hat. Allerdings hat sich Anderson von vereinfachenden Wirklichkeitsvorstellungen, vor allem der Gleichsetzung von natürlichem Leben und sexueller Ungehemmtheit nie ganz freimachen können. JOHN STEINBECK119 (s. S. 996), der einer jüngeren Generation angehört und bereits das Vorbild der Hemingwayschen Short Story vor Augen hat, gelangte schnell über die anfängliche Sozialkritik hinaus zu einem menschlichen Ver117

The Best Short Stories of T. D., ed. H. Fast (Cleveland, O., 1947). Winesburg, Ohio (N. Y./Harmondsworth, 1976); Short Stories (N. 19'The · _ Portable D^r»fiKla Steinbeck, CtoinKo^L- ed. » D Covici C*m',^ /"M P. (N. V Y., 22l1946).

118

., 1962).

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stehen. In dem vier Erzählungen umfassenden Zyklus The Red Pony (1933-45) erfährt der auf einer kalifornischen Ranch lebende Junge zum erstenmal Lieblosigkeit und Leere in den Lebensgewohnheiten seiner Familie; in Chrysanthemums (aus der Sammlung The Lang Valley, 1938) wird eine alternde, seelisch verkümmerte Frau schmerzlich inne, daß sie ihre weibliche Anziehungskraft verloren hat; selbst die sozialen Protest erhebende Erzählung The Raid (aus derselben Sammlung) läßt menschlichen Regungen Raum. ERSKINE CALDWELL120 (s. S. 998f.) dagegen bleibt in seinen mit routinierter Technik geschriebenen Short Stories über die Neger und „armen Weißen" des tiefen Südens in der Milieuschilderung stecken. Er geht oft einfach auf Schauereffekte aus (vgl. die Lynchgeschichten Saturday Afternoon und Kneel to the Rising Sun), gestaltet aber auch mit volkstümlichem, mitunter ingrimmigem Humor (vgl. Country Full of Swedes; The Midwinter Guest; Grass Fire). Humorvolle Skizzen ganz anderer Art, urbaner, ironischer, gibt DOROTHY PARKER 121 (1893-1967) in einem an Hemingway geschulten knappen und andeutungsreichen Dialog. Die eigentlich bedeutende moderne Short Story ist aus dem skeptischen Lebensgefühl der „verlorenen Generation" nach dem ersten Weltkrieg hervorgegangen. Dabei handelt es sich weniger um spannend aufgebaute Handlung, naturalistische Milieuschilderung oder schwankhafte Szenen als um Einsichten in die Fragwürdigkeit der menschlichen Existenz und um die Suche nach beständigen Werten. Der sukzessive Erzählbericht tritt zurück zugunsten eines analysierenden Verfahrens, eines Prüfens, Ausleuchtens und Enthüllens einer menschlich bedeutsamen Situation. Anklänge dazu finden sich schon bei Hawthorne und Melville, beherrschend wird das Verfahren bei HENRY JAMES (s. S. 830 ff.), der die Hawthornesche Situationserzählung durch differenziertere Psychologie und Kompositionsweise künstlerisch steigerte. Die Thematik und Technik ihres Meisters Henry James übernahm EDITH WHARTON 122 (s. S. 965f.) die allerdings noch stärker als James eine novellistische, auf Höhepunkte und plötzlichen Fall zugespitzte Handlungsführung bevorzugt. Das entspricht ihrer Definition der Short Story (in The Writing of Fiction, 1925), die französischen Formsinn mit russischer Tiefe verbinden soll. Im wesentlichen bedeutet das eine Anlehnung an die europäische Tradition der „Novelle". F. SCOTT FITZGERALDS123 (s. S. 995 f.) Kurzgeschichten kreisen um das Thema der Gesellschaft, verengt auf die haltlose Generation des Jazz-Zeitalters 120

The Complete Stories of E. C, (Boston, 1953); Auswahl: E. C.'s Men and Women, Twenty-Two Stories ed. C. Collins (Boston, 1961). 121 The Portable D. P., introd. W. S. Maugham (N. Y., 1944); The Best of D. P. (1952). A. F. Kinney, D. P., TUSAS (Boston, 1978). 122 The Best Short Stories of E. W., ed. W. Andrews (N. Y., 1958). 123 The Portable F. S. F., ed. D. Parker (N. Y., 1945); The Stories of F. S. F., ed. M. Cowley (N. Y., 1951 u. ö.); Afternoon of an Author: A Selection of Uncollected Stories and Essays, ed. A. Mizener (Princeton, 1957); Collected Stories, PB. - J. A. Higgins, F. S. F.: A Study of the Stories (N. Y., 1971).

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und formal variiert durch einen filmisch schnellen Szenenwechsel. Als geborener Erzähler hat er die Welt des Scheins, in der er selber lebte, eindrucksvoll geschildert. May Day, The Rich Boy und besonders Babylon Revisited heben sich aus der Fülle seiner oft nur zeitgeschichtlich interessanten Schriftstellerei heraus. Die eigentlichen Erneuerer und Meister der modernen amerikanischen Short Story sind Hemingway und Faulkner. ERNEST HEMINGWAY 124 (s. S. 993ff.), der mit reportagehaft knappen, kaum mehr als eine Seite umfassenden Skizzen von Kriegs- und Stierkampfepisoden begann ( Three Stories and Ten Poems, 1923; In Our Time, 1924), vermochte durch seine Technik lakonischer Dialoge und der äußeren und kargen, aber andeutungsreichen Schilderung die frühere „Skizze" zur Kunstform und das scheinbar naturalistisch Konkrete zum Symbol der menschlichen Existenz zu erheben. In den folgenden Sammlungen (Men Without Women, 1927; Winner Take Nothing, 1933) entwickelte er vor allem die von Anderson und Joyce übernommene Erhellungsgeschichte. So muß in My Old Man der Junge Joe, ähnlich wie in Andersons Want to Know Why', die Wahrheit über seinen Vater, einen Jockey, erfahren, den er bisher wie einen Helden verehrt hat; in The Killers wird Nick Adams, dem Helden mehrerer Erzählungen Hemingways, die Bösartigkeit eines von Gangstern und sinnloser Todesdrohung beherrschten Lebens enthüllt. A Clean, Well-Lighted Place bekennt, daß der Mensch eines Minimums an Sicherheit, Heimat und Ordnung bedarf und selbst für ein sauberes, hell erleuchtetes Restaurant dankbar ist, in dem er allabendlich sitzen darf, bis es geschlossen wird. Aus einer wilden Parodie des Vaterunsers spricht die Verzweiflung, daß dem Vereinsamten die überkommenen religiösen Formen keine Geborgenheit mehr geben können. Ähnlich wird in Geschichten wie Hills Like White Elephants, A Canary for One, Cat in the Rain, The Light of the World und besonders The Snows of Kilimanjaro die Erkenntnis, daß Liebe, Glück oder Lebensauftrag unwiederbringlich verloren sind, zur schmerzlichen Gewißheit. Daneben finden sich eine Reihe Erzählungen traditioneller Art mit einer reicher ausgeführten Handlung. Dazu zählen The Capital of the World, Fifty Grand und The Undefeated, worin der alt und ungeschickt gewordene Matador Manuel Gracia zwar äußerlich unterliegt, aber dennoch unbesiegbar bleibt. Von besonderem formgeschichtlichen Interesse - als Verbindung von Geschehniserzählung und Erhellungsgeschichte - ist eine Erzählung wie The Short Happy Life of Francis Macomber (1936), die, wie alle späteren Geschichten Hemingways, wesentlich länger ist als die früheren Skizzen und eine vollere Entwicklung des Themas gestattet. Dabei wird immer deutlicher, daß in der so rauh und brutal erscheinenden Welt der Hemingwayschen Kurzgeschichte eine Sehnsucht nach Glück und Frieden mitschwingt und Trauer über deren Verlust. Eine bewundernswert diszipli124

The First Forty-Nine Stories (1944 u. ö.); The Short Stories of E. H., ML; Selected Short Stories (1972); The Essential H. (1947). - The Short Stories of E. H.: Critical Essays, ed. J. J. Benson (Durham, N. C, 1975).

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nierte Sprache, die alles Überflüssige und jede Übertreibung meidet, vermag durch einfachste Mittel, wie die Wiederholung von Schlüsselwörtern, suggestive Wirkungen zu erreichen. Im Gegensatz zu den überall lokalisierbaren, auf menschliche Grundsituationen zurückgeführten Kurzgeschichten Hemingways ist in WILLIAM FAULKNERs 125 (s. S. 999 ff.) Werk der im Niedergang begriffene Süden Thema und Schicksalshintergrund. Diese ins schreckhaft Düstere gesteigerte Welt mit dem quälend schuldbeladenen Verhältnis zwischen Weißen und Farbigen ist Sinnbild für menschliche Not und Schuldverstrickung überhaupt. Die Technik einer überraschenden Schlußenthüllung zeigt die grauenvolle Geschichte A Rose for Emily. Das alte Herrenhaus ist von neuen Tankstellen eingeengt, und die mitleiderregende Emily, die sich der harten Gegenwart nicht anpassen kann, lebt einem trostlosen Alter entgegen. Betrogen und in ihrem Stolz zutiefst verletzt, ermordet sie ihren leichtfertigen Liebhaber und sucht durch Aufbewahrung seiner Leiche in ihrem Schlafzimmer während der langen Jahre ihres Lebens den natürlichen Verfall aufzuhalten und eine nie existierende Liebe zu bewahren. Weniger forciert wirken Erzählungen wie Turnabout, eine der wenigen in Europa spielenden und das Kriegsthema behandelnden Kurzgeschichten Faulkners. Neben solchen Stücken mit abgerundeter Handlung finden sich von Anderson beeinflußte Erhellungsgeschichten, wie Thai Evening Sun, worin drei Kinder einer grauenerregenden Entdeckung ausgesetzt werden. Sie bemerken plötzlich die Todesangst ihrer Negermagd Nancy, deren Leben schutzlos zwischen der Welt der Weißen und der Farbigen steht und die der Ermordung durch ihren rasenden Negerliebhaber entgegensehen muß. Der Junge Jason kommt zu dem einfachen Schluß, daß er selbst, da er ein Weißer ist, nichts zu fürchten braucht; Caddy Compson wird vom Wesen des Bösen angerührt und verwirrt; Quentin, der inzwischen erwachsene Erzähler, der sich in die Situation zurückversetzt, scheint erkannt zu haben, daß das Wissen vom Bösen die Grundbedingung reifer menschlicher Existenz ist. In The Bear, einer der bedeutendsten Geschichten Faulkners, durchdringen sich, wie in Hemingways 'Short Happy Life of Francis Macomber', ein zentraler Erkenntnisakt und die weiterführende Handlung. Allerdings erzählt Faulkner im Gegensatz zu Hemingway mit komplizierter, zeitverschränkender Bewußtseinsstromtechnik aus der Perspektive Isaac (Ike) McCaslins, des aristokratischen Erben großer Ländereien, der die Tötung des lange gejagten, die Freiheit der Wildnis verkörpernden Bären Old Ben und den Tod des naturverbundenen Halbbluts Sam Fathers erlebt und zur Einsicht in die Schuld der Vorfahren und zur Sühne gelangt. Auch in anderen Erzählungen, wie z. B. Spotted Horses oder Delta Autumn, wirkt Faulkner durch mehr oder weniger starkes Einbeziehen der Bewußtseinsverläufe komplexer als der vorwiegend reportagehaft arbeitende Hemingway, vermeidet allerdings nicht immer die Gefahr einer gesuchten, rhetorisch schweren Sprachgebung. 125

Collected Stories of W. F., Vintage Books Edn. ( . ., 1977); The F. Reader (N. Y., 1954).

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Die amerikanischen Kurzgeschichtenautoren der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre stehen fast alle unter dem thematischen und formalen Einfluß Hemingways und Faulkners, wobei Faulkners psychologisch reichere und regional verwurzelte Erzählung allmählich die Führung erhält. Sie hat vornehmlich auf die zahlreichen Vertreter des Südens eingewirkt, so auf KATHERINE ANNE PORTER126 (1890-1980), die als eine der besten amerikanischen Erzählerinnen gilt. Ihre formal sicheren, psychologisch tiefschürfenden Geschichten, von denen einige, wie z. B. Old Mortality, nahezu Romanumfang erreichen, spielen in Texas, Louisiana und Mexiko. Sie werden durchweg aus dem Bewußtsein von Mädchen oder Frauen erzählt, in sachlich klarem Stil, der sich aber so stark einer andeutenden Technik bedient, daß die Aufhellung der Geschehnisse dem Leser überlassen bleibt. In The Jilting of Granny Weatherall erleben wir die letzten, auf eine nie verwundene Demütigung zurückschweifenden Bewußtseinsfolgen einer Sterbenden; Maria Conception erzählt aus der Sicht der mexikanischen Titelheldin, wie sie die Geliebte ihres Mannes erschlägt, um seine Liebe wiederzuerlangen; in Pale Horse, Pale Rider erfährt eine junge Journalistin, deren Geliebter noch vor der Einschiffung nach Europa und ironischerweise am Waffenstillstandstage stirbt, die Sinnlosigkeit des Krieges, die vorher hinter patriotischen Wahlsprüchen verborgen war. Einige der ruhigen, in konservativ ausgewogenem und gepflegtem Stil geschriebenen Geschichten von CAROLINE GORDON 127 (geb. 1895) erreichen das Niveau von K. A. Porter, z. B. Her Quaint Honor oder Old Red, worin ein alter Mann rückblickend nach und nach den Sinn seines Lebens erkennt. Andere ihrer Geschichten wirken durch zu gewichtige Sprachgebung schwerfällig. Ungleich wirkt auch der Kurzgeschichtenband128 des als Dichter, Erzähler und Kritiker hervorgetretenen ROBERT PENN WARREN (s. S. 1001), der Charaktere lebendig hinzustellen weiß und die lokale Umgangssprache meisterhaft beherrscht. Seine Erhellungsgeschichte Blackberry Winter ist, wie Faulkners That Evening Sun', aus dem Blickwinkel eines Jungen und aus der Retrospektive des Erwachsenen geschrieben. Von den Autoren des Südens der folgenden Generation hat EUDORA WELTY129 (geb. 1909) besondere Beachtung gefunden; mit psychologischem Feingefühl beleuchtet sie kritische Augenblicke im Leben einfacher Menschen des Südens: etwa die plötzlich aufflammende Liebe der jungen Negerin Livvie zu dem jugendstarken Cash, während der alte, begüterte Mann, der sie vor Jahren geheiratet hat, im Sterben liegt (Livvie Is Back}; die fiebrigen 126

The Collected Stories of K. A. P. (1967); The Days Before (N. Y., 1952) [kritische Essays]. - H. J. Mooney, Jr., The Fiction and Criticism of K. A. P. (Pittsburgh,21962); W. L. Nance, K. A. P. and the Art of Rejection (Chapel Hill, 1964); G. Hendrick, K. A. P. (New Haven, 1965); M. M. Liberman, K. A. P.'s Fiction (Detroit, 1973). 127 The Collected Stories of C. G., intr. R. P. Warren (1981). 128 The Circus in the Attic a. o. Stories (N. Y., 1948). 129 Collected Stories (1981); Selected Stories, ML (N. Y., 1954); Thirteen Stories, ed. R. M. Vande Kieft (N. Y., 1965); The Eye of the Story: Selected Essays and Reviews (N. Y., 1942; repr. 1978).- R. M. Vande Kieft, E.W. (N. Y, 1962); M. Kreyling, E.W.'s Achievement of Order (Louisiana State U.P., 1980).

