Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur: Band I Von der altenglischen Zeit bis zum Barock [6th rev. Edition] 9783110949476, 9783484400986

Die »Geschichte der amerikanischen Literatur« von Walter F. Schirmer, die zuerst 1937 veröffentlicht wurde und 1954 in e

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German Pages 464 [468] Year 1983

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Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur: Band I Von der altenglischen Zeit bis zum Barock [6th rev. Edition]
 9783110949476, 9783484400986

Table of contents :
Vorwort
Abkürzungen
Erstes Buch: DIE ALTENGLISCHE ZEIT
I. Historisch-kulturelle Grundlagen der altenglischen Literatur
II. Wesenszüge der altenglischen Literatur
III. Die niedere Dichtung
IV. Preislied und Erzähllied
V. Epos
VI. Epische Legendenerzählung
VII. Religiöse Mahnung und weltliche Lehre
VIII. Die altenglische Prosa
Zweites Buch: DIE MITTELENGLISCHE ZEIT
I. Die zweite Hälfte des 11. und die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts
II. Die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts
III. Das 13. Jahrhundert
IV. Das 14. Jahrhundert
V. Das 15. Jahrhundert
Drittes Buch: DIE ZEIT DER RENAISSANCE
I. Die nicht-dramatische Literatur des 16. Jahrhunderts
II. Das Drama im 16. Jahrhundert
III. Das Drama in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts
Viertes Buch: DIE ZEIT DES BAROCK
I. Lyrische und satirische Dichtung
II. Die epische Dichtung und John Milton
III. Die Prosa
IV. John Dryden und das Drama

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WALTER F. SCHIRMER

GESCHICHTE DER ENGLISCHEN UND AMERIKANISCHEN LITERATUR BAND I

WALTER F. SCHIRMER

Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur Von den Anfängen bis zur Gegenwart BAND I Sechste, neubearbeitete Auflage Unter Mitwirkung von Ulrich Broich, Karl Heinz Göller, Dieter Mehl, Theo Stemmler, Erwin Wolff, Theodor Wolpers Herausgegeben von Arno Esch

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1983

1. 2. 3. 4. 5.

Auflage: 1937 (einbändige Ausgabe) Auflage: Band I und II 1954 Auflage: Band I 1959, Band II 1960 Auflage: Band I 1964, Band II 1967 Auflage: 1968 (einbändige Ausgabe)

Leinenausgabe.· Band I: Band II:

Von der altenglischen Zeit bis zum Barock Vom Klassizismus bis zum 20. Jahrhundert

ISBN 3-484-40098-6 ISBN 3-484-40099-4

Studienausgabe kart.: Band Band Band Band

1,1: Altenglische und Mittelenglische Zeit 1,2: Renaissance und Barock 11,1: Klassizismus und Romantik 11,2: Viktorianische Zeit und 20. Jahrhundert

ISBN 3-484-40101-x ISBN 3-484-40102-8 ISBN 3-484-40103-6 ISBN 3-484-40104-4

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1983 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband von Heinr. Koch, Tübingen

VORWORT ZUR SECHSTEN AUFLAGE Die „Geschichte der englischen Literatur" von Walter F. Schirmer, die zuerst 1937 veröffentlicht wurde und 1954 in einer durch den Einschluß des amerikanischen Schrifttums erweiterten Umarbeitung erschien, wird hiermit in einer Neuauflage vorgelegt. Da in einer Zeit intensiver Spezialisierung der Forschung das Gesamtgebiet der beiden Literaturen kaum noch von einem einzelnen Gelehrten zu überschauen sein dürfte, sind Verfasser und Verlag übereingekommen, die Neubearbeitung einem Kreis von Schülern und Freunden Schirmers zu übertragen. Die Mitarbeiter haben die verschiedenen Epochen einer durchgreifenden Revision unterzogen und in eigener Verantwortung und Freiheit Text und Anmerkungen der voraufgehenden fünften Auflage durch Erweiterungen, Kürzungen und Neufassungen auf den heutigen Stand der Forschung gebracht. Sie sind zugleich bemüht geblieben, Darstellung und Stil des aus einer Feder stammenden Werkes soweit wie möglich beizubehalten. Bei allem Streben nach Harmonie schien ihnen jedoch Uniformität nicht wünschenswert, vielmehr zeigen die einzelnen Teile eine unterschiedliche Nähe zum bisherigen Text, Unterschiede auch der Akzentuierung und Wertung, die sowohl die neue Forschungslage unserer Zeit wie die Sicht und die Interessen der jeweiligen Bearbeiter spiegeln. Jede Überschau verlangt natürlich eine Auswahl des Wesentlichen, doch möchte das Werk, der ursprünglichen Konzeption folgend, wenigstens bis zu einem gewissen Grade ein Gesamtbild erreichen. Daher ist es etwa für das Verständnis der alt- und mittelenglischen Literatur erforderlich, auch das in lateinischer und französischer Sprache verfaßte Schrifttum in die Betrachtung einzubeziehen, waren dies doch die Sprachen, die von den gebildeten Schichten in England gesprochen wurden. In den Kapiteln zur zeitgenössischen Literatur werden wie bisher mehr Werke und Namen genannt als eine spätere, sichtende Zeit voraussichtlich einmal gelten lassen wird. Methodisch ist die gattungsgeschichtliche Darstellung beibehalten worden, die zwar - wie jede Klassifizierung - nur ein Hilfsgerüst abgeben kann, deren Vorzüge aber, wie wir meinen, die Nachteile überwiegen. Die bibliographischen Angaben verzeichnen außer den Standardeditionen und Studienausgaben eine Auswahl der wichtigeren Arbeiten zu Biographie und Kritik, die dem Leser Wegweiser sein will im Dickicht der Sekundärliteratur. Das Buch möchte vor allem zu eigener Lektüre anregen und zu einem vertieften Verständnis der englischen und amerikanischen Dichtung führen. Herausgeber und Mitarbeiter sehen die Neubearbeitung zugleich als ein Zeichen ihrer Verehrung für den Gelehrten, Lehrer und Freund, den 'deere maister soverayn'. Bonn, im Februar 1983

Arno Esch

Die Bearbeiter der einzelnen Bücher: Erstes Buch:

Die Altenglische Zeit KARL HEINZ GÖLLER

Zweites Buch:

Die Mittelenglische Zeit THEO STEMMLER

Drittes Buch:

Die Zeit der Renaissance DIETER MEHL

Viertes Buch:

Die Zeit des Barock ARNO ESCH

Fünftes Buch:

Der Klassizismus ERWIN WOLFF

Sechstes Buch:

Die Romantik THEODOR WOLPERS

Siebtes Buch:

Die Viktorianische Zeit ULRICH BROICH

Achtes Buch:

Das Zwanzigste Jahrhundert ARNO ESCH

VII

INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Abkürzungen

Erstes Buch: DIE ALTENGLISCHE ZEIT Literatur

V XIII

i 3

I. Historisch-kulturelle Grundlagen der altenglischen Literatur 1. Die keltischen Kirchen 2. Die Angelsachsen 3. Die angelsächsische Kirche 4. Die Literatur des christlichen Humanismus

5 5 7 11 14

II. Wesenszüge der altenglischen Literatur 1. Überlieferung 2. Produktion und Rezeption der altenglischen Dichtung 3. Stil der altenglischen Dichtung 4. Metrik

18 18 20 21 23

III. Die niedere Dichtung 1. Zauberdichtung und Spruchdichtung 2. Merkdichtung 3. Rätsel

25 25 27 29

IV. Preislied und Erzähllied 1. Caedmons Hymnus und religiöse Lyrik 2. Die Elegien 3. Germanisches Heldenlied und Erzähllied

30 30 32 36

V.Epos 1. Religiöse Epik der Caedmonschule 2. Die weltliche Epik

38 38 41

VI. Epische Legendenerzählung 1. Judith 2. Cynewulf 3. Cynewulfschule

46 46 48 50

VII. Religiöse Mahnung und weltliche Lehre 1. Weltuntergang und Tod 2. Lehrhafte Dichtung .·

52 52 54

VIII. Die altenglische Prosa 1. Alfred und seine Vorläufer 2. Aelfric und Wulfstan . 3. Kleinere Denkmäler der kirchlichen und weltlichen Prosa

57 57 61 64

VIII

Inhaltsverzeichnis

Zweites Buch: DIE MITTELENGLISCHE ZEIT Literatur

I. Die zweite Hälfte des 11. und die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts . . . . 1. 2. 3. 4. 5.

Die normannische Eroberung Anglolateinische Literatur des 11. Jahrhunderts Die Entfaltung normannischer Kultur unter Heinrich I. und Stephan Anglolateinische Literatur in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts Anglonormannische Literatur 1100-1150

II. Die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts 1. 2. 3. 4.

Französische Literatur unter Heinrich II. und Richard Löwenherz Anglolateinische Literatur Englische Versdichtung Religiöse englische Prosa

67 69

71 71 73 74 76 80

81 81 84 93 98

III. Das 13. Jahrhundert 1. Der Verfall des Humanismus und die Historiographie 2. Theologie und Philosophie 3. Religiöse Lyrik 4. Weltliche Lyrik und historisch-politische Gedichte 5. Spruchsammlungen und Streitgedichte 6. Geistliche Büß-und Lehrdichtung 7. Geistliche Epik 8. Feiern und Spiele 9. Versroman und novellistische Unterhaltungsliteratur

101 101 103 105 109 112 114 118 121 123

IV. Das 14. Jahrhundert 1. Die politisch-soziale und philosophisch-religiöse Entwicklung 2. Vordringen der Prosa 3. Geistliche Epik und Lyrik 4. Weltliche Lyrik 5. Geistliche Spiele (Fronleichnamszyklen) 6. Historisch-politische Gedichte 7. Der Piers-Plowman-Kreis 8. Der Versroman in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts 9. Entwicklung des Versromans 1350-1400 10. Pearl, Purity, Patience 11. JohnGower 12. Chaucer

130 130 134 139 143 144 148 152 157 161 167 169 171

V. Das 15. Jahrhundert 1. Politik und Dichtung 2. Volksballade und weltliche Lyrik 3. Religiöse Lyrik 4. Die englische Chaucernachfolge 5. Die schottische Literatur 6. Ende des Versromans und imaginative Prosa 7. Drama (Moralitäten und Interludien) 8. Satire und Alltag 9. Historiographie und wissenschaftliche Prosa 10. Der englische Frühhumanismus

178 178 183 188 191 198 202 208 215 217 221

Inhaltsverzeichnis

Drittes Buch: DIE ZEIT DER RENAISSANCE

IX

225

Literatur

227

Die politische und soziale Entwicklung

229

I. Die nicht-dramatische Literatur des 16. Jahrhunderts 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Humanismus und Reformation Kritik und Übersetzungen Anfänge der höfischen Renaissancedichtung Spenser und die elisabethanische Lyrik Spenser und das Epos Der elisabethanische Roman

II. Das Drama im 16. Jahrhundert 1. 2. 3. 4. 5.

Klassizistisches und Einheimisches Schauspieler, Theater und Bühne Die frühe elisabethanische Komödie Marlowe und die Tragödie Das Drama William Shakespeares

III. Das Drama in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts 1. 2. 3. 4.

232 232 241 245 251 261 267

275 275 279 282 285 289

321

Elisabethanisches und jakobäisches Drama BenJonson Die Entwicklung des Dramas nach Shakespeare Das Ende des Renaissancedramas

321 322 329 342

Viertes Buch: DIE ZEIT DES BAROCK

349

Literatur Der zeitgeschichtliche Hintergrund

351 353

I. Lyrische und satirische Dichtung

359

1. 2. 3. 4.

Donne und die religiöse metaphysische Dichtung Jonson, Herrick und die weltliche Dichtung Vorspiel des Klassizismus Die Dichtung der Restaurationszeit

II. Die epische Dichtung und John Milton 1. 2. 3. 4. 5.

Das religiöse Epos Das weltliche Epos Miltons frühe Dichtungen Miltons Streitschriften Miltons Epen und Samson Agonistes

III. Die Prosa 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die anglokatholische Predigt Die anglikanische Predigt Die puritanische Predigt Die Restaurationspredigt Burton und Browne Wissenschaftliche Prosa, Historiographie, Charakterliteratur

359 373 381 383

388 388 395 397 401 404

409 409 412 414 419 420 423

X

Inhaltsverzeichnis 7. Memoirenliteratur 8. Allegorisch-didaktische Prosa 9. Die Prosa der Restauration

427 430 433

IV. John Dryden und das Drama

435

1. Das lyrische und epische Werk Dry dens 2. Das heroische Drama 3. Die Komödie

435 440 445

XI

INHALTSÜBERSICHT BAND II Fünftes Buch: DER KLASSIZISMUS Literatur Das 18. Jahrhundert

I.

Die Versdichtung 1. Theoretische Grundlagen der klassizistischen Dichtung und ihre Wegbereiter 2. Alexander Pope - 3. Gay und die Schule Popes - 4. Erweiterung des klassizistischen Rahmens - 5. Das Werden einer neuen Dichtungsauffassung - 6. Die Wegbereiter der vorromantischen Dichtung - 7. Chatterton, Cowper, Burns und Blake

II. Die Prosa 1. Steele, Addison und die moralischen Wochenschriften - 2. Satire und Roman bei Defoe und Swift - 3. Der empfindsame Roman Richardsons und der realistische Roman Fieldings und Smolletts - 4. Sterne, Goldsmith und die Nachfolge des großen Romans - 5. Dr. Samuel Johnson - 6. Briefe und Tagebücher - 7. Geschichtsschreibung

III. Das Drama 1. Lustspiel und Posse - 2. Die empfindsame Komödie - 3. Goldsmith und Sheridan 4. Die klassizistische Tragödie - 5. Das bürgerliche Trauerspiel

Sechstes Buch: ROMANTIK Literatur Der politische Hintergrund des romantischen Zeitalters Die literarische Situation und Dichtungsauffassung

I.

Die Versdichtung 1. Nachspiel des Klassizismus und Übergänge - 2. Coleridge - 3. Wordsworth - 4. Byron - 5. Shelley - 6. Keats - 7. Kleinere englische Dichter und Dramatiker - 8. Amerikanische Dichter in der europäischen Tradition

II. Der Roman 1. Nachspiel des 18. Jahrhunderts: Der empfindsame Sittenroman- 2. Der Schreckensroman - 3. Scott - 4. Zeitgenossen und Nachfolger Scotts - 5. Der amerikanische romantische Roman: J. F. Cooper und seine Schule - 6. Die amerikanische Kurzgeschichte: W. Irving und E. A. Poe - 7. Hawthorne und Melville

III. Sonstige Prosa 1. Romantische Kunstprosa: Landor und De Quincey - 2. Die Essayisten Lamb, Hunt, Hazlitt und W. Irving - 3. Emerson und die amerikanischen Transzendentalisten

Siebtes Buch: DIE VIKTORIANISCHE ZEIT Literatur Die Literatur und ihr zeitgeschichtlicher Hintergrund

I.

Die nicht-fiktionale Prosa 1. Grundzüge der nicht-fiktionalen Prosa im viktorianischen England - 2. Carlyle und Ruskin - 3. Matthew Arnold und Pater - 4. Die viktorianische Geschichtsschreibung 5. Die nicht-fiktionale Prosa in den Vereinigten Staaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

XII

Inhaltsübersicht

II. Die Versdichtung 1. Grundzüge der Viktorianischen Versdichtung - 2. Tennyson, Browning und die frühviktorianische Versdichtung - 3. Die Präraffaeliten und die mittviktorianische Versdichtung - 4. Die spätviktorianische Versdichtung - 5. Die amerikanische Versdichtung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

III. Das Drama 1. Das englische Drama bis zum Anfang der achtziger Jahre - 2. Die Erneuerung des ernsten Dramas - 3. Oscar Wilde und die Erneuerung der Komödie

IV. Der Roman 1. Der früh- und mittviktorianische Roman - 2. Gattungen des früh- und mittviktorianischen Romans - 3. Charles Dickens - 4. Thackeray und Trollope - 5. Die Brontes, George Eliot und Meredith - 6. Der spätviktorianische Roman - 7. Der amerikanische Roman nach dem Bürgerkrieg: Marktbedingungen, Themen und Gattungen - 8. Mark Twain, Bret Harte und die Kurzgeschichte - 9. Der soziale und psychologische Realismus im amerikanischen Roman

Achtes Buch: DAS ZWANZIGSTE JAHRHUNDERT Literatur Der politische und geistesgeschichtliche Hintergrund

I.

Kritische Prosa 1. Englische Kritik, Historiographie, Biographie und Essaykunst - 2. Amerikanische Literaturkritik

II. Die Versdichtung 1. W. B. Yeats und die keltische Renaissance - 2. E. A. Robinson, R. Frost und die Vertreter des Mittelwestens - 3. Von den 'Georgians' zu den Imagisten - 4. Ezra Pound und T. S. Eliot - 5. Die Zeitgenossen Pounds und Eliots in Amerika- 6. Die englische Lyrik der dreißiger und vierziger Jahre - 7. Englische Lyrik seit den fünfziger Jahren 8. Die amerikanische Lyrik seit der Jahrhundertmitte

III. Das Drama 1. Das englische realistische Schauspiel - 2. G. B. Shaw und die Komödie - 3. Das irische Drama - 4. Das nachrealistische und das poetische Drama in England - 5. Das englische Drama seit den fünfziger Jahren - 6. Das Entstehen eines amerikanischen Dramas - 7. Das poetische und expressionistische Drama in Amerika - 8. Das neunaturalistische Drama in Amerika

IV. Der Roman l. Realismus und soziale Kritik im englischen Roman - 2. Joseph Conrad - 3. Ausklang des Realismus und Wandel - 4. Der amerikanische Naturalismus - 5. Der amerikanische Roman zwischen Realismus und Romance - 6. D. H. Lawrence, J. Joyce und der Bewußtseinsroman - 7. Aldous Huxley, Graham Greene und ihre Zeitgenossen - 8. Der zeitgenössische englische Roman - 9. Der amerikanische Neu-Realismus - 10. Thomas Wolfe, William Faulkner und der Süden- 11. Der zeitgenössische amerikanische Roman - 12. Die englische und amerikanische Kurzgeschichte des 20. Jahrhunderts

Register

XIII

ABKÜRZUNGEN AEP AFS ASPR AWS CBEL CC CCE CHEL CIS CS EETS EL ELH ELN EML ES EUL FDT FP JEGP LES LHUS LS MJ ML MLQ MP MS NAL NCBL NEL NM NMS NOES

Annotated English Poets Americans in Fiction Series The Anglo-Saxon Poetic Records, edd. G. P. Krapp and E. van Kirk Dobbie, 6 Bde. American Writers Series Cambridge Bibliography of English Literature Collins Classics Collection of Critical Essays . Cambridge History of English Literature [Am.] Classics Series Casebook Series Early English Text Society Everyman's Library Journal of English Literary History English Language Notes English Men of Letters Series English Studies Everyman's University Library Fountainwell Drama Texts Faber Paperback Journal of English and Germanic Philology Longmans English Series Literary History of the United States, edd. R. Spiller et al. Literature Series Modern Judgments The Modern Library Modern Language Quarterly Modern Philology Mermaid Series New American Library New Cambridge Bibliography of English Literature New English Library Neuphilologische Mitteilungen New Mermaid Series New Oxford English Series

Oxford English Novels Oxford English Texts Oxford History of English Literature Oxford Paperback OP Oxford Standard Authors OSA Paperback pb. Penguin Books PB Patrologia Latina PL Papers on Language and LiteraPLL ture Publications of the Modern PMLA Language Association Philological Quarterly PQ Riverside Edition RE Review of English Studies RES The Revels Plays RP RRenDS Regents Renaissance Drama Series RRestDS Regents Restoration Drama Series Rolls Series RS Socie"te des anciens textes franSATF c.ais Studies in English Literature: SEL 1500-1900 Shakespeare Jahrbuch ShJ Studies in Philology SP Scottish Text Society STS Twentieth Century InterpretaTCI tions Twentieth Century Views TCV Twayne's English Authors Series TEAS Trans, of the Philological Society TPS TUSAS Twayne's United States Authors Series The World's Classics WC York Medieval Texts YMT Zeitschrift für Celtische PhiloZCP logie Zeitschrift für deutsches AlterZfdA tum und deutsche Literatur OEN OET OHEL

Hinweis zu den bibliographischen Angaben: (1) Der Erscheinungsort London wird nicht eigens angegeben. (2) Auf die Anführung von Spezialbibliographien, Forschungsberichten, Konkordanzen und News Letters zu den einzelnen Autoren mußte aus Raumgründen - außer bei den bedeutenden Dichtern - verzichtet werden, desgleichen auf Reihen wie die Critical Heritage Series, Penguin Critical Anthologies u.a.

ERSTES BUCH

DIE ALTENGLISCHE ZEIT

LITERATUR B i b l i o g r a p h i e : W. Bonser, An Anglo-Saxon and Celtic Bibliography, 450-1087, 2 Bde. (Berkeley, 1957) [vor allem histor. Arbeiten]; W. L. Renwick and H. Orton, The Beginnings of English Literature to Skelton, 1509 (31966) [neu bearb. von M. F. Wakelin; knapper bibliograph. Führer mit krit. Bemerkungen]; F. C. Robinson, Old English Literature: A Select Bibliography (Toronto, 1970); W. H. Beale, Old and Middle English Poetry to 1500: A Guide to Information Sources (Detroit, 1976). G e s c h i c h t e und K u l t u r g e s c h i c h t e : F. M. Stenton, Anglo-Saxon England (31971); R. H. Hodgkin, A History of the Anglo-Saxons, 2 Bde. (Oxf., 31953); M. D. Knowles, The Monastic Order in England (Cambr., 21964); D. Whitelock, The Beginnings of English Society (Harmondsworth, rev. 1968) [Pelican History of England, Bd. II]; D. P. Kirby, The Making of Early England (N. Y., 1968); N. K. Chadwick, The Study of Anglo-Saxon (Cambr., 21955); ders., Studies in the Early British Church (Cambr., 1958); R. W. Ackermann, Backgrounds to Medieval English Literature (N. Y., 1966); P. H. Blair, An Introduction to Anglo-Saxon England (Cambr., 21977); ders., Roman Britain and Early England, 55 BC - 871 AD (1963); D. H. V. Fisher, The Anglo-Saxon Age, c. 400-1042 (1973); H. P. R. Finberg, The Formation of England, 550-1042 (1974). Nachschlagewerk: Reallexikon der germanischen Altertumskunde, ed. J. Hoops, 4 Bde. (Straßburg, 1911-19; Bln., 21973 ff.). L i t e r a t u r g e s c h i c h t e : Neben der auch heute noch grundlegenden deskriptiven altengl. Literaturgesch. von A. Brandl in H. Pauls Grundriß der german. Philologie (Straßburg, 1901-09) die sich ergänzenden Darstellungen der weltl. und der christl. Literatur der Angelsachsen von A. Heusler, Altgermanische Dichtung (Wildpark-Potsdam, 2 1943), und H. Hecht u. L. L. Schücking, Die Englische Literatur im Mittelalter (ebd., 1930) [in O. Walzels Handbuch der Literaturwissenschaft]; G. K. Anderson, The Literature of the Anglo-Saxons (Princeton, 21966) [mit Bibliogr.]; K. H. Göller, Geschichte der altengl. Literatur (Bln., 1971); S. B. Greenfield, A Critical History of Old English Literature (1967); K. Malone, The Old English Period, in: A Literary History of England, ed. A. C. Baugh (21967); W. P. Ker, Medieval English Literature (1912); Continuations and Beginnings: Studies in Old English Literature, ed. E. G. Stanley (1966); C. W. V. Kennedy, The Earliest English Poetry (1943; repr. 1972); Essential Articles for the Study of Old English Poetry, edd. J. B. Bessinger and S. J. Kahrl (Hamden, Conn., 1968); M. W. Grose and D. McKenna, Old English Literature: Perspectives in Literature (1979); J. E. Cross, The Old English Period, in: Sphere Hist, of Lit. in the English Language, Bd. 1, ed. W. F. Bolton (1970); T. A. Shippey, Old English Verse (1972); C. L. Wrenn, A Study of Old English Literature (1967). T e x t e : The Anglo-Saxon Poetic Records, edd. G. P. Krapp and E. V. K. Dobbie (N. Y./Lo., 1930-53), ersetzt die ältere Sammlung: C. W. M. Grein, Bibliothek der angelsächs. Poesie, ed. R. P. Wülcker, 3 Bde. (Lpzg., 21881-98); Bibliothek der angelsächs. Prosa, 13 Bde. (Lpzg., 1872 ff.) [Neudrucke mit neuen Einleitungen bzw. Nachworten erschienen bei der Wiss. Buchgesellsch. in Darmstadt]. Zahlreiche Texte ediert in der E[arly] E[nglish] T[ext] S[ociety]. Early English Manuscripts in Facsimile (Copenhagen, bisher 20 Bde.).- A n t h o l o g i e n : F. Mosse, Manuel de l'anglais du moyen äge des origines au XIVe siecle (Paris, 21950) [mit Grammatik, Anmerkungen und Glossar]; R. Kaiser, Medieval English: An Old English and Middle English Anthology (Bln., 5 1961); R. Hamer, A Choice of Anglo-Saxon Verse (1970); W. F. Bolton, An Old English Anthology (21966). Ü b e r s e t z u n g e n : M. Alexander, The Earliest English Poems (Harmondsworth, 1966 u. o.); K. Crossley-Holland, Beowulf (1970), The Battle of Maldon and Other Old English Poems (1965), The Exeter Book Riddles (Harmondsworth, 1979); The Exeter Book,

4

Literatur

edd. I. Gollancz and W. S. Mackie, EETS 104 (1895) u. 194 (1934; repr. 1958) [Ausg. m. Übers.]; R. K. Gordon, Anglo-Saxon Poetry, EL; C. W. M. Grein, Dichtungen der Angelsachsen, 2 Bde. (Heidelberg, 21930); J. M. Kemble, The Poetry of the Codex Vercellensis and the Dialogue of Solomon and Saturnus (1843 and 1848; repr. 1971); C. W. Kennedy, The Caedmon Poems (1916), Early Christian Poetry Translated into Alliterative Verse (1952; repr. Gloucester, Mass., 1965), The Poems of Cynewulf (N. Y., 1949). English Historical Documents I, c. 500-1042, ed. D. Whitelock (1955); AngloSaxon Prose, ed. M. Swanton (1975).

I. H I S T O R I S C H - K U L T U R E L L E G R U N D L A G E N DER ALTENGLISCHEN LITERATUR 1. Die keltischen Kirchen1 Die ursprüngliche Bevölkerung der britischen Inseln war nicht germanisch, sondern keltisch. Die Kelten kamen seit etwa 600 v. Chr. ins Land und verdrängten die ihnen voraufgehende, wohl der Mittelmeerrasse angehörige Urbevölkerung, von der wir nur aus Gräberfunden wissen. Die Einwanderung vollzog sich in mehreren Schuhen, deren letzter, die Belgae, die Insel kurz vor der Zeit Caesars im ersten Jahrhundert v. Chr. erreichte. Diese Kelten (oder Briten, wie man fortan sagt) wurden in der Zeit von 55 v. Chr. bis 407 n. Chr. romanisiert. Da aber diese Romanisierung nicht über den Machtbereich der Legionen hinausging, ist das Weiterleben lateinischer Kultur und Sprache in Britannien und erst recht in Irland, das ja nie zum Imperium gehört hatte, einzig der Kirche zu verdanken. Denn schon während der römischen Herrschaft, vielleicht schon ab Ende des 2. Jahrhunderts - jedenfalls aber vor Konstantin (306-37) - gab es Christen in England. So sind bei der Christenverfolgung Diokletians britische Märtyrer bezeugt, wie z. B. Alban, dessen Gedächtniskirche der römischen Stadt Verulamium den Namen St. Albans gab. Im 4. Jahrhundert gab es, wie aus der Teilnahme am Konzil von Arles (314) hervorgeht, Bischöfe in Londinum (London), Lindum (Lincoln), Eburacum (York); es hat also damals bereits eine größere Zahl von Kirchen und eine klerikale Hierarchie gegeben. Die keltischen Christen zeichneten sich vor allem durch eine tiefe Gläubigkeit und durch Liebe zur Bildung aus, Züge, die vielleicht in der älteren Tradition des Druidentums wurzeln. Hier liegt auch eine mögliche Erklärung für die besondere Form des iro-schottischen Mönchtums, das durch seine Einfachheit und strenge Askese den Wüstenvätern näher stand als der römisch-katholischen Kirche. Die Missionierung Irlands durch St. Patrick (ca. 389-461) und Schottlands durch St. Ninian (377-432) und St. Columba (521-597) machte diese Länder zu Hochburgen der keltischen Kirche. Die Isolierung der jungen Kirche und vielleicht auch Züge des keltischen Volkscharakters führten zu Häresien. St. Germanus von Auxerre und St. Lupus von Troyes wurden gegen den Pelagianismus, eine Häresie irischen Ursprungs, zur Wiederherstellung des orthodoxen weströmischen Christentums aufgeboten. 1

O. Loyer, Les chretientes celtiques (Paris, 1965) [kurze Einführung]; J. Godfrey, The Church in Anglo-Saxon England (Cambr., 1962); W. H. Flecker, British Church History to A. D. 1000 (1913); C. Thomas, Britain and Ireland in Early Christian Times (1971) ;M. M. Barly and R. P.C. Hanson, Christianity in Britain 300-700 (Leicester, 1978); J. T. McNeill, The Celtic Churches: A History, A. D. 200 to 1200 (Chicago, 1974).

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Erstes Buch: Die altenglische Zeit

Das romanisierte Britannien hingegen hatte enge Verbindungen mit dem römischen Gallien aufrecht erhalten. Die zweite Missionsfahrt des St. Germain (429) ist noch Ausdruck der bis zu diesem Zeitpunkt engen Beziehungen der britischen Kirche mit dem festländischen Christentum. Die während der römischen Periode sehr intensiven wechselseitigen Bindungen und Abhängigkeiten lösten sich aber nach Abzug der Legionen (407). In der Folgezeit machte die britische Kirche bestimmte festländische Entwicklungen nicht mehr mit. Insbesondere bestritt sie die unbeschränkte Jurisdiktionsgewalt des Papstes in kirchlichen Dingen, lehnte den Metropolitanverband ab, begrenzte die Bischofsgewalt durch Äbte und entwickelte ein dem ClanSystem entsprechendes, stammesmäßig fundiertes Christentum, das sich von den Klöstern aus verbreitete. Die Liturgie der Messe und der Taufe unterschied sich vom festländischen Ritual in einigen Besonderheiten, die genauso hartnäckig verteidigt und tradiert wurden wie die alte Berechnung des Datums des Osterfestes. Weitere keltische Eigentümlichkeiten waren die „druidische" Tonsur sowie eine auf frühkirchliche Zustände zurückgreifende Auffassung vom Zölibat. Diese altbritische Kirche wurde durch die Landnahme der heidnischen Angeln und Sachsen auf die westlichen Landesteile, insbesondere Wales, beschränkt. In ihrem weiteren Bestehen als walisische Kirche mit den Missionsgebieten Irland und Schottland (iro-schottische Kirche) steigerten sich die Sonderneigungen bis zum Zusammenbrechen der hierarchischen Organisationen: die Bischöfe waren ohne festen Sitz, die Diözesen ohne feste Grenzen. Die walisische Kirche isolierte sich immer stärker von den dogmatischen und liturgischen Bewegungen der christlichen Welt. Es war das Zeitalter der Klostergründungen (St. Asaph, St. David, Llandaff, Llandafarn), der „Heiligen" (St. David, 1544, St. Cadoc, t 590); und wie für die großen Namen die Mischung von Krieger, Barde und Asket bezeichnend ist, so für die Klöster die Einbeziehung der klassischen Gelehrsamkeit. Das gilt auch für Irland, das z. T. schon vor St. Patrick (432) von Mönchen aus Gallien oder aus Alexandria und Byzanz missioniert worden war. Dem irischen Volke, das abseits der europäisch-römischen Kultur lebte und das aus einer Menge kleiner Stämme bestand, ohne größeren politischen Zusammenschluß, ohne Hauptstädte, Handel und Münzen, entsprachen die einsiedlerartigen Mönchsgesellschaften der keltischen Kirche. So gründete Columba der Ältere mit zwölf Mönchen (563) ein Kloster auf der einsamen Insel Hi (lona), von wo dann Schottland bekehrt wurde; andere drängte es, als 'peregrini' den christlichen Glauben im Ausland zu verbreiten. Dieser starke Missionswille wurde dadurch unterstützt, daß die iro-schottische Kirche gleichzeitig als Kulturträger auftreten konnte. Die großen Klöster des 6. Jahrhunderts (Moville, Bangor, Clonmacnoise, Clonfert, Clonard) waren Stätten klassischer Gelehrsamkeit; dort bildete sich der auch die Angelsachsen beeinflussende Geschmack für eine krause, rätselhafte, kaum zu entschlüsselnde Latinität mit bizarrem Wortschatz. Auch das leidenschaftlich-poetische Temperament des Columba-Typus, das sich in keltischer Naturliebe und Franziskus vordeutenden Tierpredigten äu-

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ßert und sich unverändert noch bei St. Cuthbert ("f 687) findet, wurde mit der von lona ausgehenden Missionierung den Angelsachsen nahegebracht. Es ist heute unbestritten, daß keltische Kultur, Religiosität und Einstellung zum Leben die angelsächsische Literatur beeinflußt und überformt haben. Manche Autoren sind sogar der Auffassung, daß nahezu alle Unterschiedlichkeiten und Besonderheiten im Vergleich zu festländischen germanischen Literaturen und Traditionen auf keltisches Substrat zurückgehen. So wurden Gedichte wie Wanderer, Seafarer und Resignation als angelsächsische Entsprechung einer keltischen Gattung von Bußgedichten bezeichnet.2 Die für die Elegien typische Figur des 'peregrinus' sowie die charakteristischen Fragen und Topoi 'ubi sunt', 'gloria mundi' stammten danach aus der keltischen Literatur. Die Elegie wäre eine anglo-kymrische Gattung.3 Ähnlich wurden auch Beowulfs übermenschliche Fähigkeiten, insbesondere sein Tauchen und sein Schwimmen, auf keltische Traditionen zurückgeführt. Dem ist entgegengehalten worden, daß keltisch-angelsächsische Gemeinsamkeiten oft nicht durch direkten Einfluß, sondern durch Benutzung kontinentaler Quellen zu erklären sind.

2. Die Angelsachsen4 Keltische kulturelle Einflüsse konnten sich aber nur allmählich, teilweise erst nach Jahrhunderten durchsetzen, da die Germanen, die in christlicher Umgebung eineinhalb Jahrhunderte heidnisch blieben, als Eroberer und Herren auftraten. Beda berichtet in seiner Historia Ecclesiastica Genus Anglorum (A. D. 731), die Invasion sei vor allem von den drei tapfersten Nationen Germaniens getragen worden, den Sachsen, Angeln und Juten. Die 'Cantuarii' (Einwohner von Kent) und die 'Victuarii' (Einwohner von Wight) seien jütischen Ursprungs, außerdem gebe es gegenüber der Insel Wight im Gebiet der Westsachsen eine jütische Enklave, die 'Jutarum natio' genannt werde. Alle drei Völker gehörten zur sog. anglo-friesischen Sprachgemeinschaft. Ihre festländische Heimat war an der Nordseeküste. Die Juten wohnten in Norddänemark (Jutland), die Angeln in Süddänemark bzw. Schleswig-Holstein, die Sachsen im Gebiet zwischen Weser und Elbe. Auf dem Wege nach England schloß sich ihnen ein Teil der Friesen an. 2

P. L. Henry, The Early English and Celtic Lyric (1966), S. 157; 181-194. H. Pilch, "The Elegiac Genre in Old English and Early Welsh Poetry", ZCP 29 (1962/64), 209-24. 4 J. M. Williams, Origins of the English Language: A Social and Linguistic History (N. Y., 1975); C. J. Hutterer, Die germanischen Sprachen: Ihre Geschichte in Grundzügen (Budapest, 1975); E. Schwarz, Germanische Stammeskunde (Heidelberg, 1956); T. C. Lethbridge, "The Anglo-Saxon Settlement in Eastern England: A Reassessment", in: Dark-Age Britain: Studies Presented to E. T. Leeds (1956); M. D. Cherniss, Ingeld and Christ: Heroic Concepts and Values in Old English Christian Poetry (The Hague, 1972). 3

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Nach Beda begann die Invasion im Jahre 449. Dieses Datum wie auch die Berichte der alten Chroniken (Gildas, Nennius) sind umstritten. Die Germanen wurden danach von dem Britenkönig Vortigern als Söldner und Verbündete ins Land gerufen; sie sollten die nach Abzug der römischen Legionen auf fremde Hilfe angewiesenen Briten im Kampfe gegen die Pikten unterstützen. Hengist und Horsa, die uns als Führer der Sachsen genannt werden, ließen so lange Verstärkungen ins Land kommen, bis sie sich gegen die einstigen Verbündeten erheben und ihr Land beanspruchen konnten. Wie wir insbesondere aus den frühen Darstellungen des Artusstoffes wissen, führten sie einen Vernichtungskrieg gegen die keltische Bevölkerung. Viele Briten flohen in das Gebiet der heutigen Bretagne oder in die Grenzgebiete des eigenen Landes, andere wurden versklavt. Es gab jedoch sehr viel mehr Beziehungen und Querverbindungen zwischen Germanen und Kelten als man bis vor kurzem angenommen hat. Zahlreiche Ehen zwischen Königshäusern verbanden die Völker und trugen zum Fortbestand der romano-keltischen Kultur bei. Heute weiß man, daß die germanische Besiedlung Englands lange vor 449 begonnen hatte. Mehr als ein Jahrhundert zuvor ließen sich bereits germanische Söldner im Lande nieder. Von den Briten wurden sie einfach „Sachsen" genannt. Bei Beda finden sich die Stammesnamen 'Angli et Saxones'. Die Angelsachsen selber jedoch nannten sich 'Angelcynn' (Stamm der Angeln), ihre Sprache bezeichneten sie als 'englisc', ihr Land als 'Englalond'. Heute benützt man den Begriff „angelsächsisch" für Volk und Kultur, „altenglisch" für die Sprache. Nachdem die Germanen in England heimisch geworden waren, bildeten sie Königreiche, die sich nach Stamm und Sprache voneinander abgrenzten. Es kam zu einem losen Verband der sieben mächtigsten Königreiche (Heptarchie), an deren Spitze der sogenannte 'Bretwalda' (Herrscher Britanniens) stand. Im 6. Jahrhundert hatten die Juten die Vorrangstellung, im 7. und im 8. Jahrhundert dominierten die Angeln Nordhumbriens und später die von Merzien (= Mark oder Grenzland). Im 9. Jahrhundert übernahm Wessex, das wie ganz Südengland von den Sachsen bewohnt wurde, die Führung. Außer Kent, Nordhumbrien, Merzien und Wessex zählten noch Essex, Sussex und Ostanglien zur Heptarchie. An Brauchtum und Sitten der festländischen Heimat hielten die Einwanderer mit der für Kolonisatoren typischen Hartnäckigkeit fest. Der fruchtbare Boden des Landes ließ die früher auch seefahrenden Eroberer innerhalb kurzer Zeit zu Ackerbauern werden. Der Stand der freien Bauern bildete die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung. Für das geistige Leben hatte er, ähnlich wie im hohen und späten Mittelalter, kaum eine Bedeutung.5 Der Stammesadel, der vom König bis zum Großbauern reichte, war der eigentliche Träger der geistigen Kultur. Die Gesellschaftsform war zwar aristokra5

Margaret Schlauch, English Medieval Literature and its Social Foundations (Warschau, 1956; repr. 1967), S. 7-9.

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tisch, aber es gab dennoch keine wesensmäßigen Unterschiede zwischen hoch und niedrig. Vom Herren wie vom Knecht forderte man dieselben Eigenschaften, wenn auch in verschiedenem Ausmaß. Die bäuerliche Lebensform war allen gemeinsam, und für alle galten die Maßstäbe der Herrenmoral. Die Edelinge ('aibelingas' oder 'eorlas') nahmen in der sozialen Ordnung durch Geburt einen höheren Rang ein als die 'ceorlas' (ne. 'churls', damals aber in der neutralen Bedeutung „Männer" verwendet). Ebenso wie die 'begnas' (dtsch. Degen) waren die Edelinge mit dem Hof eng verbunden, erhielten Land zu Lehen und hatten Aufgaben in Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Ganz unten in der sozialen Skala stand der Unfreie, manchmal auch Sklave genannt. Er gehörte zum Besitztum seines Herrn und konnte somit verkauft oder ausgeliehen werden. Unfreie leisteten keinen Heeresdienst und wurden nicht zur Gerichtsversammlung zugelassen; sie waren rechtlich ungeschützt. Der Staatsverband hatte fast durchweg einen König an der Spitze, der die Gefolgschaft als Kriegstruppe und als Rat um sich versammelte. Diese Gefolgschaft, die aus 'geogub' (jungen Erbbauernsöhnen) und aus 'dugub' (gereiften Berufskriegern) bestand, wirkte mit, wenn im Thing Recht gesprochen wurde. Sie versammelte sich in der Methalle, wenn der Gefolgschaftsälteste als Waffenmeister ausgezeichnet wurde, und sie lauschte, wenn der zum Herrengefolge gehörige Dichtersänger (Skop) Preis- und Heldenlieder vortrug. Für die Dichtung ist das Gefolgschaftsverhältnis ebenso bedeutsam wie das Band der Blutsverwandtschaft, die Sippe oder Familie, die in schwierigen Lebenslagen, z. B. in Fragen der Blutrache, entscheidende Bedeutung hatte. Selbst nach der Christianisierung behielt der ursprünglich heidnische Gefolgschaftseid seine Bedeutung, nur wurde eine christliche Eidesformel benutzt und Gott als Zeuge angerufen. Die Zeremonie erfolgte in der Kirche, wo zu diesem Zweck heilige Reliquien ausgelegt wurden. Auch im christlichen Gefolgschaftseid ist noch das Moment der starken persönlichen Bindung an den Herrscher zu erkennen, doch wird sie relativiert durch die übergeordneten Gebote Gottes und der Kirche. Auch aufgrund des weltlichen Rechtswesens und der angelsächsischen Gesetze6 können wir auf eine patriarchalische Gesellschaft schließen. Die sieben Königreiche der Heptarchie hatten trotz zahlreicher Übereinstimmungen je eigene Gesetze und Rechtsnormen. Durch die Wikinger wurde neben die Gesetze von Wessex und Merzien das 'danlaw' ('danelagu') gestellt; König Edgar bestätigte.nach der Rückeroberung die „dänischen Gesetze". Zuständige Rechtsinstanz war die Gerichtsversammlung, ae. 'mot'. Zur Zeit Alfreds (871-899) war der König die einzige Berufungsinstanz. Unter Knut (1016-35) wurde das Rechtswesen neu geordnet. Die einzelnen Hundertschaften, im Süden 'hundreds', im dänischen Gebiet 'wapentake' genannt, erhielten ein alle vier Wochen zusammentretendes Gericht, dem als höhere Instanz das Grafschaftsgericht, 'shire moot', übergeordnet wurde. 6

F. L. Attenborough, The Laws of the Earliest English Kings (Cambr., 1922); E. Jenks, A Short History of English Law (1949). S. auch S. 57, Anm. 2.

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Blieb der Beklagte der Verhandlung grundlos fern, mußte die Verwandtschaft Sühnegeld bezahlen; der Beklagte wurde zum Wolfskopf ('outlaw'), den jeder ungestraft töten durfte. Erschien er aber zum Gerichtstermin und beteuerte seine Unschuld, so hatte die Ableugnung der Tat mehr Gewicht als die Beschuldigung. Eideshelfer konnten die Unschuld des Angeklagten bestätigen. Der Wert des Eides richtete sich nach dem Besitz des Eideshelfers bzw. dessen Rang in der sozialen Hierarchie. Standen nicht genügend Eideshelfer zur Verfügung, mußte sich der Beschuldigte einem Ordal (Gottesurteil) unterziehen. Beim Heißen-Eisen-Ordal hatte der Angeklagte ein Pfund glühendes Eisen drei Fuß weit zu tragen. War nach drei Tagen keine Entzündung an der Hand zu sehen, galt der Betroffene als unschuldig. Der Kulturstand war von ansehnlicher Höhe. Mag man Faustrecht und Blutrache, das Fehlen der Städte und des Münzwesens und die nur in mündlicher Überlieferung bestehende Dichtung als Grenze nach oben anführen, so heben sich auf der anderen Seite der Haus- und Schiffbau, der religiöse Kult, das hochentwickelte Kunsthandwerk von unteren Kulturstufen ab. Das bei Gallehus gefundene goldene Hörn, der bei Trundholm ausgegrabene Bronzewagen und vor allem die Schätze aus dem Schiffsgrab von Sutton Hoo in Suffolk 7 lassen kunsthandwerkliche Meisterwerke wie den von Saxo beschriebenen Schild des Amlethus und Hildigerus glaubhaft erscheinen. Vor allem aber wurden literarische Beschreibungen von Kunstgegenständen, die zuvor als imaginativ und fiktiv angesehen worden waren, durch die Funde in Sutton Hoo verifiziert. Besonders enge Entsprechungen ergaben sich zu dem in Beowulf V. 26-52 dargestellten Schiffsbegräbnis des dänischen Königs Scyld. Die Grabbeigaben verweisen zum Teil auf die germanisch-heidnische Mythologie, bezeugen aber anderseits die bereits vollzogene Christianisierung. Das Nebeneinander heidnischer und christlicher Motive hat Parallelen in der altenglischen Dichtung, z. B. in den Elegien, aber auch im BeowulfEpos. Die archäologischen Funde vergoldeter Silberhelme, Ringpanzer, kunstvoll ornamentierter Schwertgriffe in Bronze, Silber, Elfenbein und geätzter Klingen rücken die Ausrüstung germanischer Krieger nahe an die der Griechen der geometrischen Epoche. Durch das vom 2. bis 4. Jahrhundert bestehende bosporanische Gotenreich wurde den Völkern der Germania antikes Kulturgut vermittelt, wie es auf dem Gebiet der Waffen der eiserne Sarmatenhelm, Zierband, Schuppenpanzer und Ringbrünnen bezeugen, die alle orientalisch-griechischen Ursprungs sind und noch spät und formelhaft in nordischer Dichtung weiterleben. Erst die Völkerwanderung durchschnitt die zu den südlichen Kulturvölkern führenden Fäden. Der fortan auf sich selbst angewiesene Norden konnte eine eigene nordische Kultur entwickeln, und die Juten und Angeln mußten durch die Auseinandersetzung mit den in England vorgefundenen Kulturfor7

Abbildungen in: The Sutton Hoo Ship Burial, ed. T. D. Kendrick (1947); C. Green, Sutton Hoo: The Excavation of a Royal Ship - Burial (1963); R. Bruce-Mitford et al., The Sutton Hoo Ship Burial, I: Excavations, Background, The Ship, Dating and Inventory, British Museum Publications (1975).

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men zu einer eigenständigen Ausprägung innerhalb des germanischen Kulturkreises kommen. Dieser Prozeß spiegelt sich in der Geschichte der angelsächsischen Kirche.

3. Die angelsächsische Kirche8 Das den Angelsachsen gepredigte Christentum unterschied sich von dem der keltischen Kirchen. Im selben Jahr, als Columba auf lona starb (597), landeten die von Papst Gregor dem Großen geschickten 40 Benediktinermönche unter Augustinus' Führung in Kent. In feierlicher Prozession, in Meßgewändern und den neuen von Gregor eingeführten Kirchengesang anstimmend, zogen sie ein, achtungsvoll aufgenommen, weil sie aus dem Lande der Franken kamen, mit deren Königstochter König Ethelbert von Kent (560-616) vermählt war. Der Geist, der hinter Gregors Weisungen stand, war duldsam: das Opferfest wurde nicht verboten, heidnische Kultstätten und Tempel blieben erhalten und wurden für den christlichen Gottesdienst weiterbenutzt. Gregor mahnte seinen Angelsachsenapostel, das scheinbar Unchristliche richtig zu deuten. Infolge dieser friedlichen Missionierung gab es auch keine christlichen Märtyrer. Dagegen wurde, anders als im keltischen Britannien, das enge Verhältnis zu Rom betont; alle Bischöfe des (605 gegründeten) Bistums Canterbury waren bis 653 Italiener, und die Kathedralen wurden nach römischem Vorbilde aus Stein gebaut. Als zweite angelsächsische Hauptstadt wurde 634 York zum Erzbischofssitz erhoben, nachdem der nordhumbrische Herrscher Eadwine (627-33) durch seine Vermählung mit der christlichen kentischen Königstochter Ethelburga das nördliche England dem Christentum geöffnet hatte. Ethelburgas Kaplan Paulinus wurde dort Bischof. Dann aber erfolgte ein Rückschlag in der Bekehrung. Schon Augustinus hatte die gregorianische Weisung, England durch Gründung von zwei Erzbistümern und 24 Bistümern eng an Rom zu binden, nur teilweise erfüllen können. Er hatte keine Verbindung mit den keltischen Kirchen herzustellen vermocht, und nach seinem Tode (604) waren viele der Bekehrten in Essex und Kent abgefallen. Jetzt besiegte der heidnische König Penda von Merzien (626-55) mit walisischer Hilfe den damals England tatsächlich beherrschenden christlichen Eadwine bei Hatfield (632), und die darauf folgende Entchristianisierung Nordhumbriens ging so weit, daß Oswalds (635-42) Versuch, das Reich seines Vorgängers Eadwine wieder zu einem christlichen zu machen, sich auf die Hilfe der Mönche aus lona stützen mußte, wo die Söhne von Eadwines Vorgänger und Gegner Zuflucht gesucht hatten und wo sie zum Christentum bekehrt worden waren. Die Mönche predigten unter Aidans Führung von dem neuen Bischofssitz Lindisfarne aus ihr iro-schottisches Christentum. Die ganzen Midlands und Essex wurden durch sie zum Christentum bekehrt; mit dem 8

M. Deanesly, The Pre-Conquest Church in England (1961).

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Glauben vermittelten die Mönche den Angelsachsen klassische Gelehrsamkeit und Liebe zur Dichtung. Diese auch in der altenglischen Literatur fühlbare Vermittlung keltisch geprägten Bildungsgutes konnte nur im Norden statthaben, da hier nicht der nationale Gegensatz des Südens herrschte, demzufolge seinerzeit das Christentum nicht von Wales, sondern von dem Frankenlande her gebracht werden mußte. So wurde der Unterschied von Süd und Nord zur Trennung in zwei Kulturkreise: Canterbury und York. Die theologischen Unterschiede waren zu einem kulturellen Gegensatz geworden, den die Ausgleichsversuche des Iren Adamnan (623-704) und des Angelsachsen Aldhelm (639-709) nur hervorhoben. England war einem religiös motivierten Bürgerkriege nahe, als nach einer zweiten heidnischen Reaktion der christliche Nordhumbrerkönig Oswin die beiden gegeneinander missionierenden Kirchen zur Synode nach Whitby (Streoneshealh) berief (663). Oswin stellte sich auf die Seite der romfreundlichen Partei, zu der auch Agilbert, Bischof von Paris, gehörte, der zuvor seine Diözese bei den Westsachsen verwaltet hatte. Die Anhänger der extremirischen Richtung kehrten nach Irland zurück und gründeten auf der Insel Inishbofin ein Kloster. Die meisten irisch erzogenen Geistlichen in England blieben ihrem Ritual ebenso wie dem Geist der irischen Kirche treu, insbesondere der Betonung von Armut, Demut, asketischer Lebensführung und missionarischem Eifer. Zwar war die englische Kirche von lona aus nur etwa dreißig Jahre geistig gelenkt worden, doch hinterließ diese Zeit bleibende Spuren. Politisch bedeutete die Synode von Whitby den Niedergang des irischen Einflusses, aber wissenschaftlich blieb Irland mit seinen Klosterschulen noch lange das gelobte Land mönchischer Bildung. Ändern konnte das nicht ein Synodalbeschluß, sondern die höhere kulturelle Macht. Dieser Aufstieg Canterburys begann mit der Einsetzung des griechischen Philosophen Theodor von Tarsus als Erzbischof (669), der bei seinen Bemühungen von dem gelehrten Afrikaner Hadrian, Abt eines Klosters in der Nähe von Neapel, unterstützt wurde. Durch das Organisationstalent und das Durchsetzungsvermögen dieser beiden Männer entstand die einheitliche angelsächsische Kirche, die Gregor erstrebt hatte. Vierzehn wohlgeordnete Diözesen mit vielen Klöstern, die untereinander durch regelmäßige Nationalkonzile verbunden waren und Anschluß hatten an die allgemeine Christenheit einschließlich der Überlieferung des Ostens und der griechischen Welt, machten die angelsächsische Kirche zu einer römischen Kirchenprovinz. Die einsetzende Missionstätigkeit (Willibrord, geb. 667; WinfridBonifatius, geb. 680) war das äußere Zeichen der vor der politischen erreichten kirchlichen Einigung Englands. Auch politisch verschob sich langsam das Schwergewicht nach dem Süden. Noch im 8. Jahrhundert, dem großen Zeitalter der nordhumbrischen Kirche und humanistischen Gelehrsamkeit, mußte Nordhumbrien seinen Vorrang an Merzien abtreten, das unter König Offa (757-96) einen meteorhaften Aufstieg erlebte. Aber dieser machtpolitische Aufschwung war nicht von einem

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kulturellen begleitet, und mit dem Sieg bei Ellandune (825) beginnt die westsächsische politische und kulturelle Vorherrschaft. Die Vorrangstellung der Westsachsen wurde allerdings durch die fast gleichzeitig einsetzenden Däneneinfälle schwer gefährdet. Auf den Shetlandinseln, in Nordschottland, Irland und auch in England faßten die Nordmänner Fuß; selbst der zäh Widerstand leistende Alfred (871-899), der größte der altenglischen Könige, sah sich zeitweilig auf die kleine Insel Athelney beschränkt. 886 erreichte er einen Vertrag, demzufolge sein Reich ein Dreieck bildete, dessen Seiten die Südküste, Watling Street und die walisische Grenze darstellten. Nordwärts war Danelage, das Reich der Nordmänner. Durch Alfreds Bemühungen kam es zu einer zweiten, aber silbernen Kulturblüte, und dem entstehenden westsächsischen Schrifttum verdanken wir so gut wie alles, was uns von altenglischer Literatur erhalten ist. Er brachte die besten Gelehrten der Zeit nach Westsachsen, und seine Sammeltätigkeit kann mit der Karls des Großen verglichen werden. Trotzdem läßt sich diese Wissenschaft nicht mit der, allerdings lateinischen, humanistischen Blüte Yorks und Canterburys im 8. Jahrhundert vergleichen; die mit Beginn des 9. Jahrhunderts aufhörende große altenglische Dichtung ließ sich nicht beleben. Alfreds Zeit war nicht schöpferisch. Die Autoren begnügten sich damit, die alte lateinische Gelehrsamkeit in westsächsischen Übersetzungen zu popularisieren, vor allem aber übertrugen sie die im wesentlichen anglische Dichtung in den westsächsischen Dialekt. Einen solchen kulturellen Niedergang erklären äußere Gründe (wie die Däneneinfälle) allein nicht; dazu treten geistige. Solange die Christianisierung mehr oder weniger äußerlich blieb, war ein Nebeneinander, ja ein Verschmelzen von christlicher Antike und germanischem Heidentum möglich. Die verständnisvoll-tolerante Art der Augustinischen Missionierung und besonders die freiere Art der keltischen Kirchen leisteten dem Vorschub. Die irischen Klöster waren Gemeinschaften, bei denen die blutmäßige Zusammengehörigkeit der Familie eine große Rolle spielte; sie waren daher teilweise analoge Institutionen zum keltischen Clan und zur germanischen Sippe. Der Abenteuerlust der einzelnen Mönche standen sie nicht im Wege, und auch die Teilnahme am politischen Geschehen schlössen sie nicht aus. Die Mönche von Bangor zogen 613 hinaus auf das Schlachtfeld und beteten für ihre Landsleute und gegen Ethelfrith, was sie dann mit dem Tode bezahlten. Die der eigenen Art anpaßbaren Züge des Christentums wurden übernommen: der Kampf zwischen freundlichen und feindlichen Mächten, der Heldengott Christus mit seiner Gefolgschaft von Aposteln, das Jenseits und die Engel als Fortsetzung und Träger des germanischen Nachruhms, die Duldungsforderung als Entsprechung des Schicksalsgedankens. Andere Züge des Christentums, die eine solche Umdeutung bzw. Anverwandlung nicht erlaubten, wurden übergangen. Je mehr aber, durch Alfreds Neuordnung gestützt, die lateinische Kirche vordrang und eine die ganze geistige Welt erfassende Organisierung des Christentums verlangte, um so stärker wurde das Bewußtsein einer tiefgreifenden Krise; die alten Werte kehrten sich um, die Dichter verstummten.

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Mochten Alfreds Nachfolger Edward, Athelstan, Edmund machtpolitisch das Sachsenreich über ganz England ausdehnen, die geistige Kultur stagnierte, und als der schwache Eadred dem klugen Dunstan (924-88), dem Abt von Glastonbury, Regierungseinfluß einräumte, vollendete sich der Prozeß: 960 wurde Dunstan Erzbischof von Canterbury. Er wurde einer der eifrigsten Verfechter der von Fleury ausgehenden benediktinischen Reform, die er während seines zweijährigen Aufenthaltes in einem reformierten Ordenshaus in Gent kennengelernt hatte. Zusammen mit den Bischöfen Aethelwold von Winchester und Oswald von Worcester, welcher auch in Fleury gewesen, begann er die Wiederbelebung der von Augustin nicht streng durchgeführten Benediktinerregel. Die meist verheirateten sog. 'Secular Canons' wurden durch Benediktinermönche ersetzt, viele neue Klöster gegründet, die von den Dänen zerstörten wieder aufgebaut, und die Mönche in Abingdon und Winchester streng geschult. Aus der bald weithin berühmten Winchesterschule ging Aelfric, der größte Prosa-Autor der Zeit, hervor. Fast die ganze Prosaliteratur des 10. und 11. Jahrhunderts ist dem Einfluß der Benediktinerreform zu verdanken, nur ist diese Literatur jetzt mönchisch; sie gliedert sich ein in die Weltliteratur der lateinischen Kirche. Die Däneneinfälle beeinflußten die Reform der Kirchen und Klöster so gut wie gar nicht. Der dänische König Knut, der ab 1016 in England regierte, stand unter dem Einfluß englischer Bischöfe. Wulfstan von York half ihm bei der Abfassung von Gesetzen und Verordnungen, insbesondere gegen heidnische Bräuche und Götzendienst. Knut erwies sich als Freund und Förderer der Kirche und des christlichen Glaubens. Er trug wesentlich zur Stabilisierung der politischen Ordnung bei und ist somit verantwortlich für Tendenzen und Entwicklungen, die auch nach der normannischen Eroberung für England von Bedeutung waren. Der Zusammenbruch der politischen Ordnung unter Eduard dem Bekenner (1042-1066) brachte zwar einschneidende Veränderungen der sozialen und geistigen Strukturen des Landes, bedeutete aber keineswegs einen Bruch im Kontinuum der englischen Geschichte. Die angelsächsische Zeit - darüber besteht bei den Historikern heute Übereinstimmung - ist der Wurzelgrund der englischen Kultur.

4. Die Literatur des christlichen Humanismus9 Zu den ersten Werken der englischen Literatur in lateinischer Sprache gehört die prophetisch geschriebene Darstellung De excidio Brilanniae (vor 547) von GILDAS10 (ca. 500-570) und die darauf beruhende anonyme Historia Brito9

M. Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, 3 Bde. (München, 1911-31) [deskriptives Nachschlagewerk]; F.J.E. Raby, History of Christian Latin Poetry (Oxf., 21953) und History of Secular Latin Poetry, 2 Bde. (Oxf., 21957) [moderne Darstellung mit Proben]; L. Bradner, Musae Anglicanae (1941); M. Heiin, A History of Medieval Latin Literature, transl. by J. C. Snow (N. ., 1949). 10 Gildas, De excidio et conquestu Britanniae, und Nennius, Historia Britonum, ed. T. Mommsen, Mon. Germ. Hist. Auct. Antiq. XIII; transl. by J. A. Giles in: Six Old English Chronicles (1848, new edn. 1901).

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num (ca. 679), deren bekannteste spätere Fassung von dem im 9. Jh. lebenden Waliser NYNNIAW (NENNius) 10 stammt. Das in mehr als dreißig Manuskripten überlieferte Werk besteht aus einer losen Sammlung von Kurzberichten über die Geschichte und Geographie Britanniens. Besonders interessant sind die Ausführungen über die Geschichte Arthurs, der von Nennius aber nicht als König, sondern 'dux bellorum' (Heerführer) dargestellt wird; er kämpfte zusammen mit den britischen Königen gegen die eindringenden Angeln und Sachsen.11 Nennius zählt insgesamt zwölf Schlachten auf. Den angeblich entscheidenden Sieg über die Feinde errang Arthur am Berge Badon in Wessex. Über diese Schlacht, die etwa A. D. 500 stattgefunden haben dürfte, berichtet auch schon Gildas, allerdings ohne Nennung des Namens Arthurs. Die kulturelle Blütezeit, für die altenglische Dichtung wie für den christlichen Humanismus, war das 7. und 8. Jahrhundert. Mit Theodor von Tarsus und seinem Begleiter Hadrian wurde Canterbury zu einem der führenden kulturellen Zentren; in der Klosterschule bestanden Klassen für kirchliche Musik, Mathematik, Astronomie; das Scriptorium wurde gepflegt. Zu dem lateinischen Unterricht trat ebenbürtig das Griechische. Der Ruf der Schule reichte weithin. Das nach Theodors mündlichen Antworten verfaßte Bußbuch, das erste seiner Art, wurde Vorbild aller 'libelli poenitentiales'. Angelsächsische Erzbischöfe wie Brithwald und Tatwine vermochten die große Tradition ihrer ausländischen Vorgänger fortzuführen. ALDHELM12 (639-709) wurde der größte Vertreter dieser humanistischen Kultur. Aus Westsachsen gebürtig, dann aber im Irenkloster Malmesbury erzogen, brachte er die keltische Latinität zu der in Canterbury gepflegten griechischen Schulung mit demselben Mangel an Unterscheidungsvermögen, mit dem er seine Lieblingsautoren Vergil und Sedulius und dann auch Ovid, Horaz, Lucan, Juvenal und patristische Schriftsteller auf eine Stufe stellte. Das Ansehen, das der gelehrte und weitgereiste Mann in seiner Zeit genoß, wurde durch den literarischen Nachruhm noch übertroffen. Maßgebend wurde insbesondere seine Metrik, die in einen Brief an den König Aldfrith von Nordhumbrien eingekleidet ist und nach einer mystischen Einleitung über die Zahl 7 zumeist von dem Hexameter handelt. Die Beispiele und Belege entnimmt Aldhelm antiken Dichtern. In diesen Traktat eingebettet sind hundert Rätsel in lateinischen Versen nach dem Vorbild des Symphosius (5. Jahrhundert), aber weniger epigrammatisch. Derartiges lag der Zeit; auch Tatwine und Hwaetberht-Eusebius schrieben Rätsel, die übrigens nicht ohne Einfluß auf die landessprachigen anonymen Verfasser von Rätseln blieben. Die konkrete Beobachtung der äußeren Natur und die anschauliche, sichere Beschreibung der Phänomene sind 11

Eine nützliche Sammlung von Textstellen findet sich in E. K. Chambers, Arthur of Britain (1927), S. 243ff.- Vgl. K. H. Jackson, "The Arthur of History", in: Arthurian Literature in the Middle Ages, ed. R. S. Loomis (Oxf., 1959), S. 1-11. 12 Aldhelm, Opera, ed. R. Ehwald, Mon. Germ. Hist. Auct. Antiq. XV (Bln., 1919); The Riddles of Aldhelm, ed. J. H. Pitman (New Haven, 1925; repr. 1970) [m. Übers.].

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bemerkenswerter als die Rätsellösungen (Taube, Fisch, Wind, Abend, Quelle), die im Gegensatz zu den altenglischen Rätseln oft auf der Hand liegen. Die lateinische Sprache beherrschte Aldhelm so sicher, daß er sich bei dem Gedicht De virginitate die Spielerei erlauben konnte, den ersten Hexameter ('Metrica tirones nunc promant carmina castos') in den Anfangsbuchstaben jeder Zeile und in rückläufiger Anordnung in den Endbuchstaben zu wiederholen (Acroteleuton). Aldhelm schreibt unter dem Einfluß der Hisperica Famina, einer im Südwesten Englands entstandenen Sammlung irischer ('hisperic') Kurztraktate, insbesondere in der Prosa einen manieristisch-artifiziellen Stil. Überreichlich verwendet er abstrakte Wendungen, Hellenismen und Alliterationen. In dem programmatischen Eahfrid-Brief wollte er zeigen, daß englische Schulung der irischen ebenbürtig sei; ähnliches gilt für den rein homiletischen Prosatraktat De virginitate, der inhaltlich ein Lob klösterlichen Lebens mit zahlreichen Heiligenleben als Beispielen darstellt. Der einfache, gerade Gedanke ist jeweils in einem so verschachtelten, durch Epitheta und Paraphrasen verdunkelten Stil ausgedrückt, daß er an die verwirrende Bandornamentik zeitgenössischer keltisch-irischer Manuskripte gemahnt. Der Wortschatz ist so ungewöhnlich und fremdklingend, insbesondere aufgrund der vielen griechischen, hebräischen oder selbstgeschaffenen Wortbildungen, daß man den zwiespältigen Eindruck barbarischer Künstlichkeit erhält. Dazu werden noch alle Ausdrucksmittel der heimischen Dichtung aufgeboten. Wie der germanische Sänger seinen Helden, so variierte Aldhelm einen Paulus als Saulus, als 'vas electionis', als Benjamin; wie jener verwendete er die zahlreichen gewaltsamen und übervollen Metaphern, die nahezu Kenningar (s. S. 22) werden (das Schweigen = 'mutae taciturnitatis valva'); wie jener liebte er die Stabung und beginnt den Eahfrid-Brief mit 16 p-Alliterationen. In dieser noch in die Bestandteile zerlegbaren klassisch-germanischen Stilmischung sehen wir ein Vorspiel der für die landessprachige Literatur bezeichnenden Verbindung von Christlichem und Heidnischem. An sich entsprachen diese Absonderlichkeiten nicht dem Geiste der Canterbury-Schule, sie weisen vielmehr nach Irland, wo die Gildas zugeschriebene Lor/ca-Dichtung (ca. 547) eine förmliche Geheimsprache entwikkelt hatte. Auf Irland, insbesondere die Altus Prosator-Hymne von Columba, eine komplette Weltgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zum letzten Gericht, weisen auch die Versuche in rhythmischer Dichtung, die Aldhelm unternommen haben soll, und von denen in den Werken seines Schülers Aethelwald Beispiele erhalten sind. Die irische Vorliebe für Reime und Rätsel, für Akrostichen und bizarre Latinität, wie sie im Liber Hymnorum und dem Antiphonarium von Bangor und bei Columba sich äußerte, fand in der englischen Aldhelm-Schule Fortbildung (beispielsweise bei Winfrid-Bonifatius) und würde von dort karolingischen Schulen weitergegeben. Dagegen hielt sich der sonst keltischen Einflüssen offenstehende Norden von den Künstlichkeiten der Aldhelm-Schule frei, vielleicht unter dem Einfluß Benedicts. Denn dieser nordenglische Humanismus begann in der Re-

/. Historisch-kulturelle Grundlagen der altenglischen Literatur

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gierungszeit Ecfriths, als Wilfrid das Erzbistum York erhielt, als er neue Kirchen baute in Ripon und Hexham und dort Bibliotheken einrichtete, und als Benedict Biscop die Zwillingsklöster Wearmouth (674) und Jarrow (681) gründete. Benedict war mit Theodor aus Rom gekommen und hatte (unterstützt von dem unter Theodor ausgebildeten John of Beverley) 669-71 die Canterbury-Schule geleitet, deren Traditionen er Ceolfrid vererbte, in dessen Abtei Wearmouth BEDA IB (672-735), der angesehenste und größte Theologe und Historiker seiner Zeit, erzogen wurde. Aus der langen Liste seiner Werke verdient zunächst die Metrik Erwähnung, die neben der Aldhelmschen ihren Platz behauptet und noch im 11. Jahrhundert von Fulbert in Chartres zugrunde gelegt wurde. Bedeutsam sind der naturwissenschaftliche Traktat De natura rerum, sowie die Abhandlungen zur Zeit- und Festrechnung De ratione temporum und De temporibus, mit denen sich die Rechnung nach Inkarnationsjahren (statt der früheren Weltjahre) durchsetzte, was die Annalenliteratur und auch die späteren Verschroniken erst ermöglichte. Das Hauptwerk Bedas, mit Hilfe vieler zeitgenössischer Kirchenfürsten verfaßt und 731 abgeschlossen, war seine Historia Ecclesiastica Gentis Anglorum^ der erste umfassende Versuch einer zusammenhängenden und kritischen Geschichtsdarstellung, die trotz unsystematischer stofflicher Gliederung und ungleicher Verarbeitung noch heute die Grundlage für die ältere Geschichte Englands bildet. Im Vergleich zu diesem Werk sind die Hymnen (einschließlich des bekannten De diejudidi}, die zwei Fassungen der zumeist aus Wundererzählungen bestehenden Vita Cudbercti und der Brief an Ecberhl, den in York lehrenden Freund, von geringerer Bedeutung. Beda war nicht Künstler wie Aldhelm, sondern Gelehrter, er wirkte weniger durch glänzende Form als durch emsigen Fleiß, gewissenhaftes Zusammentragen der Urkunden und Wahrheitsliebe. So liegt der literarische Reiz seiner Schriften nicht in dem stilistischen Rankenwerk der südenglischen Schule, sondern in der direkten Erzählung, der naiven Gläubigkeit, Heiterkeit, Klarheit und Reinheit. Bedas lateinischer Stil ist würdig, flüssig und klar, jedoch ohne Eleganz; im Vergleich zu Aldhelms Rätselhaftigkeit und Prunk wirkt er bodenständiger; bezeichnend scheint, daß Beda zeitlebens dem heimatlichen Jarrow treu blieb. Nach seinem Tode verlagerte sich das Zentrum wissenschaftlichen Wirkens nach York, wo jener EGBERT 752-66 tätig war, den Bedas Brief bekannt machte. Mehr Erzieher als Schriftsteller, richtete er den ersten planmäßigen Lehrgang der 'artes liberales' in England ein, und als Mann feinen Geschmacks wußte er der nach kurzer Zeit weltbekannten Yorker Schule eine künstlerische Note zu verleihen, wovon vor allem sein Evangeliarium zeugt (Durham Book, jetzt im Britischen Museum). 13

Bedae Opera Historica, ed. J.E. King, 2 Bde., Loeb Classical Library (1930, m. Übers.); Übers, auch in EL. Gesamtausgabe in: Migne, Patr. Lat., Bde. 90-95.- A. H. Thompson, Bede: His Life, Times and Writings (Oxf., 1935). 14 edd. B. Colgrave and R. A. B. Mynors (1969).

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Yorks Bedeutung blieb erhalten unter seinem Nachfolger Aethelberht, den der letzte große York-Schüler, ALCUIN IS (735-804), in den Versus de Patribus Regibus et Sanctis Eboricensis Ecclesice noch über Egbert stellt. Alcuin war Erzieher, der in Handbüchern alles Wissen in Frage- und Antwortform zusammenfaßte. Als Schriftsteller war er Beda und auch Aldhelm nicht ebenbürtig, obwohl er wie dieser die heimische Phantasie in die fremde Prosa übertrug und in der Dichtung einen persönlicheren Ton zu finden wußte. In diesem Zusammenhang ist z. B. das „Lebewohl an seine Zelle" zu nennen oder der „Streit zwischen Frühling und Winter",16 eines der ersten Beispiele der Gattung Streitgedicht (conflictus). Die als Schiedsrichter angerufenen Vergilischen Schäfer entscheiden sich für den Frühling, der den Kuckuck zurückbringt. Für den Dichter ist der Vogel Botschafter der Liebe und der Fruchtbarkeit und damit Symbol der immerwährenden Erneuerung des Lebens. Nach 782 gehörte Alcuin mehr zur festländischen Literatur; als Gehilfe Karls des Großen beteiligte er sich mit Traktaten an Fragen, die England nicht weiter berührten. Es schwächte auch den Yorker Humanismus, daß er von dort Kräfte abzog und sie Karl dem Großen dienstbar machte. Zur inneren Schwächung kam die äußere Bedrängung durch die Nordmänner, die seit 793 die nordhumbrischen Küsten beunruhigten. York blieb lange unberührt, aber um 870 waren so gut wie alle Bildungsstätten zerstört oder verwaist. Dann kam die Neubelebung durch Alfred in Wessex. Er rief Werferth aus Worcester, Plegmund aus Chester, Grimbald von St. Omer, Johann von Corvey und Asser aus St. David. Trotz dieser großen Namen war das kulturelle Ergebnis nicht schöpferisch, sondern eine Zusammenstellung der Reste älterer Traditionen und ein volkstümliches Übersetzen. Die letzten vereinzelten humanistischen Stimmen sind Frithegodes manierierter Stil und Wulfstans Hymnen und Heiligenleben im 10. Jahrhundert.

II. WESENSZÜGE DER ALTENGLISCHEN LITERATUR 1. Überlieferung Die gesamte altenglische Literatur ist uns als Werk von Klerikern des 7. bis 11. Jahrhunderts überliefert.1 Sie kann also nicht unmittelbarer Ausdruck altgermanischen Wesens sein. Anders als in der übrigen Germania kam je15

Werke in: Migne, Patr. Lat., Bd. 100, 101; Poet. Werke in: Mon. Germ. Hist. Poetae I, 160 ff.- C. J. B. Gaskoin, Alcuin: His Life and Work (Cambr., 1904). 16 Übersetzung in: J. B. Bessinger and R. P. Creed, Franciplegius: Medieval and Linguistic Studies in Honor of F. P. Magoun, Jr. ( . ., 1965), S. 17-18. 1 N. R. Ker, Catalogue of Manuscripts Containing Anglo-Saxon (Oxf., 1957); Supplement in Anglo-Saxon England 5 (1976), 121-131.

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doch in England das Heimische stärker zum Ausdruck. Man gelangte auffallend rasch nach der Bekehrung zu einem eigenen Schrifttum (wofür auch die Gesetzesaufzeichnungen ein Beleg sind), und die Geistlichkeit hatte hier für die heimische Dichtung mehr übrig als etwa in Frankreich. Aber diese christlich und humanistisch geschulten Leute konnten von der in mündlicher Überlieferung lebenden heidnisch-germanischen Dichtung nur ein Echo geben, auch da, wo sie den weltlichen Stoffen gerecht zu werden suchten. Denn es handelte sich um ein künstlerisches Neugestalten überlieferten Dichtungsgutes und nur selten um einzelne christliche Zutaten, die wieder weggenommen werden könnten. Wie es in der äußeren Form der Stil der AldhelmSchule andeutet, ist die Mischung von christlich-antik und heidnisch-germanisch auch für das innere Wesen der altenglischen Literatur kennzeichnend. Diese Mischung ist sogar an der Schrift aufzeigbar. Die älteste germanische Schrift bestand aus Runen, buchstabenähnlichen Zeichen, die in Holz, Stein und andere Materialien eingeritzt wurden. Das harte Material führte zu einer eckigen, geradlinigen Form, die nur noch wenig gemeinsam hatte mit den teilweise zugrundeliegenden lateinischen und griechischen Schrifttypen. Jede Rune war nicht nur Buchstabe, sondern auch Symbol eines Gegenstandes, nach dem sie benannt wurde (z. B. „Freude", „Tag", „Mann"); in der Frühzeit zumindest war sie auch mit magischen bzw. abergläubischen Vorstellungen verbunden. In England haben wir zahlreiche, meist aus den nördlichen Grafschaften stammende Belege (Steinkreuze und Steine von Ruthwell, Bewcastle, Thornhill, sowie Runenkästchen, Graburnen, Schmuck und Waffen). Die altenglische Dichtung ist jedoch in lateinischer Schrift aufgezeichnet worden. Zwar mißlang der erste Einführungsversuch durch Augustinus und seine Missionare, aber auf dem Umweg über Irland und die Mönche von Lindisfarne (etwa 640) gelangte die Halbunziale nach England. Sie wandelte sich zu einer spitzen Kursivschrift, als man in England statt des Schreibrohrs die Gänsefeder verwandte. Diese mehrere Runenzeichen benutzende, durch auffällige Tiefstriche gekennzeichnete Schrift ist für das Angelsächsische typisch. Sie wird Insulare oder anglo-irische Minuskel genannt. Erst gegen Ende der altenglischen Epoche wird sie von der französisch-karolingischen Minuskel beeinflußt und abgelöst. Auch die Insulare ist Klerikerschrift. Bis in die spätaltenglische Zeit jedoch fanden die Runen als verschlüsselte Chiffren noch gelegentlich Verwendung in der Dichtung, zuletzt auch als antiquarisch anmutende Erinnerung an frühere Zeiten.2 Nur ein kleiner Teil der altenglischen Dichtung wurde aufgeschrieben und blieb uns so erhalten. Zahlreiche Manuskripte werden bei den Däneneinfällen des 8. Jahrhunderts zerstört worden sein. Die nachfolgende schriftliche Fixierung beschränkte sich auf die westsächsische Umarbeitung von Jahrhunderte zurückreichenden Originalen sowie von mündlich tradierten Dichtungen. Die Autoren und Scriptorien benutzten dafür eine westsächsische 2

R. W. Elliott, Runes: An Introduction (Manchester, 1959; repr. 1963); C. L. Wrenn, "Late Old English Rune Names", Medium Aevum l (1932), 24-33; W. Krause, Runen (Bln., 1970).

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Gemeinsprache, die sich um die Wende des 11. Jahrhunderts über ganz England verbreitete.3 Sprachliche Indizien in den westsächsischen Texten lassen erkennen, daß die Vorlagen oft aus früheren Zeiten oder aus anderen Dialektgebieten stammten. Der Beowulf-Dichter z. B. könnte zur Zeit Bedas am königlichen Hof in Nordhumbrien gelebt haben. Die große Zeitspanne zwischen Entstehung und Niederschrift erklärt einen Teil der zahlreichen Mißverständnisse, Auslassungen und Umstellungen in den Manuskripten; die ursprüngliche Version ist kaum in einem Fall zu rekonstruieren.4 Auch die Überlieferung der altenglischen Dichtung deutet auf die Mischung zwischen christlich-antiken und heidnisch-germanischen Elementen. Die älteste uns erhaltene Niederschrift ist Caedmons Lobhymnus auf Gott. In einer lateinischen Handschrift des achten Jahrhunderts (Bedas Kirchengeschichte) erscheint das Gedicht in der nordhumbrischen Originalsprache. Dieser Fall ist atypisch, denn die restliche altenglische Dichtung wurde mit wenigen Ausnahmen durch westsächsische Handschriften des späten 10. Jahrhunderts überliefert, zum größten Teil anonym. Vier große Handschriften enthalten fast die gesamte Dichtung: Beowulf-Manuskript (Britisches Museum), Exeter Book (Kathedralbibliothek Exeter), Junius- oder CaedmonManuskript (Bodleiana, Oxford), Vercelli Book (Dombibliothek Vercelli in Oberitalien).5

2. Produktion und Rezeption der altenglischen Dichtung Schon lange vor der schriftlichen Fixierung der altenglischen Dichtung existierte sie - teilweise als germanisches Gemeingut - in Form von mündlich tradierten Liedern und Liederzyklen. Professionelle Sänger, 'scop(as)' genannt, reisten durch das Land und trugen ihre Lieder in den Methallen vor. Manchmal fanden sie einen festen Platz als Hofsänger unter dem Schutz eines Stammesführers und hatten dann die Aufgabe, für besondere Anlässe neue Preislieder zu verfassen. Aus altenglischen Texten und Beschreibungen wissen wir, daß die Lieder mit Harfenbegleitung vorgetragen wurden; ein solches Instrument ist auch in Sutton Hoo geborgen worden. Gewisse Stilmerkmale der Vortragsdichtung - Alliteration, Formeln, feste Szenenfolgen usw. - dienten u. a. auch mnemotechnischen Zwecken. Nicht nur Lieder, sondern auch Stammesgeschichte, z. B. Genealogien (sogenannte 3

H. Gneuss, "The Origin of Standard Old English and ^thelwold's School at Winchester", Anglo-Saxon England 1 (1972), 63-83. 4 K. Brunner, "Überlieferungsgeschichte der alt- und mittelenglischen Literatur", in: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur, Bd. II (Zürich, 1964), S. 601 ff. 5 Facsimileausgaben: Beowulf, ed. J. Zupitza, EETS 77 (1882), 2nd ed., ed. N. Davis, EETS 245 (1959); The Exeter Book of Old English Poetry, edd. R. W. Chambers, M. Förster and R. Flower (1933) [vorzügliche Wiedergabe]; The Caedmon MS of AngloSaxon Biblical Poetry, ed. I. Gollancz (Oxf., 1927); II Codice Vercellese, ed. M. Förster (Rome, 1913).

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'bulas') gehörten zum festen Repertoire der Sänger. Der 'scop' war nicht nur Vortragskünstler und Dichter, sondern angesehener Hüter und Bewahrer der Geschichte des Stammes oder Hofes, dessen Ruhm er verbreitete. Wenn er reiste, war er auch Nachrichtenträger und 'raconteur'. Ob er in der Frühzeit auch noch kultische Funktionen versah (ein Synonym für 'scop' war 'wopbora' = 'vates'), ist unklar. In den meisten Fällen bleibt der Liederdichter anonym; nur wenige sind uns namentlich bekannt. Zwei Gedichte berichten von der Lebensweise des 'scop1 (Widsip und Deor), und die Arbeitsweise des Sängers wird öfters in der Dichtung geschildert, z. B. in Beowulf.6 Die von den Sängern vorgetragenen Lieder hatten keine feste Form. Sie wurden beim jeweiligen Vortrag improvisierend neu geschaffen, ausgeschmückt und variiert. Im Falle der altenglischen Dichtung wurde die mündliche Tradition der Liederdichter schriftlich fortgesetzt, obwohl sich die christliche Kirche gegen die alten Heldenlieder und weltlichen Gesänge erhob. So fragte Alcuin in einem Brief an das Kloster Lindisfarne aus dem achten Jahrhundert: 'Quin Hinieldus cum Christo?' (Was hat Christus mit Ingeld [ein germanischer Held] zu tun?) 7 Wieviel von der alten weltlichen Dichtung verloren ging, ist uns unbekannt. Zahlreiche Hinweise und nicht ausgeführte Motive und Themen deuten auf Verschollenes hin. Die überlieferten Manuskripte verdanken wir christlichen Dichtern und Schreibern. Das, was von ihnen aufgezeichnet oder überarbeitet worden ist, zeigt deutliche Spuren der zeitgenössischen lateinischen Literatur und stellt dennoch etwas ganz Eigenständiges, Angelsächsisches dar.8

3. Stil der altenglischen Dichtung9 Die wichtigsten Merkmale der angelsächsischen Dichtersprache gehen letztlich auf zwei entgegengesetzte Grundtendenzen zurück: Konvention gegenüber Innovation, 'repetitio' (Wiederholung) gegenüber 'variatio' (Abwandlung). Auf phonologischer Ebene wird die Dichtersprache durch die stabende Wiederholung von Konsonanten bzw. Konsonantengruppen geprägt (Alliteration). Auch Reim und Assonanz basieren auf lautlicher Wiederholung. Wiederkehrende Wortwendungen (Formeln und Formelsysteme) sowie stereotype Erzählstrukturen (Motive, Szenen, Szenenfolgen) zeigen, daß eine organisch gewachsene Konvention sowohl Stil als auch Inhalt der altenglischen Dichtung bestimmte. 6

L. F. Anderson, "The Anglo-Saxon Scop", University of Toronto Studies: Philological Series 1 (1903), 1-45. 7 Vgl. R. Levine, "Ingeld and Christ: A Medieval Problem", Viator 2 (1972), 105-128. 8 R. M. Wilson, The Lost Literature of Medieval England (1952). 9 S. hierzu die in der Epochenliteratur S. 3 aufgeführten Literaturgeschichten von Heusler, Göller, Wrenn und Shippey; ferner: W. P. Ker, Epic and Romance (1896 u. ö.).

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Die Kreativität des Dichters jedoch zeigte sich in der Durchbrechung und Neubelebung der Konvention, d. h. in der variierenden Abwandlung des Altbekannten. Der künstlerische Reiz liegt dabei in der Spannung zwischen Konvention und Innovation.10 Auf sprachlicher Ebene konnten z. B. feste Formeln in völlig neue Zusammenhänge eingebettet oder neue Formeln unter Teilverwendung der alten geprägt werden. Ebenso steigert die Dichtersprache die an sich weitgehende syntaktische Freiheit in der Wortstellung und die zuvor schon vielfältige Möglichkeit der Kompositabildung. Die Vorliebe für komplexe und schmückende Umschreibungen äußert sich vor allem in der Verwendung von metaphorischen Wortkomposita, 'Kenningar' genannt. Diese unausgeführten Vergleiche, die sich noch häufiger in der nordischen Dichtung finden, verlangen oft eine Auflösung wie bei einem Rätsel: „Wogenroß" bedeutet Schiff, „Knochenhaus" steht für Leib, „Schiffsstraße" für Meer. Durch häufige Verwendung erstarren manche Kenningar und werden zu Formeln, meist festen Fügungen mit Halbzeilenlänge. Anderseits werden durch Ersetzung eines der zwei Kompositionsglieder neue Varianten der schon bekannten Kenningar geprägt. Ähnliches läßt sich auf der Syntagmenebene feststellen: Hier basiert die 'Variation' auf Wiederholung und Ersetzung ganzer Satzteile bei gleichbleibender oder leicht nuancierter Bedeutung.11 Die altenglische Dichtung ist im höchsten Grade formelhaft. Diese Tatsache wurde von deutschen Philologen schon im 19. Jahrhundert festgestellt und mit Formelsammlungen untermauert. Aber erst im 20. Jahrhundert wurde die Formelhaftigkeit zur systematischen Erklärung der Kompositions- und Aufbauweise der altenglischen Dichtung herangezogen. Die sogenannte Oral Formulaic Theory' stellt bausteinartige Kompositionseinheiten fest, die durch die Prinzipien der Wiederholung und Variation die Dichtung strukturieren und mnemotechnisch abstützen. Wortwiederholung im Text kann wörtlich ('formula'), leicht abgewandelt ('formulaic system') oder über mehrere Zeilen hinweg lose verteilt ('cluster') sein. Inhaltliche Wiederholung gliedert sich ebenfalls nach Größe und Flexibilität in die Einheiten 'motif, 'type-scene', und 'theme'. Gleich der verschlungenen Bandornamentik der angelsächsischen Buchmalerei fügen sich die einzelnen Elemente der Dichtung zu einer kunstvoll ineinandergreifenden Gesamtstruktur. 12 10

S. B. Greenfield, The Interpretation of Old English Poems (1972). Zu den Kenningar vgl. H. Marquardt, Die altenglischen Kenningar: Ein Beitrag zur Stilkunde der altgermanischen Dichtung (Halle, 1938); A. G. Brodeur, "The Meaning of Snorri's Categories", University of California Publications in Modern Philology, 36 (1952), 129-48; T. Gardner, "The Application of the Term 'Kenning'", Neophilologus, 56 (1972), 464-68. Zu 'Variation' vgl. F. C. Robinson, Variation: A Study in the Diction of 'Beowulf (Diss. Univ. North Carolina, 1961). 12 Einen systematischen Überblick über den Forschungsstand bietet E. L. Haymes, Das mündliche Epos: Eine Einführung in die Oral Poetry' Forschung (Stuttgart, 1977); Systematisierung und Ergänzung durch 'clusters': vgl. J. Ritzke-Rutherford, "OralFormulaic Theory and Some Revisions", in: Light and Darkness in Anglo-Saxon Thought and Writing (Frankfurt, 1979), S. 143-73. 11

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Die Gesamtwirkung wird durch weitere, oft aus der klassischen Rhetorik entlehnte Stilmittel erhöht. So finden sich Hyperbel (Übertreibung) und Litotes (Untertreibung), Synekdoche und Metonymie (Metapher, 'pars pro toto' usw.), Synästhesie (Vermischung von Sinneseindrücken) und Prosopopöie (Personifizierung unbelebter Objekte) besonders häufig. Sinneinheiten werden durch Wiederholung bestimmter Wort- und Satzfügungen kunstvoll eingerahmt ('envelope structure')·13 Die Dichtung bewahrt eine Reihe von altertümlichen, poetischen Bezeichnungen (z. B. 'mece' statt 'sweord', 'guma' statt 'man'). Sie basiert auf einer literarischen, spätwestsächsischen Koine, die ungeachtet dialektaler Grenzen benutzt wurde. 4. Metrik 14 Die Ornamentik des Stils und der Sprache wird durch ebenso kunstvolle phonometrische Konventionen, d. h. durch die Metrik, unterstrichen. Der Vers der germanischen Dichtung ist ausnahmslos die stabende Langzeile, d. h. der aus zwei Hälften, dem An- und Abvers, gebildete und durch Stabreim zusammengehaltene Vers. Unter Stabreim versteht man den gleichen konsonantischen Anlaut zweier Wörter oder Silben, wobei allerdings sk, sp, st wie ein Konsonant behandelt werden, also nur in der entsprechenden Verbindung miteinander Stäben können. Anderseits können alle Vokale - wohl wegen des in der germanischen Aussprache vorangehenden Knacklauts - frei untereinander staben. eci dryctin, d?fter tiadae /irum /oldu /rea allmectig. Die stabenden Silben stehen in der Hebung, und die Wirkung des Stabreims ist nicht wie beim Endreim melodisch, sondern emphatisch. Die altenglische Dichtung spiegelt den natürlichen Sprachrhythmus wider; daher stehen satzbetonte Wörter (Nomina, Adjektiva, finite Verba) auch meistens in der Hebung (sogenanntes Kuhnsches Gesetz). In der Regel hat die Langzeile vier Hebungen, von denen die erste und/oder zweite im Anvers und die erste im Abvers staben. Die letzte oder vierte Hebung stabt nur im Falle von Kreuzalliteration, auch Chiasmus genannt (abab oder abba), oder bei defekten Versen, die in der späteren Dichtung häufiger anzutreffen sind. Die altenglische Metrik hängt nicht nur von der Betonung (Hebung), sondern auch von der Silbenquantität ab, wie es in der lateinischen Metrik der Fall ist. In der Hebung stand nur eine lange Silbe, d. h. eine mit Langvokal oder mit kurzem Vokal gefolgt von Doppelkonsonanz. Aber auch eine kurze Silbe in Kombination mit einer unbetonten konnte anstelle der langen Silbe stehen (sogenannte 'resolution' oder Auflösung). 13

Adeline C. Bartlett, The Larger Rhetorical Patterns in Anglo-Saxon Poetry ( . ., 1935). 14 Einen guten Überblick bietet: W. P. Lehmann, The Development of Germanic Verse Form (Austin, Tex., 1956); A. Bliss, An Introduction to Old English Metre (Oxf., 1962).

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Der Versuch, die altenglische Dichtung metrisch zu entschlüsseln, hat zu einer Folge von komplexen Theorien geführt. Es darf jedoch nicht vorausgesetzt werden, daß der angelsächsische Dichter sich an derartig komplizierten Schemata bewußt orientiert hat. Er hielt sich wohl eher instinktiv an sein natürliches Sprachgefühl, an die Rhythmen der viertaktigen, stabenden Langzeile mit beliebiger Verteilung der unbetonten Silben und an die formelhaften Sprach- und Versmuster, die er von anderen gelernt hatte.15 Für den metrischen Bau der Halbzeile stellte Sievers fünf Grundformen oder Typen auf, einen doppelt fallenden - - , einen doppelt steigenden - -, sowie einen steigend fallenden - - (diese alle gleichfüßig), sodann zwei ungleichfüßige Formen -1 - - und - - | -. In allen Fällen bedeutet eine oder mehrere unbetonte Silben. Im Gegensatz zu Sievers, der den Tonus als Ausgangspunkt wählte, ging Heusler von der Quantität aus, d. h. von der Zeilenlänge. Er postulierte eine Universallänge, die sich musikalisch als vier 4/4 Takte ausdrücken läßt. Diese „isochronische" Theorie wurde später von J. C. Pope unter Verwendung musikalischer Notation aufgegriffen und weiter ausgebaut.16 Jüngere Versuche haben einen sinnvollen Kompromiß zwischen den Theorien von Sievers und Heusler angestrebt, aber die Diskussion ist keineswegs abgeschlossen.17 Weitere Probleme bietet die sogenannte hypermetrische Langzeile (Schwellvers). Hier handelt es sich um unregelmäßige, überlange Verszeilen, deren Ursprung und Funktion noch nicht völlig geklärt werden konnten.18 Außer Alliteration werden in der altenglischen Dichtung gelegentlich Reim (meistens Binnenreim) und Assonanz als akustische Versornamentik verwendet. Das beste Beispiel dafür ist das Reimlied aus dem Exeterbuch: gold gearwade, gim hwearfade sine searwade, sib nearwade. Die altenglische Dichtung hat keine eigentliche Strophenbildung, wie wir sie bei anderen Dichtungen kennen. Entweder werden Sinneinheiten durch Anapher und strukturierende Wiederholung voneinander abgesetzt, oder es werden ganze Zeilen refrainartig wiederholt (so bei dem Gedicht Deor). In der Regel sind die Zeilen jedoch aneinandergereiht ('increment'), entweder mit Übereinstimmung der Langzeile und der Gedanken- bzw. Satzeinheit (Zeilenstil), oder mit Enjambement (Haken- oder Bogenstil). Bei letzterem fängt 15

Die Mehrzahl neuerer Arbeiten bevorzugt diese Ansicht, ausgehend von: M. Daunt, "Old English Verse and English Speech Rhythm", TPS (1946), 56-72. 16 E. Sievers, Altgermanische Metrik (Halle, 1893); vgl. Kurzfassung in Pauls Grundriß der germanischen Philologie, II, 2 (Straßburg, 21905); A. Heusler, Deutsche Versgeschichte mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses, Bd. I (Berlin, 21956); J. C. Pope, The Rhythm of Beowulf (New Haven, 1942; 21966). 17 Neuester Überblick bei H.-J. Diller, Metrik und Verslehre (Düsseldorf, 1978). Einen wesentlichen Beitrag leistet das Buch von T. M. Cable, The Meter and Melody of Beowulf (Urbana, III., 1974), sowie M. Halle and S. J. Keyser, English Stress: Its Form, its Growth, and its Role in Verse (N. Y., 1971). 18 Vgl. E. C. Kyte, "On the Composition of Hypermetric Verses in Old English", MP 71 (1973), 160-65.

///. Die niedere Dichtung

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die neue Sinneinheit erst nach der 'caesura' (der Sprechpause zwischen dem Halbzeilenpaar) an, die Sätze sind ineinander verschlungen. Während die kürzeren Gedichtarten und die Lyrik den Zeilenstil bevorzugen, ist der Hakenstil insbesondere beim Epos anzutreffen. 19

III. DIE NIEDERE DICHTUNG 1. Zauberdichtung und Spruchdichtung1 Von den höheren Formen altenglischer Dichtung wie etwa Preis- und Sagenlied ist eine Art Gebrauchslyrik deutlich abhebbar. Sie bezieht sich auf das tägliche Leben der Angelsachsen, praktische Lebensklugheit und Volksweisheit und stammt aus einer nicht literarischen, mündlichen Tradition. Insbesondere die Zaubersprüche, Merkverse und Rätsel weisen eine Mischung germanisch-heidnischer und christlicher Elemente auf. Der Zauberspruch ist (nach Grendon) gekennzeichnet durch die Erzähleinführung, die Anrufung Gottes oder eines Geistes, die Niederschrift magischer Buchstaben oder Namen, die Feststellung exorzistischer Befugnis sowie die Anweisung bezüglich bestimmter Zeremonien und der für die Ausübung der Riten günstigen Zeiten. Welche Tageszeit dafür besonders beliebt war, erfahren wir nicht nur aus den Texten, sondern auch von Erzbischof Eanberth von York (766-791): er verbot in seinem Poenitentiale das Zaubern in der Dämmerstunde. Das bezeichnendste und schönste Beispiel der Zauberdichtung ist der sog. Flursegen, ein Zauberspruch, der Beschwörung und Gebet in einem ist und somit heidnisches und christliches Brauchtum verschmilzt - angerufen werden Gott, Maria und die Erdmutter Erce. Daraus ist zu erkennen, daß die Kirche alte heidnische Kultformen aufgriff und umformte, die ursprüngliche Matrize aber beibehielt. Zaubersprüche wurden toleriert, wenn sie äußerlich christianisiert worden waren. Weitere Zaubersprüche künden von Nöten und Ängsten, die den Angelsachsen plagten. Den Hexenschußsegen wandte an, wer Schmerzen vertreiben wollte, die von bösen Geistern, Hexen oder Elfen verursacht worden waren. Der Bienensegen half dem Imker beim Einfangen ausgeschwärmter Bienen, wobei Erce Hilfe leistete. Wir erkennen noch deutlich den Glauben an Gei19 1

Vgl. K. Malone, "Plurilinear Units in Old English Poetry", RES 19 (1943), 201-4. G. Grendon, "The Anglo-Saxon Charms", Journal of American Folklore 22 (1909); repr. (N. Y., 1930); G. Storms, Anglo-Saxon Magic (The Hague, 1948); Leechdoms, Wortcunning and Starcraft of Early England, ed. T. O. Cockayne, 3 Bde. (1864-66; repr. 1965) [mit medizinischen Texten]; Anglo-Saxon Magic and Medicine, edd. J. H. G. Grattan and C. Singer (1952); E. A. Philippson, Germanisches Heidentum bei den Angelsachsen (Lpzg., 1929).

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ster und Naturwesen, auf deren schädlichen Einfluß Unglück und Krankheit zurückgeführt wurden und deren Gunst man sich daher sichern mußte. Insgesamt handelt es sich um zwölf Zaubergedichte. Die abergläubische Volksweisheit erhielt sich vor allem in zwei Medizinbüchern, die seit Cockaynes Edition (1864-66) als Iceceboc und lacnunga bekannt sind. Sie enthalten medizinische Rezepte und Anweisungen von zwei angelsächsischen Ärzten namens Oxa und Dun, die klassische Vorschriften mit Volksmedizin vermischten. Insbesondere das 'laeceboc' ist eine Art Handbuch des angelsächsischen Arztes gewesen; im 'lacnunga' hingegen überwiegen die Zaubersprüche. Man sollte die beiden Bereiche aber nicht zu deutlich voneinander absetzen. Abgesehen davon, daß sich magische Zeremonien bis in die Neuzeit erhalten haben und selbst in zivilisierten Gegenden noch heute praktiziert werden, ist Folklore oft mißverstandene oder abgesunkene Naturwissenschaft. Mit der christlichen Lehre kamen auch Heilkenntnisse und Arzneimittel aus dem griechisch-römischen Kulturraum nach England. Gebete und liturgische Formeln wurden der heimischen Heilkunst eingegliedert, die naturmagische Medizin somit christlich überlagert.2 Die Zaubersprüche wurden wahrscheinlich zunächst gesungen ('galdor' von 'galan', singen). Dennoch sind nur wenige 'charms' metrisch aufgebaut. Erkennbar sind jedoch die Formmerkmale der Frühzeit: freier Zeilenstil, Bindung zu inhaltlich geschlossenen Einheiten, Anaphora, gelegentlicher Endreim, ungewöhnliche Stabverteilung. Inversion und Kenningar kommen häufig vor, ebenfalls kurze alliterierende Formeln. Einer der interessantesten magisch-apotropäischen Texte ist uns in Franks Casket, einem mit Runeninschriften und Bildern versehenen Walbein-Kästchen aus dem frühen 8. Jahrhundert, erhalten. Bilder und Inschriften hatten den Zweck, das im Kästchen aufbewahrte Vermögen zu schützen und zu mehren. Bereits dieses frühe Zeugnis angelsächsischen Kunstsinns enthält eine Mischung heidnischer und christlicher Elemente. So erkennen wir auf der Vorderseite (neben dem Bild Wielands) die Anbetung Jesu durch die Magier, auf der rechten Seite aber die Begegnung eines germanischen Kriegers mit seiner Walküre. Die dazugehörigen Runeninschriften gehören zur ältesten angelsächsischen Stabreimdichtung.3 Auch die altenglische Spruchdichtung4 stammt aus der germanischen Welt, diente nämlich den heidnischen Priestern zu Lehrzwecken. Erhalten sind aber nur Spätformen, die stilistisch der geistlichen Dichtung verwandt sind. 2

J. F. Payne, English Medicine in the Anglo-Saxon Times (Oxf., 1904); C. Singer, From Magic to Science: Essays on the Scientific Twilight ( . ., 1925). 3 A. Becker, Franks Casket: Zu den Bildern und Inschriften des Runenkästchens von Auzon (Regensburg, 1973). "Außer den Texten in ASPR (III, 156-63; VII, 55-57): Gnomic Poetry in AngloSaxon, ed. B. C. Williams (N. Y., 1914; repr. 1966). Weiterführende Arbeiten: R. McG. Dawson, "The Structure of the Old English Gnomic Poems", JEGP 61 (1962), 14-22, und J. K. Bollard, "The Cotton Maxims", Neophilologus 57 (1973), 179-87. Zusammenfassung neuester Ergebnisse bei Shippey, Poems of Wisdom and Learning, S. 4-9.

///. Die niedere Dichtung

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Der Cotton Lehrspruch, gemeinhin Maxims II genannt, macht den ursprünglichsten Eindruck; auch sprachlich verweist er auf die Frühzeit, etwa durch das Fehlen des bestimmten Artikels. Die Lehren handeln von übermenschlichen Dingen, wobei christliche und heidnische Elemente abrupt nebeneinander gestellt werden. Literarischer Ehrgeiz ist nicht zu erkennen. Die rhetorische Ausgestaltung ist schwächer als bei den Zaubersprüchen, die Sätze sind knapp und leicht einprägbar. Der Exeter-Spntch, bekannt als Maxims I, macht einen stärker christlichen Eindruck. Auch im älteren ersten Teil (1-138, nach Schücking Anfang des 8. Jahrhunderts) steht Wyrd nicht mehr neben Gott, Vertrag wird der Fehde vorgezogen, die Notwendigkeit der Monogamie betont. Der zweite, einheitlichere und sicher auch später entstandene Teil (139-206) bringt ein Lob des Sängers und eine wahrscheinlich auf höfische Zuhörer gemünzte Darstellung heldischer Ideale. Man hat daraus auf einen Skop als Verfasser geschlossen. Die Vaters-Lehren (Precepts)* machen im Vergleich dazu bereits einen bürgerlich-didaktischen Eindruck. Der Autor hält jungen Leuten eine Art Sittenpredigt. Statt heroischer Ideale empfiehlt er ihnen Ergebenheit und Gehorsam gegenüber den Lehrern. Er warnt sie vor Liebschaften und belegt diese Ratschläge mit Erfahrungssprüchen. Trotz der frühen Datierung des Gedichtes ist es eindeutig christlich geprägt.

2. Merkdichtung 6 Wie zum Schluß der Gedichte Cynewulfs tauchen im altenglischen Runengedicht aus dem 10. Jahrhundert alte germanische Schriftzeichen auf, Runen genannt. Die Herkunft des Runenalphabets ist bis heute noch nicht völlig klar, obwohl aufgrund des haltbaren Materials relativ mehr Runeninschriften überliefert worden sind als Manuskripte. Das nach den ersten fünf Runen 'fupark' genannte Alphabet besteht aus Einzelbuchstaben, denen ein Lautwert und ein Namenssymbol entspricht. Die F-Rune z. B. steht für den Buchstaben wie auch für 'feoh' (Besitz). Das Runenlied1 besteht aus 29 Strophen, in denen jeweils ein Runenname durch einen leicht memorierbaren Merkspruch erläutert wird. Ein Vergleich mit den nordischen Vorbildern zeigt bedeutsame Änderungen. Epigrammatische Knappheit wird ersetzt durch malende Schilderung mit Bogenstil und Variation. Die nur mnemonischen Verse wurden dadurch zu epischen Miniaturen aus dem angelsächsischen Leben, wobei die einzelnen Kenningar gleichnisartig ausgeführt wurden. 5

ASPR III, 140-43. B. Dickins, Runic and Heroic Poems of the Old Teutonic Peoples (Cambr., 1915). Zur Runenkunde: K. Schneider, Die germanischen Runennamen (Meisenheim, 1956); R. I. Page, An Introduction to English Runes (1973). S. auch S. 19, Anm. 2. 7 ASPR VI, 28; S. R. Hall, "Perspective and Wordplay in the Old English Rune Poem", Neophilologus 61 (1977), 453-59. 6

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Der Widsip (wörtlich „Weitfahrt") enthält drei Merkreihen mit uraltem Skopgut. Einzelne Teile dürften aus dem 7. Jahrhundert stammen. Die Rahmeneinkleidung des seine Erlebnisse erzählenden Skop stammt von einem späteren Redaktor. Die erste dieser Merkreihen oder 'bulas' (18-34) ist ein Königskatalog. Er beginnt mit Hwala, nach germanischer Götterlehre Stammvater Wodans und damit aller Könige, die auf Wodan zurückgehen. Die Herrscherliste einzelner Völker beginnt mit Attila, dem zur Zeit der mutmaßlichen Entstehung noch lebhaft in der germanischen Erinnerung verhafteten König der Hunnen. Neben Ermanarich steht Becca, König der heute nicht mehr bekannten Baninger. Die Offa und Ingeld erwähnenden Zeilen stammen von einem späteren Bearbeiter. Die zweite 'bula' (57-87) dürfte im Gegensatz zur ersten weniger historisch als literarisch inspiriert sein. Der Sänger zählt Königshöfe auf, die er besucht haben will. Einige mag er aus eigener Anschauung kennengelernt haben, wie z. B. den der Schweden, Gauten und Süddänen, andere kannte er wohl nur aus der Heldensage oder aus dem Orosius. Die dritte 'bula' (112-30) schließlich enthält die Namen gotischer und langobardischer Personen, die Widsib am Hofe Ermanarichs getroffen haben will. Er berichtet über Schätze, die er für seine Vorträge erhielt und über Scilling, mit dem er gemeinsam sang - vielleicht spricht er hier aber auch über seine Harfe.9 Die uns heute kaum noch ansprechenden Namenslisten waren damals Poesie. Sie evozierten lebendige Erinnerungen an Preis- und Heldenlieder. Die bloße Nennung bestimmter Namen ließ einen ganzen Akkord höfisch-heldischer Ideale anklingen. Wie sich dem humanistisch Gebildeten bei einem klassischen Wort weite Ausblicke in die antike Welt eröffnen, so dem Germanen bei diesen 'bulas', nur unmittelbarer, da es sich nicht um literarische Erinnerungen handelt, sondern um gültige Lebenswerte. Mit liebendem Verständnis und in dem Bestreben, diese Werte zu bewahren, suchte der spätere Bearbeiter, der ein Kleriker gewesen sein mag, die 'bulas' in einen episch-lyrischen Rahmen zu betten. Seine ordnende, gliedernde Leistung ist nicht gering. Jeder der Listen fügt er einen erzählenden Ausblick an: einen über König Offa nach der ersten, über Günther nach der zweiten, über Witich nach der dritten. Es folgen die autobiographischen Zwischenstücke, und als Vor- und Nachspiel das Sängerlob des Spielmannsrahmens. Widsip sieht sich als idealen germanischen Sänger, der die Erinnerung an die besten Krieger und Helden lebendig erhält.

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ASPR III, 149; vgl. Kommentar in: Widsith: A Study in Old English Heroic Legend, ed. R. W. Chambers (Cambr., 1912; repr. 1965), und Widsith, ed. K. Malone (1936; rev. Copenhagen, 1962). 9 Vgl. C. L. Wrenn, "Two Anglo-Saxon Harps", in: Studies in Old English Literature in Honor of Arthur G. Brodeur, ed. S. B. Greenfield (Eugene, Or., 1963; repr. N. Y., 1973), S. 118-28.

///. Die niedere Dichtung

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3. Rätsel Rätsel gehören nach Andre Jolles10 zu den „einfachen Formen" der Dichtung und treten schon auf Frühstufen kultureller Entwicklung in Erscheinung. Mehrere Rätsel tauchen in fast identischer Form in weit auseinanderliegenden Literaturen auf, teilweise ohne erkennbaren genetischen Zusammenhang. Die altenglischen Rätsel11 gehen zum guten Teil auf lateinische Sammlungen zurück, sind also im Gegensatz zu den Zaubersprüchen Kunstdichtung. Schon bei Aldhelm, Tatwine, Hwaetberht, Winfrid und den unter Bedas Namen überlieferten Sammlungen Flores und Joco-seria war die ursprünglich knappe Form epischer Ausmalung gewichen.12 Unbekannte angelsächsische Geistliche übernahmen die Gattung in die landessprachliche Dichtung. Die Formprinzipien der germanischen alliterierenden Langzeile sowie der aus geistlicher Epik übernommene Stil (Bogenstil, Variation, Komposita, spielerische Verschlüsselung durch Runen) führten zu breiterer Darstellung; wir haben Rätsel von über 70 Langzeilen. Mehrere Rätsel scheinen nicht um des Ratens willen geschrieben zu sein. Vielleicht liegt es daran, daß über grundlegende Deutungsfragen bis heute keine Einigkeit erzielt werden konnte. Der volkskundliche Wert des überlieferten Materials wird hingegen allgemein anerkannt. Die Rätsel geben Einblick in Leben, Umwelt, Bräuche und Naturauffassung der Angelsachsen. In sehr viel größerem Maße als bisher erkannt, sind einige Rätsel obszön. Insbesondere aufgrund des gattungsimmanenten Zwangs zum Umschreiben und Andeuten konnten Mehrdeutigkeiten in die Rätsel hineingearbeitet werden. Einige führen den Leser bzw. den Ratenden bewußt in die Irre, indem sie durch Thematik und Vokabular anzügliche Assoziationen vorbereiten, dann aber eine ganz harmlose Lösung folgen lassen (vgl. Rätsel 42).13 Die besten Stücke kann man kaum als Rätsel bezeichnen. „Schwan" und „Wolke" sind in der Germania einzig dastehende Gedichte voll seelischer Stimmung und Phantasie. Nicht alle haben dieselbe Poesie; dazu sind einige Themen ungeeignet. Dargestellt werden Elementarerscheinungen, Haustiere und wilde Tiere, Geräte des bäuerlichen Betriebes, Krieg, Jagd und Feste, 10

Andre Jolles, Einfache Formen (Tübingen, 21958). Ausgaben: M. Trautmann, Die Altenglischen Rätsel (Heidelberg, 1915) und ASPR III; The Riddles of the Exeter Book, ed. F. Tupper (1910; repr. Darmstadt, 1968); Old English Riddles, ed. A. J. Wyatt (1912; repr. N. Y., 1972); The Old English Riddles of the Exeter Book, ed. C. Williamson (Chapel Hill, N. C, 1977); Übersetzung: P. F. Baum, Anglo-Saxon Riddles of the Exeter Book (Durham, N. C., 1963); neuere Darstellung in: A. Hacikyan, A Linguistic and Literary Analysis of the Old English Riddles (Montreal, 1966). 12 The Riddles of Aldhelm, ed. J. H. Pitman (New Haven, 1925); The Enigmas of Symphosius, ed. R. T. Ohl (Philad., 1928). - E. von Erhardt-Siebold, Die lateinischen Rätsel der Angelsachsen (Heidelberg, 1925). 13 Vgl. B. v. Lindheim, "Problems and Limits of Textual Emendation", in: Festschrift für Walter Hübner, edd. D. Riesner u. H. Gneuss (Bln., 1964), S. 3ff. 11

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seltener kirchliche, gelehrte oder abstrakte Dinge. Der Ton ist nur selten erbaulich, häufiger fühlen wir uns an den Witz einer durch Bier und Wein aufgelockerten Männerrunde erinnert. Daneben aber gibt es Gedichte von höchster lyrischer Zartheit, so z. B. beim Sturmrätsel, das ein Unwetter auf offener See schildert. Stets sind es nach Form und Inhalt späte, dem 9. oder 10. Jahrhundert angehörige Kunsträtsel, die in die höhere Dichtung übergreifen und den alten Satzparallelbau durch Zeilenbrechung verwischen. Sie sind in einer schon gefestigten christlichen Sphäre entstanden und z. T. auf eine klerikale, vielleicht auch höfische Welt abgestimmt.

IV. P R E I S L I E D U N D E R Z A H L L I E D 1. Caedmons Hymnus1 und religiöse Lyrik Die älteste Darstellung der Entstehung der altenglischen lyrischen Dichtung aufgrund göttlicher Inspiration ist Bedas Bericht über Caedmon, den Viehhirten, der zum Dichter wurde. Caedmon lebte (im 7. Jahrhundert) in der Klostergemeinschaft Streoneshealh (Whitby), die von der Prinzessin Hild im Jahre 657 gegründet und bis zu ihrem Tode (680) nach iro-schottischer Regel geleitet wurde. Dieser Caedmon war Viehhirte und hatte sich bis ins hohe Alter nicht mit Dichtung beschäftigt. Wenn beim Umtrunk (im Refektorium oder im Wirtshaus) die Harfe herumging und jeder nach Vermögen ein Lied zum besten gab, stahl er sich fort und begab sich zu seinen Tieren. Eines Tages aber erschien ihm ein engelhaftes Wesen und forderte ihn auf: „Caedmon, sing mir etwas!" Nach anfänglichem Widerstreben sang der Hirte ein Lied, das er angeblich zuvor nie gehört hatte. Fortan dichtete er religiöse Lieder, die die Mönche nach seinem Diktat niederschrieben. Hier ist der Ausgangspunkt der religiösen Buchlyrik. Daß Caedmon Lieder dieser Art zuvor niemals gehört hatte, ist mehr als unwahrscheinlich. Er übernahm die Form des weltlichen Preisliedes, insbesondere den formelhaften Stil der mündlich überlieferten Dichtung. Für jede seiner Wendungen können Parallelen im altenglischen Textkorpus nachgewiesen werden. Ähnlich dichteten an den germanischen Höfen die Sänger, wie es eine Priskosstelle für den Hof Attilas und Jordanes für den Gotenhof des 6. Jahrhunderts bezeugt. Hier wurden Lieder vorgetragen, in denen die kriegerischen Taten und die Freigebigkeit eines Gönners im schildernden und preisenden Stil der Verschronik und des Hymnus verherrlicht wurden. 1

ASPR VI, 105; Three Northumbrian Poems, ed. A. H. Smith (1933, 21968) [Methuen's Old English Library]. Vgl. F. P. Magoun, Jr., "Bede's Story of Caedman: The Case History of an Anglo-Saxon Oral Singer", Speculum 30 (1955), 49-63.

IV. Preislied und Erzähllied

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Ähnliche Berichte finden sich auch im Beowulf. So veranlaßt der König nach dem Sieg des Helden über ein Ungeheuer, daß ein Loblied auf Beowulf improvisiert wird. Worte, Wortverbindungen und übergreifende Strukturen wurden dabei auf formelhafte Weise verwendet. Das im freien Zeilenstil geschriebene Caedmon-Bruchstück enthält strophenähnliche Gruppierungen von zusammengehörigen Zeilen. Z. 1-4 preisen den Schöpfer aller Dinge, 5-6 berichten über die Erschaffung des Himmels, 7-9 über die Erschaffung der Erde. Mit der Form übernahm Caedmon die Stilmittel der weltlichen Dichtung, vor allem die Variation und Wiederholung desselben Begriffs in veränderter Gestalt. Der Begriff „Gott" z. B. wird in den neun Zeilen des Gedichtes achtmal in formelhaften Wendungen paraphrasiert.2 Da das für geistliche Zwecke bisher nicht verwendete angelsächsische Sprachgut eine heidnische Bezugswelt in sich barg, waren Umprägungen und Übertragungen nötig. Ein Wort wie 'wuldurfadur', in dem ursprünglich die Vorstellung des Himmelsgottes steckte, wurde umgedeutet zu dem Begriffsinhalt 'pater gloriae', während 'middungeard' einfach übernommen werden konnte. Bildungen wie 'hefaenricaes ward' tragen zwar christliches Gewand, doch schimmern germanische Vorstellungen durch, die auch mittels christlicher Epitheta nicht ganz getilgt werden konnten. Dieses christlich-heidnische Nebeneinander wird erst allmählich überwunden. Wie fruchtbar Caedmons Anregung wirkte, beweist der zumindest in der Urfassung aus derselben Zeit stammende Lobgesang der drei Jünglinge im Feuerofen. Dieses Lied ist einmal überliefert als der alte Kern des Danielepos (362-408) und ein zweites Mal in erweiterter Form im Azarias (73-161), also beide Male episch eingerahmt. Ursprünglich aber war das zu liturgischen Zwecken aus dem Breviarium Romanum übertragene Lied nach Schückings Meinung selbständig. Es handelt sich um ein Preislied nach Art des CsedmonHymnus und ist wie dieser in Gruppen oder Sinneinheiten aufgeteilt, zeigt jedoch, von der Vorlage gestützt, eine stärkere Verchristlichung auch im Wortschatz.3 Ein weiteres Beispiel für das Nachleben der volkssprachigen hymnischen Tradition sind die unter dem Namen Christ I oder Advent Lyrics* bekannt gewordenen Gedichte. Diese zwölf, jeweils mit 'eala!' beginnenden Hymnen oder Preislieder haben Geburt und Menschwerdung Christi zum Gegenstand. Sie wurden früher als erster Teil einer größeren, Cynewulf zugeschriebenen epischen Dichtung aufgefaßt. Es handelt sich um Variationen über die sog. Adventsantiphone des Gottesdienstes, Lobpreisungen Christi, Marias und der Dreifaltigkeit, wobei auch das älteste Beispiel dramatischen Dialogs, eine auf2

P. Gradon, Form and Style in Early English Literature (1971), S. 154-56. ASPR I, 121-22, und III, 90-93. Vgl. Kommentar in: Daniel and Azarias, ed. R. T. Farrell (1974). 4 ASPR III, 1-15; The Advent Lyrics of the Exeter Book, ed. J. J. Campbell (Princeton, 1959).- R. B. Burlin, The Old English Advent: A Typological Commentary (New Haven, 1968). 3

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Erstes Buch: Die altenglische Zeit

klärende Wechselrede Josephs und Marias, eingefügt ist. Der stark zum Ausdruck kommende dogmatische Symbolismus weist auf späte Entstehungszeit, etwa 100 Jahre nach Casdmon. Weitere Beispiele für religiöse Hymnik finden sich verstreut über die altenglische Dichtung, zum Teil eingebettet in größere Zusammenhänge. Zu nennen ist etwa das lyrische Loblied auf das heilige Kreuz (s. S. 50). Insbesondere die benediktinische Reform des 9. Jahrhunderts führte zu einer Neubelebung der Hymnologie und damit zur Neuschaffung zahlreicher geistlicher Hymnen. Dieser Impetus setzte sich bis in die spätaltenglische Zeit fort. Beispiele sind u. a. die sog. Kentish Hymn, die metrische Übersetzung der Psalmen und die Bearbeitungen der Metren des Boethius, die kentische Version des 50. Psalms, sowie die in größere Gedichte eingebetteten Hymnen, z. B. Order of the World? 2. Die Elegien6 Die mit Abstand bedeutendste lyrische Gattung der altenglischen Dichtung ist die Elegie. Dieser Seitenzweig des höfischen Preisliedes ist nur in der altenglischen Literatur vertreten. Die formgeschichtlichen Voraussetzungen des Genre lassen sich nicht aufklären; es ist sogar unklar, ob wir überhaupt einen spezifischen Genre-Begriff „Elegie" ansetzen dürfen. Gemeinhin werden Gedichte wie „Wanderer", „Seefahrer", „Reimlied", „Klage der Frau", „Botschaft des Gemahls", „Ruine" unter diesem Oberbegriff subsumiert. Sieper nahm an, daß der Elegie ein heidnisches, zum Bestattungsritual gehöriges Trauerlied zugrunde liegt (wie etwa im Beowulf, V. 2247-66 belegt). Andere Kritiker glaubten, daß die meisten Elegien zusammengehören, etwa als Teile einer Heldensage oder eines Sagenzyklus. Das sind aber unbeweisbare Vermutungen, da uns von den Frühstufen nichts erhalten ist und die überlieferten Elegien Spätwerke sind. Sie gehören etwa in die Zeit zwischen Caedmon und Alfred, nach Schücking sogar in das 10. Jahrhundert. Auch der Inhalt der Elegien gibt Rätsel auf. Die persönlich geprägten Naturschilderungen und die dadurch ausgelösten grüblerischen, schwermütigen Stimmungen haben nicht ihresgleichen in der übrigen germanischen Dichtung, wohl deshalb, weil dort nicht wie in England eine Verschmelzung christlich-antiker und heidnisch-germanischer Kultur stattfand. Die an sich der germanischen Welt fremden, verfeinerten Seelenschwingungen und die zarte Leidensfähigkeit, die an keltisch-irisches Schrifttum erinnern, setzen kirchliche Erziehung voraus und konnten nur im englischen geistlichen Schrift5 6

Vgl. H. Gneuss, Hymnar und Hymnen im englischen Mittelalter (Tübingen, 1968). Altenglische Lyrik, Englisch und Deutsch, edd. R. Breuer u. R. Schöwerling (Stuttgart, 1972).- E. Sieper, Die altenglische Elegie (Straßburg, 1915). Zur neueren Forschung und Begriffsbestimmung vgl. Epochen der englischen Lyrik, ed. K. H. Göller (Düsseldorf, 1970), S. 14-29, und S. B. Greenfield in: Stanley, Continuations and Beginnings, S. 142-75.

IV. Preislied und Erzähllied

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turn Ausdruck finden, das auch antike Vorbilder wie Ovids Heroiden und Vergils Eklogen im landessprachigen Dichten zu verwerten wußte. Bei fast allen „Elegie" genannten Gedichten ist diskutiert worden, ob sie zur Gattung gehören. Dears Klage1 z. B. steht ganz vereinzelt im Korpus der altenglischen Dichtung. Es handelt sich um ein elegisches Selbstgespräch des Deor genannten Skop der Heodeninge, der durch einen anderen Sänger namens Heorrenda aus seiner Stellung verdrängt wurde. Er vergegenwärtigt sich das Unglück berühmter Gestalten aus der Heldensage und findet Trost in dem Gedanken, daß deren Leid vorüberging. Jede Strophe endet mit dem Kehrreim: Jenes (Leid) ging vorbei, so mag auch dieses (mein Leid) vorübergehen. Der Wanderer* ist eines der bedeutendsten Gedichte der altenglischen Zeit. Aufgrund der schillernden Verbindung von Heidnischem und Christlichem und der für die altenglische Dichtung charakteristischen Tendenz, bei Gefühlsdarstellung von der ersten Person in distanzierende Vergleiche und typisierende Schilderungen überzugehen, hat das Gedicht sehr unterschiedliche Deutungen erfahren. Während man im vorigen Jahrhundert die Einheitlichkeit des Werks bestritt und es z. T. sogar von christlichen „Interpolationen" zu purgieren suchte, hat man in den letzten Jahrzehnten seine künstlerische Geschlossenheit allgemein anerkannt. Einzelne Kritiker nehmen zwar immer noch verschiedene Sprecher an; die Mehrheit aber sieht heute in dem Gedicht (oder wenigstens in dem Hauptteil, V. 6-111) einen durchgängigen Monolog.9 Nach den Versen l -5, die das Thema anschlagen, bewegt sich die Rede des Wanderers von seinem persönlichen Geschick, nämlich der Vereinsamung und Heimatlosigkeit durch den Verlust des Gefolgsherrn und der Freunde (V. 6-57), zu einer allgemeinen Erörterung über Mensch und Welt, in deren Zentrum die Vergänglichkeit steht (V. 58-111). Die Dichtung endet in der weisen Abgeklärtheit christlichen Gottvertrauens. Der Wanderer bezieht seine starke Faszination nicht zuletzt aus der herben Bildlichkeit seiner traditionellen Themen und Motive, von denen vor allem das Exil- und Ruinenthema sowie das 'ubi-sunt'-Motiv zu nennen sind. So gipfelt beispielsweise im ersten Teil die verhalten trauernde Rückschau auf eine idealische Vergangenheit in dem scharfen Kontrast zwischen dem Traumbild aus der Zeit, da der Unglückliche seinen Herrn umarmen und ihm Hände und Haupt auf die Knie legen durfte, und dem trostlosen Anblick, der sich ihm beim Erwachen bietet: fahlgrün rollen die Wogen, badende Seevögel breiten ihr Gefieder aus, Schnee und Hagel fallen vermengt hernieder (V. 37-48). 7

ASPR III, 178; ed. K. Malone (41966) [Methuen's Old English Library] (rev. edn. Exeter, 1977). 8 ASPR III, 134; The Wanderer, edd. T. P. Dunning and A. J. Bliss (1969). 9 Vgl. W. Erzgräber, "Der Wanderer: Eine Interpretation von Aufbau und Gehalt", in: Festschrift zum 75. Geburtstag von Theodor Spira (Heidelberg, 1961), S. 57-85.

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Bei dem thematisch verwandten Seefahrer™ nahm die literarische Bewertung einen ähnlichen Verlauf. Man sah das Gedicht früher ebenfalls als uneinheitlich an und vermutete in seinem ersten Teil den Dialog eines alten und eines jungen Seemanns. Der alte spreche (l-33a) von seinen Erfahrungen auf stürmischer See, der junge äußere (33b-64a) trotzdem die Sehnsucht nach dem weiten Meer. Nach dieser Gegenüberstellung eines winterlichen und sommerlichen Stimmungsbildes sei das Thema abgeschlossen, und ein Homilet habe einen monologischen Teil über die Vergänglichkeit und die entsprechende Lebensgestaltung angestückt. Die neuere Forschung verficht die Einheit des Gedichts, lehnt überwiegend die Dialogtheorie ab und bemüht sich besonders um den allegorischen bzw. symbolischen Gehalt. Das Bild der Seefahrt wurde seit der Patristik oft allegorisch gebraucht und gedeutet, und zahlreiche Formulierungen, die bei der erneuten Hinwendung zur See (V. 33b f.) Verwendung finden, haben religiöse Konnotationen. Man vertritt deshalb heute überwiegend die Ansicht, den Sprecher dränge es aus asketischen Motiven wieder weg vom bequemen Landleben, hinaus auf eine entbehrungsreiche 'peregrinatio pro amore Dei'. Andere Kritiker verstehen das Bild der Seefahrt als allegorische Darstellung des Menschenlebens mit seinen Beschwernissen, als Reise über das Meer der Welt hin zum himmlischen Jerusalem. Eine einheitliche allegorische Entsprechung wird aber nicht durchgehalten; die Wirkung des Gedichts beruht vielmehr auf dem Assoziationsreichtum der Bilder. Die lyrischen Schönheiten des Gedichts, insbesondere die stimmungsvolle Beschreibung des winterlichen Meeres sowie die Verherrlichung der Standhaftigkeit, gehören zu den Höhepunkten der altenglischen Dichtung. Klage der Frau und Botschaft des Gemahls^ sind Liebesgedichte, nehmen damit in germanischer Dichtung eine Sonderstellung ein. Zur Erklärung der „Klage der Frau" hat man eine Sagensituation aus der Crescentiasage herangezogen. Die Sprecherin ist eine Frau. Sie beklagt ihr elendes Leben in der Einsamkeit des Waldes nach dem Weggang des Geliebten oder des Herrn. Da sie wegen der Liebschaft von der eigenen Sippe verstoßen wurde, will sie ihn auffinden. Ihr Suchen aber ist vergeblich, denn er weilt jenseits des Meeres. Gleich wie die Situation zu deuten ist, die wehmütige Innigkeit, mit der diese verhärmte Frau spricht, die Schilderung der Einsamkeit der Natur und der ergreifend in der Klage abbrechende Schluß lassen sonst kaum gehörte Akkorde germanischen Empfindungslebens aufklingen. Die „Botschaft des Gemahls" hingegen ist im Ton versöhnlicher, fast optimistisch. Sie berichtet von einem verbannten Fürsten, der seine Frau auffordert, ihm in die neue Heimat zu folgen. Es spricht hier der Brief oder der Runenstab, der sich in Rätselart selbst einführt. Nach Schücking ist diese Elegie gegenüber dem dramatischen Ausdruck seelischer Krisen in den Frauenklagen der versöhnliche Ausklang eines fünften Aktes, vermittelt eine Stimmung überwundener Leiden und froher Zuversicht. 10 11

ASPR III, 143; The Seafarer, ed. I. L. Gordon (1960). ASPR III, 210 und 225; Three Old English Elegies, ed. R. F. Leslie (Manchester, 1961,21966) [enthält Wife's Lament, Husband's Message und Ruin].

IV. Preislied und Erzähllied

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Auch Wulf und Eadwacer12 ist ein Frauenmonolog. Die Interpretation bereitet allerdings Schwierigkeiten. Wegen seiner Dunkelheit haben zahlreiche Kritiker das Gedicht für ein Rätsel gehalten. Andere vermuten, daß der heute nicht mehr bekannte sagengeschichtliche Hintergrund Ursache der Verständnisschwierigkeiten ist. Jedenfalls spricht eine Frau über die Gefühle ihres Herzens. Sie wohnt mit ihrem Gemahl Eadwacer auf einer Insel. Weit von ihr entfernt haust auf einer anderen Insel, die von Sümpfen umgeben ist, ihr Geliebter Wulf. Der antithetischen Gegenüberstellung entspricht die starke emotionale Spannung des Gedichts. Überall ist von Gegensätzen die Rede, so z. B. von Freud und Leid der Vergangenheit. Die Sprecherin liebt nicht den ihr angetrauten Eadwacer, sondern einen Mann mit dem sprechenden Namen Wulf, der in den Wäldern wohnt und weit über das Land schweift. Dem entspricht die lyrische Situation der Sprecherin: bei regnerischem Wetter sitzt sie weinend da und wartet auf Wulf. Höhepunkt des Gedichtes ist des Mädchens Aufschrei aus gequältem Herzen: „Wulf, mein Wulf, die Sehnsucht nach dir macht mich krank." Die drei späten, im 10. Jahrhundert anzusetzenden Elegien haben eine weltentsagende Haltung. Bei der Klage oder dem Gebet eines Vertriebenen™ kann man von klösterlicher Atmosphäre sprechen. Anfang und Schluß sind ein demütiges Beten zu Gott, wobei sich die kirchlichen Stilmittel der Psalmen vordrängen. Nur das Mittelstück (von Zeile 77 bis gegen Schluß) mit der Schilderung des Herzenskranken gemahnt noch an Naturbilder und Seelenstimmungen des Wanderers oder des Seefahrers. Auch im Reimlied^ stehen starke Kontraste einander gegenüber. Wesentlicher Inhalt des Gedichtes ist die Vergleichung des Einst mit dem Jetzt. Ein älterer Mann erinnert sich in Armut und Not des Reichtums der Vergangenheit. Die beiden Zeitblöcke werden aber nicht, wie in Wanderer und Seefahrer, ineinander geschachtelt, sondern schroff gegenübergestellt. Das elegische Element besteht aus verhalten trauernder Rückschau. Im Reimlied folgt allerdings auf die traurige Gegenwart die Darstellung der Glückseligkeit des Himmels. Entweder ist das Gedicht daher eine Verfallsform der eigentlichen Elegie oder eine frühe hybride Stufe. Die Darstellung des Jenseits wirkt wie ein Anhängsel, war aber wohl von vornherein geplant, da das Gedicht völlig symmetrisch aufgebaut ist. Auch das Gedicht über die Ruine15 hat eine durchaus eigene Note. Hier tritt die subjektive Empfindung zurück gegenüber der Beschreibung der verfallenden römischen Thermen in Bath. Der allgemeine Überblick wird un12

ASPRIII, 179. ASPR III, 215 (auch 'Resignation' genannt). 14 ibid., III, 166. Vgl. R. P. Lehmann, "The Old English Rhyming Poem: Interpretation, Text, and Translation", JEGP 66 (1970), 437-449; O. D. Macrae-Gibson, "The Literary Structure of the Riming Poem", NM 74 (1973), 62-84. 15 ASPR III, 227; ed. R. F. Leslie, s. S. 34, Anm. 11.- Vgl. G. W. Dunleavy, "A 'De Excidio' in the Old English Ruin?", PQ 38 (1959), 112-18; D. G. Calder, "Setting and Mode in The Seafarer and The Wanderer", NM 72 (1971), 264-75. 13

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Erstes Buch: Die alienglische Zeit

terbrochen durch die Darstellung von Einzelheiten, die ebenfalls wie die Ruine als Ganzes von der Vergänglichkeit aller menschlichen Werke künden. Solche anschaulichen Einzelschilderungen stellen etwas Neues dar in der angelsächsischen Dichtung. Der Dichter läßt sich von den Ruinen zur Rekonstruktion der großen Vergangenheit des Ortes Bath inspirieren. Das von ihm entworfene Bild ist gänzlich germanisch; der in der Ruine geschilderte Typus des Kriegers gehört in die heroische Epoche. Das Gedicht verwirklicht besonders rein und nachvollziehbar das elegische Element, das in den anderen Gedichten des Genre nur als Beimischung erkennbar ist.

3. Germanisches Heldenlied und Erzähllied Von der einst reich vertretenen Gattung des Sagen- oder Erzählliedes, das Götter- oder Heldensagen16 zum Inhalt hatte, ist im Altenglischen nur ein Bruchstück erhalten, das Finnsburgh-Lied}1 Durch Zuhilfenahme der Finnsburgh-Episode im Beowulf (1063-1160)18 kann es notdürftig, allerdings nicht widerspruchslos, ergänzt werden. Die folgende Zusammenfassung des wesentlichen Inhalts fußt auf der Rekonstruktion von H. Schneider, bleibt aber eine umstrittene Vereinfachung, da das erhaltene Fragment nur schwer mit der entsprechenden Beowulf-Stelle zu vereinbaren ist und einige Inkonsistenzen stehen bleiben. Hnaef mit seinem Gefolge, darunter Hengist, besucht den Friesenkönig und wird in der Finnsburg untergebracht. Ein verdächtiger Vorfall hat die Gäste unruhig gemacht, und Hnaef befiehlt, die Tore zu besetzen. Schon nahen die friesischen Angreifer. Finns Sohn, den seine Krieger vergebens vom Kampf fernzuhalten suchen, fällt als erster. In dem fünftägigen Kampf wird die heldenhaft verteidigte Halle jedoch nicht erstürmt. Finn wird vom Geschehenen unterrichtet, er muß nun dem Gesetz der Blutrache folgen und in den Kampf eingreifen. Der Hallenverteidiger Hnaef fällt, und nach beiderseitigen schweren Verlusten schließen die geschwächten Parteien einen Vertrag, wonach die Dänen bis zum Frühjahr unangefochten in friesischen Landen verweilen dürfen. Hengist wird als Nachfolger des im Kampf gefallenen Hnaef zum Anführer der Dänen gemacht. Um den Rest der Seinen zu retten, muß er sich mit Finn versöhnen, obwohl dieser seinen Herrn Hnaef erschlug. Der Friedensschluß setzt ihn in einen Zwiespalt zwischen Mannentreue und Eidtreue. Er ist eine tragische Figur wie Hildburg, die bei der Totenfeier ihren dänischen Bruder Hnaef wie ihren friesischen Sohn Garulf betrauert. Als Hengist kurz vor der Abreise in unterdrückten Rachegedanken 16

H. Schneider, Germanische Heldensage (Bln., 1934); M. Bowra, Heroic Poetry (1952); W. Haug, "Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf", ZfdA 104 (1975), 273-92. 17 ASPR VI, 3; Finnsburgh: Fragment and Episode, ed. D. K. Fry (1974) [Methuen's Old English Library, Ausgabe und Kommentar]. 18 R. A. Williams, The Finn Episode in Beowulf (Cambr., 1924).

IV. Preislied und Erzähllied

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dasitzt, legt ihm einer seiner Genossen das Schwert des getöteten Hnaef in den Schoß. Da eilt er in den Königsbau und erschlägt Finn. Im aufflammenden Kampf unterliegen die Friesen, und auf beutebeladenen Schiffen führen die Dänen Hildburg nach Hause. Die Helden- und Völkernamen sind nicht ohne Gewaltsamkeiten zu deuten; offenbar hat der angelsächsische Skop mit den Eigennamen recht willkürlich geschaltet. Die Schilderung des Konflikts und seiner Zuspitzung ist jedoch meisterhaft. Die knappe Darstellung, die insgesamt kaum länger als 200 Zeilen gewesen sein mag und dem Vortrag entsprechend in freiem Zeilenstii gehalten ist, stellt das Heldische als das menschlich Vorbildliche heraus. Die Menschen sind daher im Vergleich zum Epos zum Typus vereinfacht. Der epische Bericht bleibt durch den von Höhepunkt zu Höhepunkt eilenden „sprunghaften Stil" im Halbdunkel. Kurze entscheidende Worte treten an die Stelle der im Epos vorherrschenden Reden. Die einheitliche Stimmung dieses straff umrissenen Heldenliedes sicherte ihm die dauerhafte Wirkung. Was wir als Sagen überliefert haben, ist im Heldenlied entstanden. Auch die altenglischen Geistlichen liebten diese weltlichen Lieder. Es ist möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, daß der Beowulf-Dichter den Inhalt vieler solcher Lieder gekannt hat, die uns verloren sind. Noch die Annalen schreibenden Mönche des 10. Jhs. begeisterten sich für Lieder dieser Art so sehr, daß sie Nachbildungen in ihre Chroniken einfügten. Nur sind das nicht mehr zeitlose Sagenlieder, sondern in unsanglichem Bogenstil geschriebene heroische Gedichte. Das Lied von Byrhtnoth™ bewahrt am meisten von dem trotzigen, alten Ton des germanischen Heldenliedes. Es handelt sich um die Geschichte der verlorenen Schlacht bei Maldon, in der Byrhtnoth, der Führer der Ostsachsen, den Tod fand (991). Das Gedicht ist ein letzter, schon sentimentalischer Nachklang des Gefolgschaftswesens. Der Fürst kämpft für seine Mannen, diese raffen sich nach kurzer, durch seinen Tod verursachter Verwirrung auf, um dem gefallenen Herrn die Treue zu halten. Es herrscht noch wie in der alten heldischen Dichtung der Geist unbezähmbaren Widerstandes. Das Schicksal herausfordernd, räumt Byrhtnoth großmütig den Feinden einen Vorteil ein. Grimmiger Humor paart sich mit hochgespannter Tragik. Auch in der Sprunghaftigkeit zeigen sich Reminiszenzen an den alten rhapsodischen Stil. Neu, aber die dichterische Wirkung nicht vermindernd, ist die Einfügung grauer Landschaftsbilder sowie ritterlicher Züge. Die Stabreimtechnik verbindet sich andeutungsweise bereits mit dem Endreim. Ähnlich kriegerisch ist das Gedicht über Aethelstans Sieg bei Brunanburh (937).20 Es handelt sich dabei um das künstlerisch bedeutendste von fünf Chronikgedichten, die zum Kampf gegen die Dänen begeistern wollen. Wir 19

ASPR VI, 7 (meist 'Battle of Maldon' genannt); Kommentar in: The Battle of Maldon, ed. E. V. Gordon (1937, 21976) [mit bibliographischem Supplement von D. G. Scragg]. Übersetzung H. Koziol (Wien, I960).- H. Gneuss, Die 'Battle of Maldon' als historisches und literarisches Zeugnis (München, 1976) [Bayerische Akademie der Wissenschaften: Sitzungsberichte]. 20 ASPR VI, 16; Kommentar in: The Battle of Brunanburh, ed. A. Campbell (1938).

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sind hier dem Heldenlied aber schon ferner; durch die glänzende altertümliche Rhetorik scheint der prosaische Annalenbericht durch, dramatische Rede von der Art des Finnsburgh-Liedes wäre undenkbar. Dennoch geht von diesem Epigonenwerk eine starke Wirkung aus, Zeugnis für die gehaltliche und formale Größe germanischer Sagendichtung.

V. EPOS 1. Religiöse Epik der Caedmonschule Drei der uns überlieferten biblischen Epen - Genesis? Exodus1 und Daniel3 sind im Junius-Manuskript erhalten und werden traditionsgemäß Caedmon zugeschrieben. Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, daß dieser selbst der Autor war. Die genannten Werke entstammten wohl eher der von ihm begründeten Schule. Es handelt sich um Geistlichenepik mit durchaus ungermanischen Ahnen, vor allem Vergil und Juvencus. Beda berichtet, daß Caedmon der Schöpfer dieser Epik sei; er habe in englischen Versen die Erschaffung der Welt, die ganze Genesis, den Auszug aus Ägypten, die Fleischwerdung, Passion, Auferstehung und Himmelfahrt Christi sowie die Ausgießung des Heiligen Geistes und die Lehre der Apostel dargestellt (Hist. Eccles. IV, 24). Das Zusammenfließen der Kulturen zeitigt ein einzigartiges Ergebnis: die unter christlichem Ausblick vollzogene Verschmelzung der gegensätzlichen germanischen und antiken Welt. Gott und Christus tragen Züge eines germanischen Helden; Kampfszenen und Dialoge beherrschen die Darstellung. Auffallend ist die neue Kraft des Ausdrucks. Die Geistlichenepik zeigt eine ihr gemäße Weiterentwicklung der als Muster dienenden germanischen Sprach- und Versform. Auftakt und Schwellvers runden und lockern die straffe Liedform, und der in immer neu ansetzender Variation über den Versabschnitt hinausgreifende Bogenstil legt die Grundlage für einen neuen epischen Deklamationsvers. Erstmals, wenn auch noch zurückhaltend, ist das der Fall in der älteren oder Cadmon-Genesis, die den biblischen Bericht (Vulgata I-XXII, 13) in ehrerbietiger Treue, wenn auch mit einigen theologischen Zutaten dichterisch 1

ASPR I, 1-87; Genesis A (ältere), ed. F. Holthausen (Heidelberg, 1914); Genesis B (jüngere), ed. F. Klaeber (Heidelberg, 1913); The Later Genesis, ed. B. J. Timmer (Oxf., 1948, 21954).- Engl. Übers, mit den Bildern des MS.: C.W. Kennedy, The Caedmon Poems (1916; repr. Gloucester, Mass., 1965) [enthaltend Genesis, Exodus, Daniel, Christ und Satan]. 2 ASPR I, 89-107; Exodus and Daniel, ed. F. A. Blackburn (1907; repr. 1972); ed. E. B. Irving (New Haven, 1953; repr. 1970); ed. P. J. Lucas (1977). 3 ASPR I, 109-132; ed. Blackburn, s. Anm. 2; Die altenglischen Texte Daniel und Azarias, ed. W. Schmidt, Bonner Beiträge 23 (1907), 1-84; ed. R. T. Farrell (1974) [Methuen's Old English Library].

V. Epos

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umschreibt. Es fehlt jedoch meist die seelische Vertiefung wie auch eine germanischem Geiste gemäße Umprägung, so z. B. bei der Darstellung von Isaaks Opferung. Aber bei den Natur- und Schlachtbildern, der Sintflut, dem Engelsturz und der Schilderung von Abrahams Kämpfen entzündet sich die Phantasie des Dichters, und seine große, eindringliche Schilderung erinnert an Heldenlied und Elegie. Der schönste Teil der Genesisdichtung (235-851), die Erzählung von Adams und Evas Glück und der Monolog Satans, ist allerdings (nach Sievers genialer, durch einen Manuskriptfund nachträglich bestätigter Vermutung) ein späteres Einschiebsel, eine ziemlich wortgetreue Übersetzung eines altsächsischen Originals der Heliandschule (etwa 10. Jahrhundert) und gehört also nur sprachlich zur englischen Literatur. Als nächste Entwicklungsstufe ist der Daniel zu nennen. Zu dem beim Preislied besprochenen Lobgesang tritt nach Schücking ein epischer Vorbericht hinzu (zusammen Daniel B genannt, 280-409), und dies so entstandene kleine Epos ist seinerseits, ähnlich wie es bei der Genesis der Fall war, in die größere Danieldichtung (Daniel A, 1-279, 410-765) eingefügt worden. Die der Septuaginta eng folgende Erzählung betont Nabuchodonosors Überhebung und Balthasars Tempelberaubung, um die weltliche Macht zur Achtung vor Kirche und Geistlichkeit zu ermahnen. Anderseits berichtet die breite Einleitung, der Heldensang-Tradition gemäß, vom glücklichen Leben der Mosesgeschlechter, von Kriegstaten und von der Zerstörung der hebräischen Schatzburgen. Dadurch und durch die mehr prophetische als heldische Mittelfigur und die kunstvolle Verwendung angelsächsischer Rhetorik erreicht diese Dichtung eine geschlossenere Wirkung als die ins Buchmäßige verbreiterte Genesis. Eine spätere Version desselben Stoffes befindet sich im Exeterbuch unter dem Namen Azarias. Das abschließende Stück und die Krone dieser biblischen Epik bildet der wohl ins 9. Jahrhundert gehörige Exodus, der gegenüber dem sachlichen Vortrag der Genesis eine vieltönige Symphonie darstellt, auffällig schon äußerlich durch die Ausweitung der 35 Bibelverse über den Auszug der Israeliten aus Ägypten auf 600 Langzeilen. Allerdings ist neben der Bibel noch ein lateinisches Gedicht von Avitus 'De transitu maris rubri' als Quelle zu nennen, wie überhaupt der gelehrte Dichter ausgedehnte Kenntnis von Bibelkommentaren und mittellateinischer Literatur, insbesondere Sedulius, verrät. Schücking betont, daß hier weniger eine Paraphrase vorliegt, als eine freie anverwandelnde Umprägung der Quellen: Moses, der Held und ideale Gefolgsherr, steht handelnd im Mittelpunkt des epischen Geschehens. Mit dramatischen Reden wird er eingeführt, und mit einem Ausblick auf Biergelage und Teilung der Beute bricht das Fragment ab. Kampfatmosphäre und germanische Gesinnung erinnern mehr an das Heldenlied als an die Bibel, aber der Stil ist weit entfernt von der Knappheit des Lieds. Bewußt anspruchsvolle Wortkunst mit kühnen Neuprägungen sucht jedem Gedanken neue Ausdruckskraft zu verleihen, leidenschaftliche Phantasie treibt den dithyrambischen Stil zu lebhafter Bewegung, eine auf die Spitze getriebene Metaphorik sucht das Rätselhafte, Dunkle, Pathetische wir-

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kungsvoll zu umschreiben. Schücking weist darauf hin, daß niemand ohne Hilfe der Bibel feststellen könne, was eigentlich den Kindern Israels in der Wüste vorangezogen ist, denn der Dichter umschreibt es als Lufthelm, Gebälk, heiliges Netz, des Tagschildes Schatten, Segel, Feldhaus, Himmelszeichen, Nachtwart, Fahne, Stamm, Wegweiser. In dieser Richtung war eine weitere periphrastische Steigerung unmöglich. Die Entwicklung geht vielmehr in Bahnen, die das religiöse Preislied schon zeigte: neben den Helden treten die geprüften Heiligen immer mehr in den Vordergrund, neben den Kampfestaten die himmlischen Wunder, neben den sinnfälligen Vorgängen die seelischen Begleiterscheinungen. Desgleichen weicht im Aufbau die freiere Form traditionellen Bauprinzipien, die aus lateinischen Quellenwerken übernommen werden. In der Metrik tritt neben die verblassende Stabreimkunst ein neues, in der Richtung zum Reimvers drängendes, metrisches Gefühl, das einen von der kirchlichen Dichtung beeinflußten regelmäßigen Wechsel von Hebung und Senkung bevorzugt (z. B. Phoenix). Entsprechend übernimmt die Rhetorik anstelle der erregenden Ausrufe und Fragen die lateinischen Stilmittel der Anapher, der Parallele und die Wiederholung altgeprägter Zusammensetzungen. Dies wird besonders deutlich bei dem vierten im MS. Junius erhaltenen Gedicht Christ und Satan* Es ist zwar fraglich, ob dieses Gedicht noch zur Caedmonschule gerechnet werden kann; es behandelt aber teilweise ein ähnliches Thema wie Genesis, nämlich das Schicksal des gefallenen Engels Luzifer, Christi Höllenfahrt, Auferstehung und Himmelfahrt sowie die Versuchung in der Wüste. Die auf das Nikodemus-Evangelium zurückgehende Höllenfahrt war germanischen Dichtern insofern kongenial, als sie hier von der Gefolgschaftsidee reichlich Gebrauch machen konnten. In Christ und Satan allerdings tritt der epische Charakter bereits zurück. Rhetorik und Predigtton überlagern das Lyrische und schaffen Distanz. Lediglich das Versuchungsbruchstück zeigt noch Wärme und Farbigkeit. Aufgrund der lebendigen Figurengestaltung des Teufels hat man vermutet, daß Milton, der mit Junius bekannt war, das altenglische Gedicht für sein Paradise Lost benutzte. Heute gilt dies jedoch als unwahrscheinlich. Die Entwicklung vom Stabreim zum Reimvers wird besonders deutlich in der Kunst der epischen Legendenerzählung Cynewulfs, zu der das späte, aber ursprüngliche Züge bewahrende Judith-Epos den Übergang bildet.

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ASPR I, 133-158; ed. M. D. Clubb (New Haven, 1925) [maßgebliche Ausg.].

V. Epos

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2. Die weltliche Epik Die an religiösen Stoffen bereits erprobte epische Kunst fand im 8. Jahrhundert Anwendung auf weltlich-heroische Lieder und Gegenstände. Etwa 730 entstand das Beowulfepos,5 von den Waltherbruchstücken abgesehen das einzige westgermanische Epos. Der Verfasser, in dem man wohl einen Geistlichen vermuten darf, lebte wahrscheinlich am Hofe des merzischen Königs. Aus dem Text des Epos können wir entnehmen, daß der Autor eine umfassende humanistische Bildung mit glühender Liebe für germanische Heldenlieder verband. Er kannte den Skjöldungenstammbaum ebenso wie die geschichtlichen Fakten des Hygelaceinfalls - die Frankenschlacht an der Rheinmündung, über die Gregor von Tours (f 594) berichtet. Man nimmt heute an, daß im Beowulf dichterisch sublimierte Geschichte enthalten ist. Die Entdeckung einer angelsächsischen Schiffsbestattung in Sutton Hoo (Suffolk) ließ Beowulf-Stellen, die bis dahin als poetische Erfindung oder als maßlose Übertreibung angesehen worden waren, in neuem Licht sehen, nämlich als Teil einer historischen Wirklichkeit, deren Kenntnis jahrhundertelang verloren war. Besonders beweiskräftig war in dieser Hinsicht die Parallele von Sutton Hoo zur Schilderung des Schiffsbegräbnisses Scylds im Beowulf, die bis dahin als frei erfunden gegolten hatte. Noch bedeutsamer für die Interpretation des Epos aber sind die Grabbeigaben, die sich heute im Britischen Museum befinden. Die Diskussion über Zweck und Funktion der Gegenstände ist noch nicht abgeschlossen, aber es scheint festzustehen, daß mehrere der gefundenen Kultgegenstände germanisch-heidnischer Herkunft sind. Der sogenannte Wetzstein z. B., ein in vier Gesichter auslaufender szepterförmiger Kultstein, wurde mit Odin, später auch mit Thor in Verbindung gebracht. Zwei Silberlöffel aber tragen die Gravierung Saulos und Paulos, stammen also aus christlichem Bereich. Heidnisches und Christliches findet sich somit selbst bei den Grabbeigaben in enger Nachbarschaft, Beweis für die spezifisch angelsächsische Art der Aufnahme des Christentums. Der heidnische Kult wurde nicht abrupt durch christliches Zeremoniell verdrängt, sondern lief eine Zeit lang parallel, wurde nur allmählich umgeformt und christlich überlagert. 5

ASPR IV, Iff.; kritische Ausgaben mit Kommentar: F. Klaeber, Beowulf and the Fight at Finnsburg (Boston, 31950) [mit 1. und 2. Supplement]; C. L. Wrenn, Beowulf with the Finnsburg Fragment (31973); E. Schaubert, Beowulf (Paderborn, I81963); G. Nickel, Beowulf und die kleineren Denkmäler der Altenglischen Heldensage, Waldere und Finnsburg, 2 Bde. (Heidelberg, 1976) [Text, dt. Übers., Kommentar].- W. F. Bolton, Alcuin and Beowulf: An Eighth-Century View (1979); A. G. Brodeur, The Art of Beowulf (Berkeley, 31969); R. W. Chambers and C. L. Warren, Beowulf: An Introduction to the Study of the Poem with a Discussion of the Stories of Offa and Finn (Cambr, 31959; repr. 1967); D. K. Fry, Beowulf and The Fight at Finnsburh: A Bibliography (Charlottesville, Va., 1969); ders., The Beowulf Poet: A Collection of Critical Essays (Englewood Cliffs, N. J., 1968); E. B. Irving, Introduction to Beowulf (Englewood Cliffs, N.J., 1969); W. W. Lawrence, Beowulf and Epic Tradition (Cambr., 1928); L. E. Nicholson, An Anthology of Beowulf Criticism (Notre Dame, Ind., 1963); F. Schubel, Probleme der Beowulf-Forschung (Darmstadt, 1979); D. Whitelock, The Audience of Beowulf (Oxf., 1951; repr. 1964).

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Daraus ergibt sich ein Nebeneinander von Weltanschauungen, das auch dem Epos einen unverwechselbaren Charakter verleiht. Ähnlich wie in der bildenden Kunst werden christliche und heidnische Elemente nebeneinandergestellt und nur oberflächlich aufeinander bezogen bzw. einander angepaßt. Daß der Autor allerdings die Disparität der Elemente als solche empfand, ist mehr als unwahrscheinlich. Zudem begegnen sich die verschiedenen Weltbilder gelegentlich auf halbem Wege, so bei dem Ideal der Treue, die zunächst dem weltlichen Lehnsherren, dann aber auch dein himmlischen 'dryhten' gilt. Insgesamt gesehen ist die Beowulfwelt aber weniger historisch korrektes Zeitbild als höfisches Wunschbild von Herrscher, Mannen und Königshalle. Gleichgültig, ob die Gauten Bewohner des heutigen Gotland waren oder ob sie nur eine Tagereise von den Dänen entfernt lebten: der Dänenhof soll als Vorbild feinster Kultur und weltmännischen Zeremoniells, als Heimat adliger Gesittung vorgestellt werden. Dies wiederum paßt nicht recht zum wilden Schauplatz und zum Draufgänger-Heldentum der Trollgeschichten. Aber auch diese Gegensätzlichkeit dürfte damals nicht als solche empfunden worden sein. Der Dichter macht den in der Hygelac-Schlacht erwähnten Helden Beowulf zum Zentrum des epischen Geschehens, für das nordische Sagen und Erzählungen eine Art Gerüst abgeben. Auf diese Weise kommt eine heroische Lebensgeschichte zustande, die der Dichter imaginativ mit seiner Vorstellung von Königtum zu einem fürstenspiegelähnlichen Werk verbindet. Die in zwei Teile, den Grendel- und Drachenkampf, zerfallende Geschichte beginnt mit etwa 60 einleitenden Zeilen, die den Herrscherstammbaum der Dänen oder Schildunge berichten. Hrobgar, einer der Nachfahren des mythischen Scyld, hat die Halle Heorot für seine Gefolgschaft gebaut. Aber ein Ungeheuer (der „Troll" der nordischen Sagen) raubt nächtlich viele der Mannen; so ist die prächtige Halle allmählich ein friedloser Ort geworden, und niemand weiß Rat (1-188). Als aber Beowulf, der Neffe des Gautenkönigs Hygelac, von Grendels Untaten hört, fährt er mit 14 Männern zum Lande der Dänen, um Hrobgar zu helfen. Vom Herold werden sie nach höfischer Sitte empfangen und vom König zum Hallenfest eingeladen. Dort erzählt Beowulf, von des Dänen Unferp Trutzrede herausgefordert, seine früheren Heldentaten, und der ihn begrüßenden Königin Wealhpeow gelobt er, zu siegen oder zu sterben (189-661). Mit Einbruch der Nacht ziehen sich die Dänen zurück, Beowulf bleibt mit den Seinen allein in der Halle. Da kommt Grendel, tötet einen der Krieger, aber Beowulf packt ihn, und in schwerem Ringen reißt er ihm einen Arm aus. Todwund entflieht der Troll (662-836). Am nächsten Morgen reiten viele der Recken der Blutspur nach zu dem Moorsee, in dem Grendel wohnt. Auf dem Rückweg trägt ein Skop Heldenlieder vor von Sigemund und Heremod. Als Hropgar den als Siegeszeichen aufgehängten Arm Grendels sieht, hält er eine Lobrede auf Beowulf, der dem König geziemend antwortet. Der Sieg wird mit einem großen Fest gefeiert. Reiche Gaben werden dem Sieger zuteil, ein Skop trägt das Erzähllied Finnsburg vor, und die Königin Wealhbeow spricht huldvoll mit Beowulf und gibt ihm Geschenke.

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Mit dem Überlassen der Hallenwache an die Dänen schließt diese erste Abteilung, der Grendelkampf (837-1250). Nach Grendels Tod werden die Überfälle jedoch von der rächenden Mutter des Unholds fortgesetzt, so daß Hrobgar erneut die Hilfe Beowulfs erbittet, die dieser zusagt (1251-1398). Sie ziehen mit ihrer Gefolgschaft zum Moorsee; dort taucht Beowulf ins Wasser und wird von der Unholdin in ihre Höhle gezogen. Ein verzweifelter Kampf findet statt, in dem Beowulf schließlich mit einem Riesenschwert die Gegnerin tötet und auch noch das Haupt des toten Grendel abschlägt (1399-1590). Aus dem blutgefärbten Wasser schließen die Dänen inzwischen auf Beowulfs Tod und ziehen ab; seine Gefolgschaft aber wartet und sieht ihn auftauchen mit dem goldenen Griff des Schwertes, dessen Klinge in dem giftigen Blut geschmolzen ist. Nach der Rückkehr zur Halle erzählt Beowulf dem König den Verlauf des Kampfes, und nach Rast und Abschied rüsten sich die Gauten zur Heimfahrt (1591-1887). Damit schließt die zweite Abteilung: der Kampf mit Grendels Mutter. Die dritte Abteilung erzählt Beowulfs Heimkehr: an Hygelacs Hof berichtet er seine Abenteuer und verwebt damit die Geschichte von Freawaru und Ingeld. Dann teilt er seine Geschenke mit König Hygelac und Königin Hygd, die ihn ihrerseits reich belohnen. Angesehen lebt er im Gautenland (1888-2199). Der zweite Teil, Beowulfs Tod im Kampf mit dem Drachen, setzt 50 Jahre später ein, als Hygelac und dessen Sohn längst tot sind und Beowulf regiert. Ein Drache, dem man seinen Schatz geraubt hat, verwüstet feuerspeiend das Land. Mit elf Mannen geht der alte König zur Höhle des Drachen, wo er seinem Gefolge einen Rückblick über sein Leben gibt (2200-2537). Dann ruft er den Drachen heraus, vor dessen Flammen alle Gefolgsmannen fliehen außer Wiglaf. Zusammen erlegen sie den Unhold, aber Beowulf hat eine tödliche Wunde empfangen. Er läßt den Drachenhort bringen, schenkt ihn seinem Volke und stirbt, nachdem er seine Rüstung Wiglaf verliehen hat. Die Todesnachricht wird verbreitet, und die Gauten tragen die Leiche ihres Königs zum Walfisch-Vorgebirge (2538-3136). Sie wird auf einem Scheiterhaufen verbrannt, den zwölf Ritter, Klagelieder singend, umreiten. Ein düsterer Ausblick auf die zukünftigen Schicksale des Gautenreiches beschließt das Epos (3137-3182). Zu Struktur und Aufbau des Beowulf-Epos ist viel Abschätziges gesagt worden. Manche Forscher wollten den Drachenkampf von den vorausgehenden Abenteuern ganz ablösen und vermuteten sogar einen anderen Verfasser. Heute aber wird kaum noch bestritten, daß die beiden Teile zusammengehören. Die Einheit des Epos ist eindeutiger als im Falle der Kudrun und der mehrkreisigen Epen der deutschen Ritterzeit. Die Geschichte bleibt im Rahmen eines Menschenlebens, die eingeflochtenen Zutaten und Anspielungen auf andere Personen und Sagen verknüpfen die Geschichte Beowulfs mit der germanischen Welt. Die Mannigfaltigkeit ist also nicht Ordnungslosigkeit. Die Baukunst des Autors erweist sich u. a. in der auf die Gesamtwirkung

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abgestimmten Steigerung der drei Kampfhandlungen. Der Grendelkampf ist kurz und wird recht lakonisch erzählt. Der Kampf mit Grendels Mutter fesselt durch die Beschreibung des Kampfplatzes und durch Ereignisfülle; das dem Unhold zugebilligte Rachemotiv rückt das Geschehen in die Nähe germanischen Empfindens. Der übermenschliche Drachenkampf schließlich bewirkt des Lesers Anteilnahme, indem er Gefolgschaftsmotiv und heldischen Tod weihevoll verklärt. Anderseits ist evident, daß der Beowulf nicht mit modernen Vorstellungen von Einheit und Aufbau beurteilt werden darf, worauf in der modernen literaturwissenschaftlichen Forschung oft hingewiesen wurde. Insbesondere wurde immer wieder die Zweiteilung des Gedichtes sowie die Aufspaltung des Erzählvorgangs in relativ autonome, unzusammenhängende Episoden betont. Die Teile des Beowulf könnten durchaus auf ursprünglich getrennte Lieder zurückgehen, auch wenn hinsichtlich Dialekt, Metrum, Syntax und Vokabular keinerlei Unterschiede feststellbar sind. Aber auch wenn mehrere Einzellieder zugrundeliegen, ist das Werk einem einzigen Autor zuzuordnen. Eventuell erschließbare Vorstufen sind nicht aneinandergesetzt, sondern imaginativ zu einem neuen Ganzen gestaltet worden. Selbst anhand der Struktur des Beowulf kann die Verwurzelung des Autors in germanischer Vorstellungswelt und Ausdruckstradition nachgewiesen werden. Das läßt sich besonders deutlich hinsichtlich der sogenannten Digressionen zeigen. Der Bericht über Hygelacs Feldzug z. B. findet sich an vier verschiedenen Stellen. Eine vergleichende Analyse dieser Passagen ergibt, daß alle vier Berichte dieselbe Sache in verschiedener Form darstellen und daß in den nachfolgenden Stellen kaum bedeutsame Fakten nachgeliefert werden. Darin hat man eine Entsprechung zur germanischen Ausdrucksform der 'variatio' zu sehen, die durch begriffliche und semantische Entbehrlichkeit gekennzeichnet ist. Digressionen der genannten Art machen einen großen Teil des Beowulf aus; sie begegnen uns vor allem bei den Sagenelementen und den historischen Erinnerungen, die z. T. mit dem Gang der Handlung nichts zu tun haben. Aber es gibt in jedem Fall eine Fülle von Assoziationen, Parallelen und Verweisungen. Die Sigemund-Episode z. B. stellt nicht nur die Eigenschaften des idealen Skop dar, sondern ist gleichzeitig ein Preislied auf Beowulf und deutet dessen Sieg über den Drachen voraus. Teil I und II des Epos, Grendelkampf und Drachenkampf, werden auf diese Weise miteinander verklammert. Alle Episoden und Digressionen sind spannend erzählt und daher um ihrer selbst willen von Interesse, sie erhalten aber in jedem Fall zusätzliches Gewicht durch Einbettung in größere Zusammenhänge sowie durch Anspielung, Verweis und Bedeutungsübertragung. Ebenso wenig wie am Aufbau ist Kritik am Stil berechtigt. Daß die Diktion gänzlich formelhaft ist, wird dem Dichter heute nicht mehr entgegengehalten. Im Beowulf werden Formeln in eigenständiger Weise zur Erzielung ganz bestimmter Wirkungen benutzt. Trotz der ins Auge fallenden Formelhaftig-

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keit sind Stil und Aussage individuell. Zudem haben wir oft den Eindruck, daß bestimmte Komposita für den Kontext einer spezifischen Aussage neu geschaffen worden sind, also keineswegs so topisch und traditionell sind, wie man aufgrund der Voraussetzungen der sogenannten Oral formulaic theory' annehmen sollte. Typisch für den Beowulf-Dichter sind die mehr oder weniger synonymen Ausdrücke, mit denen ein Vorstellungskomplex sprachlich in immer neuem Anlauf dargestellt wird. Besonders reich variiert der Autor die Bezeichnung für Gott; dafür hat er dreißig verschiedene Umschreibungen zur Verfügung. Sie alle zielen auf den christlichen Gott, obwohl die verwendeten Wörter und Ideen der germanischen Welt des Herrschers, Gefolgsherrn, Fürsten und Richters entstammen. Nie geht es bei den Variationen um möglichst realistische Beschreibung oder Abschilderung, sondern um die Suggestion heroischer Vorstellungen und Lebenswerte, um die poetische Vermittlung einer Welt, in der sich christlich-antike und heidnisch-germanische Werte zu neuer Einheit verbanden. Sein Christsein sah der Autor nicht als Gegensatz zur Heldenzeit. Er nahm vielmehr deren Ideale, vor allem Tapferkeit, Ruhm, Ehre, Pflicht und Gefolgschaftswesen, in sein Weltbild hinein. Aus der Mischung der beiden Weltanschauungen entstand eine neue Wertwelt, die damals wahrscheinlich sehr viel konsistenter und natürlicher gewirkt hat als heute. Das Weltbild unterscheidet sich zwar vom rein christlichen, wirkt aber in sich stimmig. Es ist typisch für das angelsächsische Frühchristentum, das heimische Traditionen und Denkformen viel treuer bewahrt und überliefert als auf dem Kontinent. Zwar kann die der Schwere ermangelnde Handlung den Charakteren nicht die außerordentliche Lage erschaffen, in der sie sich bewähren können; trotzdem aber ist das Drama der Charaktere der wesentlichste, dem Leser in Erinnerung haftende Teil der Dichtung. Es sind einfache, typische, mit den Menschen der nordischen Heldenlieder nicht vergleichbare Gestalten: Hrobgar, der edle König, Wealhbeow, das dichterische Bild der edlen Frau, Unferb, der Neider, Wiglaf, der treue Gefolgsmann, Beowulf, zwar vielseitiger, doch wesentlich der edle Krieger. Im Unterschied zu der wortkargen, Seelisches nur andeutenden heldischen Zeit hatten die Angelsachsen Worte für seelische Schwingungen. Diese zwar einfachen und sich selbst treu bleibenden Gestalten sind in ihren Gedanken und Gefühlen eindringlicher analysiert, als es sonst im Germanischen üblich ist, und je mehr die Außenseite der Figuren typisch und nur in großen Zügen beschrieben ist, desto mehr fällt der Nachdruck auf die Beweggründe des Handelns. So erreicht das Beowulfepos mit anderen Mitteln das Ziel des germanischen Heldenepos: die Gesinnung zu offenbaren. Das geschieht so eindringlich, daß auch die zunächst als Gemeinplätze erscheinenden äußeren Schicksale eine innere und packende Begründung erhalten. Dieser Beowulf hat nichts Lebloses, denn wir lernen seine Gesinnung kennen, wir erahnen, welch schwere Zukunft den Gauten nach seinem Tode droht.

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Daß die angelsächsischen epischen Dichter auch antiken Vorbildern verpflichtet sind, beweisen die gegen Ende des 10. Jahrhunderts niedergeschriebenen W,ß/i/ere-Bruchstücke ;6 sie beruhen wahrscheinlich auf dem Waltherepos des Mönches Ekkehard und dessen klassischen Vorlagen. Ein Bruchstück berichtet Schatzangebot und Trotzrede aus dem letzten Kampf zwischen Günther und Hagen; das andere Waldere-Bruchstück enthält Hildegunds aufmunternde Rede, die dem sich ausruhenden Walther Siegeszuversicht einflößt. Aufgrund der Reden kann man schließen, daß das Walther-Epos in etwa denselben Umfang hatte wie der Beowulf. Der Verfasser war Geistlicher, wie auch der Beowulfdichter, was aus den noch zahlreicheren Anrufungen Gottes zu erschließen ist.

VI. EPISCHE LEGENDENERZÄHLUNG I.Judith 1 Das geistliche Epos über die alttestamentarische Judith steht stilistisch, wenn auch nicht zeitlich, zwischen Epos und Legendendichtung. Das im Junius MS. erhaltene westsächsische Gedicht ist Fragment; es besteht aus dem Schluß von Teil 9 sowie aus den Gesängen 10, 11 und 12. Bisher konnte allerdings keine Einigkeit darüber erzielt werden, wieviel verlorengegangen ist. Cook vertritt die Auffassung, daß Judith in der uns vorliegenden Form nahezu vollständig ist, während Timmer und Dobbie annehmen, daß die erhaltenen 349 Verszeilen etwa ein Viertel des ursprünglichen Gedichtes ausmachen.2 Die Beurteilung des Werks hängt weitgehend von der Entscheidung für eine der beiden Thesen ab. Die Erzählung ist rascher als ein Epos, ohne breite Episoden und lange Reden, und da die Haupthandlung, einschließlich des Höhepunkts im erhaltenen Fragment, voll zur Darstellung kommt, ist der inneren Form nach der mittlere Umfang einer epischen Legende eher wahrscheinlich (etwa 1344 Verszeilen). Nach Art der biblischen Darstellungen im Altenglischen wird die Handlung auf die Hauptfiguren reduziert. Es handelt sich um den letzten Germanisierungsversuch eines biblischen Stoffes (nach etwa 900). Judith 6

ASPR VI, 4-6; ed. F. Norman (1933,21949) [Methuen's Old English Library].- Waltharius und Walthersage: Eine Dokumentation der Forschung, ed. E. E. Ploss (Hildesheim, 1969). 'ASPR IV, 99-109; ed. A. S. Cook (Boston, 31904) [mit Übers.]; ed. B. J. Timmer (21961) [Methuen's Old English Library]. 2 Vgl. auch J. J. Campbell, "A Schematic Technique in Judith", ELH 38 (1971), 155-172; D. Chamberlain, "'Judith': A fragmentary and political poem", in: AngloSaxon Poetry: Essays in Appreciation. For J. C. McGalliard (Notre Dame, 1975), S. 135-159; C. Enzensberger, "Das altenglische Judith-Gedicht als Stilgebilde", Anglia 82 (1964), 433-457.

VI. Epische Legendenerzählung

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steht damit in der Tradition des kürzenden und raffenden Exemplums, das etwa durch Aldhelms 'De Virginitate' verkörpert wird. Die biblische Judith handelt nicht aus eigener Verantwortung, sondern kraft göttlichen Gebots, und nicht so sehr der Glaube, als vielmehr die Voraussetzung der Erwählung des jüdischen Volkes verleiht ihr Siegesgewißheit. Im altenglischen Gedicht kämpft Judith für die Ehre des eigenen Volkes, sie lehnt sich gegen die Unterdrücker auf, führt das Schwert aus eigenem Antrieb, nicht als Medium Gottes. Aelfric sprach vielleicht über die altenglische Judith, als er sagte: „Es (nämlich das Gedicht über Judith) wurde auch in englischer Sprache verfaßt . . . als Beispiel für euch Männer, damit ihr euer Land mit Waffen gegen das angreifende Heer verteidigt."3 Judith steht als beherrschende Figur im Mittelpunkt. Ihr Glaube an Gott und ihre christliche Zuversicht werden der heidnischen Grausamkeit der Feinde gegenübergestellt. Der Autor erschafft eine fast emblematisch wirkende Heldin, die den Triumph des Guten über den Teufel verkörpert. Nur die wesentlichen Handlungsmomente werden dargestellt; alle Nebenfiguren sind gestrichen oder treten zurück. Solch straffem Aufbau zuliebe änderte der Dichter mehrfach den biblischen Bericht. Judith wird erst nach dem Mahle hereingebracht. So kann der Autor das wüste Gelage schildern und den die Szene beherrschenden Holofernes so furchtbar darstellen, daß trotz des sicheren Ausgangs Anteilnahme entsteht. Auf Spannung allerdings hat der Autor verzichtet; durch Vorausdeutungen wird die Furcht vor einem bösen Ende zerstreut. Es geht vor allem um die Vergegenwärtigung exemplarischer Situationen, wie z. B. die bis in einzelne Gesten dargestellten Vorbereitungen zum Mord, dann die Furcht der Untergebenen, den Herrscher zu wecken, und der Schmerz des sich die Haare raufenden Gefolgsmanns. Szenen dieser Art sind so übertrieben ausgemalt, daß einige Autoren von 'mock heroic conventions' sprechen.4 Bei der Schilderung der Rückkehr Judiths zu ihrem Volk beschleunigt sich das Erzähltempo. Judith zeigt dem wartenden Volk den Kopf des Holofernes, das Volk bricht in lauten Jubel aus. Die Reise der Judith nach Bethulia stellt eine Art 'peregrinatio ad deum' dar; sie gipfelt in dem Topos der „glänzenden Stadt", typologische Verkörperung des ewigen Jerusalem. Durch den Anblick des blutigen Hauptes schlägt das Haßgefühl in Kampfesmut um. Das Volk zieht gegen die Assyrer. Eine epische Kampfschilderung, wie sie auch in Exodus und Helene zu finden ist, bildet den letzten Teil des Gedichtes. Die Perspektive wechselt von Einzel- zu Massenszenen; vor allem aufgrund der geschickten Technik wurde dem Autor Kunstfertigkeit und architektonische Gestaltungskraft bescheinigt.5 Der germanische Gedanke des Gefolgschaftswesens spielt zwar nur noch eine geringe Rolle, doch erinnern manche Züge an frühere germanische 3

Grein, S. 11. F. J. Heinemann, "Judith 236-291 a: A Mock Heroic Approach-to-Battle Type Scene", NM 71 (1970), 83-96. 5 A. Renoir, "Judith and the Limits of Poetry", ES 43 (1962), 145-155.

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Schlachtschilderungen: Aufleuchten der Waffen, Darstellung der 'beasts of battle', Holofernes als Goldspender, Beschreibung der Beute. Allerdings ist die Kunst bewußter und durch fremdes Vorbild gezügelter als in der früheren Zeit. Dafür spricht nicht nur der klare Satzbau, der zusammen mit mäßiger Parallelismusverwendung eine rasche Erzählung ermöglicht, dafür spricht auch die Neigung, mehrere Zeilen, sei es durch gleichen Stabreim oder Beschränkung der Stäbe, zu Gruppen zusammenzufassen, und besonders die gliedernde Kunst, mit der die Schwellverse mit gedrängterer schwerer Füllung nahezu symmetrisch an Stellen rednerischer Wucht oder ergriffener Stimmung gesetzt sind: an den Anfang (Anrufung Gottes), in die Mitte (Judiths Gebet) und an den Schluß (Lobpreisung).

2. Cynewulf Verschieden von der Judith durch das unheldische Thema und noch bewußter in ihrem Kunstwollen ist die um 800 anzusetzende Dichtung CvNEWULFs.6 Seine in Runen und Akrostichen signierten Werke - Christ II, Juliana, Elene, Fata Apostolorum - bringen Bekenntnis und lyrischen Ausbruch anstelle Caedmonscher unpersönlicher Hymnik und theologisches Wissen anstelle allgemeiner Glaubenstatsachen. Der allein Cynewulfs Runen zeigende, vermutlich für einen hohen Gönner geschriebene zweite Teil der früher als Einheit aufgefaßten CAm/-Dichtung7 besingt die Himmelfahrt Christi und nimmt sie gleichzeitig zum Anlaß für Betrachtungen über die Bedeutung des Heilswerks und für Mahnungen, sich durch die Schrecken des Jüngsten Gerichts belehren zu lassen. So steht neben der Vision, wie die von Christus aus der Unterwelt zum Paradies geleiteten Seelen mittwegs die aus dem Himmel entgegenkommenden Engel treffen, die wertvollste Abwandlung des Häufigen Themas „Die Gaben der Menschen", worin alle Berufe und Fertigkeiten aufgeführt werden (664-84), und auch die auf gelehrten Quellen sich aufbauende spiritualistische Deutung der Welt als Gleichnis. Der uns unmittelbar ansprechende Künstler zeigt sich in den anschaulichen Seestücken, wenn er das Leben symbolisch als Seefahrt beschreibt; der germanischer Welt bereits entwachsene Theologe vergleicht Christus mit einem Vogel (weil er wie oben bei den Engeln, so unten bei den Menschen weilte) und beschreibt die sechs Lebenssprünge Christi (den in den Leib Marias, den der Geburt, der Kreuzigung, des Begräbnisses, der Höllenfahrt und der Himmelfahrt). 6

K. Sisam, "Cynewulf and His Poetry", in: Studies in the History of Old English Literature (Oxf., 1953; repr. 1962); C. Schaar, Critical Studies in the Cynewulf Group (Lund, 1949). 7 ASPR III, 15-27; ed. A. S. Cook (Boston, 1900; repr. [mit neuem Vorwort von J. C. Pope] Hamden, Conn., 1964).- P. Clemoes, "Cynewulfs Image of the Ascension", in: England before the Conquest: Studies in Primary Sources presented to Dorothy Whitelock, edd. P. Clemoes and K. Hughes (Cambr., 1971), S. 293-304.

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Christ II ist von zwei weiteren, ebenfalls der Cynewulfschule zuzuschreibenden Gedichten umrahmt, die auf das ältere Werk thematisch und metaphorisch abgestimmt sind. So ergeben Christ I, II und /// ein einheitliches Ganzes, das mit den Paneelen eines Triptychons verglichen werden kann. Christ I geht auf die Adventsantiphonen der Kirche zurück und preist den ersten Advent, d. h. die Geburt Christi. Christ II kreist um die Auferstehung, und Christ III verkündet den zweiten Advent und das Jüngste Gericht. Letzteres Thema war ein beliebter Topos der altenglischen Dichter, hier jedoch gerät die Darstellung zu breit und sprengt die Proportionen der Gesamtstruktur. Das künstlerische Niveau der Christdichtung ist sicherlich höher anzusetzen als das der Juliana-Legende* die man deshalb gelegentlich als Erstlingswerk auffassen wollte. Hier folgte Cynewulf einer lateinischen Vorlage, die das schreckliche Märtyrertum der Heldin beschreibt. Übertriebene, fast gekünstelte Rhetorik, schleppende Handlung und stereotype, leblose Figurenzeichnung dürften auf zu große Ehrfurcht gegenüber der Vorlage zurückzuführen sein. Stellenweise tritt sogar ungewollte Komik auf. Sehr viel besser gelungen ist die zweite Legende um eine christliche Heldin - die Elene? Es ist die mit dem Kreuzerhöhungsfest zusammenhängende Geschichte der Auffindung des wahren Kreuzes Christi durch Helena, die Mutter Konstantins. Der erste Teil des Gedichtes mit Traumvision, germanischer Schlachtschilderung und Seereise sowie der selbstbiographische Epilog zeigen ein dichterisches Können auf der gleichen Höhe wie im Christ II, überall da also, wo der Dichter frei schöpferisch verfuhr. Wo er indessen der Quelle ehrfürchtig folgte - in diesem Falle einer lateinischen Vita in den Acta Sanctorum - fehlen die überraschenden Wendungen und Naturbilder. Dieses Versiegen der in der altgermanischen Dichtung so wichtigen wortschöpferischen Kraft geht zusammen mit allmählich aufkommenden fremden Regeln, deren Einfluß die gleichmäßige, der Judith gegenüber schematisch erscheinende, metrische Bewegung verrät. Die Schicksale der Apostel™ sind eine kurze Dichtung von 95 Zeilen, in der man einen Epilog zum Andreas gesehen hat, der indessen nicht sicher als Cynewulfs Werk erwiesen werden kann. An die Geschicke der zwölf Gefolgsmannen Christi auf ihrer Erdenfahrt knüpft der Verfasser den Wunsch, daß diese Heiligen dem fahrtmüden Dichter auf dem Wege ins Jenseits beistehen mögen. Alle vier Gedichte schließen mit einem Epilog, der den Namen des Dichters in Runen enthält, eine Eigenart, die möglicherweise auf lateinische Vorbilder (etwa in den Vitae patrum) zurückzuführen ist. 8

ASPR III, 113-133; ed. R. E. Woolf (1955, [Methuen's Old English Library]; N. ., 1966).- D. G. Calder, "The Art of Cynewulfs Juliana", MLQ 34 (1973), 355-71. »ASPR II, 66-102; ed. P.O.E. Gradon (1958) [Methuen's Old English Library].D. K. Fry, "Themes and Type-Scenes in Elene 1-133", Speculum 44 (1969), 35-45. 10 ASPR II, 51-54; Andreas and the Fates of the Apostles, ed. K. R. Brooks (Oxf., 1961).- J. L. Boren, "Form and Meaning in Cynewulfs Fates of the Apostles", PLL 5 (1969), 115-122. 2

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Erstes Buch: Die alienglische Zeit

3. Cynewulfschule Die Gedichte der sogenannten Cynewulfschule weisen starke inhaltliche und stilistische Parallelen zu den vier signierten Gedichten auf, können aber nicht mit Sicherheit als Werke desselben Dichters identifiziert werden. Christ I und Christ III knüpfen an das gleichnamige Gedicht Cynewulfs an; das Traumgesicht vom heiligen Kreuz (Dream of the Rood) greift die Vision vom heiligen Kreuz in Elene wieder auf; Andreas spiegelt das Thema der Schicksale der Apostel im Detail (wurde sogar zunächst als Teil des letzteren gesehen), und Guthlac als Heiligenlegende setzt die Reihe der 'milites Christi' im Sinne von Juliana fort. Lediglich das Gedicht vom Phönix scheint eher der Gattung Physiologus oder Tierdichtung anzugehören. Bei näherer Betrachtung jedoch wird deutlich, daß das Bild des Aufstiegs zum strahlenden Licht Gottes als Allegorie für Christus, seine Kirche und die Seele des Menschen das Gedicht bestimmt - ein Bild, das in Christ und Dream of the Rood in ähnlicher Weise verwendet wird. Das Gedicht Dream of the Rood11 bezeichnet den Höhepunkt der altenglischen christlichen Dichtung. Zur Mitternacht hat der Autor eine Traumvision vom strahlenden, juwelenbedeckten Kreuz Christi. Fast meditationsartig schreitet die Bewegung vom konkreten angelsächsischen Schmuckkreuz zum transzendenten Kreuz Christi. Teils durch lyrische Beschreibung, teils durch Prosopopöie (das Kreuz tritt als personifizierter Erzähler auf) wird das Mysterium des Kreuzes als Symbol des Leidens und des Sieges dargestellt. Bilder und Sprache erinnern an Christ, aber ebenso an die Traumvision Konstantins in Elene. Teile des Gedichts sind als Runen in den Steinkreuzen von Ruthwell und Brüssel eingemeißelt; die Datierung dieser Texte ist noch umstritten. Entsprechend der Vorstellung des frühen Mittelalters wird Christus weniger als Leidender, sondern als junger germanischer Held dargestellt. Das Kreuz tritt als 'miles Christi' auf, es erduldet tapfer sein Schicksal. Christi Tod wird von der Gefolgschaft, ja sogar von der ganzen Natur beklagt. Das Gedicht stellt somit eine gelungene, tief bewegende Symbiose der alten germanischen und der neuen christlichen Welt dar; es gehört zu den schönsten Werken der altenglischen Literatur. Die Reihe der Apostel- und Heiligenlegenden wird in den nichtsignierten Gedichten der Cynewulfschule fortgesetzt. Das längere Gedicht von Andreas12 geht auf eine unbekannte lateinische Fassung der Apokryphen zurück und erzählt, wie der Apostel Matthäus von den menschen fressenden Myrmidonen in den Kerker geworfen wird und Gott Andreas zu Hilfe sendet. Der zögern11

ASPRII, 61-65; edd. B. Dickins and A. S. C. Ross (41954; repr. 1963) [Methuen's Old English Library]; ed. M. J. Swanton (Manchester, 1971).- B. F. Huppe, The Web of Words: Structural Analyses of the Old English Poems 'Vainglory', 'The Wonder of Creation', The Dream of the Rood', and 'Judith' (Albany, N. Y., 1970); M. Schlauch, "The Dream of the Rood as Prosopopeia", in: Essays and Studies in Honor of Carleton Brown (N. Y., 1940), S. 23-34. 12 ASPR II, 3-51; ed. K. R. Brooks, s. S. 49, Anm. 10.

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de Andreas wird auf der Schiffsreise durch Christus geprüft, der ihn als Steuermann über den See führt. Matthäus wird befreit und Andreas an seiner Statt eingekerkert und gefoltert, bis Gott auch ihn schließlich erlöst. Die durch eine feurige Sintflut geschreckten Myrmidonen bekehren sich und werden von Andreas unterrichtet. Das Gedicht zeigt dieselbe Vorliebe für das Ferne und Exotische wie Elene. Seefahrt und Sturm, Dialog und Streitgespräch, Heldentum und Motive des letzten Gerichts werden liebevoll und bildhaft geschildert. Anspielungen auf die Beowulfdichtung, besonders am Anfang des Gedichts, gaben Anlaß, den Andreas als einen „christlichen Beowulf" zu bezeichnen. Er ist aber eher ein Seitenstück zu Elene, denn die dichterisch eindrucksvollsten Stellen sind Kampfschilderungen und prachtvolle Naturbilder. Die innere Motivation, die elegische Stimmung und das hohe, tragische Moment der älteren Dichtung fehlen jedoch völlig. Für das tragische Sich-bewähren-Müssen hat der Dichter kein Gefühl mehr, er bewahrt nur das heroische Kleid. Niemand wird der Sturmbeschreibung, die den wellenspielenden Schwertfisch und die beutelüsterne graue Möwe der düsteren Wetterfackel voranziehen läßt, die dichterische Kraft absprechen, aber es ist ein Dichtertum des silbernen Cynewulfzeitalters. Ebenfalls in der Reihe der 'milites Christi' ist das Leben von Guplac,n einem angelsächsischen Heiligen, zu sehen. Das Gedicht ist vermutlich eine Zusammenziehung zweier aus verschiedenen Zeiten stammender Übersetzungen der lateinischen Gublac-Vita des Mönchs Felix von Croyland (etwa 748). Der ältere Teil (Guplac A, Z. 1-790) beschreibt die Versuchungen des heiligen Eremiten durch den Teufel; Struktur und Handlung erinnern an Juliana, vor allem durch den Wechsel zwischen Dialog und Handlung. Anklänge an die spätere Grabdichtung finden sich in Streitgesprächen zwischen Engel und Teufel über das Schicksal der menschlichen Seele. Das Gedicht schließt mit der Rückkehr des siegreichen Heiligen, den sogar die Natur und die Vögel freudig begrüßen. Viel ansprechender ist der zweite Teil des Gedichts (Guplac B, Z. 791-1353), das den Tod des Heiligen mit altbekannten Mitteln der angelsächsischen Hagiographie darstellt. Jenseitssehnsucht und freudige Erwartung des Todes, Lichterscheinungen und Wohlgeruch erinnern an die Heiligenleben der Kirchengeschichte Bedas. Zugleich gemahnen elegische Grundstimmung und die abschließende Totenklage an ältere germanische Traditionen. Auch das Gedicht The Phoenix™ nimmt in allegorischer Form ähnliche Motive auf. Der Wundervogel verkörpert die christliche Auffassung vom Tod 13

ASPR III, 49-88; Das angelsächsische Prosa-Leben des hl. Guthlac, ed. B. Gonser, Anglistische Forschungen, Bd. 27 (Heidelberg, 1909); Felix's Life of St. Guthlac, ed. B. Colgrave (Cambr., 1956).- D. G. Calder, "Theme and Strategy in Guthlac B", PLL 8 (1972), 227-242. 14 ASPR III, 94-113; ed. N. F. Blake (Manchester, 1964).- N. F. Blake, "Some Problems of Interpretation and Translation of the Old English Phoenix", Anglia 80 (1962), 50-62; J. Bugge, "The Virgin Phoenix", Mediaeval Studies 38 (1976), 332-350.

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Erstes Buch: Die altenglische Zeit

als Eingangstor zum ewigen Leben. Der Tod des Vogels in den Flammen versinnbildlicht die reinigende Kraft des Fegefeuers (vgl. Physiologus- oder Tierdichtung). Das Gedicht kann als Krönung der Cynewulfschen Schule bezeichnet werden; farbenfroh und schillernd beschreibt es den Werdegang des Vogels Phönix, der einst das Paradies verlassen hat, aber durch den Weltbrand am Jüngsten Tage dorthin zurückkehrt. Das Gedicht geht auf eine lateinische Vorlage zurück, De ave Phoenice von Lactantius. Zur christlichen Symbolik tritt eine explizite allegorische Deutung. Ab Zeile 380 verläßt der Dichter das Vorbild und fügt eine christliche Parabel der Auferstehung hinzu. Die Erweiterung des Originals durch Naturschilderungen und lyrische Hymnik erinnert an Cynewulf, dessen Vorliebe für Antithesen und Endreime der Phönixdichter teilt. Typisch für die Entstehungszeit (spätes neuntes Jahrhundert) sind die idyllischen Naturschilderungen und die lyrische Grundstimmung, ferner auch das Dominieren der Lichtmetaphorik. Sprache und Bilder erinnern an Dream of the Rood und Christ. Somit ergibt sich ein ganzer Gedichtzyklus, der als Höhepunkt der altenglischen kirchlichen Dichtung angesehen werden muß. Die Dichtungen von Cynewulf und die seiner Schule stellen eine vollendete Einheit ursprünglich gegensätzlicher Elemente dar, eine Fusionierung von germanisch-heroischen und christlichen Vorstellungen. Spätere kirchliche Dichtungen sind entweder rein christlich determiniert oder benützen germanische Motive (Schlachtschilderungen, Heldenpreis) zur Erzielung archaischer Wirkungen.

VII. RELIGIÖSE MAHNUNG UND WELTLICHE LEHRE l. Weltuntergang und Tod Im Vergleich zum Traumgedicht vom heiligen Kreuz bedeuten die Dichtungen vom Jüngsten Gericht, an sich die machtvollsten Äußerungen der Weltuntergangsstimmung, einen Schritt auf dem Weg zu prosaischen Niederungen. Nur der Christ 7//1 weiß mit bemerkenswerter Kraft und Leidenschaft das apokalyptische Schicksal des Weltbrandes darzustellen: Feuer fällt auf die Erde herab, die Felder verbrennen, Städte stürzen ein, Berge schmelzen, Vögel verkohlen, Fische verschmachten. Dann setzt das Jüngste Gericht ein, und das Schicksal der Seelen erfüllt sich. Die Verdammten trifft das Donnerwort des Herrn, die Guten aber, jauchzend, daß sie den Qualen entronnen, bewohnen die Gefilde der Seligen. 1

ASPR III, 27-49; ed. A. S. Cook, s. S. 48, Anm. 7.- T. D. Hill, "Vision and Judgment in the Old English Christ III", SP 70 (1973), 233-242.

VII. Religiöse Mahnung und weltliche Lehre

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Die Dichtung erzielt eine in der Caedmon- und Cynewulf-Schule seltene aufrüttelnde Wirkung, vor allem durch grelle Gegensätzlichkeit von Szenen und Bildern sowie durch anschauliche und farbige Schilderung. Dabei wird weitgehend die germanische Stilkunst verlassen zugunsten eines unmittelbar ansprechenden Realismus, und dementsprechend treten neue Kunstmittel wie knapper Stil und antithetische Wortgebung an Stelle der früher üblichen Variation. Aus solcher Kunst spricht ein neuer Geist, der aber nicht mehr zu voller Entfaltung gelangte, wie die Dichtung Vom Jüngsten Tage2 zeigt. Denn obwohl Stoff und Quelle dieselben sind (Bedas Hymne 'De die judicii'), erreicht Be Domes Daege keineswegs die ergreifende Wirkung des Christ. Die zu Ende des 1. Jahrtausends im ganzen Abendlande sich ausbreitende Angstvorstellung des Weltuntergangs trägt, künstlerisch vergröbernd, mönchische Predigt, Askese und drastischen Ausdruck in die an sich imaginativ konzipierte Dichtung. Eingang, Schreckensschilderung und die holde, abschließende Marienvision mit den unter roten Rosen weiß leuchtenden Scharen der flekkenlosen Jungfrauen stehen aber weit über der bloß nacherzählenden Fassung desselben Stoffes3 im Exeterbuch. Die Darstellung des auch der heldischen Welt vertrauten gewaltigen Weltuntergangsthemas trat hinter dem kleineren Vorwurf des menschlichen Sterbens zurück. Dadurch konnte eine mönchisch zerknirschte Stimmung die Oberhand gewinnen. So fordert die Rede der Seele an den Leichnam* Entäußerung von allen irdischen Gütern dieser Welt, ein auch in zahlreichen Predigten der Zeit auftauchendes Thema. Die Seele hält dem Körper sein auf Irdisches ausgerichtetes Leben vor. Dreihundert Jahre lang macht sie dem Leichnam jeden siebten Tag klar, wie sehr nun beide Gottes Gericht fürchten müssen. Die frühere besorgte Mahnung steigert sich zu finsterer Drohung, die schreckensvolle Darstellung zur ekelerregenden Einzelschilderung der verwesenden Leichenteile und der Arbeit der Würmer. Die alte germanische Welt ist aus den Fugen, und die benediktinische Reform unterdrückt vollends, was noch an diesseitiger Freude lebendig geblieben war. Christentum heißt jetzt nicht mehr, wie zu Zeiten Aldhelms, eine vom Glänze höherer Kultur getragene Weltanschauung, die germanisches Empfinden weitgehend in sich aufnahm, Christentum heißt jetzt der herrische Anspruch, alles früher Hochgeachtete zu schmähen und in verzweifelter Hoffnung auf ein jenseitiges Glück das ganze Leben zu verneinen. Nur die Auflösung des Lebens war jetzt noch als Thema für Dichtungen erlaubt. 2

ASPR VI, 58-67 (The Judgment Day II); ed. H. Lohe, Bonner Beiträge 22 (Bonn, 1907) [mit Übers, und lat. Original].- L. Whitebread, 'The Old English Poem Judgment Day II and Its Latin Source", PQ 45 (1966), 635-656. 3 ASPR HI, 212-215 (The Judgment Day I). 4 Vercelli-Text ASPR II, 54-59; Exeter-Text III, 174-178.- B. P. Kurtz, "Gifer the Worm: An Essay towards the History of an Idea", Univ. of Cal. Pub. in Engl. 2 (1929), 235-261; R. Willard, "The Address of the Soul to the Body", PMLA 50 (1935), 957-983 [behandelt die Prosaversionen].

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Erstes Buch: Die altenglische Zeit

So vergleicht ein in später Fassung des 12. Jahrhunderts erhaltenes kurzes Gedicht Das Grab5 das hohe Haus, das sich der Mensch im Leben baute, mit seiner Todeswohnung, die keine Türen mehr besitzt und zu der nur der Tod den Schlüssel hat. Spricht daraus noch eine versteckte, der germanischen Welt allerdings völlig fremde Menschlichkeit, so haben die anderen hierher gehörigen Dichtungen nur mehr kirchlichen Wert. Es sind ein paar lyrische Gebete um Hilfe für die Seele, versifizierte Fassungen des Credo, Gloria und Paternoster, eine Aufforderung zum Gebet,6 dann Psalmenbearbeitungen wie der Pariser Psalter1 und schließlich die Gattung der Predigtverse wie die Ermahnung zum christlichen Leben,1 das Almosengedicht9 u. a. m.

2. Lehrhafte Dichtung Die nichtmönchische lehrhafte Dichtung hält die Tradition der altgermanischen Merkverse länger lebendig. Ein Beispiel dafür sind die beiden einander komplementär ergänzenden Gedichte Gaben der Menschen und Geschicke der Menschen .10 Sie sind im Vorwurf verwandt, in der Auffassung vom Leben aber nahezu entgegengesetzt. Schücking nennt sie treffend eine Allegro- und eine Penseroso-Darstellung des menschlichen Lebens. Die Gaben der Menschen sind ein Beispiel christlicher Gnomik. Sie zählen in knappen, parallelen Sätzen die verschiedenen Lebenslose auf. Alle Menschen haben von Gott spezifische Gaben und Fähigkeiten erhalten, aber jeder eben nur seinen Teil, so daß niemand zu verzweifeln braucht, aber auch keinen Grund hat, sich über andere zu erheben. In liebender Zufriedenheit die Schöpfung überblickend, entwirft der Autor ein heiteres Gemälde der organischen Welt des Mittelalters, das sich wohltuend von den weltverneinenden Dichtungen der Mönche abhebt. Sehr viel dunkler und pessimistischer schildert das düstere Gegenstück Die Geschicke der Menschen irdisches Schicksal. Leid und Not gehören zum Lebenslos des Menschen und müssen hingenommen werden, da man sich dagegen nicht wehren kann. Der Hunger und der Wolf sind die Schrecken der Zeit, Erblindung, Lähmung, tödliche Unfälle und Exil im Ausland sind geläufige Schicksale, der Galgen ein gewohnter Anblick. Aber das Schicksal wird dem Menschen nicht nur von außen zugemessen. Viele sind für ihren Tod selbst verantwortlich, wie etwa der Betrunkene, der auf der Metbank 5

Ed. A. Schröer, Anglia 5 (1882), 289-290. ASPR VI, 78-80 (Credo); V, 74-77 (Gloria I); 94 (Gloria II); III, 223-224 (The Lord's Prayer I); VI, 70-74 (The Lord's Prayer II); 77-78 (The Lord's Prayer III); 69-70 (A Summons to Prayer). 7 ASPRV, 1-150. 8 ASPR VI, 67-69. 9 ASPR III, 223. 10 Gifts of Men, ASPR III, 137-140; Fortunes of Men, ASPR III, 154-156.- Vgl. dazu T. A. Shippey, Poems of Wisdom and Learning in Old English (Cambr., 1976), S. 59-63. 6

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einen Streit vom Zaune bricht und durch das Schwert getötet wird. Andere kennen bei Met und Bier keine Mäßigung und trinken sich zu Tode. Der zweite Teil hellt das Bild ein wenig auf, berichtet nämlich über glückliches Schicksal, das dem Menschen widerfahren kann. Dieser zweite (kleinere) Teil des Gedichtes ist allerdings recht schwach und konventionell. Statt von Todesarten spricht der Autor nun von den menschlichen Fähigkeiten ('craeftas'), durch die jeder in der Gemeinschaft einen bestimmten Platz einnehmen kann. Bild und Gegenbild folgen einander schroff und unvermittelt. Wie andere altenglische Autoren hat der Dichter nur einen Trost für den Leser bereit: Gott regiert das menschliche Leben, und daher kommt alles Gegensätzliche von ihm. Bemerkenswerte Parallelen zu dem Gedicht über die Geschicke der Menschen zeigt ein kleineres Stück, das meist Vainglory^ genannt wird. Übermut, Eitelkeit und Anmaßung werden auf den Weingenuß in der Halle zurückgeführt. Dort sitzen die Männer, verfassen Lieder, erzählen und trinken, bis man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen kann. Fast immer führt die übermütige Ruhmrede zu Haß und Zwietracht, manchmal sogar zu Aufruhr und Verrat. Aus dem Verhalten beim Wein kann man nach Auffassung des Autors schließen, ob jemand ein Kind des Teufels ist, denn beim Trinken tritt die Hybris des Menschen zutage. Der Demütige aber lebt friedlich und glücklich in der Gemeinschaft der Familie und des Volkes, erfüllt den Willen des Schöpfers und geht daher in den Himmel ein. Ganz anders in Ton und Diktion ist das Gedicht Wunder der Schöpfung?2 das im typischen Skop-Stil über die Geheimnisse des Universums und die Allmacht Gottes berichtet. Alle Dinge dieser Welt erfüllen den Willen Gottes und künden durch ihren Platz im organismusähnlichen Kosmos von der Macht des Schöpfers. Besondere Bewunderung zeigt der Autor für die Gestirne des Himmels, vor allem für die Sonne, die sich nach unerforschbaren Gesetzen um die Erde bewegt, eine Freude für alle, denen Gott Augenlicht geschenkt hat. Das Gedicht endet mit der Aufforderung, eitle Lust und vergängliche Freuden dieses Lebens zu verlassen und sich den himmlischen Freuden zuzuwenden; das Fazit paßt allerdings nicht recht zum Vorausgehenden und wirkt angehängt. Am Rande der Dichtung stehen die mehr kulturgeschichtlich als literarisch beachtenswerten Stücke des Menologium, Physiologus und Salomon und Saturn. Das Menologium™ ist ein Kalender der Festtage des Jahres, wie er in lateinischen Vorlagen mehrfach vorhanden war. Als König Edgar (959-75) das Gebot der Festtagsheiligung erließ, wurde eine Übersetzung in die Volkssprache erforderlich. Darauf bezieht sich der Verfasser des englischen Menologiums, der als Sinn seiner Merkverse angibt, die Zeiten der Heiligen bekanntzumachen, „die man im Britenreiche halten soll". 11

ASPR III, 147-149 [Vainglory = Der Menschen Gemüt]. - Shippey, S. 54-57, s. S. 54, Anm. 10. 12 ASPR III, 163-166. 13 ASPR VI, 49-55; ed. R. Imelmann (Bln., 1902).

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Die alte, schon in den antiken Literaturen bekannte Gattung des Physiologus™ bezeichnet eine Sammlung von Beschreibungen gewisser Tiere mit allegorischen Ausdeutungen. Von diesen in ihrer phantastischen Gelehrsamkeit beim Volke sehr beliebten Tiergedichten sind aus dem Angelsächsischen nur drei über Walfisch, Panther und Rebhuhn erhalten. Der Panther versinnbildlicht Christus, der Wal aber den Teufel, da er durch seinen Duft andere Tiere anlockt und verschlingt. Oft sieht der aufgetauchte Wal wie ein Felsen aus. Die Seeleute vertäuen ihre Schiffe auf dem vermeintlichen Land und zünden ein Feuer an. Dann aber taucht das verräterische Tier in die Tiefe und zieht alle in den Tod. In breiter Analogie vergleicht der Autor damit die Tätigkeit des Teufels, der die Menschen auf ähnliche Weise in die Hölle holt. Vom Rebhuhn (partridge) ist im Physiologus nur ein kleiner Teil erhalten. Das Gedicht schließt mit einer wörtlichen Rede Christi, der den Menschen seine Gnade verspricht, wenn sie von den Todsünden ablassen und sich ihm zuwenden. Eine Mischung volkstümlicher und orientalisch-christlicher Weisheit enthält das von Prosapassagen unterbrochene Dialoggedicht Salomo und Saturn}5 Saturn wird als chaldäischer Gelehrter vorgestellt, der die gesamte vorchristliche Weisheit beherrscht. Er will von Salomo in der Lehre des Christentums unterrichtet werden. Seine Hauptfrage zielt auf die Bedeutung des Pater Noster ab. Salomo antwortet, indem er die Eigenschaften und Kräfte der Buchstaben beschreibt, aus denen das Gebet in der Vulgata-Version besteht. In einem zweiten Gedichtteil, der wahrscheinlich nur bruchstückartig erhalten ist, finden sich Weisheiten und Lehren, die den Maximen ähneln. Salomo beweist die Überlegenheit der christlichen Lehre über alle heidnischen Auffassungen. Besonders interessant ist die Auseinandersetzung mit dem Wyrd-Glauben (416-33), der offenbar immer noch nicht ganz ausgerottet war. Wie in allen anderen altenglischen Werken findet sich nirgends eine Spur von Fanatismus oder Intoleranz. Die Auseinandersetzung erfolgt vielmehr rational und argumentativ. Einige Fragen werden allerdings nicht beantwortet, so die nach dem unerbittlichen Wesen des Alters, dem kein Mensch widerstehen kann, oder nach dem Sinn der Jahreszeiten. Der altenglische Text ist die älteste Version dieses in den europäischen Literaturen verbreiteten Dialogs. In einem lateinischen Dialog heißt Saturns Partner Marcolf. Diese Form des Namens könnte die älteste sein. Sie geht auf den germanischen „Wolf der Mark" zurück, vielleicht aber auch auf orientalische Quellen. Nur acht Zeilen sind von einem Gedicht über Pharaoh's Army*6 erhalten, in dem nach der Zahl der Soldaten des Pharao gefragt wiitf. Der Gefragte I4

ASPR III, 169-174; ed. [u. übers.] A. S. Cook, Yale Studies in English 63 (New Haven, 1921); F. Cordasco, "The Old English Physiologus: Its Problems", MLQ, 10 (1949), 351-355. I5 ASPR VI, 31-48; ed. R. J. Menner (N. Y., 1941); mit Anmerkungen versehene Übers, von F. Wild, Österr. Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. Kl. (Wien, 1964).- A. R. v. Vincenti, Die altenglischen Dialoge von Salomon und Saturn (Lpzg., 1904). 16 ASPR III, 223.

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weiß die Antwort nicht, aber er glaubt ('ic wene'), daß 600000 bewaffnete Kampfwagen durch die grimmige Wyrd zerstört worden sind.

V I I I . DIE A L T E N G L I S C H E PROSA 1 1. Alfred und seine Vorläufer Die altenglische Prosa wird oft aus naheliegenden Gründen zugunsten der Dichtung zurückgestellt. Sie bietet jedoch literarische Reichtümer, wie sie kaum in einer anderen frühen volkssprachigen Literatur zu finden sind. Allerdings kann die altenglische Prosa nur im Rahmen der vorausgehenden anglo-lateinischen Tradition und im Zusammenhang mit der gesamten mittellateinischen Literatur adäquat verstanden werden. Die ausgehende altenglische Zeit wird von der Prosa beherrscht, einer späten, ans Buch gebundenen und eigentlich von Alfred geschaffenen Kunst. Was an vor-Alfredscher Prosa überliefert wurde, trägt eher den Stempel der Gebrauchsliteratur. Dazu gehören die Gesetzesaufzeichnungen, die eng mit den lateinischen Bußbüchern und Kirchenkanones zusammenhängen. Teilweise reichen sie bis in die heidnische Zeit zurück, jedoch sind sie erst in Handschriften des 9. bis 12. Jahrhunderts überliefert. Am bekanntesten sind die Gesetze1 des kentischen Königs Aethelberht ("f 616) und des Westsachsenkönigs Ine (etwa 690). Dem Beispiel der Gesetze folgten die Urkunden? die ebenfalls zunächst in lateinischer Sprache verfaßt wurden und ab Mitte des 8. Jahrhunderts überwiegend in der Landessprache erschienen. Auch die altenglische kirchliche Prosa vor Alfred ist zweckgebunden und besteht hauptsächlich aus Übersetzungen. Bezeugt wird sie schon zu Lebzeiten Bedas; er soll auf seinem Sterbebett noch Teile einer Übersetzung des Johannesevangeliums diktiert haben. Zunächst überwog die wörtliche Interlinearübersetzung. Die früheste uns überlieferte kirchliche Prosa dieser Art stammt aus dem merzischen Gebiet (ca. 850-75): eine Interlinearübersetzung des Psalters und dreizehn Hymnen (Vespasianpsalter)? ein anonym verfaßtes 1

D. Whitelock, Sweet's Anglo-Saxon Reader (Oxf., 21975); J. R. Hulbert, Bright's Anglo-Saxon Reader (N. Y., rev. 1966) [mit Grammatik und Glossar]; R. Fowler, Old English Prose and Verse: An Annotated Selection with Introduction and Notes (1966); M. Lehnert, Poetry and Prose of the Anglo-Saxons, Bd. I (Halle, 21966) [Texts, with Introductions, Translations and Bibliographies]; vgl. auch die Epochenliteratur, S. 4 (Anthologien).- D. Whitelock, "The Prose of Alfred's Reign", in: E. G. Stanley, Continuations and Beginnings, S. 67-103. 2 F. Liebermann, Die Gesetze der Angelsachsen, 3 Bde. (Halle, 1903-16; repr. Tübingen, 1960); A. J. Robertson, The Laws of the Kings of England (Cambr., 1925). 3 G. Birch, Cartularium Saxonicum, 3 Bde. (1885ff.). 4 Vespasian Psalter, ed. S. M. Kühn (Ann Arbor, 1965).