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Spannungen innerhalb einer Familie, die durch die Rückkehr der offenbar in ihrer Ehe gescheiterten Tochter zum Ausbruch kommen (Why I Live at the P, O.)', den Schock, den ein Negermusiker zu überwinden sucht, der während einer Konzertpause ein Telegramm mit der Nachricht vom Tode seiner Frau erhält (Powerhouse); oder die Erregung und das Entsetzen des Mädchens, das als Angehörige einer Jugendgruppe pflichtgemäß zwei kranke Frauen im Krankenhaus besucht (A Visit of Charity). Eudora Weltys Stil ist ausdrucksstark und knapp; die Atmosphäre des Milieus weiß sie als feines Mittel der Charakterisierung sparsam, aber wirkungsvoll zu verwenden. Literarisches Niveau haben auch die von verhaltenem Humor erfüllten stillen Geschichten von PETER TAYLOR130 (geb. 1917), in denen die altmodische Atmosphäre des Familienlebens herrscht. CARSON McCuLLERS (s. S. 1001) wendet sich vornehmlich den quälenden Problemen der Adoleszenz oder neurotisch gespannter Zustände zu, denen sie mit seltener, mitunter morbider Sensibilität und in einem atmosphärisch schwebenden Stil nachtastet. Die für den Süden charakteristische Mischung von „gotischen" und humorvoll-komischen Elementen ist ebenfalls für die aus Georgia gebürtige FLANNERY O'CONNOR131 (1925-1964) kennzeichnend. Was ihre beiden Sammelbände, A Good Man is Hard to Find (1955) und Everything that Rises Must Converge (1965), jedoch von den übrigen Schriftstellern des Südens unterscheidet, ist die tiefe, katholische Religiosität, die in den Vorgängen das Mysterium der Gnade und Erlösung aufleuchten läßt. Bei TRUMAN CAPOTE (s. S. 1002) dagegen ist die esoterisch-raffinierte Verwendung von Symbolik und Atmosphäre wie bei Poe Selbstzweck; sie dient nicht der Darstellung, Prüfung oder Erkenntnis neuer Seinsgehalte. Den grotesken Einzelheiten einer Geschichte wie The House of Flowers oder Miriam fehlt die Bedeutungskraft, die sie etwa in Kafkas Kurzgeschichten gewinnen. In der zeitgenössischen Short Story stehen wie im modernen amerikanischen Roman konventionellere Formen neben experimentellen. Bei zahlreichen Autoren, wie bei Salinger, Malamud, Purdy, Cheever oder Updike, ist kein Bruch mit der Tradition erfolgt, vielmehr sind Bewußtseinsanalyse und Sozialkritik - jetzt in veränderter Situation - die Hauptthemen geblieben. Der erfolgreichste Autor war in den fünfziger Jahren J. D. SALINGER (s. S. 1002 f.), in dessen Kurzgeschichten (Nine Stories, 1953) die Hauptrolle, wie in seinem Roman The Catcher in the Rye, Kindern und Jugendlichen zufällt, die im Gegensatz zu der Welt der Erwachsenen stehen und sich ein Traumreich schaffen. Doch zeichnet sich in den letzten beiden Geschichten auch schon eine andere Möglichkeit zur Überwindung des Leidens an dieser Welt ab: die Hinwendung zu einer kontemplativen Haltung nach dem Vorbild des Zen-Buddhismus. Salingers Kurzgeschichten sind in karger, unsentimentaler, 130 131

P.T.: Collected Stories (1981). The Complete Stories ( . ., 1971); The Habit of Being: Letters, ed. S. Fitzgerald (N. Y., 1978). - M. Orvel, Invisible Parade: The Fiction of F. O'C. (Philad., 1972); M. Stephens, The Question of F. O'C. (Baton Rouge, 1973); D.T. McFarland, F.O'C. ( . ., 1976).

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nuancierter Umgangssprache und vorwiegend im Dialog geschrieben und machen in krisenhaften Augenblicken, die in einem Epiphanieerlebnis gipfeln, menschliches Schicksal sichtbar. In der ersten Geschichte der Sammlung, A Perfect Day for Bananafish, begegnen wir mit Seymour, der am Ende des Tages in einem Hotel in Miami Beach Selbstmord begeht, dem ältesten der sieben begabten Kinder der irisch-jüdischen Familie Glass. Die Geschichte erwies sich später als ein erster Baustein zu einer Chronik der GlassFamilie, die Salinger in den folgenden Jahren um fünf längere Teilstücke ergänzte: Franny und Zooey (1961), Raise High the Roof Beam, Carpenters und Seymour: An Introduction (1963) sowie Hapworth 16, 1924 (1965), einen Brief, den Seymour im Alter von 7 Jahren aus einem Sommerlager nach Hause schrieb, in dem bereits Gedanken fernöstlicher Mystik anklingen und Seymour seinen Tod im Alter von etwa 30 Jahren voraussagt. Seitdem ist Salinger verstummt, und es bestehen Zweifel, ob sich die Chronik durch eine Hinzufügung weiterer Episoden noch vollenden läßt. BERNARD MALAMUDs132 (s. S. 1004) Kurzgeschichten geben, ähnlich seinen Romanen, eine realistische, Ernst und Komik mischende und auch das Phantastische und Groteske einbeziehende Beschreibung des Lebens und Leidens jüdischer Amerikaner, die mit der Suche nach ihrer Identität und der Botschaft der Mitmenschlichkeit über das Ethnische hinaus allgemeinmenschliche Bedeutung erreichen. Neben Amerika wird in späteren Geschichten auch Italien zum Schauplatz, wo amerikanische Juden in Abwandlung des Jamesschen Themas sich mit Europa auseinandersetzen. JAMES PURDYS (s. S. 1009) Beitrag zur Kurzgeschichte besteht in der Darstellung der mit scharfer Kritik bedachten Inhumanität der amerikanischen Gesellschaft, besonders der grausam gestörten Beziehungen in der Familie (Color of Darkness; Don't Call Me By My Right Name; Why Can't They Tell You Why). Purdy schildert schneidend die Verlassenheit und Sinnentleertheit, den Mangel an Verständnis und Geborgenheit in einem unverkennbar eigenen, einfachen Stil, der durch die Verfremdung realistischer Details eine surrealistische Wirkung hervorruft. JOHN CHEEVER133 (1912-1982) ist einer der Romanautoren, deren stärkere Leistung auf dem Gebiet der Kurzgeschichte liegt. Er ist ein Chronist der wohlsituierten oberen Mittelschicht in New York und Umgebung, deren Leben in scheinbarer Sicherheit und Ordnung verläuft. In Wirklichkeit ist dieses Leben jedoch, wie der als Bezugsrahmen verwendete Vergleich mit der noch intakten Moral der voraufgehenden Generation deutlich macht, gestört und von vollendeter Banalität. Cheever ist ein scharfer Beobachter der Schäden der Zeit, aber er klagt diese Menschen nicht an oder stellt sie bloß, sondern bedenkt sie mit wohlwollender Ironie. Doch kennt er auch die Hölle solcher Existenz und enthüllt ihre Absurdität, indem er den Alltag der mo132

Vgl. die Sammlungen The Magic Barrel (1958); Idiots First (1963); Pictures of Fidelman; An Exhibition (1969); Rembrandt's Hat (1973). 133 The Stories of J.C. (N. Y., 1978). - S. Coale, J.C. (N. Y., 1977).

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dernen Computerwelt mit dem Phantastischen verbindet, wie in der bekannten Erzählung The Enormous Radio, in dem ein Ehepaar plötzlich in seinem Apparat die Gespräche der Mitbewohner des Appartmenthauses überhören kann, was am Ende zu einer Vergiftung der eigenen Beziehungen führt. Als ein Schüler Cheevers kann JOHN UPDIKE (s. S. 1009f.) gelten. Updike ist ein Moralist, der in konventionell gebauten, sprachlich überaus gewandten und häufig ein sprühendes Feuerwerk entfachenden Geschichten134 die Kritik am Verfall der mitmenschlichen Beziehungen und der ethischen Werte und an der Gottferne der modernen Welt erfolgreich fortsetzt. Für die experimentellen Autoren wie Barth, Barthelme und Coover ist die traditionelle Literatur erschöpft. Da es nach ihrer Ansicht keine objektive Wirklichkeit gibt, sind realistische Erzählformen, die die Realität der empirischen Welt voraussetzen, nicht mehr brauchbar. Sie mußten daher nach anderen Möglichkeiten suchen, mittels derer sie ihre Sicht der Wirklichkeit als einer sinnlosen und chaotischen, dem Zufall unterworfenen Welt ausdrücken konnten. JOHN BARTH (s. S. 1007 f.), dessen Hauptarbeitsfeld der Roman ist, hat bisher zwei Bände Kurzprosa veröffentlicht: die 14 Geschichten von Lost in the Funhouse: Fiction for print, tape, live voice (1968) und drei in dem Sammelband Chimera (1972) vereinigte längere Erzählungen. Alle diese Geschichten sind im strengen Sinn keine Kurzgeschichten, sondern brillante und frivole Sprachspiele über die Situation des Menschen in einer absurden Welt, in der jegliche Suche nach Identität vergeblich ist. Es sind Erzählungen, die den Leser, da es keine eindeutigen Signale über die Erzählsituation gibt und die Erzählperspektiven ineinander übergehen, in die Irrgänge eines Labyrinths führen. Anders als bei Barth steht die Kurzgeschichte im Mittelpunkt von DONALD BARTHELMES 135 (geb. 1931) Schaffen. Sein Hauptthema ist die Krise der amerikanischen Großstadt, und seine Geschichten handeln von den vereinsamten Menschen und ihrer trügerischen Hoffnung auf den Fortschritt, von der Oberflächlichkeit des Lebens und dem Mangel an Liebe und Menschlichkeit, von der Überflutung durch die Massenmedien und der Aushöhlung und Klischeehaftigkeit der Sprache. Dieses pessimistische und satirische Bild des allgemeinen Verfalls und der Desorganisation wird vermittelt durch die Segmentierung und Fragmentierung des Zusammenhangs und durch Collagen von brutal-realistischen und fantastisch-märchenhaften Elementen, wodurch Fakten und Fiktionen miteinander verbunden, identifiziert und zugleich wieder relativiert werden (The Glass Mountain; The Balloon; At the Tolstoy Museum). 134

Bisher 6 Sammelbände: The Same Door (1959); Pigeon Feathers (1962); The Music School (1966); Bech: A Book (1970); Museums and Women (1972); Problems (1979). 135 Sammlungen: Come Back, Dr. Caligari! (1964); Unspeakable Practices, Unnatural Acts (1968); City Life (1970); Sadness (1972); Guilty Pleasures (1974); Amateurs (1976).

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Ähnlicher stilistischer Mittel bedient sich der gleichfalls von der Notwendigkeit neuer fiktionaler Formen überzeugte ROBERT COOVER (geb. 1932). Seine bisher einzige Sammlung von Kurzgeschichten trägt den mit sexuellmusikalischer Anspielung gewählten Titel Pricksongs & Descants (1968). Die Geschichten geben eine groteske, vielschichtige und in sich widerspruchsvolle Darstellung des Geschehens, dem Coover jedoch durch die Verbindung mit Mythen und Archetypen den Anschein von Ordnung aufprägt (The Elevator; The Babysitter; The Magic Poker). Im Grunde ist der für die Experimentalisten charakteristische Rückgriff auf die Mythologie als eines Strukturmittels keine radikale Neuerung, sondern beweist ihr Anknüpfen an den Modernismus der zwanziger Jahre. Die Technik ruft T. S. Eliots bekannte Ulysseskritik ins Gedächtnis, in der er die Verwendung des Mythos begründete als 'a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history.' Ob das mit großem Eifer betriebene Experimentieren zum Ziel führen oder in einer Sackgasse enden wird, läßt sich vorerst nicht entscheiden. Vielleicht erweisen am Ende die traditionellen Formen erneut ihre Stabilität und Wandlungsfähigkeit.

REGISTER A. E. s. Russell, George William Aaron 364 Aaron's Rod 971 Abaelard, Pierre 75, 76, 87, 104 Abbess ofCrewe, The 990 Abbey Theatre 907 Abbot, The 654 Abercrombie, Lascelles 916 Abraham Lincoln 916 Abridgement of the Chronicles of England 240 Absalom, Absalom! 1000 Absalom and Architophel 438, 439 Absentee, The 640-641 Abt Vogler 756 Accolti, Francesco 222 Account of Corsica 536 Account of Partridge's Death 517 Across the River and Into the Trees 994-995 Actes and Monuments s. Book of Martyrs Ad beatam virginem 190 Ad Muriel 74 Adagia 233 Adam (Drama des 12. Jh.) 123 Adam and Eve 136 Adam Bede 802 Adam von St. Victor 77 Adamnan 12 Adams, Henry Brooks 747, 749 f. Adams, John Quincy 565, 576, 667, 679 Adams, Thomas 415,416 Adamus de Parvo Ponte 75 Adding Machine, The 937 Addison, Joseph 186, 426, 443,477, 479, 489, 491, 492, 501,510-512,517, 538, 551, 552, 553,673, 695, 740 Address to the Irish People 610 Ade, George 935 Adclard von Bath 75, 85 Adeline Mowbray 639 Adeliza, Gemahlin Heinrichs I. 75, 80, 81 Adler, Alfred 840 f. Adlington, William 244 Admirable Crichton, The 914 Admiral Hosier's Ghost 498 Adonais 616 Adrian et Ritheus 65 Adrianus et Epictetus 65 Advancement and Reformation of Modern Poetry, The 477, 493 Advancement of Learning, The 384, 423 Advent Lyrics s. Christ I Adventurer, The 512, 535 Adventures of a Younger Son 661 Adventures of an Atom 526, 529 Adventures ofAugie March, The 1003 Adventures of Ferdinand, Count Fathom, The 526 Adventures ofHajjiBaba of Ispahan 661 Adventures of Harry Richmond, The 804

Adventures of Huckleberry Finn, The 580, 667, 824 Adventures of Master F.J. 250 Adventures of Roderick Random, The 525 Adventures of Sherlock Holmes, The 815 Adventures of Tom Sawyer, The 824 Adventures of Ulysses, The 693 Advice to a Raven in Russia, December 1812 630 Aegidius Rom anus 196 Aelfric 14, 47, 61-63, 64, 95, 98, 99, 100 Aelis s. Adeliza /Ella, a Tragycal Enterlude 502 Aeneis (ubers. Douglas) 201, 243 Aeneis (übers. Dryden) 434 Aeneis (übers. Surrey) 243, 248 Aschylus614, 888, 918, 941 Äsop 87 Aethelberht, König von Kent 11, 18, 57 Aethelred s. Ailred Aethelstan 14 Aethelwald 16 Aethelwold, Bischof von Winchester 14, 61, 122 Affliction (Vaughan) 363, 367 After the Fall 945 Against the King's Taxes 149-150 Against the Pride of the Ladies 149 Age of Innocence, The 966 Agilbert, Bischof von Paris 12 Aglaura 347 Agnes de Castro 448 Agnes Grey 802