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Life of St. Chad^ und das altenglische Martyrologium,6 das für die meisten Tage des Jahres die Evangeliumspartie, Legende oder Erbauungsgeschichte in knapper Inhaltsangabe vorführt. Literarische Bedeutung hat dagegen die sog. Sachsenchronik? eine Folge von Annalenbänden, in denen die angelsächsische Geschichte vom Einfall Caesars bis zur Normannen-Eroberung berichtet wird. Die etwa 890 anzusetzende Kompilation, die verschiedene Quellen, ältere Annalen, Genealogien, Beda und mündliche Überlieferung benutzt, entspricht den Erziehungsbestrebungen König Alfreds und seines Kreises und hat, wenn nicht in Winchester, so doch im Südwesten ihren Ausgangspunkt. Überliefert ist uns die Chronik in sieben Handschriften, die alle auf dasselbe Original zurückgehen, aber von verschiedenen Schreibern ergänzt und fortgeführt wurden. An Beda reichen die Annalen nicht heran. Beda hatte der aus der christlich-lateinischen Kultur stammenden Gattung den über das Ortsinteresse hinausgehenden Zug ins Große verliehen: die der Kirchengeschichte angehängte Recapitulatio und eine diese fortsetzende, nicht erhaltene Universalchronik verzeichneten die Ereignisse von Cäsars Einfall bis zum Jahre 799. Trotz dieses Vorbilds zeigt die Sachsenchronik in den kurzen, mit stehendem „und" verbundenen Jahresaufzeichnungen keinen literarischen Ehrgeiz; zuweilen aber werden die Eintragungen bei weltlichen Ereignissen ausführlicher, vielleicht von Erzählliedern angeregt. Ein gutes Beispiel dafür ist die unter dem Jahr 755 verzeichnete Geschichte von Cynewulf und Cyneheard. Über Alfreds Regierungszeit wird mit behaglicher Breite berichtet, und später fügten Bearbeiter sogar patriotische Heldenlieder ein. Dann setzen die Annalen für ein halbes Jahrhundert aus, bis sie die Benediktiner wieder aufgreifen. Entscheidend für die Geschichte der altenglischen Prosa war König ALFRED* (849-899), der nach dem Vorbilde des Festlandes und insbesondere des frän5

The Life of St. Chad: An Old English Homily, ed. R. Vleeskruyer (Amsterdam, 1953). 6 ed. G. Herzfeld, EETS 116 (1900). 7 C. Plummer, Two of the Saxon Chronicles Parallel, with Supplementary Extracts from the others, a revised Text (with Introduction, Notes, Appendices, Glossary), 2 Bde. (Oxf., 1892-99); B. Thorpe, Anglo-Saxon Chronicle, 2 Bde. (1861); G. N. Garmonsway, The Anglo-Saxon Chronicle, Translated with an Introduction (rev. edn. 1965); D. Whitelock, D. C. Douglas and S. I. Tucker, The Anglo-Saxon Chronicle: A Revised Translation (21965). 8 H. Hecht, Übersetzung der Dialoge Gregors des Großen (Lpzg., 1900; repr. Darmstadt, 1965); H. Sweet, King Alfred's West-Saxon Version of Gregory's Pastoral Care, EETS 45, 50 (1871; repr. Oxf., 1958); H. Sweet, King Alfred's Orosius, EETS 79 (1883; repr. Oxf., 1959); T. Miller, The Old English Version of Bede's Ecclesiastical History of the English People, EETS 95-96, 110-111 (1890; repr. Oxf., 1959); D. Whitelock, The Old English Bede (1962); W. J. Sedgefield, King Alfred's Old English Version of Boethius (Darmstadt, 1968) [unveränderter Nachdruck von 1899, mit Einleitung, Anmerkungen und Glossar]; W. Endter, König Alfreds des Großen Bearbeitung der Soliloquien des Augustinus (Hamburg, 1922; repr. Darmstadt, 1964).W. H. Stevenson, Asser's Life of King Alfred, together with the Annals of Saint Neots (1904; repr. Oxf., 1959) [with Introd. and Comment.]; C. Plummer, Life and Times of Alfred the Great (Oxf., 1902).

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kischen Hofs dem in der Luft liegenden Bildungsgedanken Ausdruck verlieh. Von dem Wirken Alfreds ist uns manches durch eine zeitgenössische lateinische Biographie, De vita et rebus gestis Alfredi von Asser, bekannt. Zusätzliche Einzelheiten finden sich in der Angelsächsischen Chronik bzw. in der Selbstdarstellung verschiedener Vorworte und Nachworte, die der König selbst verfaßte. Noch heute wird er in England als Landesvater oder gar als Heiliger verehrt. Der Vorstellung des Königs als „Vater der englischen Sprache" muß allerdings aufgrund der Ergebnisse neuerer Forschung mit Vorsicht begegnet werden. Alfred war Soldat, Erzieher und Staatsmann. Lange Jahre des Krieges mit den dänischen Eindringlingen hatten zu einem Bildungsverfall im Lande geführt; selbst unter den Geistlichen beherrschten die wenigsten Latein. Auch Alfred lernte diese zweite Sprache erst spät im Leben. In dem berühmten Vorwort zur altenglischen Übersetzung der Cura Pastoralis des großen Gregor legte Alfred ein umfassendes Bildungsprogramm für sein Volk dar: es sollen „einige Bücher, deren Kenntnis für alle Menschen am notwendigsten ist, in die Landessprache übersetzt werden, damit wir sie alle kennenlernen können." Auch die Gesetzgebung zeugt von Alfreds enzyklopädischem Eifer: sie beginnt mit den zehn Geboten und dem alttestamentlichen Recht, leitet über zum Neuen Testament, schließt neuere Synodalbeschlüsse ein und faßt alles zusammen, was es an Gesetzen vor seiner Zeit gegeben hatte. Als ein Mann der Wissenschaft und der Gerechtigkeit blieb er in volkstümlicher Erinnerung, wie das spätere Volksbuch Proverbs of Alfred (s. S. 94) beweist. Um die Vergangenheit seines Volkes zu erhellen, ließ er Bedas Kirchengeschichte übersetzen und erweiterte dann durch die Weltgeschichte des spanischen Mönches Orosius den historischen Ausblick. Um philosophische Ruhe zu wahren in den Nöten des Lebens, übertrug er des Boethius Consolatio philosophiae; Erkenntnis Gottes suchte er in des Augustinus Soliloquien; und über das Leben nach dem Tode belehrte er durch die in seinem Auftrag von Bischof Werferth von Worcester übersetzten Dialoge Gregors. Den seelsorgerischen Bedürfnissen endlich sollte die Cura pastoralisÜbertragung entgegenkommen. Auf dieser mit seinen pädagogischen Ratgebern und wissenschaftlichen Helfern ausgeführten Übersetzungsliteratur ruht die spätere Prosaentwicklung. Daß ein solch bahnbrechendes Unternehmen nicht fehlerlos war und nur langsam reifte, liegt auf der Hand. So kennzeichnet sich die von Bischof Werferth stammende Übersetzung von Gregors Dialogen, denen der König ein Vorwort beigab (etwa 884), als Erstlingswerk durch allzu wörtliche Übertragung und störende Vorliebe für Wortdoppelungen, oft mit Alliteration. Ähnliches gilt für die wohl von den merzischen Mitarbeitern des Königs stammende Beda-übersetzung, die jedoch kraftvoll-idiomatische Passagen enthält und in ihrer Diktion Anklänge an die Poesie erkennen läßt. Auch das Hirtenbuch (die Cura pastoralis-Übersetzung) ist ein Frühwerk; es ist die wörtlichste der Übersetzungen Alfreds. Er ringt mit den abstrakten Begriffen und trotz aller Helfer, als welche er Plegmund, Asser, Grimbald und Johann von

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Corvey anführt, ist die Wiedergabe der verschlungenen Perioden oft recht ungeschickt. Es wimmelt von Pleonasmen, Wiederholungen und Hapaxlegomena. Andererseits zeigt sich hier erstmals Alfreds durch seine praktische, volkstümliche Absicht bestimmte Stileigenart: er erklärt biblische Dinge durch sächsische Entsprechungen (so werden die Schriftgelehrten den weisen sächsischen Ratgebern gleichgesetzt), er fügt zahlreiche Erklärungen ein, wie die Bemerkung, daß Manna die süße Speise sei, die vom Himmel kam, und spricht gelegentlich selbst, wenn er z. B. mahnt, den plündernden Heerhaufen gegenüber eine feste Haltung zu zeigen. Ganz in eigener Person, und folglich auch in freierem Stil mit der ihm eigenen langsamen Breite, spricht Alfred in der Vorrede, die sein kulturelles Reformprogramm entwickelt. Fortan bewegte er sich auch im Übersetzen freier. Beim Orosius kürzte er das Original, das nach neuerer Forschung nicht von Alfred selbst übersetzt wurde, auf nahezu ein Drittel, paßte es germanischen Anschauungen an und ergänzte die geographische Einleitung durch die Einfügung einer Geographie der Germania vom Standpunkt seiner Zeit aus. Dabei verwertete er nach mündlichen Berichten die Reisen des Norwegers Ohthere nach Lappland und die Entdeckungsfahrten des Angelsachsen Wulfstan in die Ostsee. Die neue Zeit verlangte wissenschaftliche Forschung anstelle der mythischen Topographie der Heldensage. Das mittelalterliche Allerweltsbuch des Boethius übertrug Alfred, der sonst nichts vom Dichter hatte, mit glänzender Beredsamkeit. Er fügt aus Bibel und Geschichte Beispiele ein, er läßt eigenes Empfinden durchklingen, er macht ein wahres Volksbuch für den Lernbeflissenen daraus und findet zum erstenmal eine der Poesie gleichkommende Geste wie in der Übersetzung des 'ubi nunc fidelis ossa Fabricii manent' als 'hwaer synt nu paes Welondes ban' (wo sind jetzt des Wieland Gebeine). Auch das letzte Buch, die dem Boethius nahestehende Übersetzung der Soliloquia Augustins ist aus eigenem Empfinden geboren, wie die allmählich freier werdende Übertragung und vor allem die Vorrede bezeugen. Sie ist der Epilog seines Übersetzungswerks, so wie die Cura-Einleitung dessen Prolog war. Er habe sich Stäbe, Stützen und Griffe gesammelt für jedes der Werkzeuge, die er handhaben konnte, und Zimmerholz und Balken für jede der Aufgaben, die zu unternehmen er fähig war. Deshalb rate er jedem, zu demselben Wald zu gehen, damit er dort mehr hole und manch prächtiges Haus und manche Stadt erbaue und dort froh und glücklich lebe, wie es ihm nicht vergönnt gewesen sei.

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2. Aelfric und Wulfstan Die Vollendung der Alfredschen Tätigkeit sah anders aus als er es sich erträumte, und doch hatte seine Kirchenpolitik zu solcher Fortsetzung den Grund gelegt. Erst unter König Edgar (959-975) wurden Alfreds große Reformvorhaben in die Tat umgesetzt, als die benediktinische Reform Einzug hielt. Sie bewirkte eine neue Blüte der Klöster, der Literatur und der Wissenschaften. Schon 930 ließ sich Odo, Erzbischof von Canterbury, in Fleury, einem der reformierten Tochterklöster Clunys, als Benediktinermönch einkleiden. In seinem Sinne wirkten die drei Hauptträger der Bewegung in England: St. Dunstan, Abt von Glastonbury und später Erzbischof von Canterbury ("f 988); Aethelwold, Abt von Abingdon und Bischof von Winchester (j984); und Oswald, Bischof von Worcester und Erzbischof von York (f 992). Es entstand ein neuer Schreibstil, der sich um Ausgleich orthographischer Schwankungen und um grammatikalische Genauigkeit bemühte. Das Resultat war eine Art westsächsischer Koine, die in allen Teilen des Landes die ältere Schriftsprache verdrängte. Als äußeres Zeichen wurde die alte insulare (irisch-angelsächsische) Schrift zugunsten der vom Kontinent übernommenen fränkischen Minuskel aufgegeben. AETHELWOLDS Übersetzung der Benediktinerregel ist kennzeichnend für diesen Einfluß, unter dem fast die ganze Prosa des 10. Jahrhunderts stand. Wie das auch politisch und kulturell zu bewerten sein mag, stilistisch bedeutet die benediktinische Prosa einen Fortschritt gegenüber Alfred. Schon die Übersetzung der Benediktinerregel9 ist klar, einfach und flüssig und vermeidet die altfränkischen Doppelworte; und im gleichen Stil bewegten sich die bald folgenden Ergänzungsschriften und Kommentare. Auch die Kirchengesetzgebung wird englisch, eine landessprachige Bußordnung erscheint (Poenitentiale Ecgberti),10 und zur Sicherung der neuen Errungenschaften schrieb Aethelwold eine geschichtliche Skizze über Edgars Klostergründungen. Unter Aethelwolds Einfluß, den er demütig sein Leben lang verehrte (vgl. VitaS. Ethelwoldi\n erwuchs der Vollender der altenglischen Prosa: AELFRIC IZ 9

ed. A. Schröer (Darmstadt, 21964) [Bibl. d. Ags. Prosa II]. ed. J. Raith (Darmstadt, 21964) [Bibl. d. Ags. Prosa XIII]. " J. Stevenson, Chronicon Monasterii de Abingdon, 2 Bde. (1858). 12 B. Thorpe, Homilies of Aelfric, 2 Bde. (1844-46; repr. 1971); J. C. Pope, Homilies of Aelfric: A Supplementary Collection, 2 Bde., EETS 259-60 (Oxf., 1967-68); B. Assmann, Angelsächsische Homilien und Heiligenleben (Darmstadt, 21964) [Bibl. d. Ags. Prosa III]; M. Godden, Aelfric's Catholic Homilies, The Second Series, EETS, Suppl. Ser. 5 (1979); W. W. Skeat, Aelfric's Lives of Saints, 4 Bde., EETS 76, 82, 94, 114 (1881-1900; repr., 2 Bde., 1966); G. I. Needham, Aelfric: Lives of Three English Saints (1966); B. Fehr, Die Hirtenbriefe Aelfrics, in Altenglischer und Lateinischer Fassung (Darmstadt, 21966) [Supplement und Einleitung von P. Clemoes); S. J. Crawford, The Old English Version of The Heptateuch: Aelfric's Treatise on the Old and New Testament and his Preface to Genesis, EETS 160 (1922); G. N. Garmonsway, Aelfric's Colloquy (21965); P. Clemoes, "Aelfric", in: E. G. Stanley, Continuations and Beginnings, S. 176-209; M. M. Gatch, Preaching and Theology in Anglo-Saxon England: Aelfric and Wulfstan (Toronto, 1977). 10

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(ca. 955- nach 1010). In Winchester erzogen, dann Abt der Benediktinerneugründung Egnesham bei Oxford, verbrachte er sein ganzes Leben hinter Klostermauern, und sein literarisches Werk ist mönchischen Charakters. Edgars Kirchengesetze hatten das sonntägliche Predigtgebot aufgestellt, und um den Seelsorgern diese Mühe zu erleichtern, schrieb Aelfric 989/92, meist nach lateinischen Quellen, 40 Homilien, die wichtige Perikopen des Kirchenjahrs behandeln. Er schrieb in der Volkssprache zum Unterricht der Leute, die kein Latein verstanden. Sein Stil ist klar und auf den Gegenstand gerichtet, meidet Fremdartiges oder überträgt es ins Heimische und fügt öfters Bilder aus dem täglichen Leben hinzu. Alfreds mannigfachen Bestrebungen gegenüber wirkt er eng, aber an Klarheit und Durchsichtigkeit des literarischen Ausdrucks übertrifft er ihn. Der Erfolg bestimmte ihn 992 zu einer weiteren Folge von 40 Predigten, in denen auf Kosten der Betrachtungen den volkstümlichen Geschichten mehr Raum gegönnt ist. Der Erzählstoff wächst weiter in den 992-1002 geschriebenen Heiligenleben, die auch mehr auf die Gegenwart Bezug nehmen und wichtige Zeitfragen einflechten. Damit kommt, den Alfredschen Übersetzungen ähnlich, ein persönlicher Reiz in diese Legenden, sie enthüllen Aelfrics Patriotismus und Frömmigkeit und seine Lust am Fabulieren. Gleichzeitig wird der Stil erzählfroher und poetischer, und kaum je wird der epische Vortrag durch Lehre und dogmatische Betrachtung unterbrochen. Dauernd besserte und mehrte er an dem nun 120 Stücke umfassenden, aus Predigten und Heiligenlegenden bestehenden Erbauungswerk. Zweimal hat er, wie die Handschriften zeigen, die Homilienzyklen neu bearbeitet und erweitert. Nebenher liefen Einzelhomilien wie De fide cathoiica, eine Kurzfassung der wesentlichen Punkte des katholischen Dogmas, Sendschreiben wie das an Wulfgeat, Traktate wie der über die Siebenfachen Gaben des Heiligen Geistes, und endlich vaterländisch gestimmte Heiligenleben wie Judith und Esther. Wie oft im Altenglischen ist die Autorschaft einiger Aelfric zugeschriebener Werke unklar. Dies gilt sowohl für den Traktat über die Siebenfachen Gaben wie auch für das kleine, auf Bedas De Natura Rerum fußende Handbuch der Natur- und Sternenkunde, De Temporibus Anni, das auch die Frage der Osterfestberechnung in verständlicher Weise erklärt. Als Gelehrter ließ Aelfric Bedeutendes zurück; er schrieb die erste auf Englisch verfaßte Grammatik,13 die zwar die lateinische Sprache beschreibt, aber zugleich bemerkenswerte Äußerungen über das Altenglische enthält. Nach diesem Buch wurde er oft zur Unterscheidung von zeitgenössischen Namensvettern Aelfric Grammaticus genannt. Ferner schrieb er lateinische Unterrichtswerke: ein Glossar und auch einen Dialog für lateinische Sprechübungen, das Colloquium Aelfrici. Durch die interlinear eingesetzten altenglischen Übersetzungen erhalten wir Einblicke in das Alltagsleben der Angelsachsen; hier werden die Berufe und Tagesläufe einfacher Bauern und Hand13

J. Zupitza, Aelfrics Grammatik und Glossar, Text und Varianten (1880; Neudr. Bln., 1966).

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werker in Frage und Antwort unterhaltsam dargestellt. Als Theologe betätigte sich Aelfric in einer Übersetzung von Bibelteilen und der als Einleitung zur Heiligen Schrift gedachten Abhandlung De vetere et novo lestamento. Aelfrics Spätstil ist in gleicher Weise von lateinischer Kunstprosa bestimmt wie von Rhythmus und Alliteration der heimischen Dichtung, eine gehobene, aber die normale Diktion bewahrende Prosa. Parallel zu der schriftstellerischen Tätigkeit Aelfrics im Süden ist der zweite große Homiletiker der spätaltenglischen Zeit WULFSTAN,H Erzbischof von York (1002-23) zu sehen. Über sein Leben ist wenig bekannt, außer daß er zuerst als Bischof in London und später in Worcester tätig war. Er scheint eine wichtige Rolle in der Politik und in der Gesetzgebung gespielt zu haben, vor allem unter dem dänischen König Knut, der ihn offensichtlich als Ratgeber sehr schätzte. Die Frage der ihm zuzuschreibenden Werke war lang umstritten, denn nur vier aus den ca. fünfunddreißig Homilien, die von ihm stammen könnten, werden durch die Überschrift Sermo Lupi Episcopi15 eindeutig gekennzeichnet. Am bekanntesten ist wohl sein Sermo Lupi ad Anglos, eine Mahnpredigt an das englische Volk zu Buße und Umkehr. Wir glauben die Stimme des Gildas zu hören, der am Anfang der altenglischen Zeit die Kelten zur Umkehr aufgerufen und den Untergang seines Volkes als Strafe Gottes angesehen hatte. Teilweise benutzte Wulfstan auch Homilien von Aelfric als Vorlage, z. B. die Predigt gegen das Heidentum De falsis deis oder auch die über die siebenfachen Gaben des Heiligen Geistes. Die Parallelstellen sind besonders geeignet, die Eigenart des Wulfstanschen Schreibstils zu verdeutlichen. Wulfstan gab der altenglischen Prosa ihre ganze Ausdruckskraft zurück. Seine Prosa ist zwar nicht künstlerischer, aber doch machtvoller als alles von Aelfric. Wulfstan hatte ein anderes Temperament als sein Zeitgenosse aus dem Süden, er lebte nicht hinter Klostermauern, und seine patriotische und sittliche Mahnung suchte die stärkste Wirkung. Er verzichtet weitgehend auf Vergleich und Metapher, und wie der altgermanische Sänger hämmert er Synonym auf Synonym in die Ohren der Zuhörer. Das ist gewaltsam und nicht immer klar, auch sind die Sätze oft überlang; aber seine Prosa hat einen eigenen Rhythmus von mitreißender Kraft. Wulfstan war wie Aelfric auch wissenschaftlich tätig, wenn auch auf einem ganz anderen Gebiet. Seine Hauptleistung außer den Homilien besteht in der Kompilation und Kodierung einer Reihe von Gesetzen für die Könige Edgar, Aethelred und Knut. Er schrieb auch eine Art Handbuch der Standeslehre, Institutes of Polity genannt, in dem die Pflichten und Rechte weltlicher und kirchlicher Stände erläutert werden. Das Werk zeichnet außerdem das Bild des idealen Königs und ist daher zusätzlich auch noch Fürstenspiegel. 14

D. Bethurum, The Homilies of Wulfstan (Oxf., 1957); A. Napier, Wulfstan: Sammlung der ihm zugeschriebenen Homilien nebst Untersuchungen über ihre Echtheit (1883;Neudr. Bln., 1966). 15 D. Whitelock, Sermo Lupi ad Anglos (1939; repr. 31967).- D. Bethurum, "Wulfstan", in: E.G. Stanley, Continuations and Beginnings, S. 210-46; A. Mclntosh, "Wulfstan's Prose", in: Proc. Brit. Acad. 35 (1949).

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3. Kleinere Denkmäler der kirchlichen und weltlichen Prosa Was außer Aelfric und Wulfstan an nach-Alfredscher geistlicher Prosa vorliegt, ist vorwiegend Predigtliteratur. Bedeutsam sind die Blickling- und Vercelli-Homilien}6 Die erste Sammlung umfaßt etwa neunzehn Predigten zum Kirchenjahr, darunter einige He: ligenleben, z. B. das des Hl. Andreas, das auch in einer poetischen Version überliefert ist. Stilgeschichtlich liegt das Werk zwischen Alfred und Aelfric: es kennt Aelfrics Satzmelodie noch nicht und wirkt auch in Wortschatz und Metaphernvorliebe altertümlich. Beachtenswert sind die stellenweise fast poetisch anmutende Sprache sowie Anleihen bei der altenglischen Dichting. So finden wir eine Beschreibung der heiligen Stadt Jerusalem, die wit die Fürstenhalle Heorot in Beowulf das umliegende Land überstrahlt; au.;h die Schilderung einer Unterweltsvision zeigt Parallelen zu jenem dunkltm, schreckenerregenden Moorsee in Beowulf. Ähnliche Stilelemente finden wir in den Vercelli-Homilien, etwa in dem Prosa-Leben des Heiligen Guthlao, das uns auch als Gedicht überliefert ist. Wir finden ferner Anklänge an d e spätaltenglische Grabdichtung mit ihren Reden der Seele an den Leichnam und dem 'ubi sunt'-Motiv. Erst in den letzten Jahren wurden die Homilien und Heiligenleben genauer analysiert, insbesondere hinsichtlich der 'topoi' und der Verwendung von literarischen Quellen. Wichtigstes Ergebnis dieser Untersuchungen ist, daß die altenglische Hagiographie und Homiletik nur : m Rahmen der lateinischen Tradition verstanden und gedeutet werden kön ien. Die restliche geistliche Literati.r hat geringere Bedeutung. Es sind meist herkömmliche, kurze Berichte über Lokalheilige, die das Sammelwerk Die Heiligen Englands (1000)17 zusammenfaßt. Wichtiger, weil schon als Romanvorstufe aufzufassen, sind die well liehen Geschichten nahestehenden Erzählungen von Nikodemus,™ Vindictc Salvatoris, Legatio Nathanis und die drei Erbauungsgeschichten De vitis pairum.19 Aber gegenüber der bemerkenswerten Tatsache, daß die englischen Benediktiner sich der Landessprache bedienten, was auch für die späten, zum Teil über die normannische Eroberung hinausreichenden Klosterchronikt n gilt, konnten solche weltlichen Ansätze nicht von großer Bedeutung sein Alles Urkundenmäßige und Historische weist auf klösterliche Hand: die Bearbeitung von Bedas De sex aetatibus mundi20 und die westsächsische Königsliste ebenso wie der Rechtsbrief1^ des Mönchs Eadwine (Winchester 1060) und der Bericht über die Worcesterschen Klostergüter. 16

The Blickling Homilies, ed. R. Morris, 3 Bde., EETS 58, 63, 73 (1874-80; repr. 1967); Die Vercelli Homilien (Codex Verccllensis), ed. M. Förster (1964). 17 F. Liebermann, Die Heiligen EngUnds [angelsächsisch und lateinisch] (Hannover, 1889). 18 The Gospel of Nicodemus, ed. S. J. Crawford (Edinb., 1927). 19 Angelsächsische Homilien und Heiligenleben, ed. B. Assmann (Kassel, 1889) [Bibl. altengl. Prosa III; hierin: De vitis, Vindicta, Legatio]. 20 H. Logemann, "Anglo-Saxonica Miiora", in: Anglia 11 (1889), 27-120 ["bises middangeardes ylda", 105]. 21 In: G. Birch, s. S. 57, Anm. 3.

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Selbst die Gesetzesliteratur zeigt stärker als früher den geistlichen Einfluß (Erlasse Knuts, nordhumbrisches Priestergesetz und die Rectitudines22 für die Landgüter), und die volkstümlichen Weisheitsbücher ähneln mehr einem Katechismus als den alten Zaubersprüchen (Flores, Adrianus et Epictetus, Elucidarium, Adrian et Ritheus)23 Behagliches Ausmalen hat man verlernt, das Buch vom klugen Amtmann (Gerefa22, um 1100) besteht fast nur aus Aufzählungen, und die Herbarien, Steinbücher und Rezeptsammlungen sind nur als Übergang zu den Anfängen wissenschaftlicher Literatur bedeutsam. Mit Literatur im eigentlichen Sinne haben sie nichts mehr zu tun. Der letzte Versuch weltlicher Prosaliteratur ist der im 11. Jahrhundert entstehende Roman Apollonius von Tyrus24 ein ritterlicher Liebesroman, der über eine lateinische Zwischenstufe auf den spätgriechischen Roman gleichen Titels zurückgeht. Eine ursprünglich griechische Quelle lag schon der Mirabiliensammlung Von den Wundern des Ostens25 zugrunde, die in der Beowulf-Handschrift überliefert ist. Diese weltliche Romantik des Orients weitet den Horizont des Germanentums durch Einführung von Themen und Motiven, die wir gemeinhin mit dem Begriff 'romance' verbinden. Schon in angelsächsischer Zeit war somit der Boden bereitet für den höfischen Versroman, der im 11./12. Jahrhundert von Frankreich aus eindrang.

22

Gesetze einschl. Rectitudines und Gerefa in: F. Liebermann, s. S. 57, Anm. 2. M. T. W. Förster, "Two Notes on Old English Dialogue Literature" [(a) A Fragment of an Old English Elucidarium, (b) Middle English Echoes], in: F. J. Furnivall, An English Miscellany [Festschrift] (Oxf., 1901; repr. 1973), S. 86-106; Adrian in: J. M. Kemble, The Dialogue of Salomon and Saturnus (1848; repr. 1971); s. auch S. 56, Anm. 15. 24 Die alt- und mittelenglischen Apollonius-Bruchstücke, ed. J. Raith (München, 1956); The Old English Apollonius of Tyre, ed. P. Goolden (Oxf., 1958). 25 ed. F. Knappe (Greifswald, 1906); Three Old English Prose Texts, ed. S. Rypins, EETS 161 (1924). 23

ZWEITES BUCH

DIE M I T T E L E N G L I S C H E ZEIT

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LITERATUR

B i b l i o g r a p h i e : ! . E. Wells, Manual of the Writings in Middle English 1050-1400 (New Haven, 1916), mit 9 Supplements, wird ersetzt durch: A Manual of the Writings in Middle English 1050-1500, edd. J. B. Severs (1967-1970) and A. E. Härtung [ab 1972] (New Haven, 1967 ff.). Bisher erschienen: Bd. I (1967) - VI (1980). Für die Versdichtung unentbehrlich: C. Brown and R. H. Robbins, The Index of Middle English Verse (N. ., 1943); Supplement (Lexington, 1965). G e s c h i c h t e und K u l t u r g e s c h i c h t e : The Oxford History of England: A. L. Poole, From Domesday Book to Magna Carta (Oxf., 41958); M. Powicke, The Thirteenth Century (Oxf., 21968); M. McKisack, The Fourteenth Century (Oxf., 1959); E. F. Jacob, The Fifteenth Century (Oxf., 1961).- D.M. Stenton, English Society in the Early Middle Ages (41965) und A. R. Myers, England in the Late Middle Ages (Harmondsworth, 31966) [Pelican History of England, Bd. Ill u. IV]; K. Kluxen, Geschichte Englands (Stuttgart, 21976). C. Platt, Medieval England (1978). Quellen: English Historical Documents, Bd. I-IV. Pelican Documentary History of England, Bd. I (Harmondsworth, 1966). L i t e r a t u r g e s c h i c h t e : W. H. Schofield, English Literature from the Norman Conquest to Chaucer (1906); R. M. Wilson, Early Middle English Literature (31968); M. Schlauch, English Medieval Literature and Its Social Foundations (Warschau, 1956); H. S. Bennett, Chaucer and the 15th Century (Oxf., 1947) [OHEL II. 1]; E. K. Chambers, English Literature at the Close of the Middle Ages (Oxf., 1945) [OHEL II. 2]; G. Kane, Middle English Literature (21971); Medieval Literature, ed. B. Ford (Harmondsworth, 1982) [The New Pelican Guide to English Literature, Bd. I]; Schücking, Ker, Baugh, Manitius u. Raby s. o. Erstes Buch, S. 3 u. S. 14, Anm. 9.- Vgl. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern, 91977); J. de Ghellinck, L'Essor de la litterature latine au 12e siecle (Bruxelles, 1955); H. Waddell, The Wandering Scholars (71934), als Pelican Book, 1954; C. S. Lewis, The Discarded Image: An Introduction to Medieval and Renaissance Literature (Cambr., 1964); M. D. Legge, AngloNorman Literature (Oxf., 1963). P h i l o s o p h i e :E. Gilson, La Philosophie au Moyen Age (Paris, 1922) [Leitfaden]. T e x t e : Die lateinisch geschriebenen Werke der Historiker in der R[olls] S[eries] ( = Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores). Die anglonormannischen Texte in der Anglo-Norman Text Society. Die meisten englischen Texte herausgegeben von der E[arly E[nglish] T[ext] S[ociety] (Original Series' mit arabischen Bandnummern, 'Extra Series' mit römischen).Von mittelenglischen Lesebüchern sind Kaiser und Mosse beim altenglischen Teil genannt (s. o. Erstes Buch). Medieval English Literature, ed. J. B. Trapp (N. Y., 1973) [Oxf. Anthology of Engl. Lit.]; Middle English Literature, edd. C. W. Dunn and E. T. Byrnes (N. Y., 1973); B. Dickins and R. M. Wilson, Early Middle English Texts (Cambr., 21952); Early Middle English Verse and Prose, edd. J. A. W. Bennett and G. V. Smithers (Oxf., 21968). Nur Versdichtung enthält: The Oxford Book of Medieval English Verse, edd. C. and K. Sisam (Oxf., 1970).

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I. DIE ZWEITE HÄLFTE DES 11. UND DIE ERSTE HÄLFTE DES 12. J A H R H U N D E R T S

1. Die normannische Eroberung Mit der benediktinischen Reform hörte England auf, ein germanisches Land zu sein und suchte Anschluß an die internationale christliche Welt. Dieser Wandel war politisch und kulturell bedingt, denn die lockere Zusammenfügung einzelner Stammesfürstentümer hatte kein einheitliches englisches Reich zustande gebracht, und das durch unaufhörliche Däneneinfälle erschütterte Land konnte die Kraft zu geistiger Betätigung nicht mehr aufbringen. Auch die Klöster waren längst nicht mehr vorbildlich, wie schon Eduard des Bekenners Einsetzung ausländischer Äbte und Mönche bezeugt. So stand das gleichsam auf eine einheitliche Führung wartende Land im Jahre 1066 zwischen zwei Welten: Von Norwegen drohte Knuts Sohn Harald Hardradi, aber sein Heer unterlag bei Stamford Bridge; von Frankreich Wilhelm der Eroberer, und dieser siegte über König Harolds englisches Heer bei Hastings. Damit war Englands Geschichte und Kultur auf Jahrhunderte neu bestimmt, denn Wilhelms Leute, sowohl den Engländern wie den Mannen Hardradis stammesverwandt, hatten sich in den anderthalb Jahrhunderten, die sie in der 'terra Northmannorum' an der nordfranzösischen Küste saßen, völlig der französischen Kultur angeglichen. Schon bei der Gründung des Herzogtums Normandie unter Rollo waren sie Christen geworden, sie heirateten romanische Frauen, und ihre Schlösser, Klöster und Schulen zeugen von lateinischem Geist. Dies kulturelle Übergewicht ging zusammen mit einer erstaunlichen Tatkraft, die das Normannenreich schon im 11. Jahrhundert zu einem der wichtigsten unter den abendländischen Staaten machte. Aller Widerstand, von dem die Sachsenchronik berichtet, war aussichtslos; auch das Papsttum verbündete sich den Normannen und gab der 1072 vollendeten Eroberung Englands das Ansehen eines Kreuzzugs. Wilhelm fühlte sich als Erbe der angelsächsischen Fürsten; er besuchte sein Land, berichtigte die Grenzen und stellte ein genaues Inventar auf, das Domesday Book (1086), das seine Neuordnung des Landes nach dem Muster eines romanischen Feudalstaates zeigt. Der König war nunmehr oberster Lehnsherr und belehnte die - fast ausschließlich normannischen - Vasallen mit Kronland. Um England in das normannische Reich einzugliedern, wurden englische Richter, Beamte, Bischöfe, Äbte und Mönche weitgehend durch normannische ersetzt. Dreimal jährlich tagte der König mit seinem Hof an einem der englischen Königssitze Winchester, Westminster, Gloucester, Windsor, Carisbrooke oder Woodstock, wo sich dann alle englischen Großen um ihn versammelten; zweimal jährlich rechnete der den wandernden Hof begleitende Exchequer mit den örtlichen Finanzbeamten, den Sheriffs, ab und der gleichfalls wandernde Kanzler mit den englischen Verwaltungsbeamten. Selbst die

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den Normannen nicht günstig gesinnte Sachsenchronik muß anerkennen, daß der König von jedem Winkel des Landes Kenntnis hatte, und daß jedermann unbehelligt durch das Land reisen konnte. Diese Neuordnung begleitete eine kulturelle Eroberung. Die Legende, daß die Normannen vor der Schlacht bei Hastings das Rolandslied sangen, wirkt wie ein Symbol. Wie die Einrichtungen und die Sprache erhielt England die Literatur und die Kunst Frankreichs, gehörte also fortan zur gemeineuropäischen Kultur des Mittelalters. Die Ernennung LANFRANCS' (ca. 1005-89) zum Erzbischof von Canterbury (1070-89) brachte die Einrichtung und die Gelehrsamkeit der französischen und italienischen Schulen nach England; wie in Cluny trat an Stelle der Landarbeit 'Studium' im mönchischen Stundenplan, und die mangelhafte Lateinbildung aufweisenden Geistlichkeiten wurden mit Absetzung bedroht. Mit Lanfranc, dem Prior des berühmten um 1040 gegründeten Klosters Bec, kam der Geist der festländischen Kloster- und Kathedralschulen nach England. Die zu einem Domkapitel zusammengeschlossene Kathedralgeistlichkeit mit dem Bischof an der Spitze hatte als Ersatz der niedergehenden Mönchsschulen städtische Kathedralschulen eingerichtet, z. B. Reims, Chartres, die im 10. und 11. Jahrhundert die wichtigsten Stätten der 'artes liberales' waren, die eigentlichen Vorläufer der späteren Universitäten und die Brennpunkte des neuerwachenden philosophischen Denkens. Dies Denken entfaltete Lanfrancs italienischer Landsmann und Nachfolger als Erzbischof von Canterbury (1093-1109) ANSELM2 (1033-1109) zu großer Philosophie. Als erster entwarf Anselm eine wissenschaftliche Theologie, in der er zwar den Glauben voraussetzt, zugleich aber versucht, das Dogma 'sola ratione' - mit Hilfe der Vernunft allein - zu durchdringen; damit wurde er zum einflußreichen „Vater" der Scholastik. Zu seinen bedeutendsten Schriften zählt der 1094 in England begonnene Dialog Cur Deus homo. Den Ausdruck dieser neuartigen geistigen Welt fand England verkörpert in der kontinentalen kirchlichen Architektur, die nun auch auf der Insel übernommen wurde. Binnen eines halben Jahrhunderts entstanden die später zerstörten Kathedralen von Salisbury, Lincoln, Hereford, Evesham, Glastonbury, die in Resten erhaltenen von Westminster, York und Canterbury, die z. T. oder völlig gotisch überbauten von Ely und Winchester, und die in ihrem romanischen Eindruck erhaltenen von Rochester, Norwich, St. Albans und Durham. Allen gemein ist das Abzielen auf Größe, die Vorliebe für die auf dem Festland ungewöhnlichen Längenmaße.

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Werke in: Mignes PL, 150.- A. J. Macdonald, Lanfranc (Oxf., 1926). Werke: ed. F. S. Schmitt, 5 Bde. (Edinb., 1946-51).- R. Allers, Anselm von Canterbury (Wien, 1936).

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2. Anglolateinische Literatur des 11. Jahrhunderts Diese kulturelle Eroberung findet in der Literatur nur langsam Ausdruck. Weder Wilhelm noch sein Sohn Wilhelm II. Rufus (1087-1100) erstrebten den Dichterhof der späteren Angevins, und die Klöster pflegten nur die herkömmlichen Schriftzweige, bei denen allerdings das Latein die Landessprache verdrängte. Außer der Sachsenchronik, die als angelsächsisches Erbe in Canterbury, Worcester und Peterborough fortgesetzt wurde, gab es englische Predigtsammlungen und Heiligenleben, aber der Mönch Osbern von Canterbury (fl. 1090) bemühte sich schon, letztere ins Lateinische zu übersetzen. In ähnlicher Weise übertrug der normannische Mönch FLORENCE VON WORCESTER3 die Sachsenchronik, zog jedoch auch andere Quellen für sein Chronicon ex chronicis heran. Die Tatsache der lateinischen Geschichtsschreibung ist das Neue; der rein englische Standpunkt und die mangelnde Gliederung in Florences Werk wirken dagegen altmodisch, ohne Kenntnis der neuen kritischen Methode und des neuen philosophischen Urteils, wie es aus der Dialektik Lanfrancs, Anselms und seiner Schüler hervorging. Die im Auftrage Wilhelms geschriebenen Gesta Normannorum ducum* (ca. 1071) des Mönchs Wilhelm von Jumieges dienen vor allem dem Lob des normannischen Herrscherhauses und dem Nachweis der Legitimität des Anspruchs Wilhelms auf die englische Krone. Ebenfalls politische Geschichtsdichtung ist das wahrscheinlich in Wilhelms Auftrag geschriebene De Hastingae proelio des Normannen Wido von Amiens5 Of* 1076), das nur dem Anspruch, nicht der Leistung nach als normannisches Epos bezeichnet werden kann. Wirklich dichterische Ansätze finden wir in den Werken GODFREYS VON WINCHESTER6 (1050-1107), der aus Cambrai stammte und seit 1082 Prior in Winchester war. Seine im Mittelalter sehr geschätzten Epigramme, 238 im ganzen, geben Lebensregeln, Weisheitssprüche und Sentenzen aller Art, manchmal moralisierend, manchmal satirisch, stets in kurzer, zugespitzter Form, die an Martial erinnert. Eine Sonderstellung nehmen die 19 Epigrammata historica ein, die eher geschichtliche Gedichte auf englische Fürsten, Bischöfe, Äbte sind. Auch dies ist keine große Dichtung, aber ein Beweis, daß man auch in England das Latein nicht mehr 'pompatice' sondern 'eleganter' zu handhaben verstand. In der satirischen Dichtung De capta Baiocensium civitate beklagt SERLO VON BAYEUX7 (1050-1113/22) den Brand und die Einnahme seiner Vaterstadt und verspottet die feigen Bürger, die sie nicht verteidigten. Serlos derb-wuch3

Florentius: Chronicon, ed. B. Thorpe, 2 Bde. (Engl. Hist. Soc., 1848). ed. J. Marx(Rouen, 1914). 5 Wido: De Hastingae proelio in: F. Michel, Chroniques Anglo-Normandes III, 1-38. 6 In: Anglo-Latin Satirical Poets and Epigrammatists of the 12th Century, ed. T. Wright, 2 Bde., RS (1872), II, 103ff. 7 In: Anglo-Latin Satirical Poets of the 12th Century, ed. T Wright, 2 Bde., RS (1872), II, 232.

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tiges Latein konnte Muster sein für eine entstehende kirchenpolitische Satire, für die desselben Verfassers Verhöhnung des Abtes Gilbert von Caen in der Invectio in Gillebertum ein Beispiel ist. In dem Gedicht Ad Muriel, das an eine Dame gerichtet ist, die nach dem Tode ihres Mannes ins Kloster gegangen war, schildert Serlo das Los der von ihrem Mann drangsalierten Ehefrau. Der letzte dieser anglolateinischen Dichter des 11. Jahrhunderts ist REGINALD VON CANTERBURY (-fca. 1109), der aus Südfrankreich stammte, aber vor 1092 nach England übersiedelte, wo er, ein Bringer fremder Kultur wie Godfrey von Winchester, als Mönch in das Kloster St. Augustine's in Canterbury eintrat. Er verfaßte ein 4000 leoninische (Zäsur auf Versende reimende) Hexameter umfassendes Epos Vita S. Malchi, das den Einfluß der 'chanson de geste' und der Reiseberichte verrät.8 Ferner schrieb er ein sehnsüchtiges Erinnerungsgedicht auf seinen Geburtsort Faye-la-Vineuse und Episteln.9 Unter diesen Episteln befindet sich eine sapphische Ode an einen gewissen Osbern und ein aus leoninischen Pentametern bestehendes Gedicht an einen Johannes. Dies virtuos spielende Beherrschen antikisierender Dichtform und lateinischen Ausdrucks bildet den Abschluß der tastenden Versuche Englands im 11. Jahrhundert. Mag man lächeln über Reginalds unaufhörliche Anpreisungen seines Malchus-Epos, seine Reimkunst entlockte den spröden leoninischen Hexametern eine eigene Musik, die er mit gewissem Recht dem großen Hildebert von Lavardin, einem der bedeutendsten Dichter des Mittelalters, empfahl.

3. Die Entfaltung normannischer Kultur unter Heinrich I. und Stephan10 Auch im beginnenden 12. Jahrhundert, das mehr ist als bloße Vorbereitung, blieb England das kulturell empfangende Land. Seine Klöster und Schulen waren den französischen nicht ebenbürtig; die klassische Wiederbelebung ging von den Kathedralzentren Chartres und Orleans aus, die scholastische Gelehrsamkeit von Reims und Laon. Kein englisches Kloster erreichte die Bedeutung Becs, und keines hatte ein religiöses Leben und eine religiöse Dichtung aufzuweisen, die an Cluny, Clairvaux und St. Victor heranreichten. Wer die damals wieder als unentbehrlich angesehene humanistische Bildung erstrebte, mußte nach Frankreich gehen, dessen Kathedralschulen bereits die später von den Universitäten übernommene methodische Stoffeinteilung hatten: den grundlegenden Dreiweg, der die Sprachkünste Grammatik, Rhetorik und Dialektik umfaßte, und den die mathematischen Wissenschaften behandelnden Vierweg (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik), zu dem nur mehr wenige gelangten. Trivium und Quadrivium zusammen, die 8

ed. R. Lind (Urbana, 1942). In: Anglo-Latin Satirical Poets. .. (s.Anm. 6), , 259. 10 Vgl. C. H. Haskins, The Renaissance of the 12th Century (1927); Neuauflage als Meridian Book (N. Y„ 1962). 9

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'septem artes', waren als weltlicher Unterbau gedacht für die krönende Wissenschaft der Theologie. Wie dieses dürre Schema über sprachlichen Drill und bloßes Fachwissen hinaus mit lebendiger Anschauung gefüllt wurde, bezeugt John von Salisburys Bericht im Metalogicon (s. S. 92) über die großen Lehrer von Chartres. Vorbildlich wurde die Art Bernhards von Chartres, der die Lektüre zur Grundlage des Unterrichts machte, also Grammatik, Rhetorik und Poetik nicht an Hand abstrakter Regeln vortrug, sondern diese Regeln aus dem Text der großen römischen Musterschriftsteller durch die Schüler selbst gewinnen ließ; ein so gelesener Schriftsteller war dem Schüler bleibender Besitz. Auch Glossare, wie die Derivationes des Osbern von Gloucester (fl. 1150) und die Oratio de utensilibus des gebürtigen Engländers und später in Paris lebenden Adamus de Parvo Ponte (ca. 1105-1181) sind als Beweis geistiger Regsamkeit, Neugier und scharfer Analyse zu werten. Vielleicht das lebendigste Bild dieses humanistischen Strebens zeigt der dem Fulbert-Kreis in Chartres vergleichbare Canterbury-Kreis des in Bec erzogenen Erzbischofs Theobald (1139-62): Sein Haus war ebenso ein Mittelpunkt ernster Studien wie geselliger Erholung und geistreicher Unterhaltung, ein Treffpunkt der Gelehrten und Geistlichen Europas. Hier war John von Salisbury, der Sekretär des Primas Theobald; hier war Roger von Pont l'Eveque, der zukünftige Erzbischof von York; und hier war als Schüler und dann als Nachfolger Theobalds der ehrgeizige Thomas Becket, der um sich die 'eruditi Sancti Thome' scharte, darunter Pierre von Blois. Auch unter Beckets Herrschaft blieb diese Atmosphäre erhalten, belebt durch den Witz und die Ironie Walter Maps. In solchem Kreise konnte man die philosophischen Richtungen der Zeit diskutieren, die in ihrer Gegensätzlichkeit für die geistige Gärung des 12. Jahrhunderts bezeichnend sind: die platonische Chartres-Schule von Bernhard und Thierry, zu der auch Adelard (Aethelard) von Bath zu zählen ist; die aristotelische Erkenntnislehre Pierre Abaelards mit seiner auch in England methodisch einflußreichen Schrift Sie et non; und die inniger religiös gerichtete Schule Bernhards von Clairvaux, zu dessen Kreis der Engländer Isaak von Stella (t 1167) gehörte, der einer aristotelischen Erkenntnistheorie eine Theorie der mystischen Intuition aufpfropfte. Neben der Gelehrsamkeit, die übrigens stark mit praktischen Tagesfragen verbunden war und besonders in vornehmen Kreisen gepflegt wurde, sehen wir das Entstehen höfischer Kultur. Im beginnenden 12. Jahrhundert ist der Anfang der englischen Zentralverwaltung zu sehen; Winchester ist schon ständiger Sitz des Schatzamtes, und der Hof, d. h. die aus Vertrauten und Ratgebern bestehende 'curia regis', der Haushalt und die den Stab des Kanzlers bildende Kapelle, konnte bereits Pflanzstätte der Künste sein. Heinrich I. (1100-35) und insbesondere seine Frauen Mathilda und Adeliza, zogen berühmte Spielleute und Dichter an den Hof. Dieses Beispiel fand Nachahmung unter den Großen des Reichs, so daß unter Stephan (1135-54) bereits eine Reihe adliger Patrone bezeugt sind; nach Gaimars Bericht bestand auch in

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Lincolnshire eine Gruppe von literarisch interessierten adligen Damen und Herren. Dieses höfische Publikum sah sein Vorbild in den südfranzösischen Fürstenhöfen, in deren Lebensart durch das Hervortreten der Frau Höflichkeit, feine Sitte und Kleidung zu neuen Werten wurden.

4. Anglolateinische Literatur in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts Historiographie und klassizistische Dichtung in lateinischer Sprache waren die einzigen Gattungen in der vorbereitenden Zeit des 11. Jahrhunderts. Die Autoren beschränkten sich nun nicht mehr auf wenige literarische Gattungen. Als Verfasser mehrerer bedeutender theologischer Werke sei der in Hexham geborene, am schottischen Hof erzogene AILRED (Aethelred)11 (1110-67) genannt, der später in das Zisterzienserkloster Rievaux (Yorkshire) eintrat. Seine platonische Schrift über die christliche Liebe, Speculum caritatis, die ein inniges, der Mystik nahestehendes Gemüt verrät, wird durch die Einmischung persönlichen Erlebens reizvoll. Der Traktat De spirituali amicitia, der drei Klosterbrüder beim gelehrten Gespräch vorführt, erhält durch wirklichkeitsnahe Bilder aus dem Klosterleben und durch das enge In-BeziehungSetzen von antiken Gedanken mit christlicher Weisheit antikisierende Züge. Dasselbe gilt für die Werke des Priors LAWRENCE VON DURHAM l2 (ca. 1100 bis 54). Das auf biblischem Material in neun Büchern aufgebaute moralphilosophische Hauptwerk Hypognosticon und die in Titel wie Form nach Boethius sich richtende Consolatio de morte amid sind wie die Werke des 11. Jahrhunderts nur durch flüssigen Stil und gewandtes Latein humanistisch; die Dialoge, in denen er mit zwei Freunden den das Bistum Durham an sich reißenden William Cumins angreift, fügen zu klarem Stil und fehlerloser Prosodie eine höchst anschauliche Beschreibung. Teils geschieht das nach antikem Vorbild, wie in der Vergil nachahmenden Sturmbeschreibung (im dritten Buch), teils auch aus eigener Anschauung, wie in der Schilderung Durhams mit seinen Mauern, Befestigungen und Verteidigungswerken (im ersten Buch); mit rhetorischer Wucht werden die durch Cumins' Mißwirtschaft entstandenen Zustände ausgemalt (im zweiten Buch). Derartige Verssatiren waren damals sehr beliebt, auch HENRY VON HUNTINGDON 13 (ca. 1080/85-1155) fügte seiner Historia Anglorum ein Buch Epigramme hinzu, die unter Decknamen einzelne Persönlichkeiten oder Gruppen angreifen. Der gebürtige Engländer HiLARius,14 der 1125 nach Frankreich ging, um bei Abaelard zu studieren, ist einer der vielseitigsten Autoren der Zeit. Neben Studentenliedern, einer Heiligen-Vita und VersEpisteln schrieb er drei religiöse Spiele, die für die Geschichte des mittel11

Opera in: Mignes PL, 195. Dialoge, ed. J. Raine, Surtees Soc. (1880). 13 ed. T. Wright in: Anglo-Latin Satirical Poets... (s. Anm. 6), II, 163. 14 Versus et ludi, ed. J. B. Füller (N. Y., 1929). 12

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alterlichen Dramas sehr bedeutsam sind: ein Spiel über die Erweckung des Lazarus, ein Weihnachtsspiel über den Propheten Daniel und ein Nikolausspiel. Einige seiner Gedichte enthalten jene übermütig-frivolen Elemente, die für die goliardische Dichtung typisch sind. Diese Vaganten- oder Goliardendichtung,15 die der klassizistisch voreingenommene Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts als barbarisch brandmarkte, gehört zum lebendigsten, was wir vom mittelalterlichen Schrifttum haben. Der (vielleicht von dem biblischen Goliath oder lat. 'gula' abzuleitende) Name Golias bezeichnet weniger eine Persönlichkeit als eine Schule oder Epoche; auf ihn berufen sich die 'pueri' und 'discipuli Goliae' oder Vaganten, die 'clerici', d. h. Gebildete waren. Ihre Lieder sind trotz ihres oft reichlich unfrommen Inhalts durchaus nicht nur studentische Sauf- und Liebeslieder, sondern oft sorgfältige und bewußte Erzeugnisse des Studiums. Formal unterscheiden sie sich von der quantitierenden, klassizistischen Dichtung, die antiker Prosodie gemäß die Silben maß; die rhythmische Dichtung zählt die Silben, läßt Wort- und Versakzent zusammenfallen und bindet die Zeilen durch einen meist zweisilbigen Endreim. Melodie und Strophik stammen aus der geistlichen Dichtung, wofür die Sequenzen des um die Mitte des 12. Jahrhunderts schaffenden Bretonen Adam von St. Victor mit ihrer Leichtigkeit der Versgebung, ihren weichen Reimen und ihrem zwingenden Rhythmus als Beispiel dienen können. Der hier mustergültig entfaltete neue Stil wurde auf weltliches Gebiet übertragen und gelangte von Nordfrankreich nach England und Deutschland und, wenn auch spärlich, nach Italien. Es ist nahezu unmöglich, die einzelnen Gedichte einzelnen Ländern zuzuweisen; die Namen der berühmten Sammlungen, die Amndelsammlung, die Cambridger Lieder, die Carmina Burana, die Lieder von St. Omer16 können nicht als nationale oder geographische Anhaltspunkte dienen. Die Cambridger Lieder haben z. B. mit England nur das zu tun, daß sie in einer heute in Cambridge befindlichen Handschrift stehen, die in England nach einer kontinentalen (wohl rheinischen) Vorlage geschrieben wurde. Bestimmte Gedichte auf einzelne Verfasser festzulegen, ist nur in wenigen Fällen gelungen; meist handelt es sich um Franzosen oder Deutsche, wie z. B. Hugo (Primas) von Orleans oder den sog. Archipoeta, der deutscher Herkunft war. Trotzdem war diese mitreißend jugendliche, in ihrer Lebensfreude, Wanderlust und keckem Draufgängertum lebendig gebliebene Dichtung in England mindestens ebenso verbreitet wie in Deutschland und nicht auf die bestimmt auf England zu deutenden Stücke beschränkt. Vor 1150 kann nur ein längeres Visionsgedicht, die Apocalypsis Goliae episcopi,^ mit einiger Wahrscheinlich15

H. Waddell, The Wandering Scholars (71934; N. Y., 1955).- Sammlungen: K. Langosch, Vagantendichtung (Frankfurt/M., 1963) [m. Übers.]; H. Waddell, Medieval Latin Lyrics (1929). 16 Carmina Burana, ed. A. Hilka (Heidelberg, 1930ff.).- Arundelsammlung, ed. W. Meyer, Gott. Ges. d. Wiss. (1908).- Cambridger Lieder, ed. K. Strecker (Bln., 1926).St. Omer-Sammlung in: K. Strecker, Gedichte Walters von Chätillon (Heidelberg, 1929). 17 ed. K. Strecker (Rom, 1928).

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keit nach England gewiesen werden, 110 vierzeilige Strophen aus gereimten rhythmischen Alexandrinern, die wegen ihrer Angriffe auf die räuberische höhere Geistlichkeit noch in der Renaissancezeit beliebt waren und mehrfach ins Englische übersetzt wurden. Die Gattung der Historiographie läßt einen methodischen Fortschritt erkennen, der bei einem Vergleich Simeons von Durham mit Ordericus Vitalis deutlich wird. SiMEON18 schrieb etwa 1104-08 eine Klosterchronik und etwa 1130 eine englische Geschichte, durchaus nicht uninteressant und voller Dinge, die man anderswo vergeblich sucht, aber er schrieb wie Florence von Worcester in der Art der Annalen; ORDERICUS (1075-ca. 1142) dagegen gliedert und ordnet den Stoff. Gerade die Überschneidungen und Wiederholungen bedingende Stoffanordnung zeigt das Fortschrittliche und macht seine Historia ecclesiastica™ zur wichtigsten Normannengeschichte der Zeit (besonders Buch 7-13). Der Stil ist klar, ohne Schachtelsätze und Wortschwulst, ungesucht und angemessen. Das Streben nach Komposition ist noch größer bei dem als Dichter bereits erwähnten HENRY VON HUNTINGDON (ca. 1080/85-1155), denn jedes Buch seiner Historia Anglorum20 schließt mit einem geschichtlich wichtigen Ereignis. Henry, der keinem Orden angehörte, schrieb nicht vom Mönchsstandpunkt aus. Er suchte auch alles fabulistische Beiwerk zu vermeiden, stützte sich für die ältere Zeit weitgehend auf Beda und die Sachsenchronik und erreichte eine gut lesbare Darstellung des Ringens der verschiedenen Völker um den englischen Boden. Solche Weite des Blicks war nun auch innerhalb klösterlicher Welt zu finden, wie WILLIAM VON MALMESBURY21 (ca. 1080-1143) bezeugt. Er schrieb hagiographische Bücher, Schulzwecken dienende Schriften, historische Werke. Sein Ruhm als Historiker beruht auf der Historia (oder Gesta) regum Anglorum und dem geistlichen Parallelwerk zu dieser Königsgeschichte, den Gesta pontificum Anglorum, der Geschichte der Erzbischöfe von Canterbury. Er hat als erster nach Beda den einzelnen Daten und Ereignissen eine systematische Verbindung im Sinne ursächlicher Begründung zu geben versucht, er hat zur Überwindung der alten Annalistik belebende Sittenbilder eingefügt und sich um ein neutrales Urteil zwischen Angelsachsen und Normannen bemüht. Lehrmeisterin war ihm die antike Geschichtsschreibung; Quellenstudium, Auswahl und Verknüpfung sowie philosophische Aufteilung des Stoffes zeigen klassisches Vorbild, das leider auch für die Schwächen seines Werkes, die allzu willig nachgeahmten Reden, die Rhetorik, die Zitatvorliebe und den Schwulst verantwortlich ist. 18

Opera, ed. T. Arnold, 2 Bde., RS (1882-85). "ed. A. le Prevost, 5 Bde. (Paris, 1838-55). 20 ed. T. Arnold, RS (1879). 21 De gestis regum, ed. W. Stubbs, 2 Bde., RS (1887-89); De gestis pontificum, ed. N. E. Hamilton, RS (1870); Historia novella, ed. K. R. Potter, (1955) [mit Übers.].- H. Richter, Englische Geschichtsschreiber des 12. Jh. (Bln., 1938) [Eadmer, W. v. Malmesbury, Ordericus]. Übersetzungen der genannten Geschichtsschreiber in: Bohn's Library.

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Trotzdem scheint das Fabulieren der Zeit näher gelegen zu haben als historische Forschung, was GEOFFREY VON MoNMOUTH 22 (ca. 1100-54) mit seiner epochemachenden Historia regum Brilanniae (ca. 1136) erweist. Der Erfolg dieses als geschichtliche Wahrheit genommenen Buchs, das eigentlich der erste Arthurroman ist, war bereits im Mittelalter ungeheuer. Es ist in etwa 200 Handschriften erhalten. Kurze Zeit nach seinem Erscheinen schrieb Alfred von Beverley eine Epitome (ca. 1150); Geoffrey Gaimar übersetzte es in (nicht mehr erhaltene) anglonormannische Verse; 1155 übersetzte es Wace ins Französische, und diese Fassung - der Roman de Brut - diente dann Lajamons mittelenglischer Bearbeitung und Robert von Gloucesters Reimchronik als Vorlage. Im 13. Jahrhundert entsteht eine Umsetzung in lateinische Verse als Historia Britannorum versificata. Geoffreys Geschichte der britischen Könige ist im wesentlichen eine vorchristliche Ergänzung zu den von Gildas, Nennius und Beda berichteten Ereignissen, angeblich auf Grund eines walisischen Buchs, das ihm der Archidiakon Walter von Oxford gegeben hatte. Darin erzählt Geoffrey die Geschichte der Briten vom legendären Gründer Brutus, dem Enkel des Askanius, bis zu Cadwalader, dem letzten britischen König. Der Stoff ist in 12 Bücher geteilt, von denen die Arthurgeschichte (die Ereignisse von der Landung Konstantins in Britannien bis zum Tode Arthurs) fünf einnimmt. Diese geordnete Darstellung einer nahezu unbekannten Geschichte warf plötzlich Licht auf die englische Vorzeit. Selbst ein Historiker wie Henry von Huntingdon erzählt, mit welch zweifelndem Staunen er aus Geoffreys Buch die Auskunft erhielt, die er jahrelang vergebens gesucht; andere wie William von Malmesbury glauben nicht recht daran, William von Newburgh und Gerald von Wales griffen den Verfasser sogar an. Wer als Historiker urteilt, muß das Zusammenstellen von Geschichte, Sagen und Fabeln anzweifeln, das willkürliche Verschieben, Verschönen und Ausweiten des von den Vorläufern, besonders Nennius, gebotenen Stoffes verurteilen. Wer ohne wissenschaftliche Voreingenommenheit die Historia liest, muß dagegen die Reichhaltigkeit bewundern, denn nicht nur die Geschichte Arthurs, sondern die Cymbelins, König Lears, Sabrinas, Locrines und andere mehr sind hier erstmals schriftlich aufgezeichnet. Er wird ebenfalls die künstlerische Leistung Geoffreys bewundern, der alle Geschichten um Arthur dadurch zu einer fortlaufenden Arthurchronik band, daß er sie als Abenteuer der zwölf Friedensjahre in Arthurs Halle beginnen und enden läßt und sie stimmungsmäßig eint durch das den anglonormannischen Hof zum Vorbild nehmende Streben nach den ritterlichen Idealen. 22

Historia, ed. A. Griscom (N. Y., 1929), Übers. EL. - J. S. P. Tatlock, The Legendary History of Britain (Berkeley, 1950); Arthurian Literature in the Middle Ages, ed. R. S. Loomis (Oxf., 1959); R. S. Loomis, The Development of Arthurian Romance (1963) [Einführung]; . . Brogsitter, Artusepik (Stuttgart, 21971); W. F. Schirmer, Die frühen Darstellungen des Arthurstoffes (Köln-Opladen, 1958); H. Fahler, Strukturuntersuchungen zu Geoffrey (Diss. Bonn, 1957); R. W. Hanning, The Vision of History in Early Britain from Gildas to Geoffrey of Monmouth (N. Y./Lo. 1966).

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Dieser Geoffrey, der nach seinem walisischen Geburtsort oder nach seiner Zugehörigkeit zum dortigen Benediktinerkloster den Beinamen Monmouth hat, war eine am Hof wohlbekannte Persönlichkeit, und es ist denkbar, daß ihn jener Archidiakon Walter in Heinrichs I. Auftrag zum Dichter dieses Epos ausersehen hatte. Wenn auch dem Livius-Vorbild näher als der Aeneis, sollte es - wie das Vergilsche Epos einen die Reichsidee symbolisierenden Helden dichterisch verklärte - einen großen Eroberer feiern, dem die zwölf Pairs von Gallien huldigen, und der selbst über die Legionen Roms triumphiert. Geoffreys Arthur ist nicht ein Anführer der die Angelsachsen bekämpfenden Briten, sondern der Gründer einer vereinigten englischen Nation. Und da das Reich Heinrichs I. England, die Normandie, Wales und die Bretagne umfaßte, das Heinrich II. von den Orkney-Inseln bis zu den Pyrenäen reichte, ist die Historia nicht nur das Epos der keltischen Briten, sondern eines Normannen, Angelsachsen und Kelten gemeinsamen Reichs, das Erinnerungen an das Reich Karls des Großen, ja des Augustus wachrief. Wenn die Historia als Nationalepos ein Fehlschlag war, so deshalb, weil das Reich, das sie verherrlichen sollte, ein Fehlschlag war. Als John die Normandie verlor, war Arthur ein König ohne Reich, ein Nationalheld, der im Nirgendsland der Romantik lebte, dafür aber für alle Folgezeit in der Dichtung lebendig blieb.

5. Anglonormannische23 Literatur 1100-1150 Zu Anfang des 12. Jahrhunderts tritt neben Literatur in lateinischer Sprache solche in Anglonormannisch. (Englischsprachige Literatur aus dieser Zeit ist abgesehen von Fortsetzungen der Sachsenchronik - kaum erhalten). Die erwähnte Verbreiterung, der literarischen Produktion belegt das Werk des PHILIPPE DE THAON,24 des ersten Vorläufers didaktischer Dichtung; denn erst im 13. Jahrhundert wurde es üblich, in der Landessprache für die Belehrung der Laien zu schreiben. Sein Cumpoz genannter kirchlicher Kalender (1119) ist eine in sechssilbigen Versen abgefaßte Abhandlung über Zeitmessung, Mond- und Sonnenfinsternis, die großen Epochen des Kirchenjahres und die Bestimmung der beweglichen Feste; sein Lapidarium ein Steinbuch mit fabulierenden Herkunfts- und Wirkungsangaben; sein Bestiarium ein Wunderdinge berichtendes Tierbuch, für das er den lateinischen Physiologus als Vorlage verwendet. Diese heute absonderlich erscheinende Gelehrsamkeit hat den Verfasser jedoch zur Widmung an Heinrichs I. Gattin Aelis (Adeliza) berechtigt. Philippes literarische Qualitäten sind nicht gerade bestechend: Er schreibt pedantisch und umständlich; immerhin verdanken wir ihm einige der frühesten anglonormannischen Literaturzeugnisse und das erste Bestiarium in französischer Sprache überhaupt. 23 24

M. D. Legge, Anglo-Norman Literature and its Background (Oxf., 1963). Cumpoz, ed. E. Mall (Straßburg, 1873); Lapidaire, ed. L. Pannier in: Les Lapidaires fran9ais du moyen age (Paris, 1882); Bestiaire, ed. E. Walberg (Lund, 1900).

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Ein anderes anglonormannisches Werk der Zeit scheint uns eher den Namen Dichtung zu verdienen: Es ist die Heiligenlegende von Brendan?* die der Mönch BENEDEIT zu Anfang des 12. Jahrhunderts nach lateinischer Vorlage verfaßte. Da der irische Brendan in England nicht verehrt wurde, verrät die Stoffwahl den (später im Versroman Ausdruck findenden) Geschmack für abenteuernde Fremdartigkeit. Diese Brendandichtung ist weniger Heiligenlegende als 'irnram', d. h. keltische Odyssee nach dem Lande der ewigen Jugend: Eine Zauberbarke trägt den Heiligen mit seinen Gefährten zur Felseninsel, wo ein Tischleindeckdich ist, zur schimmernden Insel, die der Rücken eines Meerungeheuers ist, zur Vogelinsel, deren Vögel Seelen sind, zur Insel des Schweigens und anderem mehr. Wie Philippe de Thaon war Benedeit ein Pionier französischer Literatur: Sein Brendan ist wohl die älteste französische Dichtung, die im paarweise reimenden Achtsilbler abgefaßt wurde - jenem Versmaß, das dann für den Versroman charakteristisch werden sollte. Darüber hinaus ist bemerkenswert, wie beliebt die Brendandichtung im Mittelalter war: Die phantastischen, publikumswirksam erzählten Abenteuer Brendans und seiner 17 Gefährten sind in mehreren Handschriften erhalten und wurden ins Lateinische und Mittelenglische übersetzt.

II. DIE ZWEITE HÄLFTE DES 12. J A H R H U N D E R T S 1. Französische Literatur unter Heinrich II. und Richard Löwenherz Der seit Heinrich I. literarisch zu nennende englische Hof wurde unter Heinrich II. und Richard zum Mittelpunkt der westlichen Literatur. Heinrich II., der Wace zu seinem Roman de Rou ermunterte und Benoit de Sainte More zur langen Chronique des dues de Normandie, wird von vielen Gelehrten und Dichtern der Zeit gefeiert, und durch seine Ehe mit Eleanor, die Poitou, Aquitanien und die Gascogne als Morgengabe brachte (1152), wurde eine enge Verbindung mit den südfranzösischen Fürstenhöfen geschaffen. Hatte einst Aelis (Adeliza), von Brabant her, den Geschmack für französische Literatur an den Hof Heinrichs I. gebracht, so handelte es sich jetzt um ein Verpflanzen der Troubadourlyrik an den englischen Hof. Bernard von Ventadour, mit dem die provenzalische Kunstpoesie ihre Blüte erlebte, folgte Eleanor nach England. Auch Bertran de Born war eng verbunden mit dem englischen Hof. Statt der kriegerischen Chanson de Geste werden jetzt höfischer Roman und höfische Lyrik nach England getragen. König Richard war selbst ein Trou25

E. G. R. Waters, The Anglo-Norman Voyage of St. Brendan by Benedeit (Oxf., 1928).

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badour, und er hatte in seiner Umgebung Peire Vidal und Arnaut Daniel. Was man als neue Kultur empfand, war nun in England ebenso zu Hause wie in Südfrankreich. Nicht nur schrieben die vorzüglichsten Dichter ihre Werke in England (Garnier de Pont-Sainte Maxence, Marie de France, vielleicht auch Chrestien de Troyes), daneben begannen Engländer die vom selben Geiste erfüllte anglonormannische Literatur: Thomas, Simon de Fresne, Hue de Rotelande, Jordan Fantosme u. a. m. Der Arthur- und Tristanroman sind Beweis für den bemerkenswerten Versuch, die in der kurzen Blütezeit eingeführte, im wesentlichen romanische Kultur mit dem eigentlichen Engländertum zu verschmelzen unter Zuhilfenahme des walisischen Erbes. Den von Geoffrey unter starker Benutzung walisischer Geschichten geschaffenen Arthurroman verarbeitete der in Jersey geborene, in Paris und Caen lebende und wegen seiner literarischen Verdienste zum Domherrn von Bayeux beförderte WACE1 (1100-75) zum Roman de Brut (1155). Aus der steif-feierlichen lateinischen Prosa werden heitere, leichtfließende französische Achtsilbler, und überall sind bunte ritterliche Fäden in Geoffreys Stoff eingewoben; das Ganze ist höfisch geworden, die Darstellung der Liebe nimmt beträchtlichen Raum ein. Zugleich sind Lesbarkeit und Lebendigkeit erhöht, einerseits durch Ausscheidung der rätselhaften Weissagungen Merlins und anderer sagenhafter Züge, anderseits durch Zusätze, welche die Tatsachenneugier befriedigen; diese wirken oft, wie bei der Schilderung der Einschiffung Arthurs zum römischen Feldzug, wie Kleinbilder voll wimmelnden, scharf gezeichneten Lebens. Solche Kleinmalerei bei gleichzeitiger Herausarbeitung der höfischen Liebe ist kennzeichnend für die Kunst des entstehenden Romans, die im französischen Theben- und Eneasroman schon vorgeformt war und die, diesen folgend, Benoit de Sainte More am Hofe Heinrichs II. mit seinem Roman de Troie2 (1165) auch für England vorbildlich machte. Eine neue Kunstform war entstanden: ein groß angelegter Roman, der gestattete, eine ganze Enzyklopädie von Kenntnissen hineinzuarbeiten, der dem-Wunderbaren einen bedeutsamen Platz einräumte, der vor allem durch eine in den Rahmen abenteuernden Rittertums eingefügte Liebesgeschichte und durch lange, die Gefühle zergliedernden Monologe die höfischen Formen und Werte unterstrich. Anders als Waces Brut fand der aus keltischen Quellen geflossene Tristanroman3 keinen Lajamon (zu diesem s. S. 96) ebenbürtigen englischen Bearbeiter. Die alte keltische Tristandichtung war offenbar eine Fabel der heldischen Welt, deren dramatische Spannung auf dem Gegensatz eines nach dem Ehrgesetz handelnden Kriegers und der dem Liebesverlangen widerstandslos 1

Roman de Brut, ed. I. Arnold (Paris, 1962); Geste des Normands (= Roman de Rou), ed. H. Andresen, 2 Bde. (Paris, 1877-79). 2 ed. A. Joly, 2 Bde. (Paris, 1870) [auszugsweise Übersetzung: R. K. Gordon, The Story of Troilus as Told by Benoit (1934)]. 3 Vgl, F. Ranke, Tristan und Isold (Bln., 1958); J. Bedier, Le Roman de Tristan restaure (Paris, 1959). Thomas, ed. J. Bedier, 2 Bde. (Paris, 1902-05); Beroul, ed. E. Muret (Paris, 1903).- Vgl. S. Eisner, The Tristan Legend (Evanston, 1969).

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hingegebenen Frau beruhte. In der ritterlichen Gesellschaft und ihrem Minnekult erfuhr diese Fabel eine grundsätzliche Umprägung, vermutlich bereits auf keltischem Boden. Diese Fassung der (nicht erhaltenen) Estoire, auf der dann Beroul und Thomas ihre Versromane aufbauten, machte die Helden zu Rittern, die Frauen zu Damen und die Liebe sentimental - ein Vorgang der Verhöfischung des Stoffes, der sich in dem zwischen 1155 und 1170 geschriebenen Tristanbruchstück des Anglonormannen THOMAS vollendet. Thomas von Britannien, wie ihn Gottfried nennt, dichtete in England und für einen anglo-französischen Zuhörerkreis; ein begeisterter Preis Englands und der englischen Kultur findet sich in einem der ersten Abschnitte, und als Huldigung für das englische Königshaus hat der Held des Romans das Anjou-Plantagenet-Wappen des goldenen Löwen im roten Feld. Dieser gesellschaftlichen Bestimmung gemäß spielen höfische Sittenschilderung und seelische Verfeinerung eine entsprechende Rolle in der Darstellung, die in glaubwürdiger Begründung den Stoff in den Verlauf der englischen Geschichte eingliedert, an Geoffrey und Wace anknüpft und Marke zum ersten Herrscher über die vereinigten Königreiche macht. Brachte das schon allerhand Änderungen mit sich, wie z. B. die Entfernung Arthurs, da er ein Menschenalter früher lebte, so bedingte das in den Vordergrund rückende Liebesproblem eine weitere grundsätzliche Umgestaltung des Stoffes. Für Thomas ist Ehebruch kein Vergehen, also darf der betrogene Gatte nichts Ernstliches gegen die Liebenden unternehmen, statt der Verurteilung der Liebenden steht der Schwank vom gefälschten Gottesurteil. Damit nun das Waldleben trotzdem möglich wird, verbannt Marke die Liebenden, da er den Anblick ihrer Liebe nicht länger zu ertragen vermag. Marke beugt also, freiwillig verzichtend, sein Gattenrecht unter das höhere Recht der Liebenden. Folglich muß nun auch das Waldleben anders werden: nicht elend und gehetzt, sondern eine Höhe ungetrübter Seligkeit. Es dauert, bis Marke, durch die Schwertszene von ihrer Unschuld überzeugt, sie in Ehren an seinen Hof zurückruft. So erscheint die Liebe als strahlende Gottheit. Geoffrey und Wace hatten alte epische Geschichten der ritterlichen Zeit angenähert, aber doch nur so weit, daß Geoffreys und Lajamons Werke noch als nationale Epen gelten konnten. In der Hand von Thomas dagegen wurden diese epischen Geschichten endgültig zum Ausdruck der höfisch-ritterlichen Kultur der Zeit. Das Thomas-Vorbild blieb beherrschend. Als MARIE DE FRANCE,4 die am englischen Hofe lebte und Heinrich II. ihre Dichtungen widmete, alte in England von Spielleuten zur Rotte vorgetragene Lais nachbildete, erzählte sie diese uns unbekannten, aber sicher nicht den höfischen Geist eines Thomas atmenden legendären Geschichten ganz im Banne der Minnekultur, wenn auch inniger, frauenhafter. So erscheint im Lai au Chievrefeuil (1165), im Gleichnis von Geißblatt und Hasel, die man nicht trennen kann, ohne daß 4

Lais, ed. K. Warnke (Halle, 1925); ed. A. Ewert (Oxf., 1966); engl. Übers, von E. Mason in EL; deutsche Übers, von R. Schirmer (Zürich, 1977).

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beide sterben, die Liebe Tristans und Isoldes als naturgegebene und dadurch geheiligte Bindung. Auch die anderen Geschichten, die sie dichterisch zart erzählt, handeln von Bewährungen der Liebe. Mit den bisher erwähnten Werken, die außer Benoits Trojaroman alle dem bretonischen Kreis (der Mauere de Bretagne) angehören, ist Englands höfischer Roman abgeschlossen. Zu den beiden anderen Kreisen hat England nicht viel beigetragen: zur Mauere de France mit ihrem Helden Karl dem Großen gar nichts und zu der die antiken Stoffe umfassenden Matiere de Rome zwei Alexanderromane, den weitausholenden Roman de Taute Chevalerie des Thomas von Kent und den episodischen Fuerre de Gadres von einem nicht näher bekannten Eustache, sowie zwei Romane von Hue de Rotelande, Ipomedon und Protheselaus (beide zwischen 1174 und 1191 entstanden). Der geringe Anteil Englands beweist, wie vollständig die große französische Einfuhr die Lesebedürfnisse der höfischen Gesellschaft befriedigte. Auch die vordem in England unbekannte Gattung der Chansons ist so gut wie ganz französischen Ursprungs.

2. Anglolateinische Literatur Das Bild der mittelalterlichen Kultur, insbesondere in England, wird erst vollständig, wenn neben der höfisch-feudalen die gelehrt-humanistische Seite berücksichtigt wird, die in den Universitäten5 gepflegt wurde. Die mittelalterlichen Universitäten umfaßten zum Unterschied von den heutigen nach oben noch eine Art Akademie und nach unten eine Art Gelehrtenschule oder Gymnasium. Daher die zahlreichen 'Magistri regentes', die als vollberechtigte Mitglieder der sich selbst regierenden gelehrten Körperschaft angehörten und keineswegs ausschließlich Lehrer waren (was in der englischen Einrichtung der 'Fellows' noch nachklingt); daher auch die ungeheuren Besuchsziffern, die alle Schüler des vorbereitenden gelehrten Unterrichts miteinbeziehen. Die akademischen Lehrer hießen nahezu gleichbedeutend 'Magistri', 'Professores', 'Doctores'; die Bezeichnung 'Clerici' heißt meist nicht mehr als die Gebildeten, denn die einzige Bildung, die man hatte, war ja die geistliche. Der Stand des Klerikers bedingte geistliche Kleidung, Tonsur und Zölibat, er verschaffte u. a. Befreiung von der weltlichen Gerichtsbarkeit, und um dieses Vorteils willen wurden viele Kleriker, ohne Theologen im modernen Sinne zu werden. Die Hauptzahl der Studenten ergänzte sich aus dem, was man heute die Mittelklassen nennt; Oxford war im Mittelalter durchaus nicht Feudaluniversität. Anderseits waren es nicht besonders Bedürftige; die berichteten Entbehrungen sind die Entbehrungen des mittelalterlichen Lebens überhaupt. In allem zeigt sich das Erwachsen aus den Kathedralschulen, auf die die Bezeichnung Universitas genauso gut angewandt werden konnte. Besondere Gebäude gab es nicht, es gab nur Wohnhäuser für die „Nationen", zu ' Vgl. H. Rashdall, The Universities of Europe, 3 Bde. (Oxf., 41951).

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denen sich die Studenten nach ihrer Abstammung zusammenschlössen; erst in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden aus diesen Wohnhäusern in England die Colleges, so daß eine ursprünglich festländische Einrichtung dann für England bezeichnend wurde (Merton 1264, Balliol 1282). Folglich war in den Anfängen ein Verlegen des Studium generale von Ort zu Ort durchaus möglich, ja üblich, wenn Meinungsverschiedenheiten mit der Ortsbehörde entstanden. So scheint das erste Studium generale in Oxford (1167) sein Entstehen einer allerdings nicht freiwilligen Auswanderung englischer Studenten aus Paris zu verdanken, da Heinrich II. fürchtete, die Studenten würden im Ausland zu Parteigängern seines Feindes Becket. In ähnlicher Weise entstand 1209 die Universität Cambridge aus einem Exodus von Oxford. Im 12. Jahrhundert gab es noch nicht viele Universitäten. Paris war die bedeutsamste, die dort gelehrten Zweige waren vorzüglich Artes und Theologie; Oxford, das erst im 13. Jahrhundert zu internationaler Berühmtheit aufstieg, war ganz nach dem Pariser Muster eingerichtet. Daneben bestanden noch die Universitäten Bologna, als berühmte Schule der Rechte, und Salerno, als Hauptsitz der Medizin. Die Art des Studiums deckte sich mit den Gepflogenheiten der Schulen, wobei jedoch die als Unterbau gedachten sieben freien Künste mehr und mehr selbständige Daseinsberechtigung erhielten. Das lag im Zuge der weltlichen Neigungen des 12. Jahrhunderts, denen zufolge auch die weltlichen Wissenschaften eine Belebung erfuhren. Beispiel dafür ist das wissenschaftliche Recht, das mit dem römischen Reich verschwunden war und nun unter Führung Bolognas seine Wiederauferstehung erlebte, während in der germanischen und Feudalzeit nur das auf altem Brauch des Stammes oder des Herrn beruhende Gewohnheitsrecht Gültigkeit hatte. Da in England Stephan schon um 1150 das Lehren des römischen Rechtes verboten hatte, erfolgte hier die Wiederbelebung der Rechtswissenschaft als eine Phase der Wiederbelebung des Staatsgedankens. In der Regierungszeit Heinrichs II. haben wir die erste systematische Beschreibung des Verwaltungsapparats in dem Dialogus de Scaccario6 ( = Exchequer) von Richard Fitz Neal und dem Tractatus de legibus et consuetudinibus Angliae1 (l 187/89), der dem Großrichter Ranulf von Glanville zugeschrieben wird. Im 13. Jahrhundert folgte dann das berühmte Buch De legibus et consuetudinibus Angliae* von Henry von Bracton. Die englische Entwicklung bedingte aber, daß das Recht niemals ein geschlossenes Corpus wurde, und da das englische Recht nicht an den Universitäten gelehrt wurde, ebensowenig wie das Gewohnheitsrecht anderer Länder, so suchte es Zuflucht in den eigenartigen Gründungen der Inns of Court in London. Daß auch in anderen Zweigen der Wissenschaft Leben herrschte, mögen die Verdienste eines Adelard von Bath und Robert von Chester um die Erschließung arabischer Naturwissenschaft und Medizin dartun und John 6

edd. A. Hughes et al. (Oxf., 1902); ed. C. Johnson (1950 mit Übers.). ed. G. Phillips, 2 Bde. (Bln., 1827-28); ed. G. E. Woodbine (New Haven, 1932). 8 ed. T. Twiss, 6 Bde., RS (1878-83); ed. G. E. Woodbine, 2 Bde. (New Haven, 1915, 1922). 7

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von Salisburys Policraticus (1159),9 der den ersten Versuch einer Philosophie der Politik darstellt. Der alte Zweig der Geschichtsschreibung zog ebenfalls Nutzen aus dem erstarkenden wissenschaftlichen Geist. John von Salisburys 1162 geschriebene, fragmentarisch überlieferte Historia Pontificalis sowie seine Lebensbeschreibungen Anselms und Beckets zeigen die Kirchengeschichte auf neuer Höhe, denn hier offenbarte sich derselbe kritische Geist, der auf dem Gebiete weltlicher Historic WILLIAM VON NEWBURGHS (1136-98) Historia Rerum Anglicanimw (1198) zu einem der besten von einem Engländer stammenden Geschichtswerke macht, das nur William von Malmesbury nachsteht. Wie dieser eiferte er Beda nach, strebte nach Genauigkeit und nach ursächlicher Verknüpfung der Ereignisse, wobei sein Abgerücktsein von Hof und Hauptstadt eine Unabhängigkeit des Urteils ermöglichte, die in den Hofhistorien nicht zu finden ist. Beispiele solcher Hofhistorien sind die Gesta Regis Henrici,u die lange, aber fälschlich, Benedict von Peterborough zugeschrieben wurden, und ihre Fortsetzung (1201) von Roger Hoveden, der aus der Klosterschule Durham stammte und Kleriker in der Umgebung Heinrichs II. war. In diesen im Tatsachenstil abgefaßten, als Quellen wichtigen Werken werden die Reisen des Königs, die Gesandtschaften und Hofzeremonien umständlich beschrieben und vollständige Texte amtlicher Urkunden eingefügt. Des begabten SERLO VON WiLTON12 (1110 bis Ende des 12. Jahrhunderts) Poetik und grammatische Gedichte, die den spröden Stoff in erstaunlich gefälliger Weise darbieten, sind nur Beweis sicherer Beherrschung des Handwerklichen, und das in klösterlicher Zurückgezogenheit geschriebene De contemptu mundi entbehrt auch des humanistischen Geistes. Wirkliche Dichtung sind dagegen Serlos leichtfertige Verse, die eine Mode der damaligen Schulen darstellen und weniger einen sittlichen Verfall bezeugen als ein Spiel der unabhängigen Geister. Serlos Liebesgedichte, die früher zu Unrecht autobiographisch ausgelegt wurden, gehören zu den virtuosesten Schöpfungen anglolateinischer Dichtkunst. In immer neuen Variationen und gewagten rhetorisch-metrischen 'tours de force' bearbeitet er erotische Themen - oft in deutlicher Anlehnung an Ovid. Die meisten der in diesen Zeitraum gehörigen und England zuzuweisenden Vagantendichtungen gehen unter dem Namen WALTER MAPS,13 dem man als einer wohlbekannten Persönlichkeit eine Reihe von Gedichten zuschrieb, mit nicht mehr Recht, als man König Alfred viele Proverbia zugeschrieben hatte. Dazu gehört die als Traumgesicht eingekleidete Metamorphosis Goliae epi9

s. S. 92. ed. R. Hewlett in: Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II and Richard I, RS (1884-89), Bd. I u. II. 11 ed. W. Stubbs, 2 Bde., RS (1867). 12 Vgl. P. Dronke, Medieval Latin and the Rise of European Love-Lyric, 2 Bde. (Oxf., 2 1968). 13 The Latin Poems attributed to Walter Mapes, ed. T. Wright, Camden Soc. (1841); darin die meisten der genannten Gedichte abgedruckt. 10

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scopi, worin ein verheirateter englischer Kleriker seinem Ärger gegen die Mönche Luft machen wollte, die Abaelard schändlich mißhandelt hatten. Andere goliardische Gedichte sind die Predigt Ad terrorem omnium, ferner ein Spottgedicht auf die Zisterzienser, eine Klage an den Papst, De conjuge non ducenda u. a. m. Zahlreich sind die Stücke, die ausführen, daß es mit dem Zölibat schlecht bestellt war; das Gedicht De concubinis sacerdotum fordert die Priesterehe, andere, wie die Consultatio sacerdotum, gehen in frivolen Ton über. Die besten und schlagkräftigsten dieser goliardischen Gedichte zeigen den Einfluß des großen Meisters Walter von Chätillon, der, obwohl zeitweilig in der Kanzlei Heinrichs II. beschäftigt und im Jahre 1166 in England anwesend, doch nicht zur englischen Literatur gerechnet werden kann. Zu seiner Schule gehören ernste Schulthemen (z. B. Muliis a confratribus pridie rogatus) und satirische Klagen über die Macht des Geldes (Manus ferens munera und Quam sit lata scelerum), die zuweilen äußerst scharfe Angriffe gegen Rom und die Geistlichkeit enthalten (Utar contra vilia.. .). Von dem im romanischen Süden beliebten Thema des Wettstreits zwischen Wasser und Wein findet sich nur ein vielleicht nach England weisendes Beispiel (Goliae dialogus inter aquam et vinum}. Den Ganymed-Helena-Streit über Mädchenund Knabenliebe hat kein englisches Gedicht behandelt. Dafür gibt es Streitgedichte zwischen Seele und Leib {Altercatio carnis et spiritus), zwischen verschiedenen Mönchsorden (De Clarevallensibus et Cluniacensibus) und zwischen Engländern und Franzosen (Disputatio inter Anglicum et Francum). Was England in dieser Zeit an metrischer Dichtung leistet, beleuchtet die gegenüber Horaz stolz Poetria nova genannte Versabhandlung des GEOFFREY VON ViNSAUF 14 (fl. 1200), ein rhetorisch-technisches Lehrbuch der Poesie, in Hexametern geschrieben (2116 Verse) und fast nur auf den Hexameter Bezug nehmend, aber mit vollständiger Übersicht der Arten der Gedichtanfänge, der 'amplificatio' und 'abbreviatio', der Wort- und Sinnfiguren, erläutert durch zahlreiche rhetorische Musterbeispiele. Der moderne Beurteiler ist vielleicht versucht, sie Musterbeispiele des schlechten Geschmacks zu nennen, aber mittelalterliche Dichtung ist nach ihren eigenen Maßstäben zu werten, und einer dieser Maßstäbe war die formale Meisterung. Wie sehr dieser Gesichtspunkt maßgebend war, zeigen die Fabeln des GUALTERUS ANGLICUS.IS Dieser Walter, ein Kaplan Heinrichs II., brachte kurz vor 1177 die auf einem lateinischen Prosa-Äsop beruhenden Romulusfabeln in Distichen. Obwohl seine Leistung also nur eine technische war, ist dies Werk für das folgende Mittelalter der eigentliche Äsop geworden: Keine Fabelsammlung war im Mittelalter so verbreitet wie die Walters. Überhaupt kann England mit langen satirischen und epischen Werken wie denen des Jean von Auville, Nigel Wireker, Joseph von Exeter mit Frankreich in Wettbewerb treten. JEAN VON AUVILLE bei Rouen schrieb um 1184 in 4296 14

Poetria in: E. Faral, Les arts poetiques (Paris, 1924), übers, von M. F. Nims (Toronto, 1967). 15 edd. K. McKenzie and W. Oldfather in: Illinois Univ. Studies V (1919), 49ff.

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Hexametern die allegorische Satire Architrenius^ die er dem Bischof Walter von Lincoln widmete. Das Werk verrät umfassende Kenntnis der antiken Literatur und ist reicher an Bildern, Figuren und Tropen als andere Dichtungen des 12. Jahrhunderts. Formales Muster war wohl der Anticlaudian des Alanus de Insulis, dessen schwungvolle Phantasie aber durch allegorisierende Betrachtungen und Lehrhaftigkeit abgeschwächt ist. Der Inhalt des „ErzWeiners" ist die Klage eines jungen Mannes über seine Vergangenheit und über die menschlichen Fehler. Er will die Natur um Rat fragen. Auf dem Wege zu ihr kommt er zum Palast der Venus und verliebt sich in eines ihrer Mädchen. Dann kehrt er in einer Schenke ein, und dies gibt dem Verfasser Anlaß zu einem Exkurs gegen die Völlerei. Weiter kommt er nach Paris, und in Juvenals Art wird die elende Wohnung beschrieben, das schlechte Essen und das kümmerliche Licht, bei dem der Student die Nächte hindurch die 'Artes' lernt. Dies gibt Gelegenheit, gegen die Reichen zu wettern, wie überhaupt der Inhalt des Architrenius keine fortlaufende Erzählung ist, sondern als ein fortlaufender Anlaß zu satirischen Exkursen dient. Im weiteren Verlaufe steigert sich diese satirische Haltung in zunehmender Allegorie. Architrenius kommt zum Berg des Ehrgeizes, woraus sich eine Hofsatire ergibt, dann zum Hügel der Anmaßung, wo Geistliche, Mönche und Gelehrte hausen, dann zur Insel Thyle, wo die Philosophen versammelt sind und so fort. Schließlich erblickt er die Natur, die ihm Belehrungen gibt und als Heilmittel seine Verheiratung mit der Jungfrau Moderatio betreibt. Das Ganze ist eine Schuldichtung für den humanistischen Leser, der die klassischen Anspielungen versteht, sich über neue und gesuchte Wendungen freut, und weniger eine spannende fortlaufende Erzählung erwartet, als satirische Ausfälle, phantastische Erfindung und dialektische Ausgestaltung. Unmittelbarer als diese Schuldichtung wirkt der Torenspiegel des NIGEL WIREKER (ca. 1130-1200), der ein Schützling des Bischofs von Ely, Wilhelm von Longchamp, war, dem er auch ein Gedicht in 154 Distichen widmete. Der weitgereiste und lebenserfahrene Dichter hat auch einen großen Prosatraktat Contra curiales et officiates clericos gegen die Verweltlichung des englischen und französischen Klerus geschrieben. Sein Speculum stultorum^1 (ca. 1180) ist ein satirisch abenteuernder Roman von Burnellus, dem Esel mit dem zu kurzen Schwanz, worunter der Mönch im Kloster zu verstehen ist, der, anstatt die ihm von Gott auferlegten Lasten zu tragen, ehrgeizig und unzufrieden höher hinaus will. Der witzige Schwung des Gedichts wird durch den allegorischen Zeitstil nicht gehemmt. Burnellus bricht aus dem Stall aus, um in der Welt voranzukommen. In Salerno macht man sich über ihn lustig und gibt ihm ein Elixier, das einen ungeheuren Schwanz wachsen lassen soll. Aber das Fläschchen zerbricht, als er auf dem Rückweg bei Lyon mit einem Zisterziensermönch Streit bekommt, und der Hund des Mönchs beißt ihm die Hälfte vom Schwanz ab. Da nun mit der Schönheit doch nichts mehr zu 16 17

T. Wright, Anglo-Latin Satirical Poets... (s. S. 73, Anm. 6), I, 240-392. T. Wright, Anglo-Latin Satirical Poets... (s. S. 73, Anm. 6), I, 3ff., 146ff., 231ff.

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machen ist, will er durch Geist glänzen und läßt sich bei der englischen „Nation" an der Pariser Universität einschreiben. Aber Burnellus lernt nichts, nach sieben Jahren weiß er nicht mehr als das i-a, das er vorher schon wußte. Nun beschließt er, Mönch zu werden, da ihm aber kein Orden paßt, will er ein neues Kloster gründen, ein Theleme vor Rabelais. Doch da kommt der Bauer Bernhard, der ihn schon lange suchte, und treibt ihn wieder in den Stall. Die allen Ständen die Torheit falschen Ehrgeizes predigende Satire ist wie das römische Vorbild ein Gemisch, denn in die eigentliche Erzählung sind kleine, Abwechslung und Relief gebende Geschichten eingebettet. Das Ziel ist, die Satire möglichst unterhaltsam und für die Angegriffenen nicht allzu kränkend zu machen. Es ist nicht das Werk eines eifernden Mönchs, sondern eines klösterlichen Humanisten, der ebensosehr die Welt wie die Bücher kennt, eines erstaunlich beweglichen und aufgeschlossenen Geistes, der die lateinische Sprache und Verskunst mit vollendeter Sicherheit beherrscht. Wie Serlo von Wilton erlebte auch JOSEPH VON EXETER ("f um 1210) eine durch Zweifel bedingte geistige Einkehr. Er machte den Kreuzzug unter Erzbischof Baldwin von Canterbury mit und beschrieb ihn in dem lateinischen Gedicht Antiocheis, das jedoch, wie die meisten seiner dichterischen Werke (Liebesgedichte, Epigramme, ein Lobgedicht auf Heinrich II. und eine Kyropädie in Versen), verloren ist. So kann seine dichterische Bewertung nur auf Grund des in jungen Jahren (ca. 1173-83) geschriebenen Debello Troiano™ erfolgen, den er Baldwin widmete. Der Stoff baute, mittelalterlichem Herkommen gemäß, auf des angeblichen Augenzeugen Dares Phrygius Epitome auf und fügte dem Homerthema noch die erste Trojabelagerung durch Laomedon hinzu. Der Stil ist klassisch-gelehrt, nicht nur, weil der Dichter die gesamte antike Literatur meisterte und also aus Heroengeschichte und Mythologie nicht sklavisch, sondern als Gleicher von Gleichen borgte, sondern weil sein Hexameter antiken Vorbildern näher ist als jede andere gleichzeitige europäische Nachahmung (regelrecht gebaute Zäsuren, Vermeidung vierund fünfsilbiger Worte am Versausgang). Er ist sich bewußt, daß Anschaulichkeit die Welt des Dichters ist, und daß das Abstrakte wie die Allegorie auf belehrende Einlagen beschränkt werden muß. So liest sich das Ganze wie ein spätantikes Epos, dessen Verfasser einen solchen Nachdruck auf die Rhetorik legte, daß kein anderes Werk der Zeit vergleichbar ist und die einen oft platten Gedanken verbrämende Schulrhetorik des Architrenius daneben leer scheint. Josephs Bestreben ist, den Scharfsinn des sprachlichen Ausdrucks dem Scharfsinn des auszudrückenden Gedankens anzupassen. Dies stilistische Vermögen galt als künstlerisches Wertmaß, nicht realistische Wirklichkeitsnähe, die für den mittelalterlichen Dichter nicht Ziel sein konnte, da er das Typi18

ed. A. J. Valpy (Frankf., 1819-30).- Zur Kunstanschauung: E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern, 977) [grundlegend]; H. Brinkmann, Zu Wesen u. Form mittelalterlicher Dichtung (Halle, 1928); H. H. Glunz, Literarästhetik des Mittelalters (Bochum, 1937).

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sehe anstrebte. Er stellte sich nicht die Schilderung einer bestimmten Landschaft zur Aufgabe oder die Beschreibung einer bestimmten Frau, sondern er wollte die schöne Frau schlechthin, die Idee einer schönen Landschaft beschreiben, und folglich bildeten sich bestimmte, von den Poetiken empfohlene Beschreibungsschemata, die sog. Kataloge, heraus. So verfährt auch Joseph bei der Schilderung Helenas, bei der Heldenaufzählung, bei den Blumen- und Baumkataloge verwertenden Landschaftsbeschreibungen, wobei die dichterische Leistung, die als ein Ordnen des Verstandes, als , aufgefaßt wurde, unter anderem in der Wahl neuartiger Beiworte besteht. Josephs Baumkatalog hat so geistreiche Epitheta, daß deren jedes vom Kommentator des Pariser Manuskripts erläutert werden muß, und noch Chaucer und Spenser einzelnes, wie die „segelnde", weil zum Mastbaum verwendete, Fichte abschreiben. Ebenso unerwartet für den modernen Leser, der psychologische Motivierung im Kunstwerk finden möchte, ist das Bestreben der mittelalterlichen Dichter, das Geschehen an sich darzustellen, es also nicht vom Menschen her für den Menschen zu erklären. Und wenn Joseph ein Außergewöhnliches tut und nach der Schönheitsbeschreibung Helenas auch ihre inneren Werte beschreibt, so sucht er auch hier das Typische und Allgemeine zu schildern, und nicht den bestimmten „psychologischen Fall". Wie die Wirklichkeits- und Psychologieforderung des modernen Lesers ist auch das Aufspüren hinter dem Werk liegender persönlicher Erlebnisse ein Irrweg, denn der mittelalterliche Dichter dachte immer zunächst an die anderen, für die zu schaffen allein Sinn seines Dichterdaseins war. Nicht die Lebensgeschichte Josephs bringt uns dem Trojaepos nahe, sondern das Sich-Einordnen in den humanistischen Kreis, für den es geschrieben ist, und der es verstand, feinschmeckerisch die stilistischen Absonderlichkeiten zu genießen und die klassische Formgebung und Vorstellung herauszufühlen. Was auch einer breiteren lesefähigen Schicht des Mittelalters als Mangel des Josephschen Werkes erscheinen mußte, ist die ausschließliche Bezugnahme auf humanistische Zuhörer, denen zuliebe die eigentliche Geschichte ganz nebensächlich behandelt und von rhetorischen Beschreibungen und Reden erdrückt ist. Dies, wofür das Vorbild Lucans mit verantwortlich ist, galt als antik und ist bezeichnend für die ganze klassizistische Epik des Mittelalters. Bei dem Erzählfreudigkeit liebenden Publikum konnte eben darum die klassizistische Epik keinen dauernden Erfolg haben; sie endet mit Walter von Chätillons Alexandreis und Joseph von Exeters Trojaepos, und erst die Renaissance unternahm unter Boccaccios Führung einen neuen, gleichfalls nicht zu breiterem Erfolge führenden Wiederbelebungsversuch. Die reifsten Früchte zeigte die humanistische Wiederbelebung des 12. Jahrhunderts in dem Werk dreier Männer, die England als auf der Höhe mittelalterlicher Kultur stehend erweisen: Gerald von Wales, John von Salisbury und Walter Map, die alle Beziehungen zum englischen Hof und zum kulturell bedeutsamen Canterbury hatten. GIRALDUS CAMBRENSis19 (ca. 1146-ca. 19

Opera, edd. J. S. Brewer et al., 8 Bde., RS (1861-91); Autobiography, ed. H. E. Butler (1937) [Übersetzung]; Itinerary through Wales, übers. R. C. Hoare in EL.

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1220), der Sohn eines Normannen und einer Waliserin, wurde in Manorbier (Pembrokeshire) geboren, studierte in Paris und wurde Kaplan Heinrichs II. Er reiste in Irland, predigte zusammen mit Erzbischof Baldwin von Canterbury zum Kreuzzug und beendete sein Leben im Bistum St. David, dessen Bischof zu werden er sich vergeblich bemüht hatte. Gerald war im eigentlichsten Sinne Historiograph, aber sein witziger, gallisch übersprudelnder und auch etwas aufschneiderischer Geist fühlte sich in allen Sätteln gerecht. Selbst seine metrischen Schuldichtungen - eine nach Rhetorenvorschrift verfaßte Descriptio cuiusdam puellae, ein Pastoralgedicht De subito amore und das die philosophischen Ideen der Zeit spiegelnde De mundi creatione- tragen den Stempel seiner heiteren und wissensdurstigen Persönlichkeit. Bei ihm, der seine Briefe, Gedichte und Vorreden sammelte (Symbolum electorum), eine Autobiographie schrieb (De rebus a se gestis) und einen die Geschichte St. Davids lehrenden Dialog für seine persönliche Streitsache um diesen Bischofssitz auswertete, kommt auch das moderne Interesse am Persönlichen zu seinem Recht. Dies belebt auch seine teilweise aus Reisenotizen entstandenen und auf persönlicher Anschauung beruhenden historiographisch-topographischen Hauptwerke über Irland (Topographia und Expugnatio Hibernica, 1187) und Wales (Descriptio Kambriae, 1188?, und Ilinerarium, 1191), die etwas Neues darstellten, da sie statt nüchterner Anhäufung zusammengetragener Tatsachen lebendig geschriebene Schilderungen von Menschen, Zuständen, Brauchtum enthalten. Gerald beobachtete Land und Leute, interessierte sich für Gewässer und Tiere, für die Lebensweise der Menschen, für die Unterschiede der walisischen, englischen und irischen Sprache; er ließ sich umlaufende Sagen und Märchen erzählen, die er teils aus Freude an der wunderbaren Geschichte, teils als Beleg für die Sitten des Volkes seinem Werk als Episoden einfügte. Nie wurde seine Neugier müde, und sofort setzte er das eben selbst Gelernte in Belehrung für die anderen um. Bedeutender noch als Gerald war JOHN VON SALISBURY,20 in dessen Schriften das Zeitalter seinen vollen geistigen Ausdruck fand. In Salisbury geboren (1110/20), wurde er in Frankreich gebildet, wo ihn Chartres zum Humanisten machte. Armut drängte ihn auf das Berufsstudium der Theologie, und Empfehlung der Freunde verschaffte ihm die Stelle des Privatsekretärs bei Erzbischof Theobald von Canterbury. Mehrmals war er in Rom, denn als besonderer Liebling des englischen Papstes Hadrian IV. war er für schwierige Missionen unersetzlich, und während der Kränklichkeit Theobalds oblagen ihm als dessen Stellvertreter im geistlichen Gericht „die Sorgen und Klagen 20

Metalogicon, ed. C. C. J. Webb (Oxf., 1929); Übers, von D. D. MacGarry (Berkeley, 1955); Policraticus, ed. C. C. J. Webb, 2 Bde. (Oxf., 1909); Teilübers. als 'Frivolities of Courtiers' [Buch I-III] von J. B. Pike (Minneapolis, 1938) und als The Statesman's Book' [Buch IV-VI] von J. Dickinson (N. Y., 1927); Entheticus, ed. C. Petersen (Hamburg, 1843); Historia Pontificalis, ed. R. L. Poole (Oxf., 1927); ed. M. Chibnall (1956) [mit Übers.]; Correspondence: Proc. Brit. Acad. II (1924); Letters I, edd. W. J. Millor and H. E. Butler (1955) [mit Übers.].- C. Schaarschmidt, Joh. Saresb. (Lpz., 1862); C. C. J. Webb, J. o. S. (1932); H. Liebeschütz, Medieval Humanism in the Life and Writings of J. o. S. (1950).

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von ganz England". Auch unter Theobalds Nachfolger Decket behielt John die Vertrauensstellung und mußte England mit seinem Herrn verlassen, als dieser mit dem König in Streitigkeiten geriet. 1176 wurde er zum Bischof von Chartres erhoben, welches Amt er noch vier Jahre lang, bis 1180, verwalten konnte. Dies Leben kann als ein typisch mittelalterliches gelten: Es zeigt die Verknüpfung von stillem Studium und öffentlichem Leben, den raschen Wandel des Glücks und den familienartigen Zusammenhalt der Welt der Gebildeten. Von seinen Werken ist das in den Mußestunden einer sehr beschäftigten Zeit (1159) entstandene Metalogicon am leichtesten zugänglich wegen seiner autobiographischen Bezüge, der eingestreuten Charakteristiken seiner Lehrer und Freunde und der lichtvollen Darlegung der philosophischen Lage im 12. Jahrhundert. Der Titel soll „Verteidung der Logik" bedeuten, und um diesem Ziel gerecht zu werden, zog Johns Analyse erstmalig alle Schriften des aristotelischen Organon heran. Von diesem Standpunkt aus, der eine Würdigung der aristotelischen Argumente gegen Platos Ideenlehre verschaffte, war ein Eingreifen in die große Streitfrage Nominalismus-Realismus ermöglicht und damit die im 13. Jahrhundert nachhaltig einsetzende Beschäftigung mit den großen Philosophen eingeleitet. Anspruchsvoller in der Fülle und kunstvollen Verschlingung des Inhalts und im schweren rhetorischen Stil ist das Buch des Staatsmanns, Policraticus (1159), das sich in poetischem Vorwort und prosaischer Vorrede an Becket, den englischen Kanzler, wendet mit satirischer Warnung, philosophischem Hinweis und moralischem Rat. Das Buch ist ein an die höheren Kreise und gelehrten Stände gerichteter Weltspiegel, der ebenso von den Eitelkeiten, Leidenschaften und menschlichen Schwächen spricht wie von den Pflichten des Herrschers, den verschiedenen Seiten des Staatslebens, der geschichtlichen Entwicklung und der gesamten antiken und christlichen Philosophie. Das tiefe, gelehrte, freimütig geschriebene Buch hat eine der Ermüdung vorbeugende, aber das Studium zum Teil erschwerende Vielseitigkeit der Darbietung: Der belehrende Vortrag ist von Beispielen und Kritik unterbrochen, die Darstellung der Philosophie von Geschichten umrankt. Das entsprach dem Zeitstil, der weniger methodisch gearbeitete Begriffsentwicklungen liebte als eindringliche Sentenzen, deren Bedeutung verallgemeinernde Beispiele erhärteten. Noch mehr im Zeitstil ist die als Vorläufer und Entwurf des Policraticus aufzufassende metrische Dichtung Enthelicus (1157), die John als Meister in der üblich werdenden poetischen Philosophiedarstellung zeigt. Einer späteren Zeit ist dies Werk wertvoll durch die Sittenschilderung, die dem künftigen Primas Becket ein klares Bild über seinen Klerus gewähren soll, durch das humanistische Bekenntnis zu den klassischen Studien als Bildungsgrundlage und durch die weitblickende, vom christlichen Standpunkt aus gegebene Würdigung der antiken Philosophie. Die überragende Bedeutung Johns beleuchten schließlich seine Briefe, sowohl die im Namen Theobalds und Beckets abgefaßten öffentlichen Schreiben an die weltlichen und kirchlichen Großen,

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wie die persönlichen Briefe, die den klugen Ratgeber, den geschickten Unterhändler und den Freund offenbaren. Er hatte Ciceros Gabe, nicht nur den Geist, sondern auch seine Persönlichkeit mitteilen zu können; auch darum gebührt ihm der erste Platz unter den englischen Humanisten des Mittelalters. WALTER MAP, der wie Gerald walisisches Blut in sich hatte, war die lebendigste Persönlichkeit des Canterbury-Kreises. Er war um 1140 in Herefordshire geboren, hatte wie John in Paris studiert und römische Missionen gehabt, teilte aber nicht dessen Vorliebe für Frankreich. Obwohl Map zur Kirche gehörte - er war Kanonikus von St. Paul's (1176) und Archidiakon in Oxford (1197) und starb um 1210 in seiner Pfründe Westbury am Severn -, hat er stets über die Mönche gespottet. Wegen seiner Schlagfertigkeit und seines keltischen Witzes war er am Hof berühmt und in ganz England so volkstümlich, daß man ihm zahllose goliardische Gedichte zuschrieb. Von dieser sprühenden Persönlichkeit geben seine Geschichten und Anekdoten über geistliche und weltliche Fürsten, die er unter dem Titel De nugis curialiumn 1193 endgültig redigierte, nur einen schwachen Abglanz. Der Titel ist Johns Policraticus entnommen, mit einem Lächeln, denn es handelt sich nicht um eine systematische Überschau seiner Zeit, sondern um einen laufenden Kommentar zu zeitgenössischen Ereignissen und Persönlichkeiten, den zu lesen er für künftige Generationen nützlich glaubte. Die unterhaltsamen Geschichten sind so aufgezeichnet, wie sie am Hofe mündlich umliefen. Sie lesen sich heute noch gut, aber was an der Tafel, beim Wein, in die angeregte Unterhaltung eingestreut, ein glänzendes Feuerwerk war, zeigt, im Buch erstarrt, Mängel: das improvisiert Unsystematische, die Beziehung auf aktuelle Vorfälle und den Sprechton, der einen guten Erzähler voraussetzt. So zeigt das an Bedeutung der Persönlichkeit weit nachstehende Werk Maps gerade durch seine Schwächen die Lebensverbundenheit des damaligen Humanismus.

3. Englische Versdichtung Die Zahl der uns erhaltenen englisch geschriebenen Werke des 12. Jahrhunderts ist gegenüber den lateinisch und französisch geschriebenen gering. Diese Tatsache darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß wesentlich mehr früh-mittelenglische Texte entstanden als erhalten geblieben sind: Viele - insbesondere Lieder - wurden erst gar nicht schriftlich fixiert, andere gingen im Lauf der Jahrhunderte verloren.22 Das von dieser Literatur angesprochene Publikum war einfacher, aber in seiner Lebensauffassung ungleichartiger als das höfische und das humanisti21

ed. T. Wright, Camden Soc. (1850); ed. M. R. James (Oxf., 1914); Übers, von F. Tupperu. M. B. Ogle (l924). 22 Beispiele in: R. M. Wilson, The Lost Literature of Medieval England (21970).

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sehe. Es umfaßte den sozial heruntergedrückten Landbesitz ebenso wie das Bürgertum der aufsteigenden Städte, eine aufstrebende Laienschicht ebenso wie den niederen Klerus, Mönche und Nonnen. Dementsprechend war die Literatur vielgestaltig, sie wurde überdies uneinheitlich durch die Anpassung an praktische Alltagsbedürfnisse und durch das Fehlen einer sprachlichen Norm. Mit der Normannenherrschaft war das Ansehen der westsächsischen Skriptorien, deren Schreibung bis dahin als verbindlich galt, geschwunden; wer nun englisch schrieb, hatte keine andere Richtschnur als seinen eigenen Dialekt. Auch die sprachgeschichtlich nachweisbaren Dialektlandschaften: Norden, Mittelland, sächsischer und kentischer Süden sind durchaus nicht in sich einheitlich und erscheinen so vielgestaltig, daß fast jedes Werk sprachliches Einlesen verlangt. Das wohl älteste erhaltene mittelenglische Gedicht - die Beschreibung Durhams23 - wurde in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts verfaßt. Es steht in der Tradition des bereits aus der Antike bekannten 'encomium urbis', in dem die Vorzüge einer Stadt - hier: die zahlreichen Reliquien - gepriesen werden. Wir haben weiter die sog. Proverbs of Alfred,24 eine Alltagsbedürfnissen entsprechende Sprichwörtersammlung (ca. 1150), die religiöse Ermahnung, volkstümliche Lebensweisheit und herkömmlichen Aberglauben darbietet. Die Zuweisung der Sammlung an König Alfred ist sicher unberechtigt; das verwendete Material ist konventionell, wird jedoch lebendig und ansprechend präsentiert. Das verwendete Versmaß zeigt jene unregelmäßige Alliteration und Reimgebung, wie wir sie aus Lasamons Brut kennen. Ähnlich frühen Datums sind die Fragmente zweier Gedichte, die in Worcester von einem Schreiber erst spät - um 1200-20 - aufgezeichnet wurden: In einer Klage über die fremden Prälaten25 bedauert der Autor die Überfremdung des hohen englischen Klerus durch die von Wilhelm dem Eroberer eingesetzten Ausländer. Das zweite Gedicht dieser sog. Worcester Fragments ist eine Rede der Seele an den Leichnam26 die eindrucksvolle Passagen über die Vergänglichkeit des Menschen enthält. Das ungemein verbreitete und einflußreiche, wenn auch künstlerisch unbefriedigende Poema Morale21 (ca. 1170) ist ein Predigtgedicht, das in den Grundgedanken wie auch in der Tiefe und Wärme der Gesinnung an die Homilien der altenglischen Kirche erinnert. Es soll den Menschen im Geiste von den Mühen und Lasten dieser Welt zu seinem himmlischen Ziele im Jenseits führen. Es beginnt also mit der Lage des Menschen auf Erden (1-18), geht zur Ermahnung zum guten Lebenswandel über (19-38), gibt Hilfsmittel an, die zu Gott führen (39-74), führt Gott als den 'arbiter' am Lebensende vor (75-91) und legt die Prüfungen dar, die des Menschen am Ende harren [Lehre "Text u. Übers, in: R. Hamer, A Choice of Anglo-Saxon Verse (1970), S. 31ff. 24 ed. R. Morris, EETS 49; ed. O. Arngart (Lund, 1955). 25 edd. B. Dickins and R. M. Wilson in Early Middle English Texts (1951), S. 2. 26 ed. J. Hall in: Selections from Early Middle English 1130-1250 (Oxf., 1920). 27 ed. H. Marcus (Lpzg., 1934) [Palaestra].

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von den „vier letzten Dingen": Tod (92-156), Gericht (157-181), Hölle (182-300), Himmel (301-398)]. Dazwischen sind an verschiedenen Stellen moralische Ermahnungen eingestreut. Nicht der Inhalt, aber die Glied an Glied fügende logische Folgerung ist neu. Die germanische Tradition baute sprunghaft, nur die Höhepunkte betonend; hier ist die strenge Gliederung und der rhetorische Aufbau, den die Artes praedicandi des 12. Jahrhunderts fordern, z. B. Guibert von Nogent, Petrus Cantor, Honorius Augustodunensis u. a., und außerdem ist der Forderung nach einer zusammenhaltenden „Fabula"-Einkleidung Genüge getan (die Fahrt der Seele vom Lebensende durch die vier letzten Dinge hindurch). Wie die Predigt zu Ende des 12. Jahrhunderts zeichnet sich das Poema morale dadurch aus, daß es sich an alle Stände wendet und jedem einzelnen sein besonderes Maß an Pflicht Gott gegenüber nahelegt, so daß die niederen Stände weniger, die höheren Stände mehr Pflichten haben, die nur gewissenhaft erfüllt zu werden brauchen, um alle Menschen, gleich welchen Standes, das Jenseits erreichen zu lassen. Der neue Geist brachte einen neuen Stil mit sich. Statt der in germanischer Dichtung üblichen Komposita und Kenningar-Variation stehen hier die Tropen und Abstrakta des theologischen Lateins, und wenn dadurch der Stil auch dürftiger und blasser erscheint, so ist er auf der anderen Seite klarer, einfacher und ermöglicht einen geraden, gemessenen und nahezu modern anmutenden Satzbau. Am sinnfälligsten zeigt sich diese Wendung in der Metrik. Der stabreimende Vers ist aufgegeben, und der lateinische Septenar wird eingebürgert: Fünfzehnsilbler, durch Zäsur in Gruppen zu acht und sieben Silben zerlegt und durch zweisilbigen Endreim zu zweizeiligen Strophen gebunden. Das ergab eine von der germanischen unterschiedene, neue, wenn auch etwas eintönige Melodie, um so mehr als der eben aufkommende rhythmische Vers nur die Forderung gleicher Silbenzahl kannte und Unterschiede von Wortund Versakzent wenig beachtete. In dieser Beziehung sind die späteren, im Gefolge des Poema morale entstandenen Stücke Old Age, Death, Maximian, Saws of St. Bede,2* die auch kürzer gefaßt sind, künstlerisch befriedigender. Der machtvolle lateinische Vers war vorerst noch nicht die Regel, und daß das Empfinden für Melodie und eindrucksvolle Zusammendrängung in der landessprachigen Literatur noch um 1200 fehlte, zeigt der Koloß des Ormulum,29 einer zehntausend Verse umfassenden und auf den achtfachen Umfang geplanten Evangelienharmonie von der Verkündigung Mariae bis zur Apostelgeschichte. ORM wollte nur Dolmetscher des biblischen Kunstwerks sein, und so schrieb er eine klar verständliche und schmucklose, aber unsäglich breite und hölzerne Paraphrase des evangelischen Textes, gefolgt von einem noch breiteren Kommentar, der durch eine vierfache Schriftauslegung die Beziehung zur übersinnlichen Wirklichkeit herstellt. Orm wollte, wie Aelfric, die unwissenden Laien belehren, schrieb aber, wie das üblich war, in 28

Old Age in: Reliquiae Antiquae, edd. T. Wright and J. O. Halliwell, 2 Bde. (1845), II, 210; Maximian ibid. I, 119; Maximian u. Death in: C. Brown (s.S. 109, Anm. 13), Nr. 51 u. 29; Saws of St. Bede in: EETS 117, S. 765. 29 ed. R. Holt, 2 Bde. (Oxf., 1878).

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Versen. Er wählte den neuen Septenarvers, verwendete ihn aber ohne Reim, und das ist bezeichnend für sein ganzes Werk: Die neuen Werte kannte er noch nicht, er setzte aber auch die alte Tradition nicht fort, er hinkte ihr nur nach und steht etwas hilflos zwischen den Zeiten. Aber die Sprachgeschichte weiß ihm Dank für das sorgfältige, eine Lautschrift anstrebende Manuskript seines Werkes. Die Überlieferung mittelenglischer LYRIK setzt im 12. Jahrhundert sehr spärlich ein: Von den insgesamt ca. 3000 erhaltenen lyrischen Gedichten etwa 2000 religiöse und 1000 säkulare Texte - stammt nur eine Handvoll aus dieser frühen Zeit.30 Diese Beobachtung sollte jedoch nicht zu der - häufig anzutreffenden - Annahme verleiten, in jenem Zeitraum seien fast keine Lieder und lyrischen Gedichte in englischer Sprache entstanden. Es sind zahlreiche Äußerungen zeitgenössischer Autoren - und auch Zitate aus lyrischen Texten - erhalten, die den Schluß zulassen, daß bereits in jener früh-mittelenglischen Zeit viele Lieder im Umlauf waren, die allerdings nur in seltenen Fällen von den durchweg geistlichen Schreibern aufgezeichnet wurden. So ist es nicht verwunderlich, daß die wenigen erhaltenen Texte des 12. Jahrhunderts fast ausnahmslos religiöse Lieder sind. Von dem Einsiedler Godric (~f 1170) sind Text und Musik dreier kurzer religiöser Lieder erhalten.31 Zumindest der acht Verse umfassende Cantus Godrici de S. Maria kann als vollständig gelten, während die anderen - an St. Nikolaus und Maria - gerichteten Lieder (4 bzw. 2 Verse umfassend) vielleicht Fragmente sind. Bei aller Kürze und Einfachheit ist der Cantus de S. Maria aufgrund seiner klaren, einprägsamen Struktur nicht ohne Reiz. In seiner Vita, passio et miracula S. Thomae (1172-74) hat William von Canterbury, ein Vertrauter Thomas Beckets und Augenzeuge von dessen Ermordung (l 170), eine englische Antiphon aufgezeichnet, die an Thomas Becket gerichtet ist.32 Es hat den Anschein, daß dieser argumentativ angelegte Text die Kanonisierung Beckets (1173) beschleunigen sollte. Während dieses Lied in der Forschung kaum beachtet wurde, wird Cnut's Song33 in jedem Handbuch erwähnt - jene englischen Verse, die in der Chronik Liber Eliensis überliefert sind. Der Chronist schreibt dieses Lied, von dem er leider nur die ersten vier Verse zitiert, - wohl zu Unrecht - König Knut (1017-35) zu, immerhin ist es wohl das früheste erhaltene mittelenglische Lied (ca. 1150). Höhepunkt früh-mittelenglischer Dichtung ist LASAMON. Sein um 1200 anzusetzender, über 16000 Langzeilen umfassender Brut33a stellt nicht einfach 30

Zur Textüberlieferung mittelengl. Lyrik vgl. T. Stemmler, Mannheimer Berichte 15 (1977), S. 409ff. 31 ed. J. Hall (s. Anm. 26); edd. [mit Musik] E. J. Dobson and F. L. Harrison, Medieval English Songs (1979), Nr. 1-3. 32 ed. C. Brown (s. S. 105, Anm. 10), Nr. 42. 33 ed. R. M. Wilson, The Lost Literature of Medieval England (21970), S. 159. 33a edd. G. L. Brook and R. F. Leslie, 3 Bde., EETS 250, 277 (1963 ff., i. E.); Auswahl, ed. J. Hall (Oxf., 1924); ed. G. L. Brook (1963). Übers, zus. mit Wace in EL.

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eine Übertragung Waces (s. S. 82) in mittelenglische Verse dar. In welcher Richtung Lajamon änderte, verrät schon äußerlich die Rückkehr vom Waceschen Achtsilbler-Reimpaar zum germanischen, wenn auch von der Reimtechnik stark berührten und sehr unregelmäßig alliterierenden Stabvers. Bezeichnend ist auch das Bemühen Lajamons, sein Vokabular von französischen Lehnwörtern freizuhalten: Insgesamt verwendet er lediglich 150 Wörter romanischer Herkunft. In gewissem Sinne machte Lajamon die Entwicklung von Geoffrey zu Wace wieder rückgängig. Er ist weniger höfisch als heroisch: Krieg und Kampf, die Laufbahn eines angelsächsischen Führers, das Leben in Wald und Feld fesseln ihn mehr als die Feinheiten eines normannischen Hofes. Sein Arthur, der eigentliche Held, von dem nahezu ein Drittel der von Brutus' Ankunft bis Cadwalader (689) reichenden Verschronik handelt, ist ein grimmiger, wilder Krieger, den die Feinde fürchten, die eigenen Leute fürchtend lieben. Schon als fünfzehnjähriger König hat er gegen Aufrührer zu kämpfen, gegen Schotten, Pikten und Sachsen. Immer wieder entfesseln Verrat und heimtückische Überfälle neue Kriege; so entsteht ein heidnischer Aufruhr, als er im Norden die Orkney-Inseln und Norwegen unterwirft. Aber gewappnet mit seinem das Bild der Jungfrau tragenden Schild und dem von Elfen verfertigten Schwert Caliburn, erringt er den Sieg von Bath. Nach der Unterwerfung Schottlands läßt er die zerstörten Kirchen in York wiederherstellen, schafft gerechten Frieden und verleiht Teile des Landes an seiner Schwester Gatten und Söhne. Dann vermählt er sich in Cornwall mit Wenhaver, doch wiederum nimmt ihn das Kriegsgeschehen ganz in Anspruch, Irland, Island, Gotland werden unterworfen. Dänemark wird einbezogen und Frankreich in einem großen Kampf mit Frollo erobert. Abwechselnd in Frankreich und in England hält er seinen Hof mit der berühmten runden Tafel, an der alle seine Ritter Platz finden. Dann kommt die Herausforderung Roms: Das Reich in der Obhut Wenhavers und seines Schwestersohns Modred lassend, zieht Arthur siegreich auf Rom zu. Aber die Nachricht von seiner Gattin Ehebruch und Modreds Machtergreifung ruft ihn zurück. Winchester und Cornwall werden erobert, der Verräter erschlagen, die Königin entsagt der Welt und geht ins Kloster. Arthur, zu Tode verwundet, übergibt sein Reich an Konstantin, den Sohn Cadors. Fast durchweg also Kampf und Krieg, nur die Geschichte von Arthurs Geburt und Tod ist weicher dargestellt. Merlins Zauber fügte seine Eltern Uther und Ygaerne zusammen, und Feen verliehen dem Kinde Reichtum, langes Leben und fürstliche Tugenden unter den Menschen. Und zur Königin der Feen, zu Argante nach Avalen will der Todwunde, um dort Heilung zu finden; ein Zauberboot mit zwei königlichen Frauen führt ihn hin, von wo er einst wiederkehren wird, sein Reich in Herrlichkeit zu erneuern. Das bewegte Geschehen ist bewegt erzählt. Entsprechend fehlt die reizvolle Kleinbildkunst Waces bei Lajamon, dazu mangelt ihm die abgerückte Ruhe; er arbeitete zu sehr empfindungsmäßig, er dichtete die Geschichte nicht von außen, er erlebte sie, und in leidenschaftlich gespannter Lage sprechen seine Figuren in Wendungen, die nie bei Wace zu finden sind. Der Dichter will

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mehr auf Einbildungskraft und Gefühl wirken als auf abgeklärtes Schönheitsempfinden und Verstand. Das erinnert an die Gesinnung altenglischer Dichtung, an die Vers wie Wortgebung anklingen. Die häufigen Naturvergleiche, besonders Meer, Sturm, Berge, Wälder, Tiere, haben meist keine Entsprechung bei Wace; Lajamons Vergleiche wollen etwas anderes: nicht Anschauung, sondern Eindruck - auch das ein Wiederwachrufen altenglischer Dichtart. Aber Lajamon darf nicht nur als rückwärtsgewandter Dichter gewertet werden, seine Dichtung brachte etwas ganz Neues, demgegenüber alle frühere Dichtung und auch seine Vorlagen Wace und Geoffrey altertümlich erscheinen mußten: die Märchenatmosphäre. Dem Tatsachen liebenden, klar denkenden Normannen Wace lag das nicht, deshalb nannte er sich selbst einen Toren, weil er den Zauberbrunnen im Walde Broceliande finden wollte. Bei Lajamon dagegen verblüfft ein Phantasiebild nach dem anderen, und sein Bericht von Arthurs Tod ist darum von ewiger Gültigkeit. Das Wunderbare, das Lasamon in seine Dichtung hineinwob, hat wenig zu tun mit dem Zauberwerk verhexter Wälder und Schlösser, es ist ein keltisch-walisischen Geschichten verpflichtetes Phantasiegut, das Ausblicke eröffnet in ein Reich des Ahnungsvollen, das Menschentum mit Übermenschlichem verknüpft. Und da dieser Lasamon, von dessen Leben wir nicht mehr wissen, als daß er Priester war und in King's Areley (Worcestershire) lebte, der Welt des Wunders durch Ansprüche der Wirklichkeit ihr Gegengewicht gab, da er Verständnis für jede Seite menschlichen Lebens und Handelns besaß, so ist sein Werk viel mehr als eine Übersetzung des Wace, der den allgemeinen Bau der Geschichte lieferte: Es ist die größte epische Leistung zwischen Beowulf und Chaucer, ein Ansatz zu einer eigenen englischen Form des Versromans, der allerdings vereinzelt blieb und von der modischen französischen Form überwuchert wurde.

4. Religiöse englische Prosa Die altenglische religiöse Prosa bestand fort in Predigt und Erbauungstraktat,34 auch in normannischen Klöstern wurden die altenglischen Prosawerke immer wieder abgeschrieben, und die umfassenden Predigtsammlungen35 - die sog. Bodley-, Lambeth- und Trinity-Homilies, sowie die etwas späteren Cotton Vespasian und Kentish Homilies - sind ohne Aelfric und andere Muster vornormannischer Zeit nicht denkbar, wenn auch die beim Poema morale erwähnten neuen Predigtanleitungen ihren ordnenden Einfluß hinzugeben. So ist die Exegese meist gründlich, nimmt aber wenig Bezug auf zeitgenössische Verhältnisse. Exempla sind selten, dafür findet sich allerhand seltsamer Stoff wie das im Mittelalter beliebte Thema von Paulus' Höllenfahrt und die 34

G. R. Owst, Literature and Pulpit in Medieval England (Oxf., 21961). "Editionen: Bodley, EETS 137; Lambeth, EETS 29; Trinity, EETS 53, Cotton, EETS 34; Kentish, EETS 49.

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Krötenfabel (Lambeth). Oft ist der Ton warm und eindringlich, aber nie heftig; die Trinity Homilies neigen gelegentlich zu gesuchten Haarspaltereien, und dort finden sich auch ein paar Entlehnungen aus den Bestiarien. Oft, insbesondere in den Kentish Sermons, ist ein allgemeiner Plan streng durchgeführt: Evangelium, Erklärung, Ermahnung; manchmal, wie in den Trinity Homilies, fehlt ein solcher Plan. Überall aber spürt man eine machtvolle Prosatradition, die kaum je vom Latein überschattet ist, wofür die Cotton Vespasian-Sammlung die besten Beispiele bietet (vgl. die Aelfric-Bearbeitung De initio creaturae und die Anselmparaphrase An bispel). Der Predigt nahestehend ist der Erbauungstraktat The history of the Holy Rood Tree36 (Mitte des 12. Jahrhunderts), der die Kreuzesgeschichte von Moses bis Konstantin erzählt, und die Debatte The Vices and Virtues?1 der erste mittelenglische Dialog zwischen Seele und Vernunft, zwar ohne geschlossene Komposition, aber in würdevoller Prosa. Die Höhe prosaischer Kunst ist in der sog. Katharinengruppe zu sehen, die neben den drei Heiligenleben Seinte Kathenne, Seinte Marherete, Seinte Juliane die Traktate Halt Meidenhad und Sawles Warde umfaßt.38 Die Texte dieser Gruppe weisen starke Ähnlichkeiten in Dialekt und Stil auf, entstanden etwa zur gleichen Zeit und sind in den Handschriften zusammen überliefert; sie stammen alle aus dem Westen oder Südwesten Englands, der dem skandinavischen und normannischen Einfluß wohl am wenigsten ausgesetzt war und daher für die Bewahrung englischer Sprache und Literatur besonders wichtig wurde (vgl. oben Lajamon und die Worcester Fragments). Die drei Heiligenleben, die wohl kurz nach 1200 entstanden sind - wie auch das Thema von der Kraft des Glaubens und der Macht der Jungfräulichkeit die kommende Spiritualisierung des 13. Jahrhunderts vordeutet -, zeigen das Vordringen der Einzellegende gegenüber der Homilie. Ihre von Begeisterung getragene Sprache, die Orm gegenüber reich und farbig erscheint, erinnert an die alte Zeit der Dichtung, die auch in der rhythmischen alliterierenden Prosa nachklingt. Dasselbe gilt für die prächtige Sprache der Halt Meidenhad?9 deren Thema durch das düster gemalte Gegenbild der Ehe das Magdtum noch stärker hervorhebt und in der Forderung der mystischen Heirat mit Christus Marienkult und Askese bereits anklingen läßt. Die abschreckende Darstellung des ehelichen Alltags läßt an drastischem Realismus nichts zu wünschen übrig und bewog den Herausgeber der modernen Erstausgabe, die entsprechenden Passagen ins Lateinische zu übersetzen. 36

EETS 103. EETS 89, 159. 38 Editionen: Katherine, EETS 80; Juliane, ed. S. T. R. O. d'Ardenne (Liege, 1936) und EETS 248 (1961); Marherete, EETS 193; Facsimile of Ms. Bodley 34 (Katherine, Marherete, Juliana, Mali Meibhad, Sawles Warde), ed. N. R. Ker, EETS 247 (1960).Zu den Legenden vgl. G. H. Gerould, Saints' Legends (Boston, 1916); T. Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters (Tübingen, 1964). 39 ed. A. F. Colborn (Copenhagen, 1940). 37

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Mit welcher Selbständigkeit die in gleicher Weise auf Buchsprache und lebendem Idiom beruhende, in fester Tradition gegründete Prosa auch einem berühmten lateinischen Vorbild gegenübertrat, zeigt die mittelländische Umarbeitung von Hugo von St. Victors De anima (die kentische Fassung ist kaum mehr als eine Übersetzung). Unter dem Namen Sawles Warde (Seelenhut) wird die Verteidigung der als Schatz in einem Hause vorgestellten menschlichen Seele gegen das einen Eingang suchende Laster dargestellt. Der als Hausherr gedachte menschliche Verstand kann sich schwer behaupten gegenüber der Frau (dem Willen) und den ihr dienenden fünf Sinnen, bis die von den Kardinaltugenden eingelassenen Boten „Furcht" und „Liebe" durch die Schilderung der Schrecken der Hölle und der Glückseligkeit des Himmels den Haushalt eines Besseren belehren. Der erzählende Teil ist knapp, ohne Abschweifungen, überaus anschaulich. Der mystische Teil, die Beschreibung des Himmels und die selige Vision, erinnert geradezu an Dante. Die Prosa ist eine großartige Weiterbildung von Aelfric, sie wahrt die Größe der lateinischen Vorlage und übertrifft sie an leidenschaftlichem Ausdruck. Das Stück ist zu kurz, um die Bedeutung der Ancrene Riwle40 zu haben, deren gleichwertige sprachliche Gestaltungskraft die leidenschaftlich beredte Prosa der Sawles Warde in empfindungsmäßig milderem, verstandesmäßig ausgeglichenerem Lichte zeigt. Diese Anachoretinnen-Regel (um 1220), deren spätere, für einen breiteren Kreis ausgeweitete Fassung unter dem Titel Ancrene Wisse geht (1230), ist als Erbauungsbuch für drei höfische Damen geschrieben, die sich in klösterliche Einsiedelei zurückgezogen hatten. In der schlichten Verständigkeit und in der zarten und lieblichen Ausführung der Gottesminne ist es eines der schönsten Erbauungsbücher der Zeit. Schreibt der Verfasser schon in den belehrenden Teilen eine stärkere Prosa als Aelfric, so erreicht er eine damals einzigartige Höhe in der kraftvoll plastischen Beschreibung der Sünder und in dem Gleichnis, wie Christus die Liebe der Menschenseele zu gewinnen sucht. In Gestalt eines mächtigen Königs eilt er einer armen, von den Feinden hart bedrängten Burgjungfrau zu Hilfe, überhäuft sie mit Wohltaten, wirbt um sie und, ungeschreckt durch ihre Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit, bringt er ihr sein Leben zum Opfer. Gerade dieses Thema der Gottesminne und seine Behandlung zeigt die Schulung durch französische und lateinische Werke, ist aber selbständig in die englische Sprache umgedacht. Hier war der neue Stil völlig gemeistert und erwies sich einflußreicher als die nur wenigen zugängliche mystische Inbrunst der Seelenhut. Dieser wohl eindrucksvollste mittelenglische Prosatext vor Malory erlangte rasch große Beliebheit, wurde ins Lateinische und Französische übersetzt und ist in elf Handschriften erhalten. 40

ed. M. Day, EETS 225; weitere Hss., EETS 229, 232, 252, 267, 274; Ancrene Wisse, ed. J. R. R. Tolkien, EETS 249; Auswahl, ed. G. Shepherd (1959); Übers, von M. B. Salu (1955).- Vgl. J. R. R. Tolkien in: Essays and Studies 14 (1928), S. 104-26; E. J. Dobson, The Origins of 'Ancrene Wisse' (Oxf., 1976); L. Georgianna, The Solitary Self (Cambr., Mass., 1981). - Edition der latein. u. französ. Texte, EETS 216 und 219 (1944).

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I I I . DAS 13. J A H R H U N D E R T 1. Der Verfall des Humanismus und die Historiographie Die Kultur des 13. Jahrhunderts war scholastisch und bürgerlich. Da die Höfe nicht mehr literarische Mittelpunkte waren, wurde der Versroman verbürgerlicht, die kurze Erzählung trat in den Vordergrund, und die lehrhafte Allegorie blühte. Es war ein Zeitalter der Tatsachensammlung, der Enzyklopädien und gelehrten Werke. Daher entsprechen die festen Universitätgründungen, im Gegensatz zu den regelloseren Schulen des 12. Jahrhunderts, dem Geiste des 13. Jahrhunderts. Die gleiche Zeit, die die höfischen Romane auf die Ebene der Fabliaux herunterzerrte, die utilitaristisch und praktisch die Tatsachenwelt zu meistern sich unterfing, führte auch zu einer festen Naturwissenschaft mit kühner mathematischer Spekulation. Da die Humanisten diese neuen Inhalte sich nicht zu eigen machten, wurde ihre Tätigkeit zu einem Sammeln. Der Lehrer Roger Bacons, John Garland1 (1180-1258), verfaßte ein lateinisches Vokabular, ein Compendium grammaticae und ein Accentuarium für seine Schüler. Auch seine Dichtungen haben diesen Charakter (Poetria de arte prosaica und Exempla honestae vitae) oder befassen sich mit rein kirchlichen Dingen (De mysteriis ecclesiae und De tnumphis ecclesiae) und ersetzen Mängel der metrischen Form und des Aufbaus durch Kunststücke wie die vor- und rückwärts lesbaren 'versus retrogradi'. Nur ein Humanist, der einzige dem 12. Jahrhundert ebenbürtige, suchte auch inhaltlich die neue Zeit zum Ausdruck zu bringen: ALEXANDER NECKHAM (1157-1217), der zusammen mit John Garland als repräsentativer Gelehrter und Dichter Englands im 13. Jahrhundert gelten muß. Sein vielfach epigonenhafte Züge aufweisendes und z. T. noch ungedrucktes Werk, das weitgehend Sammelarbeit ist, gipfelt in prosaischen und poetischen naturwissenschaftlichen Summen. Ausgehend von der Schöpfungsgeschichte, spricht er in dem Prosawerk De naturis rerum von Fixsternen und Planeten, über Luft, Tiere und Metalle unter jeweiliger Einflechtung von Geschichten und moralisch-allegorischer Deutung. Dann folgt ein Kapitel über die freien Künste, über die Hauptstätten ihres Studiums, über die Klassen der Gesellschaft, den Hof und die menschlichen Eitelkeiten. Ein Handbuch des Wissenswerten also, das weitgehend zu einem volkstümlichen Handbuch der Naturwissenschaft wurde. Noch mehr ist das der Fall bei dem in Distichen abgefaßten Laus divinae sapientiae (1211), das geradezu Abrisse der Sternkunde, der Physik, der Geographie, Geologie und Botanik darbietet. Daß Alexander dieser stofflichen Vermehrung zuliebe die das Prosawerk so lesbar machenden beispielhaften Geschichten wegfallen ließ, betont seine ungewöhnlich ernsten wissenschaftlichen Bestrebungen. 1

Compendium, ed. D. Guerri (1911); Poetria in: Romanische Forschungen 13 (1902); Exempla, ibid. 29 (1911); De mysteriis, ed. F. W. Otto (1842); De tnumphis, ed. T. Wright (1856).

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Aber außer Neckham hat keiner der Humanisten dieses Neuland berührt. 2 Wohin die Richtung geht, zeigt später RICHARD DE (1287-1345), ein hoher Herr, der Gesandter beim Papst, Bischof von Durham und Großkanzler des Reichs war. Er ist berühmt wegen seiner Abhandlung über die Bücherliebhaberei (Philobiblon); seine Biographen berichten von ihm, er habe mehr Bücher besessen als alle anderen Bischöfe Englands zusammen, seine Besucher seien über die am Boden verstreuten Bücher gestolpert. Mit dem alten Humanismus, der an der Chartresschule blühte, hatte er nichts mehr zu tun; das Schöngeistige berührte ihn nicht, und wenn er auch Cicero, Livius und die Dichter kannte, er war nicht begeistert für sie. Er brüstete sich, „in der leichten Art der Modernen" zu schreiben, in Wirklichkeit hatte er nichts von dem leichten Fluß eines John von Salisbury, sein Stil wirkt rhetorisch überladen und steif durch die vielen Bibelzitate und Anspielungen. Petrarca, der ihn traf und seinesgleichen zu finden hoffte, wurde enttäuscht. Richard war nur ein mittelmäßiger Gelehrter, ein Sammler und Antiquitätenkrämer. Den umfassenden Humanismus, den John von Salisbury verkörperte, gab es nicht mehr. Sofern die Humanisten nicht völlig zu Theologen und Philosophen wurden, hielten sie nur noch einige Bereiche, die später von der Landessprache erobert wurden, wie die Historiographie, deren Tradition ununterbrochen über die Jahrhundertschwelle hinübergeht. Insbesondere setzten die Klöster die Chronistentätigkeit fort; an der Spitze stand St. Albans, wo der Abt Simon zu Ende des 12. Jahrhunderts einen regelrechten Historiographenposten geschaffen hatte. Nach dem ersten Inhaber Roger von Wendover, der eine Weltgeschichte Flores Historiarum3 zusammenstellte, übernahm 1236 MATTHEW PARIS* (ca. 1195-1259) die Stelle. Er war der erste Historiker seiner Zeit und ein Mann, der am Hofe ebenso zu Hause war wie im Kloster. Seine Ehrlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Leidenschaft für die geschichtsschreibende Kunst erinnern an William von Malmesbury; wenn der König oder die Großen des Reichs im Refektorium mit dem Abt sprachen, lauschte der Mönch ihren Beratungen und lernte so, die Worte der Hauptakteure im weltgeschichtlichen Spiel für seine Chronik zu verwenden. Bald durfte er selber mitsprechen, und eine im Auftrag von Innozenz IV. ausgeführte Mission nach Norwegen zu König Hakon (1248-49) gab ihm noch die Welterfahrung des gereisten Mannes. So wurde seine Chronik, die er Chronica Majora nannte, und aus der er später einen umgearbeiteten Auszug als Historia Minor veröffentlichte, mehr als orts- oder landesgeschichtliche Annalen. Durch Gespräche, durch eine Schar von Korrespondenten, durch unsagbare Mühe im Aufstö2

Philobiblon, ed. E. C. Thomas (1888, mit Übers.); ed. A. Taylor (Berkeley, 1948).Über R. B. vgl. J. de Ghellinck in: Revue d'Histoire Ecclesiastique 18 (1922), 271ff., 19 (1923), 157ff. 3 ed. H. G. Hewlett, 3 Bde., RS (1886-89). 4 Chronica, ed. H. R. Luard, 7 Bde., RS (1872-80); Historia, ed. F. Madden, 3 Bde., RS (1866-69); Übers, von J. A. Giles in Bonn's Library (1852); Vitae Abbatum in: Gesta Abbatum S. Albani, ed. H. T. Riley, RS (1867).- R. Vaughan, M. P. (Cambr., 1958).

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bern von Quellen wurde sein Stoff zugleich gesiebt und vielfältig, und das Interesse für Sitten, der Nachdruck auf auswärtige Politik sowie die Liebe für Schlaglichter werfende Anekdoten erweiterten den herkömmlichen Rahmen der Chronik. Englisch in der Haltung, weltbürgerlich im Ausblick, meisterhaft in der Anordnung des Stoffes, dabei an Kraft und Klarheit des Ausdrucks allen voran, lesen sich die sieben stattlichen Bände seiner Chronik, als ob das bunte Geschehen der Zeit vor unseren Augen sich abspielte. So ist es begreiflich, daß Matthews Werk von späteren Historiographen von St. Albans stets fortgesetzt wurde, u. a. von Thomas Walsingham von 1377-1422. Aber nach Matthew ging es bergab mit der historiographischen Kunst in England. Während in Frankreich landessprachige Autoren wie Villehardouin und Joinville die Kunst von den lateinischen Chronisten übernahmen, geschah in England nichts dergleichen. Die einzige englisch geschriebene Verschronik aus dem 13. Jahrhundert ist die von mehreren Mönchen aus Gloucester, u. a. ROBERT VON GLOUCESTER,5 immer wieder überarbeitete und fortgeführte - nach 200 Jahren Unterbrechung ein Wiederanfangen der Geschichtsschreibung in englischer Sprache von demselben englischen Gesichtspunkt aus, der einst die Sachsenchronik kennzeichnete. Allerdings kann diese in mehr als 12000 Versen erzählte Geschichte Britanniens vom Trojanischen Krieg bis zum Ende der Regierungszeit Heinrichs III. den Vergleich mit den lateinischen Historiographen nicht aufnehmen. Die Verfasser, die zwar den Willen zur Wahrheit hatten und auch allerlei Quellen heranholten, blieben Kompilatoren. Sie sind aber auch keine Dichter: Die paarweise gereimten, etwas holprigen Vierzehnsilbler mit Mittelzäsur, die der geistlichen Dichtung verpflichtet sind, haben ebensowenig dichterischen Wert, wie die zwar aufrichtige, aber unbedeutende Zusammenreimung aller Dinge, die der Verfasser in England schöner findet als anderswo.

2. Theologie und Philosophie Fehlten dem 13. Jahrhundert die überragenden humanistischen Werke des 12., so zeitigte es dafür die großen philosophischen Konstruktionen und Synthesen. Die von den berühmtesten Namen versuchte Aufgabe, einen Blickpunkt zu gewinnen, von dem aus alle verstandesmäßigen Erkenntnisse und alle geoffenbarten Glaubenstatsachen sich als die Bestandteile eines einzigen Systems begreifen ließen, ist von einem Deutschen und einem Italiener, den Dominikanern Albertus Magnus und Thomas Aquinas, erfüllt worden, und zwar im Lichte der im 13. Jahrhundert in den Vordergrund tretenden aristotelischen Philosophie. Dieser Nachweis der Wahrheit christlicher Lehre aus den Prinzipien der Weltweisheit ließ den früher von der Kirche bekämpften Aristoteles als Rechtfertiger des Dogmas erscheinen und führte zum 1

ed. W. A. Wright, RS (1887).

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Triumph des thomistischen Aristotelismus und zur Vormachtstellung der Universität Paris, an der Thomas lehrte. Denn die päpstliche Politik, die die Universitätsstudien nur so weit zulassen wollte, als sie die kirchliche Autorität stützten, und die demnach Paris abwechselnd Förderung und Hemmung hatte zuteil werden lassen, machte nun mit der Einsetzung der Dominikaner die Universität Paris zum Mittelpunkt aller theologischen Studien. In diesem Augenblick traten die Schulen von Chartres völlig ins Dunkel zurück. Damit begann aber der Anteil Englands an der Philosophie des 13. Jahrhunderts, denn die abseitige Lage des englischen Bildungszentrums hatte Oxford die päpstliche goldene Gefangenschaft, in der sich Paris befand, erspart. Die vor Thomas gültige augustinische Schulung von Chartres mit ihrer platonischen Philosophie und der Betonung von Mathematik und Naturwissenschaft wurde nun von den Oxforder akademischen Lehrern fortgeführt. Ihr bedeutendster, ALEXANDER VON HALES (ca. 1185-1245), schuf mit seiner großen, nach dem methodischen Vorbild von Abaelards 'Sie et Non' gebauten Summa Theohgiae6 die Voraussetzungen für seines Schülers Bonaventura neuen Augustinismus. Diese Lehre wurde dann von anderen Franziskanern, insbesondere Roger von Marston und Richard von Middleton, weiter ausgeführt und schärfer gefaßt und als amtliche franziskanische Philosophie der amtlichen dominikanischen des Aristotelismus entgegengestellt. Da diese Oxforder Richtung bereits vor dem Einbruch des Thomismus gefestigt war, trat keine völlige Umwälzung ein. Während die rein dialektische und aristotelische Pariser Philosophie zeitweilig nur mit dem Thomismus beschäftigt war, bestanden in Oxford humanistische, platonische, mathematische und aus den arabischen Schriften gelernte naturwissenschaftliche Bestrebungen weiter fort. Der erste große Vertreter dieser Oxforder Schule mit ihren vielseitigen Richtungen war ROBERT GROSSETESTE7 (ca. 1175-1253), der spätere Bischof von Lincoln, der 1224 Rektor der ersten Franziskanerschule in Oxford war. Im Gegensatz zu Paris, das das aristotelische logische Rüstzeug mehr zur Systematisierung des Dogmas benutzte, stellte die Oxforder Schule auch Mathematik und Physik in den Dienst der Religion; und da infolge der erwähnten teilnahmslosen Haltung der Päpste die Art, wie in Oxford die Wissenschaften der Theologie untergeordnet wurden, freier war - trotz des Paris nicht nachstehenden religiösen Eifers - so trat, vom mittelalterlichen Standpunkt aus gesehen, im Oxforder Aristotelesbild der Metaphysiker hinter dem Empiriker zurück. So ergab es sich, daß zur selben Zeit, als in Paris der thomistische Aristotelismus triumphierte, Oxford Nachdruck auf das Quadrivium legte und damit die Grundlagen für den occamistischen Empirismus schuf, der dann im 14. Jahrhundert den Thomismus von Paris erschüttern sollte. 6 7

2 Bde., ed. von den Franziskanern (Quaracchi, 1924-1948). Philos. Werke, ed. L. Baur (Münster, 1912).- F. S. Stevenson, R. G. (1899); L. Baur, Die Philos. des R. G. (Münster, 1917); R. G.: Scholar and Bishop. Essays... 7th Centenary of his Death, ed. D. A. Callus (Oxf., 1955); S. H. Thomson, The Writings of R. G. (Cambr., 1940).

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Grosseteste stand am Anfang dieser Entwicklung; zu der von ihm betonten mathematischen Voraussetzung, unter der alle Zweige des Vierwegs verstanden sind, fügte sein Schüler ROGER BACON® (ca. 1214 - ca. 1292) als zweite, wichtigere die Erfahrung. Mit seinem in 15 Monaten geschriebenen Riesenwerk Opus majus, von dem er später ein umgearbeitetes Summarium im Opus minus vorlegte, und zu denen er das Opus tertium als Einleitung hinzufügte, gab er ein Sammelwerk der naturwissenschaftlichen Tatsachen, das eine spätere Zeit als Anfang der experimentellen Naturwissenschaft wertete. Es ist ein einzigartiger Versuch, eine Scholastik zu denken, die auf einer gänzlich neuen Wissenschaft gegründet, dem aristotelischen Einfluß enthoben und nur durch Erfahrung und Vernunft zu rechtfertigen ist. Roger wie auch Albertus und Thomas hatten gewisse Glaubenstatsachen als nicht weiter beweisbar dem Bereich der Philosophie entrückt. DUNS ScoTus9 (ca. 1266-1308) tut den weiteren Schritt, daß er sich nicht mehr mit der Scheidung des der Vernunft Zugänglichen und des der Offenbarung Vorbehaltenen begnügt, sondern innerhalb des dem Verstand zugewiesenen Bereichs nur die a priori-demonstratio von Ursache auf Wirkung zuläßt, nicht die umgekehrte a posteriori von Wirkung auf Ursache. Da nun alle Gottesbeweise nur von der letzten Art sein können, so sind sie nach Duns nur relative Beweise, sie scheiden aus der Philosophie aus und werden der Theologie zugewiesen, die als Zufluchtsort aller nicht beweisbaren Thesen ihren Rang als spekulative Wissenschaft einbüßt. Dieser Gegensatz zum Thomismus wird weiter verstärkt durch den Indeterminismus der Dunsschen Willenslehre. Das von diesen englischen Franziskanern mit aristotelischem Material errichtete Lehrgebäude ist das erste Beispiel des kritischen Geistes, der dann die Philosophie des 14. Jahrhunderts kennzeichnen sollte und kraft dessen Oxford Paris überflügelte. 3. Religiöse Lyrik10 Die alle geistigen Äußerungen des 13. Jahrhunderts kennzeichnende Erneuerung des religiösen Lebens geht in erster Linie von den Bettelorden aus, die bald nach ihrer Gründung auch in England Fuß faßten: die Dominikaner 8

Opus majus, ed. J. H. Bridges, 3 Bde. (Oxf., 1897-1900); Übers, von R. B. Burke, 2 Bde. (Philad., 1928); Opus minus und Opus tertium, ed. J. S. Brewer: Opera inedita', RS (1859).- E. Westacott, R. B. (1953). 9 ed. L. Wadding, 12 Bde. (Paris, 21891-95).- E. Gilson, D. S. (Paris, 1952). 10 Ein vollständiges Verzeichnis mittelenglischer Dichtung: C. Brown and R. H. Robbins, Index of Middle English Verse (N. ., 1943); Supplement to the Index (Lexington, 1965).- Gute Auswahl relig. und weltl. Lyrik in: E. K. Chambers and F. Sidgwick, Early English Lyrics (1907; repr. 1966) [mit Einführung]; R. T. Davies, Medieval English Lyrics (1963); C. and K. Sisam, The Oxford Book of Medieval English Verse (Oxf., 1970); T. Silverstein, Medieval English Lyrics (1971). Grundlegende Textsammlung: English Lyrics of the 13th Century, ed. C. Brown (Oxf., 1932) [angeführt als "Br." mit der Nummer des Gedichts]; E. J. Dobson and F. L. Harrison, Medieval English Songs (1979) [Text u. Musik; angeführt als "D- " mit der Nummer des Liedes]. Einzelnes aus: Religious Lyrics of the 14th Century, ed. C. Brown (Oxf., 21952) [angeführt als "Br. 14" mit der Nummer des Gedichts].- R. Woolf, The

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oder Black Friars 1221 in Oxford und 1274 in Cambridge, die Franziskaner oder Grey Friars 1224 in Oxford und Cambridge. Man kann geradezu sagen, daß alle Andachtspoesie, die im 13. Jahrhundert in England im Lateinischen und in der Landessprache aufblühte, in der franziskanischen Religiosität wurzelt, in dem grenzenlosen Mitempfinden mit dem leidenden Christus, das zugleich ein Quell der Liebe ist zu allen atmenden und leidenden Geschöpfen. Christus ist nicht mehr der heroische Erlöser und allwissende Logos, sondern der Schmerzensmann, der Sohn Marias; und die Kreuzessymbolik ist nicht mehr erhaben und göttlich, sondern persönlich, stechend, voller Angst. Aus dieser in der bildenden Kunst zu überwältigendem Ausdruck gelangten Geisteshaltung erwuchs auch die größte religiöse Lyrik des Mittelalters, die Hymnendichtung der Bettelorden. England, das die ekstatischen Formen der neuen Frömmigkeit mied, hat keine Hymnendichtung, die Bonaventuras Recordare sanctae crucis, Thomas von Celanos Dies irae oder Jacopone da Todis Stabat mater ebenbürtig wäre, aber der Oxforder Franziskaner JOHN PECHAM," der Schüler Bonaventuras war, dann englischer Provinzial des Ordens wurde und als Erzbischof von Canterbury starb (1292), ist ein bedeutender anglolateinischer Lyriker des 13. Jahrhunderts. Seine Philomena mit den klingenden vierzeiligen Strophen im Einreim ist das lieblichste aller Gedichte auf die Leidensgeschichte. Es ist eine rein lyrische Dichtung ohne die Fesseln liturgischer Zwecke, die unter dem Bilde der Nachtigall, der Vorläuferin des Frühlings, die Sehnsucht der Seele nach ihrer göttlichen Heimat ausspricht. Das vom Morgen bis zu ihrem Tod am Abend währende Nachtigallenlied ist das Erleben eines mystischen Tages, dessen Stunden den Erlösungsstufen entsprechen. Süße und Trauer der Meditation nehmen zu mit dem Herannahen der Stunde der Passion, bis die Seele in der Stunde des 'consummatum est' in Liebes- und Mitleidsverzükkung erlischt. Diese Töne der franziskanischen Frömmigkeit stellen einen neuen Klang in der Dichtung Englands dar, und ebenso neu ist der in vorfranziskanischer Zeit unbekannte, harte und starke Realismus, der in Pechams De deliciis virginis gloriosae den Schmerz der Jungfrau über den blutigen, bleichen Gekreuzigten zu qualvollem Ausdruck bringt. Diese Seite fehlt in der Lyrik des bedeutenden, aber Pecham nachstehenden JOHN VON HovEDEN 12 ("f 1275), der in den weichen Tönen der Pechamschen Philomena, wenn auch nicht in gleich vollendeter Form, den Preis der Jungfrau Maria singt und über die göttliche Liebe meditiert. Auch er schrieb eine Philomena, eine lyrisch erzählende Darstellung des Lebens und Leidens Christi, die im ganzen etwas ermüdend wirkt, aber Stellen wahrhaft dichEnglish Religious Lyric in the Middle Ages (Oxf., 1968); R. Oliver, Poems Without Names (Berkeley, 1970); E. Reiss, The Art of the Middle English Lyric (Athens, 1972). 11 Analecta Hymnica, Bd. 50, S. 592ff.- D. L. Douie, Archbishop Pecham (Oxf., 1952). 12 Philomena, ed. C. Blume: Hymnologische Beiträge, IV (Lpzg., 1930); engl. Übers, des 14. Jh. in EETS 158; Poems, ed. F. J. E. Raby, Surtees Soc. (1939); vgl. auch die Nachtigallgedichte in EETS LXXX. Über Hoveden vgl. L. W. Stone in: Romania 69 (1947).

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terischen Empfindens in schönem Ausdruck aufzuweisen hat. Im 14. Jahrhundert wurde sie ins Englische übersetzt. Im Gegensatz zu Pecham fehlt Hovedens Gedichten die Einfachheit; gesuchte Bilder und gewollte Dunkelheiten, die in einer einzelnen Strophe nicht störend hervortreten, verderben die Wirkung in der Häufung einer langen Folge. Während aus dem 12. Jahrhundert nur sehr wenige lyrische Gedichte erhalten sind, ist die religiöse Lyrik des 13. Jahrhunderts weitaus besser vertreten: Im Gegensatz zur frühen mittelenglischen Zeit, in der Lyrik meist nur beiläufig aufgezeichnet wurde, sind aus dem 13. Jahrhundert umfangreiche Handschriften erhalten, in denen auch zahlreiche lyrische Stücke gesammelt sind - so z. B. das Ms. Digby 86 der Bodleian Library Oxford oder das Ms. Trinity College Cambridge 323. Die religiöse Lyrik dieser Zeit bietet ein buntes Bild. Gelegentlich wurden die alten Themen der Reue für ein vergeudetes Leben (Br. Nr. 2), der Gedanken an den Tod (10), des Bewußtseins von der Vergänglichkeit des Glücks (46; D-H 7) als Beichte in ein Marien- oder Jesusgebet eingekleidet (32) und damit erschütternder, wobei allerdings die persönliche Kunst der Vagantendichtung hindurchschaut. Dieser Einfluß des Lateins ist übermächtig, wenn es sich um in derselben religiösen Sphäre liegende Dichtungen handelt; dann erscheinen die englischen Gedichte nur als Paraphrasen oder Übersetzungen (4; D-H 10), gelegentlich auch aus dem französischen (5; D-H 4), wobei weniger der ja gegebene Inhalt als die rhythmische Form und Reimgebung bis in den Wortklang hinein die Übersetzer reizte. In eigenartiger Weise wird dieser Klangwert in einem Sprachenmischmasch zu retten versucht, den man Makkaronipoesie nennt. Derart ist das Gedicht Seinte man, moder milde mater salutaris (16) und besonders das schöne For on ftal is so fayr and bri^t velud maris stella (17). Inhaltlich bildeten sich unter dem Einfluß der franziskanischen Frömmigkeit drei Hauptgattungen: Todesdichtung, Jesuhymnik, Marienlieder. Die Themen sind nicht neu, aber neu aufgefaßt. So verliert das Jüngste Gericht etwas von der schaurigen Erhabenheit, die das Gedicht Lalemest day vergröbert noch zeigt (29), wenn, wie in Doomsday (28), der tröstende Schluß die Fürsprache Marias erbittet. Die durchaus nicht königliche, sondern menschliche Vorstellung Mariae wird besonders eindrucksvoll in der herben Gattung des Planctus Mariae um den Schmerzensmann am Kreuz. Diese an sich leicht zur stehenden Form erstarrende Gattung der Marienklage wird ungemein wandlungsfähig durch die Vorstellung, daß das Leid der Gottesmutter ihr auch Mitfühlen für menschliches Leiden gab. Im Grunde spricht das menschliche Herz aus all den Bildern des Marienlebens von der am Fuße des Kreuzes Klagenden bis zum Wiegenlied der jungen Mutter, die weinend die Passion vorausahnt. Selbst in einem schematisch auf die Strophen verteilten Dialog erreicht das Thema grausige Eindringlichkeit, wenn nach der letzten Rede des Sohnes die Mutter mit einem Aufschrei zu Boden sinkt (49). Um dieser Wirkung willen wurde die Planctus-Situation auch in solchen Gedichten eingeführt, die eigentlich nicht zu der Gattung gehören (34-37, 45, 24), wobei meist der stechende Schmerz zu einem elegischen Ton gemildert ist.

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Wo die Passionsschilderung zur Hymnik übergeht, ist die franziskanische Auffassung besonders deutlich; der Heiland ist in menschlicher Nähe, man wendet sich zu ihm in schlichter Aufrichtigkeit, und der inbrünstige Ausdruck der Liebe hält diesen Liedern Längen und Predigtgemeinplätze fern (50). Ob ein gleich einer Reverdie (s. S. 110) mit dem Frühlingsanfang anhebendes Lied M/ yh she blostme sprynge (63) das herzdurchdringende Sehnen bis zu einem körperlichen Liebesgefühl steigert, oder ob das Brüderlichkeitsgefühl tröstend eine Passionsmeditation durchdringt, stets ist die Stimmung des Friedens vorherrschend; manche Strophe hat ein derart von musikalischen Werten getragenes Klingen, wie es sich nach dem 13. Jahrhundert höchstens in einzelnen Carols des 15. findet (54). Den Höhepunkt der Liebesmystik Jesu bildet der Love Ron (43) - die Liebesweise - des Franziskaners THOMAS VON HALES (vor 1272). Nach dem ersten Teil (Str. 2-11), der die irdische Vergänglichkeit homiletisch, aber eher zart als kraß und im Ubi sunt-Passus in mächtiger Rede schildert, feiert der zweite Teil (Str. 11-18) mit der Beredsamkeit weltlicher Liebesdichtung und auf die lateinische Tradition gestützt, aber ohne die Verzückung erotischer Mystik, den himmlischen Bräutigam, und ein letzter, zu eifernder Rede gesteigerter Teil (Str. 19-24) preist das Juwel der Keuschheit, das nur des höchsten Geliebten würdig ist. Der Schluß (Str. 25-26) gibt wie die erste Strophe die Zweckbestimmung des Liedes, das einer Nonne Trost und Erbauung sein soll. Demselben Empfindungsbereich gehört die Marienhymnik an, die vorzugsweise das Thema der fünf Freuden Mariae abwandelt - im Banne lateinischer Strophik (18), in poetisch ansprechender Blütensymbolik (19) oder als empfindungsbeladenes Gebet (41) - aber sich auch gern der Verkündigungsszene zuwendet, deren oft kunstvolle Strophen sich als Nachbildung einer vertonten lateinischen Sequenz erklären (44). Das bezeichnendste Beispiel der erotischen Marienmystik ist das zu 171 Versen ausgelängte Gebet zu unserer lieben Frau On god ureisun of ure lefdi (3), das in tiefer Inbrunst um Erlösung von dem Erdenleben fleht. Alle Entfernung ist für den Verfasser aufgehoben. Maria ist Königin, Mutter, Herrin und Geliebte. Bald redet er sie mit den Worten irdischer Leidenschaft an: Süße, ich sehne mich nach Dir; bald wie ein Kind: wasch mich und zieh mich an; aber bei dem ersehnten Ziel der Unio fällt wieder die englische Zurückhaltung auf. Auch die mit leuchtenden Farben ausgemalte himmlische Herrlichkeit ist mehr vorgestellt als erlebt. Die beim Liebesthema eindringenden weltlichen Töne sind oft sehr vernehmlich: Sie besingen Maria in galanten Troubadourwendungen als 'levedi gent and smal' und 'feir and hende' (55) und verweltlichen das Religiöse völlig. Die Zahl der Stücke, die sich nicht in die Jesus- und Mariendichtung einordnen lassen, ist klein. Ein erzählendes Dreikönigslied im schlichten Stil des Krippenspiels (26) und eine vereinzelte Septenarhymne auf Gottvater (59) sind wohl anderen Quellen verpflichtet als der sonst vorbildlichen lateinischen Lyrik, deren künstlerischem Range sie nachstehen. Eigenartiger ist der Versuch einer dramatischen Judasszene (25), deren Rede und Gegenrede aber in dem deklamatorischen Septenar nicht recht zum Leben kommen. Kunst-

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lerisch vollkommener sind einige Fassungen des alten Predigtthemas von der Vergänglichkeit der Welt, das in den Formen der neuen Lyrik wie verwandelt erscheint - z. B. in dem Ubi sunt-Gedicht Were beppey biforen vs weren (48). Auffällig ist eine große Vielgestaltigkeit der metrischen Formen. Das Altertümliche sind die vierzehnsilbigen Zeilen des Septenars, die nun gegenüber der bloß addierenden Fügung des Poema morale (3) zu je vieren in einer Strophe gebunden werden mit dem vom Latein gelernten Einreim (28, 29, 55). Dann drängt sich ein die Langzeile in eine vier- und eine dreihebige Hälfte zerbrechender Binnenreim ein (59), der alsbald zur Regel wird (43) und eine achtzeilige, aus Vier- und Dreihebern bestehende Strophe mit Kreuzreim ergibt (= doppelte Balladenstrophe). Damit ist eine Vielfältigkeit eingeleitet, die sich aus lateinischen und französischen Vorbildern nährt, die zur Nachahmung lockten. Neben einreimende und paar- und kreuzweise reimende Strophen wechselnder Zeilenzahl und Länge tritt die romanische sechszeilige Sequenzstrophe a a b c c b oder ihre Abarten (4, 47, 48). Dadurch angeregt, gestaltete man die Reimverschlingung aus (45), die durch Gruppierung (10) oder musikalische Ausgestaltung (90) vor Unübersichtlichkeit bewahrt wurde und nur selten zu einem reinen Deklamationsvers führte (46), der erst für das 14. Jahrhundert bezeichnend wird. Die ausgesprochene Liebe für das Lied drängte das 13. Jahrhundert vom Vortrag weg und zur Musik hin. Unter Ausnutzung der Möglichkeiten verschiedener Zeilenlängen ergaben sich äußerst kunstreiche, sangbare, meist zehnzeilige Strophengebilde (17, 16, 54), die oft auch Nachahmungen oder Spielarten lateinischer Muster sind (65, 44). Die handwerkliche Schwierigkeit war Anreiz, nicht Hemmnis, und nie zuvor kannte die englische Literatur solch unnachahmlich leichte Grazie, solch anscheinend müheloses Singen und flüssiges Metrum. Das alte, silbenzählende Prinzip war endgültig durch das rhythmische ersetzt.

4. Weltliche Lyrik und historisch-politische Gedichte13 Die Belebung der religiösen Lyrik teilte sich auch der weltlichen mit. Englands weltliche Lyrik wurde bestimmt durch den Doppeleinfluß der lateinischen Vagantendichtung, deren kosmopolitischer Charakter eine Zuteilung einzelner Stücke an England unmöglich macht, und der französischen Troubadour-Lyrik, die nach dem Welken ihrer ersten englischen Blüte unter Heinrich II. nun in zweiter Annäherung an Frankreich neubelebt wurde. Jetzt war 13

W e l t l . L y r i k : Verzeichnis und Sammlungen s. S. 105, Anm. 10. Abkürzungsschlüssel: Br. 13 oder einfache Nummern = Nummern der Gedichte in: English Lyrics of the 13th Century, ed. C. Brown (Oxf., 1932); D- = E. J. Dobson and F. L. Harrison, Medieval English Songs (1979) [mit der Nummer des Liedes]. H i s t o r . - p o l i t . G e d i c h t e : Wr. = T. Wright, The Political Songs of England from John to Edward II (1839) [mit Seitenzahl]; R. = Historical Poems of the 14th and 15th Centuries, ed. R. H. Robbins (N. Y., 1959) [mit der Nummer des Gedichts]. Anglonormann. Texte in: Anglo-Norman Political Songs, ed. I. Aspin, Anglo-Norman Text Soc. 11 (1953) [angeführt als "A." mit der Nummer des Gedichts].

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Zweites Buch: Die miltelenglische Zeit

es weniger die höfische Liebesdichtung der Chansons courtois als das anonyme, oft auf Spielleute weisende Chanson populaire. Alle Arten dieser Chansons, die den Kehrreim betonenden Tanzlieder und bei der Webarbeit gesungenen Chansons d'histoire, die Taglieder mit ihrer Liebeszwiesprache und die erzählenden Chansons d'aventure, die Reverdies genannten Frühlings- und Sommerlieder und die kecken Schäfer-Pastourelles, sind in England bekannt gewesen, wurden auch von Engländern nachgeahmt, wenngleich wir nur spärliche Reste erhalten haben. Um 1185 kritzelte ein englischer Kleriker auf die freigebliebene Seite einer Handschrift Text und Noten von De ma dame vull chanter - des ältesten erhaltenen anglonormannischen Liedes. Nicht sehr viel später ist das älteste noch vollständig erhaltene Liebesgedicht aus mittelenglischer Zeit aufgezeichnet worden: Ic am witles.u Diese nur 13 Verse umfassende Liebesklage enthält überraschend viele höfische Elemente in eindringlich-knapper Formulierung. Um 1230 wurde das Lied Mine it is while sumer Hast (mit Noten) aufgeschrieben (7; D-H 5), etwa zwei Jahrzehnte später entstand (ebenfalls mit Noten überliefert) Foweles in pe frith (8; D-H 8). Die frische Naturnähe dieser Lieder ist in dem vielleicht um 1240 entstandenen Kuckuckslied Sumer is icumen in (6; D-H 9) zu solch drastischer, dem Höfischen entrückter Unmittelbarkeit gesteigert, daß man in dieser auch musikalisch sicheren Reverdiebearbeitung den Volkston zu vernehmen meint. Aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts sind eine ganze Reihe h i s t o r i s c h p o l i t i s c h e r Gedichte in lateinischer, anglonormannischer und englischer Sprache überliefert.15 Neben einigen provenzalischen und französischen Texten, die zwar auf englische Herrscher und Verhältnisse Bezug nehmen, aber wohl nicht in England entstanden sind, finden sich zunächst nur lateinische Gedichte mit politischen Aussagen. Zum Teil handelt es sich um allgemeine Zeitklagen ohne erkennbar aktuelle Bezüge, sog. Songs on the (Corruptions of the) Times (Wr. 14, 27); zum Teil werden aber auch bestimmte Personen und Ereignisse unter politischen Gesichtspunkten beschrieben und beurteilt. Noch in die Regierungszeit König Johanns gehört ein Planctus super Episcopis (Wr. 6), in dem ein Kleriker die Bischöfe von Norwich, Bath und Winchester angreift und heftig schmäht, weil sie sich bei der Auseinandersetzung zwischen König und Papst auf die Seite der weltlichen Macht gestellt hatten. Wie dieses ist auch ein weiteres lateinisches Gedicht, der Song against the Bishops (Wr. 44), aus der Zeit Heinrichs III. zur sog. Kirchenkritik zu rechnen. Etwas allgemeiner gehalten ist ein lateinisches Lied über den Verfall der Zeit (Wr. 27), das die alte Klage über Stolz, Geiz und Luxus der Prälaten in einer satirischen Predigt bringt. 14

Br., S. XII; verbesserte Transkription v. T. Stemmler in: Mannheimer Berichte 8 (1974), S. 247. 15 Vgl. H. Sperber, Historisch-politische Gedichte im England Edwards I. (Diss. Mannheim, 1978).

///. Das 13. Jahrhundert

l11

Um 1256 klagt dann ein Kleriker in einem anglonormannischen Song of the Church (Wr. 42) über den desolaten Zustand der englischen Kirche, in den sie die hohen Abgaben für König und Papst gebracht haben. Eine erste größere Gruppe thematisch eng verwandter Gedichte liegt aus den sechziger Jahren des 13. Jahrhunderts vor, als sich die Auseinandersetzungen zwischen der Partei der Barone und jener der Royalisten zum offenen Kampf steigerten. Der von den Baronen unter Simon de Montfort 1264 bei Lewes errungene Sieg über Heinrich III. bringt das bislang früheste mittelenglische Gedicht des Genres hervor. In einem nicht gegen Heinrich, sondern gegen dessen Bruder Richard von Cornwall gerichteten Song against the King of Alemaigne (Wr. 69) äußerst sich der beißende Hohn und Spott eines Anhängers der siegreichen Partei. Der Strophenbau verrät noch französische Schule, doch der Rhythmus ist freier und Wortwahl wie Wortspiel sind auf ein breiteres und vor allem parteiisches Publikum ausgerichtet. Nahezu epischen Umfang erreicht mit über 900 Versen ein lateinisches Gedicht über die Schlacht bei Lewes (Wr. 72). Es überrascht durch eine trotz allen Engagements zurückhaltende Argumentation, in der sich theologische, politisch-nationale und staatstheoretische Gedankengänge zu einer umfassenden Rechtfertigung des Kampfes gegen den König und seine Partei verbinden. Der in der Schlacht von Evesham 1265 geschlagene und getötete Simon de Montfort erscheint dem Volk dann als der große Märtyrer, der - so ein anglonormannisches Klagegedicht - sein Leben ebenso für England geopfert wie Thomas Becket seines für die Kirche hingegeben habe. Bezeichnend für alle aus diesen Jahren überlieferten historisch-politischen Verse ist die eindeutige Parteinahme für die Gruppe der Barone und gegen die Royalisten. Mit dem Regierungsantritt des außenpolitisch aktiveren und erfolgreicheren Eduard L, 1272, sollte sich dies ändern, wie ein lateinisches Begrüßungsgedicht (Wr. 128) aus der Feder eines royalistischen Klerikers beweist. Statt einer mittlerweile kaum noch existenten baronialen Opposition gegen das Königshaus die Stimme zu leihen, feierten nun national-patriotisch gesonnene Autoren Eduards Erfolge gegen die äußeren Feinde, insbesondere die Schotten, oder bejubelten gar den Sieg eines flämischen Handwerkerheeres über den gemeinsamen Feind Frankreich. Das lange englische Gedicht über The Flemish Insurrection (1302) (Wr. 187; R.. 3) deutet ebenso wie jenes über The Execution of Sir Simon Fräser (1306) (Wr. 212; R. 4) zugleich an, daß man nun für eine breitere Zuhörerschaft schrieb und nicht nur ihrem Informationsbedürfnis, sondern auch ihrem gesteigerten Nationalgefühl Rechnung trug. Trotz des besonderes Interesse beanspruchenden außenpolitischen Engagements Eduards I. finden sich auch einige Gedichte zu innenpolitischen Vorgängen und Problemen, meist in anglonormannischer Sprache abgefaßt. Noch in der ausgehenden Regierungszeit Heinrichs III., als jedoch Eduard schon die eigentliche politische Verantwortung trug, entstand ein achtstrophiges lateinisches Gedicht, dessen anglonormannische Übersetzung sich jeweils strophenweise einfügt. Nach seinem 'Incipit' meist als Vulneratur karitas

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Zweites Buch: Die mittelenglische Zeit

(Wr. 133; A. 14) bekannt, klagt dieses Gedicht mit Verzweiflung verratenden Worten über eine Zeit, in der Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Friede mit Füßen getreten werden und Haß, Verlogenheit, Betrug und Ungerechtigkeit herrschen. Eduards tatkräftige Regierung schuf in vielem sicher Abhilfe, doch gegen Ende seiner Herrschaft finden sich zwei historisch-politische Gedichte, die erneut über Rechtsunsicherheit und Rechtsbeugung klagen. Während sich zwei fragmentarisch erhaltene anglonormannisch-englische Texte in On the King's Breaking his Confirmation of the Magna Charta (Wr. 253; A. 6) über Eduard I. selbst kritisch äußern, klagt in den fünfundzwanzig anglonormannischen Strophen des anderen Gedichts ein unschuldig Verfolgter über das große Unrecht, das ihm wegen eines schlechten Gesetzes, der Artikel von Trailbaston (Wr. 231; A. 7), zugefügt werde. Mit dem Tode Eduards I. im Jahre 1307 und der Nachfolge seines Sohnes, Eduards II., zeigte sich jedoch, daß man während der letzten 35 Jahre doch nicht so schlecht regiert worden war. Daß eine Herrschaftsperiode der Stärke zu Ende ging, beweist nichts deutlicher als die wehmütigen Nachrufe in lateinischer, anglonormannischer und englischer Sprache. Insbesondere die englische Elegy on the Death of Edward I (W. 246; R. 5) und eine verwandte anglonormannische Version (Wr. 241; A. 8) verraten mit ihrer rückwärts gewandten resignativen Grundhaltung große Unsicherheit der Autoren hinsichtlich der Zukunft und mangelndes Vertrauen in den Thronfolger.

5. Spruchsammlungen und Streitgedichte Das mehr und mehr bürgerlich werdende Publikum schrieb bezeichnenderweise eine Sprichwörtersammlung, wie man sie früher auf König Alfred münzte, einem Spielmann zu {Proverbs of Hendyng,^ ca. 1250). Auch inhaltlich hat diese Sammlung nicht die oberen, sondern die bürgerlichen Stände im Auge. Der Weg ging nicht ohne französischen Einfluß: Schon die aus dem 12. Jahrhundert stammenden anglonormannischen Bearbeitungen der Disticha Catonis - u. a. diejenige des englischen Benediktiners Elie von Winchester - wiesen in die Richtung, und französische Sprichwörtersammlungen wie die Proverbes del vilain haben als Formvorbild gewirkt. Eine so auf das Lehrhafte eingestellte Zuhörerschaft mußte auch das Material des lateinischen Physiologus wieder aufgreifen, das Philippe de Thaon gleichsam vorwegnehmend ein halbes Jahrhundert zuvor gestaltet hatte. Die Bestiarien des 13. Jahrhunderts - ein normannisches von Guillaume le Clerk, das Bestiaire d'Amour^1 von Richard de Fournival und ein englisches im altertümlichen Übergangsstil vom Stab- zum Reimvers - sind umfänglicher, „systematischer", sie boten der Zeit Unterhaltung und Belehrung zugleich. 16 17

ed. G. Schleich in: Anglia 51 (1927), 52 (1928). ed. Zarifopol (Diss. Halle, 1904).

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Eine künstlerische Verwertung volkstümlicher Spruchweisheit zeigt sich im Streitgedicht, das mit der Debatte zwischen Eule und Nachtigall18 (The Owl and the Nightingale, ca. 1200 in Surrey) erstmals in der Landessprache auftrat. Das Thema ist der alte Streit zwischen einem Schönheit, Glanz, Jugend, Heiterkeit herausstellenden ästhetischen Ideal und der ethischen Forderung, die verantwortungsbewußt den Ernst des finster-mürrischen Alters hervorhebt. Beiden von den Streitenden in fließender Rede mit Witz und Sprichwort, Schlagfertigkeit und Schimpfen verfochtenen Standpunkten sucht der Dichter gerecht zu werden, wenngleich er ein heimlicher Verbündeter der Nachtigall ist. Der Streit ist nicht zu lösen, und eine große Vogelversammlung beschließt, den Fall dem Meister Nicholas von Guildford zur Entscheidung vorzulegen. Dieses kostbare, 897 Reimpaare umfassende Erzählgedicht ist von einer bemerkenswerten Selbständigkeit. Formal sind die provenzalischen und französischen Tensons und Jeux-Partis nicht nachgeahmt, und die lateinischen Contentiones sind so sehr von dramatischem Streit zu epischer Unterhaltung umgeformt, daß sie höchstens ein mittelbares Vorbild waren. Entsprechend sind die leicht fließenden, graziösen Verse keine Nachahmung französischer Silbenregelmäßigkeit, obwohl sie von dort eine Anregung erhielten. Die Dichtung unterscheidet sich auch inhaltlich von der Lehrhaftigkeit weltlicher Sprichwortsammlungen und geistlicher Lehrgedichte; zwar teilte der Verfasser den dialektischen Geist seiner Zeit, brachte ihm aber nicht das Leben der Dichtung zum Opfer, und statt die Erzählung zur These zu verengen, weitete er sie durch Humor zu einem menschlichen Bilde. Daraus erhellt die Sonderstellung, auch im weltanschaulichen Ausblick, denn der Dichter ersetzte höfische Liebesanschauung durch eine verstehende, die gesunde Natürlichkeit der Sentimentalität vorziehende Beurteilung und wußte die Spruchweisheit des einfach empfindenden Volkes mit dem farbigen weltlichen Kulturleben in Einklang zu bringen. So ist dies Eule-Nachtigall-Gedicht wie Lajamons größeres Werk ein wichtiger und ebenso vereinzelt bleibender Versuch, Dichtung in englischer Sprache für englische Leser zu geben. Die Nachahmungen hielten sich mehr an das Äußere, daß nämlich hier erstmals beide Kämpfer Tiere sind, und ließen nun Drossel und Nachtigall, Fuchs und Wolf, Kuckuck und Nachtigall, Löwe und Maus miteinander debattieren. Von den ins 13. Jahrhundert gehörenden ist The Thrush and the Nightingale™ am meisten Nachahmung, zwar lebendig und trotz gedrängter Kürze von liebevoller Kleinmalerei, aber an Anmut und Geist und durch die Enge des sich um die Wertung der Frauen drehenden Themas dem Vorbilde weit nachstehend. The Fox and the Wolf1® ist dagegen eine wirkliche Tierfabel, die erste englische vor Chaucer und ein wertvolles Stück bürgerlicher Dichtung. Die 18

ed. J. W. H. Atkins (Cambr., 1922) [mit Übers.]; ed. E. G. Stanley (21972) [Standard]; edd. Grattan and Sykes, EETS CXIX; Facsimile, ed. N. R. Ker, EETS 251 (1963). Vgl. K. Hume, The O. and the N.: The Poem and its Critics (Toronto, 1975). 19 ed. E. Brown in: English Lyrics of the 13th Century, Br. 52. 20 edd. J. A. W. Bennett and G. V. Smithers in: Early Middle English Verse and Prose (Oxf., 21968), Nr. 5.

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Zweites Buch: Die mittelenglische Zeit

dem Roman de Renart entnommene Geschichte, wie der in den Ziehbrunnen gefallene Fuchs dem dazukommenden Wolf vormacht, er säße in der Seligkeit des Paradieses, und ihn dazu bringt, in den leeren Eimer zu steigen und ihn durch sein Gewicht heraufzuziehen, ist in knapp 300 Versen lebendig erzählt. Die Fabel zeigt große Freiheit gegenüber dem Urbild, das an Geschlossenheit, straffer Knüpfung und Einfachheit der Entwicklung erreicht, ja übertroffen wird.

6. Geistliche Büß- und Lehrdichtung Neben der lyrischen Dichtung mutet die lehrhafte geistliche Dichtung altertümlich an und zeigt ein starkes Anwachsen der landessprachigen Werke, die nunmehr die französischen stark und die lateinischen ganz zurückdrängen. Es ist durchwegs Zweckdichtung, die dem Laien in gereimten Umdichtungen das Vaterunser, die zehn Gebote und die Messe erklären oder durch allegorische Einkleidung die Feste des Kirchenjahres einprägen oder durch geschmacklos durchgeführte Deutung von Christi Körper als Freibrief auf die Seligkeit das Heilswerk nahebringen will (Charter of Christ). Wirkungsvoller in seinem Zweck wie in der literarischen Form ist das französisch geschriebene Chateau d'Amour2^ (1245) des als Scholastiker erwähnten Bischofs Grosseteste. Wie in einem Versroman wird das die Jungfrau Maria symbolisierende Liebesschloß ausgemalt mit seinen Türmen, in denen Gott und die Kardinaltugenden hausen; es wird erzählt, wie der vor Welt, Fleisch und Teufel schutzsuchende Sohn von der Liebe, der die Wachtruppe untersteht, aufgenommen wird, und wie in großem Kriegsrat der Heiland die Befreiung des Menschen durchsetzt durch das Angebot, an seiner Stelle und in seinen Kleidern zu dulden. Die lehrhafte Ausführlichkeit läßt den Vergleich mit der Großartigkeit der Sawles Warde nicht zu, aber das fein ausgemalte Bild hat auf den mittelalterlichen Geist eine solche Anziehung ausgeübt, daß es im 14. Jahrhundert ins Lateinische und mindestens dreimal ins Englische übersetzt wurde. Ein anderer Weg, kirchliche Forderung den Laien eindringlich nahezubringen, ist ihr In-Beziehung-Setzen mit dem Alltag; so enthält ein verbreiteter Führer durch die Roma Sacra (The Stations of Rome) die Aufforderung zu Pilgerfahrten, und der Lutel Soth Sermun22 stellt gleichsam die schäkernden Burschen und Mädchen und redet der Malkin, der Gilot und dem Robin ins Gewissen. Besonders wirkungsvoll wird solche Mahnung, wenn sie mit dem Grabe droht und wie On Serving Christ271 das Wohnen mit den Würmern dem Kleiderprunk im Leben gegenüberstellt. Maximian 2 an 21

ed. M. Cooke, Caxton Soc. (1852); ed. Weymouth Philol. Soc. (1864) [mit mittel- und neuengl. Übers.]; ed. J. Murray (Paris, 1918). 22 EETS 49. 23 EETS 49. 24 ed. C. Brown in: English Lyrics of the 13th Century, Nr. 51.

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Gebildete sich richtend, benutzt eine lateinische Elegie des Cornelius Maximianus Gallus, um diesem als Sprecher die Klage über Vergänglichkeit in den Mund zu legen. Die Schweif reimstrophen der Sayings of St. Bernard15 nehmen das Ubi sunt-Thema wieder auf, die Signs of Death26 predigen das Memento mori, und Death21 gibt eine so grausige Verwesungsphantasie, wie sie weder das 12. noch das 11. Jahrhundert je gekannt hatten. Das alte Lieblingsthema der Debate between the Body and the Soul2* in zahlreichen englischen, lateinischen, anglonormannischen Fassungen verbreitet, wird sozial zugespitzt, weil es sich jetzt um den Leichnam eines reichen Herrn handelt. Und eine Verspredigt wie The Saws of St. Bede oder Sinners Beware29 ersetzt jede erzählende oder allegorische Einkleidung durch eine Häufung der Schrecken von Tod, Jüngstem Gericht und Hölle. Nur selten ist die Bußforderung so dichterisch wie in den XV Signa ante Judicium,30 deren ältere Fassung eindringlich-schlicht ausspricht, was die der 2. Jahrhunderthälfte angehörige Visionsfassung ergreifend in anschaulicher Breite ausmalt: Einst führte der Tote ein Herrenleben in Prunk und Sorglosigkeit, jetzt hat er weder Geliebte noch Haus; weil er im Leben stets hoch zu Roß saß, reitet er nun auf dem Stachelsattel eines Höllenpferdes den Qualen und dem Teufel entgegen. Leidenschaftlich steigern sich die gegenseitigen Vorwürfe von Seele und Leib, bis schließlich ein aus dem Inneren losbrechender Aufschrei die Gottheit anklagt: Warum ließest du mich geboren werden, wenn du wußtest, was mir bevorstand? Der Dichter, der in Knappheit und Klarheit des Stils französischer Kultur verpflichtet ist, hat durch seine Tiefe und Wahrhaftigkeit des Gefühls, durch Bildkraft und Beherrschung der prosodischen Mittel das volkstümliche Thema von der Predigtstufe zu wahrer Kunst gehoben. Neben der mönchischen Bußdichtung sind die lehrhaften Summen für das 13. Jahrhundert bezeichnend. Für diese Neigung, Epik durch Anhäufung zu geben, scheint auch das französische Vorbild bestimmend gewesen zu sein, denn dort haben wir sowohl Summen wissenschaftlicher Stoffe wie das Image du Monde von Gautier von Metz oder den berühmten Tresor von Brünette Latini (1265), wie auch solche moralisch-religiöser Art, wofür die Somme des vertus et des vices ^ die Bruder Lorens 1279 Philipp dem Kühnen widmete, das maßgebende Beispiel war. England, das durch seine sprachlichen Verhältnisse (das langsame In-denVordergrund-Treten des Englischen gegenüber dem Französischen) einige 50 Jahre nachhinkte, hat die englischen Entsprechungen dieser Summen erst im 25

EETS 117 (S. 757-63; andere Versionen S. 511-22). EETS 15. 27 EETS 49. 28 ed. T. Wright in: Latin Poems attributed to Walter Mapes (Appendix). 29 EETS 117. 30 ed. F. J. Furnivall, Early English Poems and Lives of Saints (Bln., 1872); ed. O. F. Emerson in: Middle English Reader (N. Y, 1915). 31 Vgl. P. Meyer, Romania 23 (1894), S. 449ff.. 26

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Zweites Buch: Die mittelenglische Zeit

14. Jahrhundert aufzuweisen; da sie sich aber zum Unterschied von den Versromanbearbeitungen in nichts von den normannisch-französischen Vorbildern unterscheiden, sind es verspätete Äußerungen des Geistes des 13. Jahrhunderts. Wie eng die Abhängigkeit vom Französischen ist, zeigt der auch als Prosawerk eine Sonderstellung einnehmende Ajenbite of Inwyt32 (Remorsus Conscientiae), eine Wort-für-Wort-Übersetzung der Somme des vertus et des vices des Mönches Lorens, die DAN (Dominus) MICHAEL von Northgate 1340 in Canterbury niederschrieb. Die Art des Verfassers, für jedes französische Wort eine englische Entsprechung zu setzen oder das, was er bei seinem häufigen Mißverstehen des Urtextes als eine Entsprechung ansah, ohne Rücksicht auf Satz und Sinn, fügte zur inhaltlichen Unfreiheit die stilistische. Aber die Bedeutung dieser Werke lag nicht im Künstlerischen. Der Kirche waren sie genehm, weil sie die Grundlehren der christlichen Moral klar und methodisch und allen verständlich ausführten; das Volk las sie gern, weil sie das Schwerverständliche mundgerecht machten durch erläuternd eingefügte unterhaltsame Geschichten. Wenn der Ajenbite trotzdem wenig Verbreitung fand, so lag das an seiner Form: Die Überlegenheit des französischen Verses hatte die Prosa in den Hintergrund gedrängt; das Volk war nicht mehr geneigt, einer zusammenhängenden Geschichte zu lauschen, die nicht in Versen geschrieben war. Ein Engländer, der im 13. und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts ein belehrendes Erbauungsbuch wirklich gut und anziehend schreiben wollte, mußte den Vers wählen. Ein Beispiel dafür ist die kurz nach 1300 geschriebene Handlyng Synne^ (Handbuch der Sünde) des ROBERT MANNYNG von Brunne (Bourne in Lincolnshire), eine freie Bearbeitung des von dem Engländer WILLIAM VON WADINGTON französisch geschriebenen Manuel des Pechiez (Peches) in 6316 kurzen Reimpaaren. Robert wollte für alle schreiben, die gern den gereimten Geschichten im Wirtshaus und bei Festen lauschten, um sie zu Einkehr und Buße zu gewinnen. Deshalb brachte er mehr Geschichten als der Ajenbite, mit dem sich Handlyng Synne sonst inhaltlich nahe berührt, und überging alle dem Verständnis des Volkes nicht angemessenen Teile der Vorlage. Aller Mystik und Askese fern, ruhte sein Auge auf der ihn umgebenden Welt, gutmütig, anspruchslos und mit einem leisen Anflug von Humor. Dadurch bekommt sein Werk ein nationales, zuweilen lokales Gepräge, denn viele der Geschichten hat er nach eigener Angabe selbst erlebt. Zugleich verschob sich der Schwerpunkt von dem Sündenabriß auf die erläuternde Erzählung, so daß das Erbauungsbuch dem Unterhaltungsbuch nicht mehr über-, sondern gleichgeordnet war. Viele der in Handlyng Synne enthaltenen Geschichten werden von Robert so lebendig und alltagsnah erzählt, daß sie noch heute den Leser zur Lektüre reizen. Nahezu gleichzeitig mit der ostmittelländischen, also mehr südlichen Handlyng Synne entstand im Norden um 1300 ein noch umfänglicheres Lehrgedicht, der Cursor Mundi^ in fast 24000 Versen. In sieben Büchern schildert 32

EETS 23 (revised 1965).- Vgl. M. W. Bloomfield, The Seven Deadly Sins (East Lansing, Mich., 1952). "EETS 119; 123. 34 EETS 57; 59; 62; 66; 68; 99; 101.

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der Verfasser im Wettbewerb mit den weltlichen Versromanen, deren Liebe sich nicht der Liebe der Jungfrau vergleichen könne, die sieben Weltalter von der Trinität und Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht und den Freuden des Himmels. Jeder soll so den in der Welt verwirklichten Ratschluß Gottes in seinen Ursachen und Folgen erkennen. Aus Bibel, Homilien und Heiligenlegenden hat er den vielfältigen Inhalt dieses Lehrgedichts zusammengetragen. Er erzählt ihn in einfacher, den Laien angemessener Sprache und in leidlich glatten Versen, er vermeidet allzu große Breite ebenso wie allzu summarische Abfertigung. Diese ordnende Leistung, die stets das Ganze im Auge behält, ist bei einem Werk von so riesigem Ausmaß und in der damaligen Zeit nicht gering einzuschätzen. Die vierte dieser englischen Lehrsummen, die spannende Erzählung mit religiöser Unterweisung verknüpfen, ist der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts verfaßte Prick of Conscience^ (Stimulus Conscientiae), als dessen Verfasser früher Rolle galt. Nur der Titel, nicht das Wesen dieses Werks ist dem Ajenbite ähnlich; denn dieser wollte objektiv durch Belehrung über das Wesen von Sünde und Tugend den Sünder erleuchten, der Prick of Conscience dagegen will von innen her den Menschen zur Einkehr bringen, indem er ihm ins Gedächtnis ruft, was er ist, woher er kommt, wohin er geht. 117 Handschriften - weit mehr als etwa die der Canterbury Tales - bezeugen die Verbreitung dieses Werks: Offensichtlich war es das am weitesten verbreitete Werk des 14. Jahrhunderts. Es ist wie der Cursor in sieben Teile gegliedert mit einem auf Gott als Anfang und Ende aller Dinge hinweisenden Prolog. Teil I ergeht sich über die Nichtigkeit des Menschen, vielfach im Anschluß an Innozenz III. De contemptu mundi; Teil II beschreibt das Universum nach Bartholomaeus von Glanvillas De proprietatibus rerum und zeigt die Erde als Schlachtfeld zwischen Gott und Teufel; Teil III schildert den Menschen auf seiner Pilgerfahrt zum Tode; Teil IV ist dem Purgatorium gewidmet mit einer aus Aquinas Compendium Theologiae Veritatis stammenden Sündenerörterung; Teil V behandelt das Thema der Signa Judicii, Teil VI die 14 Höllenqualen, Teil VII die Freuden des Himmels, z. T. nach Honore d'Autuns Elucidarium. Vielzahl und Verarbeitung der Quellen, einfacher Stil und ansprechende Versbehandlung entsprechen den anderen poetischen Summen; aber in scharfem Gegensatz zu Handlyng Synne etwa ist hier alles abstrakt, vom Alltagsleben abgerückt und so asketisch grell, daß man die beklemmende Luft der Büß- und Grabesdichtung atmet. Nicht mehr die Welt steht zur Rede, sondern die Weltflucht, womit die epische Gestaltung wieder aufgehoben wird.

35

ed. R. Morris, Philol. Soc. (Bln., 1863).

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Zweites Buch: Die mittelenglische Zeit

7. Geistliche Epik Es ist bezeichnend für das 13. Jahrhundert, daß es wie in den philosophischtheologischen Summen, wie in den Kollektivmysterien und den enzyklopädischen Lehrgedichten nun auch geistliche Epik durch Anhäufung zu geben versuchte. Die beliebtesten Stoffe, die Heiligenlegenden, wurden in den einzelnen Klöstern in oft über Jahrzehnte sich erstreckender Tätigkeit zu großen Legendarien zusammengefaßt, die auch zum kirchlichen Gebrauch geeignet waren. Die Heiligenleben36 verdrängten allmählich die eigentliche Predigt an den Heiligentagen und drangen als Exemplum oder erläuternde Erzählung in die sonntägliche Predigt ein. Dieser große Stoffbedarf, der es mit sich brachte, daß die Legende des 14. Jahrhunderts weitgehend auf nichtbiblischen Quellen beruhte, macht die Heiligenleben bereits im 13. Jahrhundert zur vorzüglichsten Form der geistlichen Epik. Von der unvorstellbar großen und erst unvollkommen erschlossenen Produktion sind besonders zwei Sammlungen zu nennen: The South English Legendary*1 aus der Gegend um Gloucester wurde wohl im letzten Viertel des 13. Jahrhunderts begonnen und immer wieder bearbeitet und erweitert; die Sammlung enthält nicht nur Heiligenlegenden, sondern auch anderen Erzählstoff für die wichtigsten kirchlichen Feiertage. The Northern Homily Cycle** entstand um 1300 in Durham; er ist als Sammlung von Verspredigten für die einzelnen Sonn- und Feiertage des Kirchenjahrs konzipiert, enthält aber auch viel Legendäres. Diese Legenden sind Massenerzeugnis, das künstlerische Ansätze kaum zur Entfaltung kommen läßt. Dem entspricht eine gewisse metrische Gleichförmigkeit, denn es herrschen nur drei Versmaße: die insbesondere im Süden beliebten Septenare oder septenarähnlichen Reimpaare, die kurzen Reimpaare und die verhältnismäßig seltenen Schweifreimstrophen. Dagegen ist der Ton sehr vielfältig und wechselt von schlichter, frommer Einfalt bis zu fabliauhafter Verfänglichkeit, von Singsanggleichförmigkeit bis zu heftig bewegter Rede. Oft ist ein und dieselbe Legende mehrfach behandelt in verschiedenen Dialekten, verschiedenem Ton und verschiedener Prosodie. Eine inhaltliche Übersicht kann sechs Gruppen sondern. Die erste behandelt das schon im Mittelenglischen beliebte und die mittelalterliche Phantasie besonders ansprechende Thema der Höllenfahrt Christi; das Evangelium Nicodemi,39 in mehrfacher Fassung überliefert, berichtet außerdem noch die Passion, Auferstehung und Himmelfahrt. Auch in der besten strophischen Fassung vermag es nicht zu erschüttern. Packender ist die ebenfalls in meh36

Vgl. G. H. Gerould, Saints' Legends, und T. Wolpers, Die engl. Heiligenlegende, s. S. 99, Anm. 38; Sammlungen: C. Horstmann, Altenglische Legenden (Paderborn, 1875); Sammlung altenglischer Legenden (Heilbronn, 1878); Altenglische Legenden Neue Folge (Heilbronn, 1881). 37 EETS 87 und 235/6, 244; die Southern Passion, EETS 169 (mit Einl. von B. Brown). 38 ed. J. Small, English Metrical Homilies (Edinb., 1862); ed. F. A. Foster, EETS 145, 147, 183. 39 EETS C.

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reren Fassungen erhaltene Visio Pauli oder The Eleven Pains of Hell,*0 in der eine abgeschiedene Seele die von Paulus geschauten Höllenqualen berichtet. Die auf französischen Einfluß weisende Fassung mit glatten, kurzen Reimpaaren erscheint fortschrittlich gegenüber einer anderen in herkömmlicher Art mit langen Zeilen und alliterativem Schmuck. Aber sowohl Nikodemusevangelium wie Paulusvision waren schon besser erzählt worden. Zu diesen beiden kommt als dritte Behandlung des Höllenfahrtthemas St. Patrick's Purgatory^, dessen erste lateinische Fassung von Henry von Saltry stammt (1140). Die Geschichte, die mehrfach, u.a. von Marie de France, ins Französische übertragen wurde, liegt in drei englischen Fassungen vor, einer in Reimpaaren, die aus dem Französischen der Marie de France übersetzt ist, einer im Septenar, die im südlichen Legendär steht, und einer in Strophen, die am interessantesten ist, weil hier in Ton und Inhalt eine Berührung mit der weltlichen Fabulierkunst der Versromane stattfindet. Diese die literarische Bedeutsamkeit steigernde Verweltlichung, die aus den Wundern Abenteuer macht, ist für die Bürgerlichkeit des 13. Jahrhunderts bezeichnend. Damals wurde auch die anglonormannische Brendanlegen.de ins Mittelenglische übertragen.42 Auch die zweite Gruppe der weiblichen Heiligen und Blutzeugen zeigt ein ähnliches Neuprägen alten Guts. Eine Margareta43 eine Katharina44 war schon früher in alliterierender Prosa erzählt worden (s. S. 99), und zwar besser als in dieser den weltlichen Erzählern abgeschauten strophischen Form. Dazu gesellte sich jetzt, zunächst in der altertümlichen Strophenfassung von vier Septenaren im Einreim eine Maria Magdalena45 deren Stoff weltliche und erzählerisch dankbare Motive barg, und deren Fassung ein Streben nach Spannung erkennen läßt. Noch einen Schritt weiter in dieser Richtung geht die Cäcilialegende,46 deren fromme Geschichte auch einem Weltkind unterhaltsam sein mußte, was sich noch Chaucer in der Second Nun 's Tale zunutze machte. Selbst die eine dritte Gruppe bildenden Marienlegenden mit den Berichten wundertätiger Hilfe können weltlich wirken wie in der Geschichte des Klerikers,41 der den Körper Marias sehen wollte, es aber, weil Blindheit darauf stand, erst mit einem Auge probierte, das die Gütige dann wieder sehend machte. Meist aber bevorzugte man die eigentliche Marienlegende von der Art der Assumptio Mariae4*, die mehrfach lateinisch, französisch und auch altenglisch in den Blickling Homilies bearbeitet worden war. Eine erste, in würdigem und andachtsvollem Ton gehaltene südliche Bearbeitung in kurzen 40

EETS 49. ed. C. Horstmann, Ae. Legenden (Paderborn, 1875). 42 EETS 87. 43 EETS 13; 193. 44 EETS 80. 45 ed. Horstmann, Legenden 1878. 46 ed. Horstmann, Legenden 1881. 47 ed. Horstmann, Legenden 1881. 48 EETS 14. 41

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Reimpaaren ist die klassische mittelenglische Fassung, der die späteren, eine mittelländische in der Schweifreimstrophe und eine südliche in Septenaren, nicht gleichkommen. Oder man wählte das Thema der Kindheit Jesu,49 das in Mischung lieblicher und wunderbarer Züge Drachen und Löwen sich vor dem göttlichen Kinde hinlegen und die Bäume auf Jesu Befehl Maria Früchte spenden läßt. Die Kindheit Jesu bildet auch einen Teil der umfassenderen und größeren Darstellung eines nördlichen Verfassers, der unter dem Titel Estorie del Evangelie50 das ganze Leben Christi erzählte. Die vierte, einige männliche Heilige zusammenfassende Gruppe zeigt die stärkste Verweltlichung. Christophorus,^ Cuthberi,52 George,53 Dunstan54 wollen erbaulich sein, verwenden aber volkstümlich grobe Wirkungen wie die Geschichte, daß der heilige Dunstan den in Gestalt einer schönen Frau auftretenden Versucher mit einer glühenden Zange in die Nase zwickt. Die Gre£0fmylegende55 vollends steht mittwegs zwischen geistlicher und weltlicher Epik, da sie den grausigen Ödipusstoff nicht restlos in die Heiligenatmosphäre hineinzuziehen vermag; und die Eustachiuslegende56 mit dem Bericht von der Bekehrung des römischen Offiziers Placidas, von der Entführung seiner Frau durch Seeräuber und dem Raub seiner Kinder durch Löwe und Leopard, liest sich wie ein Abschnitt aus einem Versroman. Entsprechend findet sich die Geschichte von dem römischen Patrizier, der in der Hochzeitsnacht sein Weib verläßt und im heiligen Lande als Bettler lebt, in der AlexiM^legende57 wie in dem weltlichen Versroman von Guy von Warwick. Wenn nun, wie das in der fünften Gruppe der Fall ist, auch im Ton die Würde fallengelassen wird, so bedarf es der weitherzigen Unbefangenheit des Mittelalters, um noch von Heiligenlegenden sprechen zu können. Derart ist die Euphrosynelegende5* die Geschichte einer als Mann verkleideten, im Mönchskloster lebenden Jungfrau, oder die Trentalle St. Gregorii,59 worin die Rettung der durch Buhlschaft und Kindesmord zum Höllengeist gewordenen Mutter des Papstes erzählt wird, oder Marina,60 die Auswertung des verfänglichen Stoffes, daß die als Mann verkleidete Jungfrau von einer Dirne als Vater ihres Kindes bezichtigt wird. Damit ist die Heiligengeschichte zu einem Fabliau mit frommem Einschlag geworden. Demgegenüber suchte eine neu entstehende sechste Gruppe die Würde des Stoffes zu wahren, indem sie das Unterhaltungsbedürfnis durch geschichtli49

ed. Horstmann, Legenden 1875 und 1878. EETS 98. 51 ed. Horstmann, Legenden 1881. 52 Southern Collection. 53 Southern Collection. 54 ed. F. J. Furnivall, Early English Poems (Bln., 1862). 55 ed. C. Keller (Heidelberg, 1914). 56 ed. Horstmann, Legenden 1881. 57 Southern und Northern Collection. 58 ed. Horstmann, Legenden 1878. 59 EETS 98 und Engl. Stud. 40 (1909), S. 351. 60 ed. Horstmann, Legenden 1878. 50

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ehe Mitteilung befriedigte. Das hervorragendste Beispiel, zugleich das beste Stück der südlichen Sammlung, ist die Geschichte des Thomas a Becket™ die in großem Schwung, wuchtig und knapp, durch eingelegte Dialoge noch greifbarer verlebendigt, die göttliche Sendung und den Tod des Erzbischofs erzählt. Ähnlich auch im künstlerischen Werte ist die Legende von Erkenwald62 (1350), mit der die beste Zeit der Legendendichtung abschließt.