Aidanll Aids to Reflection 589 Aiken, Conrad 880-881 Ailred (Aethelred) von Rievaux 76 Ainsworth, William Harrison 662, 789 Akenside, Mark 489-490 Alanus de Insulis 88 Alban 5 Albee, Edward 944, 947 Alberic von Besannen 127 Albertus Magnus 103, 105 Albion and Albanius 435, 440 Albon andAmphabel 194 Albovine, King of the Lombards 347 Alchemist, The 325, 326, 327 Alciati, Andrea 371 Alcibiades 442 Alcott, Amos Bronson 701—702, 703 Alcott, Louisa May 702, 819 Alcuin 18, 21 Alden, John 635 Aldfrith, König von Nordhumbrien 15 Aldhelm 12, 15-16, 17, 18, 19, 29, 47 Aldington, Richard 868, 960 Alexander (Versroman) 156 Alexander (Prosaroman) 205 Alexander-Romane 84, 127-128, 156,205

1028 Alexander, Sir William 259, 384, 390 Alexander and Campaspe 282 Alexander and Dindimus 127 Alexander von Hales 104 Alexander's Feast 366, 437, 501 Alexandreis 90 Alexandria Quartet 985 j4/exz«s-Legende 120 Alfieri, Vittorio 607 Alfred, K nig von Westsachsen 9, 13, 14, 18, 57-60, 61, 62, 64, 86, 94 Alfred 395 Alfred von Beverley 79 Albambra, The 674 Alice's Adventures in Wonderland 717, 812 All Fools 334 All for Love 434, 443 All God's Chilian Got Wings 939 f. All Other Love 141 All Over 947 All Sorts and Conditions of Man 808 f. All the King's Men 1001 All's Well That Ends Well 296-297 Alleyn, Edward 280 Alliance of Education and Government 500 Allusion to the Tenth Satire of the First Book of Horace 384 Alma, or the Progress of the Mind 475 Almayer's Folly 953 f. Almosengedicht (ae.) 54 Alton Locke 793 Alttts Prosator- Hymne 16 Alysoun 144 Amadeus 928-929 Amadis 244 Ambassadors, The 832 f. Ambitious Stepmother, The 554 Amboyna 443 Ambrosia, or the Monk 646 Amelia (Fielding) 524 Amen Corner 948 America (Blake) 508 .America's Coming-of-Age 851 .Amenca«, T^e 831 American Crisis, The 565 American Democrat, The 670 American Dream, An (Mailer) 1003 American Scholar, The 704 American Tragedy, An 962 f. Amis, Kingsley 891, 988 Amis and Amiloun 129 Among the Hills 633 jlmorei ( bers. Marlowe) 265 Amoretti 255, 256 Amory, Thomas 530 Amphitryon 446 Amyot, Jacques 244 Anacrisis 384 Anakreon 373 Analogy of Religion 462 Anastasius, or Memoirs of a Greek 661

Register Anatomy of Absurdity 273 Anatomy of Melancholy 420—421 .Ancienf an*/ Modern Scottish Songs 505 Λτζσεηί Scottish Poems 505 AncreneRiwle 100, 136, 138, 139 .Ancrene Ware s. Ancrene Riwle And Even Now 850 Andersen, Hans Christian 914 Anderson, Maxwell 938-939 Anderson, Sherwood 964,1017, 1019, 1020 Andrea delSarto 756 Andrea of Hungary 688-689 Andreas 50—51 Andreini, Giovanni Battista 405 Andrewes, Lancelot 237, 402, 409-410, 411, 415, 918 Androcles and the Lion 905 f. Angel in the House, The 766 Angels and Earthly Creatures 882 Angelus Silesius 470 Anglica Historia 234 Angry Young Men 922, 983, 988 Animadversions upon the Remonstrant's Defence against Smectymnus 401 Animal Farm 978 Anna, K nigin von England 426,457,458,477, 518 Anna Christie 939 Anna St. Ives 647 Anna von B hmen, Gemahlin Richards II. 173 Annales Henna Quarti2l7 Annals of the Parish 657 Anne Boleyn 229, 230 Anne of Geierstein 655 Anniversaries 362 Annot andjohon 144 Annus Mirabilis 434, 437-438 Another Country 1005 Another Time 886 Anouilh, Jean 921 Anselm, Erzbischof von Canterbury 72, 73, 86, 99 Anthem for Doomed Youth 867 Anticlaudian 88 Antidote against Melancholy, An 385 Anti-Jacobin, The 583 Antiphon 364 Antiphonarium von Bangor 16 Antiquary, The 653 Antonio and Mellida 336-337 Antonio's Revenge 336-337 Antony and Cleopatra 311-312,443 Ape and Essence 978 Apel, Paul 936 Aphrodite in Aulis 949 Apocalypsis Goliae episcopi 77 Apollonius (me. Prosaroman) 205 Apollonius von Tyrus (ae. Roman) 65 Apologetical Dialogue 324 Apologia pro vita sua 725 Apology against a Pamphlet, An 402 Appeal from the New to the Old Whigs 461 Appius and Virginia 278 Appreciations 737 f.

Register Apprentice 546 Apsley, Lucy (Mrs. Hutchinson) 428 Apuleius 204, 244, 768 Araby 1013 Aragon, Louis 889 AranlsLnds, The9\Q Arbuthnot, John 480, 517, 544 Arcades 398 Arcadia (Shirley) 329 Arcadia (Sidney) 254, 269-271, 315 Archer, William 783 Archipoeta 77 Archipropheta 276 Architrenius 88, 89 Arden, John 924-925 Arden ofFeversbam 320, 336, 555 Areopagitica 402 Aretina 441 Aretino, Pietro 235 Argents 441 Ariel Poems 876 f. Ariost, Ludovico 250, 276, 294, 442 Aristophanes 327 Aristophanes' Apology 757 Aristoteles, 75, 92, 103, 104, 133, 221, 223, 241, 242, 872 Armies of the Night 1002, 1003 Armstrong's Last Goodnight 925 Arnold, Matthew 588, 600, 601, 605, 617, 690, 705, 707, 724, 728, 735-737,739, 758,759, 765, 767, 781, 874 Arnold, Thomas 758 Around Theatres 850 Arraignment of Paris, The 283 Arrow of Gold, The 956 Ars Poetica (Horaz) 384 Ars Poetica (übers. Dillon) 384 Art of Fiction, The 833 f. An of Poetry 496 Artamene ou le Grand Cyrus 441 Arte of English Poesie 242 Arte ofRbetorique 236 Artkur and Merlin 127, 128 Arthur-Romane 79-80, 82, 157, 162, 163, 166-167, 202-203, 206-207, 754, 844 Arundelsammlung 77 As I Lay Dying 1000 As If By Magic 986 As You Like It 161, 260, 268, 294-295,296, 299 Ascent of F 6, The 919 Ascham, Roger 235-236, 242, 251, 265 Ash Wednesday 877 Ashbery, John 900 Asolando 757 Aspects of the Novel 959 Asquith, Herbert Henry 839, 847 Assemble de Damys 192 Asser 18, 59 Assignation, The (Dryden) 446 Assignation, The (Poe) 677 Assistant, The 1004 Assumptio Mariae 119

1029

Astraea Redux 436 Astree 441 Astrolabe 135 Astrophel 252 Astrophel and Stella 256 At a solemn Mustek 399, 437 At a Vacation Exercise 397 At Melville's Tomb 883 At the Hawk's Well 909 At the Tolstoy Museum 1024 Atalanta in Calydon 764, 781 Atheist's Tragedy, The 338 Athelstan s. Aethelstan Atheisten (Versroman) 160-161 Athelwold 552 Athenae Oxonienses 495 Atherton, Gertrude 821 f. AtLntic Monthly 743, 745, 746, 818, 824, 828 Aubrey, John 424 Audelay, John 188 Auden, Wystan Hugh 845 f., 885-887, 888, 890, 919 Aufforderung zum Gebet (ae.) 54 Augustinus, Erzbischof von Canterbury 11,13,14, 19 Augustinus (Kirchenvater) 59, 60, 410 Auld Lang Syne 506 Auld Licht Idylls 914 Aureng-Zebe 442 Aurora 259 Aurora Leigh 757 f. Austen, Jane 504, 530, 563, 569, 571, 639, 640, 641-643, 665, 667, 845, 989 Authorized Version s. Bible Author's Apology for Heroic Poetry, The 434 Autobiographies (Yeats) 858 Autobiography (Franklin) 540 Autobiography (Hunt) 695 Autobiography (Mill) 726 Autobiography (Trollope) 800 Autobiography and Correspondence of Sir Simonds D'Ewes 428 Autobiography of Alice B. Toklas, The 992 Autobiography of Mark Rutherford 728, 807 f. Autocrat of the Breakfast-Table, The 745 Autumn (Hood) 625 Avenge, Lord 404 Avitus 39 Avowals 949 Avowynge of King Arthur 163 Awakening, The 819 Awntyrs of Arthure 156, 163 Ayckbourn, Alan 928 Aszenbite oflnwyt (Remorsus Conscientiae) 116, 117 Azarias5\, 39 Bab Ballads 767 Babbitt, Irving 853, 874 Babbitt 963 Babylon Revisited 1019 Back to Methuselah 906

1030

Register

Bacon, Francis 238, 277, 357, 358, 359, 384, 415, 421,423-424,433,463,730 Bacon, Roger 101, 105 Bage, Robert 646-647 Bagehot, Walter 728 Bagman, The 925 Baillie, Joanna 627-628 Baker, Augustine 354 Baker, George Pierce 934 Balattstion's Adventure 757 Baldwin, Erzbischof von Canterbury 89, 91 Baldwin, James 948,1005 Baldwin, William 249 Bale, John 212, 495 Ball, John 132, 134 Ballad of Reading Gaol 785 Ballad of a Wedding 379 Ballade ofCharitie 502 Balladen 183-186,190-191, 199, 502, 503, 588, 591,592,650-651 Ballads and Songs (Davidson) 771 Ballads and Sonnets (Rossetti) 760 Balloon, The 1024 Ballygombeen Bequest, The 925 Balzac, Honore de 655, 656, 662, 1003 Bampfylde, John 589 Bancroft, George 699, 747, 748 Bandello, Matteo 130, 294 Banim, John 659, 660 Banim, Michael 659, 660 Banks, John 443, 444, 554 Barbauld, Anna Letitia 650 Barbour, John 135,198 Barchester Novels 800 Barclay, Alexander 215-216, 251 Barclay, John 441 Bard, The 494, 499 Bards of the Gael and Gall 855 Barham, Richard Harris 625 Baring, Maurice 849,960 Barker, George 890 Barker, William 244 Barlow, Joel 630 Barnaby Rudge 790, 795 Barnes, Peter 929 Barnes, Roben 235 Barons' Wars, The 264 Barrack-Room Ballads 816 Barren Ground 966 Barrie, James Matthew 914 Barrow, Isaac 419, 420, 593 Barry, Philip 942 Barth, John 1007-1008,1024 Barthelme, Donald 1007, 1024 Bartholomaeus von Glanvilla 117 Bartholomew Fair 327 Bartleby the Scrivener 679, 687 Basia 380 Bates, Herbert Ernest 1014 Bates, William 416, 417 Battaile ofAgincourt, The 264, 388 Battle of Alcazar, The 283

Battle of the Kegs, The 630 Battle of the Baltic, The 584 Battle of Hastings, The 502 Battle of the Books, The 517 Baudelaire, Charles Pierre 581, 649, 675, 676, 765, 864 Baviad, The 583 Baxter, Richard 416-417 Bay Psalm Book 418 Bayle, Pierre 465 Bear, The 1000, 1020 Beardsley, Aubrey 772, 773, 849 Beattie, James 493, 502 Beauchamp's Career 804 Beaufort, Joan 199 Beaufort (Kardinal) 182, 221 Beaumont, Francis 329-333, 446 Beaumont, Sir John 383 Beaux' Stratagem, The 450, 451 Becket, Thomas 75, 85, 86, 92, 96, 111, 149, 152 Becket (Tennyson) 754, 782 Beckett, Samuel 925-926, 944, 983-984 Beckford, William 533, 623, 644, 646, 649 Beda 7, 8, 17,18, 20, 29, 30, 38, 51, 53, 57, 58, 59, 62, 64, 78, 79, 86 Beddoes, Thomas Lovell 625-626 Bee, The H2, 531 Beerbohm, Max 849 f. Beggar on Horseback 936 Beggar's Opera, The 440, 483, 544 Behan, Brendan 923-924 Behn, Aphra 444, 448-449, 546 Behrmann, Samuel Nathaniel 934, 942-943 Bdlnconnu, Le 158 Belasco, David 933 Believe as You List 343 Bellamira (Wycherley) 448 Bellamy, Edward 822, 828 Belle Dame sans Mercy 192 Belieforest, Francois de 312 Belle's Stratagem, The 549 Belloc, Hilaire 847 f. Bellow, Saul 1003-1004 Bells and Pomegranates 756 Bembo, Kardinal 255 Ben-Hur 820 Benedeit 81 Benedict Biscop 16, 17 Benedict von Peterborough 86 Benediktinerregel-Ubersetzung 61 Benet, Stephen Vincent 778, 882 Benlowes, Edward 393-394 Bennett, Arnold 950, 957, 974 BenoitdeSainte-MoreSl, 82, 84, 165, 175 Bentham, Jeremy 465—466, 568 Bentley, Richard 517 Beowulf '10, 20, 21, 31, 32, 36, 37, 41-45, 64, 65, 98

Beowulf-Manuskript 20 Beppo 609 Bergson, Henri 844, 991 Berkeley, George 466, 467

Register Bernard, Sarah 785 Bernard von Ventadour 81 Berners, Lord s. Bourchier, John Bernhard von Chartres 75 Bernhard von Clairvaux 75 Berni, Francesco 609 Bernini, Lorenzo 365 Beroul 83 Berryman, John 899 f. Bertram 627 Bertran de Born 81 Besant, Walter 727, 808-809 Bestiarien 80, 99, 112 Bestiarium (Philippe de Thaon) 80 Betjeman, John 888 Betrayal 928 Betrayal of Buckingham, The 182 Betrothed, The 655 Better Answer, A 475 Betterton, Thomas 547 Between the Acts 975 Bevis ofHamtoun 126,127, 160 Bewitched, The 929 Beyond the Horizon 939 Biathanatos 411 551,64 Guy Mannering 653 Guy of Warwick 120, 126-127, 160 Gyson, Brion 1006 H.D. s. Doolittle, Hilda H. M. S. Pinafore 784 Habington, William 380 Hadassa 371 Hadrian, Abt 12, 15 Hadrian IV., Papst 91 Händel, Georg Friedrich 437, 440 Haggard, Henry Rider 719, 807, 814 Hail and Farewell! A Trilogy 949 Halles, Lord, David Dalrymple 505 Hairy Ape, The 939 Hakon, König von Norwegen 102 Haleluiah 371 Hales, John 419, 425 Hales, Thomas von 108 HaliMeidenhadW, 168 Halkett, Anne, Lady 428, 429 Hall, Edward 218, 240, 241, 302 Hall, John 375, 380 Hall, Joseph 378,401, 402, 415,426 Hall of Justice, The 584 Hallam, Arthur Henry 753 Hallam, Henry 496, 543, 739-740 Halliwell, David 931 Hamilton, Alexander 566, 822 Hamilton of Bangour, William 464, 505 Hamlet 312-314, 318, 337, 338, 344, 528 Hamlet of A. MacLeisb, The 879 Hand and Soul 760 Handful of Dust, A 979 Handful of Pleasant Delights, A 248 Handlyng Synne 116,117, 145 Hankin, St. John 901 Hans Carvel 474 Hansberry, Lorraine 948 Happy Days 926 Happy Prince, The 785 Harald Hardradi 71 Hard Times 719, 793, 796 Harding, Warren Gamaliel 841 Hardy, Thomas 262, 718, 751, 752, 767, 770, 787, 806, 807, 809-811, 814, 866, 887, 948, 1011 Hare, David 931 Harington, Sir John 242 Harley-Manuskript 2253 144 Harmony of Divine Attributes 417 Harold, König 71 Harold 754 Harpsfield, Nicholas 234 Harrington, James 404 Harris, Joel Chandler 722, 817, 819 Harrison, Anne, Lady Fanshawe 428—429 Harrison, William 240 Harrowing of Hell, Tbe\2\,\22 Harry, Blind or Harry the Minstrel 198-199

Harry Richmond 804 Hart, Moss 936 Harte, Bret 722, 723, 774, 824-825,1016 Hartley, David 468 Hartley, Leslie Poles 976 Hartlib, Samuel 402 Hartmann von Aue 635 Harvey, Christopher 372 Harvey, Gabriel 251 Harvey, William 357 Hastings, Warren 461 Hasty-Pudding, The 630 Haunted and the Haunters, The 664 Havelok 124, 125,126, 160, 161, 162/163 Hawes, Stephen 196-197,198 Hawk in the Rain 894 Hawkes, John 1006 Hawkesworth, John 512, 533 Hawkins, Sir John 537 Hawthorne, Nathaniel 579, 580, 581, 634, 657, 667,675,676,679-684,685, 686, 701,703, 721, 722, 816, 851, 934 Hay, Gilbert 204 Hay, John 774 Hay, Lucy, Countess of Carlisle 356 Haydon, Benjamin Robert 694 Hayne, Paul Hamilton 637 Haystack in the Floods, The 762 Hayward, John 424 Hazard of New Fortunes, A 828 Hazlitt, William 568, 570, 571, 572, 575, 576, 588, 618, 647, 694, 696-697 Head, Richard 515 Headlong Hall 664 Heaney, Seamus 892 Hearn, Lafcadio 747 Heart is a Lonely Hunter, The 1001 Heart of Darkness 955,1012 Heart of Midlothian, The 654 Heart of Sedition 235 Heart of the Matter, The 980 Heartbreak House 906 Heath-Stubbs, John 891 Heaven and Earth 608 Heber, Reginald 626 Hebrew Melodies 604 Hecatomithi 314 Hedge, Frederic Henry 699, 700, 701 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 705 Heggen, Thomas 936 Heiligen Englands, Die 64 Heiligenlegenden (ae.) 48-49, 62, 64 (me.) 118-121,156 Heine, Heinrich 674, 872 Heinrich I. 75, 80, 81 Heinrich II. 80, 81, 82, 83, 85, 86, 87, 89, 91, 109, 263 Heinrich III. 103,110, 111, 148 Heinrich IV. 130, 131, 134, 172, 179, 180, 305 Heinrich V. 179, 180, 181, 182, 194, 196, 207, 218 Heinrich VI. 179, 194, 219, 302 Heinrich VII. 179, 182, 219, 229, 231, 241, 345

Register Heinrich VIII. 212, 216, 229, 230, 240, 245, 281, 602 Heinsius, Daniel 254 Heliodor 244, 271,396 Heliodora 869 Hellas 614 Hellenics 689 Heller, Joseph 1008 Hellman, Lillian 944 Heloise and Abelard 949 Helyes de Borron 128 Hemans, Felicia 623 Heminge, John 291 Hemingway, Ernest 871, 964, 992,993-995,1003, 1019 f. Hemlock and After 986 Henderson the Rain King 1003 f. Hendry, James F. W. 890 Henley, William Ernest 767, 772 Henrietta 529 Henrietta Maria, Gemahlin Karls I. 356 Henrietta Temple 792 Henry, O. (William Sydney Porter) 1016 Henry IV 294, 305-306 Henry V281, 306 Henry VI302-303, 304 Henry VIII307, 319 Henry Esmond, 790, 799, 800 Henry von Bracton 85 Henry von Saltry 119 Henry von Huntingdon 76, 78, 79 Henryson, Robert 199-200 Henslowe, Philip 279, 280 Henslowe's Diary 279 Heptameron 245 Her Quaint Honor 1021 Herbert, Edward, Lord of Cherbury 353, 358,363, 376-377, 427-428, 462 Herbert, George363-364,366,368, 372,412,413, 427, 889 Herd, David 505 Herder, Johann Gottfried 183, 498, 587, 691, 699, 701 Herebert, William 141 Hereford, Nicholas 136 Heretics 848 Herman, Hugo 372 Hermit, The (Parnell) 484 Hermsprong 647 Hero and Leander 265 Herodot 244 Heroiden (übers. Turberville) 243 Herrick, Robert (1591-1674) 356, 374-376, 378, 379, 474 Herrick, Robert (1868-1938) 852, 963 Herself Surprised 981 Hervey, James 488 Hervey, Lord John 538-539 Hervey, William 381 Herzog 1004 Hesperides 375 Hewitt, John 556

1047

Hewlett, Maurice Henry 814 Hexenschußsegen 25 Heywood, Jasper 243, 249 Heywood, John 214 Heywood, Thomas 320, 336, 340 Hiawatha 634 Hickes, George 494 Hicks, Granville 852 Hieroglyphikes of the Life of Man 372 Hieronymus 238 Higden, Ranulf 134 Higgins, John 249 Higginson, Thomas Wentworth 779 High Life below Stairs 545 High Wind in Jamaica, A 976 High Windows 892, 893 Hilarius 76-77,122 Hildebert von Lavardin 74 Hill, Aaron 552, 554, 555 Hill, Geoffrey 892 Hilton, Walter 138, 219 Hind and the Panther, The 439 Hind Horn 185 Hindle Wakes 901 Hirtenhuch s. Cura pastoralis Hisperica Famina 16 Histoires Tragiques 312 Historia Anglicana 217 Historia Britannorum versificata s. Historia regum Britanniae Historia Britonum 14/15 Historia Destructions Trojae 165 Historia Ecclesiastica (Ordericus) 78 Historia Ecclesiastica Genus Anglorum (Beda) 7, 17,20,38,59 Historia Minor 102 Historia Pontificalis 86 Historia Regum Anglorum 76, 78 Historia Regum Britanniae 79, 219 Historia Rerum Anglicarum 86 Historia Trojana 194 Histoncal Register for 1736 522 Historic of Great Britaine 240 History (Robert Lowell) 900 History and Fall ofCaius Marius 443 History of America 542 History of Brazil 586 History of Britain 402 History of Charles V541 History of Civilization in England 741 History of England (Froude) 741 History of England (Goldsmith) 532 History of England (Hume) 541 History of England (Macaulay) 740 History of England (Stubbs) 742 History of England (Trevelyan) 846 History of English Poetry (Warton) 495 History of English Rhythms 496 History of Friedrich II. of Prussia 732 History of Great Britain (Hume) 467 History of Henry Esmond, The 790, 799, 800 History of Henry V, The 441

1048

Register

History of Ireland (O'Grady) 855 History of Jason 206 History of Mr. Polly, The 952 History of My Own Time, The 426 History ofPendennis, The 798 History ofPlimoth Potation 432 History of Richard III 218, 233, 234-235 History of Scotland (Robertson) 541 History of Sir Francis Drake, The 440 History of the Colony of Massachusetts Bay 542 History of the Conspiracy ofPontiac 748 History of the Countess ofDellwyn 529 History of the Decline and Fall of the Empire 542 History of the Holy Rood Tree, The 99 History of the Holy War 412 History of the Life of the late Mr. Jonathan Wild the Great 522-523 History of the Norman Conquest of England 742 History of the Rebellion 425 History of the Reign of Henry VII423 History of the Royal Society 433 History of the United States (Bancroft) 748 History of the United States during the Administrations of Jefferson and Madison 749 History of the World 423, 424 History of the Worthies of England 412 History of Tom Jones, a Foundling 521, 523—524, 525 Histriomastix 242 Hitchener, Elizabeth 610 Hoadly, Benjamin 546 Hobbes, Thomas 357,384,386, 395, 403-404,424, 433, 463, 465, 472, 734, 743 Hobhouse, John Cam 606 Hobsbaum, Philip 892 Hoby, Thomas 235 Hoccleve, Thomas 190,191, 195-196 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 581, 676, 677 Hoffmann or A Revenge for a Father 337 Hogarth, William 521, 535, 550, 556 Hogg, James ('Ettrick Shepherd') 568, 658 Hohenlinden 584 Holcot, Robert 133, 179 Holcroft, Thomas 556, 627, 647 Holinshed, Raphael 218, 240, 241, 288, 299, 302, 315,316 Holland, Philemon 241, 244, 443 Hollow Men, The 876 Holloway, John 891 Holmes, Oliver Wendell 578, 722, 745, 746 HolyDyingW, 414 Holy Living 413 Holy Sonnets 362 Holy State and the Profane State, The 412 Holy War, The 432 Holy Willie's Prayer 506 Homage to Scxtus Propertius 873 Home, Henry, Lord Kames 493 Home, John 554, 627 Homecoming, The 927 Homer 241, 333, 414, 494, 504, 693, 736 Homer (übers. Chapman) 243, 693

Homer (übers. Pope) 479, 480 Homeward: Songs by the Way 858 Homilien (Aelfric) 62, 63 Homilien (Wulfstan) 63 Honest Whore, The 335-336, 337 Honore d'Autun (Honorius Augustodunensis) 95, 117 Honorary Consul, The 980-981 Hood, Thomas 568, 625, 661 Hook, Theodore Edward 568 Hooker, Richard 239-240, 409, 410, 423, 427 Hop Garden 486 Hope, Thomas 661 Hopkins, Gerard Manley 362, 394, 752, 767, 768-770, 778 f., 845 Hopkinson, Francis 630 Horatian Ode upon Cromwel's Return from Ireland 370, 404 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 15, 87, 373, 375, 382, 384, 414, 437, 474, 475 Horestes 278 Horn Childe and Maiden Rimnild 126 Home, Richard Henry (Hengist) 629, 758 Horner, Gilpin 651 Horniman, Annie Elizabeth Friedericka 783 Horse, Goose and Sheep 194 Horse's Mouth, The 981 Hoskyns, John 380 Houghton, Lord s. Milnes, Richard Monckton Houghton, William Stanley 901 Hound of Heaven, The 771 Hours in a Library 743 Hours of Idleness 604 HousofFame, The 172, 174, 176, 199 House of Aspen, The 627 House of Life, The 760 House of Mirth, The 965 House of the Seven Gables, The 683 House of the Titans, The 858 House of the Wolfings, The 762 Household Words 719, 787, 795 Housman, Alfred Edward 770 Housman, Laurence 916 Hoveden, John von 106—107 Hoveden, Roger 86 How Dunbar wes desyrd to be ane Freir 200 How It Is (Comment C'est) 984 Howard, Henry 245 Howard, Sir Robert 434, 441, 445 Howard, Sidney 934, 943 Howard, Thomas 429 Howe, Edgar Watson 828 f. Howell, Thomas 243 Howells, William Dean 722, 747, 818, 827, 828, 830, 850, 852, 965 Howl 898 Huckleberry Finn 580, 667, 824 Hudibras 387,475, 630 Hue de Rotelande 82, 84 Hueffer s. Ford, Ford Madox Hugh Selwyn Mauberley 873 Hugh Wynne: Free Quaker 821

Register Hughes, John 553 Hughes, Richard 976 Hughes, Ted 891, 892, 894-896 Hughes, Thomas (fl. 1587) 277 Hughes, Thomas (1822-1896) 807 Hugo, Primas von Orleans 77 Hugo, Victor 649, 662 Hugo von St. Victor 100 Hulme, Thomas Ernest 844, 853, 868 f. Human Age, The 958 Humanism 840 Humanism and America 853 Humboldt, Wilhelm von 464 Hume, David 404, 463, 465, 466-467, 540, 541, 542 Humorists, The 448 Humorous Counter, The 346 Humorous Day's Mirth, A 334 Humorous Lieutenant, The 331 Humphrey, Herzog von Gloucester 182, 195,196, 218, 221-222 Humphrey de Bohun, Earl of Hereford 165 Humphrey, Duke of Gloucester 554 Huneker, James Gibbons 850 f. Hunt, Holman 758 f. Hunt, John 562 Hunt, Leigh 562, 564, 568, 571, 575, 588, 602, 607, 617,623,661,674,694-696 Hunting in the Cheviot, The 185-186 Huon von Bordeaux 208 Hurd, Richard 491, 494, 495, 570 Hurry On Down 988 Hutcheson, Francis 464,465, 467, 468 Hutchins, Robert Maynard 853 Hutchinson, Mrs. s. Apsley, Lucy Hutchinson, Thomas 542 Huxley, Aldous 977-978 Huxley, Thomas Henry 727, 856 Huysmans, Joris-Karl 785 Hwaetberht-Eusebius 15, 29 Hyacinth Halvey 911 Hycke Scomer 211, 213 Hyde, Douglas 855 Hyde, Edward, Earl of Clarendon 425-426, 428, 433, 541 Hyde Park 346 Hydriotaphia or Urne-Buriall 422 Hymen 869 Hymenaei 328 Hymn to Intellectual Beauty 611 Hymn to Saint Teresa 366 Hymn to the Naiads 490 Hymne to God my God, in my sicknesse 362 Hymnes and Songs of the Church 371 Hypcrcritica 384 Hyperion 619, 620-621 Hyperion, a Romance 634 Hypocrite 546 Hypognosticon 76 I Have Been Here Before 903 f. / ifood tiptoe upon a little hill 617 - 618

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/ would be glad in Christis Skin 142 Ibrahim 441 Ibsen, Henrik 782, 783 f., 900, 905, 912, 944, 946 hamwitles 110 Iceman Cometh, The 941, 942 Ichota burde 144 Idea (Drayton) 258-259, 264 Idea of a Patriot King, The 461 Idea of a University, The 725 Ideal Husband, An 785 f. Ideas of Good and Evil 858 Ides of March, The 969 W/er-Essays512, 535 IdyllsoftbeKing75>\,754 If You Know Not Me You Know Nobody 336 Ignatius his Conclave 411 Ilias (übers. Pope) 479, 484 Ilias (übers. Tickell) 484 /'// Take My Stand 852, 884 Illustrium Majori Britanniae scriptorum summarium 495 I'm Talking of Jerusalem 924 Image of the City, The 843 f. Imaginary Conversations 689 Imaginary Portraits 738 Imagination and Fancy 695 Imagisten 844, 868 f. Imitations of Horace 476, 482 Importance of Being Earnest, The 786, 930 Imposture, The 346 Improvisatore, The 626 In a fryht 144 In Celebration 928 In Cold Blood 1002 In Hospital 772 In Memoriam A. H. H. 636, 751 f., 753 f. In Our Time 1019 In Santa Maria Del Popolo 893 In the Seven Woods 857 In the Shadow of the Glen 910 In vain to me the smiling Mornings shine 499 In Watermelon Sugar 1007 Incendium amoris 137 Inchbald, Elizabeth 627, 639 Incognita 450 Indian Emperor, The 441 Indian Journals 899 Indian Queen, The 441 Indians 948 Indicator, The 695 Induction (Sackville) 249 Ine, König von West-Sachsen 57 Infancy and Thoughts 368 Inge, William 947 Inge, William Ralph (Dean von St. Paul's) 848 f. Ingoldsby Legends 625 Inheritance 658 Inheritors, The 987 Inland Voyage, An 813 Inn Album, The 757 Innocence of Father Brown, The 848 Innocent Usurper, The 444