8. Feiern und Spiele63 Wie für die Legende und die enzyklopädischen Lehrgedichte ist auch für das geistliche Drama das 13. Jahrhundert die entscheidende Werdezeit, wenngleich solch frühe Textfassungen in England nicht überliefert sind. Die zu Riesenzyklen angehäuften Texte - die York, Chester und Towneley Plays sowie der sog. Ludus Coventriae - gehören dem 14. Jahrhundert an. Die früher als Drama aufgefaßte, aus dem 13. Jahrhundert stammende Wechselrede The Harrowing of Hell64 war nicht für eine Aufführung gedacht, sondern den Debatten oder Streitgedichten nachempfunden, denn der Kern der Dichtung ist ein Rechtsstreit zwischen Christus und Satan, der an der Höllenpforte beginnt und nach dem Siege Christi zur eigentlichen Höllenfahrt und zur Befreiung der dort auf den Erlöser Harrenden führt. Der Ursprung des geistlichen Dramas ist in der Liturgie der Kirche zu sehen und führt weit zurück. Das im 6. Jahrhundert von Gregor dem Großen eingeführte Antiphonarium der Chorpartien der Messe leitete eine musikalische Ausgestaltung ein, der man im 10. Jahrhundert Texte, sog. Tropen oder Sequenzen, unterzulegen begann. Der älteste Tropus, der am Ostermorgen in den ersten Teil der Messe, den Introitus, eingeschoben wurde, lautet: 'Quem quaeritis in sepulcro, o christicolae? Jhesum Nazarenum crucifixum, o coelicolae! Non est hie, surrexit sicut praedixerat; ite nuntiate, quia surrexit de sepulcro.' Als dieser schnell Verbreitung findende Tropus sich in Verbindung mit der Grablegungsfeier von der Messe unabhängig machte, wie der WinchesterTropus von 980 bezeugt, war eine liturgische Feier mit starken quasi-dramatischen Elementen geschaffen. Es war nämlich Sitte, beim Karfreitagsgottes61

ed. Horstmann, Legenden 1881; ed. H. Thiemke (Bln., 1919). ed. Horstmann, Legenden 1881; ed. H. L. Savage (New Haven, 1926) [Yale Studies 72]. 63 Grundlegende Darstellungen: E. K. Chambers, The Mediaeval Stage, 2 Bde. (Oxf., 1903); K. Young, The Drama of the Medieval Church, 2 Bde. (Oxf., 1933); H. Craig, The English Religious Drama of the Middle Ages (Oxf., 1955); G. Wickham, Early English Stages: 1300-1600, 2 Bde. (1959); O. B. Hardison, Christian Rite and Christian Drama in the M. A. (Baltimore, 1965); V. A. Kolve, The Play Called Corpus Christi (Stanford, 1966); T. Stemmler, Liturg. Feiern u. geistl. Spiele (Tübingen, 1970); R. Woolf, The English Mystery Plays (1972); S. J. Kahrl, Traditions of Medieval English Drama (1974). 64 EETS C. 62

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dienst vor dem Altar ein Kreuz aufzurichten, das nachher, in ein Tuch eingehüllt, an einem als Grab hergerichteten Orte neben dem Altar niedergelegt wurde. Dort blieb es bis zur Nacht vor Ostern, dann wurde es fortgebracht. Nach der Gottesdienstvorschrift des Liber consuetudinum von Bischof Ethelwold von Winchester aus dem 10. Jahrhundert ging ein Geistlicher in weißem Gewand zum Grab und setzte sich, eine Palme in der Hand haltend. Dann kamen drei andere Patres, das Haupt durch Kapuzen verhüllt, Weihrauchfässer schwingend. Sie stellten die drei Frauen dar, die mit Spezereien kommen, den Leichnam Christi zu salben. Nun entspann sich die im Quemquaeritis-Tropus niedergelegte dialogähnliche Wechselrede, worauf der den Engel Darstellende das Tuch wegnahm und das Grab zeigte, in dem sich das Kreuz nicht mehr befand. Dann stimmte er die Antiphon 'Surrexit Dominus de sepulcro' an. Diese quasi-dramatische, der Liturgie stets untergeordnete Darstellung wurde im 12. und 13. Jahrhundert ausgedehnt durch die aus der Victimae paschali-Sequenz hervorgegangene Apostelszene, in der zwei Vertreter des Chors als Petrus und Johannes das Grab besuchen, und die der biblischen Vorlage hinzugefügte Ärä'werszene, worin der Spezereienkauf der Marien bei dem Unguentarius dargestellt war, der allerdings meist stumme Person blieb. Nach dem Muster des Ostertropus wurde auch der Weihnachtsgottesdienst ausgestaltet, indem man - dem symbolischen Ort des Grabes entsprechend nunmehr die Krippe zum Mittelpunkt machte und zwei hinter dem Altar stehende Diakone die Frage 'Quem quaeritis in praesepe, pastores?' an zwei Sänger im Chor richten ließ. Die vom Oxforder Troparium vorgeschriebenen weiten Gewänder sollten die Sprecher als die zwei Hebammen charakterisieren, die nach dem apokryphen Evangelium Jacobi der Gottesmutter zur Seite standen. Auch hier fügten sich weitere Szenen an, die Stellaszene, welche die heiligen drei Könige unter der Führung des Sternes vom Chor zum Hochaltar ziehend zeigte, wo ein Weißgekleideter ihnen die Geburt Christi verkündete, die Herodesszene u. a. m. Manche dieser Szenen, wie die an die pseudo-augustinische Predigt Contra Judaeos anknüpfende Prophetaszene, zeigen bereits einen größeren Personalaufwand, denn hier suchen Jesajas, Jeremias, Daniel, Moses und andere Propheten die ungläubigen Juden vom Messias Jesus zu überzeugen. Auch das erwähnte Danielspiel des Hilarius (s. S. 76) war wohl für eine Weihnachtsaufführung bestimmt. Überhaupt ist mit einer großen Vielfältigkeit zu rechnen. Aus der Osternachtprozession, in der ein Christus darstellender Geistlicher an das verschlossene, das Höllentor vorstellende Kirchenportal klopfte, worauf der Darsteller des Teufels von innen antwortete, entwickelte sich die Höllenfahrtszene, der die erwähnte Harrowing of Heil-Debatte nahesteht; und ähnlich haben andere Riten, Kirchweih, Palmsonntagsprozession usw. zu dramatischer Darstellung verlockt. Im Gegensatz zum Kontinent sind aus England sehr wenige Texte solcher liturgischer Feiern und geistlicher Spiele in lateinischer Sprache überliefert: Während der Reformation wurden mit den „papistischen" Troparien, Bre-

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viarien usw. auch zahlreiche darin enthaltene quasi-dramatische und dramatische Texte zerstört. So sind aus diesem Bereich ganze vier Texte erhalten: zwei Visitationes Sepulchri aus dem 10. Jahrhundert, zwei weitere aus dem 14. Jahrhundert. Von den in mehreren Quellen bereits für das 12. Jahrhundert bezeugten Mirakeln sind in lateinischer Sprache keine, in englischer Sprache drei (sowie einige Fragmente) aus später Zeit erhalten. Die mittelalterlichen Benennungen geistlicher Spiele in englischer Sprache sind vielfältig und ungenau. Heute versteht man unter Misterien Stücke, die biblische Themen behandeln, während dramatisierte Legenden und Heiligenlegenden Mirakel genannt werden. Bis 1300 ist in englischer Sprache kein einziges geistliches Spiel überliefert - wohl aber sehr früh deren zwei in Anglonormannisch: ein Adam65 (ca. 1140), in dem der Sündenfall, Kain und Abel und ein Ordo Prophetarum enthalten sind, sowie die Seinte Resureccion66 (Ende 12. Jh.?), die in England verbreitet war und an mehreren Orten aufgeführt wurde. Vor dem Ende des 13. Jahrhunderts ist ein einziges Spiel in englischer Sprache erhalten - seltsamerweise ein säkulares: das an die frühen französischen 'farces' erinnernde Interludium de clerico et puella?1 Über unterhaltsame Interludien dieser Art wird in mittelenglischer Zeit mehrfach berichtet (z. B. in Sir Gawain and the Green Knight, V. 472), leider ist aber De clerico et puella das einzige erhaltene Beispiel dieser Gattung, die uns im 16. Jahrhundert - stark verändert - wieder begegnet. Die liturgischen Feiern und geistlichen Spiele fanden durchweg in der Kirche statt. Der Bühnenplan des erwähnten anglonormannischen Auferstehungsspiels aus dem 12. Jahrhundert zeigt die einzelnen Plätze ('loca', 'domus', 'sedes' genannt) wie die Säulen in der Kirche angeordnet. Die Handlung spielte sowohl an diesen „Häusern", die einen bestimmten Ort (Grab, Himmel, Hölle) bezeichneten, wie auf dem dazwischenliegenden örtlich neutralen Raum, der 'platea' genannt wurde. Alle Szenen und der Zug von Szene zu Szene waren dem Beschauer gleichzeitig sichtbar. Requisiten wurden sehr sparsam verwendet, die darstellenden Kleriker waren in ihre liturgischen Gewänder gekleidet.

9. Versroman und novellistische Unterhaltungsliteratur Der von den Engländern 'romance', von den Franzosen 'roman courtois' genannte Versroman68 ist zwar französischen Ursprungs, aber zum Unterschied 65

ed. P. Studer (Paris, 1971). edd. A. Jenkins et al., Anglo-Norman Text Soc. 4. 67 edd. Bennett and Smithers (s. S. 113, Anm. 20), Nr. 15. 68 Die wichtigsten Versromane des 13.-l5. Jh. in: Middle English Metrical Romances, edd. W. H. French and C. B. Hale (N. ., 1930) [handlichste Ausgabe, für Studium ausreichend]; Middle English Verse Romances, ed. D. B. Sands (N. Y., 1966) [weniger umfassend als French-Hale]; Six Middle English Romances, ed. M. Mills, EL.Medieval English Romances, edd. A. V. C. Schmidt and N. Jacobs, 2 Bde. (1980). 66

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von dem älteren Chanson de Geste oder heroischen Epos nicht mehr an eine Nation gebunden, sondern an einen kleinen höfischen Kreis, den man in England ebenso fand wie in Frankreich, wie das Beispiel des Thomas zeigte. In solchen Kreisen wurden diese Geschichten von ritterlicher Liebe und ritterlichen Abenteuern vorgelesen, wozu der neue paarweise gereimte Achtsilbler eigens geschaffen war; und da die humanistische Bildung bei Dichter und Publikum Voraussetzung war, bildeten rhetorische Ausdrucksweise und das Nennen von Gewährsmännern und Quellen einen künstlerisch unentbehrlichen Schmuck. Es waren Darstellungen des als erstrebenswert hingestellten ritterlichen Ideals, in denen die großen Meister von Thomas bis Chrestien die höfische Kultur des 12. Jahrhunderts zum dichterischen, Ewigkeitswert besitzenden Bilde verklärten. England, das Lajamons Anregung nicht aufgriff und sich mehrere Menschenalter hindurch mit den französisch geschriebenen Romanen begnügte, versäumte die Schaffung einer eigenen Form. Denn als das Bedürfnis nach englisch geschriebenen Romanen rege wurde, war die ritterliche Kultur, die diese Romane trug, vorüber, und ihre Ideale wurden nicht mehr verstanden. Die englischen 'Seggers' oder 'Gleemen' begnügten sich folglich mit einer das Tatsächliche wiedergebenden Umarbeitung in grobem und grellem Balladenstil. Sie ersetzten das Achtsilblerreimpaar durch die sanghafte Schweifreimstrophe und kümmerten sich nicht um Gefühlsfeinheiten, Liebesethik, höfisches Ideal und mystisches Symbol. Das Ergebnis war eine durchgehende Senkung im Ton, eine Verbürgerlichung, die ohne Verständnis dafür, was Karl der Große, Arthur und die Antike einst der ritterlichen Gesellschaft bedeuteten, die Geschichten aller drei Stoffkreise zu Abenteuerromanen machte, denen die nichtzyklischen Romane ohnehin nahekamen. Dabei blieb der englische Versroman uneinheitlich, mehr ein Ausprobieren aller Stilarten als eine Schule, und wenig berührt von den geistigen Bewegungen. Seine Frühzeit erstreckte sich über die Jahrhundertgrenze hin bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts, dann setzte sich eine realistischere Gestaltung durch, die nach einer Blüte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im 15. langsam ihre Kraft verlor. Von den nichtzyklischen, um legendäre englische Helden gesponnenen Romanen sind die englische Art bewahrenden Havelok und Hörn die interessantesten. Der in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts gedichtete Havelok6^ ist nach Form und Inhalt höfischen Mustern ziemlich fern. Er Übersetzungen: E. Rickert, Early English Romances, 2 Bde. (1908); M. H. Shakford, Legends and Satires (Boston, 1913); L. A. Hibbard, Three Middle English Romances [Horn, Havelok, Beves] (1911).- Darstellungen: L. A. Hibbard, Medieval Romance in England (N. Y., 1924) [für die nichtzyklischen Romane]; A. H. Billings, A Guide to the Middle English Metrical Romances (N. Y., 1901) [für die zyklischen Romane]; D. Mehl, Die me. Romanzen des 13. u. 14. Jhs. (Heidelb., 1967; engl. Übs., 1968); S. Wittig, Stylistic and Narrative Structures in the Middle English Romances (Austin, 1978); W. P. Ker, Epic and Romance (21908). 69 ed. W. W. Skeat, rev. K. Sisam (Oxf., 1956); ed. F. Holthausen (Heidelb., H 928); ed. French-Hale; edd. Schmidt-Jacobs. - Vgl. H. Meyer-Lindenberg, Die Datierung des Havelok, Anglia 86 (1968), Heft 1.

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besteht aus 1500 kurzen Reimpaaren und erzählt die herkömmliche Exil- und Rückkehrgeschichte von einem verbannten Prinzen, der arm erzogen ist, dann aber die Erbin des englischen Throns heiratet. Da diese ebenfalls ihrer Rechte beraubt ist, muß beider Rechtsanspruch zunächst wiederhergestellt werden. Die Geschichte erreicht ein gutes Ende mit ehelichem Glück und der strengen Bestrafung der ungetreuen Barone. Aber die Ausführung zeigt die volkstümliche Welt des Verfassers und der Zuhörer: König Aethelwold, mit dessen Schilderung die Erzählung beginnt, ist ein König der arbeitenden bürgerlichen Klassen, ein frommgläubiger Volksfreund und väterlich strenger Richter, fern von dem im Erobererglanz strahlenden Königsideal des französischen Versromans. Ebenso ist der Held kein Musterbild von Tapferkeit und höfischer Sitte, sondern ein mitten in den Bedürfnissen des Alltags lebender Mensch. Keusch, stark, fromm und gutmütig, entspricht er mehr einem volkstümlichen als einem ritterlichen Mannesideal. Bürgerlich ist die ausführliche Beschreibung der Umwelt des Fischers Grim, der Havelok ertränken soll, ihn aber rettet, sowie die Tatsache, daß der Fischer, und nicht irgendein Baron, zum Retter des Prinzen ausersehen ist. Bürgerlich ist auch die Verdammung der Plünderung, die sonst in den Versromanen stillschweigend als Kriegsrecht bejaht wird; und in Chrestiens Welt wäre es völlig unmöglich, daß ein Prinz Küchenjunge wird, daß nicht ein Turnier, sondern eine Jahrmarktsrauferei auf seine Kraft aufmerksam macht, daß er in einem Hemd aus Segeltuch Fische zum Markt nach Lincoln trägt u. a. m., was wenig Feinheit der Sitte voraussetzt. Dafür bringt Havelok (wie der englische Versroman überhaupt) die dem französischen Roman so ganz fehlenden vertrauten Bilder des wirklichen Alltagslebens, ohne die uns das Bild der mittelalterlichen Welt nicht lebendig würde. Diese in packender Bildlichkeit vergegenwärtigten Szenen sind dem Verfasser wichtiger als ein kunstvoller Aufbau. Aber trotz der geruhsamen Milieuschilderung und viel direkter Rede erreicht der spielmännische Dichter in seiner einfachen, immer neue Spannungsmomente bringenden Erzählweise den Eindruck eines straff zusammengefaßten kurzen Romans. Der u. a. in derselben Handschrift überlieferte und oft neben Havelok gestellte King Hörn10 (vor 1250) ist anderer Art. Zwar liegt auch hier eine auf die Däneneinfälle zurückgehende englisch-germanische Legende zugrunde, die mehr auf Handlung und Spannung abhebt als auf höfische Gefühle; und die aus der alliterierenden Langzeile zwanglos entwickelten Knittelverse erzählen sprunghaft und frisch ohne viel Beschreibung, Zergliederung und Motivierung. Aber die auf den lebendigen Alltagsbildern beruhende künstlerische Wirkung des Havelok wird bei weitem nicht erreicht. Während nämlich der Havelok nicht mehr sein wollte als eine männliche Geschichte, bettete der King Hörn in den ganz ähnlichen Rahmen einer Verbannungs- und Rückkehrgeschichte noch eine typische Liebeshandlung, so daß den lauschenden Bürgern neben den wunderbaren Heldentaten auch die Wunderwelt der höfi'ed. J. Hall (Oxf. 1901); ed. French-Hale; edd. Schmidt-Jacobs.

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sehen Sitte vermittelt wurde. Als Scheidemünze umgeprägt hat aber der höfische Roman seine feinsten Werte eingebüßt, was sich äußerlich dadurch kundtut, daß eine Havelok übertreffende Fülle des Geschehens in den halben Umfang hineingestopft ist. Einen Schritt weiter ergibt das die grobe Spielmannskunst des späteren, aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts stammenden Horn Childe and Maiden Rimnild^ dessen Unhöfischkeit zur Bäurischkeit wird, wenn der König seiner ertappten Tochter das Gesicht blutig schlägt. Das Reimgeklingel fabrikmäßiger Schweifreimstrophen zog sich Chaucers tödlichen Spott im Sir Thopas zu. In diesen Spielmannsdichtungen möchte man ein Sichanlehnen an die germanische Kunstform erkennen, eine Reaktion auf die zu starke Französisierung der Gebildeten. Andere dieser romances, wie Bevis und Guy (ca. 1300), ahmen bedingungslos die französische Art nach, obwohl auch sie legendäre germanische Helden haben. Sir Bevis of Hamtoun12 (= Southampton), ein Roman von über 4000 Versen in kurzen Reimpaaren mit einem Schweifreimvorspiel von einem halben Tausend Versen, ist nämlich an sich eine einfache Wikingergeschichte von Verlust und Wiedergewinn des Erbrechts wie King Hörn. Sie wurde jedoch bereits in der anglonormannischen Fassung, die wohl dem ausgehenden 12. Jahrhundert angehört, bis zur Undurchsichtigkeit von Abenteuern mit Sarazenen und komisch wirkenden Riesen- und Drachenkämpfen umrankt. Das volkstümliche Heldenideal der Titelfigur - tapfer, fromm, vaterländisch wie Hörn - ist verwischt durch die Unwahrscheinlichkeit der Heldentaten, die dieser im Morgenland herumirrende Ritter vollbringt. Und seine Geliebte Josian wird von einer Person zu einem Gegenstand, um den gefeilscht wird, zu einer Keuschheitspuppe, die ein Anlaß des Begehrens für jedermann wird. Aber die Fülle der Begebenheiten, die immer wieder ein an sich mögliches Ende zu einem neuen Anfang macht, sicherte dem Bevis eine jahrhundertelange Beliebtheit. Dies gilt auch für den Guy of Warwick,13 der nicht nur die Höfischkeit einer anglonormannischen Vorlage (Ende des 12. Jahrhunderts) besser wahrte, sondern auch künstlerisch höher steht. Denn obwohl er fast dreimal so lang ist wie Bevis, ist er weniger langweilig, die Abenteuer sind weniger gehäuft, die Einzelszenen voller erzählt, und der Szenenwechsel ist gemäßigter. Nur die Personen sind hier wie dort leblose Ritter; sie bewegen sich wie in einem Puppentheater, das buntes Geschehen der Wahrheit vorzieht. Auf der Höhe irdischen Glücks entsagt Guy seiner Frau und pilgert als Büßer ins Heilige Land; als er zurückkehrt, herrscht Dänennot, die der unerkannte Pilger durch Kampf mit einem afrikanischen Riesen abwehrt. Wiederum winken ihm Glück und Ruhm, und wiederum entsagt er, bis ein Engel den Sterbenden in die Arme der treuen Gattin führt. Um diese mit orientalischen Motiven bunt aufgeputzte Legendengeschichte den wunderhungrigen Zuhörern noch anziehender zu machen, sind die Abenteuer des nach Guys Weg71

ed. Hall (s. Anm. 70). ed. E. Kölbing, EETS XLVI, XLVIII. 73 ed. J. Zupitza, EETS XLII, XLIX, LIX (spätere Fassung XXVI). 72

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gang geborenen Sohns Reinbrun als Telemachie in diese christliche Odyssee hineingeflochten mit Zauber, Rittertum, Entführung und neuer Weltfahrt. Und damit auch das höfische Liebes- und Freundschaftsmotiv nicht fehlt, ist dem Ganzen die verwickelte Werbung Guys um seine spätere Frau Felice vorangestellt. Es kam also weniger auf neue Erfindung an, als auf ein Anhäufen oder Ankristallisieren aller alten Geschichten und Motive. Darauf beruht auch der nach unbekannter französischer Vorlage gearbeitete Richard Coeur de Lion14 (um 1300), der Richards Pilgerfahrt, Gefangenschaft und Rache zum großen Roman ausweitet (über 7000 Verse in kurzen Reimpaaren), in dem stehende Versromanmotive wie das Zauberboot der Fee oder die drei Turniere in drei verschiedenen Rüstungen verbunden werden mit halbgeschichtlichen Richard-Anekdoten und mit davon unabhängigen Kreuzugsgeschichten wie der von den sarazenischen Menschenfressern. Ritterlicher Geist ist nicht in der Geschichte, wohl aber kriegerischer; kaum sonstwo sind so gewalttätige Helden geschildert, der Verfasser scheint an Massenmetzeleien der Sarazenen ebenso große Freude zu haben wie sein Held Richard, den er schließlich Sarazenenfleisch verspeisen läßt. Hier ist das Bild des ritterlichen Königs bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Der Dichter erhebt jedoch Anspruch darauf, für den einfachen Mann an Stelle der unverständlichen französischen Romane eine englische Geschichte erzählt zu haben, denn „das Volk wollte gerne von edlen Kämpfen der tapferen Ritter von England hören", so heißt es im Prolog. Ein bißchen billiger Patriotismus, orientalischer Zauber- und Märchenprunk, viel Roheit und Kampfschilderung, das war das Kinostück von damals, und es war seiner Wirkung sicher, da auch die Verse flott und geschickt sind, die Handlung spannend und der Stil von einer rohen Kraft. Weniger ungehemmt bewegten sich die Spielleute in den ursprünglich für die literarisch gebildeten Hofkreise geschriebenen zyklischen Romanen, deren Stoffe seltener dem ungebildeten englischen Publikum mundgerecht zu machen waren. Aus dem 13. Jahrhundert haben wir ein Beispiel aus der Matiere de Grece et Rome, den König Alexander, und zwei Beispiele aus der Matiere de Bretagne: Arthur und Merlin sowie Sir Tristrem. Der ins Ende des Jahrhunderts gehörige King Alisaunder15 (8000 Verse in Reimpaaren), der auf Eustache und Thomas von Kent (s. S. 84) und einer ergänzenden lateinischen Quelle fußte, ordnet sich in eine große, Namen wie Alberic von Besanpon, Walter von Chätillon aufweisende höfisch-humanistische Tradition ein, die dem Stoff auch in England seine Würde wahrte. Kein englischer Alexanderroman vor 1400, und das sind neben dem King Alisaunder noch ein Alexander and Dindimus16 The Wars of Alexander11 und verschiedene Fragmente, ist so roh wie Richard Löwenherz, Bevis und Guy. Auch in der Form ist 74

ed. K. Brunner, Wiener Beitr. 42 (Wien, 1913). ed. E. V. Smithers, EETS 227, 237; ed. F. P. Magoun (Cambr., Mass., 1932); Auszüge French-Hale. 16 ed. W. W. Skeat, EETS XXXI. 77 ed. W. W. Skeat, EETS XLVII. 75

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König Alexander künstlerischer als die Spielmannsepik der Zeit; das Reimpaar ist gut gemeistert, die Sprache ist farbig und unmittelbar und der Aufbau eigenartig: Der Autor läßt literarische Bildung, zuweilen auch Gelehrsamkeit erkennen. Der ganze Roman weist eine Zweiteilung auf. In Teil I wird die wunderbare Erzeugung des Helden erzählt, seine Jugend und seine Thronbesteigung nach dem Tode Philipps, dann die Eroberung Karthagos und anderer Städte und die Kriege mit Darius. Überall ist die Handlung schwungvoll, nur die Dariuskämpfe werden etwas langatmig. In Teil II, in der Schilderung von Alexanders Reisen und Eroberungen in Indien und anderen orientalischen Ländern, kommt ausführlich und mit belehrenden Einzelheiten das Exotische zu Wort. Zu den kriegerischen Fährnissen tritt als einzige Liebeshandlung die Versuchung Alexanders durch Candace, und der Bericht schließt mit dem Tode des Helden durch Gift. Außer dieser Zweiteilung findet sich hier und in Arthur und Merlin, weshalb man denselben Verfasser vermutet, eine Unterteilung in Abschnitte, die jeweils mit einem lyrischen oder beschreibenden Eingang versehen sind, woran sich oft eine Reflexion knüpft. Die - oft rhetorisch versierte - Darstellung erinnert an die ritterliche Dichtung in der malerischen Schilderung der Truppenaufzüge auf dem Schlachtfeld und der Beschreibung der Feste, der Gewänder und schönen Frauen. Der Rang des Alexander, dessen Lebhaftigkeit gelegentlich zu Vergleichen mit Chaucer herausfordert, wird von den anderen zyklischen Romanen nicht erreicht. Der ebenfalls ins Ende des Jahrhunderts gehörige Arthur and Merlin1* bringt in seinen fast 10000 Versen nicht viel mehr als Bevis: mechanische Abenteuerhäufung, Überfülle von Figuren, Ausdehnung über drei Geschlechter - eine Nachahmung der herkömmlichen französischen Form ohne künstlerische Formung. Es ist ein Versroman aus der Matiere de Bretagne, die sich nach dem Erfolg der ersten Arthurepen in mehrere Unterkreise teilte, die jeweils um einzelne Ritter der Tafelrunde sich ordnen: Tristan, Gawain, Lancelot, Merlin. Dieser englische Merlin, der zwar ungewöhnlich flüssige Reimpaare aufweist, und dessen lyrische Eingangsverse über die Jahreszeiten und die Liebe an den Alexander erinnern, ist stofflich Robert de Boron79 verpflichtet, einem anglonormannischen, in Hertfordshire begüterten und von Heinrich II. ausgezeichneten Ritter, der in einer Trilogie den Gralsstoff mit der Matiere de Bretagne verband. Auch im Tristanstoff zeigte England keine glückliche Hand. Der von einem vermutlich anglonormannischen Lucas von Gast aus Salisbury stammende französische Prosaroman (etwa 1230), der nur in der Neubearbeitung und Aufschwellung eines französischen oder normannischen Dichters, der sich Helyes de Borron nennt, erhalten ist, stellt nicht eine spiritualisierte, sondern die Abenteuer aller Tafelrundenritter häufende Summe dar, der die ritterliche Weltanschauung ebenso abgeht wie der künstlerische Grundsatz 78 79

ed. E. Kölbing (Lpzg., 1890); EETS 268, 279. ed. W. A. Nitze(1927).

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der mäze. Und der umgekehrt verfahrende spielmännische Sir Tristrem*0 (Ende des 13. Jahrhunderts) gibt in seinen 304 balladenartigen Strophen von Elfzeilern nicht eine umgestaltende Auswahl, sondern eine Kürzung bis auf das Handlungsgerippe, die wie eine Inhaltsangabe des Epos von Thomas anmutet. Inhaltlich spannende Erzählung, besonders der Kämpfe, ist das einzige Verdienst dieses Romans, der vom Geiste der Tristandichtung nichts mehr enthält. Die Spielmannsdichtung ist glücklicher, wenn sie Stoffe mit spannender Fabel wählt, die eine novellistisch gradlinige Durchführung gestatten. Das schönste Beispiel ist die Liebesmär von Floris and Blauncheflur^ (um 1250), die erzählt, wie zwei Kinderherzen sich finden, wie dann das Mädchen ins Serail entführt wird, und Floris die Geliebte nach langem Suchen und vielen toddrohenden Gefahren vom Sultan, der durch so viel treue Liebe gerührt ist, zurückerhält. Diese weiche orientalische Märchenerzählung wurde in Frankreich, das, wo nicht das Ursprungs-, so das Umschlagsland der Versromane war, zu einer volkstümlichen Fassung entwickelt, die Floris durch körperliche Kraft seine Geliebte erringen läßt, und zu einer aristokratischen, die auf die Gefühle und die Beschreibungen den Nachdruck legte. Dieser letzteren Fassung folgt der englische Versroman unter starker Kürzung der beschreibenden und schmückenden Teile, aber mit feinem Verständnis für die zarte Geschichte, die hingebende Liebe und Schönheit über alle Hindernisse triumphieren läßt. Auch in Sprache und Vers ist dieses kurze Stück mit seinen etwa 600 geschmeidigen Reimpaaren eines der besten, viel besser als die entsprechende Freundschaftsgeschichte von Amis and Amiloun*2 (Ende des 13. Jahrhunderts), die ebenfalls in zahlreichen Fassungen verbreitet war. Diese Verherrlichung der Treue, die das Opfer des eigenen Lebens, ja des eigenen Gewissens nicht scheut, und dann hoch belohnt wird, war mittelalterlichem Empfinden so nahe, daß nahezu alle Sprachen eigene Fassungen entwickelten. Sind die beiden Werke schon eher Novellen als Romane, so bildet, auch der Form nach, The Proces of the Seuyn Sages (Ende des 13. Jahrhunderts) den Übergang zur fabliauartigen, volkstümlichen Erzählliteratur. Das Werk besteht aus fünfzehn durch eine Rahmengeschichte zusammengebundenen Stücken, die großenteils, wie die Gattung der Rahmenerzählung selbst, orientalischer Herkunft sind. Der den sieben Meistern zur Erziehung anvertraute Sohn Diokletians wird von seiner Stiefmutter angeklagt, kann sich aber nicht verteidigen, da er ein drohendes Unheil nur durch siebentägiges Schweigen abwehren kann. So entspinnt sich ein durch Geschichte und Gegengeschichte geführter Kampf zwischen der Kaiserin und den Meistern, wodurch das Hinrichtungsurteil so lange hinausgeschoben wird, bis der von seinem Schweigebann gelöste Königssohn den 'Proces' durch seine eigene Geschichte abschließen kann. Die novellistisch zugespitzten Geschichten selbst 80

ed. E. Kölbing, 2 Bde. (Heilbronn, 1878-83). ed. E. Hausknecht (Bln., 1885); EETS 14; ed. French-Hale; ed. Sands. 82 ed. E. Kölbing (Heilbronn, 1884); ed. Leach, EETS 203. 81

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sind altes orientalisches Erzählgut, auf deren stoffliche Wirkung der mehr als Übersetzer tätige Bearbeiter sich verlassen konnte. Das in ihnen abgewandelte Motiv weiblicher Unbedenklichkeit rückt sie von der Welt des Versromans ab und verbindet sie mit der späteren Novellistik der Renaissance (Boccaccio, Bandello u. a.), die ihrerseits in Painters Palace of Pleasure ihren englischen Vermittler hat. Während die Gattung des mittelalterlichen Fabliau - einer kurzen lustigen Verserzählung oft erotischer Abenteuer - in Frankreich zu voller Blüte gelangte (es sind etwa 150 Texte erhalten), ist sie in England - von Chaucer abgesehen - sehr schwach vertreten. Von volkstümlicher Schwankliteratur ist nur die Dame Sirith^ (ca. 1250) erhalten, das seltene Beispiel eines - wie die im Manuskript vorhandenen Angaben vermuten lassen - wohl mimisch vorgetragenen Fabliau. Der lustig-leichtfertige Schwank von der alten Kupplerin, die einen Kleriker mit der geliebten Kaufmannsfrau zusammenbringt, ist in 450 Versen so frisch wie in den Canterbury Tales erzählt, während das vielleicht etwas spätere Bruchstück Interludium de Clerico et Puella in kurzen Reimpaaren eine sehr ähnliche zwischen Kleriker, Kupplerin und Mädchen sich abspielende Geschichte in dramatischer Form abwandelt (s. S. 123). Das anglo-irische Land of Cockayne (1250-1300) enthält satirische und parodistische Elemente: Es wird nicht nur klösterliche Völlerei aufs Korn genommen, sondern auch die christliche Paradies-Vorstellung parodiert. Ein breites, aber gutmütiges Lachen klingt aus der knappen, 95 Reimpaare umfassenden, witzigen, wenn auch hier und da etwas schmutzigen Geschichte, der manche ähnliche im 14. Jahrhundert folgen sollte.

IV. DAS 14. J A H R H U N D E R T 1 1. Die politisch-soziale und philosophisch-religiöse Entwicklung2 Daß das 14. Jahrhundert die Zeit der Regentschaften der drei Eduarde, Richards II. und allenfalls Heinrichs IV. ist, bedeutet jetzt weniger als die Daten der Macht- und Handelskriege mit Schottland und Frankreich, denn neben dem Herrscher steht die Vertretung des Adels und der Städte, und aus der Hausmacht wird ein Reich. Nach der Eroberung von Calais (1347) und den 83

edd. Bennett and Smithers (s. S. 113, Anm. 20), Nr. 6. Als Einführung in die Literatur des 14. Jh. vgl. die vorzügliche Auswahl: Fourteenth Century Verse and Prose, ed. K. Sisam (Oxf., 1921) [mit Glossar von J. R. R. Tolkien]; Poetry of the Age of Chaucer, edd. A. C. and J. E. Spearing (1974). Übersetzungen in: Chief British Poets of the 14th and 15th Centuries, edd. W. A. Neilson and K. G. T. Webster (Boston, 1917). 2 Mit dem 14. Jh. beginnt G. M. Trevelyans English Social History (1944). 1

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großen Siegen von Crecy (1346) und Poitiers (1356) bestimmte der Vertrag von Bretigny (1360), daß der englische König seinen Anspruch auf die französische Krone aufgeben und auf die Normandie verzichten sollte, wofür er Aquitanien eintauschte. War das so geschaffene Reich auch keine ethnische Einheit, so war es doch ein englisches und nicht mehr englisch-französisches Reich. Diese Tatsache wurde wichtiger als der Verlust Aquitaniens (1374) und (um die Mitte des 15. Jahrhunderts) aller französischen Besitzungen außer Calais. Denn die in diesen Kriegen erstarkende national-englische Gesinnung beschleunigte den Aufstieg der nationalsprachigen englischen Literatur durch das Zurückdrängen des Französischen, das auch für den Adel aus einer Landessprache zu einer Fremdsprache wurde. 1362 bestimmte ein Statut, die Gerichtsverhandlungen englisch zu führen, ein Jahr darauf wurde das Parlament erstmals mit einer englischen Rede des Kanzlers eröffnet, und Trevisa bezeugt eine ähnliche Umstellung im Unterricht der Schulen. Der Sieg des Englischen war entschieden, als Heinrich IV. den Krönungseid in englischer Sprache leistete (1399), was jetzt geradeso natürlich schien, wie es ein Jahrhundert zuvor bei Eduard II. (1307) selbstverständlich war, daß es in französischer Sprache geschah. Diese Entwicklung ging weniger von Herrscher und Adel aus als vom Bürgertum. Hatten einst mit der Magna Charta (1215) die Barone größeren Anteil an der Macht erlangt, so trat im 14. Jahrhundert das Parlament an deren Stelle. Unter Eduard I. setzte es Steueraufsicht durch, unter Eduard II. war seine Macht von der Ministerabsetzung zur Königsabsetzung vorgeschritten, unter Eduard III. hatte es Stimme in Entscheidungen über Krieg und Frieden, prüfte die Ausgaben und regelte die Verwaltung. Das war ein Sieg des seit dem 13. Jahrhundert mehr und mehr erstarkenden Bürgertums. Denn im Parlament des 14. Jahrhunderts stimmten die vier Stände: Geistlichkeit, Hochadel (Barone), Kleinadel (Ritter, knights of the shire), Bürger nicht mehr unabhängig voneinander, sondern die beiden letzteren sind seit dem Regierungsantritt Eduards III. zusammengefaßt als The Commons, d. h. die Gemeinen, die Vertreter der Gemeinden, wodurch die Zweiteilung in House of Lords und House of Commons entstand. Die Macht der Gemeinen wuchs ständig, so daß Langland von ihnen schon als den Regierenden spricht. Der Grund des bürgerlichen Erstarkens ist im Aufblühen der englischen Städte zu sehen. Anders als auf dem Festland bezeichnete „Stadt" in England ursprünglich nichts anderes als ein Stück Land innerhalb der 'lordship' eines weltlichen oder geistlichen Herrn, dem Verwaltung und Steuereinkünfte zustanden. Aber Gewohnheitsrecht schuf ein gegenseitiges Pflichtenverhältnis, und da der oft arme Stadtherr sich die Mithilfe der reichen Bürger für Kriege, Wege- oder Kirchenbau durch Überlassung von Freiheiten und Rechten erkaufte, so hatten schon zu Ende des 13. Jahrhunderts alle größeren Städte eigene Gerichtsbarkeit, Selbstverwaltung und Steuerrechte. Die städtische Macht lag damit bei den bürgerlichen Gilden, die aus den Friedensgilden hervorgegangen waren, d. h. dem freiwilligen Zusammenschluß der meist Ackerbau treibenden Nachbarn zum Schutz und zur Selbstverteidigung. Sie

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hießen nun Town Guilds und spalteten sich später in reiche, Land besitzende Merchant Guilds, die große Handelsunternehmungen leiteten, und in die Craft Guilds (Handwerkergilden). Diese stiegen vom Klein- zum Großhandel auf, und mit Eduards III. Eintritt in die Waffenschmiedgilde traten sie auch nach außen als die Führenden hervor. Im Zuge dieser gesellschaftlichen Umschichtung veränderte sich auch die Lage des Bauernstandes. Das mittelalterliche Ritterguts- oder Manorialsystem, wonach der Besitzer des Manor ein Viertel seines Besitzes selbst zu verwalten hatte, während der Rest gegen Dienstleistung unter Pächter verteilt war, wurde erschüttert, als der verarmende Grundherr seine 'Demesne' an einen Pächter vermieten mußte; denn damit war die Grundlage der ländlichen Feudalverwaltung zerstört. Fortan konnten die reichen Pächter zu Standesgenossen ihrer früheren Herren werden, während durch das zunehmende Sich-frei-Kaufen der Leibeigenen die Klasse der freien Landarbeiter derart wuchs, daß zu Ende des Jahrhunderts der Grundbesitzer durchweg auf bezahlte Arbeit angewiesen war. Als nun der schwarze Tod von 1349 das Arbeitsangebot verringerte und darauffolgende Lohnsteigerungen die Bebauung des Landes unmöglich machten, ergab sich eine mittelalterlicher Anschauung unverständliche Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit: Das Statut von 1349, das die herumziehenden Arbeitslosen zu Arbeit bei niederem Lohn und Bindung an die Scholle verpflichtete, schuf ein Mißverhältnis zwischen Arbeitslohn und Kornpreis, und das daraufhin erlassene Gesetz, das die Ausreißer mit dem heißen Eisen bedrohte, traf auf geschlossenen Widerstand. Wiclifs kommunistisch-christliche Ideen schienen der Stimmung Worte zu verleihen, die schließlich unter Richard II. zum bewaffneten Aufruhr führte: 1381 wurde John Ball, einer der Führer, gewaltsam aus dem Gefängnis befreit. Wat Tyler, ein anderer der Anführer, zog mit großen Massen der Bevölkerung gegen London. Zwar wurde die Bewegung niedergeworfen, aber der Geist der Unzufriedenheit blieb. Der Übergang der Grundherren zu der weniger Arbeiter erfordernden Schafzucht vermehrte nur die Zahl der Arbeitslosen, woraus den kommenden Zeiten ein früher unbekanntes Problem erwuchs. Trotz solcher düsteren Vorzeichen suchte das nun auch die Literatur mehr und mehr bestimmende Bürgertum alles Umstürzende im hierarchischen Aufbau der Gesellschaft zu vermeiden. Der Begriff der Gliederung der Gesellschaft und Stände, als welche auch alle Berufe galten, wurde bei der herrschenden statischen Lebensform als gottgewollte Ordnung hingenommen, ebenso wie man das bunte Kleid des Feudalismus, und wenn auch nur als Wunschbild, beizubehalten bestrebt war. Deshalb waren trotz der auswärtigen Kriege, innerer Revolten, des Bauernaufstands und der viermal verheerend auftretenden Pest Luxus, Wohlleben, Kleiderprunk und Kunstsinn stark entwickelt, und die Literatur blieb im wesentlichen eine bejahende Kunst. Daher herrschte eine unverminderte Vorliebe für die ritterlichen Versromane, die doch höchst veraltet hätten sein müssen. Vieles in Kunst und Literatur des späten Mittelalters war ein Ausweg aus den Härten des Daseins, dessen Unbegreiflichkeit nur so tragbar wurde.

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Im Gegensatz zu dem große Summen aufbauenden 13. Jahrhundert war das 14. eine Zeit der Kritik, die schließlich diese Synthesen zerbrach; denn die Aufgabe, deren Lösung diese Werke versucht hatten, erschien jetzt unlösbar. Die Schule des WILLIAM VON OccAM3 (ca. 1285 - ca. 1350) verengte den Bereich des philosophisch Beweisbaren, so daß sich schließlich eine völlige Trennung von Glauben und Wissen ergab, die einerseits in eine rein religiöse Mystik mündete, andererseits in die ersten Entdeckungen reiner Wissenschaft in einem dem Mittelalter noch fremden Sinne. Die Oxforder mathematischexperimentelle Richtung war nämlich durch den Franziskaner William von Occam gegen die aristotelische Lehre dahin zugespitzt worden, daß nur ein durch Sinneserkenntnis unmittelbar evidenter, oder von einer solchen abgeleiteter Satz als philosophischer Beweis gelte, wodurch erkenntnistheoretisch nicht wie im Thomismus das Allgemeine, sondern das Einzelne Wissenschaftsgegenstand wurde (Nominalismus), und theologisch die geoffenbarten Wahrheiten als nicht beweisbar dem Glauben zufielen. Und da entsprechend im psychologischen Bereich das Sein und die Eigenschaften der Seele und im Ethischen die moralischen Vorschriften dem Wissenschaftsgebiet entrückt wurden, war mit Occam und seinen englischen Schülern, dem Franziskaner Adam Woodham und dem Dominikaner Robert Holcot, die mittelalterliche Harmonie zwischen Glauben und Vernunft erschüttert. Insbesondere die einst streng aristotelische Pariser Universität übernahm die neue Lehre mit solchem Eifer, daß die für die Folgezeit gültige Trennung von Glauben und Wissen vorbereitet und die Leitgedanken der Renaissance-Philosophie schon vorgebildet wurden. Occam wollte nicht die Kirche angreifen; auch sein Kampf gegen die weltliche Herrschaft der Päpste wendete sich gegen Personen, nicht gegen die Lehre der Kirche, die einzige Mittlerin zwischen Civitas terrena und der Civitas coelestis zu sein. Aber die vielfachen Angriffe gegen die Päpste erschütterten das Ansehen der Kirche, der staatliche Widerstand gegen päpstliche Kollektoren und Anweisungen auf englische Pfründe griff ein in die Rechte des Heiligen Stuhles. Alle Reformen dachte man sich jedoch innerhalb des kirchlichen Verbandes; auch JOHN WicuF4 (1320-84), der als gefeierter Oxforder Kirchenlehrer die Hoheitsrechte der englischen Krone gegen den „Tribut" des Lehenszinses verfocht und sogar die Einziehung der Kirchengüter vorschlug, bezweckte nur eine Abstellung kirchlicher Verweltlichung. Als aber der 1377 zur Macht kommende Vertreter des Adels John of Gaunt, der mit solchen Beschlagnah3

E. Hochstetter, Studien zur Metaphysik und Erkenntnislehre W. v. O's. (Bln., 1927); S. Riezler, Die literar. Widersacher der Päpste (Lpzg., 1874); A. G. Little, The Grey Friars in Oxford (Oxf, 1892); H. Obermann, The Harvest of Medieval Theology (Cambr., 1963). 4 Vgl. G. Lechler, Wiclif und die Vorgeschichte der Reformation, 2Bde. (Lpzg., 1873); J. Stacey, J.W. and Reform (1964).- Wiclifs lateinische Werke, ed. Wyclif Soc. (1882ff.); englische Schriften, ed. T. Arnold, 3 Bde. (Oxf., 1869-71); ed. F. D. Matthew, EETS 74; Auswahl, ed. H. E. Winn (Oxf., 1929).

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mungen die gegnerische Prälatenpartei wehrlos machen wollte, mit bewaffneter Macht in der St. Paulskirche für Wiclif eintrat und den päpstlichen Haftbefehl mißachtete, ging Wiclif zur Äußerung wirklich reformatorischer Ansichten über. Er nannte den Papst Antichrist und griff die Heiligen- und Reliquienverehrung und sogar die Sakramente an, worauf sich der Adel von ihm zurückzog. Dann wandte er sich in englisch geschriebenen Traktaten an die Masse des Volkes und bezeichnete die Transsubstantiationslehre als Götzendienst und suchte seinen auf das Urchristentum zurückgreifenden Ansichten durch Wanderprediger Verbreitung zu schaffen. Die vergröbernden Worte dieser 'poor priests', die nach John Balls Zeugnis am Aufstand von 1381 mitbeteiligt waren, verscherzten Wiclifs Ansehen auch bei den Commons. Zu gleicher Zeit sank auch das Ansehen der Universität Oxford, die lange ihren Lehrer zu schützen suchte. Die Anhänger Wiclifs, die man Lollarden hieß, die jedem Priester Binde- und Lösegewalt zusprachen und umstürzende Neuordnungen verlangten, wurden von der neuen Dynastie Lancaster rücksichtslos niedergeworfen. Heinrichs IV. Gesetz, das den Häretikern Todesstrafe androhte - das erste derartige Dekret in England - kündete auch auf kirchlichem Gebiet vom Wandel der Zeit, und nicht mit Unrecht haben später die Puritaner in Wiclif und den Lollarden ihre Vorläufer gesehen.

2. Vordringen der Prosa Die nach der geistigen Haltung zu erwartende Vorherrschaft der Prosa trifft im 14. Jahrhundert nur bedingt zu. Aber alle belehrenden Zwecken dienende Literatur rückte stärker als zuvor vom Vers und vom Lateinischen ab, und die erbauliche Literatur entwickelte in der Mystik einen neuen Höhepunkt der Prosa. Am konservativsten ist die an die großen lateinischen Meister gebundene Historiographie, die in RANULF HIGDENS (t 1364) Polychronicon5 genannter Weltgeschichte das bis dahin vollständigste, einflußreichste Werk aufzuweisen hat. Dies Buch wurde von JOHN TREVISA ("f 1402), dem wichtigsten englischen Übersetzer des 14. Jahrhunderts, für einen weiten Leserkreis aus dem Lateinischen ins Englische übertragen (1387), ohne viel eigene Zutaten und ziemlich wörtlich, so wie es das vorausgestellte Gespräch über das Übersetzen forderte: klar, verständlich und ungezwungen. Die festgefügte Rhetorik des Vorbilds zerfloß allerdings in umständlicher Weitschweifigkeit, und die treuherzige Einfalt des Verfassers kann die künstlerische Formlosigkeit nur zum Teil wettmachen. Trevisas Buch ist überaus rückständig gegenüber Froissart, aber immerhin war damit Geschichtsschreibung in englischer Prosa begonnen, während ein halbes Jahrhundert zuvor nur der landessprachige Vers als geeignetes Mittel volkstümlicher Belehrung galt. 5

Higdens Polychronicon und Trevisas Übersetzung, edd. C. Babington and J. R. Lumby, 9 Bde., RS (1865-86).- Vgl. J. Taylor, The Universal Chronicle of Ranulf Higden (Oxf., 1966).

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Auch im 14. Jahrhundert entstanden noch Verschroniken von altertümlicher Langatmigkeit. Erwähnenswert ist jedoch nur der schottische Bruce6 (1375) von JOHN BARBOUR (ca. 1316-95): Er ist zum Heldenlied gewordene Geschichte, ein begeisternd vorgetragener Bericht, der Bruces Leben mit innerer Anteilnahme folgt, von seiner Flucht in die Berge von Galloway bis zum Sieg von Bannockburn. Als Ausdruck des starken, in den Unabhängigkeitskriegen (1286-1342) entstandenen schottischen Nationalgefühls suchte Barbour in diesem auch sprachliche Selbständigkeit fordernden vaterländischen Epos, wie einst Lajamon, den großen Geist der früheren Zeit als Vorbild für die Lebenden in großer Dichtung zu gestalten. Für alles im damaligen Sinne als Wissenschaft Geltende wurde bereits die englische Prosa als entsprechendes Mittel empfunden. Früher normannisch geschriebene Jagdtraktate wurden übersetzt (The Treatise on Hunting1) oder englisch abgefaßt (The Master of Game1), lateinische Medizinbücher und Rezepte bedürfen jetzt der landessprachigen Übertragung, auch in volkstümlichen Traumbüchern stellt sich die prosaische Fassung ebenbürtig neben die gereimte. Als Musterbeispiel für diese Tendenz können zwei Werke dienen: ein dem Lateinischen entwachsenes, wissenschaftliches, der Chaucersche Astrolabe, und ein dem Vers entwachsenes, pseudowissenschaftliches, die Mandevilleschen Reisen. Der nach der Vorrede für des Dichters Sohn bestimmte Treatise on the Astrolabe* (ein astronomisches Instrument) ist bemerkenswert, weil man eine solche Abhandlung jetzt in englischer Prosa schrieb, nicht wegen der zwar schlichten, aber unbeholfenen Prosa als solcher. Die Travels of Sir John Mandeville9 (etwa 1377) dagegen haben eine mehr als symptomatische Bedeutung, denn sie sind der Anfang prosaischer Unterhaltungsliteratur, und ihre Sprache zeichnet sich aus durch glatte Erzählung, einfachen, überzeugenden Ton, kurze Sätze und sichere Wortwahl. Dazu ist der Inhalt höchst unterhaltend: ein Reisebuch in der Art der Palästinapilger unterweisenden Itinerarien, das ein in St. Albans geborener englischer Ritter namens Mandeville selbst aufgezeichnet haben soll, voll merkwürdiger Abenteuer mit Menschen und Fabelwesen in fernen Landen. Der Verfasser des französischen Originals, der wohl in Lüttich um 1357 schrieb, hat mit diesem Buch der wunderfreudigen Fabulierlust eine gemäßere Formung gegeben, als es der anderer geistiger Haltung entsprungene Versroman erlaubte: Die Travels wurden das beliebteste Reisebuch des Mittelalters; etwa 250 Handschriften bezeugen seine Popularität. 6

ed. W. M. Mackenzie (1909). Hunting u. Master of Game, ed. Baillie-Grohman (1904), 8 ed. W. W. Skeat, EETS XVI.- Vgl. D. J. Price, The Equatorie of the Planetis (Cambr., 1953). 9 The Bodley Version of Mandeville's Travels, ed. M. C. Seymour, EETS 253 (1963); MS Cotton: ed. P. Hamelius, 2 Bde., EETS 153/4; ed. A. W. Pollard (21923) [modernisiert]; desgl. J. Bramont, EL; MS. Egerton: ed. G. F. Warner, Roxb. Club (1889) [mit ausführl. Einleitung].- Dt. Übers, v. T. Stemmler (Stuttgart, 1966). 7

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Entscheidender noch ist das Vordringen der Prosa auf dem nächst der Historiographie durch Tradition am stärksten gebundene Gebiet moralischen und religiösen Schrifttums.10 Wenn auch weiterhin satirische oder belehrende Predigten, Laienmeßbücher und Katechismen, Meditationen über Abendmahl oder Leidensgeschichte in Versen verfaßt werden, so stehen ihnen eine gleichgroße Zahl prosaischer Stücke gegenüber: Adam and Eve betitelte Schöpfungserzählungen, ein Leben Jesu, Beichtanweisungen und Übersetzungen lateinischer Moraltraktate. Auch Chaucer paßte sich in diesen Rahmen ein mit einer Übersetzung des mittelalterlichen Lieblingsbuchs Boethius' Trost der Philosophie, mit der Übersetzung der meist Jean de Meung zugeschriebenen moralisch-allegorischen Erzählung Melibeus und der einfach und gut, aber unpersönlich und herkömmlich erzählten Parson's Tale. Literarische Bedeutung aber, wie sie der Ancrene Riwle des 12. Jahrhunderts zukam, erreicht erst das an die Namen Wiclif und Rolle anknüpfende Schrifttum. Die Bibelübersetzung" von WICLIF und NICHOLAS HEREFORD erreichte eine Verbreitung, wie sie keine der früheren, meist für Klöster geschriebenen Teilübersetzungen hatte, und legte den Grund zu dem biblischen Stil, der in der erhabenen Sprache der Authorized Version (1611) dann vorbildlich wurde. Der tatsächliche Anteil Wiclif s an der Übersetzung ist nicht bestimmbar: Vielleicht war er „lediglich" Anreger dieser bedeutenden Leistung und hat die eigentliche Arbeit am Text Helfern wie etwa Nicholas von Hereford überlassen, der fast das gesamte Alte Testament übersetzte. Deutlich scheidbar sind eine frühere Version (um 1380-84?) in einem noch stark von der lateinischen Vorlage beeinflußten, oft unbeholfenen Englisch und eine spätere Bearbeitung, die die erste Version sprachlich erheblich verbessert und von John Purvey wohl erst 1395 vollendet wurde. Die unfreie Nachahmung des lateinischen Satzbaus ist in Wiclifs Predigten und Flugschriften12 weniger fühlbar; hier fesselte nicht die Ehrfurcht vor der Vorlage, sondern heilige Wahrheitsüberzeugung und sittliche Entrüstung führten zu kraftvollem und persönlichem Ausdruck. Wiclif mochte rhetorische Künste ebensowenig wie scholastisches Denken; sein Gegenstand erfüllte ihn so, daß er im Streben nach dem bezeichnenden kurzen Ausdruck für den jeweiligen Gedanken ein klares, aber ungefüges und grobes Englisch schrieb. Wo sein Herz ihn abschweifen hieß, kümmerte ihn die logische Gliederung nicht, er wollte praktisch wirken, und in seinem Loshämmern auf den Leser fügte er die Sätze nicht, sondern hängte sie aneinander. Wie stark das aufs Volk wirkte, zeigte der Erfolg der 'poor priests'. Wiclif hatte die englische Prosa zum Mittel logischer Beweisführung entwickelt, hatte sie in den Dienst 10

Auswahl: Middle English Religious Prose, ed. N. F. Blake (1972). edd. J. Forshall and F. Madden, The Wycliffite Versions of the English Bible, 4 Bde. (Oxf., 1850) [beide Versionen enthaltend]; W. W. Skeat, The New Testament in English (Oxf., 1879). - Vgl. M. Deanesly, The Lollard Bible (Cambr., 1920); S. L. Fristedt, The Wycliffe Bible (Stockholm, 1953). 12 vgl. S. 133, Anm. 4. 11

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großer Gedanken gestellt und zur Trägerin der Polemik gemacht. Aufgrund dieser Erweiterung der Prosa konnte die Predigt nach Wiclifs Ansicht den üblichen Redeschmuck der Scholastik entbehren. Angemessene Einfachheit (apte), schlichte Ausdrucksweise (plana locutio), fromme Gesinnung (fidelis sermonis ministratio) waren seine Forderungen. All diese Prosa war beredt, nicht groß; Größe erreichte dagegen die englische Mystik. Als später Ausläufer der europäischen mystischen Bewegung, die im 12. Jahrhundert in Deutschland aufblühte und später in den Klöstern der Zisterzienserinnen (Gertrud der Großen, Mechthild von Magdeburg) und in den Predigerorden (Eckart, Tauler, Seuse) sich reich entfaltete, auch in Holland, Frankreich und den südlichen Ländern große Persönlichkeiten aufzuweisen hatte, fand die um Richard Rolle sich sammelnde englische Schule weniger Beachtung. Sie teilte weder den spekulativen Zug noch die Ekstatik mit der festländischen Mystik; ihre Haltung war seelsorgerisch, und ihre Erzeugnisse tragen den Stempel des Erbauungsbuchs. In Übereinstimmung damit war die bevorzugte literarische Form der Brief oder die Anrede an den einzelnen. Der Begründer dieser englischen Mystik und zugleich der wichtigste und bis tief ins 15. Jahrhundert gelesenste Autor war RICHARD ROLLE13 (ca. 130049), der in gefühlsmäßiger Abneigung gegen die dialektische Oxforder Methode sich als Einsiedler in seine nordenglische Heimat zurückzog und als geistlicher Berater der Zisterzienserinnen im Kloster von Hampole starb. Sein Denken und seine Art enthüllen sich in zwei lateinischen Schriften De emendatione vitae und Incendium amoris. Die Emendatio ist sein einziger Versuch, Systematik zu geben; sie deutet das geistige Leben nach dem durch Dionysius Areopagita aus der griechischen Philosophie in die christliche Mystik eingeführten Schema der Reinigung ( 9 ), Erleuchtung (£ ) und Gotteseinigung ( ), aber ohne die in der festländischen Mystik erstrebte feine Zergliederung der Stufen. Statt dessen mahnt eine einleitende, seelsorgerische Bußpredigt zur Abwendung vom Weltlichen, und der lyrische Schluß besingt das Ziel, 'in amore Dei canere et jubilare'. Diese lyrische Natur Rolles spricht deutlich in der locker gefügten, dithyrambisch und sprunghaft geschriebenen Lebensgeschichte, die erzählen will, wie der Verfasser dazu kam, das Feuer der göttlichen Liebe zu fühlen, und die er darum Incendium amoris nannte. Voraussetzung ist der alleinige Verlaß auf das Gefühl; schroff wendet er sich gegen die Philosophen und Theologen, für die sein Buch nicht bestimmt sei, und sieht gerade im Erfassen der Unbegreiflichkeit die richtige Gotteserkenntnis. Das geschilderte eigene mystische Erleben 13

Yorkshire Writers: R. R. and his Followers, ed. C. Horstmann, 2Bde. (1895-96); English Writings, ed. H. E. Allen (Oxf., 1931); Incendium, ed. M. Deanesly (Manch., 1915); Melos Amoris, ed. E. J. F. Arnould (Oxf., 1957); Emendatio, ed. M. de la Bigne in: Maxima Bibliotheca Veterum Patrum (Lyon, 1677); mittelengl. Übers, der beiden letzteren von R. Misyn, EETS 106; neuengl. von F. M. M. Comper (21920), desgl. von G. E. Hodgson (1923); Perfect Living in Horstmann (s. o.) I, 3.- Vgl. H. E. Allen, Writings Ascribed to R. Rolle (N. Y., 1927); M. D. Knowles, The English Mystical Tradition (1960) [Rolle, Hilton, Juliane, Margery Kempe]; W. Riehle, The Middle English Mystics (1981).

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weicht von dem üblichen Gang ab, denn nach den der Purgatio und Illuminatio entsprechenden Zeiten der Reue und Buße und der Entzündung der Seele in Liebe zu Gott läßt er als Contemplatio die Zeit der göttlichen Schau folgen. In dieser Zeit liegen seine eigentlichen mystischen Erlebnisse, der 'calor', die Wärme göttlicher Liebe, der 'canor', die Musik der unsichtbaren Welt, und der 'dulcor', die Süße der himmlischen Luft selbst. So steht das Wort 'Ego dormio et cor meum vigilat' über seinem dem Liebesevangelium gewidmeten Leben und Wirken, das die in der Art der Ancrene Riwle für eine Einsiedlerin englisch geschriebene sog. Form of Perfect Living vollendet ausdrückt. Man hört den leidenschaftlichen Redner aus dem geschriebenen Wort, er will Eindruck erzielen durch Gleichklang und Wortspiel der Antithesen, Entsprechung gleichgeschalteter Sätze und Häufung rhetorischer Figuren. Vielfach fühlt man sich an altenglische Prosa erinnert, aber die Wortfolge ist zum Unterschied von dem späteren Wiclif modern. Befremdend, aber seiner Art ganz angemessen, ist das sprunghafte Wechseln von hohem und niederem Stil und die bei Stellen der Verzückung zu einer Mischung von Poesie und Prosa sich steigernde Sprache. Seine Nachfolger, die in der Art der Emendatio schreibenden wie Walter Hilton und der Verfasser der Cloud of Unknowing und die in der Linie des Incendium liegenden Liebesoffenbarungen der Juliana von Norwich, sind in ihrer gemäßigteren Art modernem Empfinden näher. WALTER HILTON (•f* 1396) beschrieb in dem nächst Rolle wohl gelesensten Buch The Scale (Ladder) of Perfection™ den Weg vom Verstehen der Tatsachen der Religion über ein Fühlen zu der höchsten Stufe der Vereinigung der Liebe und des vollen Verstehens; aber diese letzte Stufe erlebte der Verfasser nicht selbst, er berichtete sie nach dem Erleben anderer und gab damit eine Einordnung seines Werks: Es ist ein an Bibel und kirchliche Überlieferung sich haltendes Erbauungsbuch, das zu verinnerlichtem Christentum führen soll. Es erinnert an Seuse, der von den deutschen Mystikern der gelesenste in England war. Unter Vermeidung alles Metaphysischen wollte Hilton ein allen Religiösen zugängliches Empfinden in ungekünsteltem Englisch ausdrücken. Diesem breiten Weg der englischen Mystik sucht sich selbst das einzige Beispiel spekulativer englischer Mystik, die Cloud of Unknowing^ (ca. 1370), anzunähern. Denn auch dieses Buch, das anders als Hilton das mystische Dunkel nicht nur als psychische Erfahrung, sondern als metaphysisches Aufgehen im Unendlichen faßt (im Sinne Dionysius'), will in erster Linie Andachtsbuch und geistlicher Berater sein. Wie ein Seelsorger meidet der Verfasser das Schwierige der Sprache und Terminologie, schweift ab, wo ihm Herzensberedsamkeit erforderlich scheint, und kümmert sich nicht um den für ein Lehrbuch nötigen klaren Bau. Im Mittelpunkt steht nicht die Jesusliebe, sondern das Übersinnliche schlechthin, und dieser Versuch, logozentrische Mystik zu geben, ist mehr, als die anderen Engländer erreicht haben. 14

Übers, von G. Sitwell (1953); von L. Sherley-Price, PB; von E. Underbill (1923) [mit Einleitung].- Vgl. Knowles; Riehle [s. Anm. 13]. 15 ed. P. Hodgson, EETS 218; neuengl. von E. Underbill (1934) [mit Einleitung], von C. Wolters, PB. - Vgl. Knowles; Riehle [s. Anm. 13].

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Ähnlich abschließend, aber auf dem entgegengesetzten Gebiete der Offenbarungen und Herzensergießungen, sind die Revelations of Divine Love16 der JULIANA VON NORWICH (1343-1413), der einzige literarische Niederschlag der an Rolle anknüpfenden Frauenmystik. Sie hat nicht die Abgeschlossenheit und Härte ihrer festländischen Schwestern, deren Askese und Selbstkasteiung sie ablehnte; ihre Liebe reichte nicht in die das Ich auflösenden vergeistigten Bereiche der großen Visionäre, und sie ist frei von der sinnlichen Inbrunst, in der ein Frauenleben verhaucht. Aber sie steht höher als der Verfasser der Ancrene Riwle, denn hier handelt es sich nicht um Versuchungen der Welt und des Fleisches, sondern um solche des Zweifels, die sie als glückliche Heilige im franziskanischen Sinne durch ein Sich-Hineinstürzen in die Liebe Gottes überwindet. An Juliana reiht sich MARGERY KEMPE (ca. 1373 - ca. 1438) an mit einer bemerkenswerten Autobiographie (The Book of Margery Kernpe^1} - wohl der ersten in englischer Sprache. Ganz unähnlich den meisten anderen Mystikerinnen, war Margery Kempe keine Nonne oder Einsiedlerin, sondern eine verheiratete Frau (mit 14 Kindern), die zahlreiche Pilgerfahrten auch an entlegene Orte (Jerusalem, Santiago de Compostela u. a.) unternahm. Ihr Bericht, der weniger verinnerlicht ist als der anderer Mystiker, gibt heute vor allem Aufschluß über spätmittelalterliches Leben und Treiben.

3. Geistliche Epik und Lyrik Gegenüber der reichen Prosa scheint die religiöse Dichtung im 14. Jahrhundert zu verebben. Die Tradition ist zwar so stark, daß noch immer achtbare Werke entstehen, aber das eigentliche Bibelepos tritt zugunsten der belehrenden Dichtung zurück, und die Legende, die an sich schon zur Fabulistik neigte, machte der mehr und mehr Schwankmotive aufnehmenden volkstümlichen Erzählung Platz. In starker alter Art ist die um 1300 anzusetzende Story of Joseph™ gehalten, voll Handlung und packender Rede und auf jedes belehrende theologische Beiwerk verzichtend, dabei knapp (540 Zeilen) und im herkömmlichen Spielmannsreimpaar. Ebenso kraftvoll und wohl auch für den Spielmann gedacht, sind die strophisch abgefaßten Geschichten aus dem Alten Testament19 (1350). Der starke alliterierende Schmuck weist bereits auf die Stabreimneubelebung hin, deren einziges biblisches Beispiel die Pistil of Susan2® darstellt, eine wirkungsvolle Erzählung, die liebevoll die Schönheit Susannas und die 16

edd. E. Colledge and J. Walsh, 2 Bde. (Toronto, 1978). - Vgl. Knowles; Riehle [s. Anm. 13]. 17 edd. S.B. Meech and H.E. Allen, EETS 212. - Vgl. M. Thornton, M. K. (1960); Knowles [s. Anm. 13]. 18 ed. Heuser (Bonner Beitr. 17). 19 Archiv 79, 447. 20 ed. A. Miskimin (New Haven, 1969).

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Vögel, Blumen und Pflanzen ihres Gartens beschreibt. Die Strophe, die aus stabenden Langzeilen und fünf kürzeren Zeilen besteht, ist klangvoll, so daß man musikalischen Vortrag vermuten könnte. Dagegen erscheinen die anderen Bibelepen dieser Zeit als Nachzügler einer verebbenden Kunstübung: Weder die den Fall der Engel, die Paradiesgeschichte und das Leben Christi berichtende Fall and Passion-Erzählung,21 noch die immer wieder behandelte Childhood of Christ?1 noch auch die lang ausgesponnenen Cantica de creatione23 die das Leben Adams und Evas in apokalyptischer Seltsamkeit behandeln, haben künstlerischen Rang. Die Zeit sprach sich voller aus, wenn sie lehrhaft sein konnte, wie es schon im 13. Jahrhundert die Summen zeigten. Es ist erstaunlich, in welch vielfältige Formen man solchen Lehrstoff hineinzupressen verstand: Der kentische Pfarrer WILLIAM VON SHOREHAM24 schrieb (um 1320) Gedichte, von denen zumindest vier einen kleinen Katechismus der damaligen Moraltheologie über Sakramente, Gebote, Sünden und Credo darstellen. Die übrigen drei, die erbauliche Mariendichtung sein wollen, sind mit theologischer Gelehrsamkeit überladen. Die um die Mitte des Jahrhunderts anzusetzende Geschichte des weisen Kindes Ypolis,25 das sich mit Kaiser Hadrian unterhält, ist auch in der äußeren Form ein Katechismus, und das gleichzeitige Streitgedicht A Disputison bilwene a god Man and the Deuel26 ist in Wirklichkeit eine Abhandlung über die Todsünden, deren zur Buße mahnender seelsorgerischer Zweck in nichts verschieden ist von dem stehenden Motiv der Fifteen Signs before Judgment21 Das gemäße Gebiet der Erzählfreudigkeit blieb nach wie vor die Legende, die, weil sie an sich Erzählung ist und durch sie ihren geistlichen Zweck erfüllt, zugleich die künstlerisch dankbarere Gattung darstellt. Die in dieser Beziehung wertvollste Sammlung ist die große, 50 Legenden vereinigende, Scottish Collection2* aus dem Ende des 14. Jahrhunderts. Alle Themen sind vertreten, von Maria in Ägypten über Magdalena und Martha zu 16 weiteren Frauenlegenden; von den Evangelisten und Johannes dem Täufer über die Apostel zu 14 weiteren männlichen Heiligen. Durchweg sind die Geschichten meisterhaft erzählt, ohne Abschweifungen, die Quellen mit kluger Auswahl benutzend und in glatten, rasch dahinfließenden kurzen Reimpaaren. Es ist auch dem Umfang nach - über 30000 Verse - die maßgebende Legendensammlung des 14. Jahrhunderts, deren literarische Bedeutung dadurch betont wird, daß sie zum Lesen, und nicht mehr wie früher in erster Linie für den Gottesdienst, gedacht war. 21

ed. E. Mätzner, Altenglische Sprachproben (Bln., 1867), I, 124. ed. Horstmann, Legenden 1875 und 1878. 23 ed. Horstmann, Legenden 1878. 24 ed. M. Konrath, EETS LXXXVI. 25 ed. Horstmann, Legenden 1881. 26 ed. Horstmann, EETS 98. 27 in: Cursor Mundi, EETS 66 und 68, ferner O. Emerson, Middle English Reader (N. Y., 21915), S. 148. 28 ed. C. Horstmann, Altenglische Legenden, 2 Bde. (Heilbronn, 1881-82) [vgl. S. 118, Anm. 36]. 22

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Künstlerisch niedriger gestimmt, aber mit dem unvergänglichen Reiz naiver Frömmigkeit, sind die neun Marienwunder der Vernon Miracles™ kurze Geschichten von 74-186 Versen, die knapp und völlig unbefangen erzählen, wie Maria die Crotey belagernden Normannen mit Blindheit schlug, wie sie eine Dirne bekehrte, das vom Judenvater in den Ofen geworfene Kind errettete, einen buhlerischen Priester absolvierte, einen aussätzigen Mönch durch Milch von ihrer Brust heilte u. a. m. Wie leicht dieser anheimelnd-rührende Ton in Derbheit übergeht, zeigen das spätere Miraculum Beatae Mariae30 und das fromme Fabliau vom guten Ritter und seiner auf Maria eifersüchtigen Frau.31 Manche dieser die Heiligen in grelle Naturnähe bringenden Legenden geben ein eindrucksvolles mittelalterliches Bild, wie die Geschichte vom geprellten Teufel in der Christopher-Legende32 oder die Narratio Sancli Augustini,33 die den Heiligen beim Evangeliumlesen in lautes Lachen ausbrechen läßt, als er sieht, wie der Teufel das Geschwätz dreier Weiber nachstenographiert und sich vor Eifer den Kopf an einer Säule blutig stößt. Das ist schon die Art der fromm-weltlichen Geschichten, die in großer Vielfältigkeit ein von Wundern durchwirktes Alltagsleben schildern, oft grobe Scherze hineinflechtend, oft auch in durchweg andächtiger Haltung. Die Hauptmasse der religiösen L y r i k des 14. Jahrhunderts 34 ist im Gegensatz zur früheren Zeit anonyme liturgische Dichtung, die gottesdienstlicher Ausschmückung diente. Derartige Dichtung hat der Franziskaner WILLIAM HEREBERT ("f 1333) in englische Verse übertragen (Br. 14, Nr. 12-25), die an Stelle der musikalischen Strophenformen des 13. Jahrhunderts einen unsanglichen Deklamationsvers setzten, der für das 14. Jahrhundert kennzeichnend bleibt. Dies Zurücktreten des Liedes, das erst später mit den Wiegenliedern (28, 65, 83) neu ersteht, wird wettgemacht durch einen früher unbekannten leidenschaftlichen, überredenden, eindringlichen Sprechton, der solche Gedichte auch in der Predigt verwenden ließ (Bishop Sheppey's Collection Nr. 36-40), sie gelegentlich auch der Predigt annäherte; es ist der Ton der für das 14. Jahrhundert kennzeichnenden und bedeutenden Rolle- und VernonDichtungen. Was vordem da ist, ist Echo früherer Kunst: Man kann den Kreuzesdialog Jesus-Maria noch würdig übertragen (67) und weiß einem Gedicht wie All Other Love (49) einen persönlichen Klang zu geben. The Sweetness of Jesus (48) zeigt den stechenden Schmerz und die Süße franziskanischer Frühdichtung, wenn auch gemildert und ausgelängt. Das innige Christ's Prayer in Gethsemane (62) und die Lamentacio Dolorosa (64) greifen in der äußeren Form der einreimenden Septenarstrophe ganz auf die Frühzeit zu29

ed. C. Horstmann, EETS 98. ed. Horstmann, Legenden 1881. 31 ed. Horstmann, ibid. 32 ed. Horstmann, ibid. 33 ed. Wright-Halliwell, Reliquiae Antiquae I, 59. 34 Die englischen Gedichte in: C. Brown, Religious Lyrics of the 14th Century (Oxf., 2 1952) [im Text nach Nummern angeführt]; A Selection of Religious Lyrics, ed. D. Gray (Oxf., 1975). 30

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rück. Mehr als solche Rückschau bedeuten einige inbrünstige Stücke: die Liebesmystik des Ecce sto ad hostium (68), die geradezu körperliche Gefühlsnähe der Lovely Tear (69) und die Vorstellung des Sich-Bergens in Christi Wunden in / would Be Clad in Christis Skin (71). Rührend ist das Lied der Gottesmutter (75), die den frierenden Jesusknaben wärmt, sagt, er solle die Füßchen an ihre Brüste legen, ihn liebkost und herzt. Dies Wiederanklingen vertrauter, der lateinischen Lyrik des 13. Jahrhunderts geläufiger Weisen, das einmal Philippe de Greve direkt verpflichtet ist (70), geschah unter dem Einfluß der mystischen Schule Rolles, die mit dem religiösen Empfinden auch die lyrische Aussprache förderte. Rolles Song of Love-Longing (83) und Song of the Love of Jesus (84) zeigen das Wesen dieser neuen religiösen Lyrik. Formal bringt sie einen Verfall oder doch eine nebensächliche Behandlung des Handwerklichen, inhaltlich das glühend empfundene Lieblingsthema der Jesusliebe, vermittelt in leidenschaftlich beschwörendem Sprechen, das meist durch Alliteration oder Anapher noch eindringlicher gemacht wird (vgl. auch 77-80). Diese mystische Belebung steigerte den betenden Ton bis zum hastigen (87) und rosenkranzähnlichen Wiederholen, wie denn die ursprünglichen elf Strophen des Jesu dulds memoria (89) allmählich zu 50 anwuchsen. Auch die Orison to the Trinity (93) zeigt ein förmliches Aufgehen im Beten. Die Dichter haben sich aus der Welt zurückgezogen, nicht nur ins Kloster, sondern in eine Einsiedelei. Auch die nicht-mystischen Refraingedichte, die man als Vernon-Gruppe zusammenfaßt (95-120), zeigen eine Abkehr von der Welt. Gedichte wie der Song of Love to the Blessed Virgin (111) feiern Maria als aller Blumen schönste wie die Rose. Maiden Mary and her Fleur-de-Lys (112), das den Klang der französischen Refrainworte mit schwerem Alliterationsschmuck zusammenspielen läßt, erinnert an die religiöse Lieddichtung des 13. Jahrhunderts. Aber die Kunst ist erlesener, brokatartiger, der Inhalt erklügelter, spitzfindiger; es ist nicht mehr die im Alltag wirkende schlichte Frömmigkeit, sondern eine Flucht in die prunkhafte Tradition der lateinischen Kirche. Die Nöte der sozial erschütterten Welt waren nicht zu übersehen, und dieselben VernonGedichte zeigen, erstmals in religiöser Lyrik, das Eindringen eines bald klagenden, bald revolutionären sozialen Themas. Es kann anderem gleichgeordnet sein wie in Mercy Passes All Things (95), kann sich zur großen Zeitkritik auswachsen in den Verses on the Earthquake (1382, Nr. 113), das der Verfasser als Warnung Gottes gewertet wissen will, und kann den Deklamationsvers zum Ausdruck eines neuen mönchisch-asketischen Predigttons machen (103). Jetzt bekommt das alte Thema, daß es wenig wahre Freunde gebe, der Reiche umschwärmt, der Arme bald verlassen sei, den Zusatz, daß ein Hund verläßlicher sei als die Menschen (104). Jetzt hat die Zeitkritik, daß die Welt aus den Angeln sei, den bitteren Zusatz, daß, wer die Wahrheit sagt, dafür büßen müsse (103), und die Eitelkeitsrede wird Ausdruck persönlicher, bitterer Enttäuschung (106). Die Vernon-Gruppe steht künstlerisch am höchsten; die späteren, gegen Ende des Jahrhunderts entstandenen Gedichte fallen dagegen ab. Gebete (122-124), Planctus (128), Lieder (129-130), Makkaroniverse (135)

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zeigen lediglich das Weiterlaufen einer großen Tradition. Drei Gedichte fassen gleichsam die Entwicklung des 14. Jahrhunderts zusammen: Jesus Pleads (126) bringt das alte Thema von Christi Aufruf an den Menschen, zeitgemäß in der Gegenüberstellung des reichen Weltmannes mit den Leiden der Passion - auch in den Vernon-Gedichten hieß Christus schon der Gott der Armen; The Bird with Four Feathers (121) ist eine Allegorie, die von einem Chanson d'Aventure-Motiv zu dialektischer und unlyrischer Bedeutungserklärung übergeht; Quia amore langueo (132) schließlich ist ein einzigartiges, von Rolles Liebesmystik inspiriertes religiöses Gedicht, in dem Maria mit allen Stimmen der Liebe zum Menschen spricht als Schwester, Mutter, Freundin, Nachbarin und Geliebte.

4. Weltliche Lyrik35 Auch im 14. Jahrhundert ist die Überlieferung weltlicher Lyrik weitaus spärlicher und zufälliger als die der religiösen Lyrik (s. S. 95). Immerhin lassen die vielen zeitgenössischen Hinweise, Zitate und Fragmente den Schluß zu, daß ungleich mehr weltliche Lyrik entstand als aufgezeichnet wurde bzw. erhalten blieb. Dies trifft besonders für volkstümliche Lieder zu. So sind die sog. Rawlinson-Fragmenie36 - Lieder aus dem Repertoire eines Spielmannes (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts) - zufällig auf einem Streifen Pergament erhalten geblieben. Dort ist das Lied von der blonden Jonet, ein Trinklied und ein Tanzlied, das auf Irland weist; dort ist das (schwierig zu deutende) Lied vom Mädchen, das sieben Nächte lang im Moor lag und von Blumen lebte; dort findet man das Lied von der Rose, bei der der Sänger die ganze Nacht lag - alle ohne großen künstlerischen Anspruch, aber unmittelbar ansprechend in ihrer Wirkung auf den Zuhörer. Von ähnlicher Bedeutung wie die Rawlinson-Fragmente sind die Liedzitate, die sich im Red Book of Ossory31 finden. Diese Liedanfänge sind nur beiläufig aufgeschrieben worden: Sie sollten den Klerikern, für die der Bischof von Ossory zahlreiche lateinische Hymnen verfaßt hatte, um sie vom Singen weltlicher Lieder abzubringen, jeweils eine geeignete Melodie andeuten, nach der dieser betreffende religiöse Text gesungen werden konnte. Auf diese Weise sind uns die Anfänge von sieben englischen und zwei französischen weltlichen Liedern aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts erhalten darunter interessanterweise die erste Zeile des (offensichtlich weit verbreiteten) Maiden of the Moor, das in den erwähnten Rawlinson-Fragmenten erhalten ist. 35

Textsammlungen u. Studien s. S. 105, Anm. 10; ferner: A. K. Moore, The Secular Lyric in Middle English (Lexington, 1951). 36 ed. W. Heuser in: Anglia 30, S. 173ff.; ed. P. Dronke in: Notes and Queries, N. S. 8 (1961), S. 245ff. 37 ed. T. Stemmler in: The Latin Hymns of Richard Ledrede (Mannheim, 1975); ed. T. Stemmler in: Anglia 95 (1977), S. 122ff.

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Daneben beweisen die im Manuskript Harley 225338 der British Library überlieferten Gedichte, daß zu jener Zeit neben formal einfachen Liedern auch künstlerisch höchst anspruchsvolle Lyrik entstehen konnte. Einem Kleriker gebührt das Verdienst, diese einzigartige Sammel-Handschrift um 1340 in Ludlow (Shropshire) zusammengestellt zu haben. Auffallend viele Gedichte dieser Handschrift bedienen sich der Alliteration in einer Art und Häufigkeit, daß man sie an den Beginn des Alliterative Revival stellen möchte. Diese Gedichte sind eingestreut zwischen lateinische und französische, erbauliche und unterhaltsame Stücke. Kunstvoll höfische Gedichte, wie Annot and Johon (3) und Ichot a bürde (14), dem der volkstümliche Kehrreim 'Blow northerne wynd' vorangestellt ist, wechseln mit dem pastourelleartigen In afryht (8), dessen Sprecher das Mädchen vergeblich zu verführen sucht, und der prächtigen Reverdie Lenten is come (11), die das neu aufblühende Leben der Pflanzen und Tiere und des menschlichen Herzens besingt. Immer wieder nehmen die reizvoll mit dem Liebesmotiv verknüpften Naturbilder gefangen: When be nyhlegale singes (25) fragt launisch, ob der Dichter nach langem Harren nicht auch ein Wort, einen Kuß bekomme, da doch die Natur nach dem langen Winter durch Blatt, Gras, Blüte und Nachtigallenlied beglückt werde; und das schönste, Alysoun (4), wählt den ersten Vorfrühling als Fassung eines frühen Liebessehnens, das in schlaflosen Nächten einem schwanenweißen Hals und einem Paar schwarzer Augen nachträumt. In der erstaunlichen, kraftvollen Verbildlichung des Ausdrucks der kecken Beschreibung der Schönen von Rybbesdale (7), dem eigentümlichen Humor des Man in be mone (30) und endlich einer gewissen Neigung zum Ernst, ja zur Grübelei - etwa in My deb I love (24) - kann vielleicht englische Sonderart erkannt werden. Durchwegs sind die oft anspruchsvollen Versmaße mit spielender Leichtigkeit und feinem Empfinden für Klangreize gehandhabt.

5. Geistliche Spiele (Fronleichnamszyklen)39 Schon in relativ früher Zeit wurden mehrere Einzel-Szenen zu größeren Spielen zusammengestellt: So verband man etwa Officium Stellae mit Ordo Pro38

ed. G. L. Brook (Manchester, 31964) [im folgenden mit der Gedicht-Nr. angeführt]; ed. K. Böddeker (Berlin, 1878). Faksimile: ed. N. R. Ker, EETS 255.- Vgl. T. Stemmler, Die engl. Liebesgedichte des Ms. Harl. 2253 (Diss. Bonn, 1962). 39 Vgl. S. 121, Anm. 63.- Texte der Spielzyklen: The York Plays: Übers, v. J. S. Purvis (1957); ed. L. T. Smith (Oxf., 1885). The Towneley Plays: Übers, v. M. Rose (1961); ed. A. C. Cawley (Manchester, 1958) [The Wakefield Pageants in the Towneley Cycle]; edd. G. England and A. W. Pollard, EETS LXXI. The Chester Plays: edd. H. Deimling and Dr. Matthews, EETS LXII und CXV; edd. R. M. Lumiansky and D. Mills, EETS, Suppl. Ser. 3. Ludus Coventriae: ed. K. S. Block, EETS CXX; Übers, v. R. T. Davies; The Corpus Christi Play of the English Middle Ages (1972). Textauswahl: A. W. Pollard, English Miracle Plays, Moralities and Interludes (Oxf., 71923) [vorzügliche Einführung]. Modernisierter Text: Everyman and Medieval Miracle Plays, EL.

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phetarum oder Visitatio Sepulchri mit Höllenfahrt; weiterhin schwand die Scheu vor der Darstellung der Passion, die man nunmehr - seit dem 12. Jahrhundert - in mehr oder weniger umfangreichen Spielen dramatisierte. Vorläufige Höhepunkte dieser Konglomeration von Einzel-Szenen sind die Passionsspiele und das Weihnachtsspiel aus der Benediktbeurer Handschrift (13. Jahrhundert). Noch einen Schritt weiter gehen die Autoren der Spiele von Cividale (1298 und 1304): Ohne Rücksicht auf ihren ursprünglichen Bezug zu einem bestimmten Tag des Kirchenjahres werden nun die Passion, Auferstehung, Himmelfahrt Christi und das Jüngste Gericht am Pfingstfest dargestellt; in der späteren Version dieses Spiels werden noch u. a. die Erschaffung des Menschen und Maria Verkündigung hinzugefügt. Dennoch erreichen diese umfangreichen Spiele nicht die Vollständigkeit der - zu Recht so genannten Fronleichnamszyklen Englands, die im 14. Jahrhundert entstehen und in engem Zusammenhang mit dem neuen, seit 1320 in England fest eingeführten Fest Fronleichnam zu betrachten sind. Dieses Fest, das zudem in eine für Freilichtspiele günstige Jahreszeit fiel, erlaubte Szenen jeglicher Art, während man zu Weihnachten nicht gut die Passion und an Ostern nicht gut die Stella-Szene spielen konnte. Ferner ließen sich die Spiele der Fronleichnamsprozession an- oder eingliedern. Vor allem England entwickelte anstelle einer festen Bühne eine „Prozessionsbühne", wodurch alle Aufführungsschwierigkeiten wegfielen. Auch das längste „Kollektivmisterium" brauchte nicht zerschnitten zu werden; man machte es selbst zur Prozession. Die „Häuser" wurden auf Räder gesetzt, Pageants genannt, und an die verschiedenen Spielstationen gerollt. Die Zünfte hatten die einzelnen Pageants herzurichten, und wenn die erste an der ersten Haltestelle die Erschaffung der Welt gespielt hatte und diese Szene an der zweiten Haltestelle wiederholte, so setzte die zweite Zunft ein mit dem Spiel des Sündenfalls, das sie gleichfalls an der zweiten Haltestelle wiederholte. Indessen war die erste Zunft zur dritten Haltestelle vorgerückt, und die dritte Zunft spielte an der ersten die Szene von Kain und Abel und so fort. So war die Zeit kein Hindernis mehr, und die Raumschwierigkeiten fielen weg, da die Straße bei Nichtausreichen der Pageants als Platea dienen konnte. Schauplatz und Mitwirkende der großen Spielzyklen des 14. Jahrhunderts gehören zu der bürgerlichen Welt der mittelalterlichen Städte. Der gelegentliche Einspruch der Kirche, der in Handlyng Synne, Wiclifitischen Schriften und einem eigenen Treatise of Miraclis Pleyinge40 Ausdruck findet, ist ohne Einfluß auf die weitere Entwicklung dieser Spiele. Fortan entwickelte Stadt auf Stadt ihren großen Zyklus, der unter Leitung der städtischen Behörden einmal jährlich aufgeführt wurde. Das Unternehmen war ein bürgerliches geworden, einmal, weil die Platzfrage, die Kosten und die Aufrechterhaltung der Ordnung unter den Zuschauern, die zu der Aufführung zusammenströmten, keine Angelegenheit der Geistlichkeit sein konnte, sodann weil die Auf40

ed. Wright-Halliwell in: Reliquiae Antiquae.

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führung und Ausstattung der einzelnen Szenen den Handwerkergilden zugeteilt war und ein Gewohnheitsrecht Ansprüche wie den der Matrosen auf die Sintflutszene, den der Goldschmiede auf die Dreikönigsszene, den der Zimmerleute auf die Arche Noah-Szene usw. herausgebildet hatte. Diese in Laienhand liegende theatralische Ausgestaltung war das Entscheidende; die Misterien waren für die Bevölkerung ein lebendiges Bilderbuch; und zeitgenössische Berichte reden auch nicht vom Text, sondern von den reichen Kostümen, dem geschmückten Himmelswagen, dem kunstvollen Höllenrachen u. a. m. Diese Seite des mittelalterlichen Dramas kann nur in der Vorstellung wiederhergestellt werden, aber auch die für eine literarische Beurteilung ausschlaggebenden Texte sind größtenteils verschollen. Aus zahlreichen Orten in allen Teilen Englands sind zyklische Aufführungen bezeugt, und nur vier zyklische Texte und einige Bruchstücke sind erhalten. Es sind das: die vielleicht auf ca. 1350 zurückreichenden Chester Plays, deren einheitlich frommer Ton die künstlerisch geschlossenste Wirkung hervorruft; dann die sicher schon vor 1376 gespielten York Plays, der umfangreichste Zyklus (48 Szenen), dessen einheitlicher christozentrischer Grundidee eine durch mehrfache Bearbeitungen entstandene stilistische, metrische und dramaturgische Vielfalt gegenübersteht; weiter die seit Ende des 14. Jahrhunderts in Wakefield aufgeführten, nach den früheren Handschriftenbesitzern so genannten Towneley Plays, die mehrere aus York stammende Szenen enthalten und eine ähnliche Vielfalt wie die York Plays zeigen; und schließlich der im 15. Jahrhundert entstandene Ludus Coventriae, der nicht in Coventry, sondern wahrscheinlich in Lincoln entstanden ist und aus drei Teilen (St. Anna-Gruppe, Passion Play I und II) besteht, die wohl unabhängig voneinander aufgeführt werden konnten und erkennen lassen, daß sie ursprünglich prozessional, später stationär gespielt wurden. Vom Spielzyklus aus Coventry sind nur zwei Szenen41 erhalten, ferner Einzelspiele u. a. aus Newcastle, Norwich, Northampton.42 Der Vorwurf aller Zyklen ist derselbe: die biblische Geschichte von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht, eine Divina Commedia, die jedoch auch formal nicht im ganzen gewertet werden darf, da wir eine Vielzahl von (wohl geistlichen) Verfassern voraussetzen müssen. So steht jede Szene für sich, und die Sammlungen weisen im Metrum etwa neben der häufigen Schweifreimstrophe andere Metra auf. Allgemein zeigen sie Merkmale, die durch die englische Art der Vorführungen bedingt sind. Da jeweils nur ein Szenenwagen zur Verfügung stand, mußte man das Eingreifen der überirdischen Welt, besonders die Teufelsszenen, nach Möglichkeit beschränken. Aus demselben Grunde war eine scharfe szenische Gliederung erforderlich, denn der bereits wartende nächste Wagen brachte ja etwas Neues. Ähnliche Rücksichten verlangten die einzelnen Handwerke, die z. B. das kunstgerechte Zimmern der Arche, die prächtigen Dreikönigskronen und das Schmieden ans Kreuz betont wissen wollten, so daß der Dichter Nebensächliches und Alltäg41 42

Two Coventry Corpus-Christi Plays, EETS LXXXVII. Non-Cycle Plays and Fragments, ed. N. Davis, EETS, Suppl. Ser. 1.

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liches im Dialog ausmalen mußte im Widerspruch zu der idealistischen, Zeit und Raum nebensächlich behandelnden Gesamtauffassung. Daraus ergab sich ein alten Landkarten ähnlicher Eindruck, auf denen malerisch ausgeführte Städte, Baumgruppen oder Tiere das Auge anziehen und zu der flächigen Darstellung der Umgebung in keinem Verhältnis stehen. Solche Wirklichkeitszüge eignen besonders den Towneley-Spielen und, städtisch verfeinerter und weniger eindrucksvoll, den Spielen von York. So führt die Szene der Geburt eindringlich vor, wie der alte Joseph in der überfüllten Stadt Bethlehem den halbverfallenen Stall ausfindig macht, in dem Maria das Kind bettet, so gut sie kann, während sich die Tiere zur Krippe drängen und mit ihrem warmen Atem das Kind vor dem Frost schützen. Und die letzten Passionsszenen mit der Schilderung des unheimlich aussehenden Judas, den der Pförtner nicht einlassen will, und den die großen Herren zwar brauchen, aber verachten, enthalten eine dramatische Kraft, die sich nicht sklavisch an den Bibeltext bindet (besonders Szene 32). Reicher und vielfältiger sind die Towneley-Spiele, in denen auch die ernsten Szenen derberen Ton zeigen. So schildert das zweite Stück von Kain und Abel Kain als groben, geizigen Bauern, der sich der Zahlung des Zehnten entziehen will, statt der fälligen 16 Garben schließlich nur zwei hergibt und nach der schlechten Aufnahme des Opfers flucht und unflätig schimpft. Manche Wendungen lassen den ländlichen Jahrmarkt fühlen: Es wimmelt von skatologischen Bezügen; wenn Abel Ermahnungen erteilt, ruft Kain: Laßt die Gänse heraus, der Fuchs will predigen. Solche Alltagsnähe ließ vor allem komische Wirkungen zu, und die Tyrannengestalten Pharao, Caesar Augustus, Herodes und Pilatus sind absichtlich als Wüteriche und Maulhelden geschildert. Dieser kühn in den Alltag versetzende Humor gestaltete manche der Szenen (Noah [3], Hirten und Anbetung [12-14], letzte Tage Christi [21]) ohne Rücksicht auf die Vorlage. Noah prügelt seine Frau, die nicht in die Arche will, und da sie sich wehrt, entsteht eine Rauferei, aus der Noah von seinen Söhnen befreit werden muß. Noch selbständiger ist die zweite der Hirtenszenen: Mak hat den Hirten einen Widder gestohlen, und als diese am nächsten Tag an seine Tür klopfen, heißt es, Maks Frau liege in den Wochen. Die Hirten durchsuchen das Haus und finden den als Kind in die Wiege gelegten Widder. Trotzdem beteuert Mak seine Unschuld und sagt, das Kind sei verhext. An Handlung und Charakteristik ist das mehr, als andere Zyklen aufzuweisen haben; auch die handfeste soziale Kritik, die die Hirten äußern, ist für diesen Zyklus charakteristisch. Sehr verschieden hiervon sind die Chesier-Spiele. Während die anderen Zyklen auf das lebendig-wirksame Bild der biblischen Erzählung abzielten und über der Hervorhebung des dramatisch Wirksamen das ursprünglich Lehrhafte des Prozessionsspiels zuweilen außer acht ließen, suchte die lehrhafte und farblose Darstellung von Chester die großen Umrisse der mittelalterlichen Geschichtsauffassung deutlich hervorzuheben. Deshalb ist die Rolle des zwischen Darstellern und Zuhörern vermittelnden und beritten auftretenden Expositors geschaffen, der allgemeine Betrachtungen an die dar-

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gestellten Szenen knüpfte und Begebenheiten berichtete, die in den Stücken übergangen sind. In dem Text macht sich ein theologisierender Zug auf Kosten des dramatischen Geschehens bemerkbar; bezeichnend dafür ist die Vision Adams von den zukünftigen Geschicken des Menschengeschlechts, die Unterredung zwischen Kaiser Octavian und der Sibylle über Christus und das den Mittelpunkt der Antichrist-Szene ausmachende Streitgespräch zwischen Antichrist und Elias. Damit kommt andererseits eine größere Einheitlichkeit in die ganze Folge, zumal die rührend fromme Ehrfurcht auch eine Stimmungseinheit schafft. Auch der Ludus Coventriae kennt die hier Contemplatio genannte Erklärerfigur und zeigt dieselbe, auch apokryphe Quellen verwertende, lehrhafte Haltung. Wenn die dreijährige Maria die 15 Stufen des Tempels hinaufsteigt, erläutert der Priester sie als Stufen des Weges von Babylon zum himmlischen Jerusalem; und nachdem Jesus einen Blinden geheilt hat, hält Petrus eine Rede über die geistig Blinden. Im übrigen sind die von späterer Hand zusammengestellten Szenen dieses Kreises nicht zu innerer Einheit zu binden. Tief empfundene Szenen, wie Maria am Fuß des Kreuzes, stehen neben dem Alltagsrealismus der Grabwächter-Szene und der unzarten Untreueanklage der schwangeren Maria durch den Verleumder Backbyter. Die volkstümliche Frische und humorvolle Kühnheit der früheren Zyklen ist nicht mehr da, dafür beginnen Verkörperungen abstrakter Begriffe, wie Wahrheit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Friede und Tod, eine Rolle zu spielen, was bereits einen Übergang zu den späteren Moralitäten bedeutet.

6. Historisch-politische Gedichte43 Die innen- und außenpolitisch bewegte Zeit des 14. Jahrhunderts, die sogar in den religiösen Gedichten der Vernon-Gruppe ein Echo wachrief, kam in der weltlichen Dichtung ausführlich zu Wort. Schon unter Heinrich III. (f 1272) und Eduard I. ("f 1307) hatten sich Unzufriedene in Gedichten Luft gemacht, aber diese vergangene Zeit empfand man jetzt als gut. Die bereits erwähnten Nachrufe auf Eduard I. zeigen, wie wenig Vertrauen man seinem übel beratenen Nachfolger Eduard II. ("f· 1327) entgegenbrachte, der wenig geeignet schien, die von seinem Vater ihm vererbten inneren und äußeren Kriege glücklich zu beenden. Die Stimme der Dichter griff geradezu mit der Parteinahme gegen Gaveston, den Günstling Eduards, in die Politik ein, und 43

Texte großenteils in: The Political Songs of England from the Reign of John to that of Edward II, ed. T. Wright, Camden Soc. (1839) [angeführt als "Wr." mit arabischer Seitenzahl]; Political Poems and Songs from the Accession of Edward III to that of Richard III, ed. T. Wright, 2 Bde., RS (1859-61) [angeführt als "Wr." mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl]; Historical Poems of the 14th and 15th Centuries, ed. R. H. Robbins (N. Y., 1959) [angeführt als "R." mit der Nummer des Gedichts ]. Anglonormann. Texte in: Anglo-Norman Political Songs, ed. L. Aspin, Anglo-Norman Text Soc. 11 (1953) [angeführt als "A." mit der Nummer des Gedichts],

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unverhohlen begrüßten zwei, Kirchenhymnen parodierende, lateinische Dichtungen44 die Hinrichtung Gavestons (1312). Früher hatten die schottischen Kriege Anlaß zu poetischer Verherrlichung geboten, wovon neben einem lateinischen Gedicht auch die Ballade über die Hinrichtung Sir Simon Fräsers45 ein Beispiel gab; jetzt war kein Grund mehr zum Jubeln, und die verhängnisvolle Niederlage durch Bruce bei Bannockburn wurde Gegenstand einer lateinischen Klage,46 die schlechte Ratgeber verantwortlich zu machen suchte. Und die Hinrichtung des beim Volke beliebten Earl of Lancaster (1322) rief ein lateinisches Officium 47 hervor, das eine politische Persönlichkeit wie einen Heiligen und Märtyrer feierte und sich damit in eine Tradition stellte, in die Namen wie Thomas Becket und Simon de Montfort gehören. Wohl in das dritte und vierte Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts fällt die Entstehung von vier stark alliterierenden Gedichten, die sich mit zeitgenössischen gesellschaftlichen Mißständen beschäftigen. The Song of the Husbandman (Wr. 149; R. 2) klagt in kunstvoll gebauten Strophen über die gnadenlose Ausbeutung der Landleute durch die Beamten der zentralen und lokalen Verwaltung. Trotz tiefer Verzweiflung der Betroffenen fehlt jedoch, ganz im Gegensatz zum Ende des Jahrhunderts, der Gedanke an eine gewaltsame Auflehnung. Das Gedicht On the Retinues of the Great (Wr. 237; R. 7) schließt sich thematisch an, wenn es in bitterer Sprache schildert, wie schwer die Hand der Großen, und mehr noch ihrer Kreaturen, auf den kleinen Leuten lastet. In sorgfältig gebauten Strophen mit regelmäßiger und starker Alliteration stellt sich die Satire on the Consistory Courts (Wr. 155; R. 6) vor. Sie zeichnet realistische Bilder des Alltagslebens in der Schilderung eines verdorbenen und willkürlich verfahrenden geistlichen Gerichts und artikuliert eindrucksvoll die Entrüstung und den hilflosen Zorn des Betroffenen. Das frauenfeindliche Lied Against the Pride of the Ladies (Wr. 153), das die Hoffart und Putzsucht der Frauen angreift, hat nicht mehr die fröhliche Keckheit der fahrenden Scholaren, die einige Zeit früher aus dem lateinischen Schneiderlied (Wr. 51) noch ein lustiges Capriccio machte. Auch zwei anglonormannische beziehungsweise anglonormannisch-lateinische Gedichte sind aus diesen Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts überliefert. Unter dem Titel De le roi Edward le fiz roi Edward, le chanson qe U fist mesmes (A. 9) sind fünfzehn achtzeilige Strophen erhalten, deren Komposition Eduard II. selbst zugeschrieben wird. In der Ich-form schildert der gefangene König seine Situation und seine Gedanken im Kerker, in den ihn seine Feinde haben werfen lassen. Von seinem Nachfolger Eduard III. handelt das zweite, 1338-1339 entstandene Gedicht. Der ihm in der Neuzeit beigelegte Titel Against the King's Taxes (Wr. 182; A. 10) deutet bereits die Klage und ihre Richtung an. Dieses anglonormannisch-lateinische Makkaronigedicht wendet sich in siebzehn kunstvoll gebauten Strophen - die erste 44

Songs on the Death of Peter de Gavestone (Wr. 258). Wr. 212; R. 4. 46 The Battle of Bannockburn (Wr. 262). 47 The Office of St. Thomas of Lancaster (Wr. 268). 45

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Vershälfte in Anglonormannisch, die zweite in Latein - vor allem gegen die üblen Ratgeber des Königs, die für die drückenden und das ganze Land schädigenden Steuern verantwortlich seien. Das in der parlamentarischen Entwicklung sich vollziehende Einrücken der Bürgerschicht in die politische Macht fand in solchen Dichtungen, von denen es viele gegeben haben wird, seinen literarischen Niederschlag, denn früher nahm außer einem in Hofdiensten Beauftragten kein Dichter Anteil am politischen Tagesgeschehen. Es handelte sich nicht nur um Klagen über Nöte, die man am eigenen Leibe spürte, sondern um patriotische Anteilnahme an den Geschicken des Reiches, was auch die stete Zunahme der in englischer Sprache geschriebenen Gedichte bezeugt. Als Sprecher der ruhmreichen Zeit Eduards III. (t 1377) trat LAURENCE MiNOT48 hervor, dessen 1333-52 unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse geschriebene Dichtungen den Höhepunkt der politischen Spielmannspoesie bedeuten. Diese Lieder feiern die Kriege Königs Eduards: den Sieg bei Halidon Hill, die Fahrt nach Brabant, den ersten Einfall in Frankreich, die Seeschlacht bei Sluys, die Belagerung von Tournay, die Schlacht bei Crecy, die Belagerung von Calais, den unter dem Erzbischof von York erfochtenen Sieg der Engländer über David Bruce bei Neville's Cross,49 den Sieg über die spanische Flotte im Jahre 1350, die Eroberung des Schlosses Guisnes 1352. In End- und Stabreim zu eigenen Strophen verbindender Technik, mit großem Wortschwall und oft altertümelndem Aufputz sprechen die trotz aller Künstelei lebendigen elf Gedichte das persönliche Bangen und Jubeln des Sängers aus, in einer fast religiöse Töne annehmenden patriotischen Begeisterung, die für die Feinde nur Haß und Spott kennt und mit keinem Wort innere Nöte und Mißstände erwähnt. Zahlreich sind die Auseinandersetzungen mit Frankreich, sei es ein lateinisches Schimpfgespräch, das je einen Vertreter der beiden Länder die üblichen Vorwürfe aussprechen läßt,50 sei es eine ebenfalls lateinische, Eduard maßlos lobende und Frankreich maßlos hassende Invektive,51 oder das zwar geschichtlich unrichtige, aber im Geist der Zeit wahre, normannisch geschriebene „Reiher-Gelübde"52 von 1340, das sich wie eine Seite aus Froissarts Chronik liest. Kein Wunder, daß der Tod Eduards III. eine wehmütige englische Klage hervorrief: „England war einst ein stolzes Schiff", und kein Wunder, daß Richards II. Regierungszeit (1377-99) arm an politischer Dichtung ist. Ein Prunkstück in lateinischen elegischen Versen ist des Karmeliters Richard von Maidstone Beschreibung der Versöhnung des Königs mit der Stadt London,53 ein Heraufbeschwören des farbenprächtigen Bildes einer festlichen mittelalterlichen Stadt mit blumen- und teppichgeschmückten Straßen, 48

ed. J. Hall (Oxf., 31915). Vgl. D. C. Stedman, The War Ballads of L. M. (Dublin, 1917). 50 Dispute between the Englishman and the Frenchman (Wr. I, 91). 51 An Invective against France (Wr. I, 26). 52 The Vows of the Heron (Wr. I, 1). 53 The Reconciliation of Richard II with the City of London (Wr. I, 282).