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Register

Innocents Abroad 823 Innozenz III., Papst 117, 250 Innozenz IV., Papst 102 Inquiry Concerning Virtue or Merit, An 464 Inquiry into Meaning and Truth 840 Inquiry into Nature and Causes of the Wealth of Nations 465 Inquiry into the Human Mind on the Principles of Common Sense 468 Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue, An 464 Insomnia 767 Inspector Calls, An 904 Instauratio magna 357 Institutes of Polity 63 Institutio Christiani Prindpis 233, 235 Instructions to a Painter 370 Intentions 785 Interludien 123, 213-214 Interludium de clerico etpuella 123, 130, 213 Intimations of Immortality 601 Introduction to the Literature of Europe . . . 739 f. Introduction to the Principles of Morals and Legislation 466 Invectio in Gillebertum 74 lolanthe 784 lonesco, Eugene 944 Invisible Man (Wells) 952 Invisible Man, The (Ellison) 1005 Ipomadon (Versroman) 161, 162 Ipomedon (Hue de Rotelande) 84 Ipomedon (Prosaroman) 205 Irene 535, 553 Irish Melodies 623 Iron Age, The 336 Irving, Henry 782 Irving, Washington 578, 579, 580, 671, 672-674, 675, 722, 745, 825 Isaak von Stella 75 Isabella, or the Pot of Basil til1) Isherwood, Christopher 919 Island Nights Entertainments 814 Island of the Mighty, The 925 Island Queens, The 444 Isocrates 236 Italian, The 619, 645-646 Itinerarium (Giraldus Cambrensis) 91 Itinerary (Leland) 241/242 Ivanhoe 654, 655,781, 798 ;. B. 880 Jack Hinton, the Guardsman 660 Jack ofNewberie 274 Jack Straw's Castle 894 Jack Upland 157 Jackson, Andrew 566, 671, 862 Jackson, Helen Hunt 819 Jacob, Giles 478 Jacob's Room 974 Jacopone daTodi 106 Jakob I. von England 231, 279, 282, 300, 321, 328, 353, 354, 356, 371, 654

Jakob II. von England 355, 356 Jakob I. von Schottland 199 Jakob IV. von Schottland 200, 201 Jakob V. 202 James, George Payne Rainsford 662, 789 James, Henry 682, 683, 719, 722, 723, 744, 746, 803, 805, 825, 826 f., 830-834, 845, 851, 853, 886, 948, 951, 953, 959, 965, 967, 989, 1018 James, William 743, 744, 840, 841, 991 Jane Eyre 801 January and May (Pope) 476 Jarrell, Randall 897 Jason Edwards: An Average Man 829 Jealous Wife, The 546, 550 Jean de Meung 136, 195 Jean von Auville 87-88 Jeaste of Syr Gawene 202—203 Jeffers, Robinson 881-882 Jefferson, Joseph 932 Jefferson, Thomas 565,566, 630, 667, 668, 671, 676 Jeffrey, Francis 567, 580, 601 Jemmy Dawson 498 Jennie Gerhardt 962 Jennings, Elizabeth 891 Jephson, Robert 553 Jereslaus' Wife 196 Jerusalem 508 Jesu dulcis memoria 142 Jesus Pleads 143 Jew, The 549 Jew of Malta, The 286, 296 Jewett, Sarah Orne 820 Joan of Arc (Southey) 585 Job Militant 371 Jocasta 250, 277 Joco-seria (ae.)29 Jodelle, Etienne 277 Johann von Corvey 18, 59 Johann von Gent s. John of Gaunt Johannes Secundus 254 John, König von England 80, 110 John Anderson 506 John Brown's Body 882 John Bull in America 671 John Bull's Other Island 905 John Gilpin 503 John Inglesant 813 John John the Husband, Tyb his Wife and Sir John the Priest 214 John of Beverley 17 John of Bridlington 151 John of Gaunt 133, 171 John von Salisbury 75, 85/86, 90, 91-93,102 Johnson, Charles 555 Johnson, Edward 432, 436 Johnson, Esther 518 Johnson, James 506 Johnson, Lionel 772, 773 Johnson, Dr. Samuel 359, 424, 434, 459, 460, 463, 474, 479, 512, 528, 532,534-536,537, 550, 553, 571, 574, 583, 593, 639, 743 Johnson over Jordan 904

Register Johnston, Denis 913-914 Johnston, Mary 821 f. Johnstone, Charles 529 Joining Charles 1014 Joinville, Jean, Sire de 103 Jolly Beggars, The 506 Jonah and the Whale 915 Jonathan Wild 522-523 Jones, Henry Arthur 781, 782, 78J, 784 Jones, Inigo 282, 328, 329, 356 Jones, LeRoi 948,1005 Jonson, Ben252, 282,320, 322-329,330, 332, 333, 334,337, 343, 345, 360, 366,373—374,375,376, 378, 379, 380, 382, 384, 385, 398, 426, 445, 499, 874 Jordan 1363 Jordanes 30 Joseph Andrews 523, 529 Joseph ofArimathie (Versroman) 156, 164—165 Joseph von Arimathia (Prosaroman) 205 Joseph von Exeter 87, 89-90,165 Journal (Fox) 4W Journal in the Lakes 499 Journal of a Tour to the Hebrides with Samuel Johnson 536 Journal of a Voyage to Lisbon 525 Journal of the Plague Year 515 Journal to Eliza 529 Journal to Stella SIS Journals (Thoreau) 708 Journey from this World to the Next 522 Journey through Persia 661 Journey to the Western Islands of Scotland 537 Journey's End 961 Joyce, James 805, 817, 834, 871, 873, 889, 972-974, 983, 999, 1012-1013,1019 JR 1006 f. Juan de la Cruz 367, 877 Judah 783 Judas Iscariot 629 Jude the Obscure 718, 806, 807, 810-811 Judgment Day, The s. Jüngsten Tage, Vom Judith 40, 46-48 Jüngsten Tage, Vom 53 Julia Agrippina, Empress of Rome 347 Julia de Roubigne 530 Julian and Maddalo 612 Juliana (ae.) 48, 49, 50, 51 Juliana von Norwich 138, 139 Juliane, Seinte (me.) 99 Juliet Grenviüe 530 Julius Caesar 310-311, 319 Jumpers 929 Jung, Carl Gustav 840 f., 842, 845 Jungle, The 963 Jungle Books 815 f. Junius-Manuskript 20, 38, 40 Junkie 1006 Juno and the Pay cock 912 Jürgen 968 Justice 902 JuvenaJ 15, 88, 378, 439, 535, 583

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Juvencus 38 Kafka, Franz 870 f., 1006 Kaiser, Georg 919, 936 Kames, Lord s. Home, Henry Kangaroo 971 Kanin, Garson 936 Kant, Immanuel 466, 467, 587, 588, 595, 706 Karl der Große 13, 18, 80, 84, 124 Karl I., König von England 342, 346, 354, 356, 378, 402, 403 Karl II., König von England 355, 356, 357, 387, 436, 437 Katharina von Aragonien 219, 229 Katharinengruppe 99—100,119 Katherine, Seinte 99 Kaufmann, George S. 936, 943 Keats, John 243, 396,568, 571, 572, 573, 575, 588, 602, 616,617-622,625, 691,695,697, 750, 759, 762, 768, 769, 772, 856 Keble, John 626, 725 Kelly, George 935 f. Kelly, Hugh 548, 550 Kelly, John 548 Kempe, Margery 139 Kenilworth 654, 655 Kennedy, John Pendleton 671 Kenningar 16, 22 Kent, William 491 Kentish Homilies 98 Kentish Hymn, The 32 Ker, William Paton 843 Kerouac, Jack 1006 Kesey, Ken 1008 f. Key Largo 939 Keyes, Sidney 891 Kidnapped 813 f. Kierkegaard, Sören 885, 886 Killigrew, Anne 437 Killigrew, Thomas 347, 440, 446 Kim 816 Kind Keeper, The 446 Kindheit Jesu 120 King, Clarence 746 f. King, Edward 399, 400 King, Henry 380,410 King Alisaunder 127, 128 King and No King, A 332,344 King and The Miller of Mansfield, The 544 King Arthur (Dryden) 440 King Han 201 King Henry the Fifth 554 King Henry the Fifth's Conquest in France 185 King Horn 124, 125-126,160, 161 King John (Bale) 212 King John (Shakespeare) 303-304 King Lear 315-316 King Lear's Wife 916 King of Tars 159-160 King Ponthus and the Fair Sidone 205 King Solomon's Mines 814 King Stephen 620

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Register

King Victor and King Charles 781 Kingis Quair, The 199 Kinglake, Alexander William 728 King's Dochter Lady Jean, The 185 King's Threshold, The 908 Kingsley, Charles 725, 731, 789, 790, 793-794, 813 Kipling, Rudyard 732, 772, 787, 807, 815-816, 818, 865, 875, 1012, 1016 Kirke, Edward 251,252 Kirkland, Jack 998 Kirkman, Francis 440, 516 Kitchen, The 924 Klage der Frau 32, 34,35 Knickerbocker, or, New York Monthly Magazine, The 579, 671, 674 Knight, G. Wilson 843 Knight of the Burning Pestle, The 330 Knight's Tale, The 174, 199, 319 Knolles, Richard 424 Knowles, James Sheridan 628, 689 Knox, John 232 Knut (Canute), König 9, 14, 63, 96 Kopit, Arthur 948 Kotzebue, August von 549, 550, 575, 627, 646 Krapp's Last Tape 926 Kreymborg, Alfred 936 Krieger, Murray 854 Kruitzner, The German's Tale 644 KublaKhan 570, 591-592 Kyd, Thomas 288-289, 309, 312, 313 Kynaston, Sir Francis 380, 395

La Belle Dame sans Merci 618, 620 La Bruyere, Jean de 426 La Calprenede, Gautier de Costes de 441, 442, 529 La Corona (Donne) 362 La Fayette, Marie Madeleine, Madame de 519 Lactantius 52 Lacy, John 445 Lady Chatterley's Lover 97\ Lady Isabel 185 Lady ofDubuque, The 947 Lady of Lyons, The 628, 663 Lady of Pleasure, The 346 Lady ofShalott, The 163, 751, 754 Lady of Sorrow, A 767 Lady Windermere's Fan 785 Lady's Last Stake, The 547 Lady's Looking-glass, The 475 Lady's Magazine, The 532 Lady's Not for Burning, The 920-921 Lueceboc 26 Laforgue, Jules 872, 875 Lai au Chievrefeuil 83 LaileFreinem, 159 Lais, Bretonische 158-159, 163-164 Lake, The 949 Lalla Rookh 623 Lamb, Charles 568, 571, 575, 588, 589, 619, 661, 692-694, 697

Lambeth-Homilies 98, 99 Lament for the Makaris 200 Lamentacio Dolorosa 141 Lamia 620 Lancaster, Thomas, Earl of 149 Lancelot of the Laik 204-205 Land, 77>e 912 Land of Cockayne 130 Land of Heart's Desire, The 908 Land ofUnlikeness 899 Landor, Walter Savage 533, 575, 586,625, 688-690 Landscape 928 Lanfranc, Erzbischof von Canterbury 72, 73 Lang, Andrew 728 Langhorne, John 485 Langland (Langley), William 152, 153-156, 168, 170, 262 Langley, Batty 491 Langton, Bennet 536 Lanier, Sidney 722, 746, 775-776 Laon and Cythna 612 Lapidarium 80 Lara 606 Larkin, Philip 888, 891, 892 f. Last Exit to Brooklyn 1009 Last of the De Mttllins, The 901 Last of the Mohicans, The 669, 672 Late Call 986 Latemest day 107 Latimer, Hugh 235, 239 Latimer, William 223 Latter-Day Pamphlets 731 Laud, William 353, 354, 410, 417 Laud Troy Book 165, 181 Laurents, Arthur 947 Laus divinae sapientiae 101 Laus Veneris 765 Lavengro 812 f. Law, William 358, 469 Lawes, Henry 356, 379 Lawless Roads, The 980 Lawrence von Durham 76 Lawrence, David Herbert 845, 864, 869 f., 892, 945 f., 970-971, 989, 1014-1015 Laws of Ecclesiastical Polity 240 Lay of the Last Minstrel 651 Lay Sermon 589 Lajamon 79, 82, 83, 94, 96-98, 99, 113, 124, 135, 166, 207 Lazarillo de Tormes 244 Lazarus Laughed 940 Lear, Edward 752, 886 Lear 930 Learn to die 195 Leaves of Grass 777 Leavis, Frank Raymond 845 Lecky, William Edward Hartpole 741 f. Lectures in America 991 Lectures on the English Comic Writers 697 Lectures on the English Poets 618, 697 Lee, Harriet 644 Lee, Nathaniel 442, 443-444, 553

Register Lee, Sophia 644 LeFanu, Joseph Sheridan 791 f. Lefevre, Raoul 205 Left Hand, Right Hand 847 Legatio Nathanis 64 Legend of Cupid and Psyche 395 Legend of Good Women 176 Legend ofMontrose, A 654 Legenda Aurea 219 Legends of the Lakes 659 Legge, Thomas 276 Leicester, Earl of 253, 261, 283 Leigh, Aurora 606 Leighton, Robert 416, 417, 593 Leir, King, The True Chronicle History O/315 Leland, John 240-241, 424, 495 Lennox, Charlotte 529 Lenten is come 144 Lenten Staffle 273 Leoline and Sydanis 395 Leonidas 498 Lesage, Alain Rene 529 Less Deceived, The 892 Lessing, Doris 990 Lessing, Gotthold Ephraim 588, 595, 616, 650 Letter Concerning Enthusiasm, A 464, 492 Letter concerning the Sacramental Test 517 Letter of Cupid 195, 196 Letter to a Member of the National Assembly 461 Letter to a Noble Lord (Hervey) 481 Letter to Lord Ellenborough 611 Letter to Mary Gisbome 615 Letters ofjunius 461 Letters on a Regicide Peace 461, 562 Letters on Chivalry 491 Letters on Chivalry and Romance 494 Letters to Mr. Burke 561 Lettres persanes 532 Lever, Charles James 659-660 Leviathan 403 Lewes, George Henry 803 Lewis, Alun 891 Lewis, Cecil Day 259, 845 f., 885, 887 Lewis, Clive Staples 843 Lewis, Matthew Gregory 627, 646, 651 Lewis, Percy Windham 958 Lewis, Sinclair 963-964, 992 Libeaus Desconus 158 Libelle ofEnglyshe Polycye, The 181-182 Liber Amoris (Hazlitt) 696 Liber consuetudinum 122 Liber Hymnorum 16 Liberal, The 607, 695 Liberty 487 Library, The 583 Licia 258 Lieder von St. Omer 77 Life 364 Life and Death of Jason, The 762 Life and Death of Mr. Badman, The 432 Life and Habit 812 Life and Opinions of John Bunde Esq., The 530

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Life and Opinions of Tristram Shandy, The 421, 467, 527, 530, 536 Life Class 928 Life of Edward Earl of Clarendon, The 425 Life of Mrs. Lucy Hutchinson, The 428 Life of M ore 234 Life of Nelson 586 Life of our Lady 194 Life of Samuel Johnson 536 Life of St. Chad, The 58 Life of Wesley 586 Life of William Cavendish 428 Life on the Mississippi 824 Life Studies 899 Life's Little Ironies 1011 Light in August 1000 Light of Nature Pursued, The 468 Lillo, George 555-556 Lily, William 216, 223 Limbo 593 Lime Twig, The 1006 Linacre, Thomas 223 Lincoln, Abraham 566, 577, 777, 863 Linden Tree, The 904 Lindsay, David 199, 201-202, 212 Lindsay, Vachel 862 Lines Composed above Tintem Abbey 600 Lines written among the Euganean Hills 613—614 Lingard, John 543 Linne, Karl von 583 Listeners, The 864 Lister, Thomas Henry 789 Literary Studies (Bagehot) 728 Literature and Dogma 737 Little Dorrit 796 Little Foxes, The 944 Little French Lawyer, The 331 Little Gidding 877-878 Little Minister, The 914 Little Women 702, 819 Littlewood, Joan 923 Live Like Pigs 924 f. Lives of the English Poets 537 Lives of the Most Famous English Poets 495 Livius 80, 102, 244 Livius de Frulovisiis, Titus 218, 221 Livvie Is Back 1021 Liza of Lambeth 957 Lizie Wan 185 Lobgesang der drei Jünglinge im Feuerofen 31 Locher, Jakob 215 Locke, John 358-359, 457, 462, 463, 466, 467, 468, 473, 500, 527, 528 Lockhart, John Gibson 568, 618, 657-658 Locksley Hall 753 Lodge, Thomas 161, 242, 258, 259, 268-269, 284, 294, 392 Logan, Joshua 936 London (Johnson) 535 London, Jack (John Griffith) 723, 852, 964,1016 London Lickpenny 215 London Magazine, The 568, 691, 692, 730

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Register

London Merchant, The 555 London Prodigal, The 320 London Snow 768 Loneliness of the Long-Distance Runner, The 989 Long Day's Journey into Night 941 Longest Journey, The 959 Longfellow, Henry Wadsworth 578, 632, 633-636, 722, 774 Longinus 493 Lonsdale, Frederick 907 Look at all those Roses 1014 Look hack in Anger 922 f. Look Homeward Angel 997 Look, Stranger! 886 Looking Backward: 2000-1887 822 Looking-Glass for London and England, A 284 Looking-Glass for the Cowrie, A 244 Loot 929 Lord Jim 954 Lord of the Flies 986-987 Lord of the Isles 651, 652 Lord of the Rings, The 262, 983 Lord Ullin's Daughter 584 Lorens, Bruder 115, 116 Lorica 16 LomaDoone 813 Lost Girl, The 971 Lost in the Funhouse 1024 Lost Lady, A 967 Lost Leader, The 596 Lost Ones, The (Le Depeupleur) 984 Lost Son, The »96-S97 Lotos-Eaters, The 753 Love III (George Herbert) 364 Love and a Bottle 450 Love and Honour 443 Love for Love 449 Love in a Wood 447 Love Letters between a Nobleman and bis Sister 448 Love of Fame 488 Love of King David and Fair Bethsabe, The 283 Love Ron 108 Love Songs ofConnacht, The 855 Love Sonnets of Proteus, The 771 Love Triumphant 445, 446 Loved One, The 979 Lovelace, Richard 379-380 Lovell, Robert 585 Lovely Tear 142 Lover, The (Pinter) 927 Lovers ofGudrun, The 763 Love's Cruelity 346 Love's Cure, or The Martial Maid 331 Love's Horoscope 364 Love's Labour's Lost 267, 291, 292 Love's Last Shift 450, 547 Loves of the Triangles 583 Love's Riddle 381 Love's Sacrifice 344—345 Love's Victim 551 Lowell, Amy 868, 869 Lowell, James Russell 578, 636-637, 745 f., 850

Lowell, Robert 892, 899, 900 Lowry, Malcolm 983, 984-985 Lowth, Robert 493 Loyalties 902 Lucan 15, 90 Lucas, Edward Verrall 849 Lucas, Margaret s. Cavendish, Margaret Lucas von Gast 128 Lucifer in Starlight 602 Lucius Junius Brutus 443 Luck of Barry Lyndon, The 797 f. Luck of Roaring Camp, The 824 Luck or Cunning ? 812 Lucky Jim 988 Lucky Mistake, The 448 L»cy-Gedichte 601 Ludus Conventriae 121, 146, 148, 209 Ludwig XI. von Frankreich 654 Ludwig XIV. von Frankreich 356, 470 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 439, 471, 474, 487 Lulu: A Sex Tragedy 929 Lupercal 894 f. Lupset, Thomas 235 Lupus von Troyes, St. 5 Lusty Juventus 212 LutelSoth Sermun 114 Luther, Martin 229, 237, 731 Lutrin, Le 478 Lycidas 399-400 Lycus the Centaur 625 Lydgate, John 182, 190-191,192-195, 196, 198, 206, 208, 215, 249, 502 Lying Lover, The 510, 547 Lyly, John 267-268,282-283, 289, 292, 323 Lyrical Ballads 570, 571, 575, 588, 591, 597, 598, 601, 602, 618 Lyrik, religiöse ae. 30—32 Lyrik, religiöse 12. Jh. 96-98 Lyrik, religiöse 13. Jh. 105-109 Lyrik, religiöse 14. Jh. 141-143 Lyrik, religiöse 15. Jh. 188-191 Lyrik, weltliche 13. Jh. 109-112 Lyrik, weltliche 14. Jh. 143-144 Lyrik, weltliche 15. Jh. 186-188 Lyttelton, George, Lord 490, 491, 543 Mabinogion 754 Macaulay, Thomas Babington 543, 740-741 Macbeth 316-317 MacBeth, George 892 Macchiavelli, Niccolo 286, 403 McCullers, Carson 1001,1022 MacFlecknoe 438-439 Machault, Guillaumede 172, 173, 176 MacKaye, Percy 933-934 Mackenzie, Sir George 441 Mackenzie, Henry 530 Mackintosh, James 562 Macklin, Charles 545 MacLeish, Archibald 879-880 MacNeice, Louis 885, 887—888 Macpherson, James 497, 540

Register Mad World, My Masters, A 340 Madame Butterfly 933 MadocSSS, 586 Maeoniae 366 Maeviad, The 583 Maggie: A Girl of the Streets 830 Maginn, William 568 Magistrate, The 782 Magnalia Christi Americana 418 Magnetic Lady, The 327 Magnificence 211-212, 213 Magnificence (Bremen) 931 Magus, The 990 Maid Marian 664 Afa»W of Bath, The 545/546 Maiden Mary and her Fleur-de-Lys 142 Maid's Revenge, The 346 Λ/Λί'ί/'ί Tragedy, The 332-333 Mailer, Norman 1002, 1003, 1004 Main Currents in American Thought 852 Main Street 963 Main-Travelled Roads 826 Major Barbara 905 Making of Americans, The 992 Malamud, Bernard 1004, 1022, 1023 Malcolm 1009 Malcontent, The 337 Λ/ /e Aeg/e, La 196 Mallarme, Stephane 856 Mallet, David 498, 553 Mallet, Paul Henry 494 Malone Dies 984 Malory, Thomas 100,166,206-208, 219, 754, 762 Malthus, Thomas Robert 465 Man Against the Sky, The 859 f. Man and Superman 905 Man for All Seasons, A92S Man of Business, The 546 Man of Feeling, The 530 Man of Mode, The 447 Man of the World, The 530 Man Who Came to Dinner, The 936 Man who Died, The 971 Man with the Blue Guitar, The 881 Mandelbaum Gate, The 990 Mandeville, Bernard 465 Manfred 574, 603, 608 Manhattan Transfer 992 Mankind 210, 213 Mann, Thomas 951 Mannyng, Robert, von Brunne 116, 169 Man's a man for a' that, A 506 Mansfield, Katherine (Kathleen Beauchamp) 817, 827, 1013-1014 Mansfield Park 642 Mansion, Colard 205 Manruanus, Baptista Spagnolo 215 Manuel des Pechiez (Peches) 116 Manzoni, Alessandro 662 Map, Walter 75, 86, 90, 93 Marble Faun, The 683 Marco Millions 940

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Marcus Tullius Cicero's Death 248 Margaret Cavendish 428 Margarete von Anjou 219 Margaret's Ghost 498 Marherete, Seinte 99 Maria, K nigin von England 209, 212, 230, 237, 261 Maria Stuart 186, 230, 261, 353, 654, 903 Marie de France 82, 83-84, 119, 158, 159 Afzd-Legende 120 Marino, Giambattista 366 Marino Faliero 607 Marius the Epicurean 738, 808 Mark Rutherford's Deliverance 807 f. Marlborongh: His Life and Times 846 Marlowe, Christopher 265, 277, 285-288, 289, 296, 334, 337 Marmion 651, 652 Marmion, Shakerley 395 Marprelate, Martin 239 Marriage 658 Marriage a la Mode 446—447 Marriage of Heaven and Hell, The 508 Marriage of Wit and Science s. Wit and Science Married Philosopher, The 548 Marryat, Frederick 662-663, 669, 684 Marsh, Edward 864, 866 Marshall, Stephen 416 Marston, John 334, 336-337, 341, 378 Marston, John Westland 782 Marston, Philip Bourke 765 Martens, Thierry 205 Martial 375, 378, 415 Martin Chuzzlewit 795 Martyn, Benjamin 553 Martyn, Edward 912 Martyrologium (ae.) 58 Marvell, Andrew 368-370, 375, 404, 438, 770 Marx, Karl 614, 724, 852, 885, 886 Mary, a Fiction 639 Mary Barton 793 Mary Hamilton \ 86 Mary Rose 914 Mary Stuart (Drinkwater) 916 Mary Stuart (Swinburne) 764 Masefield, John 865, 902-903 Mask of Anarchy, The 564, 614 Mason, William 491, 553 Masque of Beauty, The 328 Masque of Blackness, The 328 Masque of Judgement, The 933 Masque of Queens, The 328 Masque of the Red Death, The 677 Masqueraders, The 783 Massacre at Paris, The 286 Massinger, Philip, 342-344, 346, 554 Master of Ballantrae, The 814 Master of Game, The 135 Masters, Edgar Lee 862-863 Masters, The 982 Mather, Cotton 418 Mather, Increase 418

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Register

Mather, Richard 418 Mathilda, Gemahlin Heinrichs I. 75 Matthew, Paris 102-103 Matthew-Gedichte 601 Matthews, Brander 934 Matthiessen, Francis Otto 580, 852 f. Maturin, Charles Robert 627, 649 Maud 754 Maugham, William Somerset 906-907, 957,1012 Maupassant, Guy de 819 Maurice, John Frederick Denison 588, 724 Mavor, Osborne Henry s. Bridie, James Maximian 95, 114 Maxims I s. Exeter-Spruch Maxims II. s. Cotton Lehrspruch Maximus Poems 898 May, Thomas 347 May-Day 334 Maypole of Merry Mount, The 681 Mazzini, Guiseppe 700, 765 McTeague 829 Meaning of Meaning, The 844 Measure for Measure 278, 296, 297-298, 315, 337, 340 Mechthild von Magdeburg 137 Medal, The 438 Medal of John Bay es. The 438 Medea (Jeffers) 882 Meditation upon a Broomstick, A 517 Meditations among the Tombs 488 Medwall, Henry 211,213-214 Meierhold (Meyerhold), Wsewolod 936 Meleager 277 Melibeus 136 Melincourt 664 Melmoth the Wanderer 649 Melusine 205 Melville, Herman 579, 580, 581, 667, 669, 679, 680684-688, 721, 722, 816, 886, 1018 Member of the Wedding, The 1001 Memoirenliteratur 427—430 Memoirs (Cowper) 503 Memoirs (Harrison) 428-429 Memoirs (Hervey) 539 Memoirs of a Cavalier 515 Memoirs of a Fox-Hunting Man 867 Memoirs of a Lady of Quality 525 Memoirs of a Midget 864 Memoirs of an Infantry Officer 867 Memoirs of Captain George Carleton 515 Memoirs of Colonel Hutchinson 428 Memoirs of M. de Voltaire 532 Memoirs of Miss Sidney Bidulph 529 Memoirs of my Dead Life 949 Men and Women 756 Men Without Women 1019 Menaechmi 291 Menaphon 268 Mencken, Henry Lewis 850 f. Menologium 55 Merchant of Venice, The 292, 295-296 Mercurius Politicus 404, 513

Mercy Passes All Things 142 Meredith, George 520, 602, 751, 765, 803-805, 806, 807, 814 Meres, Francis 384 Merrill, James 900 Merry Devil of Edmonton, The 319 Merry Men, The 814 Merry Wives of Windsor, The 294, 320 Mervin, William Stanley 900 Messiah, The 476 Metalogicon 75, 92 Metamorphosen (Ovid) 175, 243-244 Metamorphosen {übers. Golding) 243 Metamorphosis Goliae episcopi 86—87 Metrik (ae.) 23-25, 40 Metrik (Aldhelm) 15; (Beda) 17 Michael 600 Michael and his Lost Angel 783 Michael Robartes and the Dancer 857 Michael von Northgate, Dan (Dominus) 116 Michaelmas Term 340 Micro-Cosmography 426 Middle Age of Mrs. Eliot, The 986 Middlemarch 803 Middleton, Thomas 335, 339-342, 345, 446, 695 Midsummer Night's Dream, A 293, 319/320 Mikado, The 784 Milbanke, Anne 606 Mill, James 465, 568 Mill, John Stuart 572, 587/588, 596, 726, 727, 741 Mill on the Floss, The 802 Millais, John Everett 758 f. Millay, Edna St. Vincent 882, 935, 936 Miller, Arthur 944-945 Miller, Henry 1005 f. Miller, Joaquin 723, 774-775 Milman, Henry Hart 628 Milnes, Richard Monckton (Lord Houghton) 758 Milton, John 40, 251,262, 328, 329, 397-408, 425, 437, 440, 472, 485, 487, 494, 496, 508, 511, 537, 589, 591, 600, 601, 602, 603, 618, 620, 680, 736, 740, 768, 875, 987 Milton (Blake) 508 Milward, Richard 424 Mind, Will and Understanding 209, 210 Minerva Britanna 372 Minor, The 546 Minot, Laurence 150 Minstrel, The (Beattie) 493, 502 Minstrelsy of the Scottish Border 651 Minturno, Antonio Sebastiane 242 Miraculum Beatae Maria 140 Mirandola 629 Mine it is while sumer Hast 110 Mirour de l'Omme 169 Mirror for Magistrates, A 195, 249, 250, 263, 264 Miscellanea (Temple) 433 Misfortunes of Arthur, The 277 Misfortunes ofElphin, The 664 Miss Lonelyhearts 996 f. Mr. Bolfry9l5 Mr. Johnson 981

Register Mister Roberts 936 Mr. Sammler's Planet 1004 Misterien 123, 208-209, 279 Mistress, The 381 Mrs. Dalloway 974 Mrs. Dane's Defence 783 Mrs. Warren's Profession 905 Mitchell, Margaret 821 Mitchell, Silas Weir 821 Mitford, Mary Russell 568, 581, 628, 661 Mitford, William 496, 43 Moby Dick; or The Whale 685-686 Modem Husband, The 522 Modern Instance, A 828 Modem Love 805 Modem Lover, A 806 Modem Painters 733 Modest Proposal, A 519 Moliere, Jean Baptiste Poquelin 446 Moll Flanders 515, 516 Molloy 984 Moly 894 Man inpe mone 144 Monastery, The 654 Manikins, The 670 Monk, George 355 Monks and the Giants, The 609 Monna Innominata 760 f. Monody on the Death ofChatterton 589 Monroe, Harriet 859 Monsieur d'Olive 334 Monsieur Thomas 330—331 Mont Blanc (>\2 Montagu, Elizabeth 540 Montagu, Lady Mary Wortley 477, 538 Montague, Charles Edward 960 Montaigne, Michael Eyquem de 244, 421,433, 463, 696, 706, 708, 738 Montemayor, Jorge de 271, 292 Montesquieu, Charles Louis de Secondat de 500, 532, 541 Montgomery, James 626 Monthly Review 566 Moody, William Vaughn 933 Moon for the Misbegotten, A 941 f. Moon of the Caribbees, The 939 Moonstone, The 791 Moore, Edward 512, 546, 556 Moore, George 718, 806, 809, 912, 949-950 Moore, George Edward 840 Moore, Dr. John 647 Moore, Marianne 879 Moore, Thomas 568, 571, 574, 604, 623 Moore, Thomas Sturge 916 Moral Essays (Pope) 479, 481, 482 Moralists, The 464 Moralitäten 209-213, 279 Morall Fabillis ofEsope 199 More, Gertrude 354 More, Hannah 553, 627, 640, 660 More, Henry 358, 388, 419 More, Paul Elmer 850, 853