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mit Festzug, Reden, Weinbrunnen und Theateraufführungen. Sonst kommen Satire und Klage mehr zu Wort: Richards unbeliebte Ratgeber werden in einem kurz vor dem Fall des Königs geschriebenen englischen Gedicht54 unter Tiernamen angegriffen, und das Gedicht über seine Absetzung (= Richard the Redeless) zeigt wieder ein soziales Grollen. Diese Note, die während der außenpolitischen Erfolge Eduards III. leiser geklungen hatte, war eigentlich die beherrschende des 14. Jahrhunderts. Nur selten ist ein derartiges Lied herausfordernd und lustig wie das in Reim und Metrum spielerische lateinische Gedicht auf die Käuflichkeit der Richter,55 dessen drastische Alltagsbilder unvergeßlich sind, etwa wenn es heißt: Unsereiner kann vergeblich warten, aber eine hübsche Frauensperson mit hoher Frisur und Goldreif im Haar kann ihr Anliegen sofort und ohne ein Wort erledigen. Auch die ebenfalls in den Anfang des Jahrhunderts gehörige freche Verssatire auf die Leute von Kildare hat noch Vagantenart. Meist ist jedoch der Ton düster: Ein Erzähllied auf die Zeiten Eduards II.,56 das im Bilde der Tierfabel gegen die Bedrücker der mittleren und unteren Klassen sich wendet, hemmt den lebhaften Dialog durch die aufgepreßte Moral; ein anderes in drei Sprachen geschriebenes Gedicht auf die Zeit57 bringt die alte Klage über Bedrückung der Armen durch Reiche in ernst beschwörende Worte. Und als die Siegesfeste Eduards III. vorbei waren und die inneren Nöte wieder mehr zum Bewußtsein kamen, stand man in einer erschütterten Welt. Eine lateinische Versprophezeiung, die den Namen John of Bridlingtons vorschiebt,58 sucht die düstere Zukunft zu ergründen, die zehn Jahre später durch die englischen und lateinischen Gedichte über Jack Straw, den Anführer der aufrührerischen Bauern, und die Ermordung des Erzbischofs Sudbury59 kommentiert wird. Die Verse auf kirchliche Mißstände haben neben der herkömmlichen, den Mönchen Habgier und Unmäßigkeit vorwerfenden Satire60 nun das greifbare Ziel der Lollarden. Gott solle das Unkraut im Garten vernichten, fordert ein lateinisches Lied (138l),61 das die gesamte kirchliche Lage aufrollt; und die gleichfalls lateinische Schilderung der Wiclif anklagenden Londoner Kirchenversammlung im Jahre 138262 zeigt, mit welch gespannter Aufmerksamkeit man jede Einzelheit verfolgte. Ein anderes der vielen Zeitgedichte nimmt die Flucht des Königsgünstlings Robert de Vere zum Anlaß, um gegen alles, was der Verfasser auf dem Herzen hat, eine fast schon revolutionäre Klage zu erheben (1388); die lateinischen Verse auf die Pest von 139l63 ziehen die Religion herein mit dem Ausruf, daß Christus vergessen sei und die Herde ohne Hirten und zerstreut. 54

Wr. I, 363. Song of the Venality of the Judges (Wr. 224). 56 Song on the Times of Edward II (Wr. 195). 57 Song on the Times (Wr. 251; A. 15). 58 John of Bridlington (Wr. I, 123). 59 On the Slaughter of Archbishop Sudbury (Wr. I, 227). 60 Song against the Friars (Wr. I, 263; R. 65). 61 Against the Lollards (Wr. I, 231). 62 On the Council of London 1382 (Wr. I, 253). 63 On the Pestilence (Wr. I, 279). 55

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Alle diese Klagen und Besserungsforderungen faßt ein strophisches, 476 Zeilen umfassendes englisches Gedicht64 auf die schlechten Zeiten unter Eduard II. zusammen. Der Verfasser will sagen, warum Rachsucht und Totschlag im Lande herrschen, warum Hunger und Teuerung die Armen zugrunderichten, warum ihr Vieh tot ist und das Korn teuer. Die Geistlichkeit sei verderbt und Wahrheit selten bei ihr zu finden, auch an den päpstlichen Hof wage sich die Wahrheit nicht, denn dort sei nur willkommen, wer Geld bringe. Wie könnten Bischöfe die Geistlichen tadeln, da sie ja selbst in weltlicher Torheit lebten. Seit Beckets Tod sei die Kirche entartet; die Prälaten seien bestechlich, Stellen nur für den Zahlenden frei. Die Kirche sei einem Dieb und einer Hure überlassen, und wer dagegen rede, werde versetzt; die Mönche spielten sich als Ritter auf und predigten um ein Fuder Weizen, nicht um eine arme Seele. Der Reiche erhalte Absolution, der Arme nicht, und das weltliche Gericht dulde Ehebruch für Geld, und falsche Ärzte helfen dem Menschen sterben. Adel und Ritter hätten ihre Berufung vergessen, seien Löwen zu Hause und Hasen auf dem Kampffeld. Des Königs Beamte seien bestechliche Betrüger, die ihren Herren täuschten. Möge Gott die Wahrheit ins Land senden, denn der Trug weile schon zu lange, und die ganze Welt sei aus der Ordnung. Hier spricht 50 Jahre vor Langland derselbe Ernst ohne Umsturzwillen, dieselbe aus Selbstlosigkeit entspringende Anklage, dieselbe Englandliebe und Scham ob seiner Entartung, derselbe Hinweis auf die rettende Wahrheit.

7. Der Piers-Plowman-Kreis Die Kenntnis dieses Wirklichkeitshintergrunds ist nötig zum Verständnis des großen Epos über Peter den Pflüger. Diese Visio (Willelmi) de Petra Plowman*"5 ist in drei Fassungen überliefert, einer ersten, 2579 Verse umfassenden, die aus der Zeit zwischen 1362 und 1370 stammt ( -Text), einer erweiterten Umarbeitung von 7241 Versen, die kurz nach 1377 zu datieren ist (B-Text), und einer erneuten, wenn auch weniger durchgreifenden Bearbeitung (7353 Verse) aus den Jahren 1387 oder später (C-Text). Es wurde früher vermutet, daß 64 65

On the Evil Times of Edward II (Wr. 323). ed. W. W. Skeat, EETS 28, 38, 54, 67, 81 [mit Kommentar und Glossar. Dasselbe in 2 Bden., 1886]; -Text, edd. T. A. Knott and D. C. Fowler (Baltimore, 1952); G. Kane (1960). B-Text, edd. G. Kane and E. T. Donaldson (1975). C-Text, ed. D. Pearsall (1978). Übersetzung von J. F. Goodridge, PB. - G. Kane, P. P.; The Evidence of Authorship (1965) [über den mutmaßlichen Verfasser].- Zur Interpretation: N. Coghill, Langland: P. P. (1964) [Einführung]; J. Lawlor, P. P. (1962); R. W. Frank, Jr., P. P. and the Scheme of Salvation (New Haven, 1957); R. W. Chambers, Piers Plowman, in: Man's Unconquerable Mind (1939); D. C. Fowler, Literary Relations of the A and B Texts (Seattle, 1961); E. T. Donaldson, P. P.: The C-Text and its Poet (New Haven, 1949); W. Erzgräber, W. L's. P. P. (Heidelberg, 1957); M. W. Bloomfield, P. P. as a Fourteenth Century Apocalypse (New Brunswick, 1962); P. Martin, The Field and the Tower (1979).

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mehrere Verfasser daran beteiligt waren, sehr wahrscheinlich ist aber WILLIAM LANGLAND, der um 1332 in Shropshire geboren wurde und später als niederer Kleriker verheiratet in London lebte, der Dichter aller Fassungen. Das Werk, das zu den bedeutendsten Schöpfungen des Mittelalters gehört und in etwa 50 Handschriften überliefert ist, könnte man ein allegorisches Epos der Visionengattung nennen: Auf den Malvern-Hügeln sieht der Dichter im Traum ein weites Feld voller Leute, arm und reich, Arbeiter und Müßige, Adlige und Bürger, Kleriker und Bauern. Pastetenbäcker und Weinverkäufer bieten im Gedränge ihre Waren an. Die ehrwürdige Frau Kirche erklärt dem Dichter, daß das Feld die Welt vorstelle und der Turm im Osten der Turm der Wahrheit sei. Auf des Träumers Frage, wie man die Lüge erkenne, zeigt Frau Kirche auf eine reich gekleidete Frau, Meed (irdischer Lohn) genannt, der alle Stände huldigen. Sie ist dem Ritter Falschheit verlobt, und der Dichter sieht die zu den Hochzeitsvorbereitungen kommenden Beamten Sir Simonie und Civil. Aber Theologie erhebt Einspruch, und man will die Entscheidung des Königs in Westminster einholen. Frau Meed reitet auf einem Sheriff, ihr Bräutigam Fals auf einem Marktvogt; Fauvel (Schmeichelei), der die Kupplerdienste getan, benutzt die Schöne Rede als Reittier, und Täuschung führt die Schar an. Da aber die Wahrheit zuvorkam und den Ritter Gewissen zum König schickte, steht Furcht am Westminster-Tor, und bei deren Anblick löst sich der Zug auf. Fals flieht zu den Bettelmönchen, Täuschung zu den Kaufleuten, Lügner wird von den Ablaßkrämern, Ärzten und Schauspielern aufgenommen, Frau Meed aber wird verhaftet. Der rechtsprechende König will sie mit einem Verweis freilassen, wenn sie seinen Ritter Gewissen ehelicht, der aber erhebt Widerspruch. Meed habe Adams Fall verursacht, Päpste vergiftet und die Heilige Kirche verdorben, er füge sich nur, wenn Vernunft dazu rate. Als Vernunft erscheint, setzt der König sie und Gewissen zu seinen Räten ein. Damit schließt die erste Vision, (die im A- und B-Text den Prolog und Passus I-IV, im C-Text Passus I-V umfaßt). In einem zweiten Traum sieht der Dichter auf demselben Feld den Ritter Gewissen mit dem Kreuz in der Hand Buße predigen. Die Todsünden, als lebendige Alltagsfiguren geschildert, erfaßt Zerknirschung: Der Neid erzählt bleich, mit geballter Faust, wie er in der Kirche nur des Nachbars neuen Anzug sehe, Habgier, wie sie beim Verkauf den Stoff ziehe, um 12 Meter als 13 verkaufen zu können. Völlerei, aus dem Wirtshaus geholt, wird erst durch den Katzenjammer reuig. Jetzt wollen sie alle zur heiligen Wahrheit pilgern, aber niemand weiß den Weg. Da tritt der Ackermann Peter der Pflüger auf, der in der Wahrheit Dienst gearbeitet hat, er will führen, wenn sie sich gedulden, bis er sein Feld bestellt hat. Sie helfen ihm, Peter weist jedem seine Arbeit zu, und als sie säumig werden, ruft er den Hunger zu Hilfe; dem Ritter aber sagt er, seine Aufgabe sei, die Kirche zu schützen und Arme milde zu behandeln. Die ständische Gliederung soll bleiben, jeder hat seinen Bereich. Als nun Wahrheit von der beabsichtigten Pilgerfahrt hört, schickt sie einen Ablaß, der sowohl für Peter wie für seine Helfer Gültigkeit hat. Der Brief hat nur zwei Zeilen: 'et qui bona egerunt, ibunt in vitam aeternam; qui vero mala,

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in ignem aeternum.' Über den Sinn des Ablaßbriefs entspinnt sich ein so heftiges Streitgespräch mit einem Priester, daß der Dichter erwacht und in einer Peroratio die Lehre des Traums dahin zusammenfaßt, daß ein Ablaß zwar diene "alle be peple to conforte", daß aber Tu-wohF ein sicherer Führer zum Heile sei und „am Tage des Gerichts bezeuge, daß wir taten, wie Er uns hieß". Damit schließt die zweite Vision ( -Text Passus V-VIII, B-Text V-VII, C-Text VI-X). Nun beginnt in verschwommeneren Traumgesichten (und weitgehend Debatten anstelle der Handlung setzend) die Vita de Dowel, Dobet et Dobest. Da der Dichter bei aller Bejahung der Binde- und Lösegewalt des Papstes den Ablaß allein nicht als genügend anerkennen kann, erhebt sich die Frage nach dem guten, dem besseren und dem besten Tun. Die nächsten Visionen (AText IX-XI, B-Text VIII-XIV, C-Text XI-XVII) erörtern mehr in Diskussion als in bildlichem Geschehen die Bedeutung der drei Stufen. Auf der Suche nach der Wohnung von Dowel begegnet der Dichter Thought, der ihm sagt, Dowel wohne im Schloß Caro (Fleisch), worin auch Frau Anima (Seele) eingeschlossen sei, von Conscience bewacht. Daraus ergibt sich, daß Dowel das Leben des guten Arbeitsmannes ist - der in der 'vita activa' zu erbringende Beweis gewissenhafter Pflichterfüllung. Darüber steht Dobet, das klösterliche Leben in Kontemplation, Armut und helfender Liebe. Die Krönung ist Dobest, die dem Bischofsstand geziemende gerechte Führung der Kirche Gottes auf Erden. Diese Erklärung wird von Wit (Verstand) und Clergy (Gelehrsamkeit) bestätigt, erhält aber die weitere Auslegung, daß es sich dabei weniger um Berufe handelt als um sittliche Stufen. Deshalb kann der Dichter einen Ausfall gegen die Verweltlichung des Klerus einflechten und die Forderung, den Armen zu helfen mit den von der Geistlichkeit aufgehäuften Schätzen. Es entspinnt sich ein Streitgespräch des Dichters mit Clergy und Scripture über die Erlösungsmöglichkeit der Reichen und den Wert oder Unwert der Gelehrsamkeit für das Seelenheil. Die Dichtung, deren Bau sich löst, fügt hier eine Reihe von Meditationen und Gesichten ein, in denen vielfältige Allegorien erscheinen. Die Handlung wird wieder aufgegriffen durch das Wiederauftreten des aus dem -Text bekannten Spielmanns und Waffelverkäufers Hawkyn, der eine niedere Stufe des tätigen Lebens darstellt. Sein Rock ist mit den Schmutzflecken der sieben Todsünden bedeckt. Conscience und Patience gelingt es zwar, ihn zu Einkehr und Reue zu bewegen, aber Hawkyn ist - anders als Peter der Pflüger - nicht auserwählt, den zu Kontemplation, Armut und Liebe führenden Weg weiterzugehen. So beginnt nun die Vita de Dobet (B-Text XV-XVIII, C-Text XVIII-XXI), in der Peter wieder in den Vordergrund tritt, mit der Überlegung, daß unser Tun allein nicht genügt, daß noch etwas Besseres hinzukommen muß. Dies Dobet ist die Liebe, die in der Erlösung durch Christus den höchsten Ausdruck gefunden hat. Aber diese Erkenntnis wird dem Träumer nur allmählich zuteil. In einem Gespräch mit Anima erfährt der Dichter, daß er nur mit Hilfe Peters des Pflügers die Liebe kennenlernen könne. So kommt er zu dem Baum, auf dem Charity wächst: Es ist der Baum der Liebe, drei Pfähle stützen

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ihn - die drei Personen der Gottheit. Als Gärtner und Deuter des Baumes erscheint Peter, der jetzt die Züge Christi trägt, und eine Vision in der Vision zeigt dem Dichter das Leben des Heilands von der Fleischwerdung bis zum Verrat. Der Dichter erwacht mit der Sehnsucht, Peter wieder zu finden, und eine neue Vision gesellt ihn zu den gleichfalls Peter suchenden Abraham, der den Glauben darstellt, und Spes (Hoffnung). Unterwegs erleben sie das Gleichnis des guten Samariters: Charity, d. h. Christus in Gestalt von Peter, pflegt den von Glaube und Hoffnung nicht beachteten Verwundeten, und eine neue Vision, der religiöse Höhepunkt der Dichtung, führt die Geschichte Christi fort: Kreuzigung, Höllenfahrt, Sieg. Unter den Klängen der Osterglocken, die das Auferstehungsfest einläuten, erwacht der Dichter. Die Menschheit ist erlöst durch Christi Liebestat, Dobet ist mehr wert als Dowel. Jetzt kann die Vita de Dobest anheben (B-Text XIX-XX, C-Text XXIIXXIII), die Gründung der christlichen Kirche und der christlichen Gemeinde als der Vollendung des Guten. Peter, der jetzt die Christenheit bedeutet, erhält von der Gnade vier Ochsen (die Evangelisten), vier Hengste (die vier lateinischen Kirchenväter), vier Samenkörner (die Kardinaltugenden), und errichtet das Haus der Einheit, die Gemeinde der wahrhaft Gläubigen. In der Kirche aber, wie sie jetzt ist, von Antichrist, Tod, Krankheit und den sieben Todsünden unterwühlt, ist kein Heil zu finden. Und wenn der Dichter auch vor seinem Gewissen weiß, daß er zur Gemeinde der wahrhaft Gläubigen gehört, so möchte er doch einen festeren Halt als diese innere Stimme, und so läßt er am Schluß Gewissen ausrufen: „Ich will ein Pilger werden und die weite Welt durchsuchen, bis ich Peter den Pflüger finde." Langland griff nicht die gesellschaftliche Dreiteilung der Oratores, Bellatores, Laboratores an, aber er hatte die Neigung, die Großen in der Meinung des Volkes herabzusetzen und die Niedrigen zu erhöhen. Er griff keine einzige Kirchenlehre an, aber er sagte, daß aus der Kirche alle Übel entspringen, wenn die Priester nicht so sind, wie sie sein sollen. So wird der Ackermann, nicht der Papst, das irdische Abbild des demütigen Erlösers. Und alle geistige Bildung und Wissenschaft hat nur Wert, wenn sie aus der Liebe Gottes hervorgeht und die Menschheit zu ihr hinführt. So steht Langland zwischen Rolle und Wiclif; er ist religiös und praktisch zugleich und ist in seiner Entrüstung, im Glauben und in der Forderung einer idealen Lebensführung ein Vorläufer des Puritanertums. Langlands Werk ist Jahrhunderte lebendig geblieben. Mag der Bau durch die Exkurse und Überarbeitungen an Klarheit verlieren - das Ethos des Verfassers hat eine mitreißende Wucht, und seine Gedanken sind in starken Bildern geformt. Das Gesicht der Höllenfahrt (BText XVIII, C-Text XXI) mit dem die Finsternis durchbohrenden Licht und der Stimme 'attollite portas' ist ebenso erhaben, wie der Triumph des Todes (B XX, C XXIII). Die Schilderung des Baumes der Liebe (B XVI, C XIX) hat die ernste Größe der Bibel, und die einleitende Vision des Weltgefildes (Prolog) zeigt eine Kunst, Massen lebendig zu machen, und eine Kraft der Alltagscharakterisierung, wie sie vordem in mittelalterlicher englischer Kunst nicht da war. Dazu kommt eine große Sprachgewalt, die auf die harten, Nachdruck

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verleihenden Worte der germanischen Sprache zurückgreift und deshalb die melodiösen Reize des zur Herrschaft gekommenen silbenzählenden und endreimenden Verses bewußt vermeidet. Der alte, nie ganz außer Brauch gekommene Stabreimvers erfuhr so in den französischem Einfluß entrückteren Grafschaften der westlichen Midlands eine offensichtlich national zu bewertende Neubelebung, die ein neues literarisches Zentrum schuf.66 V e r s r o m a n e wie Joseph von Arimathia, William von Palerne, Morte Arthure, Alexander, Gest Historiale of the Destruction of Troy, Awntyrs of Arthure, Golagrus und Gawain, Gamelyn, Gawain und der grüne Ritter, L e g e n d e n wie Erkenwalde, Susanna, Johannes, religiös g e s t i m m t e D i c h t u n g e n wie Patience, Purity, Pearl und moral i s c h - s a t i r i s c h e W e r k e wie Parlament of the Thre Ages, Wynnere and Wastoure und fast der ganze Piers Plowman-Kreis sind in diesem westlichen Kulturkreis beheimatet und wenden alle den neuen Stabreim an. Gegenüber dem altenglischen Vers erscheint er regelmäßiger, wie schon das äußere Bild der Zeilenlänge andeutet; er kennt nicht die altenglische Freiheit der Stabverwendung. Er vermochte sich jedoch auf Dauer nicht durchzusetzen und war schon im 15. Jahrhundert veraltet; aber der Widerspruch gegen jambische Einförmigkeit der Reimpaare des Versromans und das Reimgeklingel der Schweifreimstrophen war wertvoll, und seine Anregungen haben Ballade und Drama nutzbringend verwertet. Die erste dieser stabreimenden Dichtungen, das Streitgespräch zwischen Wynnere and Wastoure61, entstand 1352, also vor Langland, den es angeregt haben mag. Das kleine Werk (503 Zeilen) ist Traumvision, Debatte, Allegorie und satirisches Zeitgedicht in einem. Ein das abnehmende Interesse für Dichtung althergebrachter Art beklagender Spielmann sieht im Traum zwei kampfbereite Heere, deren Führer - Erwerber und Vergeuder - sich vor dem König gegenseitig anklagen, das Unglück des Reiches verschuldet zu haben. Der König rät den beiden Wortführern, sich dorthin zu begeben, wo sie am beliebtesten seien - der Erwerber soll zum Papst, der Verschwender nach Cheapside gehen; damit bricht das nur als Fragment erhaltene Gedicht ab. Der Inhalt der Streitreden ist den übrigen Zeitklagen ähnlich, aber die Darstellung ist frisch und unmittelbar und die malerische Beschreibung der Heere meisterhaft. Auch bei dem Parlement of the Thre Ages,6* das in ähnlicher Weise mehrere allegorische Figuren im Rahmen einer Traumvision eine Debatte (parlement) führen läßt, fesselt mehr das Beiwerk der Jagdeinkleidung und der wirkungsvollen Naturbilder, die auch vom Dichter über Gebühr ausgedehnt sind, als die das eigentliche Thema bildenden moralischen Lehren, die das Alter der Jugend und dem Mittleren Alter gibt. Anders ist das bei dem eigentlichen Piers-Plowman-Kreis, der nicht künstlerischen, sondern inhaltlichen Werten sein Dasein verdankt. Um 1393 ent66

Vgl. T. Turville-Peter, The Alliterative Revival (Cambr., 1977). ed. I. Gollancz (1920) [mit Übers.]. 68 ed. M. Y. Offord, EETS 246 (1959). 67

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stand das Credo69 Peter des Pflügers, nicht eigentlich eine Vision, sondern eine allegorische Pilgerfahrt auf der Suche nach jemand, der das Glaubensbekenntnis lehren kann. Alle Bettelorden geht der Verfasser an, aber einer schimpft nur auf den anderen, und alle wollen sie Geld. Piers, ein armer und bescheidener Pflüger, lehrt den Ratsuchenden schließlich das Credo - dies verbunden mit heftiger Kritik an den vier Bettelorden. Die übrigen Werke des Pflügerkreises tragen weitgehend den Charakter von Streitschriften. Als Beispiel sei der 1401 in Prosa mit eingestreuten Stabversen geschriebene Jack Upland™ genannt, ein wütender Lollardenangriff auf die Bettelmönche, die durch den Karmeliter John Walsingham eine ebenso heftige Antwort gaben unter dem Namen The Reply of Friar Daw Thopias,10 der seinerseits wieder die Lollardenantwort The Rejoinder of Jacke Upland10 hervorrief.

8. Der Versroman in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts 71 Unberührt von solchen Kämpfen blieb die heitere Kunst des Versromans ein Zufluchtsort inmitten der Sorgen des Lebens, und da nach dem Erlöschen der französischen Umgangssprache ein zunehmend bürgerlicher Leserkreis Übersetzungen verlangte, steigerte sich die Zahl der Versromane dauernd, nicht immer zum Nutzen des künstlerischen Werts. Von den verschiedenen Stoffkreisen bleibt der um Arthur der beliebteste, aber so aufgelockert, daß der Arthurhof nur mehr als Rahmen für die Abenteuer ursprünglich selbständiger Ritter dient und die Größe des Königs geopfert wird, um andere Helden hervorzuheben. Der Ywain and Gawain-Roman*2 (ca. 1350) von einem unbekannten Verfasser im Norden in 4032 Reimpaarversen mit reichem Alliterationsschmuck schildert in seinem ersten Teil Ywains Abenteuer am Zauberbrunnen und seine Heirat mit der soeben Witwe gewordenen Schloßherrin Alundyne (das Novellenmotiv vom schnellen Trost der Witwe); im zweiten Teil, mit dem Grundthema Treue der Liebe, muß sich der Held in vielfachen Abenteuern bewähren, bis nach einem Ritterkampf mit Gawain die glückliche Wiedervereinigung mit Alundyne erfolgt. Der Roman, der die einzige englische Chrestien-Übersetzung ist, kürzt das Vorbild Ywain um 3000 Verse, und zwar streicht er die seelenenthüllenden Monologe und Analysen des Franzosen: Der englische Autor will Bewegung, dramatisches Leben und verzichtet auf Feinheiten des Fühlens und höfischen Brauchs. Was er auf der einen Seite an psychologischer Darstellung einbüßt, gewinnt er auf der anderen an struktureller Straffung und zügigerem Erzähltempo. Die Erzählung ist gut und vermeidet das Ineinanderschachteln der Einzelhandlungen, der Vers ist von ungewohnter Meisterschaft, flüssig durch Enjambement, Pau69

ed. W. W. Skeat, EETS 30; ed. R. W. Chambers (San Marino, Calif., 1936). ed. P. L. Heyworth (Oxf., 1968). 71 Vgl. S. 123, Anm. 68. 72 edd. A. B. Friedman and N. T. Harrington, EETS 254 (1964); ed. G. Schleich (Lpzg., 1887); Auszüge in French-Hale; Schmidt-Jacobs. 70

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se und Zäsur, und die Syntax ist kühn und eigener Art. Wenige englische Versromane haben künstlerisch so hohen Rang. Ein anderer Roman aus dem Umkreis Gawains, des in England beliebtesten arthurischen Ritters, Libeaus Desconus,13 fällt demgegenüber ab. Diese im Mittelalter sehr populäre romance, die auf einen dem erhaltenen französischen Roman Le Bei Inconnu (d. i. Gawains Sohn) ähnlichen Text zurückgeht, ist die Geschichte einer Parzivaljugend und wunderbarer Ritterbewährung. Sie enthält so viel Abenteuer, daß die ursprüngliche biographische Achse mehrfach zerbricht und in einem Märchenwirrwarr sich verliert. Sir Launfal gehört einer anderen Gattung an: den bretonischen Lais, die nach Chaucers Franklin in England gesungen wurden, und deren bekannteste Verfasserin Marie de France war (s. S. 83f.)74. Von den acht englischen Beispielen, die nicht immer die französische Kürze und Geschlossenheit wahrten, gehören die drei Reimpaar-Lais Lai le Freine, Sir Orfeo, Sir Degare in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die Schweifreimgruppe Sir Launfal, Emare, Sir Gowther, Earl of Toulous ist später, und Chaucers Franklin's Tale von Arviragus und Dorigen ist im heroischen Reimpaar geschrieben. Das Grundthema der Lais, die Verknüpfung von Liebesgeschichte und Feenmärchen, wurde vom Sir Launfal15 in die an sich schon keltischer Phantasie stark verpflichteten, bretonischen Lais hineingetragen. Arthurs Steward, der die Feenprinzessin Tryamour zur Geliebten gewinnt, rühmt sich, von Guineveres Zuneigung verfolgt, dieser Liebe und bricht damit sein Gelübde. Unheil ist die Folge, und erst kurz vor seinem Tod holt ihn die Fee in großem Zuge zur Zauberinsel Olyroun. Bewundernswert knapp (1044 Verse, in dieser Fassung in Schweifreimen) ist eine vielfache Volksgutüberlieferung zusammengefaßt: Fortunasäckel, Wunschtraum einer freigiebigen Hofhaltung, bindendes Gelübde, Brendanlegende, Tannhäusermotiv und der Glaube, daß die Feen Macht haben, wenn man unter einem bestimmten Baume einschläft. Diese von einem Thomas Chestre erzählte Geschichte ist eine freie Bearbeitung des auf Marie de France zurückgehenden englischen Reimpaar-Lais Sir Landevale aus dem frühen 13. Jahrhundert. Der vielleicht gleichfalls auf einer französischen Quelle beruhende Sir Orfeo16 verschiebt den Schauplatz in die klassische Welt. Es ist die OrpheusEurydike-Geschichte, aber die keltische Phantasie hat den fremden Stoff in die mittelalterliche Vorstellungswelt umgedacht. Der Hades wird zum Feenreich, in dem Pluto als Eibenkönig herrscht; zauberhaft gewinnt er Gewalt über König Orfeos Gattin Heurodis, und zehn Jahre lang muß Orfeo verzweifelt und verstört herumirren, bis er die Gattin durch sein Lied zurückgewinnt. Die höfische Kunst meidet das erschütternde Schicksal und wendet 73

ed. J. Ritson, Ancient English Metrical Romances, 3 Bde. (1802), Bd. II; ed. M. Kaluza (Lpzg., 1890); EETS 261. 74 The Breton Lays in Middle English, ed. T. C. Rumble (Detroit, 1965). 75 ed. Ritson, Bd. II; ed. A. J. Bliss (1960); ed. French-Hale; Sands. - Landeval, ed. R. Zimmermann (Königsberg, 1900) u. in der Ausgabe von Bliss. 76 ed. A. J. Bliss (Oxf., 21966); Sands.

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die Mythe zum Guten. Die Erzählung mit den wenigen Personen, der balladenhaft rasch abrollenden Handlung und der überraschend farbigen Beschreibung hat im Laufe der Zeit nichts von ihrem Reiz eingebüßt. Leicht spielmännisch gesenkt, im Ton weniger fein und im Reimpaar nicht so höfisch wie der Orfeo, stellt der Sir Degare11 (1073 Verse) wohl den englischen Lai-Typus dar. Das Abenteuergerippe ist roh und aus abgegriffenen Motiven zusammengesetzt, aber die Züge des Volksglaubens einflechtende Darstellung macht es zum vielbedeutenden Märchen: Geheimnisvoll ist die Geburt des Helden, ein überirdisches Wesen ist sein Vater, dessen Geschenk zauberhaft Mutter und Sohn zusammenbringt. Ähnlich anziehend durch die Verwendung alten Volksguts, aber in der Darstellung so fein wie der Orfeo und dem als Muster dienenden Lai der Marie de France vergleichbar, ist das Bruchstück des Lai le Freine1* - des „Eschenliedes". Es ist die Geschichte von dem im Eschenbaum ausgesetzten Kind, das im Kloster zur Jungfrau erblüht, die Liebe eines Ritters gewinnt, aber erst nach einem Griseldis-Dulden dauerndes Glück erlangt. Diese Geschichte, die weniger übernatürliche Züge hat als die anderen Lais, wird in der Hand des englischen Bearbeiters, der Gefühlsschilderungen kürzt, direkte Rede mehrt und bei Naturbildern länger verweilt, ländlicher, wirklichkeitsnäher, wärmer. Der Lai le Freine gehört stofflich zu der Gruppe Sir Triamour, Sir Isumbras, Sir Eglamour, Sir Torrent of Portyngale, Octavian, King of Tars u. a., die das mittelalterliche Lieblingsthema des duldenden Weibes (Boccaccio-Petrarcas Griseldis) behandeln. Verhältnismäßig kraftvoll geschieht das in dem (in zwei Versionen vorliegenden) Octavian™ der die englischen Hörern befremdlichen ritterlichen Züge seiner französischen Vorlage zusammenstreicht zugunsten der derb humoristischen Kleinbürgerszenen und die Figuren der sozialen Stellung des bürgerlichen Handwerks annähert. Die Aussetzung der von der bösen Schwiegermutter des Ehebruchs bezichtigten Gattin des Kaisers Octavian, die Wunderschicksale der von Tieren geraubten Kaisersöhne, die komische Rolle des an einen Pariser Metzger verkauften Florentin, die sich durch Nähunterricht in Jerusalem ihren Lebensunterhalt verdienende Kaiserin und die glückliche Aufklärung der verwickelten Geschichte - das lag dem englischen Spielmann mehr als Betonung des Ehrenstandpunkts und Beschreibungen höfischen Zeremoniells. Unglücklich muß man dagegen den erbaulichen Aufputz nennen, den der englische Verfasser der ebenso abenteuerlichen Geschichte des King of Tars&0 verlieh. Nur die einleitende Darstellung, wie die Tochter aus Liebe zum 77

ed. G. Schleich (Heidelberg, 1929); ed. French-Hale; Schmidt-Jacobs. ed. M. Wattie (Northampton, 1929); ed. H. Weber, Metrical Romances, 3 Bde. (Edinb., 1810), I. 357ff.; Sands. 79 ed. H. Weber (s. Anm. 78), III, 157 [südl. Fassung]; ed. J. O. Halliwell, Percy Soc. (1848) [nördl. Fassung]; ed. G. Sarrazin (Heilbronn, 1885) [beide Fassungen]; Mills. 80 ed. Ritson, Bd. II, 156; ed. F. Krause in: Engl. Stud. 11 (1888), 33ff. 78

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kriegsbedrohten Vater den gehaßten Sultan von Damaskus heiratet, ist kraftvoll, alles übrige wirkt aufdringlich belehrend in dem steten Betonen heiliger Ergebung und christlicher Standhaftigkeit und eintönig zerdehnt trotz Fülle des Geschehens und Kürze des Textes. Ähnlich geringwertig sind die beiden dem französischen Stoffkreis zugehörigen Romane Roland und Vernagu und Sir Otuel, wie überhaupt dieser Kreis in England sehr schwach vertreten ist. An sich sind vier Abschnitte der Charlemagne- und Rolanddichtung zu unterscheiden: 1. Karls Reise ins Heilige Land, 2. der Anfang des Krieges mit Spanien - beide in England nur durch Roland und Vernagu vertreten -, 3. Otuel - in England vertreten durch Sege of Melayne, Otuel, Roland und Otuel-, 4. das Ende der Erzählung Turpins, in England vertreten durch Song of Roland. Roland and Vernagu^ ist nur ein Bruchstück einer größeren Geschichte, die in den kurzversigen Schweifreimstrophen und der Zusammenhanglosigkeit des Fragments keine künstlerischen Ansprüche erheben kann. Offenbar sollen dafür die dem King of Tars ähnlichen, erbaulichen Absichten eintreten. Karl, der ins Heilige Land zieht, worauf merkwürdigerweise seine spanischen Siege berichtet werden, ist nämlich ein christlicher Büßer, der mit einer Dornenkrone auf dem Thron sitzt, und Roland, der den Riesen Vernagu besiegt, verwickelt ihn vorher in ein Streitgespräch über die Dreieinigkeit, Fleischwerdung und Auferstehung. Vernagus Neffe ist Otuel, den französische Epigonenepik als neuen Helden, an dem aber nur der Name neu ist, in die Karlsdichtung einführte. Der englische Otuel, von dem drei Bearbeitungen erhalten sind, ist nicht schlecht erzählt, aber die Sarazenenkämpfe wirken schablonenhaft. Der Versuch, die im Vordergrund stehenden Kriegshandlungen durch eine schüchterne Liebesgeschichte zu erhellen, ist gut gemeint, erhebt aber das Werk nicht über den Spielmannsdurchschnitt. Die bei Betrachtung der englischen Versromane nötige Aufstellung eines englisch-germanischen Stoffkreises steht mit stilgeschichtlicher Betrachtungsweise in teilweisem Widerspruch; denn von den früher besprochenen Romanen dieses Kreises waren nur Hörn und Havelok auch ihrem Stil nach englisch, während der Bevis of Hamtoun und insbesondere Guy of Warwick sich in der großen und schon abgeleierten französischen Tradition bewegten. Die jetzt hinzukommenden Atheisten und Gamelyn ordnen sich dem Havelok zu und bilden den Übergang zu den späteren Balladen. Die höfische Liebe spielt keine Rolle, rohe Kraft ist mehr betont als ritterliches Tjostieren; tumultuarische und rasch bewegte Szenen herrschen vor, und greller Farbenauftrag ist das bevorzugte Stilmittel. Atheisten62, in der nun einmal volkstümlichen, aber für epische Erzählung auch nach Chaucers Urteil ungünstigen Schweifreimstrophe geschrieben, vermag trotzdem durch kurze Zusammenfassung (nur 811 Verse) und prachtvollen Balladenton eine große Wir81 82

ed. S. J. Herrtage, EETS XXXIX. ed. A. M. Trounce, EETS 224; ed. French-Hale; Sands; Schmidt-Jacobs.

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kung zu erreichen. Die Handlung setzt spannend ein: Vier Boten treffen sich im Wald und schwören sich Brüderschaft, und als einer von ihnen, Atheisten, König in England wird, läßt er seine „Brüder" nicht leer ausgehen. Darob entsteht aber Streit und eifersüchtige Verdächtigung beim König. Der will die ganze Familie des Verleumdeten hinrichten lassen, und seine widersprechende Gattin tritt er vor den Leib, so daß er ihr ungeborenes Kind tötet. Nun greift die Kirche ein, der Jähzornige wird exkommuniziert, und die Feuerprobe erweist die Unschuld der Angeklagten. Ihr Sohn wird nun von Athelston selbst zum Thronerben bestimmt, der Verleumder wird grausam bestraft und das Ansehen der Kirche gefestigt. Diese volkstümliche Novellistik hat auch erzähltechnisch wenig mit dem 'roman courtois' gemein. Die großen Raum einnehmende direkte Rede ist dramatisch, sie deutet Handeln an oder steht für Handeln, während sie im höfischen Roman monologischen Charakter hatte und der Überlegung diente. Die breite Beschreibung von Land, Stadt, Palast oder Kleidung im Roman fehlt hier völlig, und die Handlung ist einsträngig. Noch weiter in dieser Richtung geht der Gamelyn*3 der auch als 'tale' bezeichnet ist: Beschreibung fehlt hier ebenso wie in Athelston, und die direkte Rede ist auf den halben Umfang des ganzen Werks gesteigert. Die Geschichte ist durch Lodges Verfeinerung, die in Shakespeares „Wie es euch gefällt" wiederkehrt, bekannt; aber hier klagt der um sein Erbe betrogene Königssohn nicht um ein verlorenes Reich, wie es noch Hörn und Havelok tun, sondern über seine unbestellten Felder, seine gefällten Eichen, seine verfallenen Gehöfte. Es ist eine balladenhaft erzählte Geschichte aus dem Alltagsleben, in Alltagswendungen berichtet. Körperkraft erweckt Gamelyns Ansehen, Ringkampf ersetzt das Turnier, aufdringlich grell wird der Held gelobt, das Volk aus der Gasse tritt für ihn ein, und als Gamelyn flüchten muß, lebt er wie Robin Hood als König der Outlaws, der die Schwachen schützt und sich schließlich sein Recht erkämpft.

9. Entwicklung des Versromans 1350-1400 So boten sich dem englischen Versroman drei Möglichkeiten: Entweder er lief weiter in den alten, ausgefahrenen Geleisen, oder er entwickelte die volkstümliche Kunst des Balladenepos, oder er erhob bewußt einen höheren Kunstanspruch im Anschluß an die Neubelebung der Stabreimdichtung im Westen Englands (s. S. 156). Die dem Unterhaltungsbedürfnis entgegenkommende angewandte Kunst des Versromans läßt zwar eine genaue Einteilung nicht zu, aber eine Gliederung nach den 'matieres' hat fortan auch stofflich nur untergeordnete Bedeutung, da die große Zunahme der Romane eine Erweiterung, Ergänzung und Verschmelzung der überkommenen Stoffkreise zur Folge hatte, weshalb man z. B. zwei die herkömmliche Art vertretende Romane, Ipo83

ed. W. W. Skeat, The Works of Chaucer IV, 645; V, 477; ed. French-Hale; Sands.

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madon und Sir Degrevant, als 'composites' zu bezeichnen pflegt. Beide sind herkömmlich, weil sie verspätete ritterliche Sittengemälde sind, deren literarischer Stil nicht mehr zeitgemäß war. Sir Degrevant,M der auch metrische Unzulänglichkeit offenbart, führt das Kunstmittel der Beschreibung von Kleidern, Bildern und prunkhafter Zier zu ebensolchem Übermaß, wie er die herkömmliche 'dame hautaine' und ihren allzu ergebenen Liebhaber über die Grenze des Ernstzunehmenden hinaus steigert. Der interessantere Ipomedon^ versucht sogar eine genaue Wiedergabe des englischen Gesellschaftsbildes der Zeit vor 200 Jahren. Monologe und Gefühlszergliederung, Feinheit des Ausdrucks und höfisches Zeremoniell treten folglich mehr hervor, als das sonst im englischen Versroman üblich ist. Wenn andererseits die zahlreichen Figuren und zahllosen Begebenheiten eine reich bewegte Handlung ausmachen, so wollte der Verfasser damit weniger künstlerischen Forderungen als dem stoffhungrigen Geschmack des Publikums entgegenkommen. In anderer Weise herkömmlich sind die Geschichten des Karlskreises (der überhaupt keine national-englische Nachbildung erfuhr); hier lieferte kein höfischer Roman, sondern ein patriotischer Chanson de Geste den Stoff. Der fragmentarische Song of Roland**1 gibt nicht den Geist, nur den Stoff des Vorbilds, das er durch erklärende Zusätze weiter abschwächt, und die Sege of Melayne*1 (Mailand) ist nicht viel besser, wenn auch der Held Turpin lebendig geschildert ist. Am selbständigsten wird die Firumbras-Handlung dargestellt, sowohl im Sir Fimmbras?* dem besten der englischen CharlemagneRomane, als auch im Sowdone of Baby lone*9 der auch metrisch bemerkenswert ist, weil hier, die Schweifreimeintönigkeit unterbrechend, ein alternierender Reim herrscht, der bei häufiger Kürzung der Vierheber auf Dreiheber eine regelrechte Balladenstrophe ergibt. Wichtiger sind die in der inneren Form und der Erzählweise sich dem Balladenton nähernden Romane nördlicher Herkunft; sie zeigen eine englische Haltung, die allgemein als realistisch umschrieben werden kann. Statt des Nirgendslands der höfischen Romantradition finden wir einen genauer umschriebenen englischen Schauplatz mit Anspielungen auf häusliche Angelegenheiten, örtliche Bräuche und Rechtsanschauungen. Fünf Arthurromane gehören hierher und ein Sir Perceval of Gales90 (Wales), der gewissermaßen den Übergang bildet, weil er wie der Sir Tristrem eine summarische und verständnislose Wiedergabe des Themas darstellt. Der Gral ist gar nicht erwähnt, Frauenliebe tritt zurück hinter Naturliebe, die an Havelok erinnernde 84

ed. L. F. Casson, EETS 221; ed. K. Luick (Wien, 1917). ed. E. Kölbing (Breslau, 1889); Auszüge in French-Hale; Schmidt-Jacobs. 86 ed. S. J. Herrtage, EETS XXXV. 87 EETS XXXV; Mills. 88 ed. S. J. Herrtage, EETS XXXIV. 89 ed. E. Hausknecht, EETS XXXVIII; Auszüge in French-Hale. 90 edd. J. Campion and F. Holthausen (Heidelberg, 1913); ed. French-Hale. 85

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Kampffreudigkeit des Helden ist betont und die lachenmachenden Reden und Taten des Tumben. Das Ganze ist weniger ein Roman als eine vom Spielmann in Verse gebrachte Volkserzählung. Das gilt auch für The Avowynge of King Arthur?* worin Arthur, Gawain, Kay und Baldwin auf der Eberjagd prahlerische Gelübde tun, wie sie seit der Pelerinage de Charlemagne in der mittelalterlichen Literatur häufig sind. Die im Balladenton gehaltene Erzählung entspricht volkstümlicher Auffassung: Arthur ist einfach ein Jäger, ein dem Schabernack nicht abgeneigter guter Kamerad, Baldwin ein weltweiser Kämpfer, Kay der unziemliche Spötter, dem Gawain, der noch Ritterlichkeit wahrt, aus der Niederlage heraushilft. Die Awntyrs off Arthure92 sind eigentlich zwei durch die Hauptpersonen Gawain und Guinevere verbundene, balladenartige Geschichten: einmal die Hexenerscheinung von Guineveres Mutter, die dem auf der Jagd ruhenden Paar moralische Vorhaltungen macht, sodann der Zweikampf Gawain-Galleroune mit den beiderseits bangenden Damen - ein altes Legenden- und ein herkömmliches Romanmotiv, aber durch die dichterische Phantasie zu neuem kraftvollen Leben geweckt. Der wichtigste Arthurroman dieser Gruppe ist der in verdoppelten Balladenstrophen abgefaßte Morte Arthur^ Umfänglicher als die anderen Balladenromane (3834 Verse) enthält diese erste englische Fassung der schuldhaften Liebe Lancelots zur Königin mit ihren leidenschaftlichen Eifersuchtsund Versöhnungsszenen auch die rührend ergreifende Geschichte Elaines, der Maid of Ascolot. Ihre unerwiderte Liebe zu Lancelot, ihr Tod und der geheimnisvolle Heimgang Arthurs sind in Tennysons Lady of Shalott lebendig geblieben. Die späte Form der Geschichte, die nicht nur Arthur, auch Gawain senkt und Lancelot zum Helden erhebt, hat in des englischen Spielmanns lässiger Erzählkunst trotz aller Unarten stehender Wendungen und Reimformeln einen überzeugenden Ausdruck gefunden. Der Spielmann hatte die Gabe des geborenen Erzählers, alle unwesentlichen Einzelheiten wegzulassen, jede Nebenhandlung vorwärtstreibend in die Haupthandlung einzuflechten und die Aufmerksamkeit des Lesers auf den tragischen Ausgang zu lenken. Er verließ sich auf die menschliche Wirkung der Geschichte, die er ohne besondere Feierlichkeit in einfachem, klarem Stil erzählte, mit dichterischer Freude an keltischem Fabelglauben. So hatte die englische Sonderart, die ursprünglich nur bei den Geschichten um germanisch-legendäre Helden Anwendung gefunden hatte, den Arthurkreis einbezogen. Sie bemächtigte sich nun auch anderer Stoffe, deren fremdere Art eine Balladisierung nicht begünstigte, und formte sie nach dem Legendenmuster zu kurzen Verserzählungen um. Die Lais kamen dem entgegen, sie büßten ihren überweltlichen Charakter ein und wurden zu erbaulichlegendären Erzählungen. Emare,94 die beste mittelenglische Fassung der Con91

ed. J. Robson, Three Early English Metrical Romances (1842); ed. French-Hale. ed. F. J. Amours, STS (1892-97); R. Hanna (Manchester, 1974). 93 ed. J. D. Bruce, EETS LXXXVIII; ed. S. B. Hemingway (Boston, 1912); auch in EL. 94 ed. Ritson, Bd. II, 183; ed. E. Rickert, EETS XCIX; ed. French-Hale; Mills. 92

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stance-Geschichte, verdankt ihre Anziehung nicht dem zugrundeliegenden Feenmotiv, sondern dem Zartgefühl und der Empfindsamkeit der Darstellung. Wenn die heldische Dulderin als unirdisch angestaunt wird, so wegen ihrer Schönheit, Leutseligkeit und buntgestickten Gewänder, nicht weil sie im Zauberboot zu dieser Welt kam. Und der von einem Feenritter in Gestalt des Gatten erzeugte Sir Gowther95 geht in das Kinderwunsch-Thema des Volksglaubens über, wonach das lang ersehnte Kind vom Teufel erzeugt wird. Folglich muß die sühnende Pilgerfahrt nach Rom diese moralisierende Legendengeschichte von Robert dem Teufel beenden. Der Verfasser verweilt mit gleichem Behagen bei der Lasterschilderung des noch Unbekehrten, wie bei der Demütigung des büßenden Helden, der mit den Hunden sein Essen teilt. Noch deutlicher als die ursprünglichen Lais zeigen einige lebhaft ausgewertete Stoffe den Formeinfluß der Legenden. Sir Amadace,96 wie fast alle diese Erzählungen rund 1000 Schweifreimverse lang, behandelt den von der Antike übernommenen mittelalterlichen Lieblingsstoff vom dankbaren Toten in Verbindung mit dem Treuemotiv: Der durch Freigebigkeit verarmte Amadace trifft bei der Waldkapelle mit den brennenden Kerzen den ähnlich mittellos Gestorbenen und gibt sein Letztes, um die Beerdigung zu ermöglichen. Dann erscheint der tote Schuldner als weißer Ritter und wird des Helden guter Geist; da aber Amadace ihm die Hälfte des Seinen versprach, stellt er ihn auf die Probe und fordert die Hälfte von Weib und Kind. Hier ist Belehrung mit ausgezeichneter Erzählung verbunden, romantische Szenerie mit stark realistischer Einzelschilderung. Auch Robert of Sicily,91 der nur 444 Reimpaare hat, ist eine durchaus künstlerische Formung einer rein erbaulichen Geschichte. Der stolze König Robert, der nicht wahrhaben will, daß die Hohen erniedrigt werden, wird dadurch eines Besseren belehrt, daß ein mit seinen Kleidern angetaner Engel seine Ansprüche unsinnig erscheinen läßt, so daß man Robert als Narren zu den Hunden schickt. Hier sind Schauplatz und Geschehen noch wirklicher als im Amadace, und die ungewöhnlich kraftvolle Darstellung in Verbindung mit der zarten Gläubigkeit des Dichters bringt diese flüssigen Verse modernem Empfinden nahe. Die im Stabvers geschriebenen Versromane bedeuten einen weiteren Versuch, die im Vordergrund stehende Romanliteratur aus englischem Empfinden zu gestalten. Das erste Beispiel ist Joseph of Arimathie9* (ca. 1345), die wertvollste englische Fassung der Josephslegende, die als eine Ehrung des Vaterlands empfunden ist. Es ist eine Bearbeitung des französischen in Prosa geschriebenen St. Graal, natürlich stark zusammengedrängt. Nach 42 Jahren jüdischer Gefangenschaft zieht Joseph mit dem Gral nach Sarras, dessen Kö95

ed. K. Breul (Oppeln, 1886); Mills. ed. C. Brookhouse (Kopenhagen, 1968); Mills. 97 ed. Horstmann, Legenden 1878; ed. ders. in: Archiv 62 (1879), 416; ed. R. Nuck (Bln., 1887); ed. French-Hale. 98 ed. W. W. Skeat, EETS 44. 96

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nig durch die Visionen des Gekreuzigten und der blutigen Lanze bekehrt wird. Nun zieht der heidnische König von Babylon gegen den Neubekehrten, dem Joseph mit heimlichem Beistand zum Siege verhilft. Dann geht er nach England. Herber Vers, feierlich-kunstvolle Sprache, mystische Glut zeigen ein dem kurzen, balladenartigen Roman entgegengesetztes Kunstwollen. Hier gibt es nichts Triviales und keinen beschreibenden Schmuck, auch die realistischen Einzelzüge sind aufs äußerste beschränkt. Das Werk scheint mehr biblischer als romanhafter Tradition entsprungen. Nicht allen Stoffen war dieser neubelebte Stabreimstil angemessen, und nicht alle Verfasser waren Dichter genug, ihn zu handhaben. Wenn der Verfasser des Chevelere Assigne" eine balladenartige Kürzung des französischen Gedichts vom Schwanenritter auf 370 Zeilen vornimmt, die nun von melodramatischem Geschehen überquellen, und diese Folge von gewaltsamen Szenen und geheimnisvoll-übernatürlichem Wirken durch derben Humor zu würzen versucht, so ist das künstlerisch bedenklich. Der ganz von Liebe handelnde Roman William of Palernem (Palermo) ist, offenbar der Mode folgend, im Stabvers abgefaßt. Der spielmännische Verfasser, der dieses Werk für Humphrey de Bohun, Earl of Hereford ("f 1361), schrieb, war Dichter genug, um dieser seltsamen Geschichte sündiger Liebe mit dem als Schutzengel dienenden Werwolf einen eigenen Reiz zu verleihen. Die zärtlichen und rührenden Liebesszenen haben die Weichheit griechischer Romane, selbst der Stabvers verliert seine Härte. Andererseits ist das seltsame Geschehen durch humorvolle oder realistische Alltagseinkleidung in den Bereich der Möglichkeit gezogen. Doch fand diese in Spanien und Sizilien spielende Geschichte trotz ihrer literarischen Qualitäten keine große Verbreitung. Derartiges lag den mittelalterlichen Lesern ferner als der Trojastoff, der durch Joseph von Exeters humanistische und Benoit de Sainte-Mores höfische Bearbeitung bekannt war und in Guido delle Colonnes Prosa-Auszug aus Benoit, der Hisloria Destructions Trojaem (1287), die populäre und stets als Quelle benutzte Fassung erhalten hatte. Im Gegensatz zu den in kurzen Reimpaaren abgefaßten, künstlerisch bedeutungslosen Trojaromanen Seege of Troy102 und Laud Troy Bookm ist die wahrhaft epische, über 14000 alliterierende Langverse umfassende Gest Historiale of the Destruction of Troy104 von prachtvoller Wirkung. Der Verfasser arbeitete zwar rasch und nicht immer sorgfältig, sein Stil hat jedoch solche Kraft und Lebendigkeit, daß das Werk trotz seiner Länge in keinem Teil ermüdet und in den Schlacht- und Sturmbeschreibungen, z. B. der Zerstörung der Flotte des Ajax, dichterische Größe erreicht. "ed. Lord Aldenham, EETS VI; ed. French-Hale. ed. W. W. Skeat, EETS I. 101 ed. N. E. Griff in (Cambr, Mass., 1936). 102 ed. L. Hibler (Graz, 1928); ed. M. E. Barnicle, EETS 172. 103 ed. J. E. Wülfing, EETS 121/2. 104 ed. D. Donaldson, EETS 39, 56; Auszüge in French-Hale. 100

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Wiederum war es jedoch der Arthurstoff, der die bedeutendsten Dichter anzog. Der stabreimende, 4346 Zeilen umfassende Morte Arthure™5 (ca. 1360), der mit dem strophischen nur den Titel gemein hat, behandelt den Zug gegen Rom, Modreds Verrat, Arthurs Tod. Der Verfasser, der wie ein Chronist verfährt, auch mehrere Quellen benutzt, will Wahrheit berichten; und da er lebendig darzustellen versteht und das Wesentliche vom Unwesentlichen zu scheiden vermag, wird sein Werk zu einer Szenenreihe, die wie der Bericht eines Augenzeugen anmutet. Das Erschrecken der römischen Gesandten vor den flammenden Augen Arthurs, die Einschiffung des Heeres, die wilde Natur der Riesenhöhle St. Michel, das römische Lager, der frische Morgen bei der Belagerung von Metz, das Entsetzen des Schlachtfeldes, die Seeschlacht und der Kampf mit Modreds Heer sowie die Sterbeszene in Glastonbury sind eindrucksvoller vergegenwärtigt als in anderen Werken, selbst Malory nicht ausgenommen, wobei allerdings der angemessenere Vers auch seine Rolle spielt. Die Welt ist die kriegerische Arthurwelt von einst; neben Arthur tritt nur Gawain hervor, von Lancelot ist so wenig die Rede wie vom Gral, von Merlin oder von Guineveres Liebesgeschichte. Wie Lajamon suchte auch dieser Arthurdichter das Heldische und Nationale; sein Kunstwille ist auf ein englisches Nationalepos gerichtet mit Arthur als Helden: Dies sind gravierende Unterschiede zum höfischen Roman Frankreichs. Noch weiter abgerückt ist der bedeutendste englische Versroman Sir Gawain and the Green Knight^ der zwischen 1360 und 1395 im nordwestlichen Mittelland entstand (2530 Verse) und zu den Meisterwerken mittelenglischer Dichtung gezählt werden muß. Arthurs Hof in Camelot wird von einem grün gekleideten Ritter herausgefordert, der sich von Gawain, der die Herausforderung annimmt, den Kopf abschlagen läßt. Der Grüne Ritter ergreift seinen Kopf mit der Hand, setzt sich wieder in den Sattel und heißt Gawain, ihn nach Jahr und Tag aufzusuchen, um den Gegenstreich zu empfangen. Gawain nimmt an (Fytte I). Auf dem Weg, sein Versprechen einzulösen, findet Gawain ein Schloß, dessen Herr ihm dreitägige Rast vorschlägt. Gawain soll der Schloßherrin Gesellschaft leisten, während der Schloßherr auf die Jagd reitet. Abends soll jeder von beiden dem anderen schenken, was der Tag ihm eingetragen (Fytte II). Dreimal wird nun Gawain während des Gatten Abwesenheit von der Schloßherrin versucht; er widersteht, die Küsse gibt er dem Schloßherrn abends zurück, nur das Geschenk eines unverwundbar machenden grünen Gürtels verschweigt er (Fytte III). Am bestimmten Tage stellt sich Gawain dem Grünen Ritter, der ihn aber nur leicht verletzt. Er und 105

edd. G. G. Perry and E. Brock, EETS 8; ed. M. M. Banks (1900); ed. E. Björkman (Heidelberg, 1915); Übersetzung in EL. 106 edd. J. R. R. Tolkien and E. V. Gordon, rev. by N. Davis (Oxf., 21967); edd. I. Gollancz and M. Day, EETS 210 (1940); ed. A. C. Cawley, EL. Übersetzung von B. Stone, PB. Dt. Übersetzung [u. Originaltext] v. M. Markus (Stuttgart, 1974).- Vgl. J. A. Burrow, A Reading of Sir Gawain and the Green Knight (1965); M. Borroff, Sir G. and the G. K. (New Haven, 1962); E. Brewer, From Cuchulainn to Gawain (Cambr., 1973). S. auch Anm. 107.

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der Schloßherr, sagt er, seien dieselbe Person, Herausforderung und Versuchung bedeuten nur eine Prüfung, die kleine Wunde sei Strafe für den kleinen Treuebruch des verheimlichten Gürtels; Gawain wird ihn fortan tragen als Schutz gegen Selbstüberhebung. Er kehrt an Arthurs Hof zurück, berichtet über seine Erlebnisse und zeigt die erhaltene Wunde und den Gürtel Zeichen seiner Schuld. (Fytte IV). Äußerlich gesehen ist das ein Arbeiten mit überkommenen VersromanMotiven: Beide Hauptmotive - das 'beheading game' und die 'temptation' finden sich in mehreren mittelalterlichen Texten. Wichtiger ist, daß der Autor beide Themen in - für mittelenglische Verhältnisse - einmaliger Meisterschaft zu einem durchkomponierten Ganzen vereint hat, dessen Struktur vor allem von symmetrischen Entsprechungen bestimmt wird: Die Drei-Zahl spielt hier eine bedeutsame Rolle. Daneben beeindruckt den heutigen Leser die Darstellungskraft, mit der etwa die winterliche Landschaft, höfische Feste und Jagden beschrieben werden - in einem der Sprache Chaucers durchaus unähnlichen Dialekt, der neben französischen auch zahlreiche skandinavische und (für das Alliterative Revival typische) archaische englische Wörter verwendet. Das innere Thema ist die Bewährung Gawains als treuer und keuscher Ritter. Indem er Gawain die Probe nicht ganz ohne Makel bestehen läßt, deutet der Autor eine eher skeptisch-relativierende Bewertung allzu rigoristisch fordernder Verhaltens-Normen an. Im übrigen fasziniert gerade die Komplexität der in Gawain behandelten Probleme und Protagonisten den heutigen Leser: Die Bewertung christlichen gegenüber höfischen Ideals durch den Autor ist keineswegs eindeutig, der Grüne Ritter ist als Christus, Teufel und später Nachfahre jener Vegetationsgötter gedeutet worden, deren Sterben und Auferstehen das jährliche Vergehen und Werden der Natur bedeutet.

10. Pearl, Purity, Patience Das Manuskript, in dem Sir Gawain and the Green Knight aufgezeichnet ist, enthält außerdem drei weitere Gedichte: Pearl, Purity (oder Cleanness), Patience. Alle vier Texte dieser Handschrift Cotton A X, die um 1400 geschrieben wurde und in der British Library aufbewahrt wird, weisen so zahlreiche sprachliche, stilistische, metrische und thematische Ähnlichkeiten auf, daß man diese alliterierenden Dichtungen einem Autor - dem sogenannten Pearl Poet oder Gawain Poet - zuschreibt.107 Pearlm ist die Elegie eines Vaters auf seine Perle, die Tochter, die starb, noch ehe sie zwei Jahre alt war. Der Dichter berichtet in der ersten Person, 107

The Poems of the Pearl MS, edd. M. Andrew and R. Waldron (1978); Faksimile, ed. I. Gollancz, EETS 162. Übers.: The Complete Works of the Gawain-Poet, ed. J. Gardner (Chicago, 1965).- H. L. Savage, The Gawain-Poet (Chapel Hill, 1956); A. C. Spearing, The Gawain-Poet (Cambr., 1970); W. A. Davenport, The Art of the Gawain-Poet (1978). 108 ed. E. V. Gordon (Oxf., 1953); ed. C. G. Osgood (Boston, 1906); ed. S. P. Chase (Boston, 1932); ed. I. Gollancz (1921) [mit Übers.]; ed. M. V. Hillmann (Notre Dame, 2 1967). - Vgl. I. Bishop, Pearl in its Setting (Oxf., 1968). S. auch Anm. 107.

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daß er am Grabe einschläft und im Traum eine Paradieslandschaft sieht, wo seine Tochter als eine der königlichen Bräute wandelt. Er spricht mit der Verklärten, die sein Staunen über ihre Erhöhung durch die Parabel vorn Weinberg erklärt und ihn das Himmlische Jerusalem schauen läßt. Dann erwacht der Dichter, getröstet durch die ihm zuteil gewordene höhere Erkenntnis. Die dichterische Gestaltung menschlichen Erlebens enthält einerseits eine allegorisch ausgesprochene Verherrlichung der Reinheit - das Jungfräulichkeitsthema, das von der Halt Meidenhad zur Clene Maydenhod zahllose Dichtungen durchzieht und auch die tragende Idee des Gawain-Romans ist - und zum anderen eine theologische Diskussion, die über Bradwardinas die guten Werke mitberücksichtigende Gnadenlehre hinausgeht und (wie im Weinberggleichnis) die Gnade als allein wesentlich erklärt. Dieser gedankliche Gehalt wird nicht wie bei Langland durch begriffliche Allegorien zur künstlerischen Aussprache gebracht, sondern durch Dantes Symbolismus, dem die sinnlichen Dinge nur Abbilder ihrer geistigen Urbilder bedeuten, wie das einer Dichtung angemessen ist, die weniger die Abstellung herrschender Mißbräuche anstrebt als die Gestaltung von Idealen. Insofern knüpft die Perle an Rolles Spiritualismus an und benützt die Apokalypse als wesentliche Quelle. Die Sprache ist von blendendem Glanz, die metrische Gestalt kunstvoll; je 12 die Alliteration in der Art des Stabverses wahrende Zeilen sind durch Endreim zu einer Strophe gebunden, je 5 solcher Strophen verbindet derselbe Kehrvers, und Wiederkehr desselben Wortes (concatenatio) verknüpft jeweils die erste Strophenzeile mit der letzten der vorhergehenden. Die letzte Zeile der letzten, 101. Strophe knüpft an den Wortlaut der ersten an. Ähnlich wie in Sir Gawain die Drei-Zahl ist in Pearl die Zwölf strukturbildend: Das Gedicht besteht aus 12-zeiligen Strophen; die Gesamtzahl der Verse beträgt 1212. Dies ist nicht - genausowenig wie etwa in Dantes Commedia - oberflächliche Spielerei, sondern hat Sinn und Bedeutung: Das Himmlische Jerusalem, das der Dichter schaut, ist in der zugrundeliegenden Apokalypse des Johannes und in Pearl erfüllt von der heiligen Zahl Zwölf. Neben der metrischen und strukturellen Perfektion beeindrucken die bewegende Darstellung menschlichen Gefühls und die gelungene Kombination verschiedener literarischer Gattungen - Traumvision, Allegorie, Streitgespräch, elegische Klage - zu einer Einheit. Gegenüber Pearl fallen die übrigen religiösen Dichtungen des Pearl Poet künstlerisch ab. In Purity™9 spielt das Thema der Reinheit - ähnlich wie in Pearl und Sir Gawain - eine wichtige Rolle. Wesentliche Teile dieses homiletischen Gedichtes bestehen aus Paraphrasen der alttestamentlichen Berichte über die Sintflut, Sodom und Belsazars Fest. Patience110 berichtet die Geschichte des Jonas; sie besonders zeichnet sich durch Kraft der Erzählung, realistische Einzelzüge und lebendige Beschreibung aus. Nicht nur der Vers, auch der Geist dieser Dichtung knüpft an die 109 110

ed. R, Morris, EETS l; ed. R. J. Menner (New Haven, 1920). S. auch Anm. 107. ed. J. J. Anderson (Manchester, 1969). S. auch Anm. 107.

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Tradition der altenglischen religiösen Epik an; die Beschreibung des tobenden Meeres erinnert an Cynewulf, aber die Wortkunst ist gemäßigter.

11. John Gower Von den Dichtern des Alliterative Revival in jeder Beziehung weit entfernt, verfaßte im Südosten Englands JOHN GOWER (ca. 1330-1408),111 der Zeitgenosse und Freund Chaucers, Dichtungen in französischer, lateinischer und englischer Sprache. Als gebildeter kentischer Landedelmann widmete Gower seine Mußestunden dem Studium der Poesie; seine Gelehrsamkeit und Lateinbeherrschung waren größer als die Chaucers, und seine Sicherheit in französischen Versen verschaffte ihm Ansehen am Hofe Eduards III., der durch Philippa von Hennegau französischer Bildung geneigt war. Solcher Geschmacksrichtung entsprangen die französischen Balladen, in denen die Grazie höfischer Liebeskonvention nicht ungeschickt, aber mit einer etwas steifen Förmlichkeit des Tons und mit Zuspitzung auf einen Moralsatz nachgeahmt ist, und der seiner Geisteshaltung angemessenere Mirour de l'Omme oder Speculum Meditantis (ca. 1376-79), eine moralische Predigt von fast 30000 französischen Achtsilblern. Diese von satirischen Angriffen und erläuternden Exempla belebte Dichtung handelt von den Todsünden sowie von den verschiedenen Ständen dieser Welt, mit der Absicht, dem Sünder den Weg zu zeigen, auf dem er zur Erkenntnis seines Schöpfers zurückkehren soll. Der Mirour gehört also einer schon veraltenden Richtung an, die einst das Lehrgedicht Robert Mannyngs vertreten hatte. Künstlerisch bedeutsam ist nur die Zutat einer Rahmenerzählung, die allerdings nur bis Vers 18420 durchgeführt wird: Die aus der Ehe von Tod und Sünde entsprungenen sieben Todsünden werden vom Teufel in die Welt geschickt, um die Werke der Vorsehung zu vereiteln. Der von 'Versuchung' eingeladene Mensch würde deren Versprechungen zum Opfer fallen, wenn nicht das Fleisch, das von der Seele auf den Tod hingewiesen wird, aus Furcht bei der Vernunft Schutz suchte. Nun verheiratet Sünde ihre sieben Töchter mit der Welt, damit ihre Nachkommen, aus jeder Ehe fünf Töchter, den Menschen besiegen. Gott aber verheiratet die sieben Tugenden mit der Vernunft, damit deren Nachkommen, wieder fünf Töchter, den Kampf um die Eroberung des Menschen beginnen. Ein großer Rückblick zeigt, daß die Sünden meist im Vorteil waren, und eine Kritik aller Stände schließt sich an. Denn im Menschen ist das Übel zu suchen, und es sollte durch das Gute und Gerechte mit Marias Hilfe beherrscht werden. 111

Complete Works, ed. G. C. Macaulay, 4 Bde. (Oxf., 1899-1902) [mit Einleitung, Kommentar u. Glossar]; Confessio Amantis gesondert, EETS LXXXI/II; Auswahl, ed. J. A. W. Bennett (Oxf., 1968); The Major Latin Works (in Übersetzung), ed. E. W. Stockton (Seattle, 1962); Übersetzung der Confessio von T. Tiller, PB.- Vgl. M. Wikkert, Studien zu J. G. (Köln, 1953); J. H. Fisher, J. G. (1965).

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Der Dichter Gower spricht im lateinischen Hauptwerk Vox Clamantis, das er etwa 1377 begann; unter dem Eindruck des Bauernaufstandes von 1381 fügte er als Buch I eine allegorische Traumvision hinzu, in der er kompromißlos gegen die Aufrührer Stellung nimmt, die die überkommene gesellschaftliche Ordnung zu zerstören drohen. In dieser Vision sieht der Dichter einen Haufen in Tiere verwandelter Menschen, denen der Zügel der Vernunft fehlt: Rinder, Schweine, Hunde, Füchse, Fliegen, Frösche, die schrecklich und wild geworden sind, und die ein Eichelhäher (Wat Tyler) aufhetzt mit dem Rufe „Nieder mit der Ehre und dem Gesetz". So wälzt sich die Masse gegen Troynovant (London), und wenn auch durch den Tod des Hähers das Schlimmste abgewendet ist, das Staatsschiff treibt zur Insel der Unordnung, und eine himmlische Stimme rät dem erwachten Dichter, seine Gesichte zu beschreiben. Nun folgt eine belehrende Abhandlung über die gesellschaftliche Ordnung. Hier fügt die späte Fassung die Bitte an den jungen König Richard II. ein, er möge Tugend und Ordnung wiederherstellen. In diesen mehr als 10000 Versen im elegischen Versmaß spricht ein innerlich Erschütterter, der einen Abgrund sich öffnen sieht, in den der ganze staatliche und gesellschaftliche Bau zu stürzen droht. Es trieb ihn, wie Langland ein Bild des Schreckens zu geben, Furcht zu erwecken und einen Spiegel vorzuhalten, um eine innere Wandlung herbeizuführen. Aber seine Allegorie, die wohl die Kraft hat, des Verfassers Furcht auf den Leser zu übertragen, hat nicht die Anschaulichkeit und das Leben, das Langland seinen Geschöpfen zu geben vermochte. Die Stimme des Satirikers und Sittenpredigers gewinnt die Oberhand und führt zu einem großangelegten Zeitbild, gesehen von einem Anhänger der sterbenden feudalen Gesellschaft, der noch später in der Chronica Tripartita von der neuen Dynastie Lancaster eine Wiederkehr des alten England der Angevins erhoffte. Dann fügte Gower, der als Dichter und Mensch in der Vox Clamantis die angemessenste Aussprache gefunden hatte, seine so ganz anders geartete Veranlagung einem Wunsch Richards II. und schrieb in englischer Sprache unter dem Titel Confessio Amantis ein das Liebesthema abhandelndes Werk von fast 34000 Versen in kurzen Reimpaaren, das 1390 in erster, 1393 in letzter Fassung beendet wurde. Das Werk ist eine Sammlung von 133 Geschichten, die jeweils einen moralischen Satz erläutern und durch einen Rahmen zusammengebunden sind, den der Dichter dem französischen Rosenroman112 entnahm. Der schon bejahrte Liebende (Gower selbst), der über seine erotischen Mißerfolge verzweifelt den Tod herbeiwünscht, wird von der Liebesgöttin zur Beichte an ihren Priester Genius gewiesen, der den Dichter über Sünden gegen die Liebe prüft, wobei wiederum die sieben Todsünden nacheinander zur Sprache kommen. Der Beichtvater erläutert die Sünden jeweils durch eine oder mehrere Geschichten. Als dann die Beichte zu Ende ist, rät ihm Genius und nachher auch die Liebesgöttin selbst, von der Liebe abzu112

ed. E. Langlois, 5 Bde. SATF (Paris, 1914-24); engl. von F. S. Ellis (1926-28), von R. H. Robbins (N. Y., 1959).

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lassen, da seinem Alter die Tugend angemessener sei. Dieser Rahmen ist gut durchgeführt, wenn man ihn auch gerne von Chaucerschem Humor erhellt sähe; die Anpassung der Geschichten an die zu erläuternde Idee ist jedoch oft ungeschickt, z. B. soll die Geschichte von dem täuschenden trojanischen Pferd die Heuchelei erläutern, die Geschichte Phaetons die Nachlässigkeit. So bleibt nur die künstlerische Bedeutung der Geschichten selbst, und wie sehr auch das Thema einer Liebesallegorie Gowers Veranlagung zuwiderlief, seine Erzählergabe kam erst mit der Confessio ans Licht. Manche der Geschichten wie Mundus und Paulina (in Buch I), der falsche Knappe (II), Canace (III), Phyllis (IV), Jason und Medea (V), Vergewaltigung der Lukrezia und Virginia (VII) gehören zum Besten mittelalterlicher Erzählliteratur, ja in manchem ist Gower ein besserer Erzähler als Chaucer. Dramatische Kraft und Humor darf man nicht bei ihm suchen, aber er erzählt klar und ohne Abschweifungen. Vollendet einfach und natürlich bewegt sich dieser ruhig fließende Erzählton in den korrekten, Silben und Hebungen zählenden Versen und erhält durch den Verzicht auf Rhetorik und modischen Schmuck etwas Zeitloses.

12. Chaucer GEOFFREY CHAUCER 113 (ca. 1340-1400), nach Herkunft und Art dem Bürgertum zugehörig (sein Vater war ein wohlhabender Weinhändler in London), ging eine Laufbahn, die früher dem Adel vorbehalten war. Um 1357-59 wird er Page im Haushalt des Herzogs von Ulster; 1359 machte er den französischen Feldzug mit, wurde gefangen und mußte vom König für eine beträchtliche Summe ausgelöst werden. Als Valetus, dann als Scutifer etwa seit 1367 dem Hofstaat angehörig, heiratete er eine der Kammerfrauen der Königin und gewann die Schutzherrschaft Johanns von Gent, des einflußreichen Soh113

B i b l i o g r a p h i e : E. P. Hammond, Chaucer: A Bibliographical Manual ( . ., 1908, 1933), fortgeführt von D. D. Griffith, Bibliography of C. 1908-24 (Seattle, 1955), von W. R. Crawford: 1954-63 (Washington, 1966).- W e r k e : ed. W. W. Skeat, 6 Bde. [mit Einleitung, Anmerkungen, Glossar] und Ergänzungsband VII: Chaucerian a. o. Pieces (Oxf., 1894-97); ed. F. N. Robinson (21957) [beste Studienausgabe]; ed. A. C. Cawley (nur C. T.), EL; Troilus and Criseyde, ed. R. K. Root (Princeton, 1926); ed. J. Warrington, EL; J. M. Manly and E. Rickert, The Text of the C. T, 8 Bde. (Chicago, 1940); Sources and Analogues of the C. T, edd. W. F. Bryan and G. Dempster (21958); T. Stemmler, The Ellesmere Miniatures of the Canterbury Pilgrims (Mannheim, 31979); Konkordanz von J. S. P. Tatlock and A. G. Kennedy (Washington, 1927); N. Davis et al., C. Glossary (Oxf., 1979).- Übers, deutsch von G. During (Straßb., 1883-86); W. Herzberg (nur C. T), ed. J. Koch (Bln., 1925); C. T. engl. von N. Coghill PB.- B i o g r a p h i e und K r i t i k : Companion to C. Studies, ed. B. Rowland (Oxf., 21979) [Forschungsberichte]; M. M. Crow and C. C. Olson, C. Life-Records (Oxf., 1966); D. S. Brewer, C. and His World (1978); W. Clemen, C. s. frühe Dichtung (Göttingen, 1963); T. W. Craik, The Comic Tales of C. (1964); W. W. Lawrence, C. and the C.T. (1950); N. Coghill, The Poet C. (21967) [Einführung]; P.-G. Ruggiers, The Art of the C. T. (Madison, 1965); D. Mehl, G. C.: Eine Einführung in seine erzählenden Dichtungen (Bln., 1973). 2

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nes Eduards III. Etwa von seinem 30. Jahr an erhielt er diplomatische Aufträge, die ihn nach Frankreich, Flandern und Italien (1372/73 und 1378) führten. 1374 wurde er zum Oberaufseher der Zölle im Londoner Hafen ernannt, 1386 wurde er als Knight of the Shire für Kent Mitglied des Parlaments. Mit den königlichen Schicksalen machten seine eigenen auch Wandlungen durch. Seit 1391 bekleidete er keine Staatsämter mehr und geriet zeitweilig in Not; immerhin erhielt er auch von den Nachfolgern Eduards III., Richard II. und Heinrich IV., regelmäßige Geldzuwendungen. Als Chaucer zu dichten begann, mußte er, wie es nach diesem Lebenslauf natürlich ist, den höfischen, d. h. den französischen Stil zum Muster wählen. Was an englischer Dichtung vorlag, war für bürgerliche Hörer bestimmt, Chaucer aber las seine Werke bei Hofe vor. Es war also seine, wie dann auch Gowers Aufgabe, die englische Sprache hoffähig zu machen. Je mehr die alte gesellschaftliche Kultur der ritterlichen Zeit, die das normannisch sprechende England so gut wie Frankreich beherrscht hatte, in Widerspruch geriet zu der tatsächlichen Welt, um so verfeinerter und ausgeklügelter wurden die zur Mode erstarrenden konventionellen Formen. Diese Entwicklung hatte in der englischen Literatur keinen Ausdruck gefunden, und wenn man jetzt der englischen Dichtsprache die nötige Ausdrucksfähigkeit verschaffen wollte, so mußte die von der französischen Dichtung rund 100 Jahre zuvor durchgemachte Schulung nachgeholt werden. So machte sich Chaucer an die Übersetzung des Allerweltsbuchs, des Rosenromans (vor 1369), und lernte dabei die Geheimnisse der Wortwahl, der höfischen Redeweise, der feinen Herzensempfindungen. Er schrieb galante Marienverse (A B C), Rondels (Merciles Beaute) und Balladen (Gentilesse, Lak of Stedfastnesse, Truth, Womanly Noblesse, die Complaints to his Lady und Unto Pile) - sprachliche Kunststückchen mit schwierigen Reimmustern oder Wiederholungen in Strophe, Gegenstrophe und Envoi. Er redete im Stil der allegorischen Schule Frankreichs von Klagen des Mars und der Venus, von Fortuna und Golden Age. In den Liebesklagen, vor allem in The Compleynt of feire Anelida and fals Arcite, handhabte er (den Vorbildern Machault, Deschamps, Froissart, Granson ebenbürtig) die höchst verfeinerte, unpersönliche und gleichsam abstrakte Erzählweise, mit der ein Einzelfall von Recht und Unrecht in der Liebe mit typischen Charakteren und einer durch die .Sprachmelodie geschaffenen Stimmung abgewandelt wurde. Kraft dieser Schulung bewegte sich seine frühe Epik, das Buch der Herzogin (1369), das Vogelparlament (ca. 1380), das Haus der Fama (ca. 1380), sicher in der von höfischer Etikette und Formkonvention vorgeschriebenen künstlichen Welt von Traum und Vision, singenden Vögeln und Blumenwiesen, phantastischer Architektur und Kunstbeschreibung, gewählter Ausdrucksweise, hochstrebenden Gedanken und streng geregeltem Gefühlsausdruck. Diese im südöstlichen Kulturkreis neu erstehende, in englischer Sprache geschriebene höfische Kunst, die wohl die stabreimende Dichtung des Westens in ihrem Anderssein bestärkte, zog Gower in ihren Bann und erhielt die Unterstützung des Hofes. Mit Chaucers Hauptwerken wurde sie aus dem mittelalterlichen

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Rahmen hinaus- und der Renaissance entgegengeführt. Aber die französisch gerichtete, Chaucers Frühwerk völlig beherrschende gotische Stilkunst blieb ihm trotzdem zeitlebens nahe, wie denn einzelne der angeführten Balladen und die ähnlichen Sendschreiben an Bukton und Scogan in Chaucers letzte Zeit gehören. Die ersten Erfolge in diesem Stile waren das Buch der Herzogin, 1369 anläßlich des Todes von Blanche (der Gattin von Johanns von Gent) geschrieben, und das die Vermählung von Richard II. mit Anna von Böhmen feiernde Vogelparlament. Im Bok of the Duchesse ist er noch unfrei, wenn auch der Vers, eine Nachahmung des französischen Achtsilbler-Reimpaars, bereits die Biegsamkeit aufweist, die allein den fortlaufend jambischen Rhythmus vor Eintönigkeit bewahrt. Chaucer erzählt in der üblichen Einkleidung des Traumgesichts ein Gespräch mit dem Herzog, der ihn zum Vertrauten seiner Liebe und seines Schmerzes macht. In dieser Stilisierung ist das doppelte Ziel der Dichtung, das Betrauern und Verherrlichen Blanches und das Lob des Gönners, geschickt in Verbindung gebracht. Aber Chaucer hat noch kein Gefühl für Proportion. Vor das Zwiegespräch setzte er nicht nur ein Vorspiel aus Rosenroman-Bildern, die an dem schlafenden Dichter vorbeiziehen, sondern noch einen unverhältnismäßig langen Prolog. Nach Machault wandelt er das Motiv des schlaflosen, liebeskranken Dichters ab, der bei Ovid die Geschichte von Ceyx und Halcyone liest und sie dem Leser weitererzählt (wie Gower ein zweites Mal tat im vierten Buch seiner Confessio Amantis). Chaucer verwendet hier zwar konventionelle Motive, dennoch gelingt es ihm, durch die spezielle Anwendung dieses traditionellen Materials auf den einen, aktuellen Fall den Text für den Leser interessant zu gestalten. Auch für den Visionenrahmen des Parlement of Faules ist ein Buch der Ausgangspunkt: das Somnium Scipionis, dessen Gestalten dem beim Lesen einschlafenden Dichter erscheinen und ihn zum Tempel und Garten der Venus führen. Auch dieser Prolog ist zu lang gegenüber der eigentlichen Geschichte vom St. Valentinstag, an dem jeder Vogel sich sein Weibchen wählt und eine große Vogelversammlung die Freiung des vielumworbenen Adlerweibchens durch den Königsadler erörtert. Auch der Gedanke des Vogelparlaments ist altes Gut, aber die wirklichkeitsnahe, von Heiterkeit umspielte Vergegenwärtigung der Szene kennzeichnet bereits die Besonderheit seines Dichtertums. Die gefühlvollen Reden der Adlernebenbuhler werden von den Zwischenrufen der vier Stände des Parlaments unterbrochen. Die ritterlichen Raubvögel nehmen die Sache ernst und sind bereit, sie durch ein Turnier zu entscheiden. Aber die bürgerlichen Vögel haben für diesen Ehrenstandpunkt kein Verständnis, und die Gans macht den unhöflichen Zwischenruf: "But she wol love him, lat him love another." Auch in der metrischen Gestaltung sucht diese Dichtung freiere Ausdrucksweise: Anstelle des herkömmlichen Reimpaares verwendet Chaucer den sog. 'rhyme royal' - eine aus sieben fünfhebigen Versen bestehende Strophe ab ab bcc, die er in der französischen Dichtung vorfand und später auch im Troilus wieder aufgreift (daher auch Troilus-Strophe genannt).

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Gleichzeitig damit begann eine Umbildung seiner Kunst. Schon in dem unvollendeten The Hous of Fame hatte Chaucer versucht, den klassischen Stoff, dem er auf seiner Italienreise nähertrat, in der konventionellen Form der Liebesvision zu verwerten. An sich ist es eine Vision wie das Buch der Herzogin, die den Dichter in den bildgeschmückten Venustempel und dann ins Haus der Fama führt, ein Haus auf der vergänglichen Grundlage eines Felsens aus Eis, denn Ruhm und Gerücht liegen im selben Wort, und Fama ist von wechselnder Gestalt. Statuen der Großen stehen ringsum; Menschenscharen, die Gunst erbitten, füllen die Halle, und ohne Rücksicht auf Verdienst, nach augenblicklicher Laune, gewährt oder verweigert Fama. Der Dichter aber steht abseits, sieht das sich drehende Haus, in dem die Gerüchte entstehen, und die rennende und stoßende Menschheit, die sie zu erhäschen sucht. Das dabei verwertete Ovidische und Vergilische Gut ermunterte den Dichter zu einer Erweiterung der anschaulichen, wirklichkeitsnahen Schilderung. Die Wirklichkeit tritt damit neben die üblichen Abstraktionen und Allegorien, und so flicht er statt zeremonieller Wendungen lächelnde Betrachtungen über sich selbst ein, wie er des Abends, müde von seiner Tätigkeit im Zollhaus, über den Büchern einschläft: ein Künstler, dem das Leben durch die Finger glitt, ein Liebesdichter, dem das Liebesglück kaum je zuteil geworden, ein Weltkind, das ein Einsiedlerleben führte, ein Dichter, der keine Zeit zum Dichten hatte. Solche Verwertung klassischer Entlehnungen im Sinne einer die konventionelle Steifheit überwindenden dramatischen Bewegtheit und naturalistischen Wirklichkeitsschilderung war keinem mittelalterlichen Dichter je eingefallen. Eben diese Verwendungsart bedingte, daß mit dem Übernehmen antiken Guts sofort ein Hinausgehen über die antike Kunst, die ja auch eine Stilkunst war, verbunden sein mußte. Die in dieser Zeit geschriebene Palamon and Arcite-Geschichte, die er später etwas umgearbeitet als Knight's Tale in die Canterbury-Geschichten einfügte, zeigt, daß Chaucer keine Nachahmung der Antike anstrebte, denn sein Muster, Boccaccios Teseide, war das erste der klassizistischen Epen mit zwölf Büchern, olympischer Maschinerie, Heereskatalog, Kunstwerkbeschreibung, Kampfspielen, epischen Gleichnissen usw. Dieser Renaissanceprunk verführte Chaucer nicht. Er wußte, daß die romantische Geschichte unzertrennlicher Freundschaft und bis zum Zweikampf führender Liebesrivalität die Belastung durch eine klassizistische Form nicht vertrug. So erzählte er sie als Versroman, dessen Bilderreihe durch realistische Züge und gelegentliche humorvolle Auffassung einer diesseitigen Kunst angenähert wurde. Denn das ist das Wesen von Chaucers Dichtertum, wozu ihm die höfische französische Kunst und die antikisierende italienische Renaissancekunst nur Vorstufen waren, die er beging, aber auf denen er nicht stehenblieb. Seine eigene Kunst zeigte sich erstmals ganz in Troilus and Criseyde (ca. 1385), dem neben den umfassenderen Canterbury-Geschichten größten und durch künstlerische Geschlossenheit ausgeglichensten Werk Chaucers. Auch hier lag eine Darstellung Boccaccios zugrunde. Boccaccio hatte die dem Trojaroman entnommene Geschichte vom Trojaner Troilus und der Griechin Cri-

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seide (Briseida) durch die Zutat des Vermittlers Pandarus und die Ausmalung der Verzweiflung des Helden über die schließliche Untreue der Geliebten zu dem im 'dolce stil nuovo' erzählten Filostrato-Roman erweitert und umgebildet. Troja und die Kämpfe mit dem belagernden Griechenheer bildeten nur mehr den bedeutenden Hintergrund, vor dem sich diese eigenes Erleben (Fiammetta) ausdrückende und einen neuen Kunstwillen offenbarende Renaissancegeschichte mit ihren ausgeführten Seelengemälden wirkungsvoll abhob. Wiederum stand Chaucer seiner unmittelbaren Quelle selbständig gegenüber. Er verwertete nur Teile von Boccaccios Roman, den er durch Kürzung der lyrischen und monologischen Stellen stark zusammendrängte, und fügte mehr als die Hälfte von sich aus dazu, z. T. unter Benützung der Trojaromane von Benoit de Sainte-More und Guido delle Colonne sowie Ovids Metamorphosen und Heroiden. Diese in Richtung auf Lebenswahrheit und Wirklichkeitsnähe sich bewegende Umformung veränderte die empfindsame und ernst-vornehme Grundstimmung so sehr, daß ein verstehender Humor die Helden in tragikomischem Lichte zu zeigen wagt wie in der Schlußapotheose des Troilus, der vom Himmel auf die kleinen Menschen und ihre kleinen Leidenschaften herabschaut. Das ist nicht mehr die Stimmung der höfischen Kunst, und des Troilus Leidenschaft ist auch verschieden von der pathetisch-sentimentalen Darstellung Boccaccios; er sowohl wie Criseyde sind Opfer allgemeinmenschlichen Schicksals, und aus dieser Einstellung heraus wird die Wiedergabe der unbestimmten, schwankenden und vorübergehenden Gefühlsschwingungen psychologisch wahr und überzeugend. Alles Interesse wird von der Handlung auf die meisterhaft ausgeführte, psychologisch überzeugende Charakterzeichnung verschoben; und da der ursprüngliche Held Troilus als heroisch-idealer Typus des fehlerlosen Ritters und vollkommenen Liebenden beibehalten wird, rücken Pandarus und vor allem Criseyde in den Vordergrund. Der bei Boccaccio mit einer nur äußerlichen Vermittlerrolle betraute Pandarus wird zu Criseydes beratendem Onkel, dessen alle ritterlich-höfische Verstiegenheit belächelnde Weltklugheit in einer rein bürgerlichen Welt zu Hause ist, geschäftig, hilfsbereit, schlagfertig und nie um einen, wenn auch nur augenblicklichen, Ausweg verlegen. Criseyde endlich, unerfahrener und mädchenhafter als Boccaccios Kokette, ersetzt die 'dame hautaine et cruelle' der höfischen Konvention durch das lebenswahre Bild einer jungen Frau, die zur Liebe erwacht, das Auf und Ab der sinnlichen Leidenschaft durchlebt, treulos wird und in ihrer neuen Liebe dem Leser ebenso verständlich bleibt wie es der verlassene Troilus in seiner Verzweiflung ist. Das Unabwendbare und die Tragik sind nicht vereint, aber die komisch-widerrufliche Gegenansicht, die höfische und Renaissancekunst auszuschließen geboten, ist in die Geschichte einbezogen. Das Ziel ist kein Schönheitstraum im stilisierten Frühlingsgarten, sondern ein Bild des wirklichen Lebens mit dem Nebeneinander der Gegensätze, ausgedrückt durch Charaktere, die sich den Wirklichkeitslagen anpassen und ihrer Individualität entsprechend handeln und reden. Das war etwas völlig Neues, und dementsprechend war die Wirkung, die das Werk ausübte: Wer immer dem for-

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malen Frauenkult der höfischen Überlieferung nahestand, und das waren vor allem die Damen des Hofs, nahm Ärgernis; man wurde sich plötzlich bewußt, daß damit die höfische Stilkunst und die ganze alte Formenwelt zersprengt war. Die unvollendet gebliebene Legend of Good Women (ca. 1386) mutet auf den ersten Blick wie ein höfisch formales Zwischenspiel an. Der in einer frühen und einer späten Fassung überlieferte Prolog greift auf die Visionenform zurück: Im Traum sieht der Dichter den Liebesgott, der die Königin führt und ihr Gefolge von 19 Frauen. Alle knien nieder vor der Marguerite, der die weibliche Keuschheitstugend darstellenden Blume, wie sie die Franzosen Machault, Froissart, Deschamps in ihren Dits de la Marguerite besangen. Amor schilt den Dichter, daß er Böses über die Frauen gesagt, und dieser schreibt zur Sühne für die Königing Alceste (Anna) die Legenden über die antiken Frauen, die das Mittelalter als Muster weiblicher Tugend ansah: Kleopatra, Thisbe, Dido, Hypsipile und Medea, Lukrezia, Ariadne, Philomela, Phyllis, Hypermestra. Diese höfische Kunst beherrschte Chaucer mit so sicherer Selbstverständlichkeit, daß er, man möchte sagen, unbemerkt, ein neues Versmaß einführte, das fortan das herrschende werden sollte: das heroische Reimpaar. Die herkömmlichen Vierheber der höfischen Dichtung waren zurückgetreten, seit er die Vorzüge des jambischen Fünfhebers - der Entsprechung des italienischen Endecasillabo - erkannt hatte. Jetzt band er sie nicht mehr in seiner Lieblingstrophe wie zuletzt noch im Troilus, sondern reimte sie in Paaren, was glücklichere Anpassung an den Erzählton erlaubte. Und zu diesem Neuen fügen die Legenden selbst ebenso unbemerkt ein weiteres. Zwar entledigte er sich des Auftrags, die klassischen Geschichten höfisch annehmbar zu machen, zur Zufriedenheit der Königin, aber die meist Ovid entlehnten Erzählungen wurden ihm, wie schon im Haus der Fama und im Troilus, Anlaß zu einem realistischen Ausmalen, das die Verwandlungen und die heroischen Züge mehr und mehr außer acht läßt oder in eine Fassung zeitgenössischen Alltagslebens umsetzt. Nun brauchte er nicht mehr den Anlaß und die Hilfe der Antike für seine diesseitige Weltdarstellung. Die Wirklichkeit selbst ist Quelle des groß angelegten Sammelwerks der Canterbury Tales (1387-1400), deren von den verschiedenartigsten Menschen erzählte Geschichten weniger ein gedankliches Weltbild geben, als die epische Fülle des Lebens ausbreiten. Da sind, zahlreich vertreten, Angehörige des geistlichen Standes: eine vornehm gezierte aber gutherzige Priorin, begleitet von der zweiten Nonne und dem rotbackigen Nonnenpriester, ein ehrenwerter, aber die Jagd der Ordensregel vorziehender Mönch samt seinem bettelmönchischen Widerpart, ein ernst tüchtiger Landpfarrer und das Satyrgefolge von Büttel und Ablaßkrämer. Dann, minder zahlreich und nur die Gentry vertretend, der Adel: ein den Standesidealen getreuer Ritter mit seinem höfisch gebildeten Sohn, dem Junker, und ein bürgerlich-behäbig geschilderter Gutsbesitzer (Franklin). Arzt, Rechtsanwalt und der wissensbegeisterte Oxforder Scholar vertreten die gelehrten Berufe; die Kreise des bürgerlichen Handels, Gewerbes und Handwerks werden verkörpert durch den wichtigtuenden Kaufmann und Stiftsschaffner (Manciple), den findigen Verwalter, die fest im Leben stehende Frau aus Bath und die

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derbe Gruppe von Seemann, Müller und Koch, zu denen der Ackermann das lichte Gegenbild ist. So verschieden wie diese Menschen sind die Geschichten, die sie erzählen: Sie reichen vom derben Schwank (Müller, Verwalter, Seemann) bis zu den Boccaccios De casibus nacherzählten „Tragödien" des Mönchs, vom höfischen Ritterroman (Ritter) und dem adlige Gesinnung verherrlichenden Arviragus-Lai (Gutsbesitzer) bis zur Versromanparodie des Sir Thopas (Chaucer selbst) und dem launigen Arthurmärchen der Frau aus Bath, und von der Heiligenlegende (Priorin, zweite Nonne), Griseldisgeschichte (Scholar) und Prosapredigt (Pfarrer) bis zur Tierfabel (Nonnenpriester), Ovidischen Verwandlung (Stiftsschaffner) und Schatzfindergeschichte (Ablaßkrämer). Der Vielfalt der literarischen Gattungen entspricht die Vielfalt der verwendeten Vers- und Strophenformen: Neben dem vorherrschenden fünfhebigen Reimpaar ('heroic couplet') macht Chaucer Gebrauch vom 'rhyme royal', von der Schweif reim- und Balladen-Strophe (französischer Herkunft); zwei Geschichten sind in Prosa verfaßt. Diese Vielfalt ist künstlerisch geeint durch den Rahmen, der alle Erzähler als Pilger nach Canterbury unterwegs in Southwark im Tabard Inn einkehren läßt, dessen Wirt vorschlägt, zur Kurzweil solle jeder Teilnehmer auf der Hin- und Rückreise je zwei Geschichten erzählen; den besten Erzähler werde er auf der Rückkehr freihalten. Dieser Rahmen, der im Allgemeinen Prolog und den die Geschichten verbindenden Zwischenstücken (den 'links') gegeben wird, sowie die Anordnung der Figuren in Gruppen, die einander ins rechte Licht setzen, unterscheiden die Canterbury-Geschichten von anderen Rahmenerzählungen wie Boccaccios Decamerone oder Gowers Confessio Amantis, deren Rahmen rein äußerlich blieb, und deren Kunstziel die vollendete Einzelerzählung darstellte. Chaucer verwendete auch künstlerische Unzulänglichkeiten wie schlechtes Erzählen, Überlänge oder vorzeitiges Abbrechen einzelner Geschichten bewußt; denn ihm handelte es sich nicht nur um die Geschichte, sondern zumeist um den Erzähler, den diese Geschichte charakterisiert. Wie im Troilus liegt der Nachdruck auf dem wirklichkeitsgetreuen Abbild des Menschlichen; deshalb gibt der Dichter selbst im Prolog eine einführende Beschreibung der Pilger, die durch Erörterung der Gestalt, des Kleids und der Art, sich zu geben, sowie des Berufs und der sozialen Stellung die Umrisse des Charakters festlegt. Dies ergänzen die eingeschobenen Gesprächszwischenstücke, die in Beifall, Widerspruch oder Streit zur eben erzählten Geschichte Stellung nehmen und die nächste heraufführen durch eine gegenseitige Charakteristik der Pilger. Die von dem einzelnen erzählte Geschichte vollendet das Charakterbild, denn in diesen Geschichten enthüllt sich die innere Art der Figuren. Diese dreifache Charakteristik ist nicht überall so klar wie beispielsweise beim Bettelmönch und Büttel, die im Prolog und Zwischenspiel schon gegeneinander abgesetzt sind und ihre Geschichten als gegenseitige Herausforderungen erzählen; denn Chaucer, der lange an dem Werk schuf, frühere Werke umgearbeitet hinzunahm und vieles nur vorläufig skizzierte, starb vor der Vollendung und endgültigen Ordnung.

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Von den vorgesehenen 120 Geschichten (30 Pilger erzählen je vier Geschichten) hat Chaucer nur 22 vollenden können, zwei weitere (die Erzählungen des Junkers und des Kochs) sind nicht fertiggestellt, die restlichen fast 100 - nicht einmal begonnen. Es gibt allerdings Hinweise darauf, daß Chaucer während der Arbeit an den Canterbury-Geschichten von dem ursprünglichen, gewaltigen Umfang abging und sich mit weit weniger Erzählungen begnügen wollte. Während Versuche, die Canterbury-Geschichten in einem einzigen Bezugssystem zu sehen - wie etwa dem der sieben Todsünden - fragwürdig erscheinen, sind dennoch einander zugeordnete Gruppen von Erzählungen deutlich erkennbar. So können die Erzählungen des Müllers und des Verwalters als Kontrafakturen der Geschichte des Ritters verstanden werden; in einer anderen Gruppe, der sog. 'marriage group', wird das alte Thema der Herrschaft in der Ehe angeschlagen und von den einzelnen Erzählern ganz unterschiedlich dargestellt. Auch in ihrem vorliegenden, nicht endgültig redigierten Zustand sind die Canterbury-Geschichten ein vollkommenes Bild der Zeit und bezeichnen mit dem Troilus zusammen eine neue, den mittelalterlichen Anschauungen entwachsende Kunst und Geisteshaltung. Mit unvoreingenommener und lächelnd duldsamer Beobachtung ist der Gedanke als Ausdruck des Charakters angesehen; die Einzelwesen tragen also ihren Wert in sich, treten somit aus den Verbänden heraus, in die sie die mittelalterliche Anschauung eingeordnet sah. Diese „Renaissance"-Wertung des Individuums tritt stärker hervor durch das sich unterordnende Zurücktreten des Künstlers, der, wie Shakespeare, sich mit der Darstellung begnügte und zur Frage des Wertes oder Unwertes des Lebens nicht Stellung nahm. Der Wahrheitsgehalt der Darstellung wird künstlerisch überzeugend durch die Lebensnähe des Künstlers, der sich selbst in die geschilderte Welt einbezieht und über sein und der anderen Menschsein belustigt das bunte Schauspiel des Alltagslebens zum Ziele seines Schaffens macht. Darum ist seine Kunst unerreicht. Wenn auch das Erschütternde, Heroische und Erhabene jenseits seines Vermögens lag, zu Ende des 14. Jahrhunderts, als Petrarca und Boccaccio nicht mehr lebten und Frankreich überhaupt keine großen Dichter aufzuweisen hatte, war Chaucer der größte Dichter Europas, und es ist kein Wunder, daß sein Einfluß die ganze englische Dichtung des 15. Jahrhunderts überschattete.

V. DAS 15. J A H R H U N D E R T 1 1. Politik und Dichtung Das 15. Jahrhundert ist die Brücke vom Mittelalter zur Renaissance. Der Übergang geschah trotz zukunftsweisender Züge in England nur allmählich. 1

Textauswahl: English Verse between Chaucer and Surrey, ed. E. P. Hammond (Durham, N. C, 1927) [bes. Chaucerschule; reich kommentiert].

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So wie in der Architektur die Gotik in ihrer Spätform als Perpendicular Style bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts herrschend blieb und im 15. Jahrhundert in so bezeichnenden Bauwerken wie der King's College Chapel in Cambridge, Lady Chapel in Gloucester, Christ Church College und Divinity School in Oxford Ausdruck fand, - so wie das philosophische Denken mit Adam Woodham, Walter Chatton, Robert Holcot die kritisch skeptische Richtung des Occamismus fortführte, so empfanden sich auch die Dichter als Fortsetzer, nicht als Neuerer. Die künstlerische Atmosphäre ist die eines Herbstes des Mittelalters. Der Geschmack bewegte sich weiter in den alten Bahnen, auch als das Bürgertum die literarisch führende Schicht geworden war. Am ehesten ist das Neue in der politischen und sozialen Geschichte fühlbar. Das 15. Jahrhundert ist die Zeit der Regentschaft der Häuser Lancaster und York und ihres Erben, des ersten Tudor (Heinrich IV., V., VI., Eduard IV., V. und Richard III., Heinrich VII.). Es war eine Zeit dauernder Kriege, die außenpolitisch zunächst die Siege Heinrichs V. gegen Frankreich bei Harfleur, Azincourt, Rouen brachte. Dann folgten die Rückschläge unter Heinrich VI., durch die der französische Besitz bis auf Calais verlorenging. Innenpolitisch ist die Zeit bestimmt durch die Aufstände der Percies unter Heinrich IV. und den dreißigjährigen Bürgerkrieg der Roten und Weißen Rose 1455-1485. Das Ergebnis der auswärtigen Erschütterungen und des großen Machtkampfes von Adel und Krone war auf politischem Gebiet: Vernichtung des Adelsstandes, Aufgabe des wohl verfrühten Lancasterversuches verfassungsmäßiger Regierung, Mißachtung des trotz großer Rechte in seiner tatsächlichen Macht geschwächten Parlaments als Vorstufe des Tudordespotismus; auf sozialem: Zusammenbruch des Feudalsystems, die endgültige Bildung des Lohnarbeiterstandes und das Entstehen einer neuen Klasse, des landbesitzenden und städtischen Bürgertums. So wird das 15. Jahrhundert eine Zeit der Verwerfung der sozialen Hierarchien, eine Zeit der Herrschaftslosigkeit, da niemand regiert, weil alle regieren. Vom König war nichts zu erwarten, man suchte Schutz bei einem Adligen und dann beim nächsten, wenn dieser im Kampf gegen den ersten Sieger blieb. Der durch drei Generationen (von 1422-1509) hindurch erhaltene Briefwechsel der PastonFamilie (The Paston Letters2) - neben den lateinischen Universitätsbriefen die erste englische Korrespondenz, die in den Stonor Letters, der Plumpton Correspondence und den Cely Letters2 ihre Ergänzung findet - zeigt die neuentstehende Gentry in stetem Kampf, sich durch Gesetz, List oder Gewalt zu behaupten. Ständige Geldschwierigkeiten, Prozesse, Gesindenöte und Besitzstreitigkeiten ermöglichten kaum die Bewirtschaftung der Güter. So wird Margaret Paston von den Leuten Lord Molynes' aus ihrem Gutshaus getrieben und das Haus, um das ein Prozeß schwebte, verwüstet. 15 Jahre später verfuhr der Herzog von Suffolk genau so mit dem den Pastons gehörigen Hof 2

Paston Letters, ed. N. Davis, 2 Bde. (Oxf., 1971/76); Auswahl, ed. N. Davis (Oxf., 1958).- Vgl. H. S. Bennett, The Pastons and their England (Cambr., 1922; 1968).Cely Letters, ed. A. Hanham, EETS 273.

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in Hellesdon, nur weil er ihn haben wollte und er die gesetzlichen Ansprüche der bürgerlichen Emporkömmlinge in der rechtlosen Zeit mißachten konnte. Diese inneren Erschütterungen, die sich in den Privatkorrespondenzen so deutlich spiegeln, finden in der Dichtung,3 und zwar nicht nur der schöngeistigen, sondern auch der politischen, so gut wie keinen Ausdruck. Es findet sich ein scharfes Makkaronigedicht gegen die Bettelmönche4 neben den üblichen Angriffen auf Höflinge und Luxus,5 und die alten Lollardenangriffe leben mit dem Prozeß des Sir John Oldcastle wieder auf.6 Nach der in einem lateinischen Gedicht und parodierenden Gegengedicht zum Ausdruck kommenden Bitterkeit beider Parteien7 möchte man eine größere Satirenliteratur erwarten, aber offenbar nahm die Politik das ganze Interesse in Anspruch. Zunächst sind diese rein politischen Gedichte auf den alten, mehr oder weniger Beschwerde führenden Ton gestimmt. Als Heinrich IV. den an einem der Aufstände beteiligten Erzbischof Richard Scrope von York hinrichten ließ (1405), äußerte sich der Unwille der Geistlichkeit in einer lateinischen Ballade,8 die über die Art der Prozeßführung Klage erhebt. Ein ebenfalls lateinisches Gedicht auf den Tod Heinrichs IV. von Thomas Elmham9 spricht in etwas dunklem Ton Ermahnungen an den Nachfolger aus und zeigt, daß die Politik des verstorbenen Königs bei der Bevölkerung nicht sehr beliebt war. Das änderte sich mit der Thronbesteigung Heinrichs V. völlig; von der inneren Politik ist nicht mehr die Rede, dafür finden die kriegerischen außenpolitischen Erfolge um so größeren Widerhall. Der französische Feldzug von 1415 mit dem Siege bei Azincourt rief mehrere Balladen hervor; die eine bildet den Schluß einer zur Hälfte in Prosa umgeschriebenen Chronikstelle,10 die andere, dichterisch wertvollere, hat zwei Fassungen: eine kürzere, ältere, gröbere in zwei Teilen und eine längere, die in drei Abschnitten die Belagerung Harfleurs schildert, dann die Schlacht von Azincourt und schließlich, wohl dem amtlichen Programm folgend, die Siegesfeier in London.11 Es ist eine Mischung von Chronik und Ballade, wie ja auch Balladen gleichsam als Steigerung in den chronischen Bericht eingefügt wurden. Der längste derartige Einschub (1314 Zeilen) ist die auch als selbständiges Kurzepos erhaltene Beschreibung der Siege of Rouenn (1419), die im Hin3

Die im folgenden zitierten Gedichte in: Political Poems and Songs, Relating to English History, ed. T. Wright, 2 Bde. (1859-61) [angeführt als "Wr." mit römischer Band- und arabischer Seitenzahl] und/oder in: Historical Poems of the 14th and 15th Centuries, ed. R. H. Robbins (N. Y., 1959) [angeführt als "R." mit der Nummer des Gedichts]. - Vgl. V.J. Scattergood, Politics and Poetry in the 15th Century (1971). 4 Against the Friars (Wr. II, 249; R. 67). 5 On the Corruption of Public Manners (Wr. II, 251).Epigrams on the Public Extravagance (Wr. II, 252). 6 Against the Lollards (Wr. II, 243). 7 On the Lollards (Wr. II, 128; R. 64). 8 On the Execution of Richard Scrope (Wr. II, 114). 9 On the Death of Henry IV (Wr. II, 120). 10 On the Battle of Azincourt (Wr. II, 123; R. 27). 11 Gedruckt in Pseudo-Elmham: Vita Henrici Quinti, edd. Hearne Nicolas and Tyrell (Chronicle of London, 1827). 12 ed. H. Huscher (Lpzg., 1927).

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blick auf Versromane wie Seege of Troye, Sege of Jerusalem und Laud Troy Book gearbeitet ist, nur mit dem Unterschied, daß wie in der anderen historischen Literatur die Frauenliebe keinen Platz hat. Der Verfasser John Page, vielleicht ein Feldkaplan Heinrichs V., schildert die miterlebten Ereignisse in der Chronikart, die das bunte Ritterbild auszumalen liebt und die Elendsbeschreibung in der Stadt durch die Angabe der hohen Lebensmittelpreise stützt. Andererseits ist ein Dichterwille fühlbar in dem auf Gegensätzen beruhenden Aufbau und der Verlebendigung durch direkte Rede, wodurch z. B. der Empfang der Stadtabgeordneten durch Heinrich V. (Vers 787-946) überaus wirkungsvoll gestaltet ist. Das Ziel ist eine Verherrlichung des englischen Volkes und seines höchsten Vertreters, der zum christlichen Ritter erhöht wird. Kaum, daß ein lateinisches Gedicht auf den Tod des noch in Shakespeares Historic als Heldenkönig gezeichneten Heinrichs V.13 trüben Ahnungen nachhängt angesichts des erst ein Jahr alten Thronerben, sofort folgen die dichterischen Rechtfertigungen des Anspruchs auf den französischen Thron,14 und bei der Krönung des Neunjährigen 1429 erscheinen ein längeres Huldigungsgedicht15 im Lydgatestil und eine Ballade, die die Festlichkeit beschreibt.16 Als dann das Kriegsglück wiederkehrte, und der flämische Versuch, Calais zu erobern, fehlschlug (1436), steigerte sich die patriotische Dichtung wie einst beim Sieg von Azincourt. Mehrere Balladen feiern das Ereignis; zwei sind satirisch, spotten über den feindlichen Anführer, den Herzog von Burgund,17 und seine schottischen Bündnisversuche (letzteres lateinisch),18 eine andere ist erzählend und schildert schwungvoll und zum Teil in parodistischer Laune die Niederlage der Flamen.19 Aus diesen Calais-Gedichten spricht deutlich, daß sich das Volk der Bedeutung des Ereignisses bewußt war. In dem bürgerlichen England des 15. Jahrhunderts war See- und Handelspolitik eine Angelegenheit, die jedermann anging. Aus diesem Bewußtsein erklären sich zwei Dichtungen, die eigentlich in Verse gebrachte, handelspolitische Abhandlungen sind: The Libelle of Englyshe Po/ycye20 (1436) und das darauf fußende kürzere Gedicht On Englands Commercial Policy.21 Beide betonen Englands Vormachtstellung in der Welt, alle Länder seien auf Englands Handel angewiesen. Die Sicherheit dieses Handels erfordere den Besitz von Calais. Calais und Dover werden als die beiden Augen der englischen Seemacht bezeichnet. In diesem „Büchlein von englischer Staatsklugkeit" wird also zum erstenmal die imperialistische Forderung unbedingter Herr13

On the Death of Henry V (Wr. II, 129). On the Assumption of the Arms of France 1422 (Wr. II, 130); On the English Title to the Crown of France (Wr. II, 131). 15 To King Henry VI on his Coronation (Wr. II, 141). 16 On the Coronation of Henry VI (Wr. II, 146). 17 On the Duke of Burgundy (Wr. II, 148; R. 30). 18 Philip of Burgundy and James of Scotland (Wr. II, 150). 19 On the Siege of Calais (Wr. II, 151; R. 28). 20 Wr. II, 157; ed. C. F. Warner (Oxf., 1926). 21 Wr. II, 282; R. 70. 14

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schaft über die See ausgesprochen, wenn auch vorerst nur in der Form der Beherrschung des Kanals als Zugangsstraße. Das diese Gedanken vertretende Bürgertum mußte kriegsfreudig sein und drängte den Herzog Humphrey zur Fortführung des französischen Feldzuges. Trotz der Rückschläge hoffte man auf eine Wiederkehr der siegreichen Zeiten Heinrichs V., und vergebens versuchte Lydgate in zwei den Frieden preisenden Gedichten, für die Regierungspolitik gute Stimmung zu machen (1444).22 Als dann Humphrey (1446) und Beaufort (1447) starben und es in Frankreich bergab ging, suchten scharf ins Zeug gehende Balladen, den Kriegswillen der Regierung aufzustacheln,23 rohe Satiren griffen den Günstling Suffolk als Sündenbock an,24 drohten ihm und seinen Anhängern25 und frohlockten in einer Totenmessenparodie über seinen Tod (1450).26 Danach kam ein Rückschlag. Kurz vor den Rosenkriegen klagt ein Gedicht über die verderbte Zeit,27 in der die Armen zu Peers, die Unwissenden zu Richtern geworden, und der Blinde vom Blinden geführt werde.28 Die Rosenkriege, die dem Bürger keine lebhafte Anteilnahme entlockten, sind kaum von Gedichten begleitet. Jetzt ist es nicht die Kriegs-, sondern die Friedensaussicht, die eine Ballade hervorruft, wie der Versöhnungsversuch nach der Schlacht bei St. Albans (1458).29 Ein einziges Lancaster-Gedicht findet sich, das allegorische Ship of State, einige yorkistische, wie die den Sieg bei Towton feiernde Rose of Rouen (1461)30 und der Political Retrospect^ Schließlich lieferte der Sturz Richards III. neuen Stoff (The Betrayal of Buckingham32). Ein etwa 1495 geschriebenes allegorisches Gedicht The Rose of England33 begrüßt die neue Zeit: England wird einem schönen Garten mit rotem Rosenbaum verglichen, den ein wilder Eber niederreißt, aber ein Rosensproß (Henry Tudor) bleibt erhalten, er siegt mit des Adlers (Stanleys) Hilfe. Länger und wichtiger ist The Song of Lady Bessy34 worunter Elisabeth, die Tochter Eduards IV., gemeint ist, die die Ehe mit Richard III. ausschlägt. Hier fließt mehr als sonst bei politischer Dichtung Wahrheit und Dichtung zusammen; das gehört bereits in den Bereich der Volksballade.

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On the Prospect of Peace (Wr. II, 209) und On the Truce of 1444 (Wr. II, 215). On the Popular Discontent at the Disaster in France (Wr. II, 221). 24 On the Arrest of the Duke of Suffolk (Wr. II, 224; R. 75). 25 Verses against the Duke of Suffolk (Wr. II, 231). 26 On the Death of the Duke of Suffolk (Wr. II, 232; R.76). 27 On the Corruptions of the Times (Wr. II, 235; R. 49). 28 On the Corruptions of the Times (Wr. II, 238). 29 On the Procession to St. Paul's (Wr. II, 254). 30 Gedruckt Archaeologia XXIX. 31 Wr. II, 267; R. 93. 32 in: Percy Folio MS, edd. J. W. Hales and F. J. Furnivall (1867/8), Bd. II, 255. 33 ibid. Ill, 187. 34 ed. J. O. Halliwell, Percy Soc. (1842). 23

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2. Volksballade und weltliche Lyrik Unter Balladen35 versteht man kürzere, strophisch-sangbare Gedichte unbekannter Verfasser vorwiegend erzählender Art. Aber außer der Erzählung einer Handlung eignet der echten Ballade ein hoher lyrischer Ausdruckswert und ein dramatisch-szenenhafter Charakter, der durch die häufige Verwendung des Dialogs besonders deutlich wird (z. B. in 'Edward'). Schon Goethe sah die Ballade daher als das „Ur-Ei" aller Poesie an, und die neuere Balladenforschung hat diese Auffassung zwar nicht im historisch-genetischen, wohl aber im gattungstheoretischen Sinne bestätigt. Während die ältere Forschung die Entstehung der Ballade in Herders Sinn der 'communal authorship' eines gesamten Volkes zuschrieb, wird heute wieder die individuelle Autorschaft, etwa der Minstrels, als einzig überzeugende These angesehen. Dadurch hat die Unterscheidung zwischen Volks- und Kunstballaden ihren Wert für die Gattungstheorie zum großen Teil eingebüßt. Allerdings ist die in der Sammlung Childs vorliegende Form der Volksballaden erst durch das Weitergeben in mündlicher Tradition, das zum „Zersingen" führt, entstanden. Der Begriff Ballade (von franz.-provenzal. ballade/balada Tanz, Tanzlied') hat zu mißverständlichen Auffassungen über die Entstehung der Ballade aus dem Tanz geführt. Wie die noch heute in England übliche Unterscheidung zwischen 'ballade' und 'bailad' zeigt, verstand man ursprünglich (besonders im 12. und 13. Jahrhundert in Frankreich und England) unter 'bailade' dreiteilige strophische Tanzlieder rein lyrischen Charakters. Erst allmählich wurde das Wort, vor allem im 18. Jahrhundert durch Percy, auf die vorwiegend erzählenden Lieder spätmittelalterlicher Minstrels übertragen und dient seitdem als 'bailad' zur Bezeichnung der von Child gesammelten Volksballaden. Mit dem Bekanntwerden der Sammlung Percys fand das Wort „Ballade" auch auf die in Deutschland bestehenden Lieder dieser Art Anwendung. So sind die deutschen und die meisten der englisch-schottischen Balladen nicht aus dem Tanz entstanden. Aber der L i e d c h a r a k t e r ist bestätigt worden durch die Aufzeichnung der Melodien amerikanischer Textvarianten.36 Die englisch-schottischen Balladen sind als ein Zweig der europäischen Balladendichtung anzusehen. Sie werden hier nur notgedrungen aus ihren europäischen Zusammenhängen herausgelöst dargestellt. Ihre Hauptmerkmale sind ihre besonders herbe, strenge, stilisierte Art und die häufige Verwendung der eigenartigen Chevy Chase-Strophe. 35

Vollständige Sammlung aller Balladenfassungen: F. J. Child, The English and Scottish Popular Ballads, 5 Bde. (Boston, 21882-98); in 3 Bdn. (1956). Auswahl: The Oxford Book of Ballads, ed. J. Kinsley (Oxf., 1969).- Vgl. G. H. Gerould, The Bailad of Tradition (Oxf., 1932); W. Schmidt, Die Entwicklung der englisch-schottischen Volksballaden, in: Anglia 45 (1933), S. 1-77, 113-207; W.J. Entwistle: European Balladry (Oxf., 1939); M. J. C. Hodgart, The Bailad (1950); B. H. Bronson, The Bailad äs Song (Berkeley, 1970). 36 Vgl. z. B. die Editionen von G. Greig, Folk Song of the North-East (Peterhead, 1909-14), und G. J. Sharp, One Hundred English Folk Songs (Boston, 1916).

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Die durch mündliche Überlieferung und andere Faktoren (z. B. soziologischer Art) bedingte fortwährende Umbildung der Balladen während der einzelnen Zeiträume der Überlieferung hatte zur Folge, daß in der heute maßgebenden Sammlung Childs (die seither durch Sharp, Greig, Duncan u. a. ergänzt worden ist) jede Ballade in mehreren Fassungen vorliegt (305 Balladen in 1300 Versionen). Die einzelnen Balladen auf bestimmte Ausgangsfassungen zurückzuführen, ist nicht möglich. Der Ursprung der Balladen wird in den meisten Fällen in der Ritterschaft und Yeomanry des späten Mittelalters zu suchen sein: Die ersten Balladen stammen aus dem 15. Jahrhundert. Von daher erhielten viele der Balladen die große Gebärde. Die mündliche Überlieferung erklärt die künstlerische Ungleichheit und Unterschiede im Stil der einzelnen Fassungen. Die Themen der Balladen betreffen meist urtümliche menschliche Erlebnisse wie tragische Liebe, Gefolgschaftstreue, Einwirkung übersinnlicher Mächte. Eine Einteilung der Balladen in Gruppen ist nach verschiedenen Gesichtspunkten mit unterschiedlichem Erfolg versucht worden. Solche Gesichtspunkte waren in der älteren Forschung das Alter der Aufzeichnung, die Entstehungszeit, die jeweils wechselnde Lebensdauer. Mehr Erfolg als diese Versuche brachte die Anordnung nach geographischen Gesichtspunkten. So konnten etwa die Robin Hood-Balladen auf Nord- und Mittelengland, die Border-Balladen auf das englisch-schottische Grenzgebiet festgelegt werden. Von großer Bedeutung ist die Einteilung nach der soziologischen und kulturhistorischen Schichtung, wobei sich die Balladen der Geistlichkeit deutlich von der eigentlichen Minstrelballade, der Ritterballade, der Freibauernballade und der Zunftballade abheben. Ein und dieselbe Ballade (z. B. 'Sir Patrick Spens') kann in ihren verschiedenen Fassungen deutlich nach Stil und Gehalt soziologisch verschiedenartige Einflüsse aufweisen. Die Einteilung nach ästhetischen Kategorien schließlich (tragische Ballade, poetisch-romantische und interessant-romaneske Ballade) wurde in neuester Zeit durch eine Einteilung nach menschlichen Grundhaltungen ergänzt. Man versuchte eine Gliederung nach „gestaltbildenden Grundhaltungen" im Sinne Goethes (lyrische, epische, dramatische und gedankliche). Eine andere mögliche Typologie läßt sich aus thematischen Gesichtspunkten erschließen, wobei Kategorien wie numinose Ballade, Schicksalsballade, historische Ballade, Ideenballade gewonnen werden. Jedoch bleiben solche Kategorien in ihrem Wert relativ und können lediglich als Ordnungsbegriffe dienen. Alle Ordnungsprinzipien werden überwachsen von der Fülle und Verschiedenartigkeit der Balladen selbst. Ihre unmittelbare Wirkung beruht in den „Wiedergängerballaden", Fair Margaret and Sweet William (Child Nr. 74), Sweet William's Ghost (77), The Wife of Usher's Well (79), auf der magischen Kraft von Motiven, die dem nur scheinbar vergessenen alten Volksglauben entnommen sind. In die Reihe der numinosen Balladen gehört auch Thomas Rhymer (37): Eine Fee entführt den Ritter in ihr Reich, wobei die Anlage der Ballade eine Symboldeutung zuläßt. Ähnliches gilt von den meisten numinosen Balladen, wie etwa von der

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Geschichte des Mädchens, das ihren Tarn Lin (39) aus der Gewalt der Feenkönigin befreit, oder von der Ballade Lady lsabel (4), die durch List den Elfin-Knight überwindet, der sie in den Wald gelockt hat. Zweifellos stehen diese Geschichten symbolhaft für menschliche Urerlebnisse, wenn auch das Symbolische in den verschiedenen Fassungen verschieden stark empfunden wird. Andere Balladen wandeln Motive aus den Versromanen ab, so z. B. Gawains Hochzeit (30, 31) oder die Ungeheuerkämpfe des Sir Aldingar (39), Sir Lionel (18), Hind Horn (17) u. a. m. Gegenüber den Versromanen wird in den Balladen eine ungleich stärkere szenisch-dramatische Zusammendrängung des Geschehens und eine größere Sparsamkeit der Stilmittel geübt. Diese Eigenschaft der Balladen, die mit dem oft gebrauchten Begriff „Sprunghaftigkeit" unzulänglich bezeichnet ist, tritt besonders in den Balladen hervor, die menschliche Verstrickungen und Leidenschaften erzählen. Die grausige Ballade vom Vatermord des Edward (13) enthüllt mit sparsamsten Mitteln, etwa dem Bild des Weidenzweiges, der doch niemals ein Baum geworden wäre, unter fast unerträglicher Konzentrierung der dramatischen Spannung eine menschliche Tragödie. Die Ausdruckskraft dieser Ballade wie auch des Prince Robert (87), worin die Mutter den Sohn vergiftet, oder des Child Maurice (83), wo der Vater den Sohn in dem Glauben tötet, er sei der Liebhaber seiner Frau, ist kaum zu überbieten. Ein übermächtiges Fatum waltet in den Schicksalsballaden, die von unwissentlicher Blutschande berichten: z. B. in Sheelh and Knife (16) und The King's Dochter Lady Jean (52), oder in der Ballade Lizie Wan (51), die von ihrem Bruder erschlagen wird, weil sie ein Kind erwartet. In der Eifersuchtsballade von den Two Sisters (10) stößt die ältere Schwester die jüngere ins Wasser. Aus den Gebeinen der Ertrunkenen baut ein Müller eine Geige. Das Schicksal des Mädchens wandelt sich gleichsam in die Melodie des Instruments, die unerlöst in Ewigkeit tönen muß. Wenn auch in anderen Fassungen der Ausgang ein anderer ist, so bleibt doch die Stimmung des Schicksalhaften, Unerlösten ein wesentlicher Grundton solcher Balladen. Eine ganz andere Luft weht dagegen in historischen Balladen wie Durham Field (159), worin, unmittelbar an ein geschichtliches Ereignis (Schlacht bei Durham von 1346) anknüpfend, das heroische Zeitalter der Kämpfe an der schottischen Grenze und in Frankreich besungen wird. Besonders im Vergleich der historischen mit den Schicksalsballaden wird die große Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Balladen nach Ursprung, Gehalt und Form deutlich. Wenn in den Schicksalsballaden menschliche Urphänomene in eine dunkle Symbolik gebannt sind, so ist in den historischen Balladen die Nähe zum alten Heldenlied unverkennbar. Das gilt z. B. von Otterburn (161), The Huntin in the Cheviot, die sich beide auf die Schlacht von 1388 beziehen, von King Henry the Fifth's Conquest in France (164) und selbst noch von Balladen, die Ereignisse des 16. Jahrhunderts besingen: Bothwell Bridge (206). The Hunting in the Cheviot (162) erzählt, historisch unrichtig, aber den ritterlichen Kampfgeist prachtvoll wiedergebend, wie Percy von Northumberland

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im Bordergebiet jagt, um Douglas und die Schotten herauszufordern, wie ein Einzelkampf vereinbart wird, in den schließlich alle eingreifen, und wie der englische Sieger den gefallenen Douglas betrauert. Dieser an das altenglische Byrhtnothgedicht erinnernde heldische Geist spricht auch aus den anderen 'border ballads', obgleich keine der Cheviotballade ebenbürtig ist, die noch in der Chevy-Chase-Fassung Sidney und Addison, Percy und Scott begeisterte. Wiederum verschiedenartig ist die Stimmung in einer anderen historischen Ballade: Mary Hamilton (173). Hier wird zwar ein historisches Ereignis, nämlich das Schicksal einer der vier Kammerfrauen der Mary Stuart, besungen, aber das Motiv des Kindermords und der darauffolgenden Todestrafe macht dieses Lied zu einer reinen Schicksalsballade. Ähnlich ist es in Sir Patrick Spens (58), wo die Lehnstreue das Schicksal der Todesfahrt nach Norwegen unabwendbar heraufführt. Das Anlaß gebende historische Ereignis tritt hinter dem Allgemein-Menschlichen zurück. Die Erinnerung an die Outlaws des 12. Jahrhunderts wird in den fast vierzig erhaltenen Robin //ooi/-Balladen (117-154) lebendig. In der Fülle dieser Lieder wird eine soziale Kritik an Kirche und Staat wirksam, die dem Geist des Piers Plowman-Kreises nicht fern ist. Der große Outlaw, der nur die großen weltlichen Herren sowie Bischöfe und Mönche beraubt, die Armen und Redlichen aber schützt, wird später (ca. 1500?) sogar Mittelpunkt eines kleinen Epos: A Gest of Robyn Hode (117), das aus mehreren ursprünglich selbständigen Balladen zusammengefügt wurde. Die große Verschiedenheit der Volksballaden macht eine zusammenfassende Charakteristik fast unmöglich. Im allgemeinen ist ihre Sprache kunstlos und reimarm, aber oft ungemein eindringlich, ihre Erzählweise sprunghaft und abrupt, aber gerade dadurch die Vorstellung des Monumentalen wekkend. Durch die Verbindung mit einer Melodie sind Refrain, Wiederholungen und formelhafte, oft suggestiv wirkende Wendungen bedingt. Im allgemeinen fehlt den Volksballaden der künstlerische Trieb zur formalen Vollendung. Sie schöpfen ihre Bilder, ähnlich wie die echten Volksmärchen, aus den Tiefenbereichen der Seele, in denen nicht bewußte Formkraft, sondern halbbewußte Ängste und Sehnsüchte walten. Die neben diesen dichterisch vollwertigen Volksballaden einherlaufende v o l k s t ü m l i c h e D i c h t u n g 3 7 hat mit Ausnahme der Carols mehr kulturgeschichtliche als dichterische Bedeutung. Da finden sich Zauberformeln gegen Räuber und Diebe, gegen Fieber und Alpdruck, Prophezeiungen der glücklichen und unglücklichen Tage des Jahres, Weisheitssprüche für Landkauf, Diätvorschriften und Gesundheitsregeln. Launige Exlibris beschwören den Entleiher, das Buch zu schonen, oder wünschen ihm Böses, wenn er es nicht zurückgibt. Man kann sich ein Bild des bürgerlichen Alltags aus diesen Versen machen. Das lyrische Pendant zu den dramatisch erzählenden Balladen sind die Carols 3 8 - zum Singen bestimmte Gedichte aus gleichförmigen 37

Secular Lyrics of the 14th and 15th Centuries, ed. R. H. Robbins (Oxf., 21955); Early English Lyrics, edd. E. K. Chambers and F. Sidgwick, (1907, repr. 1966); Medieval English Lyrics, ed. R.T. Davies (1963). S. auch S. 105, Anm. 10. 38 The Early English Carols, ed. R. L. Greene (Oxf., 21977); A Selection of English

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Strophen mit einem 'bürden' genannten Refrain, der vor der ersten und nach jeder weiteren Strophe steht; ursprünglich waren sie wohl Tanzlieder, und die metrische Form, die auf einen zwischen Vorsänger und Chor geteilten Vortrag hinweist, läßt diese Urform noch durchscheinen (während sie bei den Balladen kaum noch kenntlich ist). Die Hauptmasse dieser Carols ist in Song Books und Minstrel Collections des 15. Jahrhunderts überliefert. Die Themen, die in Carols besungen werden, sind vielfältig: Sie reichen von der Marienverehrung (s. S. 188f.) bis zur Klage des betrogenen Mädchens; häufig werden - in Christmas Carols - die weltlichen Freuden der Weihnachtszeit besungen. So haben wir im 15. Jahrhundert weltliche Carols, die das Fest durch dörflichen Chor und Tanz begrüßen. Man hört förmlich das Einfallen des Chors, wenn ein Lied (Wolcum be thou, hevene king), in dem jede Zeile mit 'Wolcum' beginnt, nach jeder der fünf Strophen in den Kehrreim 'Wolcum Yole' mündet, oder ein anderes (Good day, sire Christemas our King) mit dem Ruf 'Good day' ausklingt. Das sind heitere Festlieder, die mit Religion ebensowenig zu tun haben wie eine heutige Kirchweih. 'For now is the time of Christemas!' heißt der Kehrreim eines Lieds, das von jedem Eintretenden verlangt, etwas Lustiges zum besten zu geben (Lett no man cum into this hall); alle sitzen am Tisch und warten auf den großen Eberbraten (The bores hede in hondes I bringe) oder rufen im Chor: 'Bring us in good ale!' (Bring us in no browne bred). Gerade diese Trinklieder sind zahlreich; man meint die trunkene Ausgelassenheit des Chors zu hören, wenn er immer wiederholt 'with doll!' (Ale make many a man...), oder wenn es dröhnt 'with how, butler, how!' (Jenlil butler, bellamy). Ältestes Volksgut klingt in den Stechpalm- und Efeuliedern an, die Volkstänze begleiten, wenn die Dorfmädchen einen den Burschen gestohlenen 'Holly Boy' verbrennen und die Burschen das den Mädchen entwendete 'Ivy Girl'. Da ist ein Streitgesang um Holly und Ivy: Holly berith beris, eine lustige Vermenschlichung: Hoher and Heivy made a grete party, ein neckendes Efeulied der Burschen: The most worthie she is in towne und ein Stechpalm-Gegenstück: Here comes Holly, that is so gent. Neben diesen volkstümlichen Liedern entstehen im 15. Jahrhundert zahlreiche h ö f i s c h e Liebesgedichte - eine epigonale Nachblüte früherer Themen und Formen. Immer wieder werden die Schönheit und Hartherzigkeit der angebeteten Dame dargestellt; der Liebende beteuert seine Treue, die Ewigkeit seiner Liebe und klagt über die Qualen, die ihm diese Liebe bringt. Diese Themen werden in die Form der französischen 'ballade', des 'rondel', der Liebes-Epistel gebracht. Von den namentlich bekannten Autoren ragen William de la Pole, Duke of Suffolk 39 und Charles d'Orleans40 heraus, wenngleich nicht alle dem letzteren zugeschriebenen Gedichte von ihm stammen. In der Herausbildung literarischer Moden wirkte diese Dichtung41 wegbereiCarols, ed. R. L. Greene (Oxf., 1962); Early English Christmas Carols, ed. R. H. Robbins (N. Y., 1961). 39 ed. H. N. MacCracken in PMLA 26 (1911), 160ff. 40 ed. R. Steele, EETS 215, 220. 41 Texte in: Secular Lyrics of the 14th and 15th Centuries, ed. R. H. Robbins (Oxf., 2 1955), S. 120-226.

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tend für die höfische Lyrik der Tudor- und elisabethanischen Zeit. Daß diese Art Lyrik im 15. Jahrhundert oft bereits als überholt und klischeehaft betrachtet wurde, zeigen die zahlreicher werdenden Parodien, in denen besonders die konventionelle Schönheitsbeschreibung aufs Korn genommen wird.42

3. Religiöse Lyrik Neben den weltlichen hat man auch geistliche Themen in Carols behandelt. Zwei uns namentlich bekannte Dichter, John Audelay und James Ryman, haben die Hauptmasse dieser religiösen Carols geschrieben. Es waren keine großen Dichter, aber sie brachten einen neuen Ton in die religiöse Lyrik, die ihre Sangbarkeit fast ganz verloren hatte. JOHN AUDELAY (fl. 1426), ein Weltgeistlicher, der zu Ende seines Lebens im Augustinerkloster Haghmon in Shropshire Aufnahme fand, schrieb für die Insassen dieses Klosters eine große Zahl religiöser Gedichte.43 Darunter befinden sich 25 Carols, die beim Weihnachtsgottesdienst gesungen werden sollten, die jedoch außer der Geburt Christi auch andere der herkömmlichen religiösen Themen in der dafür nicht üblichen Carolform abwandeln. In einigen dieser Lieder, die sich dem weltlichen Gebiet etwas nähern, gewinnt Audelays bescheidene Dichtergabe eine eigene Note. De amore Dei betont im Gegensatz zu den üblichen, der Verdammungsfurcht Ausdruck gebenden Gedichten die Freuden des religiösen Lebens, die Canlalena de puericia ist ein zartes Kindheitsgedicht, das in mittelalterlicher Dichtung vereinzelt dasteht, und De rege nostro Henrico Sexto ist ein fromm-patriotisches Heldenlied. Diese dichterische Höhe einzelner Stücke wird von dem Franziskaner JAMES RYMAN44 (fl. 1492) nicht erreicht, obwohl er durch die Zahl seiner Carols bedeutsam ist (l 19, d. h. V4 aller erhaltenen Carols vor 1550). Sein Ziel war, religiöse Stoffe in weltlichen Liedformen zu behandeln, um das Ohr des Volkes zu gewinnen. Dadurch kommt etwas Lehrhaftes in seine Dichtung, die wie das Verebben der franziskanischen Tradition anmutet, die einst durch die Weckung persönlicher Liebe zu Christus und durch die Anrufung des menschlichen Mitleids mit seiner Passion eine Vertiefung des religiösen Lebens eingeleitet hatte. Formal aber hält sich Rymans Dichten auf der traditionellen Höhe der Andachtspoesie. Insbesondere die lateinische Zeilen, Anfänge bekannter Hymnen oder Antiphonen einflechtenden Carols leiteten geradezu eine Mode makkaronischer Dichtung ein. Der gefällige Klang solcher Lieder wie 'Upon a nyght an aungel bright / Pastoribus apparuit', in denen das Latein nicht nur als coda gebraucht ist, sondern der Sinn in abwechselnden englischen und lateinischen Zeilen durchgeführt ist, erinnert von fern an die unvergleichlichen Muster des 13. Jahrhunderts. 42

Ibid., Nr. 208-210. ed. E. K. Whiting, EETS 184. 44 ed. J. Zupitza in: Archiv 89 (1892). 43

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Dieselbe Sangbarkeit, aber dem Volkston näher, haben die Carols unbekannter Verfasser,45 in denen ein heiterer, weltlich-frommer Ton vorherrscht. Mit kindlicher Stimme wird der Jubel der Geburt erzählt. Schon das einfache Marienlied zeigt diese schlichte Art, etwa in / sing of a maiden that is makeles oder Mary is a lady bright, die das Religiöse mit vollendeter Natürlichkeit in das Leben einbeziehen. Am reizvollsten sind aber die eigentlichen Noels, die vorzugsweise die Hirtenanbetung, das Wiegenlied oder auch die Verkündigung zum Vorwurf haben. Selten wird man den Dialog Marias und Gabriels so unbefangen wiedergegeben finden wie in Ecce ancilla domini, selten eine so treuherzige Ernsthaftigkeit wie in dem Bericht von Verkündigung und Geburt: This flour is faire and fresche of heue. Ganz in der eigenen Anschauungswelt verharren dann die Weihnachtslieder, z. B. Out of youre slepe arise and wake, das eine goldene Zeit anbrechen sieht, denn jetzt ist den Menschen der Himmel erorbert und Maria beherrscht als Kaiserin die Hölle. Wie in den Balladen pflegt diese Volksdichtung auf jede Erklärung zu verzichten und mit dem schlichten Bericht des Tatsächlichen sich zu begnügen (A litel child there is ibore; In Bedleem, in that fair cite; When Christ was born of Mary free). Besondere Ausgestaltung erfährt die Hirtenszene, die Anregungen von den Misterienaufführungen verrät und auch gelegentlich den primus, secundus, tertius pastor nacheinander sprechend aufführt (Hail comly and clene). Sie wird in About the feld they piped full right und insbesondere in The sheperd upon a hill he satt zum ländlichen Pastorale, das groß erstaunten Kinderaugen das Wunder in unüberbietbarer Schlichtheit erzählt. Joly Wat, der Hirte, sitzt mit seinem Hund, da hört er im Halbschlaf, daß man 'Gloria in excelsis' zu ihm sagt. Er macht sich auf, überläßt seinem Hund die Beaufsichtigung der Schafe und gibt dem Jesuskind, was er bei sich hat, 'my pipe, my skirt, my tar-box, and my scripe'. Dann geht er, es den anderen zu erzählen; 'With hoy! For in his pipe he made so much joy!' erklingt der Refrain. Eine Abart der Noels, Marias Wiegenlieder, sind die 'lullabies', so genannt wegen des das Kind einschläfernden Kehrreims 'lully my childe' oder ähnlich. Sie haben dieselbe naive Schlichtheit; da sie aber das Gefühlsmäßige weniger betonen als die frühere persönliche Lyrik, haben sie nicht dieselbe rührende Innigkeit (/ saw a fair maiden; This enders night; This lovely lady sat and song). Oft entspinnt sich ein Gespräch Marias mit dem Kinde, das die Passion voraussagt, und so kommt es dann zu einer Art volkstümlichem Planctus (When that my swete sone), der nicht die Ergriffenheit der älteren Lyrik kennt, aber in He bare him up, he bare him down eine einzigartige Verbindung von Wiegenlied und Planctus zustande kommen läßt, wie sie nur im ungekünstelten Volkston möglich ist. Die Carols stehen heutigem Geschmack nahe, sie bilden aber nur einen Teil der religiösen Lyrik des 15. Jahrhunderts.46 Die große Masse setzt in 45

Greene, The Early English Carols (s. Anm. 38). ^Religious Lyrics of the 15th Century, ed. C. Brown (Oxf., 31962) [mit Nummern angeführt].

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Form und Inhalt die Tradition des voraufgehenden Jahrhunderts fort. Sie hält sich auf achtbarer künstlerischer Höhe und zeigt große Vielfältigkeit: Neben epigrammatisch kurzen Gedichten (100, 111) stehen breit ausmalende (57, 92), neben schlichten Morgen- und Abendgebeten (127, 129) und an den Schutzengel gerichteten Bitten (132-4) stehen die herkömmlichen Bußgedichte (137-146); und neben Strophen, die den Balladenton haben (81, 116) oder an weltliche Liebesdichtung anklingen (45-49), stehen theologische Gedichte (110-120) mit Paradoxa, wie sie die „metaphysische" Schule des 17. Jahrhunderts liebte. Aber die Themen sind in der reichen vorausgehenden Dichtung nahezu erschöpft, und nur selten läßt ein Gedicht aufhorchen: Aus den vielen, das menschliche Mitleid aufrufenden Planctusgedichten hebt sich das Christus als Sprecher einführende Why art thou, man, unkind (105) heraus, und unter den sich wiederholenden Marienklagen sind zwei, Filius Regis morluus est (6) und An appeal to all mothers (7), deren Pathos eine dramatische Steigerung aufweist. Auch eine der Christusklagen, Brother abide (109), die weniger das körperliche Leiden Christi betont als das Erbarmen und den Erlöserwillen, hat diese dramatische Steigerung, die man auf direkten Einfluß der aufblühenden geistlichen Spiele zurückführt. Im übrigen wird die Lyrik oft zu gleichförmiger Predigt und hat vielfach allgemeine Morallehren zum Inhalt (171-191). Das 15. Jahrhundert war keine Zeit religiöser Inbrunst. Keiner seiner namhaften Dichter (mit Ausnahme von Lydgate) war ein religiöser Dichter, obwohl sie alle fromme Verse schrieben. Man hat HoccLEVEs47 Mother of God hervorgehoben und man könnte auch das eine oder andere der Ad beatam virginem-Gedichte nennen; es sind ansprechende Gedichte, die ihre Vorzüge einer großen Tradition verdanken, im Grunde aber von demselben engen Horizont umgrenzt sind wie die bürgerlich-weltlichen Themen des dichtenden Ratsschreibers. Am meisten Originalität haben die Schotten, vor allem DUNBAR,48 dessen Nativitätsgedicht49 jubelnde Freude ist und dessen Tabill of Confession*0 ganz persönlich gewendet ist. Dunbar kommt spät, erst zu Ende des Jahrhunderts, und wenn er Maria als 'Empryce of prys' feiert und in dem zugleich patriotischen und frommen Quhen the Governour past in France^ einen monumentalen Stil erreicht, so wäre das ohne Lydgates Vorgang nicht möglich gewesen. JOHN LYDGATE (s. S. 192) ist der Erneuerer des religiösen Empfindens und der bahnbrechende religiöse Dichter des 15. Jahrhunderts. Im Gegensatz zu der in seiner Zeit verflachenden franziskanischen Religiosität, die das Göttliche vermenschlichte und jede Distanz aufhob, wollte er wieder anbeten und preisen wie die großen Dichter der lateinischen Hymnen. Die Heiligen sind ihm die lichtumstrahlten Streiter der siegreichen Kirche, und in der reichen Instrumentierung durchgereimter Balladenstrophen erbittet die Devowte In47

s. S. 195. s. S. 200. 49 The Poems of W. D., ed. W. M. Mackenzie, S. 155. 50 Ibid., S. 163. 51 Ibid., S. 139. 48

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vocacioun to Sainte Denys52 und das Gebet To Saint Edmund53 den göttlichen Beistand für seinen König und für sein Land. Er kann sich nicht genug tun, Maria aus der Sphäre der tröstenden Geliebten und menschlichen Mutter wieder zur Himmelskönigin und zum göttlichen Gnadenbild zu erhöhen; er steigert Chaucers Lobpreisung im ABC und häuft die Anrufungen der lateinischen Hymnodie, bis sie den klaren Bau der Sätze überwuchern (To Mary, the Quene of Hevene54 und Ballade at the Reverence of Our Lady.55 Mag uns diese 'invocatio Mariae' überschwenglich erscheinen, das Schwelgen in Glanz und Helligkeit (an Stelle der noch bei Chaucer üblichen höfischen Betonung der Schönheit) übertrieben vorkommen, es ist das Streben nach einem den göttlichen Themen angemessenen Stil der 'grettest solemnyte'. Lydgates bahnbrechendem Einfluß folgte eine Schule religiöser Dichter, die oft ununterscheidbar von ihrem Vorbild sind. Viele der Paraphrasen lateinischer Hymnen sind auch von Zeitgenossen Lydgate zugeschrieben worden, ebenso wie eine Reihe von Jesusgedichten, Gebeten und prunkvollen Marienklagen.

4. Die englische Chaucernachfolge Im 15. Jahrhundert vollzieht sich eine Änderung in der literaturempfangenden Schicht: Der noch Gower und Chaucer vertraute Kreis und die von der höfischen Schicht geübte Dichterschutzherrschaft verfielen. Schon Lydgate spricht durch den einen angeredeten Patron zu einem gedachten Publikum, und Hoccleves auf jeden passende Bettelbriefe zeigen einen unaufhaltsamen Verfall des Patronatswesens überhaupt. Mit dem Aufkommen des Buchdrucks wurde das Publikum56 völlig anonym, jedoch übernahm es die ihm von der höfischen Schicht vererbte Pflege der Literatur, ohne - wie man erwarten möchte - von den Dichtern andere, ihren bürgerlichen und kaufmännischen Interessen näherliegende Themen zu verlangen. So lesen wir in den Paston Letters, daß Sir John - es ist die zweite Generation, die sich den Adelstitel verschafft hatte - bei einem Londoner Turnier sich die Hand verletzte. In seiner Bibliothek standen Lydgates Thebenroman, das Buch der sieben weisen Meister, La belle dame sans merci, der Tempel aus Glas, Gawain und der grüne Ritter, Ovids Ars amandi und eine Abhandlung über das Wesen und die Satzungen des Rittertums. Offenbar verlangte das neue bürgerliche Publikum ein Gegengewicht gegen die unbefriedigende Wirklichkeit, eine Literatur, die wie die Prunkaufzüge und Festturniere der Sehnsucht nach einem schöneren Leben Ausdruck lieh. Daß diese bürgerliche Pflege über52

Minor Poems, EETS CVII, 127. In der Legende Edmund and Fremund, Z. 1457-1520. 54 Minor Poems, S. 284. 55 Ibid., 254. 56 Vgl. W. F. Schirmer, Dichter und Publikum im 15. Jh. in: Zeitschr. f. Ästhetik 28 (1934), S. 209ff. 53

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alterter ritterlicher Formen zu Übersteigerung und Erstarrung führte, empfand man ebensowenig wie die bewußten und unbewußten bürgerlichen Einbrüche in die Traumwelt, denen zufolge die Literatur einen so zwiespältigen Eindruck macht. Demnach hat die Literatur des 15. Jahrhunderts die eigentlich einer früheren Zeit angemessenen Liebeshöfe und Liebestestamente, die Bücher und Briefe Cupidos, die Blumen der Höfischkeit, Versammlungen der Damen und andere erotische Allegorien. Sodann die moralischen Allgeorien, die Häuser und Höfe der Weisheit und des Vergnügens, die Tempel aus Gold und aus Glas, Überschriften, die an sich schon die Kunstmittel in Erinnerung rufen: die Traumvisionen, Personifikationen, Allegorien und den etwas steifen Rhyme royal. Manche dieser Stücke, insbesondere die kurzen Liebesallegorien, treffen so glücklich den ursprünglichen Ton, daß man sie lange in die höfische Dichtung Chaucers einreihte. Da ist die reizvolle Übersetzung von Alain Chartiers Belle Dame sans Mercy51 von Sir Richard Ros (ca. 1460): ein belauschtes Zwiegespräch zwischen dem Liebhaber und seiner angebeteten Dame mit gobelinartig gewirkten Einzelbildern, dem Garten, der Brücke, dem Pavillon, dem Ritter zu Roß, der geschmückten Dame, den Höflingen vielleicht etwas alltagsnäher, lehrhafter und im Wortschatz überladen, aber in Stimmung und fließendem Vers der höfischen Tradition noch treu. Da ist Thomas Clanvowes Kuckuck und Nachtigall (The Boke of Cupide,58 ca. 1403), eine Debatte über Liebe und Weisheit, im Vorwurf althergebracht, aber in der graziösen Ausführung den besten der Gattung ebenbürtig. Und da sind die zwei vielleicht von einer Dame stammenden Dichtungen Assemble de. Damys59 mit ihrer höfischen Atmosphäre und Flour and Leaf,60 das Dryden noch zur Nacherzählung reizte. Es ist eine Allegorie von Venus Urania und Venus Pandemos, die, mittelalterlicher Auffassung angepaßt, durch Diana und Flora verkörpert sind. Jede von diesen hat ihr Gefolge von Rittern und Damen, die entweder dem Blatt ergeben sind, das als etwas Dauerndes aufgefaßt wird, oder der Blume, die bunt, aber vergänglich ist. Die erzählende Dame sieht den Aufzug und die Spiele der beiden Parteien und sieht das Unheil in Gestalt von plötzlicher Hitze, Sturm und Regen, wodurch die Blumenpartei arg zugerichtet wird, so daß sie Zuflucht sucht bei der in grüner Laube geschützten Lady of the Leaf, deren Idee also zur Siegerin erklärt wird. Die Dichtung ist unbeschwert und duftig wie ein Traum, obwohl alle Motive herkömmlich sind und die Idee der von Chaucer bereits überwundenen Konvention entstammt oder doch entspricht. Der größte Chaucerschüler, zugleich der repräsentativste Dichter des 15. Jahrhunderts, war JOHN LYDGATE,61 Benediktinermönch von Bury St. Ed57

in: Chaucerian and Other Pieces, ed. W. W. Skeat (Oxf., 1897) [The Works of Chaucer, Bd. VII], S. 299. 58 Ibid., S. 347. 59 Ibid., S. 380. 60 Ibid., S. 361; The Floure and the Leafe and The Assembly of Ladies, ed. D. A. Pearsall (Edinb., 1962). 61 Auswahl: ed. J. Norton-Smith (Oxf., 1966). - Vgl. W. F. Schirmer, John Lydgate, ein

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munds (ca. 1370-1449). Künstlerisch hat sein Werk die Probe der Zeit nicht bestanden, historisch ist es höchst bedeutsam. Lydgate war Vollender einer alten und Wegbereiter einer neuen Literatur. Er hielt sich für einen Jünger Chaucers, dessen Wortkunst er bewunderte, und dessen Ton zu treffen er sich bemühte. So schrieb er (ca. 1400/02) die aus allerhand Chaucererinnerungen zusammengesetzte Flower of Courtesy62 und den Complaint of the Black Knight,62 der das äußere Chaucerkleid mit erstaunlichem Geschick nachahmt. Auch die frisch erzählte, an Sinnsprüchen überreiche Fabel The Churl and the Bird62 gehört in diesen Kreis. Lydgates Dichten nahm bald erstaunlichen Umfang an; er schrieb Liebesallegorien und Versromane, Maskenaufzüge und Heiligenleben, Tierfabeln und Gelegenheitsdichtung, Lehrgedichte und lyrische Stücke. Er bediente sich aller Chaucer geläufigen Strophen: des Rhyme royal (Troilusstrophe) im Fall of Princes und im Gläsernen Tempel, des heroischen Reimpaars im Troja- und Thebenroman, des kurzen Reimpaars in Reason and Sensuality. Sein Lieblingsvers ist der Fünfheber, den er glatt und mit Chaucer übertrumpfender Variation handhabte und aus dem er durch Weglassen der Senkung in der Zäsur - so daß also zwei Hebungen zusammenstoßen - einen eigenen, nicht sehr musikalischen Vers machte. Ein Reimkünstler war er nicht. Seine Zeit lobte die sprachliche Leistung, die, ausgehend von der bewunderten Rhetorik Chaucers, eine „erlesene, süße, spruchweise" Dichtsprache erstrebte, die sogenannte 'aureate language'63 mit lateinisch-französischen Neubildungen wie: depured, puberitude, sugratif, perambulat, equipolent, consuetude usw. Diese Übersteigerung der sprachlichen Form war nicht unpassend für die spätgotisch verkünstelten Werke, wirkte aber bald verstaubt. Moderner Geschmack möchte kürzere Stücke, bei denen Lydgate sich im Sprachlichen mäßigte, wie die Fabel vom Bauern und Vogel, die künstlerisch geschlossene Margaretenlegende und die humorvolle Satire von Zweihorn und Magerkuh (Bycorne and Chichefache64) den umfänglichen Werken vorziehen. Lydgates historische Bedeutung liegt aber in den längeren Werken, die überkommenen Formen einen neuen Gehalt zu geben versuchen. So wird in der wohl zu einer Hochzeitsfeier des Landadels geschriebenen Liebesallegorie Temple of Glas65 (1400-03) die Erzählung (Klage und Vereinigung zweier Liebenden durch Venus) zum bloßen Rahmen für die Moral herabgedrückt, und der französische Liebesroman Les Echecs Amoureux wird in Lydgates Überarbeitung (Resoun and Sensuallyte,66 ca. 1408) zu einem mit Prunkbeschreibung und Rhetorik verbrämten Schatzkästlein der Lebenskunst. Kulturbild aus dem 15. Jahrhundert (Tübingen, 1952; rev. engl. Ausg. 1961); A. Renoir, The Poetry of J. L. (Lo., 1967); D. Pearsall, J. L. (1970). 62 in: Minor Poems, ed. H. N. MacCracken, 2 Bde., EETS CVII und 192. 63 Vgl. E. Tilgner, Die Aureate Terms als Stilelement bei Lydgate (Bln., 1936) [German. Studien 182]. 64 in: Minor Poems (s. Anm. 62). 65 ed. J. Schick, EETS LX. 66 ed. E. Sieper, 2 Bde., EETS LXXXIV, LXXXIX.

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Auch seine Versromane verlagern das Schwergewicht von der Erzählung auf die Lehre. Zwar bringt der große, über 30000 Verse im heroischen Reimpaar umfassende Trojaroman (Troy Book67, 1412-20) nach dem Wunsch des königlichen Auftraggebers (Heinrich V.) die ganze Fülle der Trojageschichten mit den auch in früheren Romanen üblichen hübschen Naturbildern, glänzenden Fest- und Bauwerkbeschreibungen und Darlegungen seelischer Vorgänge; er verweilt auch, dem Besteller zuliebe, auf Heraldik und Kriegswesen. Die bürgerlichen Zusätze zu dem Bericht seiner Quelle (Guidos Historia Trojana) verraten aber einen bewußt oder unbewußt der höfischen Tradition entfremdeten Verfasser. Lydgates zweiter, viel kürzerer (4716 Verse in heroischen Reimpaaren) und künstlerisch reiferer Versroman The Siege of Thebes™ (1421) ließ den Dichter freier: Hier ist kein Auftraggeber bekannt, dessen Wünschen er nachkommen mußte. Er hält sich auch nicht eng an die französische Prosaquelle, und trotz der Einkleidung als zusätzliche Canterburygeschichte ist es ein un-Chaucersches Werk. Alle weichen, gefühlsmäßigen und von Liebe handelnden Stellen der Vorlage sind zusammengestrichen, das Ritterliche ist ins Heroische gesteigert. Ganze Abschnitte des Werks sind ein Fürstenspiegel, und die brennenden Fragen der Zeit, Königtum und Krieg, stehen im Vordergrund. Der Krieg, der zwar eindringlich als Unglück geschildert wird, ist - wenn unvermeidlich - mit der ganzen Kraft der Nation durchzuführen. Das hat mit der üblichen Versroman-Erzählkunst nichts mehr zu tun; es ist ein Versuch, den Versroman als Lebensdeutung zu verwerten durch Bezugnahme auf die Wirklichkeit, aus der eine praktische Ethik abgeleitet wird. Von hier aus erklärt sich, daß wir eine ganze Gruppe Lydgatescher Dichtungen als politische Dichtungen bezeichnen können, so die Krönungsgedichte auf Heinrich VI., die ein ganzes Zeitbild gebende Fabel Horse, Goose and Sheep69 (1437-40) und die vermutlich im Auftrag beschriebenen königlichen Einzugsfeierlichkeiten (Pur le Roy,10 1429; Margaret's Entry into London,11 1445). Einflußreich war Lydgate als Legendendichter. Er zeigt ein noch Chaucer und seiner Generation fremdes Streben zum Epischen, Großartigen, Heroischen, demzufolge schon das frühe würdig-fromme Life of our Lady12 (1409-11) durch Zusammenfügen von Gebeten, Erzählfragmenten, Beschreibungen und belehrenden Exkursen zu 6000 Versen aufgeschwellt wird. Die großen Doppellegenden zu Ehren der Schutzheiligen seines Klosters (Edmund and Fremund,™ 1433-34) und des Schwesterklosters in St. Albans (Albon andAmphabel™ 1439) wachsen sich zu religiös-ritterlichen Epen aus, um 67

ed. H. Bergen, 4 Bde., EETS XCVII, CIII, CVI, CXXCI. edd. A. Erdmann and E. Ekwall, 2 Bde., EETS CVIII, CXXV. 69 ed. M. Degenhart (Lpzg., 1900) [Münchener Beiträge 19]. 70 in: Minor Poems (s. S. 193, Anm. 62). 71 ed. C. Brown in: Mod. Lang. Rev. 7 (1912), S. 225ff. 72 edd. J. A. Lauritis et al. (Pittsburgh, Pa., 1961). 73 ed. C. Horstmann, Altengl. Legenden 1881, S. 376. 74 ed. C. Horstmann in: Festschr. z. SOjähr. Bestehen der Königstädtischen Realschule zu Berlin (Bln., 1882). 68

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die Heiligen als siegreiche Helden der Ecclesia Triumphans zu feiern. Osbern Bokenham75 (13927-1447), John Capgrave76 (1393-1464), Henry Bradshaw77 ("|" 1513), die drei bedeutendsten Hagiographen des 15. Jahrhunderts nach Lydgate, folgen in den Spuren ihres Meisters. Dieselbe uns so befremdende, rauschende Wortkunst kennzeichnet Lydgates religiöse Lyrik,78 insbesondere seine Mariendichtung. Im Gegensatz zu der einen menschlich warmen Ton gestattenden, franziskanischen Frömmigkeit sucht Lydgate der religiösen Lyrik ihren sakralen Charakter wiederzugeben. Unter dem Einfluß der lateinischen Hymnodie entwickelt er einen Stil der Majestät und heroischen Würde, der, so überladen er uns erscheinen mag, dem damaligen und kommenden Lebensgefühl entsprach. Der Renaissance noch nähergerückt erscheint Lydgates umfängliches und größtes Werk, die auf Premierfaits französischer Fassung beruhende De casibus-Bearbeitung Fall of Princes,79 die er im Auftrag des Humanistengönners Humphrey of Gloucester 1430-38 in 36000 Versen schrieb. Der Vorwurf will die Unbeständigkeit des Glücks an dem Sturz der Großen dieser Welt erweisen als Mahnung für die Fürsten wie als allegorische Tugendverherrlichung. Die Arbeit wurde ihm unter der Hand zu einem weltumspannenden Geschichtswerk, das auch die antiken Heroen, ihre Freiheits- und Vaterlandsliebe und Standhaftigkeit erstmals würdig und ohne ritterlich-höfische Umdeutung darstellte. Die vielfach, z. B. im Envoy of Rome (II, 4460), entfaltete düster-würdevolle Diktion gibt dem wehmütigen Ubi sunt-Thema etwas Großartiges. Das Ganze ist ein pompöser Leichenzug mit dem Fortunarad als Prospekt, gleichsam ein Epos seines von den französischen und Rosenkriegen erfüllten 15. Jahrhunderts. Lydgates Zeit und Nachwelt hatte Gefühl für diesen Schicksalsklang. Er wurde vom Mirror for Magistrates wieder aufgenommen und wirkte noch in Shakespeares Historien nach. Lydgate kommt eine größere und zukunftsweisende Bedeutung zu als seinem weltlichen Dichtergenossen THOMAS HoccLEVE80 (ca. 1368- ca. 1450), der meist mit ihm zusammen genannt wird. Auch Hoccleve begann mit Liebesallegorien und übersetzte den Letter of Cupid (1402) aus Christine de Pisan glatt und geschickt, aber ohne die Überzeugungskraft, die Christines tiefempfundener Frauenverteidigung gegen Jean de Meung eigen war. Seine religiösen Gedichte haben weder lyrischen Ton noch Lydgates sakrale Würde - er schrieb sie, weil es herkömmlich war (vgl. auch die Seuse-Übersetzung Learn to die) und benutzte den Fall des lollardenfreundlichen Sir John Old75

Legends of Holy Women (1443-46), ed. M. Serjeantson, EETS 206. Life of St. Katharine, ed. C. Horstmann, EETS 100; Lives of St. Augustine and St. Gilbert, ed. J. Munro, EETS 140. 77 Life of St. Werburghe, ed. C. Horstmann, EETS 88. 78 in: Minor Poems, EETS CVII. 79 ed. H. Bergen, 4 Bde., EETS CXXI-CXXIV. 80 Hoccleves Werke publ. in 3 Bden.: Minor Poems, edd. F. J. Furnivall and I. Gollancz, 2 Bde., EETS LXI, LXXIII; Regement of Princes, ed. F. J. Furnivall EETS LXII.- J. Mitchell, Thomas Hoccleve (Urbana, 1968); G. Hagel, Studien zum literarischen Werk T. H.'s. (Diss. Mannheim, 1979). 76

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castle (1415) zu einem seine Rechtgläubigkeit betonenden, langen und langweiligen Mahngedicht. Die meist zu Unrecht (Kunst)-balladen genannten zahlreichen Gelegenheitsgedichte an Freunde, Adlige, den Kanzler und den König sind Ergebenheitsbeteuerungen und Bitten um Geld, wobei ein gelegentlich im Manuskript ausradierter Widmungsname zeigt, daß dasselbe Gedicht mehrmals Dienste tat. Dagegen sind die den Gesta Romanorum nacherzählten Dichtungen (Jereslaus' Wife, The Tale ofjonathas, nach 1422) als Erzählung der ungeschickteren Lydgateschen Art überlegen. Neben diesen kleineren Dichtungen steht das Heinrich V. gewidmete Hauptwerk Regement of Princes (ca. 1412), ein dem Aegidius Romanus nachgeschriebener Fürstenspiegel, der in ansprechender Weise und mit den üblichen Abschweifungen eine damals dankbare poetische Aufgabe löste. In dem 2000 Verse umfassenden Prolog berichtet der Dichter in behaglicher Breite und mit vielen selbstbiographischen Enthüllungen ein Gespräch mit einem alten Manne, dem er die Anregung zu der Dichtung verdankte. Noch weiter in diesem Plaudern von sich selbst geht La Male Regle (1406), in der er humorvoll und offen seine Jugendsünden erzählt, wie er in den Tavernen mit den Dirnen schäkerte, aber nicht den Mut hatte weiterzugehen, und zu feige war, sich in Händel einzulassen. Auch der geschickt um Humphreys Patronat werbende Dialogue with a Friend (1425) ist durch solche Sittenschilderung und Einmengung persönlicher Züge interessant. Die menschliche Art Hoccleves wird überaus deutlich, so sehr, daß man ihn auf Spuren Chaucers als lächelnden Skeptiker zu durchschauen vermeint, einen harmlosen, etwas kleinen Geist, der in der herkömmlichen Moralbeichte Hoccleves Complaint (1421-22) sich so zerknirscht, in dem Oldcastle-Gedicht so rechtgläubig und im Regement so ritterlich-patriotisch gibt, weil er es im Grunde gar nicht so ernst nimmt und fürchtet, man möchte ihm mißtrauen. Und wenn das an sich schon wenig überzeugende Frauenlob des Cupidobriefs im zweiten der Three Roundels eine ironische Ergänzung findet durch das Lob einer Dame, deren Wangen weich wie Lehm sind, deren Nase einem Hängedach und deren anmutiger Körper einem Fußball verglichen werden, so ist Hoccleves literarische Stellung klar: Chaucers künstlerische Tat, die mit Hilfe antiker Anregung vollzogene Überwindung der höfischen Konvention, erscheint hier von der anderen Seite, von unten her gestützt durch eine Selbstauflösung der jene höfische Form tragenden Idee. Es fehlte Hoccleve nur der Mut eines Skelton, die alten Kleider abzuwerfen und eine unhöfische, niedere Wirklichkeitsdichtung zu beginnen. Ein weiterer Chaucer-Nachfolger, zugleich aber stark von Lydgate beeinflußt, ist STEPHEN HAWES (ca. 1474 - ca. 1523). Er, der für einfache Bürgerkreise schrieb, spricht denen, die das allegorische Spiel des verborgenen Sinns nicht erfassen, den Verstand aby und dabei macht er es dem Leser nicht leicht. Seine Hauptwerke Example of Virtue (1504), Pastime of Pleasure^ (1506), Comfort of Louers (1512), von denen die ersten beiden 81

ed. W.E. Mead, EETS 173; die beiden anderen Werke von Hawes nur in alten Drucken von de Worde; Example of Virtue modernisiert in E. Arbers Dunbar Anthology (1901).

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die Ich-Erzählung wählen, haben im Grunde dasselbe Thema: die Schulung eines jungen Mannes und die Hindernisse, die er überwinden muß, um moralische Reinheit (Example) und weltlichen Ruhm (Pastime) zu erringen, und alle haben dieselbe holprige Versbehandlung (Rhyme royal). Das „Muster der Tugend" erzählt als Traum die Entwicklung des Helden Youth, der, nachdem er von Natur, Kühnheit, Fortuna, Weisheit unterrichtet wurde, von Vorsicht über die Brücke Reinheit geführt wird und Sinnlichkeit und Stolz widersteht. Durch die Rüstung des Hl. Paulus geschützt, überwältigt er den Drachen mit den Köpfen Welt, Fleisch, Lust und heiratet Cleanliness, die Tochter des Liebesgottes. Die „Vergnügliche Unterhaltung" ist der Erziehungsroman des Jünglings Grand Amour, der um Bei Pucel, die Vollendung von Schönheit und irdischer Reinheit, wirbt. Der große Wortstreit mit der Angebeteten und die Liebesklage über die Grausamkeit sind genau nach alten Mustern gearbeitet. Der „Trost der Liebenden" endlich verknüpft die beiden vorigen Werke, indem Personen aus beiden auftreten. Der träumende Dichter klagt einer Frau im Frühlingsgarten über unerwiderte Liebe und daß seine Bücher nicht verstanden werden. Sie spendet Trost und führt ihn zu einem Turm, wo er aus drei Sinnbildern die Blüte der Tugend für sich wählt. Schon dieser Inhalt kennzeichnet sich als Spiel mit leblos gewordenen Formen, die wie ein bürgerlicher Maskenzug anmuten, um so mehr als überall der Alltag aus den bunten Kleidern hervorschaut. Nichts zeigt so deutlich, daß das bis in Einzelheiten ausgeführte und mit seiner prunkhaften Umwelt geschilderte Rittertum nur Außenseite ist, als die Tatsache, daß Hawes diese höfische Welt allein nicht für tragfähig ansah, daß sein wichtigstes Werk (Pastime) den Helden auch in allen Wissenschaften sich bewähren läßt, daß er eine Wissenschaftsallegorie zu dem Ritterroman hinzufügt, die sieben freien Künste aufmaschieren läßt und die an eine Prüfung gemahnenden Gespräche Grand Amours mit den Damen Grammatica, Logica usf. breit ausmalt. Damit hat Hawes etwas vom Geist der Humanisten in die alte Form hineingelegt. Nicht daß das Bürgerliche in der Dichtung zu Wort kommt, ist wichtig, das war längst der Fall, sondern daß es nach der früheren Beschränkung auf die unteren Gattungen nunmehr die hohe Dichtung erobert, die so gesenkt erscheint. Aber es gibt Versuche, die alte Form durch neuen Inhalt umzubilden. Einer davon ist die das Hof leben satirisierende Bowge of Court (1499) von JOHN SKELTON (s. S. 216). Es ist eine Selbstaussprache in allegorischer Form: Im Traum sieht der Dichter das Schiff Bowge of Court (Hofkost), das die vom König für den Hof bestellte Tafel bedeutet. Das Ziel der Insassen ist, das Juwel Favor (Gunst) der Dame Sauncepere (Ohnegleichen) zu erlangen. Die Hofdame Danger stößt den Dichter, der den Namen Drede hat, zurück, die Hofdame Desire ermuntert ihn, mit dem Schiffslenker Fortune Freundschaft zu schließen. Der Dichter steigt ein und trifft an Bord sieben spitzbübische schlaue Kerle: Favell, Suspecte, Harvy Hafter, Dysdayne, Ryotte, Dyssymuler, Subtylte. Jeder wird charakterisiert, jeder führt mit dem Dichter Drede ein

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Gespräch. Damit wird dieser derartig in die Intrigen hineingezogen, daß er schließlich keinen Ausweg mehr weiß und für sein Leben fürchtend über Bord springt und - erwacht. Im Aufbau, in der Allegorie, in der Chaucerstrophe folgte Skelton dem alten Muster, aber er schildert sinnlich, wo Lydgate begrifflich blieb: statt der Frühlingswiese den Hafen von Harwich, statt eines Tempels das wirkliche Wirtshaus Power's Quai. Ebenso sind die allegorischen Personen als wirkliche Typen geschildert, und anders als beim Hawesschen Rätselraten liegt die satirische Bedeutung klar zutage. Es ist ein Versuch, die alte Form einer neuen geistigen Haltung dienstbar zu machen, ein Unternehmen, dem Skelton, da er es nicht wiederholte, selbst das Urteil sprach.

5. Die schottische Literatur82 Verwandte Wege ging die Literatur in Schottland. Zur Zeit der politische Selbständigkeit erstrebenden schottischen Kriege sprach sich das erstarkende Nationalgefühl in einer historischen Dichtung aus, die volkstümliche Helden wie Wallace und Bruce in den Mittelpunkt stellte. Diese Dichtung war in der nordenglischen oder einer sich davon wenig unterscheidenden Mundart geschrieben. Als aber seit der Schlacht bei Bannockburn (1314) die Verbindung mit England sich mehr und mehr löste und dafür, wie auch in Architektur und Recht, französischer Einfluß sich geltend machte, suchte das eine eigene Kultur fordernde, selbstbewußte Schottentum auch die sprachliche Sonderentwicklung zu fördern. Eine Anpassung an die aus mittelländischen und südlichen Mundarten sich entwickelnde englische Einheitssprache fand nicht statt, so daß bereits im beginnenden 15. Jahrhundert das Schottische als eigene Sprache erscheint. Die in dieser Sprache durch John Barbour (s. S. 135) eingeleitete historische Nationaldichtung, die schon mit Andrew of Wyntoun zur Reimchronik herabgesunken war, verebbte völlig in dem epischen, dem blinden Minstrel HARRY zugeschriebenen Gedicht William Wallace^ (ca. 1475). Hier fehlen Ordnung, Würde und historisches Wissen; Wallace ist nicht ritterlicher Held, sondern durch dichterisches Unmaß und spielmännische Anpassung an niederen Volksgeschmack zur patriotischen Puppe erniedrigt. Das ist weniger Schottland zugehörig als dem englischen Versroman, was auch die Wahl des Chaucerschen heroischen Reimpaars bezeugt. Heimische Tradition erscheint dagegen in den Stab- und Endreim verknüpfenden Strophen der volksnahen Kleindichtung lyrisch-satirischer Art, 82

Vgl. F. Brie, Die nationale Literatur Schottlands bis zur Renaissance (Halle, 1937); T. F. Henderson, Scottish Vernacular Literature (Edinb., 31910); K. Wittig, Scottish Tradition in Literature (Edinb., 1958).- Textsammlungen: (l) D. Laing, Select Remains of the Ancient Popular Poetry of Scotland, ed. J. Small (Edinb., 1885); (2) J. Pinkerton, Ancient Scottish Poems never before in Print, 2 Bde. (Edinb., 1786); (3) D. Laing, Early Popular Poetry of Scotland and the Northern Border, ed. W. C. Hazlitt, 2 Bde. (1895). Late Medieval Scots Poetry, ed. T. Scott (1967); Oxford Book of Scottish Verse (Oxf., 1967). 83 ed. J. Moir, STS (1885-89).

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von der die Bauernkirchweih-Balladen Peblis to the Play und Christis Kirk on the Grene84 sowie die Liebesgedichte TayisBankK und The Muming Mayden*6 Überreste darstellen. Diese Dichtung, die wohl bis zu Burns' Zeiten lebendig blieb, ähnelt oft in Umfang und Vorwurf dem Fabliau und liebt die Bloßstellung der kirchlichen Herren. So schildert The Freiris of Berwick*1 eine Liebesgeschichte zwischen Abt und Wirtin, The thrie Priestis of Peblis** eine Kirchendebatte beim Wein. Die schottische Betonung des Irdisch-Menschlichen ließ den Versroman als künstlich erscheinen und schuf in Ralph dem Köhler (s. S. 203) ein heilsames Gegengewicht. Neben dieser volkstümlichen Unterströmung, die nur gelegentlich zu literarischer Formung gelangte, entstand durch Chaucers Vorbild die eigentliche schottische Literatur, die zunächst ganz höfische Prägung hat. JAKOB L, der in seiner langen englischen Gefangenschaft den Chaucerschen Rosenroman, das Haus des Ruhms und andere Dichtungen schätzen gelernt hatte, erzählte (sich stark an Chaucers Knight's Tale anlehnend) seine Werbung um Joan Beaufort in der allegorischen Visionenform in 197 Troilusstrophen. Dieses Königsbuch (The Kingis Quair*9 ca. 1435), das einer welkenden Kunstform nochmals die Frische persönlichen Erlebens lieh, wurde der Vorläufer der selbständigen Dichtung, die mit Henryson, Dunbar, Douglas und Lindsay Schottland für kurze Zeit europäischen Rang verschaffte, ehe mit der Reformation die weltliche Dichtung und mit der politischen Annäherung an England die schottische Sprache wieder in den Hintergrund gedrängt wurden. Die Eigenart und die Vorzüge dieser schottischen Literatur offenbaren sich zuerst im Werke ROBERT HENRYSONs90 (ca. 1425-1506), obwohl dieser Dichter völlig unter Chaucers Einfluß stand, dessen Metra er auch vornehmlich verwandte. Wenn er zu des Meisters Troilusdichtung, an deren Ausgang er moralisch Anstoß nahm, eine eigene Fortsetzung schrieb, The Testament of Cresseid, in der Troilus am Leben bleibt und großen Kriegsruhm erringt, während die falsche Cressida elend zugrundegeht, so zeigt sich seine Moral so von Menschlichkeit durchtränkt und seine Darstellung von solcher Wirklichkeitsnähe, daß die alte Formenkonvention nur noch als äußere Schale erscheint. Allerdings tritt das in dem Testament of Cresseid und der Boethius nacherzählten Orpheus- und Eurydikegeschichte nicht so stark hervor wie in Robene and Makyne und den Moral! Fabillis of Esope, die altes Gut in neuem Geiste formen. Der 'estrif zwischen Robin und seiner Makin, die den 84

Beide in J. Pinkerton, Select Scottish Ballads (1783). in (1) und (3). 86 in (2) und (3). 87 in (2). 88 in (3). 89 ed. W. W. Skeat, STS (1884); ed. J. Norton-Smith (Oxf., 1971); ed. M. McDiarmid (1973). 90 ed. G. G. Smith, 3 Bde., STS (1906-14); ed. H. H. Wood (Edinb., 21958); Test, of Cresseid, ed. D. Fox (1968). Auswahl, ed. C. Elliot (Oxf., 21974); ed. D. Murison (Edinb., 1952).- M. W. Stearns, R. H. (N. Y., 1949); J. MacQueen, R. H. (Oxf., 1967); R. L. Kindrick, R. H. (Boston, 1979); D. Gray, R. H. (Leiden, 1980). 85

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nur an seine Schafe denkenden Robin vergeblich umwirbt, dann aber, als das Blättchen sich wendet, die Schnippische spielt und nichts mehr von ihm wissen will, ist in diesem unerwarteten Schluß wie in der echten und nicht idealisierten Schilderung des Landlebens ein schottisches Pastoral. Und die äsopischen Fabeln mit der prächtig ausgemalten Stadt- und Landmaus-Geschichte lassen vollends erkennen, daß Henrysons Stärke in der Darstellung und Deutung des ungekünstelten ländlichen Lebens von Mensch und Tier zu suchen ist, also verschieden von dem mehr städtischen Chaucer, dessen gutmütiges Lächeln ihm indessen nicht fremd ist. So wirkte in dieser schottischen Schule das Heimatliche und Erdverbundene in ähnlichem Sinne wie die bewußte Diesseitseroberung in Chaucers größerer Kunst; es erlaubte auch ein stärkeres Hervortreten des Persönlichen, wie es sich in den ausgelassenen Metren der Henrysonschen Minstrellieder andeutet und im Ton des gesamten Werkes von WILLIAM DuNBAR91 (ca. 14601520) vollendet. An sich sind die etwa hundert erhaltenen Dichtungen dieses für seinen Beruf recht ungeeignet scheinenden Geistlichen weder gedanklich noch gefühlsmäßig neuartig. Sein Goldyn Targe bewegt sich ganz im Stile der höfischen Allegorie, läßt dem von Frau Schönheit angeklagten Dichter von Ritter Vernunft einen goldenen Schild reichen und beschreibt seine Verteidigung gegen die Feinde. The Thrissil and the Rois ist ein nicht weniger höfisches Stück, das unter dem Bilde von Distel und Rose in einer wohl Chaucers Vogelparlament verpflichteten Tierallegorie die Heirat des schottischen Königs Jakob IV. mit der englischen Königstochter feiert. Das ist Hofkunst, die jedoch durch die meisterliche, an glänzendem Prunk sich freuende Diktion und die ungewöhnliche metrische Geschicklichkeit ausgezeichnet ist. Diese Vielfältigkeit und die Gabe, das jeweils angemessene Metrum zu treffen, ist Dunbars Stärke: Die Chaucerstrophe der Distel handhabte er ebenso sicher wie die Anelidastrophe des Goldschilds, den Stabreim der Burleske von den zwei Ehefrauen ebenso glänzend wie den Schweifreim des Todsündentanzes (Dance of the Sevin Deidly Synnis), das kurze Reimpaar der Dregy (Dunbars Totenklage an den König zu Stirling) so gut wie die französische Kyrielle des Lament for the Makaris, deren Ubi sunt-Thema der Kehrreim Timor mortis conturbat me' unterstreicht. Hier, wie erst recht bei der unhöfischen, die 'aureate language' verlassenden Gelegenheitsdichtung, der Satire of Edinburgh, dem Testament of Mr. Kennedy, der Parodie des zwischen Schneider und Schuhmacher ausgefochtenen Tournament, der die himmlischen Heerscharen zu epikureischem Mitgenuß auffordernden Dregy und der Antwort auf die Aufforderung, Franziskanermönch zu werden (How Dunbar wes desyrd to be ane Freir), drängt sich der Vergleich mit Villon auf, dessen Kunst und innere Freiheit Dunbar jedoch nicht erreichte. Immerhin gibt seine wirklichkeitsdurchtränkte Dichtung ein treues Bild seiner selbst 91

Edd. J. Small et al., 3 Bde., STS (Edinb., 1884-93); ed. W. M. Mackenzie (Edinb., 1932). Auswahl, ed. J. Kinsley (Oxf., 1958); Poems, ed. J. Kinsley (Oxf., 1979). Biographie von J. W. Baxter (Edinb., 1952). - Vgl. T. Scott, D.: A Critical Exposition (Edinb., 1966).

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und des höfischen und bürgerlichen schottischen Lebens; sie weist zudem eine unvergleichliche Knappheit auf und eine Vorliebe für die enge, straffe Form. Wenn er nicht die breite Ruhe des Epikers hatte und nicht die Chaucersche Objektivität, so besaß er doch eine ebenbürtige Schilderungsgabe und stellte sie ganz in den Dienst lyrisch-satirischer Dichtung. Dieser persönliche Reiz fehlt der akademischen, ehrwürdigen Dichtung von Dunbars hochadeligem Zeitgenossen GAVIN DouGLAS92 (1475-1522), dessen allegorische Werke Police of Honour und (von unsicherer Zuweisung) King Hart die Erschöpfung der altherkömmlichen Form beweisen und dessen gelehrt-humanistische Versuche von der Alltäglichkeit abgerückt sind. Die Traumvision des Palastes der Ehre (1501) schildert in der Anelidastrophe die von Kalliope geführte Reise durch die Höfe der Göttinnen Minerva, Diana und Venus zu dem Palast der Ehre, den nicht eine launische Göttin, sondern ein hehrer Gott bewohnt; denn Ehre ist der Preis hoher Tugend und ernsten Strebens. Der Aufbau ist unzusammenhängend und abschweifend, die Sprache von englischem und klassischem Wortgut beschwert, es ist'eine Jakob IV. gewidmete steife Hofdichtung, deren formale Haltung bereits veraltet anmutet. Die spätere, nach 1516 geschriebene Allegorie vom König Herz läßt dann den ganzen mythologischen Apparat weg und erzählt, von wehmütigem Humor umspielt, die Geschichte des menschlichen Herzens: Herz, von Vergnügen gefangen, von Mitleid befreit, heiratet seine Gegnerin, aber als nach sieben Jahren das Alter Einlaß begehrt, da flüchtet Vergnügen, und Weisheit und Vernunft raten dem Einsamen zur Rückkehr auf sein altes Schloß, wo er dann stirbt. Literaturgeschichtlich wichtiger ist die 1512-13 verfaßte Übersetzung der Aeneis93 - der zweiten nach Caxtons unbefriedigendem ersten Versuch (1490): Die heroischen Reimpaare sind zwar oft mangelhaft, und die Sprache ist uneinheitlich dem Alltag und gelehrter Welt entnommen, aber der Versuch einer Wort-für-Wort-Übersetzung, die damals allein den Vergilschen Ton vermitteln konnte, war eine humanistische Tat. Allerdings sah Douglas wie das Mittelalter die Aeneis als literarische Bibel an, weshalb ein Kommentar die Mythen und die ganze Handlung allegorisch deutet. Dieser der Renaissance noch fremden Art entsprangen auch die Prologe zu den einzelnen Büchern, von denen die Winter- und Frühlingsbeschreibung vor Buch VII und XII künstlerisch hervorzuheben sind, weil man nur hier die bei den anderen Schotten so starke Erdennähe spürt. Auch Sir DAVID LiNDSAY94 (ca. 14867-1555) zeigt davon wenig. Seine ganz ins 16. Jahrhundert gehörige Dichtung ist stark reformatorisch berührt und befaßt sich mehr mit der Kritik des Lebens als mit dem Leben selbst. Seine kirchliche und soziale Satire ist folglich lehrhafter und weniger dichterisch 92

ed. J. Small, 4 Bde. (Edinb., 1874); Selections, ed. D. F. C. Coldwell (Oxf., 1964). Vgl. P. Bawcutt, G. D.: A Critical Study (Edinb., 1976). 93 ed. D. F. C. Coldwell, STS (Edinb., 1957-64). 94 ed. D. Hamer, 4 Bde., STS (Edinb., 1931-36); edd. F. Hall et al., 5 Bde., EETS 11,19, 35, 37, 47.- Biographie von W. Murison (Cambr., 1938).

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als die Dunbars, als dessen eigentlicher Schüler er erscheint und erscheinen will. Sein Dreme (Dream, 1528), zehnmal so lang wie der Dunbars, beschreibt die Reise durch Hölle, Himmel und Paradies nur als Einleitung zu der Darlegung der Armut und Bedrückung der Untertanen und der daraus sich ergebenden Regierungsratschläge für den König; sein Complaynt to the King satirisiert kirchliche und weltliche Herren und bringt in Gestalt einer Huldigung für den König eine Klage über seine eigene Vernachlässigung vor. Sein Testament of our Soverane Lordis Papyngo (Papagei) greift wie die Tierfabeln Dunbars die Geistlichkeit an, die er mehr oder weniger für die Mißstände der Zeit verantwortlich macht. Die tiefe Überzeugung des Sprechers verleiht diesen Satiren einen gewaltsamen Ton und Schwung der Darstellung, sie führt auch zu derbem und absichtlich unfeinem Witz. Am vorteilhaftesten zeigt sich diese Begabung in dem überlangen, 1540 in Linlithgow vor König Jakob V. aufgeführten Drama Ane Pleasant Satyre of the Thrie Estaitis, das an Lebendigkeit, satirischem Witz und Geschick des Aufbaus den zeitgenössischen englischen Dramen überlegen ist. Es ist eine Moralität, die Züge der französischen Farce einbezieht, wirkliche und allegorische Figuren auftreten läßt und ein nicht nur äußerliches Bild Schottlands zu seiner Zeit vermittelt. Auffällig ist die schonungslose Offenheit, mit der Lindsay Kritik vor allem an der Kirche übt. Die beiden Teile, die des Rex Humanitas Versuchung durch die Sinnlichkeit und das Auftreten der drei Stände vor dem König darstellen, werden von Zwischenspielen beschlossen, deren farcenhafte Haltung die vielen persönlichen Anspielungen und scharfen moralischen Angriffe noch unterstreichen; denn als Leiter der Maskenund Hoffestlichkeiten hatte Lindsay den Blick für das Theaterwirksame, und als geborener reformatorischer Mahner den Eifer, der schonungslos zupackt.

6. Ende des Versromans und imaginative Prosa95 Wendet man sich von der schottischen Literatur zu dem englischen Versroman des 15. Jahrhunderts, so fällt die Blutleere auf, die mit dem Verfall der Gattung zusammenhängt. Die ehemals alle Kunstrichtungen der Zeit spiegelnde Dichtgattung wird zu einem nur am Stofflichen interessierten Geschichtenerzählen. Die fremdartigen Stoffe nehmen zu, und wenn man die letzten Bearbeitungen des noch immer beliebten Arthurkreises durchmustert, erscheint es unverständlich, daß man diesen Stoff einst als Nationalepos zu behandeln versuchte. Die spielmännische Senkung setzte sich fort, die Geschichte von Gawain und dem grünen Ritter erfuhr im Grene Knight96 eine Kürzung auf ein halbes Tausend Verse, wobei alle Poesie mit gestrichen wurde. Die anderen, ähnlich kurzen Gawaingeschichten haben novellistisch fabliauartigen Charakter, die Jeaste of Syr Gawene91 läßt den höfischsten 95

Vgl. die Bibliographie S. 123, Anm. 68. edd. J. W. Haies and F. J. Furnivall, The Percy Folio MS, 4 Bde. (1867-69), II, 56. 97 ed. F. Madden, Bannatyne Club (1839), S. 207, 348. 96

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aller Ritter infolge eines Liebesabenteuers mit drei Brüdern in Streit geraten und dem tapfersten der drei nach unentschiedenem Kampf die Schwester wieder anvertrauen. Der aber prügelt sie, und beide bekommt Gawain nicht mehr zu Gesicht. Ähnlich äußerlich ist die Bindung mit dem bretonischen Stoff kreis in der Weddynge of Sir Gawen.9* Es ist dieselbe alte Geschichte von Schicksalsfrage und Verwandlung, die Gower in der Tale of Florent und Chaucer in der Wife of Bath's Tale erzählte und die hier Gawain aufgeprägt ist: Um Arthur einen Dienst zu erweisen, heiratet er ein häßliches Weib und sieht seine Höfischkeit durch ihre Verwandlung in ein schönes Mädchen belohnt. Man hat den Eindruck, daß Gawain zur stehenden Figur geworden ist und in jeder Geschichte auftreten muß. Der schottische Golagrus and Gawain99 suchte die alten höfischen Ideale nochmals wachzurufen; kunstvolle, Stab- und Endreim verbindende Strophen erinnern an den Grünen Ritter, dem auch die malerische Beschreibung und die lebendige Kampfschilderung nachempfunden sind, aber das ganze Artusrittertum behält etwas epigonenhaft Künstliches, das die Balladenerzählung vom Tournament of Tolenhamm (ähnlich wie Chaucers Sir Thopas) erfrischend verspottet. Der spielmännische Sir Clegesm erzählt dagegen wirkungsvoll die alte Geschichte vom Wunder des zu Weihnachten Früchte tragenden Kirschbaumes, und in ähnlichem Volkston verwertet der schottische Taill of Rauf Coil$earm (Ralph Collier) die beliebte Gegenüberstellung von Ritter oder König und Bauer. Solche Themen verstand der Spielmann mit gutem Aufbau und einfach wirkungsvoller Charakterisierung darzustellen. Die ununterbrochene Tradition dieser balladenhaften Romane hatte einen festen Vorrat von Motiven, Wendungen, Kompositionsmitteln geschaffen und bedeutete eine fortwährende Schulung in ihrer Anwendung, so daß die meisten dieser Spielmannserzeugnisse sich gut lesen. Allerdings war der Zuhörerkreis nicht wählerisch und lauschte neben den für England so bezeichnenden balladenartigen kurzen auch den herkömmlichen längeren Versromanen, die gelegentlich große Erfindungsarmut zeigen und sich infolgedessen zum Verwechseln gleichen. So behandeln Torrent of Portyngale,m Sir Triamour,{M Earl of Toulousm dasselbe Motiv der unschuldig verleumdeten Frau. Künstlerisch wertvoll ist keiner der drei Romane: Während aber der Torrent nur eine kirchlich aufgeputzte EglamourFassung darstellt, fällt der bis in Einzelheiten aus früheren Romanen zusammengeborgte Triamour durch die realistisch geschickte Zusammenfügung 98

Ibid., S. 297; ed. L. Summer, Smith College Stud. 5 (1924), No. 4. Ibid., S. 131, 336; ed. F. J. Amours, STS (1892-97). 100 ed. French-Hale (s. S. 123, Anm. 68). 101 ed. H. Weber, Metrical Romances (s.S. 159, Anm. 78), I, 331; ed. French-Hale. 102 ed. S. J. Herrtage, EETS XXXIX. 103 ed. E. Adam, EETS LI. 104 ed. Hales-Furnivall, Percy, Folio MS., Bd. II (1868), S. 78; Inhalt Ellis; ed. A.J. Erdman-Schmidt (Utrecht, 1937). 105 ed. G. Lüdtke (Bln., 1881); ed. French-Hale. 99

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auf, und der nicht weniger bunt zusammengestellte Earl of Toulous durch die nachdrückliche Betonung der aufopfernden, selbstlosen Ritterdienste. Chaucer-Einfluß zeigt sich in der Tale ofBeryn,106 die sich als zweite Merchant's Tale ausgibt. Sie erzählt die Geschicke eines Kaufherrn, der in den Hafen von Falsetown verschlagen wird und dem ein geistreicher Krüppel seine Hilfe zuteil werden läßt. Eine Entwicklung ist bei dieser herkömmlichen Romanart nicht festzustellen. Der SquyrofLowe Degre™1 zeigt gut, was der herrschende Geschmack haben wollte: das reiche und fremdländische Geschehen - der Held liebt eine ungarische Königstochter und wird in Ränke und Kampf verwickelt -, das Gruselige - die Königstochter bewahrt die vermeintliche Leiche des Helden sieben Jahre in ihrem Zimmer auf -, das Befriedigende - der inzwischen durch Heldentaten berühmte wirkliche Held kehrt zurück und erweist, daß nicht Rang, sondern die Gesinnung den Ritter ausmacht. Dazu kommt, daß diese Geschichten meist gut erzählt sind. Der Squyr hat erstaunlich flüssige Reimpaare, der eine noch reichhaltigere Handlung aufweisende Sir Generydesm ist zumindest in der Reimpaarfassung recht gut erzählt. Spannend setzt die Handlung ein mit dem Zauberhirsch, der König Aufreus von den Gefährten wegführt zu der ihm bestimmten Herrin, mit der er Generydes zeugt. Und spannend ist der weitere Verlauf, wie Generydes seinen Vater an der treulosen Gattin und ihrem Liebhaber rächt, das Reich gewinnt und die persische Sultanstochter heiratet. Diese Art herkömmlicher Versromane, die gegenüber den eine Wirklichkeitsumformung durchmachenden Balladenromanen künstlich und altmodisch anmuten, bleibt trotzdem bis tief ins 16. Jahrhundert beliebt. Beispiele einer vornehmen, höfisch gerichteten Nachblüte des Versromans sind eine Partenope- und ein Lancelotroman sowie zwei schottische Alexanderdichtungen größeren Umfangs, Gilbert Hay's Buik of Alexander™9 und das Scottish Alexander Buik.no Parthenope of Bloisin behandelt ausführlich wie die alten Versromane (über 12000 Verse in kurzen Reimpaaren) das LaiMotiv der Liebe eines Sterblichen zu einer Fee, und zwar in einer an die Amor und Psyche-Legende anklingenden Fassung. Auch hier verliert Partenopeus seine Geliebte Melchior, nachdem er ihre Schönheit im Schein der Lampe gesehen, bis er sie dann nach vielen Mühen zurückgewinnt. Die Art, wie das ausgeführt ist, zeigt den Literaten, nicht den Spielmann; rhetorische Vorlieben, Verweilen bei reflektierenden und allegorischen Stellen, ein Übermaß an Einzelzügen und zu viele und zu lange Reden stellen diesen Roman in Gegensatz zu der vom englischen Spielmann vertretenen Kurzform. Auch der schottische Lancelot of the Laiku2 zeigt den Versuch, nochmals die höfische Tradition zu beleben, und zwar wählt er eine Rosenroman- oder 106

edd. F. J. Furnivall and W. G. Stone, Chaucer Soc. (1876-87). ed. W.-E. Mead (Boston, 1904); ed. French-Hale. 108 ed. W. A. Wright, 2 Bde., EETS 55, 70. 109 Auszüge, ed. A. Hermann; The Forraye of Gadderis (Bln., 1900). 110 edd. W. H. French et al., 4 Bde., STS (1921-29). 111 ed. A. T. Bödtker, EETS CIX. 112 ed. W. W. Skeat, EETS 6; ed. M. M. Gray, STS (1912). 107

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Chaucer-Einkleidung: Der liebeskranke Dichter schläft im Garten ein, und der Liebesgott beauftragt ihn, durch diesen Roman zu seiner Geliebten zu sprechen. So will er erzählen, wie Lancelot Ruhm erwarb und von Venus mit der Liebe seiner Dame belohnt wurde. In diese letzte herbstliche Blütezeit des höfischen Versromans fallen auch die zahlreichen Prosaauflösungen: der Alexander,"* die Geschichte der Melusine,^4 der Apollonius-n5 und der Ipomedon-U(> Roman, die Gralsgeschichte des Joseph von Arimathiani und der aus dem Französischen übersetzte, ritterliches Wesen lehrende King Ponthus and the Fair Sidone.n* Diese Romane wurden durch den englischen Buchdruck verbreitet, der sich von den Bestrebungen der festländischen Pressen unterscheidet. Bei den Anfängen des Buchdrucks denkt man an Gutenberg in Mainz, an Martens in Löwen, der nach Erasmus' Urteil seinen ganzen Verdienst für den Druck lateinischer und griechischer Texte verwandte, an den französischen Drucker Plantin in Antwerpen und vor allem an Proben in Basel, der sich ganz in den Dienst der humanistischen Bewegung stellte. Dagegen brachte WILLIAM CAXTON119 (ca. 1420-1491) so gut wie kein humanistisches Buch heraus. Das mag damit zusammenhängen, daß Caxton u. a. bei Colard Mansion in Brügge, wo er als Vorstand der im Wollhandel beschäftigten englischen Kaufmannsgilde weilte, das Drucken gelernt hatte und so von den Kulturbestrebungen des burgundischen Hofes beeinflußt war. Derselbe Geist, der Philipps des Guten Rittertum und Antike verbindenden Orden vom Goldenen Vließ, die Bibliotheksgründungen und die prächtig illustrierten Sammelausgaben der Literatur der Vorzeit kennzeichnet, spricht auch aus dem ersten englischen Buch, das Caxton, noch in Brügge, übersetzte und druckte, Recuyell of the Historyes of Troyeno (1474), die Raoul Lefevre für den burgundischen Hof geschrieben hatte. Griechen und Römer erscheinen als Blutsbrüder von Tristram und Gawain; Herkules wird von Creon zum Ritter geschlagen und schlägt selbst Jason zum Ritter; Turniere finden statt, denen die Damen zusehen. Aber Caxton und der burgundische Hof wollten diese Trojageschichten nicht gelesen wissen, wie man die Versromane las, zur Unterhaltung, sondern als Lehrbücher ritterlicher Sitte, zu deren Nachahmung das Vorbild begeistern sollte. Als Caxton im Jahre 1476 die 113

ed. J. S. Westlake, EETS 143; ed. F. P. Magoun (Cambr., Mass., 1929). ed. A. K. Donald, EETS LXVIII. 115 Faksimile von Wordes Druck, ed. E. W. Ashbee (1870); Die alt- u. mittelengl. Apollonius-Bruchstücke, ed. J. Raith (Mchn., 1956). 116 in: E. Kölbings Ausgabe des Versromans (Breslau, 1899). 117 ed. W. W. Skeat, EETS 44. 118 PMLA 12(1897). 119 Vgl. W. Blades, Life and Typography of W. C, 2 Bde. (21883) [grundlegend]; N. S. Aurner, C. (1926); R. Hittmair, C. (Innsbruck, 1931) (Einführung); N. F. Blake, C. and his World (1969); ders., C.'s Own Prose (1973).- C.'s Prologues and Epilogues, ed. W.J. B. Crotch, EETS 176.- Über zeitgenöss. Drucker: H. R. Plomer, W. de Worde (1925); E.G. Duff, A Century of the English Book Trade, Bibliogr. Soc. (1905). 120 ed. H. O. Sommer, 2 Bde. (1894). )14

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erste englische Druckpresse in Westminster gründete, blieb er dieser Richtung treu. Das erste dort gedruckte Buch waren die von Earl Rivers übersetzten Dictes or Sayengs of the Philosophres,121 Dann druckte er Chaucers Canterbury Tales (1478) sowie Prosaauflösungen von Versromanen, die im Vorwort ausdrücklich als Lebensvorbild und Muster für Sitte gekennzeichnet werden. Er zog die Antike in diese ritterliche Welt mit seiner Übertragung der History ofJasonn2 (1477) und seinem Eneydos-™ Buch (1490), das nach mittelalterlichem Herkommen die Liebesgeschichte Didos darstellt und als erster Versuch einer englischen Vergil-Übersetzung gilt. Sein Blick war sehnsüchtig nach dem ritterlichen Hochmittelalter gerichtet. Er verlegte ein pseudohistorisches Werk über Gottfried von Bruillonm (1481), bot ein militärisches Handbuch in Christine de Pisans Erzählung der ritterlichen Waffentaten125 (1489), und im Nachwort zu seiner Übersetzung der burgundischen Ritterordnung126 (1479) suchte er dem beklagten Schwinden des ritterlichen Geistes durch praktische Vorschläge zu begegnen, wie man durch Turniere und Waffenspiele die alte Gesinnung der Wehrhaftigkeit wieder erwekken könne. Die Krönung bildete schließlich Malorys Morte Arthur mit seinen Beispielen aus Leben und Geschichte. Überall zeigt sich wie in Lydgates Thebenroman das Streben nach einer Lebensphilosophie, kaum je hört man den Künstler. In seinen Vorreden und Nachworten wertet er Philosophie, Dichtung und Geschichtswerke als Lehrbücher, zu deren volkstümlichem Verbreiter er sich berufen fühlte; und seine Äußerungen über den mehrfach gedruckten Chaucer betreffen nur dessen Diktion und gewählten Wortschatz. Erst spät, in der Eneydos-Vorrede, wurde er sich bewußt, daß seine eigene Prosa zwischen kunstvoller und einfacher Rede zu wählen habe; der von ihm erstrebte Mittelweg ist oft von den Verschnörkelungen und Satzverschachtelungen begünstigenden Themen durchkreuzt worden. Caxton trug jedoch wesentlich dazu bei, daß sich das Englische als Schriftsprache durchsetzte. Ihm gebührt das historische Verdienst, mit Hilfe der neuen Technik des Buchdrucks englische Dichter - wie Chaucer, Gower, Lydgate, Malory - einem größeren Publikum vermittelt zu haben. Caxtons Geisteshaltung verwandt war THOMAS MALORYS (ca. 1408-1471) Sehnsucht nach der vergangenen und wieder zu erweckenden Größe Englands und seines Königtums. Erschüttert von dem Gegensatz der unsicheren, wankelmütigen Gegenwartswelt und der Arthurischen Idealwelt, schrieb er (ca. 1460-70) einen Prosaroman über Arthur und seine Ritter, den Caxton für seinen Druck (1485) bearbeitete und mit dem etwas irreführenden (und grammatisch bedenklichen) Titel Le Morte D'Arthur127 (Der Tod Arthurs) versah. 121

ed. W. Blades (1877) [Faksimile]. ed. J. Munro, EETS 111. 123 edd. M. T. Cully and F. J. Furnivall, EETS LVII. 124 ed. M. N. Colvin, EETS LXIV. 125 ed. A. T. Byles, E1TS 189. 126 ed. A. T. Byles, EETS 168. 127 The Works of Sir T. M., ed. E. Vinaver, 3 Bde. (Oxf., 21967); einband. Ausg., OSA (1954); The Winchester M., ed. N. R. Ker, EETS, Suppl.-Ser. 4; Caxtons Druck, ed. 122

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Das gewaltige Unternehmen, gleichsam das Erbe aller mittelalterlichen Arthur- und Tafelrunde-Romane zusammenzufassen, muß in die Bemühungen um ein englisches Nationalepos eingereiht werden, die im Versepos Lajamon und der Verfasser des stabreimenden Morte Arthure schon vor Malory unternommen hatten und die Spenser in seinem Torso gebliebenen Faerie QueeneEpos später wieder aufgreifen sollte. Damit befand sich Malory von vornherein im Gegensatz zu seinen meist französischen Quellen. Für ihn war Arthur der vollkommene englische König und seine Regierung die Verkörperung der früheren nationalen Größe. Deshalb drängte er in The Tale of King Arthur die märchenhaften Züge der Merlinquelle zurück und richtete die Erzählung von The noble King Arthur and the Emperor Lucius, die den alliterierenden Versroman benützt, auf den englischen Nationalhelden Heinrich V. aus. Auch bei den Rittern der Tafelrunde legte er den Nachdruck auf das Heroische. In The Tale of Sir Gareth ging das ohne große Veränderung der Quelle, die das Werden eines jungen Ritters berichtete und mit der Schilderung eines großen Turniers schloß. In Malorys Tale of Sir Launcelot und Book of Sir Tristram verrät sich jedoch eine dem Rittertum entfremdete Welt. Die Zeit war bürgerlich, nicht heroisch. Auch der adlige Malory, dessen Standesbewußtsein das Lieblingsmotiv des verkleideten Ritters verrät - der sich bewährt, nicht weil er persönlich tapfer und stark ist, sondern weil er in Wirklichkeit ein Adliger ist - nahm unbewußt bürgerliche Züge auf. Mehrmals bricht irdisch Geld und Gut in die Idealwelt ein: als Begründung des schnellen Vergessene der blonden Isolde, als Erschwerung des Untreuevorwurfs, als Angebot Lancelots an Elaine; und mehrmals zeigt sich Mißverstehen der höfisch idealen Liebe, sei es bei den ins Weinerliche gehenden Klagen Isoldes bei Tristans Abschied oder bei dem Ersatz der ritterlichen Treue durch 'stability', die Bürgertugend des Sich-Mäßigens im Genuß. Ganz deutlich zeigt sich Malorys künstlerisches Ziel in The Tale of the Sankgreal, in der er den theologischen Kommentar der Queste del Saint Graal wegließ, Arthur zur Mittelfigur machte und das weltliche Rittertum Lancelots nicht dem geistlichen Rittertum Galahads unterordnete. Die Grundidee seines Werks ist Größe und Untergang der Tafelrunde und Ersatz des wirklichkeitsfernen Ideals der französischen Vorlagen durch das Aufstellen eines moralischen Vorbilds für alle, die Ehre und Ruhm in dieser Welt erstreben. Mit diesen Anschauungen gelang es ihm zwar, in The Book of Sir Launcelot and Queen Guinevere die mit realistischen Details erzählte Geschichte der Maid of Astolat heutigem Empfinden nahezubringen, aber der Versuch, Lancelot, den Inbegriff der 'curtesye', zum Helden zu machen, mußte mißlingen. Um so eindrucksvoller ist die abschließende Tale of the Morte Arthur, die den Untergang des Königs und seiner Tafelrunde nicht durch das Schicksalsrad der Fortuna beH. O. Sommer, 3 Bde. (1889-91); modernisierter Text: J. Cowen, 2 Bde., PB; EL.Vgl. E. Vinaver, T. M. (Oxf., 21970); Essays on Malory, ed. J. A. W. Bennett (Oxf., 1963); R. M. Lumiansky, M.'s Originality (Baltimore, 1964); L. D. Benson, M.'s Morte Darthur (Cambr., Mass., 1976); Aspects of M., edd. T. Takamiya and D. Brewer (Cambr., 1981).