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More (Morus), Thomas 211, 218, 219, 221, 233-235, 237, 239, 354, 423, 586, 812, 928 More Pricks than Kicks 983 Morgan, Charles Langbridge 960 Morgan, Lady (Sydney Owenson) 658—659 Morier, James Justinian 661 Morley, Lord (Parker, Henry, 8th Baron Morley) 245 Mornings in Mexico 971 Morris, William 718, 726, 733, 738, 761-763, 808, 856, 886 Morrison, Arthur 817 Morte Arthur (Roman in Balladenstrophen) 163 Mone Arthure (Stabreimender Versroman) 156, 166, 207 Mone D'Anhur, Le (Malory) 206-208, 236 Mone a'Arthur (Tennyson) 754 Morton, Thomas 549 Mother Bombie 283 Mother Hubberds Tale 252 Mother of God 190 Motley, John Lothrop 747 f. Mottram, Ralph Hale 960 f. Mount of Olives 367 Mountain Interval 861 Mourning Becomes Electra 940 f. Mourning Bride, The 449 Mucedorus 320 Much Ado About Nothing 294 Mudie, Charles Edward 787, 806 Muiopotmos 252—253 Muir, Edwin 870-871 Muir, Willa 870 Mulcaster, Richard 236 Mummer's Wife, A 809 Mundus et Infans s. World and Child Munera Pulveris 734 Murder in the Cathedral 917 Murdoch, Iris 983, 989-990 Murfree, Mary Noailles ('Charles Egbert Craddock') 820 Muming May den, The 199 Murphy 983 Murphy, Arthur 545, 546 Murray, Gilbert 849 Murray, John 571 Murry, John Middleton 1014 Musaeus Grammaticus 265 Musicks Duell 366 Musophilus 263 Müsset, Alfred de 646 Mussolini, Benito 873 Mutability (,Q2, 611 My deier Sim/i/e 662 Peter Wt/fc»M 529 Petite Palace ofPettie his Pleasure, A 245 Petrarca, Francesco 102, 159, 178, 245, 246, 247, 248, 255, 258, 689, 760 Petronius Arbiter 920 Petrus Cantor 95 Petticoat, The 478 Pettie, George 245 Petwonh, Richard 221 Pfarrer vom Kalenberg, Der 244 Phaer, Thomas 243 Phantom Ship, The 663 Pharao's Army 56 Pharonnida 395, 396-397 Phelps, William Lyon 934 Philarete, s. Wither, George Philanderer, The 905 Philaster 331-332 Philip Sparrow 216 Philipp II. von Spanien 230 Philipp der Gute von Burgund 205 Philipp der Kühne 115 Philippa von Hennegau 169 Philippe de Greve 142 Philippe de Thaon 80, 81, 112 Philips, Ambrose 477, 483, 510, 551, 554 Philips, John 478 Phillipps, Edward 495 Phillips, David Graham 852, 963 Phillips, Stephen 915 Philobiblon 102 Philomena (Hoveden) 106 Philomena (Pecham) 106 Philosophical Inquiry into the Sublime and the Beautiful 493 Philosophy of Composition, The 675, 676 Philosophy of Rhetoric, The 844 f. 'Phiz' s. Browne, Hablot Phoenix, The 40, 50, 51-52 Phoenix, The (Middleton) 340 Phoenix' Nest, The 259 Phoenix ioo Frequent, A 920, 921 Physiologus (ae.) 50, 52, 55, 56, (me.) 80 Phytologia 583 Pia Desiderui 372

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Pickering, John 278 Pickwick Papers, The 794 f. Picture, The 343 Picture of Dorian Gray, The 718, 785, 808 Pierce Pennilesse 273 Piero da Monte 221 -222 Pierre von Blois 75 Pierrot of the Minute, The 773 Piers Plowman 152-154, 156, 157, 186, 262 Pilgrim's Progress 431, 432 Pilgrimage 364 Pilgrimage (Dorothy Richardson) 972 Pilgrims of Hope, The 763 Pills to Purge Melancholy 385 Pilot, The 669 Pincher Martin 987 Pindar 374, 382 'Pindar, Peter' s. Wolcot John Pindaric Odes 381-382 Pinero, Arthur Wing 782 f., 784 Ping 984 Pinter, Harold 927-928 Pioneers, The 668, 669 Pioneers! Pioneers! 722, 777 Piozzi, Hester Lynch (Mrs. Thrale) 536 Piper, The 933 Pippa Passes 755 Pirandello, Luigi 913 Pishgah-Sight, A 412 Pistil of Susan, The 139-140, 156 Pits, John 495 Pitt d.Ä., William, Earl of Chatham 459, 461 Pitt d.J., William 459, 561, 562, 589 Pius II., Papst 222 Pizarro 550 Plain Dealer, The 448 Plain Speaker, The 696 Plain Tales from the Hills 815 Planctus Mariae 107, 190 PUnctus super Episcopis 110 Planet News 898 f. Plantin, Christoph 205 Plath, Sylvia 899 f. Plato 75, 76, 92, 104, 221, 232, 234, 241, 243, 253, 254, 270, 368, 416, 419, 689, 705, 708, 738, 768 Plato and Platonism 738 Platonic Lovers, The 347 Platonic Wife 548 Plautus, Titus Maccius 275, 276, 291, 323 Play 926 Play of Love, The2\4 Play of the Weather, The 214 Playboy of the Western World, The 911 Playground of Europe, The 729 Plays for Poem-Mimes 936 Plays on the Passions 628 Plays Pleasant und Unpleasant 784 Pleasant Satyre of the Thrie Estaitis, Ane 202, 212, 925 Pleasure Reconciled to Virtue 328 Pleasures of Hope 584

1062

Register

Pleasures of Imagination 489, 492 Pleasures of Memory 584 Plegmund, Erzbischof von Canterbury 18, 59 Plexus 1005 f. Plinius d.Ä. (übers. Holland) 244 Plotin 232, 898 Plough and the Stars, The 913 Plumed Serpent, The 971 Plumpton Correspondence 179 Plutarch 221, 310, 311, 317, 418 Plutarch (übers. North) 244 Poe, Edgar Allan 568, 578, 579, 581, 637, 660, 675-679, 721, 722, 774, 815, 816, 825, 827, 880, 10 6 Poema Morale 94-95, 98 Poems and Ballads (Swinburne) 764 Poems ana Ballads of Young Ireland 855 Poems and Lyrics of the Joy of Earth 805 Poems descriptive of Rural Life and Scenery (Clare) 624 Poems of Dedication 887 Poems of Felicity 368 Poenitentiale (Eanberth von York) 25 Poenitentiale Ecgberti 61 Poet at the Breakfast Table, The 745 Poetaster, The 324, 337 Poetical Blossoms 381 Poetical Rapsody 259 Poetical Sketches (Blake) 507 Poetria nova 87 Poetry of Architecture, The 733 Point Counter Point 977 Policraticus 86, 92, 93 Political Discourses 467 Political Economy of Art, The 733 Political Justice 562, 647 Politician, The 346 Pollard, Percival 850 f. Polly 483, 544 Polly Honeycombe 546 Polychronicon 134 Polydore Virgilio 234, 240 Poly-Olbion 264-265, 388 Pomfret, John 474, 475 Pompanazzo, Pietro 235 Poor Richard's Almanac 540 Poorhouse Fair, The 1009 Pope, Alexander 381, 383,195, 436,439,457, 459, 463,473,475-483,490, 494,495, 505, 510,516, 518, 528, 535, 537, 544, 553, 571, 582, 584, 604, 691, 736, 743 Pope's Wedding, The 930 Poplar Field, The 504 Popple, William 545 Porter, Katherine Anne 827, 1001,1021 Porter, Peter 892 Porter, William Sydney s. Henry, O. Portnoy's Complaint 1004 f. Portrait of a Lady, The 832, 833 Portrait of the Artist as a Young Dog 890 Portrait of the Artist as a Young Man, A 972 Posies, The (Gascoigne) 250

Posthumous Papers of the Pickwick Club, The 794 f.

Pot of Earth, The 879 Pound, Ezra 844, 845, 853-854, 857, 858, 859, 868, 869, 871-874, 878, 879, 883, 908 f. Powell, Anthony 982 Power and the Glory, The 980 Powys, John Cowper 958 Powys, Theodore Francis 958 Praed, Winthrop 625, 745 Praelectiones Academicae de Sacra Poesi Hebraeorum 493 Präraffaeliten 617, 718, 733, 758 ff. Praeterita (Autobiographie Ruskins) 734 Pragmatism 840 Prairie, The 667, 670, 672 Prayer Book 4\2 Precepts s. Vaters-Lehren Predictions for the Year 1708 517 Prelude, The 597, 598, 599-600 Preludes 880 f. Premiere Semaine (übers. Sylvester) 389—390 Premierfait, Laurent du 195 Preparatory Meditations 373 Prescott, William Hickling 747 Present State of'Ireland, The 253 Preston, Thomas 278 Prevost, Abbe 529, 639, 643 Price, The 945 Prick of Conscience, The (Stimulus Conscientiae) 117 Pricksongs &· Descants 1025 Pride and Prejudice 641-642 Pride of Life 209, 210, 213 Priestley, John Boynton 903—904, 961 Priestley, Joseph 468, 561, 585, 589, 698 Prince Athanase 612 Prince Hohenstiel-Schwangau 756 f. Pnnce Robert 185 Prince's Progress, The 761 Princesse de Cleves, Lit 519 Pnncipia Ethica 840 Principia Mathematica 840 Principles of Literary Criticism 844 Principles of Moral and Political Philosophy 468 Principles of Political Economy 726 Principles of Psychology 744 Prior, Matthew 386, 474-475, 503, 537 Priskos 30 Prisoner of Chilian, The 606 Private Devotions 411 Private Enterprise 902 Private Memoirs (Digby) 428 Private Memoirs and Confessions of a Justified Sinner, The 658 Private Papers of Henry Ryecroft, The 728, 808 Pro Populo Anglicano Defensio 402 Pro se Defensio 403 Proces of the Seuyn Sages, The 129—130 Procter, Bryan Waller ('Barry Cornwall') 629, 689 Professor at the Breakfast Table, The 745

Register Professor of Desire, The 1005 Professor's House, The 967 Progress and Poverty 721 Progress of Poesy, The 494, 499 Progress of Romance, The 533, 644 Protective Verse 898 Prometheus 603 Prometheus Unbound 614 Promos and Cassandra 278, 297 7&e Prophecy of Famine 484 Prosodia Rationalis 496 Protheselaus 84 Proust, Marcel 928, 971, 974, 983 Proverbs of Alfred 59, 86, 94 Proverbs ofHendyng 112 Provoked Husband, The 547 Provoked Wife, The 450 Prufrock 875 Prynne, William 242 PWmi m Λ/etre 387 Psalter, Pariser 54 Pseudodoxia Epidemica 422 Psychozoia 388 Puccini, Giacomo 933 Puck of Pook's Hill 8\6 Pulci, Luigi 609 Ρ«//ςν, 7*e 364 Puppet-Plays 936 Purcell, Henry 356 Purdy, James 1009, 1022, 1023 Purgatory 909 Puritan, The 320 156, 167, 168 W, Tie 388, 393 Purvey, John 136 Pusey, Edward Bouverie 725 Put Out More Flags 979 Puttenham, Richard 242 Pygmalion 905 Pynchon, Thomas 1007 Pyramid, The 987 Quare Fellow, The 923-924 Quarles, Francis 371-372, 390-391 Quarterly Review 568, 583, 618 Queen Mab6U Queen Mary 754, 781 Queen-Mother, The 764 Queen's Wake, The 65$ Quentin Durward 654, 655, 662 Quia amore Ungueo 143 Quiet American, The 980 Quintessence of Ibsenism, The 783 f., 904 Quintilianus, Marcus Fabius 236, 473 Quip, The 363 Rabbit is Rich 1010 Rabbit Redux 1009 f. Rabbit, Run 1009 Rabelais, Fra^ois 216, 375

Racine, Jean 551,552, 553 Radcliffe, Ann 619, 643, 644-646, 667 R tsel (ae.) 15, 29-30 Raffael, Santi 759 Rainbow, The 970-971 Raine, Kathleen 890 Raisin in the Sun, A 948 Raleigh, Sir Walter 253, 259, 261, 423, 424 Ralph Roister Doister 214, 275-276 Rambler, The 512, 535 Ramona 819 Ramsay, Allan 505 Ramus, Petrus 415 Ranke, Leopold von 742, 748 Ransom, John Crowe 852, 854, 884, 899 Ranulf von Glanville 85 Rape ofLucrece, The 266 Rape of the Lock, The 478, 479, 480 Rape of the Smock, The 478 Rapture, The 379 Rasselas 532, 535 Rastell, John 211 Rastell, William 234 Rattigan, Terence 907 Ravenscroft, Edward 445, 546 Rawlinson-Fragmente 143 The Raven 676, 678 Reade, Charles 764, 790, 813 Reading of Earth, A 805 Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth, The 403 Real Inspector Hound, The 929 Reason and Religion 699 Reason and Sensuality 193 Reason of Church Government urg'd against Prelaty, The 402 Reasonableness of Christianity, The 462 Rebecca and Rowena 797 Rebel Scot, The 57S Recess, The 644 Recessional, The 816 Recluse, The 597, 598-599 Recognitions, The 1006 Recordare sanctae cruets 106 Recruiting Officer, The 450 Rectitudines 65 Recuyell of the Historyes ofTroye 205 Red Badge of Courage, The 830 Red Book ofOssory 143 Red Cotton Night Cap Country 757 Red red Rose, A 506 Red Roses for Me 913 Red Rover, The 669 Rede der Seele an den Leichnam 53, 94 Redemption 364 Redford, John 212 Redgauntlet 655, 660 Redgrove, Peter 892 Redskins, The 670 Reed, Sampson 705 Reeve, Clara 533, 644 Reflections in a Golden Eye 1001

1063

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Register

Reflections on the Revolution in France 461, 561 Reflector 695 Regement of Princes 196 Reginald von Canterbury 74 Rehearsal, The 441, 544 Reid, Thomas 464, 468 Reign of King Edward III, The 319 Reimlied 24, 32, 35 Rejoinder of Jacke Upland, The 157 Relapse, The 450 Religio Laid 395, 439 Religio Medici 422 Religion of Nature Delineated 462 Religious Musings 589 Religious Songs ofConnacht, The 855 Reliquiae Baxterianae 417 Reliques of Ancient English Poetry 498 Reminiscences of the Impressionist Painters 949 Remorse 593 Renaissance in Italy 743 Renegade, The 343 Reply of Friar Daw Thopias, The 157 Representative Men 705 Represser of Overmuch Blaming of the Clergy 220 Reprisall 364 Rerum Anglicarum et Hihemicarum Annales 241 Rerum Scoticarum Historia 232 Aesote, T6e 954 Resignation 7 Resoun and Sensttallyte 193 Resounding Tinkle, The 926 Responsibilities 857 Responsibilities of the Novelist, The 850 Respublica 212 Restoration of Arnold Middleton, The 928 7?et»r» of Peter Grimm, The 933 Aet«nj of the Native, The 806, 810 Revelations of Divine Love 139 Revenge, The (Young) 553 Revenge ofBussy D'Ambois, The 335 Revenger's Tragedy, The 337—338 Reverie in the Boar's Head Tavern, A 531 Reveries over Childhood and Youth 858 Review of the English Stage, A 697 Aet>o/£ of Islam, The 612 Rewards and Fairies 816 Reynard the Fox 865 Reynolds, Henry 388 Reynolds, Sir Joshua 493, 536 Rhoda Fleming 804 Rhododaphne 664 Ricardo, David 465 Rice, Elmer (Reizenstein) 937, 943 Riceyman Steps 950 Rich, Lord 256 Richard II. 130, 132, 150, 151, 170, 172, 173 Richard II2M, 304 Richard III. 179, 182, 229, 233, 241 Richard 7/7303,317 Richard Coeur de Lion 127 Richard de Bury 102 Richard Fitz Neal 85

Richard Löwenherz 81, 654 Richard the Redeless 151 Richard von Cornwall 111 Richard von Fournival 112 Richard von Maidstone 150 Richard von Middleton 104 Richards, Ivor Armstrong 844 f., 854 Richardson, Dorothy 834, 971-972 Richardson, Samuel 463, 467, 519-521, 524, 525, 527, 531, 642, 817 Richardus Tertius 276 Riche, Barnabe 295 Riche his Farewell to Militarye Profession 295 Richelieu 346 Richelieu 628, 663 Riders to the Sea 910 Riding, Laura 870 Ridler, Anne 843 f. Right Royal 865 Rights of Man, The 562 Rights of Woman, The 612, 700 Riley, James Whitcombe 722, 723, 775 Rilke, Rainer Maria 886, 891 Rimbaud, Arthur 773 Rime of the Ancient Mariner, The 592 Ring and the Book, The 751, 756 Rip van Winkle (Irving) 673 Rip van Winkle (Joseph Jefferson) 932 Rip van Winkle (Steele MacKaye) 934 Ripley, George 699, 700, 701, 703 Rise of Silas Lapham, The 828 Rising of the Moon, The 911 Rites of Passage 988 Ritson, Joseph 498, 651 Rival Ladies, The 434, 445, 446 Rival Queens, The 444 Rivals 550 River Duddon, The 602 Rivers, Anthony Wydeville, Earl 206 Road to Ruin, The 556, 627 Roaring Girl, The 335 Rob Roy 653-654, 655, 656 Robbe-Grillet, Alain 991 Robene and Makyne 199-200 Robert de Boron 128 Robert de Vere 151 Robert of Sicily 164 Robert von Chester 85 Robert von Gloucester 79, 103 Robert E. Lee 916 Roben Elsmere 803 Roberts, Michael 885 Robert's Wife 902 Robertson, Thomas William 782 Robertson, William 536, 540, 541-542 Robin Hood 186 Robinson, Edwin Arlington 859—860 Robinson, Emma 789 Robinson, Henry Crabb 575, 586-587 Robinson, Lennox 912 Robinson, Ralph 233 Robinson Crusoe 514

Register Rochester, Earl of s. Wilmot, John Rock, The 9\7 Roderick Hudson 831 Roderick Random 525 Roderick the Last of the Goths 586 Roethke, Theodor 896-897 Roger von Marston 104 Roger von Pont 1'Eveque 75 Roger von Wendover 102 Rogers, Samuel 584 Roland and Vernagu 160 Roland-Dichtung 160 Rolle, Richard von Hampole 136, 137, 138, 139, 141,142,155,168,219 Rolliad, The 484, 582 Rollo (Hrolf), normann. Herzog 71 Roman Actor, The 343—344 Roman de Brut 79, 82 Roman de Rou 81 Roman de Taute Chevalerie 84 Roman de Troie 82 Roman Father, The 553 Roman History (Goldsmith) 532 Romance of the Forest 645 Romans in Britain, The 931 Romantic Tales 646 Romany Rye, TheSUf. Romattnte of the Cnyghte 502 Romeo and Juliet 309-310, 311, 344 Romola 790, 803 Ronsard, Pierre de 252 Room, The 927 Room at the Top 988 Room with a View, A 959 Roosevelt, Franklin Delano 841 f. Roosevelt, Theodore 721, 841 Roots 924 Roper, William 234 Ros, Sir Richard 192 Rosalind and Helen 612 Rosalynde 294 Rosalynde, Euphues' Golden Legacy 268—269 Rosamond 764 Rosciad, The 484 Roscoe, William 691 Rose, The (Theater) 280 Rose for Emily, A 1020 Rose of England, The 182 Rose of Rouen 182 Rosencrantz and Guildenstem Are Dead 929 Rosenroman 170, 172, 173, 199, 204 Rossetti, Christina 752, 760 f. Rossetti, Dante Gabriel 507, 758, 759-760, 766, 856 Roth, Philip 1004-1005 Rough Justice 9(>Q Round Table, The 696 Rourke, Constance 851 Rous, John 428 Rousseau, Jean-Jacques 562, 565, 594, 646, 853, 979

1065

Rover, The 449 Rowe, Nicholas 444, 554 Rowlands, Samuel 426 Rowley, William 340-341, 688 Roxana 515, 516 Royal Court Theatre 922 Royal Master, The 346 Royal Shepherdess, The 546 Royal Society 388, 433 Rubaiyat of Omar Khayyam, The 766 Rubens, Peter Paul 356 Ruine 32, 35-36 Ruines of Time 252 Ruins and Visions 887 Ruins of Rome, The 486 Rule a Wife and Have a Wife 331 Ruling Class, The 929 Runenlied 27 Rural Rides 564 Rural Spans 483 Ruskin, John 595, 692, 697, 727, 729, 732-735, 738, 739 Russell, Bertrand 840 Russell, George William ('A.E.') 858-859 Ruth (Hood) 625 Rutherford, Samuel 416 Rybbesdale 144 Ryman, James 188 Rymer, Thomas 441 Sacharissa 382 f. Sachsenchronik 58, 59, 73, 78, 103 Sackville, Charles, Lord Buckhurst Earl of Dorset 385,434 Sackville, Thomas, Lord Buckhurst 249-250,277 Sackville-West, Victoria 974 Sacred Wood, The 874 Sacrorum Emblematum Centuria Una 372 Sad Shepherd, The 329 Sade, Marquis de 765 Sailing to Byzantium 857 f. Saint-Evremond, Charles de Marguetel de 382 St. John, Henry, Viscount Bolingbroke s. Bolingbroke St. Mary Magdalene 209 St. Patrick 's Day 550 Si. Patrick's Purgatory 119 St. Paul and Protestantism 737 St. Peter's Complaint 391 Saint-Pierre, Jacques Henry Bernardin de 670 St. Ronan's Well653, 654-655 Sainte-Beuve, Charles Augustin 697 Saints and Sinners 783 Saints' Everlasting Rest, The 417 Saintsbury, George 843 Salinger, Jerome David 1002—1003, 1004, 1022-1023 Salmacida Spolia 329 Salmasius (Claude de Saumaise) 402 Salome 785 Salomo and Saturn 55, 56 Samson Agonistes 408

1066

Register

Sancta Sophia 354 Sandburg, Carl 862, 863 Sanderson, Robert 412,427 Sandford and Merton 529, 639 Sandys, George 377, 379, 384 Sannazaro, Jacopo 389 Santayana, George 679, 690, 744-745, 851, 874, 969-970 Sapho and Phao (Lyly) 282 Sappho to Phaon (Pope) 476 Sardanapalus 607-608 Saroyan, William 936 Sartor Resartus 575, 730 Sartoris 999 Sartre, Jean-Paul 893, 989 Sassoon, Siegfried 867 Satanstoe 670 Satire of Edinburgh 200 Satire of the Three Estates 202, 212, 925 Satire on the Consistory Courts 149 Satiromastix 324 Saturday Night and Sunday Morning 989 Saturday Review 724, 787, 850 Saunders, James 929 Saved 930 Savile, Henry 244 Savonarola, Girolamo 790 Sawles Warde 99, 100, 114 Saws of St. Bede 95 Saxo Grammaticus 10 Sayings of St. Bernard 115 Scale (Ladder) of Perfection, The 138 Scaliger, Julius Caesar 242 Scarecrow, The 934 Scarlet Letter, The 657, 667, 681-682 Scarron, Paul 519 Scenes of Clerical Life 802 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 587, 588,594, 595 Schicksale der Apostel 48, 49 Schiller, Ferdinand Canning Scott 840 Schiller, Friedrich 464, 543, 570, 575, 588, 595, 597, 635, 646, 651, 730 Schlacht bei Lewes l11 Schlegel, August Wilhelm 313, 324, 570, 575, 676, 697, 700 Schleiermacher, Friedrich 701 Schola Cordts 372 Scholar-Gipsy, The 736 School 782 School for Lovers 548 School for Rakes 548 School for Scandal 550 School for Wives 548 School of Abuse, The 242 Schoolmaster, The 236 Schoolmistress, The (Shenstone) 490 Schoolmistress, The (Pinero) 782 Schopenhauer, Arthur 905 Science and the Modem World 840 Scoop 979 Scornful Lady, The 330

Scots, wha hae wi' Wallace bled 506 Scott, Sir Walter 186, 498, 526, 567, 568, 569, 570, 571, 580, 581, 605,606, 627,628, 650-657,658, 660, 662, 668, 671, 673, 680, 788, 789, 817, 818 Scott-King's Modem Europe 979 Scottish Alexander Buik 204 Scottish History of James IV, The 284 Scottish Legend Collection 140 Scourge of the Villanie, The 378 Scrope, Richard 180 Scudery, Madeleine de 441, 442, 529 Sea and Sardinia 971 Seafarer, The 7, 32, 34, 35, 51, 872 Seasons, The 476, 486-487 Second Mrs. Tanqueray, The 782 f. Second Nun's Tale 119, 177 Second Skin 1006 Secret Agent, The 956 Secret Love 445, 446 Secret Rose, The 858 Secretary, The 474 Sedgwick, Catharine Maria 675 Sedley, Sir Charles 385-386,434, 448 Sedulius, Caelius 15 Seefahrer s. Seafarer, The Seege of Troy 165,181 Seeley, John Robert 742 Sege of Jerusalem 181 Sege ofMelayne 162 Seinte mari, moder milde mater salutaris 107 Seinte Resureccion 123 Sejanus His Fall 324-325 Selby, Hubert 1009 Seiden, John 374, 375, 377, 403, 404, 424 Selling, William 223 Seneca, Lucius Annaeus 243, 244, 276, 277, 289, 308, 309, 390, 473 Sense and Sensibility 641 Sensitive Plant, The 615 Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour 464 Sentimental Journey through France and Italy 528 Serious Call to a Devout and Holy Life 469 Serjeant Musgrave's Dance 925 Serlo von Bayeux 73—74 Serlo von Wilton 86, 89 Sermo Lupi ad Anglos 63 Sermo Lupi Episcopi 63 Sermons (Taylor) 414 Sermons of Mr. Yorick 528 Sesame and Lilies 734 Session of the Poets, A 379, 384 Settle, Elkanah 440, 441 Seuse, Heinrich 137, 138, 195 Seven Lamps of Architecture, The 733 Several Discourses by Way of Essays 433 Sexton, Anne 899 f. Sex«sl005f. Seymour, Robert 795 Shadow Line, The 956 Shadow of a Gunman, The 912

Register Shadowy Waters, The 856, 908 Shadwell, Thomas 438, 439, 445, 446, 448, 546 Shaffer, Peter 928-929 Shaftesbury, Earl of, s. Cooper, Anthony Ashley Shakespeare, William 161, 178, 181, 195, 231, 235, 240, 247, 251, 255, 256-258,260, 262, 266, 267, 268, 278, 279, 281, 283, 285, 287, 288, 289-321,322, 323,324, 325,329,330,333, 341, 344, 374, 391, 434, 442, 443, 444, 445, 492, 494, 496, 500, 528, 553, 554, 575, 587, 594, 595, 618, 619, 691, 693, 697, 706, 843, 916, 929, 930 Shakespeare-Apokryphen 319-321 Sharpe, William 493 Shaving ofShagpat, The 803 f. Shaw, George Bernard 717, 782, 783 f., 812, 849, 904-906,932 She Stoops to Conquer 532, 550 She wou'd if she cou'd 447 Sheeth and Knife 185 Sheffield, Holroyd, John Baker, Earl of 542 Sheffield, John, Earl of Mulgrave 384 Shelley, Mary s. Wollstonecraft-Shelley, Mary Shelley, Percy Bysshe243, 562, 563, 564, 569, 570, 571, 572, 574, 575, 588, 590, 600, 602, 606, 610-617,619,623, 625,626,649,662, 664,691, 695, 750, 755, 856 Shenstone, William 490,491, 498 Shepherd's Calendar, The 251,265 Shepherd's Garland, The 264 Shepherd's Week 483 Sherburne, Sir Edward 380 Sheridan, Frances 529, 533 Sheridan, Richard Brinsley 450, 544, 549, 550-551, 693 Sherlock Holmes 815 Sherriff, Robert 961 Sherston's Progress 867 Shewing-up of Blanco Posnet, The 905 Ship of State 182 Shipwreck, The 485 Shirley 801 Shirley, James 329, 345-346, 395 Shoemaker's Holiday, The 335 Shooting Niagara: and After? 732 Short Happy Life of Francis Macomber, The 1019, 1020 Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage, A 450 Short View of Tragedy, A (Thomas Rymer) 441 Shortest Way with the Dissenters, The 513 Shorthouse, Joseph Henry 813 Show-Off, The 935 f. Shropshire Lad, A 770 ShypofFolys, The 215 Sicetnon75, 104 Sicilian Romance, A 645 Sidney, Philip 186, 242-243,251, 252, 253, 254, 256,257, 258, 269-272, 315, 376, 384, 874 Siege of Corinth, The 606 Stege of Damascus, The 553 Siege of Rhodes, The 440

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Siege of Rotten, Tie 180-181 Siege of Thebes, Them, 194, 206 Siegfried's Journey 867 Sieyes, Emmanuel Joseph 404 Sigerson, George 855 Sighs and Grones 364 Sign on Sidney Brustein's Window, The 948 Signs of Death 115 Sigurd the Volsung 763 Silas Mamer 802 Silence 928 Silex Scintillans 366-367 Sillitoe, Alan 989 Silver Age, The ^6 Silver Box, The 902 Silver Cord, The 943 Silver Tassie, The 913 Simeon von Durham 78 Simms, William Gilmore 637, 671-672, 675 Simon, Abt von St. Albans 102 Simon de Fresne 82 Simon de Montfort 111, 149 Simple Story, A 627, 639 Simpson, Norman Frederick 926 f. Sinclair, Upton 852,963 Sinners Beware (The Saws of St. Bede) 115 Sinners in the Hand of an angry God 419 Sions Elegies 371 Sions Sonets 371 Sir Aldingar 185 SirAmadace 164 SirBevis of Hamtoun 126, 127, 160 Sir Charles Grandison 521 S:V Cleges 203 Sir Courtly Nice 449 Sir Degare 15», 1& Sir Degrevant 162 Sir Eglamour \5