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dingt sieht, sondern im unlösbaren Konflikt der menschlichen Treuebeziehungen von Gawain und Lancelot, Lancelot und Guinevere, Lancelot und Arthur. Dabei ging es Malory vor allem um das Herausstellen der moralischen Bedeutung des Rittertums. Er wollte die Ideale der 'manhode, curtesye and gentylnesse', so wie er sie verstand, auf seine Zeit der Rosenkriege angewendet wissen, als deren allerdings nicht schuldloses Opfer er selber im Gefängnis dieses Werk verfaßte. So fügte er seine Erklärungen und Lob und Tadel hinzu. Durch dieses Abrücken des Stoffs von der höfischen Welt, aus der er erwachsen war, geriet Malory jedoch in ein künstlerisches Dilemma. Die vom Chrestien-Roman erstrebte gleichwertige Bindung von höfischem Liebeskult und ritterlichen Taten war ihm unter der Hand zu einer einseitigen Anhäufung oft unzusammenhängender Abenteuer geworden. Wenngleich die strukturelle Einheitlichkeit Wünsche - zumindest des heutigen Lesers - offenläßt, war Malory unbestritten ein Meister der Prosa. Er brachte den Rhythmus und die Harmonie, die Pecock und Fortescue (s. S. 220) nicht erreichen konnten. Biegsam weiß seine Sprache sich der Einfachheit früher französischer Prosa anzupassen, den tragischen Unterton schicksalhaften Geschehens einzufangen und in großer Kadenz eine Stimmung ausklingen zu lassen. Diese persönliche Prosa gehört nicht mehr dem Mittelalter an, sie ist modern, wie Malorys Ausblick und seine Deutung des Rittertums modern sind. Er war sich dessen so wenig bewußt wie Caxton oder Lydgate, er fühlte sich nicht im Gegensatz zum Alten, eher als dessen Fortsetzer und Erfüller. Langsam und fast unmerklich starb das Mittelalter im 15. und 16. Jahrhundert. John Bourchier, Lord BERNERS (1467-1533), der Übersetzer der vielgelesenen Chronicles ofFroissartm (1523-25), fand noch im 16. Jahrhundert ebensolchen Anklang für den Feenzauber seiner Huon von Bordeaux-Übersetzung128 (1534). Selbst das in elisabethanischer Zeit geschriebene Werk Spensers ist in Stoff und allegorischer Methode der mittelalterlichen Welt näher als der modernen. 7. Drama (Moralitäten und Interludien)129 Die großen Misterienaufführungen des 14. Jahrhunderts dauerten im 15. fort. Im 16. Jahrhundert erfuhren sie abwechselnd protestantische (unter Eduard 128

Froissart: ed. W. P. Ker, 6 Bde. (1901-03) [Tudor Translations]; ed. G. C. Macaulay (1895) [Globe Edition, modernisierter Text]. Huon: ed. S. Lee, 4 Bde., EETS XL, XLI, XLIII, L. 129 T e x t a u s w ä h l e n : J. M. Manly, Specimens of Pre-Shakespearean Drama, 2 Bde. (Boston, 21900-03); A. W. Pollard, English Miracle Plays, Moralities and Interludes (Oxf., 71923); E. Rhys, Everyman with other Interludes including eight Miracle Plays, EL; E. Creeth, Tudor Plays (Anchor Books); P. Happe, Tudor Interludes, PB; J. A. B. Somerset, Four Tudor Interludes (1974); G. Wickham, English Moral Interludes, EL; P. Happe, Four Morality Plays, PB. V o l l s t ä n d i g e T e x t e in: Quellen des weltlichen Dramas, ed. A. Brandl [besonders Moralitäten und Interludien] und Dodsley's Old English Plays, ed. W. C. Hazlitt, 15 Bde. (1874-76) [Dramen des 15.-17. Jahrhunderts]; W. Bang, Materialien zur Kunde des älteren englischen Dramas (Louvain, 1902ff.).- M. Bevington, From 'Mankind' to Marlowe (Cambr., Mass.,1962);

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VI.) und katholische (unter Maria) Ausrichtung und kamen erst unter dem doppelten Einfluß der Bühnenfeindlichkeit der Puritaner und unter dem raschen Aufblühen des weltlichen Dramas zum Erliegen. Daneben zeigen die meisten der (im Ms. Digby 133 vereinigten) sog. Digby Plays130 (Ende 15. Jh., St. Mary Magdalene, The Slaughter of the Innocents, The Conversion of St. Paul, Wisdom) die Entwicklung zum Legendenspiel und zur Moralität. Am interessantesten ist das Magdalenenspiel, das eine Verbindung von Legende, Mirakel, Misterium und Moralität darstellt. Das Spiel behandelt zuerst den biblischen Stoff, daß Maria als Schloßherrin von Magdala sich einem sündhaften Leben ergibt, aber von göttlicher Gnade zu Christus gesandt wird, als er im Hause Simons des Aussätzigen weilt. Dann folgt ein Teil, der an einen Versroman erinnert: Ein heidnisches Königspaar in Marseille wird von Magdalena bekehrt und will zu Petrus, wird aber auf einem Riff ausgesetzt, wo die Königin ein Kind gebiert und stirbt. Magdalena gewährt von ferne wunderbare Hilfe, und schließlich kehren alle mit der wieder zum Leben erweckten Königin zurück. Der letzte Teil stellt das Leben der Büßerin in der Wüste dar, von wo sie durch Engel in den Himmel erhoben wird. Gegenüber den Misterien stellte das eine ungeheure stoffliche Erweiterung dar, und in dieser Richtung bewegten sich auch die Moralitäten, d. h. Spiele, bei denen die Träger der Handlung ausschließlich oder vorwiegend verkörperte Abstrakta sind. So treten im ersten Teil des Magdalenenspiels die Könige der Welt und des Fleisches auf und in ihrem Gefolge die sieben Todsünden, ähnlich wie im Ludus Coventriae Mors, Veritas, Misericordia, Justitia und Pax als Sprecher verwendet wurden. Die Herkunft der Moralitäten ist bis heute ungeklärt: Einige Forscher behaupten eine direkte Abhängigkeit von der allegorische Techniken verwendenden Predigt, andere verweisen auf den spätmittelalterlichen Totentanz, wieder andere begnügen sich mit der Feststellung, die Moralität sei Dramatisierung der zeitgenössischen literarisch-theologischen Allegorie. Die älteste erhaltene Moralität ist das vielleicht schon ca. 1350 entstandene Bruchstück Pride of Life,™ das wie der spätere Jedermann die beiden Parteien Leben und Tod in streng symmetrischer Figurenordnung aufeinanderrücken läßt. Der König des Lebens ist der Mensch, dessen Demütigung durch die dreifach gesteigerte Reihe Königin, Bischof, Tod vorgeführt wird; nach dem Höhepunkt, dem Triumph des Todes, beginnt die zweite, den gedemütigten Menschen zwischen Gott und Teufel stellende Hälfte. Zwischen 1400 und 1425 entstand The Castle of Perseverance,™2 dessen Text eine genaue Bühnen-Skizze beigefügt ist. In der Mitte dieser stationären Rundbühne erhebt sich das Schloß, in dem Humanum Genus in der Wiege W, Habicht, Studien z. Dramenform vor Shakespeare (Hdbg., 1968); R. Potter, The English Morality Play (1975). 130 ed. F. J. Furnivall, EETS LXX. 131 ed. A. Brandt in: Quellen des weltlichen Dramas (s. Anm. 129); ed. N. Davis in: Non-Cycle Plays and Fragments, EETS, Suppl. Ser. 1. 132 Castle of Perseverance, Mankind, Wisdom, ed. M. Eccles in:The Macro Plays, EETS 262; ed. D. Bevington, The Macro Plays (N. Y., 1972).

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liegt; an der Peripherie befinden sich, nach den Windrichtungen aufgestellt, vier Gerüste oder Schauplätze, wo Gott, Welt, Fleisch und Teufel hausen, die alle in die Entwicklung der Menschheitsfigur eingreifen, deren ganzes Leben dargestellt wird. Der Vorwurf dieser Moralität ist also der Kampf zwischen den handelnd und sprechend auftretenden guten und bösen Mächten um den Besitz der Seele des Menschen. Die Moralitäten fassen mithin das von den Misterien konkret historisch abgewandelte Fall- und Erlösungsthema begrifflich und verallgemeinernd; ihre Bedeutung für die Entwicklung des Dramas liegt darin, daß bei dieser abstrakt-typischen Art die Handlung nicht mehr vorgeschrieben ist und die seelische Verlebendigung der erfundenen Personen notwendig wird, womit das Wort größere Bedeutsamkeit erhält als das Bühnenbild. Eine fast mathematisch strenge, in Parallelszenen angeordnete Handlung läßt die dramatische Kurve bis zu dem in der Mitte liegenden Höhepunkt des Kampfes um das Schloß ansteigen und dann symmetrisch wieder absteigen. Nicht immer ist der Stoff zu dramatischem Leben gebracht; das 1465-70 anzusetzende, die Anima in die drei Seelenkräfte Mind, Will and Understanding zerlegende Spiel (auch Wisdom genannt) ermüdet durch die epische Zwiesprache von Seele und göttlicher Weisheit und die Überfülle der z. T. stummen Figuren. Nur die Szene, in der Luzifer im Kleid des Weltmannes die drei Hauptfiguren vorführt, hat dramatische Bewegung. Indessen zeigt sich hier erstmals eine Lockerung des vordem üblichen Baues in Parallelszenen. In Mankind133 (1465-70) ist auch die starre Figurenordnung gefallen. Die Mittelfigur hat nicht mehr wie im vorigen Spiel zur Rechten und zur Linken je einen Widersacher (Wisdom flankiert von Christus und Luzifer), sondern unsymmetrisch stehen der guten Gestalt Mercy mehrere böse gegenüber, wie Nichtsnutz, Neumode, Heutzutage und der Teufel Titivillus. Die unfeinen, aber gut charakterisierenden Szenen, in denen diese Verführer auftreten, bedingen ein starkes Anwachsen der Komik, gleichzeitig aber auch dramatischen Fortschritt, denn an Stelle des direkten Kampfes von Gut und Böse ist eine durch Titivillus' Intrige eingeleitete Verwicklung getreten. Viel ernster ist das auch durch seinen Vers hervorragende Everyman 134-Spiel, das - wie Pride of Life - zum Summons of Death-Typ der Moralität gehört und eine zwischen 1518 und 1525 angefertigte Übersetzung des vor 1495 entstandenen niederländischen Spieles Elckerlijc darstellt; hier wird die in Barlaam und Josaphat erzählte Parabel von der Freundschaftsprobe dramatisch behandelt. Als der Tod naht, verlassen alle Freunde den Helden trotz seiner flehentlichen Bitten. Da legt er das Kleid der Reue an und ergibt sich in Gottes Willen; Erkenntnis begleitet ihn bis zum Grab, nur Gute Werke folgt ihm auch über das Grab hinaus. Die Gattung der Moralität, insbesondere der durch Castle of Perseverance repräsentierte Psychomachie-Typ, gelangt in der ersten Hälfte des 16. Jahr133

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s. Anm. 132. ed. A. C. Cawley (Manchester, 1961); ed. F. Sidgwick (1902); modernisierter Text in EL.

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Hunderts zu einer Nachblüte. Zu der älteren, rein ethischen Art gehört das Spiel Nature™5 (ca. 1520?) von HENRY MEDWALL (fl. 1490), dem Hauskaplan des Kardinals Morton; Natur redet hier den Menschen an, während Lust, Sinnlichkeit und Welt ihn von der Vernunft wegziehen wollen. Dramatisch bedeutet das Stück einen Rückschritt, da es die Handlung zweimal spielt, und diese Handlung ist an sich weniger lebendig als die theologische Abwandlung des Themas im Castle of Perseverance. Ein ähnliches Stück, Youth™6 (ca. 1520?), ist dramatischer, und Moralitäten wie World and Child™1 (Mundus ei Infans, vor 1522) und Hycke Scorner™s (ca. 1513) müssen geradezu als bühnengerecht bezeichnet werden. Welt und Kind läßt den Helden unter jeweils verändertem Namen als Kind, Jüngling, Mann und Greis auftreten, wobei die dramatische Handlung sich daraus ergibt, daß er von seinem Mentor Welt trotz des Einspruchs von Gewissen nicht lassen will. Noch lebhafter und mit reicheren Mitteln ist der „Tölpelhafte Spötter" gearbeitet. Die bösen Mächte, der Titelheld und die zügellose Phantasie, kämpfen mit den guten - Mitleid, Betrachtung, Beharrlichkeit - um Freewill, der als Vertreter des Menschen erscheint. Prügelszenen und ein der Wirklichkeit naher Dialog steigern die Bedeutung der komischen Szenen. Gleichzeitig kamen die Moralitäten in Abhängigkeit von den großen Zeitbewegungen Humanismus und Reformation, und so entstanden im 16. Jahrhundert zwei gesonderte Zweige. Der humanistische erscheint erstmals in The Four Elements™9 (1517-27) von Thomas Mores Schwager JOHN RASTELL (ca. 1475-1536). Wie im Schloß der Beharrlichkeit bildet die Erziehung des Helden Humanity das Thema. Die guten und bösen Mächte sind jetzt als Wissen und Unwissenheit aufgefaßt; aus dem guten Engel des früheren Stükkes ist Lerneifer (Studious Desire) geworden, und die Tugenden unterhalten sich nicht über theologische Fragen, sondern über Geographie und die Entdeckung Amerikas. Allerdings ist in dieser rein weltlichen Abart die theologische Problematik der eigentlichen Moralität geschwunden. Auf derselben Ebene steht JOHN SKELTONS Moralität Magnificence140 (ca. 1515), die weniger ein moralisches Ziel aus dem Kampf zwischen Himmel und Hölle herleitet, als die durch viele klassische Philosophen erhärtete Wahrheit lehrt, daß es töricht ist, zu verschwenden und falschen Freunden zu vertrauen. Der großsinnige Mensch wird von Laune, die sich als Freigebigkeit ausgibt, von Verstellter Haltung, Listiger Eingebung, Höfischem Mißbrauch 135

ed. Brandt (s. Anm. 129); ed. M. E. Moeslein, A Critical Edition of the Plays of Henry Medwall (diss. Univ. of North Carolina, Chapel Hill, 1968); ed. A. H. Nelson (Cambr., 1980). 136 ed. W. Bang in: Materialien (s. Anm. 129), Bd. XII (1905); ed. Dodsley-Hazlitt, Bd. II; ed. P. Happe in: Tudor Interludes, PB; ed. J. Lancashire (Manchester, 1980). 137 ed. Dodsley-Hazlitt, Bd. I; ed. J. M. Manly (s. Anm. 129), Bd. I. 138 ed. Dodsley-Hazlitt, Bd. I; ed. Lancashire (s. Anm. 136). 139 ed. Dodsley-Hazlitt, Bd. I; ed. J. T. Fischer (Marburg, 1903); ed. R. Axton (Cambr., 1979). 140 ed. R. L. Ramsay, EETS XCVIII; ed. P. Happe in: Four Morality Plays, PB; ed. P. Neuss (Manchester, 1979). - S. S. 216.

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und anderen seinem früheren Ratgeber Maß entfremdet und schließlich als Gefangener der Armut überliefert. Dann kommen Verzweiflung und Verderben, aber zuletzt Hoffnung, und damit findet das Spiel sein Ende. Viel dramatische Fähigkeit zeigte Skelton in diesem Stück nicht, dafür brachte er eine aktualisierende Ausrichtung, denn unter Magnificence ist vielleicht König Heinrich VIII. verstanden. Noch weiter geht die Rationalisierung in JOHN REDFORDS (ca. 1486-1547) dem komischen Zwischenspiel nahen Wit and Science1^ (ca. 1530), in dem die bösen Kräfte Faulheit und Unwissenheit als Personen auftreten. Das ist der Weg zum Schuldrama, das mit der späteren Bearbeitung The Marriage of Wit and Science™2 (1567) erreicht ist. Der Zweig der reformatorischen Moralität wurde durch Lindsays Satyre of the thrie Estaitis (s. S. 202) begründet. Ihm folgte RICHARD WEVER mit seiner Moralität Lusty Juventus™3 (ca. 1550?), worin der Kampf zwischen Gut und Böse zum Kampf zwischen wahrer und falscher Lehre verschoben ist, und vor allem JOHN BALE144 (1495-1563), der in den vierziger Jahren mehr als zwanzig Misterien (u. a. Johannes, Christi Versuchung) und Moralitäten (u. a. Three Laws) gegenkatholischer Richtung verfaßte, von denen fünf erhalten sind. Das wichtigste seiner Stücke ist King John (1538), dessen Titelheld zum Vorkämpfer der Staatsrechte gegenüber kirchlicher Anmaßung erhoben ist. Die mit wütendem Haß geschilderte Gegenseite ist durch politische Laster wie Usurpation (Papst) und Aufruhr (Kardinal Langton) vertreten. Bale verwendet bis in Einzelheiten Elemente des mittelalterlich-katholischen geistlichen Spiels im Dienste reformatorischer Polemik. Die Geschichte dieses Tendenzdramas ist kurz: Es blühte unter Eduard VI. (1547-1553), wurde unter Maria (1553-1558) von katholischer Seite aufgenommen (z. B. Respublica,145 1553) und unter Elisabeth zunächst noch gefördert. Auf Einspruch der katholischen Mächte erfolgte 1559 das Verbot religiöser Themen auf der Bühne, nachdem die strengen Protestanten Elisabeth unbequem geworden waren. Damals war aber die Moralität sowieso zu Ende. Schon Bales Johann, in dem wirkliche und allegorische Figuren nebeneinander auftreten, greift zur Historic, d. h. zum säkularen Drama über. Die Moralitäten, die übrigens von ursprünglichen Freilichtaufführungen (Castle of Perseverance und noch Lindsay) in geschlossene Räume (Nature, Magnificence) verlegt wurden und mit Rücksicht auf die Schauspieltruppen ihre Personenzahl reduzierten, sind für die weitere Geschichte des Dramas wichtiger als die Misterien, denen gegenüber auch die verstechnische Schei141

ed. J. O. Halliwell, Shakesp. Soc. (1848); ed. Manly, Bd. I. ed. Dodsley-Hazlitt, Bd. II (The Marriage of Wit and Wisdom [1570], ed. J. . Halliwell, Shakesp. Soc., 1848). 143 ed. Dodsley-Hazlitt, Bd. II. 144 Dramatic Writings, ed. J. S. Farmer (1907); King John, ed. W. Bang, Bd. XXV (1909); ed. Manly, Bd. I; ed. P. Happe (s. Anm. 140).- Vgl. J. W. Harris, J. B. (Urbana, 1940); K. Sperk, Mittelalterl. Tradition u. reformator. Polemik in den Spielen J. B.'s (Hdbg., 1973). 145 ed. L. A. Magnus, EETS XCIV. 142

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düng der ernsten und komischen Teile (etwa durch Chaucerstrophe und Schweifreime) auffällt. Die Handlung selbst ist allerdings noch nicht mit den Maßstäben des modernen Dramas zu messen, aber es herrscht zum Unterschied von der lockeren Szenenfolge der Misterien ein planvoller Aufbau. An zwei Stellen verdichtet sich die Handlung: bei der Verführung und bei der Errettung. Davor liegt die Exposition, dazwischen das Lotterleben, danach die Bekehrung. Diese Gliederung hat allerdings noch nichts mit der Spannungstechnik des modernen Dramas zu tun, denn innerhalb der einzelnen Teile werden die Handlungsmotive nebeneinandergereiht: etwa in Everyman die nacheinander folgenden Auseinandersetzungen mit Fellowship, Kindred und Goods oder in World and Child die Verführung und Bekehrung des Kindes durch Mundus und Conscience, worauf sich das Spiel mit Folly und Conscience wiederholt. Eine Steigerung ist nur insofern vorhanden, als ein Verdoppeln der Anstrengungen stattfindet, etwa in Pride of Life, wo die stärkere Ermahnung des Bischofs auf die Ermahnung der Königin folgt und die Herausforderung des Todes auf die Herausforderung der Menschheit. Derartiges bezeichnet man als „gesteigerte Reihe". Dieser Reihenaufbau entsteht, als die komische Figur die Moralität zu erobern beginnt (Nebenfigur Mirth in Pride of Life) und entfaltet sich, als sie Träger der Handlung wird (Nature, Mankind). Gleichzeitig wird die strenge und etwas steife Form der ursprünglichen Moralität aufgelöst zugunsten einer Ausbildung des Gehalts: In Hickscorner nimmt die realistische Schilderung der drei Gauner Hickscorner, Freewill und Imaginacion, verbunden mit satirischen Ausfällen, den breitesten Raum ein; in Wealth and Health liegt das Hauptgewicht auf geschickten Wortgefechten sowie auf den Schwankszenen mit dem betrunkenen Flamen Hans; Skeltons Magnificence glänzt in satirischer Darstellung des ränkereichen Hoflebens und wirkungsvoller Ausmalung der Seelenzustände des ins Unglück gestürzten Helden. Gerade in diesen wirklichkeitsnahen und meist komischen Teilen, in denen zu der frei erfundenen Fabel ein der Wirklichkeit abgelauschter Dialog tritt und eine menschliche Verlebendigung der ursprünglich begrifflichen Gestalten, sieht man den Weg vom religiösen über das allegorische zum rein menschlichen Drama. Einen Schritt weiter auf diesem Wege gehen die Interludien, d. h. komische Zwischenspiele zur Unterbrechung des Festmahls oder einer Festlichkeit überhaupt, aufgeführt zwischen verschiedenen Interlocutores, die nicht Allegorien darstellen, sondern Typen, wie in der antiken Komödie. Sie sind bereits unter Eduard III. bezeugt; ein frühes Beispiel der Gattung war das fabliauartige Interludium de clerico et puella (13. Jahrhundert, s.S. 123 u. 130). Das erste regelrechte Interludium - und das erste vollständig erhaltene säkulare Spiel in englischer Sprache überhaupt -, Fulgens and Lucres^46 (ca. 1496) von HENRY MEDWALL (s. S. 211), zeigt die formale Abhängigkeit der Interludiengattung von den Moralitäten. Wie dort herrscht geordneter Rei146

edd. F. S. Boas and A.W. Reed (Oxf., 1926); ed. G. Wickham in: English Moral Interludes, EL.

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henaufbau, und zweimal - anfangs und gegen Schluß - schwillt der Strom der dramatischen Handlung an, der im übrigen als dürftiges Rinnsal dahinfließt. Auch die symmetrische Ordnung der Figuren ist dieselbe: Rechts und links die beiden Freier Gaius und Cornelius mit ihren Dienern, in der Mitte die umworbene Senatorentochter Lucrezia mit ihrer Magd. Das ergibt ein Vernunftstreiten wie in der Moralität Nature; da aber Medwall in seiner Neigung zweimaligen Herunterspielens desselben Themas einen parodierenden, wirklichkeitsnahen 'subplot' der um Lucrezias Magd kämpfenden zwei Diener der Freier hinzufügte, ist bereits die Ordnung der späteren elisabethanischen Komödie gegeben, wenn auch die organische Bindung der einzelnen Kampfschläge noch fehlt und die verbindungslose Vorlagerung der komischen Handlung eine hälftige Spaltung des Stücks bewirkt. Auf die Höhe geführt wurde die Gattung durch JOHN HEYWOOD147 (1497-1578), von dessen zahlreichen Zwischenspielen sechs erhalten sind. Drei davon gehören der Debattenart an, einem wortstreitenden Ausfechten entgegengesetzter Meinungen, dessen dramatische Möglichkeiten Heywood erst entdeckte: The Play of the Weather, The Play of Love, Witty and Witless; die drei anderen: The Pardoner and the Friar, The Four P's, John John the Husband sind Burlesken mit einer Entwicklung zum Lustspiel im eigentlichen Sinne. Die Technik der ersteren ist die aus den Moralitäten stammende gesteigerte Reihe: sowohl im Play of the Weather, in dem Jupiter die auseinandergehenden Wetterwünsche der Menschen anhört und eine schließlich zum Zank sich steigernde Debatte des Wind- und Wassermüllers, wie im Play of Love, in dem zwei Paare sich gegenseitig zu Schiedsrichtern in ihrem Wortstreit wählen, wer am glücklichsten und wer am unglücklichsten sei. Witty and Witless erreicht das Ziel des Wortstreits, daß der Gescheite im Diesseits mehr Schmerz zu erleiden habe, der Narr aber im Jenseits, nicht mehr in reihenmäßiger Anordnung der Punkte, sondern in logischem Aufbau, also mit dramatischer Spannung. In ähnlicher Weise entwickeln die Burlesken die alte Farce weiter: Pardoner and Friar, indem die Debatte zwischen den Hauptpersonen übergeht in die Rauferei mit dem Pfarrer und Nachbarn, der sie von der Kirchentür verdrängen will, The Four P's, indem die Debatte in die sich steigernde burleske Handlung eingebaut ist, und das Merry Play between John John the Husband, Tyb his Wife and Sir John the Priest, indem mit Hilfe der französischen Farce innere Einheit und Spannung gegeben wird. Dieses Spiel vom betrogenen und geprellten Ehemann ist technisch ein besseres Lustspiel als der Ralph Roister Doister (s. S. 275), der trotz seines klassischen Stoffes in den sechsfachen Annäherungsversuchen des Helden an seine Dame das alte Reihenschema noch verwertet.

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Dramatic Writings, ed. J. S. Farmer (1907); einzelne Stücke in: Brandl, DodsleyHazlitt u. Manly. - Vgl. R. C. Johnson, J. H. (N. Y., 1970).

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8. Satire und Alltag Die höfische Erzählkunst der mittelalterlichen Tradition war zerstört worden durch das Eindringen der Alltagswelt und durch die wirklichkeitsnahe Darstellungsweise, die im Widerspruch stand zu dem mehr und mehr verstiegen, ja lächerlich erscheinenden eigentlichen Dichtthema. Die neue Kunst der Renaissancezeit setzte bewußt die Alltagswirklichkeit in den Mittelpunkt, schilderte bewußt vom bürgerlichen Standpunkt aus und setzte den satirischen Zweck an Stelle irgendwelcher Ideale. Vorstufen dieser Richtung finden sich in der mittellateinischen Literatur in Satiren, die meist einzelne Berufe, z. B. Bäcker und Müller, aufs Korn nahmen und dabei typische oder schon individuelle Charakterschilderungen gaben. Englische Beispiele dieser Art sind Cocke Lorelies Boteu% (ca. 1500), eine burleske Schilderung der unteren Schichten, und das zusammenhängendere, früher Lydgate zugeschriebene Stück London Lickpenny,149 das holperig, aber lebendig die Erfahrungen eines armen Kenter Bürgers auf der Suche nach einem Rechtsbeistand in London und Westminster erzählt. Hierher gehören auch die von den lateinischen Facetiae herkommenden Schwankbücher, z. B. A 100 Mery Tales150 (1526), Sack full of News^1 (1557), Tyll Owlglass152 (Eulenspiegel, ca. 1560), The Geystes ofSkoggan151 (1565). Das Hauptwerk dieser Literatur ist das Narrenschiff 153 des Basler Rechtsprofessors Sebastian Brant (1494), das einen Welterfolg hatte und viele der oben genannten Bücher bereits beeinflußt hat. Der Vermittler dieses Werks in England war der Dominikaner ALEXANDER BARCLAY (ca. 1475-1552), der unter dem Einfluß der neuen Gelehrsamkeit bereits die Gattung der lateinischen Eklogen154 in freier englischer Bearbeitung und glücklicher Anpassung an heimisches Leben in England eingeführt hatte (gedruckt ca. 1515). Den Stoff lieferten ein lateinischer Prosabrief De curialium miseriis und die Eklogen des Mantuanus (1498 erschienen), die auch als Formmuster dienten. Damit ist schon gesagt, daß es weniger Schäfergedichte sind als moralische Satiren ; nur die fünfte, später geschriebene Ekloge hat als englische Schäferdichtung künstlerische Bedeutung. Auch der Zeit bedeuteten diese Eklogen nicht viel, das Shyp of Folys (1509) dagegen um so mehr. Barclay übersetzte wohl nicht nach dem deutschen Urbild, sondern nach der durch Auslassungen, Änderungen und Zusätze humanistischer gemachten lateinischen Übertragung von Jakob Locher (1497), wobei er durch erneute Konkretisierung dem Original wieder näherkam, wenn er auch die für diese Zwecke weniger pas148

ed. E. F. Rimbault, Percy Soc. (1842). ed. E. P. Hammond in: English Verse between Chaucer and Surrey (Durham, N. C., 1927), und in: Anglia 20 (1898), 404ff. 150 ed. W. C. Hazlitt in: Shakespeare Jest-Book (1864), 1st Series. 151 Ibid., 2nd Series. 152 Tyll Owlglass, ed. K. Mackenzie (1860). 153 The Ship of Fools, ed. T H. Jamieson (Edinb., 1874) [Auszüge in E. P. Hammond, s. Anm. 149].- Vgl. A. Pompen, The English Versions of the Ship of Fools (1925). 154 ed. B. White, EETS 175. 149

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sende Chaucerstrophe wählte. Angezogen hat ihn die moralische Wirkung des satirischen Zeitbilds. Er suchte es wirkungsvoller zu machen durch Streichung der klassischen Anspielungen, stärkere Verwendung der Allegorie und volkstümliche Verdeutlichung, wodurch er den Umfang auf das Doppelte anschwellte. Es gelang ihm, das ausländische Material völlig der englischen Umgebung anzupassen; seine Sprache zeichnet sich durch derbe und rauhe Kraft aus. Als Dichter aber steht er weit hinter seinem Zeitgenossen JOHN SKELTON155 (14607-1529) zurück, der sich seines Dichtertums so bewußt war, daß er in der Garland of Laurel (ca. 1522) nach einem Wettstreit zwischen Fama und Pallas, warum ihm der Lorbeerkranz gebühre, seine eigene Dichterkrönung besingt. Skelton war humanistisch gebildet, er war Hofmeister des späteren Heinrich VIII. und Poeta laureatus von Oxford, Löwen und Cambridge - und war doch kein Humanist. Er wandte sich gegen die neuen Männer und ihre Befürwortung des Griechischen, in dem er ein gefährliches Mittel der Bibelkritik sah und bekam dafür von William Lily die Antwort: "Doctrinam nee habes, nee es poeta." Das war richtig vom Standpunkt der neuen Wissenschaft aus, denn das Formmuster seiner Dichtungen waren nicht die klassischen, sondern die mittelalterlichen Lateiner, deren rhythmische Verse er ins Englische umbaute. Darin konnte er seine kraftvolle Persönlichkeit besser aussprechen als in den beengenden Formen der Allegorie und Moralität (s. S. 197 und 211). Seine ganze Art veranschaulicht bereits der Philip Sparrow (ca. 1505). Um das dünne Thema, daß Gyb, die Katze, den Lieblingssperling der Jane Scrope gefressen hat, rankte er die Beschreibung des Sperlings, Verwünschungen der Katze, Lob der Dame, einen Literaturkatalog, eine Vogelmesse, kurz alles, was ihm einfiel. Dies altmodische Häufen wird neuartig durch die ungewohnte und reizvolle Mischung von Pathos, Schalk, beabsichtigter Pedanterie, Ironie, groteskem Humor, Phantasie und Witz. Die Form ist dem ganz angepaßt: altmodisch durch das fehlende Empfinden für Stilreinheit und Abrundung, durch Abschweifungen und Ballast, und doch wieder modern durch das Anspruchsvolle des Dichters, für solche Arabesken die Aufmerksamkeit des Lesers zu verlangen. Der Galopp der Kurzverse mit ihrem erstaunlichen Reimreichtum vollendet den Eindruck, daß der Dichter in dieser Form sich wohl fühlt und sich gehenläßt. Geradezu meisterhaft wird dieser Dichttypus zur Beschreibung der Weiberkaschemme der Elynour Rummyng (ca. 1515?) verwendet. In unglaublich drastischer Darstellung erhebt sich die Groteske zu Rabelaisscher Sprachkunst. Die zum Schimpfen wie geschaffenen polternden Verse könnten nicht 155

Poetical Works, ed. A. Dyce, 2 Bde. (1843) [Standard]; ed. P. Henderson (41964) [modernisierter Text]; ed. V.J. Scattergood, PB; Auszüge in: E. P. Hammond (s. S. 215, Anm. 149).- Biographie von H. L. R. Edwards (1949); F. Brie, Skeltonstudien in: Engl. Studien 37 (1907), 1-86; S. E. Fish, J. S.'s Poetry (New Haven, 1965); J. M. Berdan, Early Tudor Poetry (N. ., 1920); M. Pollett, J. S.: Poet of Tudor England (1971).

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besser dem Inhalt entsprechen: Diese sog. 'Skeltonics' - unregelmäßige Kurzverse mit meist zwei oder drei Hebungen - wirken aufgrund ihres schnellen Rhythmus hastig, direkt, aggressiv. Die durch den Reim herausgestellten Worte vergegenwärtigen an sich schon diese wüste Wirtshausszene mit allerstärkster Bildkraft. Hier ist die so lange gemiedene und dann nur durch ein Hintertürchen eingelassene Wirklichkeit in nackter Derbheit und mit dem Anspruch, für sich allein als Dichtstoff zu gelten. Wie viele der holländischen Maler freut sich Skelton an dem viehischen Benehmen besoffener Bauern, was hier noch gesteigert ist, da es sich um Weiber handelt. Drei weitere zwischen 1521 und 1522 geschriebene Dichtungen Skeltons: Colin Clout, Speke Parrot, Why Come You Not to Court! sind auf bestimmte Personen gemünzte Satiren und haben den Kardinal Wolsey als Hauptangriffsziel. Das interessanteste Stück ist der „Klaus Klobig", welchen Namen Spenser als dichterischen Decknamen übernahm. Während „Warum kommst du nicht an den Hof?" eine rohe, auf bösen Klatsch gegründete Satire ist, leitet Colin seine Angriffe von Tatsachen ab - von kirchlichen Zuständen, die, weil die Kirche jedermann in jeder Handlung seines Lebens betraf, alle angingen, wodurch die Stimme Colins gewissermaßen zur Stimme des ganzen Volkes wird. Das Rahmenwerk ist überaus biegsam und geschickt. Unter dem Namen Colin Clout gibt der Dichter vor, nur das zu wiederholen, was gesprochen wird. Man kann also nicht mit ihm rechten, da er sich ja nicht für die Wahrheit des Erzählten verbürgt, und man kann nicht widersprechen, da er aus dem uneigennützigsten Beweggrunde spricht. So beißt man wütend die Zähne zusammen, während er zur Geduld ermahnt. Mit Skelton trat die Dichtung als eine geistige Macht auf, die - der Bedeutung der heutigen Presse vergleichbar - sich anheischig machte, in alle Fragen des öffentlichen Lebens einzugreifen.

9. Historiographie und wissenschaftliche Prosa Auch auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung156 brachte das 15. Jahrhundert Neues. Die lateinische Geschichtsschreibung mittelalterlicher Prägung endete mit THOMAS WALSINGHAM, dem letzten Vertreter der St.-Albans-Schule (s. S. 103). Annalistische Methode, lollardenfeindlicher, für Lancaster eingenommener Parteistandpunkt und Mangel an literarischer Form kennzeichnen seine Historia Anglican^51 und die anonymen, unter seiner Leitung des Scriptoriums entstandenen Annales Henrici Quarti.15* 156

Vgl. C. L. Kingsford, English Historical Literature in the Fifteenth Century (Oxf., 1913) [grundlegend]; F. J. Starke, Populäre englische Chroniken des 15. Jahrhunderts (Bln., 1935). 157 ed. H. T. Riley, 2 Bde., RS (1863-76); ed. V. H. Galbraith (Oxf., 1937) [The St. Albans Chronicle]. 158 ed. H. T. Riley, RS (1866).

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Dieser Darstellungsweise gegenüber zeigen die Biographien Heinrichs V. einen neuen Geist - schon durch das Thema, das die Geschichte weniger unter dem Ewigkeitsgesichtspunkte betrachtet, als um die Figur eines weltlichen Herrschers gruppiert. Allerdings ist die erste, die klar und beredt geschriebenen Gesta Henrici Quinti^59 von THOMAS ELMHAM ("f 1440), noch recht altmodisch, aber mit Humphreys Sekretär TITUS LIVIUS kam die Schule der italienischen Humanisten auch in der Geschichtsschreibung zu Wort. Seine Vita Henrici Quintim (nach 1437) bezeichnet den Bruch mit der Klosterhistoriographie, an deren Stelle das klassische Vorbild und die rhetorische Tradition getreten sind. Aber das Lateinische, das einen gelehrten Leserkreis voraussetzte, hatte um die Mitte des 15. Jahrhunderts keine Berechtigung mehr, und so erschien kurz nach 1455 ein Leben Heinrichs V. in englischer Sprache,161 das aus verschiedenen Quellen mit sorgsamer Auswahl gearbeitet ist und mit dem Bewußtsein der Lehraufgabe des Geschichtsschreibers literarischen Ehrgeiz verbindet. Es ist der erste Versuch kritischer Geschichtsschilderung in einer englischen Lesern annehmbaren Form. Fortan scheiden die lateinisch geschriebenen Geschichtswerke aus dem Gebiet der eigentlichen Literatur aus, sie sind, wenn nicht in der Methode, so in ihrem Geltungsbereich Wissenschaft in modernem Sinne. In den Privatbibliotheken des 15. und 16. Jahrhunderts sind die vom Blickpunkt des Bürgers aus darstellenden weltlichen Chroniken reich vertreten: der eine durchgehende Geschichtsdarstellung der englischen Nation von Brutus, dem Urenkel des Aeneas an erstrebende Brui™2 mit seinen vielen Fortsetzungen (dessen Endform Caxton 1480 als The Cronycles of England druckte) sowie die mit dem ersten Bürgermeister (l 189) beginnenden Londoner Stadtchroniken,163 deren beste und umfassendste The Great Chronicle of London164 (ca. 1430) darstellt. Auf diesen Werken, welche die um 1400 erlöschende geistliche Annalistik ablösen und schon vor Capgraves Chronicle of England™5 (1464) Geschichte in englischer Sprache geben, beruhen die populären Darstellungen des 16. Jahrhunderts: Hall, Stow, Holinshed, und sie sind auch nicht ohne Einfluß gewesen auf die mit Thomas Mores Geschichte Richards III. beginnende neue historiographische Schule. Brut und Londoner Chronik sind als geschichtliche und literarische Werke nicht mit der humanistisch gefärbten Historiographie zu vergleichen, aber es sind die am häufigsten gelesenen Geschichtswerke der Zeit, die ebenso für das Erwachen eines historischen Sinnes im Bürgertum Zeugnis ablegen, wie dafür, daß die Trennung von Erdichtetem und Tatsächlichem noch nicht durchgeführt ist. Es sind die letzten Geschichtswerke, die in die eigentliche 159

ed. B. Williams, Engl. Hist. Soc. (1850). ed. T. Hearne(Oxf., 1716). 161 The First English Life of Henry V., ed. C. L. Kingsford (Oxf., 1911). 162 ed. F. Brie, 2 Bde., EETS 131, 136. 163 Chronicles of London, ed. C. L. Kingsford (Oxf., 1905). 164 edd. A. H. Thomas and I. D. Thornley (1938) [Guildhall Libr.]. 165 ed. F. C. Hingeston, RS (1858). 160

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Literatur hineingehören, die selbst Literatur sind, so wie es einst Geoffreys Historia war. Verfasser und Leser gehören zur selben sozialen Schicht, den wohlhabenden Londoner Kauf leuten. Ohne besondere Schulung bemächtigte sich dieser Stand im 15. Jahrhundert der Geschichtsschreibung und behauptete sein nahezu ausschließliches Recht darauf. Große künstlerische Bedeutung darf man also nicht erwarten. Zwar zeigt der Brut in Aufbau, bedeutsamen Abschlüssen, Charakterisierung durch dialogisierte Szenen und gelegentlich pathetische Sprache ein über dem Durchschnitt der Chroniken liegendes Können, aber er ist zu großen Teilen Übersetzung. Im allgemeinen ist der Aufbau das alte Nebeneinander der geistlichen Annalistik, und es kann geradezu als das Wesen der Londoner Chronik bezeichnet werden, daß Geschichte als aus unzusammenhängenden Geschichten bestehend erzählt wird. Die Charakterisierungskunst ist gering, und auch bei den Ereignissen werden nur die äußeren, nicht die inneren Zusammenhänge dargestellt. Manches ist altertümlich wie die moralische Begründung, die für jedes Unglück eine unsittliche Tat als Ursache sucht (wofür Froissart schon den Fortunagedanken eingesetzt hatte), manches seiner Zeit gemäß wie die Malory verwandte ritterliche Färbung, die im Herrscher christliche und kriegerische Tugenden verbunden sehen will. Einiges mutet modern an, wie die ruhige Haltung, die selbst die Rosenkriege unparteiisch berichtet. Was aber diesen volkstümlichen Chroniken ihr eigenes Gepräge gibt, ist die unverhältnismäßige Ausführlichkeit, mit der das bunte Bild des damaligen Städtelebens ausgemalt ist. Aufzüge, königliche Feste, Turniere und Bankettbeschreibungen stehen derart im Vordergrund, daß sich die Chronik stellenweise wie ein Ritterroman liest oder doch als Tatsachenergänzung zu der in der Literatur fortlebenden höfisch-ritterlichen Formkonvention. Wie ein Theaterschauspiel größten Ausmaßes erscheint in der Schilderung des Brut der königliche Einzug in Paris (1431); die Rückkehr des Königs nach London wird in allen Chroniken, insbesondere der aus eigener Anschauung geschriebenen Londoner, wie eine Wirklichkeit gewordene Allegorie dargestellt. Meisterhaft ist die Vergegenwärtigung der Ereignisse bei der Hochzeit Heinrichs VI. mit Margarete von Anjou (im Brut); der literarische Höhepunkt wird erreicht bei der Hochzeit von Heinrichs VII. Sohn, Prinz Arthur, mit Katharina von Aragonien (1501): Die Chroniken beschreiben nicht mehr die Pageants, sie werden selbst zum Drama. Hier hat Thomas Mores Geschichtsdarstellung mit ihrer Einführung von Rede und Gegenrede ihre Vorstufe, wie sie auch dem beredten und erstaunlich flüssigen und leichten Stil der London Chronicle verpflichtet ist. Diese neue historische Prosa kam im 15. Jahrhundert zu der älteren religiösen Prosatradition, die, wenn auch oft ohne hervorragende Namen, eine hochentwickelte Kunst durch die Jahrhunderte fortleitete. Rolles und Hiltons Schriften blieben das ganze 15. Jahrhundert hindurch viel gelesen, die berühmten Bücher wurden wieder und wieder bearbeitet oder - wie die Legenda Aurea - neu übersetzt.

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Durch diese weiteste Verbreitung findenden Bücher war die Prosa allmählich zum Werkzeug allgemeiner Mitteilung geworden und ergriff Gebiete des Alltagslebens - Hausmedizin, Kochkunst, Anstandslehre, Angelsport usw. -, die nur deshalb eine literarische Nennung erfordern, weil sie die Ausbreitung der Prosa bezeugen. Damit war die Gefahr eines Absinkens verbunden, was die eben erst für wissenschaftliche Darstellung gewonnene Landessprache gegenüber dem Latein wieder hätte zurückdrängen müssen. Die Werke Pecocks und Fortescues wirkten dem entgegen und schufen eine wissenschaftliche Prosa. REGINALD PECOCK166 (ca. 1393-1461), zeitweilig Bischof von St. Asaph, schrieb eine Einführung in die wichtigsten Wahrheiten des christlichen Glaubens in der Form eines Gesprächs zwischen Vater und Sohn, The Donet,161 um das der Verführung durch lollardische Lehren ausgesetzte Volk durch Erklärung der Dogmen und Riten zur Rechtgläubigkeit zurückzuführen. Gegen die Angriffe auf die Geistlichkeit richtete er den Represser of Overmuch Blaming of the Clergy16* (1455), der durch ausführliche Entwicklung von Argument und Gegenargument die bedeutsamste Darlegung des religiösen Denkens der Zeit darstellt. In dieser Schrift, wie auch in dem darauffolgenden Book of Faith,m gründete Pecock seine Beweisführung einzig auf die Vernunft, so daß er selber in Gegensatz zur Kirche geriet, widerrufen und auf sein Bistum verzichten mußte; von Foxe wurde er später als protestantischer Märtyrer gefeiert. Die literarische Bedeutsamkeit Pecocks liegt in dem Versuch, eine bisher nur in lateinischer Sprache übliche, philosophische Darlegung theologischer Stoffe dem gebildeten Laientum in der Landessprache zu vermitteln. Dazu war ein neuer Wortschatz zu schaffen; damit diese erstmals englisch wiedergegebene patristische Begrifflichkeit nicht zu sehr von der Alltagssprache abstach, wählte Pecock häufig altertümliche Wendungen. Er erzielte so eine gewisse sprachliche Stilisierung, die indessen nichts mit den 'aureate terms' zu tun hat. Er bemühte sich, reines Englisch zu schreiben und ersetzte auch Fremdworte wie 'memorials' und 'theoretic' durch die Neubildungen 'mind-places' und 'beholdable'. Desgleichen ist der bei solchem Stoff natürlich anspruchsvolle Satzbau trotz gelegentlicher Wiederholungen und Pleonasmen nicht dunkel; überlange Sätze sind durchaus klar gegliedert. Daß man noch weiter gehen und statt eines schweren ein leichtes Englisch in wissenschaftlicher Darlegung anwenden konnte, erwies die gleichzeitige juristische Schriftstellerei des Sir JOHN FORTESCUEI?O (ca. 1394- ca. 1476). Er begann mit lateinischen Rechtfertigungsschriften des Hauses Lancaster und bewies in De natura legis naturae, daß die konstitutionelle der absoluten Monarchie wie auch der Republik vorzuziehen sei. Eine zweite, dieselben Ziele 166

Vgl. V. H. H. Green, Bishop R. P. (Cambr., 1945). ed. E. V. Hitchcock, EETS 156. 168 ed. C. Babington, 2 Bde., RS (1860) [mit grundlegender Einleitung]. 169 ed. J. L. Morison (Glasgow, 1909). 170 Life and Works, ed. Lord Clermont, 2 Bde. (1869); Governance of England, ed. C. Plummer (Oxf., 1885) [grundlegend]. 167

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vertretende Schrift De laudibus legum Angliae verfaßte er als Flüchtling im Ausland, wobei Heimweh manch übertriebenes Lob der heimischen Einrichtungen erklärt. Als endlich die Waffen entschieden hatten und Lancaster endgültig geschlagen war, widerrief er seine früheren Erbfolgeansichten und schrieb in englischer Sprache On the Governance of England, worin er staatspolitische Fragen im Sinne des Wiederaufbaus einer starken Monarchie zu beantworten unternahm. Gegenüber Pecock, der trotz der beabsichtigten lebendigen Wirkung mehr als Gelehrter und mit künstlerischer Besonnenheit schrieb, wirkt das Englisch Fortescues unmittelbarer. Es spricht die ernste Überzeugung des Rechtslehrers, das heiße Wollen des Patrioten aus den kurzen, einfachen, nur gelegentlich durch Metaphern geschmückten Sätzen. Wirklich große Prosa schrieb Fortescue ebensowenig wie Pecock, aber wie dieser hat er neue Bereiche und neue Wege eröffnet.

10. Der englische Frühhumanismus171 Die humanistische Blütezeit des 12. und frühen 13. Jahrhunderts war nahezu ergebnislos verebbt, weil die Humanisten weder die neuen naturwissenschaftlichen Inhalte sich zu eigen machten, noch ihre Kunst den aufkommenden landessprachigen Autoren zu vermitteln vermochten. So gab es in England in der zweiten Hälfte des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts so gut wie keinen Humanismus, und eine neue Anregung konnte nur von außen kommen. Sie kam von Italien, und diesmal blieb das fremde Gut als solches kenntlich bis ins 16. Jahrhundert, als mit Thomas Morus, George Buchanan, Richard Pace eine neue Blüte erstand. Vom Konstanzer Konzil brachte Kardinal Beaufort (•f 1447) Poggio Bracciolini nach England. Vier Jahre war er dort, voller Heimweh nach den gelehrten Freunden Italiens und ungerecht (auch in späterem Briefwechsel) gegenüber der bewundernden Anerkennung eines kleinen Kreises, der sich um Beauforts Kanzler Nicolas Bildeston und den Sekretär Richard Petworth scharte. Die Zeit für die Verpflanzung italienischer Humanisten war noch nicht gekommen; auch Beauforts politischer Gegenspieler HUMPHREY OF GLOUCESTER172 (1391-1447) hatte damit kein Glück. So kam Humphrey auf den glücklichen Gedanken, ein Patronat von ferne auszuüben und italienische Mittelsmänner zu wählen. Er beauftragte bekannte italienische Humanisten mit Aristoteles-, Plato- und Plutarch-Übersetzungen; er stellte italienische Sekretäre z. B. Titus Livius - ein und erreichte den Höhepunkt seines humanistischen Ehrgeizes mit der Ernennung Pieros da Monte zum päpstlichen Kollektor in England. Denn Piero schloß Freundschaft mit ihm, widmete ihm eine Schrift, lobte ihn Korrespondenten gegenüber und knüpfte als Mittelsmann weitere 171

Vgl. W. F. Schirmer, Der englische Frühhumanismus (Tübingen, 21963); R. Weiss, Humanism in England in the 15th Century (Oxf., 31967); A. MacLean, Humanism and the Rise of Science in Tudor England (1972). 172 Vgl. K. H. Vickers, H. o. G. (1907).

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Beziehungen, die Humphrey auch auf italienischem Boden Geltung als Mäzen verschafften. In England sorgte er durch seine Bibliothek und die Bücherschenkungen an die Universität Oxford für humanistische Grundlagen. Unabhängig davon regten sich auch an den Klöstern, insbesondere in St. Albans, Mäzenateneifer und humanistische Interessen, wofür der Abt JOHN WHETHAMSTEDE (eigentlich John Bostock, t 1465) das bezeichnendste Beispiel ist. Er sammelte humanistische Bücher, verfaßte in fleißiger Kompilation das Grananum und Pabularium, umfängliche Nachschlagewerke, die das von den italienischen Humanisten auf den Markt gebrachte antike Gut erstmals in England ordnend aufzeichnen, und schrieb von seiner Italienreise klassisch aufgeputzte, aber fehlerhafte Briefe an sein Kloster. Darin zeigt sich die Voreiligkeit dieser ganzen Humphreyschen Mäzenatenepoche: Es ging nicht an, den italienischen formal-ästhetischen Geist zu übertragen, und es war falsch, die grammatische Stufe zu überspringen; die englischen Universitäten hatten noch nicht das geeignete Publikum geschaffen. So suchte die nächste Generation die neue Bildung in Italien selbst zu lernen. Sie erreichte mehr - aber nicht in einem von England verwertbaren Sinne, denn sie fand und erwarb einen formalen Humanismus rein italienischer Prägung. Zu der humanistischen Suchergeneration gehörte JOHN TIPTOFT (ca. 1427-70), eine Gewaltnatur und ein gelehrter Schöngeist zugleich, der in Venedig und Padua mit Francesco Accolti und dem berühmten Guarino Freundschaft schloß. Er übersetzte Ciceros De amicitia und Buonaccorsos De honestale; er hielt in Rom eine lateinische Rede, deren formale Vollendung dem Humanistenpapst Pius II. Freudentränen und höchstes Lob entlockte, und stand um dieser Beredsamkeit willen als erster Engländer im Mittelpunkt der humanistisch gebildeten Welt. Da aber Tiptoft nach seiner Rückkehr in die Heimat diese schöngeistige Betätigung mit der politischen vertauschte, konnte er keine Wirkung auf den Humanismus in England ausüben. Ebensowenig tat dies WILLIAM GREY (ca. 1408-78), der später zurückgezogen inmitten seiner Bücher in seinem Bistum Ely lebte. Grey war der erste englische Kirchenfürst, für den der Humanismus mehr war als eine Mode. Er besaß die beste je von einem englischen Humanisten in Italien gesammelte Bibliothek (600 Titel), für die er ein förmliches Scriptorium beschäftigte; er schickte später von England aus JOHN FREE ("f 1465) auf seine Kosten nach Italien. Free wurde der erste englische Humanist von Beruf; nach italienischem Vorbild studierte er an mehreren Fakultäten und war an Vielseitigkeit des Wissens wie auch an formaler Beherrschung der Antike italienischen Humanisten gleichwertig. Von seinen Werken ist außer einigen Briefen und Übersetzungen nicht viel erhalten. Für England konnte er schon deshalb nicht von größerer Bedeutung sein, da er noch vor Antritt seines Bistums Bath und Wells in Rom starb. Aber dieser ganze Humanismus, der sich mit korrekten Gedichten, eleganten Reden und schön abgefaßten Briefen begnügte, war inhaltsleer. Während auf dem Festland schon von einer Verwurzelung der neuen Bildung gespro-

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chen werden kann, mußte England noch eine Generation warten. Erst als der Humanismus praktisch wurde, sich beschied, Mittel zum Zweck zu sein, wurde er in England bodenständig. Diese andere Haltung zeigte schon der Abt WILLIAM SELLING (ca. 1430-94). Italien war ihm nicht Wahlheimat, sondern Lernstätte; die Bücher kaufte er für sein Kloster, denn er wollte nicht sich, sondern sein Kloster humanistisch machen. Er griff also das Streben von Whethamstede auf, nur mit ganz anderen grammatischen Voraussetzungen und nicht mehr mit einem ästhetisch-formalen Ziel, was schon die Betonung des Griechischen zeigt. Die wirklichen Erfolge kamen mit THOMAS LINACRE (ca. 1460-1524), der sogar für die Italiener tonangebend wurde, wie seine Mitarbeit an der Aldusschen Aristotelesausgabe im Urtext bezeugt. Linacre ist das GrammatischSprachliche zur Voraussetzung geworden, und das letzte Ziel ist nicht formale Schöngeisterei, sondern das Fachstudium, in seinem Fall die Medizin. So schuf Linacre den Typus des modernen Gelehrten, und erst diese Verbindung mit dem Leben rechtfertigte den Humanismus an den englischen Bildungsstätten. Die besondere englische Zweckbindung des Humanismus zeigt der Entwicklungsgang von Linacres Freund WILLIAM GROCIN (1446-1519), der nach seinen öffentlichen Vorlesungen über griechische Sprache - den ersten an der Universität Oxford (1490) - zur Bibelexegese überging und damit den christlichen Humanismus begann. WILLIAM LATIMER (ca. 1460-1545) wurde von Erasmus schon als 'vere theologus integritate vitae conspicuus' gefeiert. Wissen, Religion, Tugend wurden unzertrennliche Begriffe, das fromme Wissen (godly learning) wurde Schlagwort, und bald war es nicht so wichtig, daß einer ein großer humanistischer Gelehrter war, die sittliche Lebensführung und die Ehrfurcht gebietende, gerade Frömmigkeit machten seinen Wert aus. Wenn Leute wie Grocin, Colet, William Lily nach ihrer Rückkehr aus Italien für das griechische Studium in Oxford eintraten und die Gegnerschaft der Partei der „Trojaner" hervorriefen (die das alte kirchliche Vorurteil der heidnischen und ketzerischen Sprache gegenüber aufrecht erhielten), so heißt das nicht, daß die griechischen Studien in ein weltliches, sondern daß sie in ein reformatorisches Fahrwasser zu kommen drohten. Es ist kennzeichnend für den englischen Humanismus im 16. Jahrhundert, daß er zum Ausgangspunkt der puritanisch-reformatorischen Bestrebungen wird.

DRITTES BUCH

DIE ZEIT DER R E N A I S S A N C E

227 LITERATUR B i b l i o g r a p h i e : Jährlich erscheinende Übersicht in: SP (bis 1969), ab 1969 in PMLA, und (seit 1961) in SEL. G e s c h i c h t e und K u l t u r g e s c h i c h t e : F. M. Powicke, The Reformation in England (Oxf., 1941); P. Hughes, The Reformation in England, 3 Bde. (1950-54); T. M. Parker, The English Reformation to 1558 (Oxf., 1950); A. G. Dickens, The English Reformation (21968) - C. W. Oman, The Sixteenth Century (1936); D. Harrison, Tudor England, 2 Bde. (1953); A. L. Rowse, The England of Elizabeth (1950); ders., The Expansion of Elizabethan England (1955); J. E. Neale, Queen Elizabeth (1934); J. B. Black, The Reign of Elizabeth (Oxf., 1956); J. Hurstfield, Freedom, Corruption and Government in Elizabethan England (Cambr., 1973); A. G. R. Smith, The Government of Elizabethan England (1976); S. T. Bindoff, Tudor England (Harmondsworth, 1950) [Pelican History of England, Bd. V] (gute knappe Darstellung). Shakespeare's England, edd. S. Lee and C. T. Onions, 2 Bde. (Oxf., 1916); Life in Shakespeare's England, ed. J. D. Wilson (Cambr., 1911), als Pelican Book (1944 u. ö.). E. M.W. Tillyard, The Elizabethan World Picture (1943); A. Lovejoy, The Great Chain of Being (Cambr., Mass., 1950); H. Craig, The Enchanted Glass (N. ., 1936); H. Haydn, The Counter-Renaissance ( . ., 1950); J. M. Bamborough, The Little World of Man (1952); L. B. Wright, Middle-Class Culture in Elizabethan England (Chapel Hill, 1953); ders. (mit V. A. Lamar), Life and Letters in Tudor and Stuart England (Ithaca, 1962). L i t e r a t u r g e s c h i c h t e : P.P. Wilson, Elizabethan and Jacobean (Oxf., 1945); C. S. Lewis, English Literature in the Sixteenth Century Excluding Drama (Oxf., 1954) [OHEL III] (ganz ausgezeichnete Darstellung); T. Brooke, The Renaissance 1485-1600, in: A Literary History of England, ed. A. C. Baugh (21967); F. P. Wilson (ed. G. K. Hunter), The English Drama 1485-1585 (Oxf., 1969) [OHEL IV, 1]; The Age of Shakespeare, ed. B. Ford (Harmondsworth, 1955 u. ö.) [The Pelican Guide to English Literature, Bd. II]; English Poetry and Prose 1540-1674, ed. C. Ricks (1970) [Sphere History of Literature in the English Language, Bd. 2]; English Drama to 1710, ed. C. Ricks (1971) [Sphere History, Bd. 3]; L. Borinski und C. Uhlig, Literatur der Renaissance (Düsseldorf, 1975) [Studienreihe Englisch]. H. Smith, Elizabethan Poetry: A Study in Conventions (Cambr., Mass., 1952); D. Bush, Mythology and the Renaissance Tradition in English Poetry (Minneapolis, 1932); M. Evans, English Poetry in the 16th Century (1955); Aufsatzsammlung: Elizabethan Poetry, edd. J. R. Brown and B. Harris (1960) [Stratford-upon-Avon Studies]; W. Weiss, Die elisabethanische Lyrik (Darmstadt, 1976) [knappe Einführung mit Forschungsberichten und Bibliographien]; weitere Literatur s. S. 245, Anm. 44. G. P. Krapp, The Rise of English Literary Prose ( . ., 1915); R. W. Chambers, On the Continuity of English Prose (21950). Lit. zum Drama s. S. 275, Anm. 1. Zur Dramenauffassung der englischen Renaissance allgemein: M. Doran, Endeavors of Art: a study of form in Elizabethan drama (Madison, 1954). D. Bush, The Renaissance and English Humanism (Toronto, 1939); W. F. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (München, 21932). A n t h o l o g i e n : s. unter den einzelnen Gattungen; größere Anthologien: The Golden Hind: An Anthology of Elizabethan Prose and Poetry, edd. R. Lamson and H. Smith (N.Y., 1942); The Renaissance in England: Nondramatic Prose and Verse of the 16th Century, edd. H. E. Rollins and H. Baker (Boston, 1954); Prose of the English Renaissance, edd. W. Hebel and H. H. Hudson (N. ., 1952); 16th Century English Prose, ed.

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Literatur

K.J. Holzknecht (N.Y., 1954); The Thought and Culture of the English Renaissance; An Anthology of Tudor Prose 1481-1555, ed. E. M. Nugent (Cambr., 1956); The Literature of Renaissance England, edd. J. Hollander and F. Kermode (N.Y./Lo., 1973) [Oxf. Anthology of Engl. Lit.] (umfassende Auswahl aus allen Literaturgattungen).

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DIE P O L I T I S C H E UND SOZIALE ENTWICKLUNG Die englische Renaissance unterscheidet sich wesentlich von den ihr in etwa entsprechenden geistigen Bewegungen auf dem europäischen Kontinent. Der Humanismus mit seiner Neuentdeckung der antiken Kultur fand in England erst verspätet Eingang und fiel zusammen mit den heftigen religiösen Auseinandersetzungen um die Begründung einer englischen Staatskirche und ihrer Lösung von Rom. Die in ganz Europa beispiellose Blüte der elisabethanischen Kultur, insbesondere der Literatur, ist das Ergebnis einer lebendigen Verbindung von Reformation, Humanismus und Renaissance auf dem Boden einer Gesellschaft, die durch politische und wirtschaftliche Erfolge zu Wohlstand und Selbstbewußtsein gekommen war. Der Aufstieg Englands zu einer führenden Handels- und Industrienation ist eng verknüpft mit der Herrschaft der Tudordynastie (1485-1603). Henry Tudor besiegte 1485 bei Bosworth Richard III., den letzten König aus dem Hause York, und setzte damit seinen keineswegs offensichtlichen Anspruch auf den englischen Thron durch. Seiner ebenso geschickten wie rücksichtslosen Politik gelang es nicht nur, weitere verlustreiche Bürgerkriege zu verhüten, sondern auch die Grundlage für ein finanziell und politisch gefestigtes Staatswesen zu legen. Die Macht des durch die vorausgehenden Rosenkriege stark reduzierten Adels wurde weitgehend gebrochen, und eine zielstrebige Steuerpolitik gab der Monarchie auch finanzielle Unabhängigkeit. Sein Sohn, Heinrich VIII. (1509-47), konnte auf diesen Erfolgen aufbauen und die Macht des Königtums weiter stärken. Er verband energischen politischen Ehrgeiz mit einer umfassenden Bildung und einem aktiven Interesse an Kunst und Wissenschaften, die von ihm stark gefördert wurden. Außenpolitisch begründete er mit seinem zunächst wichtigsten Ratgeber, Kardinal Wolsey, die lange Zeit gültige Strategie der 'balance of power' und betrieb den Aufbau der englischen Flotte. Die Notwendigkeit eines legitimen Thronerben zur Sicherung des inneren Friedens war der entscheidende Anlaß für Heinrichs mehrfache Eheschließung und, als unmittelbare Folge, die Auseinandersetzung mit dem Papsttum. Noch 1521 hatte Heinrich vom Papst für eine gegen Martin Luther gerichtete Schrift über die sieben Sakramente den Titel 'Defensor Fidei' erhalten (er wurde 1544 als erblich erklärt und ist seitdem ein Attribut des englischen Herrschers). Der Konflikt mit dem Papst entzündete sich an Heinrichs Wunsch, sich von seiner Gattin Katharina von Aragonien zu trennen und die Hofdame Anne Boleyn zu ehelichen. Die Verhandlungen um die römische Dispens zu diesem Schritt zogen sich von 1527 bis 1533 hin, da auch spanische und kaiserliche Interessen berührt waren. Das Ende war der radikale Bruch mit Rom und die Etablierung einer englischen Staatskirche mit dem König als ihrem Oberhaupt. Durch die sich anschließende Auflösung der Klöster erhielt die Krone die Möglichkeit einer Neuverteilung riesigen Landbesitzes. Ebenso wichtig war

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wohl, daß die bis dahin führende Rolle der Klosterschulen für das Bildungswesen nun von anderen Institutionen übernommen werden mußte, was zu einem wesentlich verstärkten Einfluß von Laien im Erziehungsbereich führte. Heinrichs einziger Sohn, Eduard VI. (1547-53), regierte praktisch nur als Minderjähriger; doch fällt in seine Regierungszeit das Book of Common Prayer, das bis heute die Grundlage des anglikanischen Gottesdienstes darstellt, das Verbot lateinischer Gottesdienste und ein rigoroses Bemühen, die Reformation in England durchzusetzen. Nach Eduards Tod versuchte seine Schwester Maria (1553-58) noch einmal, diese Entwicklung rückgängig zu machen und den Katholizismus wieder einzuführen. Einflußreiche Vertreter der Reformation wie Thomas Cranmer wurden hingerichtet, und durch die Heirat Marias mit dem spanischen Thronerben Philipp II. wurde eine neue außenpolitische Allianz angestrebt. Doch Marias Politik war weder vom Volk noch vom Parlament getragen und wurde von ihrer Nachfolgerin Elisabeth (1558-1603) innerhalb kurzer Zeit zurückgenommen. Elisabeth, die Tochter Heinrichs VIII. und Anne Boleyns, besaß eine eindrucksvolle klassische Bildung, Sprachtalent, Musikalität, vor allem aber einen sicheren politischen Instinkt, der eher zum geschickten Kompromiß als zu dogmatischer Konsequenz neigte. Ihre angesichts der hohen Sterblichkeit, auch innerhalb der Tudor-Familie, ungewöhnlich lange Regierungszeit erschien vielen Zeitgenossen wie ein goldenes Zeitalter. Die jungfräuliche Königin wurde zum gefeierten Symbol eines blühenden Staatswesens, dessen Stabilität freilich aufs höchste gefährdet war. Der Tod der Königin innerhalb der ersten Jahrzehnte ihrer Regierungszeit hätte das Land mit Sicherheit in einen chaotischen Bürgerkrieg gestürzt, und ihr hartnäckiges Ausweichen vor der Verehelichung, trotz vielfachen Drängens von sehen des Parlaments und mehrerer Bewerber, bedeutete, daß die Nachfolgefrage lange Zeit offen blieb. Andererseits sicherte sie sich dadurch ein hohes Maß politischer Unabhängigkeit nach innen und außen. Durch eine geschickt lavierende Außenpolitik behauptete sich das elisabethanische England unversehrt in den europäischen Kämpfen zwischen Kaiser, Spanien und Frankreich. Die immer wieder mit Frankreich paktierende katholische Opposition wurde durch die Hinrichtung Maria Stuarts (1587) ihrer letzten realen Hoffnung beraubt und durch patriotische Propaganda abgedrängt. Freilich wurden auch die konsequenten Vertreter einer kalvinistisch orientierten Reformation durch Unterdrückung zur Sektenbildung getrieben und blieben von der Staatskirche ausgeschlossen. Trotz aller religiösen Gegensätze konnte jedoch Elisabeths letztlich undogmatische und kompromißbereite Innenpolitik jahrzehntelang den inneren Frieden bewahren und sich auf eine breite Mehrheit des Volkes stützen, die von dem ungestörten Aufblühen des Handels und der Wirtschaft profitierte. Die sich ständig zuspitzenden Auseinandersetzungen mit Spanien, vor allem durch den Wettbewerb im Seehandel und in der Erschließung neuer Überseegebiete, wurde zunächst von dem vereinten Enthusiasmus des Volkes getragen. Der spekta-

Die politische und soziale Entwicklung

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kuläre Sieg über die Armada (1588), eine Invasionsflotte von etwa 130 Schiffen, war ein gefeierter Höhepunkt nationalen Selbstbewußtseins. Die nicht weniger bewundernswerten Handels- und Entdeckungsfahrten, namentlich die Weltumsegelung Francis Drakes (1577-80), wurden als glorreiche Errungenschaften verherrlicht und brachten auch wirtschaftlich erhebliche Gewinne. Gegen Ende der Regierungszeit Elisabeths scheint dieses Hochgefühl unter dem Eindruck des immer kostspieligeren Krieges mit Spanien und der dadurch bedingten wirtschaftlichen Stagnation vielfach einem Klima der enttäuschten Illusionen gewichen zu sein. Das auf dem Zusammentreffen günstiger Umstände und geschickter Taktik der Königin beruhende Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte war nur von kurzer Dauer und konnte unter ihrem Nachfolger Jakob I. (1603-25) nicht aufrechterhalten werden. Besonders wichtig für die soziale und geistige Verfassung des elisabethanischen Zeitalters war wohl die Tatsache, daß der sichtbare Aufschwung nicht nur einer exklusiven Oberschicht zugutekam, sondern daß viele daran Anteil hatten oder dies für erreichbar hielten. Der Hochadel, durch die Rosenkriege dezimiert und von Heinrich VII. politisch entmachtet, wurde von den Tudors durch Titelverleihungen und Landzuwendungen an königstreue Familien ergänzt und spielte kulturell noch längere Zeit eine wichtige Rolle, vor allem durch die Förderung von Wissenschaft und Kunst. Das adelige Patronat war für viele Künstler die wichtigste Existenzmöglichkeit, und der 'household' vieler Schlösser und Landsitze bildete oft eine fast alle sozialen Schichten einschließende Lebensgemeinschaft. Politisch gewann der Hochadel freilich nie mehr die gleiche Bedeutung wie auf dem Kontinent. Das Königtum stützte sich in England sehr viel stärker auf den niederen Landadel, der vor allem durch den ehemals klösterlichen Landbesitz zu Wohlstand gekommen war und dem viele Verwaltungsaufgaben übertragen wurden. Neben diesem Kleinadel war der eigentliche Träger der elisabethanischen Gesellschaft die große und schwer abzugrenzende Schicht der 'yeomanry', vor allem Kaufleute und Juristen mit größerem Landbesitz, zielstrebigem Erwerbssinn und Unternehmungsgeist. Durch intensive Nutzung ihres Grundbesitzes, vor allem auch der Weideflächen, erzielten sie oft bessere Gewinne als der Landadel. Ihr aktives Bemühen um Aufstieg und soziales Ansehen äußerte sich vielfach in einem regen Interesse an Bildung und Erziehung. Shakespeare und viele andere Dichter der Zeit gingen aus dieser Schicht hervor, die auch an den religiösen Auseinandersetzungen besonderen Anteil hatte und in der der Puritanismus einen besonders starken Rückhalt fand, eine reformatorische Richtung des Christentums, die, skeptisch gegen Ritus und Kirchentum, vor allem die konkrete Praktizierung biblischer Grundsätze im privaten und öffentlichen Leben zum Ziel hatte und für das englische Leben in fast allen Bereichen besonders einflußreich wurde. Der Reichtum und das Selbstbewußtsein dieser Schicht, die auch eine wichtige Klammer zwischen Stadt und Land bildete, scheint ausländische Besucher Englands immer wieder beeindruckt zu haben.

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Die bei aller festgefügten Ordnung doch verhältnismäßig durchlässige und von starken Umschichtungen in Bewegung gehaltene Struktur der elisabethanischen Gesellschaft begünstigte in hohem Maß phantasievolle Initiative und Unternehmungsgeist, wovon auf die Dauer nicht nur Handel und Manufaktur, sondern auch die Künste betroffen wurden. Ein aufschlußreiches Beispiel ist die Entwicklung des kommerziellen Theaters, die durchaus von frühkapitalistischen Prinzipien bestimmt war, aber auch die wachsende Zahl von Literaten, die nicht mehr von aristokratischer Patronage lebten, sondern sich selbst mit der Feder ihren Lebensunterhalt zu verdienen suchten. Ohne sie wäre gerade die Entwicklung der elisabethanischen Dramatik nicht denkbar.

I. DIE N I C H T - D R A M A T I S C H E LITERATUR DES 16. J A H R H U N D E R T S 1 1. Humanismus und Reformation2 Wie die Reformation erhielt auch der Humanismus im 16. Jahrhundert ein nationales, protestantisch-puritanisches Gepräge. Das gilt für Schottland, wo der als erster Latinist seiner Zeit anerkannte GEORGE BUCHANAN 3 (1606-82) lateinische Gedichte und Tragödien verfaßte und unter dem Einfluß von John Knox4 zum eifernden Protestanten wurde (Detectio Mariae Reginae und Rerum Scoticarum Historia, 1579), und das gilt in besonderem Maße für England. Der formende Geist dieser englischen Generation war JOHN CoLET5 (1467-1519). Er kam 1496 aus Italien zurück, wo er drei Jahre Anhänger der Florentiner Akademie gewesen war, an der Ficino und sein Kreis mit Hilfe der platonischen Philosophie eine großartige Einung von Antike und Christentum unternommen hatten. Aber Colets Geist hatte in dieser ästhetischen Welt keine Heimat gefunden. Nach Oxford zurückgekehrt, kündigte er nicht über Plato oder Plotin Vorlesungen an, sondern über die Paulusbriefe. Die schwache Brücke zu den Idealen der heidnischen Philosophen hatte in seinen Augen nicht viel Wert, seine Vorlesungen sind der Vorklang einer prakti1

Poetische Texte in: Johnson-Chalmers, The Works of the English Poets from Chaucer to Cowper, 21 Bde. (1810). 2 J. B. Mullinger, A History of the University of Cambridge, 3 Bde. (Cambr., 1873-1911), Bd. II. 3 Opera, ed. P. Burman (Leyden, 1725); Vernacular Writings, ed. P. Brown, STS (1892). - Biographie von P. Brown (Edinburgh, 1890). 4 ed. D. Laing, 6 Bde. (1846-64). Biographie von J. Ridley (Oxford, 1969). 5 Einzelwerke ed. J. H. Lupton (u. a. Exposition of St. Paul's Epistle to the Romans, 1873). - Biographie von J. H. Lupton (21909); F. Seebohm, The Oxford Reformers (1867) u. in EL; S. Jayne, John Colet and Marsilio Ficino (1963).

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sehen christlichen Reform; das wollte er aus den Briefen herausarbeiten. Die Leidenschaftlichkeit, mit der er unter Abwehr des Reliquienkults nach der Reinheit des Urchristentums verlangte, ließ ihn über eine 'Reformatio ecclesiae' hinausgehen. Humanist und Reformator waren identische Begriffe geworden. Sittliche Lebensführung und religiös positive Haltung sind Colets humanistisches Ziel. In dieser Umwelt genügte der religiöse Grundton, die 'pietas litterata', um auch des ERASMUS* englisches Wirken (1499, 1505, 1509-14) in Einklang mit den englischen Humanisten erscheinen zu lassen. Erasmus war der gelesenste humanistische Autor in England: das Encomium Moriae, die Adagio, die Instilutio Christiani Principis und die Colloquia standen an der Spitze der englischen Buchhändler-Verkaufslisten, und sein Novum Instrumentum von 1516 leitete die moderne Bibelforschung in die Wege. Trotzdem stand Erasmus dem englischen Humanismus fern. Fein, leicht ironisch, stets Abstand haltend, etwas gelehrt erhaben, war er mehr ruhiger Zuschauer als Reformator und nationaler Erzieher. Der einzige, der ihn wirklich verstand, in dessen Haus er eine nie vergessene Zeit verbrachte, war Morus. THOMAS MORE7 (Morus) (1478-1535) hatte sich frühzeitig für eine juristische Laufbahn entschieden, in der er schon 1511 die höchste Stellung des Vorsitzes im Amtskollegium erreichte. Daneben hatte er Zeit zu lateinischen Dichtungen und Übersetzungen (Biographie Picos von dessen Neffen) und zur Abfassung einer englischen Geschichte Richards III. Im Jahre 1515 ging er mit einer Abordnung nach Holland, um die Öffnung der flämischen Häfen für den englischen Wollhandel durchzusetzen. Das im Vergleich zu England blühende Leben der dortigen Städte, der gesunde Handwerkerstand, die krisenhafte politische Lage Europas und die damit verbundene innere Entscheidung, ob er bei seinem Beruf bleiben oder an den Hof gehen solle, regte ihn zur Abfassung der Utopia an, die ein Jahr darauf, nachdem ein durch Vespuccis Reiseberichte veranlaßter, umrahmender erster Teil hinzugefügt war, in Löwen gedruckt und veröffentlicht wurde (1516; erste englische Übersetzung von Ralph Robinson 1551). Von da ab gehörte More ganz dem öffentlichen Leben, er war Mitglied des Privy Council, begleitete den König nach Frankreich, wurde geadelt, Schatzmeister der Krone und endlich Kanzler (1529-32). Er wurde beauftragt, Tyndales Streitschriften zu beantworten, verOpera, ed. Le Clerk, 10 Bde. (Leyden, 1703-06); Opus Epistolarum, ed. P. S. Allen, 12 Bde. (Oxf., 1906-58); Auswahl ed. P. S. Allen (Oxf., 1908); ed. W. Köhler (Lpzg., 1938) [dtsche. Übers.]). - Englische Übersetzungen: Praise of Folly, ed. P.S. Allen (1913); Colloquia, ed. de Vocht (1928). - J. Huizinga, Erasmus (Basel, 1924). 7 Yale Edition of the Complete Works (New Haven, 1963ff.) [i. E.]; Selected Works, ed. E. Surtz (New Haven, 1964); Utopia, ed. J. H. Lupton (Oxf., 1895) [mit Robinsons Übersetzung]; EL; deutsche Übers, von G. Ritter mit Nachwort von E. Jäckel (Stuttgart, 1964) [Reclam]. Correspondence, ed. E. F. Rogers (Princeton, 1947); Neue Briefe ed. H. Schulte Herbrüggen (Münster, 1966); Selected Letters, ed. E. F. Rogers (New Haven, 1961). - Biographie von R. W. Chambers (1935); W. H. Donner, Introduction to Utopia (1946); J. H. Hexter, M's Utopia: The Biography of an Idea (Princeton, 1952).

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weigerte aber dann den Suprematseid und wurde hingerichtet. Seine Weltgeltung erringende Utopia ist ebenso bedeutend durch die künstlerische Formung, gedrängten Stil, Ausgeglichenheit der Teile, Bindung des vielfältigen Inhalts durch die Gesprächsform, die auch eine wirkliche Person - Petrus Gillius - einführt, wie durch den umstürzenden Inhalt, der unter anderem die religiöse Duldung befürwortete und den Staat als menschliche Schöpfung erklärte. Das Gesellschaftsleben des Fabellandes Utopia baut sich auf der Gütergemeinschaft auf; die Staatsform ist die Republik, denn der König Utopus verschwand wie Lykurg, nachdem er eine Verfassung gegeben hatte. Kriege soll es nicht geben; werden sie von anderen Völkern aufgedrängt, so mieten die Utopier Söldner und bringen durch Bestechung Zwietracht ins feindliche Lager. Um Spaltungen im eigenen Land zu vermeiden, bestimmte Utopus, daß jeder die Religion bekennen dürfe, die er wolle; nur die Unsterblichkeit und die Vorsehung dürfe man nicht leugnen. Der Anklang an Plato ist deutlich; nur die soldatische Einschätzung des platonischen Bürgers ist geändert, und statt der Übungen in der Palaestra werden Bücher, Musik und geistiger Wettkampf befürwortet. Diese Änderungen verraten Mores eigene Ansichten; anderes aber, wie die Beseitigung aller Rangunterschiede und die wenigstens angedeutete platonische Frauengemeinschaft, entspricht nicht Mores Überzeugung. Die Utopia hat mithin ein Doppelgesicht; einerseits ist sie geschrieben, um die dem englischen Staat drohenden Gefahren aufzuzeigen, andererseits als geistreiches Spiel, das humanistisch gebildete Leser ergötzte - nur diese konnten die griechischen Anspielungen der Namen verstehen: Utopia ( ) = Nirgendsland; der Sprecher Hythlodaye ( ) = Erzähler müßiger Geschichten; die Nachbarn Achorii ( ) = die keinen Platz auf der Erde haben; der Fluß Anydrus ( ) = wasserlos usw. - Ein weiteres Publikum hatten dagegen die englischen Schriften im Auge, die kraftvollen, aber etwas sorglosen, im Satzbau oft unübersichtlichen Streitschriften gegen Tyndale und vor allem die History of Richard III. Ähnlich Polydore Virgilios Anglica Historia* (nach 1502, erschienen 1534), deren Latein aber dem breiteren Publikum erst übersetzt werden mußte (zuerst von Grafton 1543), ist hier nicht eine Tatsachenzusammenstellung, sondern ein planvolles Ganzes, eine fortlaufend lesbare Darstellung angestrebt. Was der Translator of Livius' einleitete, ist hier vollendet, es ist der Anfang der modernen Geschichtsschreibung. Auch die Sprache ist Kunstwerk; klar, lebendig, die rhetorischen Mittel beherrschend und hervorragend in der dramatischen Rede, bringt sie die große Tradition der religiösen Prosa aus dem Kloster in die Öffentlichkeit und begründet eine biographische Schule, die in dem katholischen Kreise der William Rasteil, William Roper, Nicholas Harpsfield (·}· 1575, Life of More9), George Cavendish (Negotiations of Thomas "ed. D. Hay (1950, mit Übers.). Roper, ed. E. Hitchcock, EETS 197; Harpsfield, ed. E. V. Hitchcock, EETS 186 (mit wichtiger Einleitung von R. W. Chambers); Ba.Ro., Life of More, ed. E. V. Hitchcock, EETS 222. - M. Schutt, Die englische Biographik der Tudorzeit (Hamburg, 1930).

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Wolsey™, ca. 1555) die antiken Viten wieder aufleben ließ. Mores Biographie Richards III. wurde auch deshalb für die Folgezeit bedeutsam, da sie das lange Zeit vorherrschende, auch von Shakespeare übernommene Bild des Königs als eines macht- und mordgierigen Ungeheuers entwarf, das doch wohl stärker die politischen Interessen der Tudors als die historische Wahrheit widerspiegelte. Daneben bestand ein mehr pädagogisches Prosaschrifttum der protestantischen Cambridger Humanisten, das über Thomas Lupset11 ("f 1530) auf Colet zurückgeht. Es wurde eingeleitet durch THOMAS ELYOTS (1490-1546) Governour12 (1531), einen Fürstenspiegel, wie er seit Castigliones Cortegiano (1528, übersetzt von Sir Thomas Hoby 1561) zum guten Ton gehörte. Elyots Werk ist jedoch nicht platonisch-schöngeistig, sondern betont, wie bereits Johannes Vives (De Institutione Christianae Feminaen, 1523) und Erasmus (Institutio Principis Christiani, 1516) eine ethische Haltung, die Christentum und Stoa zu einem religiösen Humanitätsideal verband. Elyots Tugendbegriff beruht auf den inneren Vorzügen, nicht auf Rang und Geburt. Elyot befürwortet Malen, Schwimmen, Reiten, Fechten, ja sogar Musik und Tanz, doch soll die Körperertüchtigung der Ländesverteidigung dienen, und die übrigen Künste gelten als Erholung von ernsteren Studien. Die klassische Schulung ist bei Elyot stark fühlbar, wie er auch in der Disputation Platonike™ (1533) erstmals einen nicht entstellten Platonismus bot; die Betonung des Christlichen will in erster Linie Abwehr sein gegen befürchtete schlechte Einflüsse der modischen Italienreisen. In Italien, wo die Lehren Pomponazzos und das Leben Aretinos böse Beispiele waren, wird der Engländer nach Aschams Worten ein Epikur in seiner Lebensweise und ein Atheist in seinem Denken. Sir JOHN CHEKE IS (1514-57), der leitende Geist dieser Cambridger Humanistengeneration, so wie Colet es in Oxford gewesen, beweist, wie sehr der Humanismus national und protestantisch geworden war. Chekes Verdienst als Gelehrter ist der Nachdruck, mit dem er den Unterricht des Griechischen förderte, als Engländer spricht er in dem Heart of Sedition (1549), als Protestant vertrat er den Geist der The Germans' genannten Reformatoren Barnes, Coverdale, Tyndale, Hugh Latimer, die sich im White Horse Inn zur Lutherlektüre versammelten. Sein Wirken fand Ausdruck in den Werken seines Schülers ROGER AscHAM16 (1515-68), der als Hofmeister Jane Greys und der zukünftigen Königin Elisabeth großes pädagogisches Ansehen genoß und durch seine Platovorlesungen ihm ein würdiger Nachfolger war. Sein meist lateinischer Briefwechsel mit festländischen Gelehrten (insbesondere Johan10

ed. I. Gollancz (1899) [Temple Classics]; ed. C. Campden (1930). Life and Works, ed. J. A. Gee (New Haven, 1928). 12 ed. H. H. S. Croft, 2 Bde. (1883); EL.- S.E. Lehmberg, Sir T.E. (Austin, Texas, 1961); J. M. Major, Sir T. E. and Renaissance Humanism (Lincoln, Nebr., 1964). 13 Übersetzt in: F. Watson, V. and the Renaissance Education of Women (1912). 14 ed. Schröder in: Platonismus i. d. engl. Renaissance (Bln. 1920) [Palaestra]. 15 Über Cheke vgl. W. L. Nathan (Diss. Bonn, 1928). 16 Works, ed. J. A. Giles, 3 Bde. (1864/5); English Works, ed. W. A. Wright (Cambr., 1904); Schoolmaster, ed. L. V. Ryan (1968). - L. V. Ryan, R. A. (Stanford, 1963). 11

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nes Sturm), denen er auf einer Deutschlandreise nahegekommen war, ist das erste Beispiel durchgeführter Briefkunst; aber sein Eigentlichstes gab er in den englisch geschriebenen Werken Toxophilus (1545), in dem er das Bogenschießen als nationalen Sport neu zu beleben versuchte, und The Schoolmaster (1570 postum). In der ihm eigenen persönlichen Art, seine Gedanken vorzutragen, seine Erfahrungen und Erinnerungen einzuflechten, hat dies Erziehungsbuch, das weit über den Titel hinaus an allen Tagesfragen Anteil nimmt, die frische Natürlichkeit und Unmittelbarkeit seiner Briefe. Die stets zitierten Stellen gegen den Versroman und Morte d'Arthur, der nur Mord und Ehebruch lehre, dürfen nicht nur als Entrüstung einer puritanischen Moral verstanden werden, sie zeigen auch die künstlerische Schwäche eines die Vernunft allein gelten lassenden Humanismus, der in seiner Begeisterung für die Antike die einheimische ältere Kunst geringschätzte und keinen Finger rührte, um der protestantischen Bilderzerstörung Einhalt zu tun oder die dem Verfall anheimgegebenen kirchlichen Bauwerke zu erhalten. Dabei suchte man das Engländertum in den Vordergrund zu stellen, und, wie es der Pädagoge RICHARD MULCASTER in seiner Elementarie^1 (1582) verlangte, eine der Antike ebenbürtige, englische Prosa zu schreiben. THOMAS WILSONS Arte of Rhetorique™ (1553), eines der gelesensten Bücher der Zeit, bemühte sich, Ciceros und Quintilians Regeln auf den englischen Stil anzuwenden und eine Kunstprosa zu lehren, die durch Vergleiche, Metaphern, Parallelismen und Antithesen den Gedanken allseitig beleuchtete und durch logische Gliederung des Ganzen der Beredsamkeit Überzeugungskraft verlieh. Der erste, der diesen Stil anwandte, war Elyot, dessen Doctrine of Princes, made by the noble oratour Isocrates (1534) auch die Herkunft andeutet. Der Satz soll kunstvoll gegliedert und durch schmückende Adjektive belebt sein. Ascham ergänzte die etwas gleichförmige Parallelschaltung Elyots durch Antithesen, die jeweils einen Satz in zwei Hälften teilen, und verwandte zur Verstärkung des Eindrucks die lateinischen durch „und" verbundenen Doppelepitheta. Wilson endlich gab die Zusammenfassung der humanistischen Prosa; er stand derart unter dem Einfluß der Quintilianischen De institutione oratoria, daß er kein natürliches Englisch mehr zu schreiben vermochte. Diese englische Humanistenprosa hat die Ausdrucksweise der gesamten Literatur der Zeit beeinflußt, sie ist im sogenannten Euphuismus (s. S. 267) zu einer eigenen Manier weiterentwickelt worden. Nur die Reformatoren, die sonst doch den Humanisten nahestanden, hielten sich bemerkenswert unabhängig, denn sie wollten sich der Sprache des Volkes annähern.19 WILLIAM 17

ed. E. T. Campagnac (Oxf., 1925). ed. G. H. Mair(Oxf., 1909). 19 Reformationsprosa: Tyndales Übers, d. N. T, ed. F. Fry (1826); ed. H. Wallis (1937); Works, ed. G. E. Duffield (Philad., 1965); Traktate, ed. Parker Soc. 1848-50; Auswahl, ed. S. L. Greenslade (1938). Biographie von J. F. Mozley (1937). - Coverdale, ed. G. Pearson: Writings 1844, Remains 1846 (Parker Soc.). - Authorized Version, ed. W. A. Wright, 5 Bde. (Cambr., 1909) [Facsimile, ed. A. W. Pollard (1911)]. - The English Hexapla exhibiting the six important English translations of the N. T. Scriptures (Wiclif 1380, Tyndale 1534, Cranmer 1539, Geneva 1557, Anglo-Rhemish 1582, 18

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TYNDALE (1484-1536), der in dem Kreis der Cambridger Reformatoren die Anregung zu einer Bibelübersetzung aus dem Urtext erhalten hatte, übertrug mit mehreren Helfern das Neue Testament, das er 1525 in Worms drucken ließ, woran sich der Streitschriftenkampf mit Thomas More anschloß. Die darauf unternommene Übersetzung des Pentateuchs - sie erschien 1530 in Marburg - zeigt aber die Grenze seines Vermögens; denn seine griechische Gelehrsamkeit half ihm nicht fürs Hebräische, er mußte auf Wiclif fußen und wurde von MILES COVERDALE (1488 bis 1568) unterstützt. Coverdale brachte 1535 im Auftrag von Thomas Cromwell eine vollständige Bibelübersetzung heraus, die jedoch gleichfalls nicht auf den Urtext gegründet war, sondern auf lateinische Fassungen, die er durch Zutaten aus Wiclif, Luther und anderen besserte. Von da datieren die großen Bibelübersetzungen, die im Gegensatz zur deutschen Bibel Luthers nicht mehr das Werk eines Mannes sind, sondern das Werk einer Arbeitsgruppe. Bischof Cranmer teilte im Auftrag der Convocation die alte (Wiclifsche) Version des Neuen Testaments in zehn Teile, die je einem Bischof oder Gelehrten zur Überarbeitung gegeben wurden. Vermutlich verfuhr er mit dem Alten Testament ebenso. Das Ergebnis war die sogenannte Great Bible vom Jahre 1539, die für den kirchlichen Gebrauch maßgebend sein sollte. Sie wurde unter der Regentschaft Marias verboten. Da auch die puritanische Richtung mit ihr nicht einverstanden war, beschlossen Coverdale und drei Gelehrte 1558 in Genf eine neue Bearbeitung, die als Geneva Bible (1560) größte Verbreitung in England erlangte. Gegen deren puritanische Auslegungen erschien wiederum eine neue Version, die von Bischof Parker redigierte Bishops' Bible von 1568, die indessen nicht dieselbe Verbreitung erlangte. Obwohl alle diese Fassungen nicht allzusehr voneinander abweichen, war ein solches Nebeneinander unerträglich, da für den Protestantismus das Bibelwort die Grundlage des Glaubens bildete und die Laien demgemäß eine verläßliche Übersetzung brauchten. So beschloß die Hampton Court Conference (1604) die Herstellung einer völligen Einheitlichkeit und bestimmte 46 Gelehrte, die in sechs Gruppen in Westminster, Oxford und Cambridge unter dem Vorsitz von Lancelot Andrewes die als Grundlage gewählte Bishops' Bible überarbeiteten. Das Ergebnis ist die für die Folgezeit in England maßgebende Authorized Version von 1611. Die Schwierigkeiten einer Bibelübersetzung, wenigstens des Alten Testaments, beruhen darauf, daß Vorstellungswelt und Ausdrucksmittel des jüdischen Volkes verschieden sind von denen der westlichen Völker, daß insbesondere das so stark zum Ausdruck kommende Nationalbewußtsein bei der doch geforderten wortgetreuen Übersetzung nur schwer dem Engländertum angepaßt werden konnte. Dadurch wurden die zu bewältigenden Schwierigkeiten der Phraseologie, des bildlichen Ausdrucks, der „poetischen" Sprache zugleich auch zu einer Schwierigkeit des Sinnes. Auf der Authorized 1611), ed. S. Bagster (1841); jetzt ersetzt durch: The New Testament Octapla, ed. L. A. Weigle (N. Y., 1962) [enthält noch die Revised Version (American) von 1901 u. die Revised Standard Version von 1952]. Vgl. F. F. Bruce, The English Bible (1961).

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anderen Seite war die Bibel einer Übersetzung zugänglicher als Poesie im allgemeinen, denn die poetische Form der Bibel besteht nicht in Versen im westlichen Sinn, sondern in übersetzbaren Parallelismen, Synonymen, Antithesen oder ergänzender Erklärung und Wortwiederholung. Auch der auf dem Ton der Hauptworte beruhende große Rhythmus der hebräischen Verse war übertragbar, was schon des Hieronymus Vulgata erwies. Die Schwierigkeit war nur, eine Sprache zu finden, die zugleich einfach und erhaben war. Wenn Tyndale auch bei weitem nicht die sprachschöpferische Kraft Luthers besaß, so hat er doch gemeinsame Möglichkeiten der hebräischen und englischen Sprache herausgefühlt, eine vertraute und ehrwürdige Bildlichkeit und Rhetorik, wie sie auch in der Sprache der verschiedenen Fassungen des Book of Common Prayer20 (1549, 1552, 1559, 1662) zum Ausdruck kommt. Jede spätere Bibelübersetzung hatte den Vorteil der Wahl zwischen den Wendungen der früheren Fassungen, und es ergab sich eine eigene biblische Sprache innerhalb des Englischen, an der wie an einer mittelalterlichen Kathedrale viele Generationen gebaut hatten. Denn weder zur Zeit der einzelnen Übersetzungen und Revisionen, noch zu irgendeiner anderen Zeit ist das Bibelenglisch Literatursprache oder Umgangssprache gewesen. Dieses Ineinanderbauen der Sprache von Jahrhunderten erhielt die Ursprünglichkeit, den Reichtum und die Frische und verfiel nicht dem Erstarren und Vertrocknen eines zeitgebundenen Literaturstils. Der Einfluß dieser Bibelsprache auf die Dichtung ist unabschätzbar, und zahllose Wendungen sind in der Alltagssprache so heimisch geworden, daß ihre biblische Wurzel nicht mehr gefühlt wird (highways and hedges, clear as crystal, arose as one man, lick the dust, broken reed, root of all evil, a word in season, heap coals of fire und anderes mehr). Diese weit über die Literatur hinaus wirkende Ausstrahlungskraft der Authorized Version erklärt sich vor allem daraus, daß die Bibel jahrhundertelang das weitaus am meisten gelesene und (im Gottesdienst und der kirchlichen Verkündigung) gehörte Buch der englischen Sprache war, und dies in praktisch allen Schichten des Volkes, gerade auch denen, die mit Dichtung und „schöner" Literatur kaum in Berührung kamen. Einer zu weit gehenden Biblisierung der Sprache, wozu puritanische Kreise neigten, trat, als heilsames Gegengewicht, die von Bacon eingeleitete Prosa der Royal Society gegenüber. Auch die Predigtprosa ist nicht Umgangssprache des Volkes, dazu trug sie zuviel alte Tradition mit sich. Das Predigtmaterial und die seit der Patristik übliche Methode, in Anpassung an die klassische Oratio, ein großes Thema in dauernder 'expositio', d. h. mit allen eindringlich machenden Rede- und Stilfiguren, wirksam darzulegen, waren Jahrhunderte hindurch gleich geblieben. Da aber solche Kunst die Predigt von dem ursprünglichen Zweck der Rhetorik, der Wirksamkeit auf die Masse, etwas entfernte, so findet sich immer da ein Neu-Hinwenden zum Volkstümlich-Einfachen, wo ein reformatorisch 20

ed. E. C. S. Gibson (1910), EL. Verschiedene Versionen zwischen 1549 und 1667 in: E. C. Ratcliff, The Book of Common Prayer (1949).

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gestimmter Geist den Anklang bei der Masse brauchte. Das war bei Wiclif der Fall und wiederholte sich bei HUGH LATiMER21 (1485-1555), einem aufrechten Manne, der in einer Zeit wechselnden Glaubens nach seiner Überzeugung zu predigen wagte. Es sind Predigten ohne Dogma und Theologie; ihr Gewicht liegt auf der praktischen Sittenlehre, die Latimer durch einen Stil voller Fragen, Ausrufe, direkter Anreden und eingefügter Geschichten eindringlich machte. Die oft aus dem eigenen Leben gegriffenen Beispiele und Fabeln sind nicht schmückend, sondern als Gehalt dem übrigen Gehalt untermischt. Sie sind ziemlich breit erzählt und volkstümlich im Tone eines Ich-Du-Verhältnisses gehalten. Nur wenn er vor dem Könige Eduard VI. predigte, war sein Stil gewählter und näherte sich der humanistischen Kunstprosa; aber selbst hier bewahrte die leidenschaftliche Liebe zur Sache vor einem Übermaß rhetorischer Kunst. Auch ein anderes Werk leidenschaftlicher Prosa verzichtet weitgehend auf sprachlichen Schmuck: JOHN FOXES (1516-87) Actes and Monuments12 (1563), die Zusammenstellung der Schicksale der protestantischen Märtyrer (gewöhnlich Book of Martyrs genannt). Es ist das nach der Bibel meistgelesene Buch, das wie kein anderes den Papsthaß in England verbreitete, eine Riesenflugschrift in dieser an religiösen Flugschriften reichen Zeit. Gerade bei derartigen Kampfschriften kam es darauf an, die Sprache so wirkungsvoll wie möglich zu gestalten, und in mehreren der großen Streitigkeiten wurden anerkannt gute Stilisten verwendet. Beispiel dafür ist schon die More-TyndaleKontroverse23, in der More den platonischen Dialog zu einseitigem Angriff umzubilden versuchte; dann der große Marprelatestreit24, eine theologische Auseinandersetzung zwischen den Anglikanern, den „Prälaten", und den puritanischen „Prälatentötern", die ein gewisser Martin mit der Epistle 1588 eröffnete. Bischof Cooper antwortete im nächsten Jahr mit einem umfangreichen gelehrten Buch (Admonition to the people of England), das gegenüber den kurzen, schlagfertigen, witzigen und auch den niederen Scherz nicht scheuenden Streitschriften Martins (besonders Epitome; Hay any Work for Cooper; Theses; Just Censure of Martin Junior) wirkungslos war, so daß der Bischof durch einen berufsmäßigen Schriftsteller, Thomas Nashe, ersetzt werden mußte. Das alles liegt eigentlich unter dem Bereich der Literatur. Nur RICHARD HooKER25 (1554-1600), der größte Prediger und theologische Schrift21

Sermons, ed. G. E. Corrie, 2 Bde. (1844-45) [Parker Soc.], auch in EL; Selected Sermons, ed. A. G. Chester (Charlottesville, 1968). 22 ed. J. Pratt, 8 Bde. (1877); ed. G. Towensend, 8 Bde. (N.Y., 1965). - J. F. Mozley, J. F. and his Book (1940). Essays zu J. F. in: Six Makers of English Religion, 1500-1700, ed. G. Rupp (1957). 23 More, Dialogue concerning Tyndale, ed. W. E. Campbell, 1927 (Facs.) and Answer to T. M's Dialogue, Parker Soc. (1850). - W. E. Campbell, Erasmus, Tyndale, and More (1949). 24 Marprelate Tracts, ed. W. Pierce (1911) [vgl. CHEL III, Kap. 17]; W. Pierce, An Historical Introduction to the Marprelate Tracts (1908). Aufsätze zu Martin Marprelate in PMLA LVIII (1943) und SEL X (1970). 25 Complete Works, edd. R. W. Church and F. Paget, 3 Bde. (1883-88); Laws of Eccl. Pol. in EL, und ed. R. Aaron ( . ., 1973). - Vgl. W. S. Hill, Studies in R. H. (Cleveland, 1972).

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steller der elisabethanischen Renaissance, erreichte eine über seine Zeit hinausgehende Bedeutung. Sein berühmtes, gegen die puritanischen Angriffe gerichtetes Buch Laws of Ecclesiastical Polity (1593) führte wieder in die Nähe der Humanisten. Die Diktion und besonders der Wortschatz sind stark latinisiert; das gewollte, Anstrengung verratende Streben nach Würde und Großartigkeit kommt zur Entfaltung im langen und zugleich gedrängten Satz, den die klassische Beredsamkeit als Ideal der hohen Rede aufstellte. Erstmals ist hier englische Prosa mit antiker in eine Reihe gestellt. In der Predigt, die ja stärker das Gefühl anspricht, sind seine Sätze kürzer; sie erweisen aber, daß der damalige Hörer auch von der Predigt formale Werte verlangte. Die sorgsam gegeneinander ausgewogenen Satzteile und die sichere Anwendung aller rhetorischen Kunstregeln stellte eine neue große Predigtprosa dar, in der eine große Seele Ausdruck fand; sie war wegweisend für die Predigt der Zukunft und ein Prüfstein, an dem alle zukünftige Kanzelberedsamkeit zu messen war. An einen weiteren Leserkreis wandten sich die vom humanistischen zum volkstümlichen Prosaschrifttum überleitenden Chroniken, die oft Werke mehrerer Verfasser vereinen. So zeigt EDWARD HALLS Union of the Families of Lancaster and York (1542) im ersten Teil gelehrte Haltung, rhetorischen Stil und auf Polydore Virgilio hinweisende Charakterbilder, während« der spätere, von Heinrich VIII. handelnde Teil natürlicher geschrieben ist und reich an farbigen Festbeschreibungen wie einst die Stadtchroniken. Vielleicht ist Richard Graf ton, der Herausgeber der zweiten Ausgabe (1548), der auch ein Abridgement of the Chronicles of England26 (1562) schrieb, als Verfasser dieses vom Standpunkt eines Augenzeugen berichtenden zweiten Teiles anzusehen. Auch RAPHAEL HOLINSHEDS umfassendere, aber nicht kritischere Chronicles of England, Scotland and Ireland21 (1577) sind Ergebnis der Zusammenarbeit mehrerer Verfasser, von denen William Harrison wegen seiner lebendigen Description of England2* hervorzuheben ist. Derartige Beschreibungen, die wie die Dekkerschen Schriften späteren Geschlechtern ein Bild des wirklichen englischen Lebens zur Zeit Shakespeares vermitteln, waren beliebt, wofür JOHN STOWS vorzüglicher, seinen eigentlichen Chroniken (1565 und 1580) überlegener Survey of London29 (1598) ein Beleg ist. John Stow und John Speed (Historie of Great Britaine30, 1611) sind die bürgerlichen Entsprechungen der gelehrten, lateinisch schreibenden 'Antiquaries', die gewissermaßen eine Bestandaufnahme versuchten. Als solche sind JOHN LELAND und WILLIAM CAMDEN zu nennen, ersterer als Verfasser der auf einer 1534-43 unternommenen Reise gesammelten Altertümerbeschreibung (Itin26

ed. H. Ellis (l809). 6 Bde. (1807-08); Teile ed. R. S. Wallace (1923); Auszüge in EL; vollständige Ausgabe der Chroniken v. Holinshed, E. Hall und R. Grafton, ed. H. Ellis, 6 Bde. (1807-08). 28 ed. F. J. Furnivall, 4 Bde., New Shakespeare Soc. (1877-81). 29 ed. C. L. Kingsford, rev. edn., 2 Bde. (Oxf., 1927). 30 Letzte Ausgabe 1650. 27

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erary31, publ. 1710) und der Collectanea32 (publ. 1715), letzterer als Verfasser der ebenfalls auf Reisen zusammengetragenen Britannia^ (1586) und der Rerum Anglicarum et Hibernicarum Annales34 (1615), die von Philemon Holland übersetzt wurden. Die Chroniken Halls, Graftons und Holinsheds sind besonders aufschlußreich als Zeugnisse für ein neu entwickeltes Geschichtsbewußtsein, eine engagierte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, aus der Nutzen für das eigene politische und moralische Verhalten gezogen werden sollte. In diesem Sinne haben die Chroniken wesentlich zur Herausbildung des englischen Geschichtsdramas beigetragen. Dabei wird die jüngere Geschichte ganz im Sinne der herrschenden Dynastie als eine Serie von Bürgerkriegen beschrieben, die durch die glorreiche Epoche der Tudors beendet wurde. Der Titel der Chronik von Hall ist in diesem Lichte zu verstehen (die zwischen den Familien York und Lancaster ausgetragenen Rosenkriege wurden durch den Sieg Heinrichs VII. über Richard III. abgeschlossen).

2. Kritik und Übersetzungen Die von den Humanisten zum Maßstab erhobene Antike führte zu einer Auffassung von Wert und Aufgabe der Dichtung, die zwar die Voraussetzung der späteren Literaturkritik bildete, aber den gleichzeitigen dichterischen Schöpfungen nicht gerecht wurde. Denn die dichterfeindlichen Äußerungen bei Plato (am ausführlichsten im Staat) drängten die Theoretiker von vornherein in die Verteidigungsstellung einer Rechtfertigung der Dichtung, die man nach antikem Vorbild in der lehrhaften Absicht sah. Die antiken Philosophen (außer Aristoteles) hatten die Dichtung nach ihren moralischen Zwecken erklärt, und die Spätantike fügte die allegorische Deutung der homerischen Epen hinzu, die den religiös nicht mehr annehmbaren, vermenschlichten Olymp entgöttlichte. Man erklärte die Gottheiten als Menschen, die sich als Krieger oder Wohltäter ausgezeichnet hatten und die deshalb wie Götter verehrt wurden (euhemeristische oder historisch-politische Deutung), oder man nahm die homerischen Epen als allegorische Lehrbücher der Lebensweisheit, die die einzelnen Tugenden in den auftretenden Personen verkörperten (rationalistisch-moralische Deutung), oder endlich faßte man die Dichtung als ein Geheimwissen, das beispielsweise durch die Fesselung der Götter, den Sturz des Hephaistos, den Ehebruch des Ares die stoische Elementenlehre sinnbildlich vermitteln wollte (mystische Deutung). Diese Deutungen, die wegen ihrer entheidnisierenden Richtung auch der Kirche genehm waren, hat Boccaccios De genealogiis deorum dem Renaissancehumanismus Italiens und damit auch Englands vermacht, wobei oft eine weitere Senkung ins Verstandesmäßige und platt Moralische statthatte. So 31

ed. L. T. Smith, 5 Bde. (1906-10). ed. Hearne (1715). 33 ed. R. Gough, 4 Bde. (1806). 34 Letzte Ausgabe 1688 (Übers, v. R. Norton). 32

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erklärte Thomas Wilson die Orpheusmythe als Rückrufung ausschweifender Menschen zur Ehe, die Herkulesarbeiten als einen Sieg der Vernunft über die Leidenschaft, die Ikarusmythe als eine Warnung, nichts über die Kräfte Gehendes zu versuchen. Alle englischen Theoretiker sahen in solchem Enträtseln der Poesie die eigentliche Absicht des Dichters und nahmen folglich das Dichtwerk als ein in gefälliger Form dargebotenes Lehrbuch der Lebensphilosophie. So befremdlich solche Absichten scheinen, sie ermöglichten auch religiös und moralisch strengen Geistern die eingehende Beschäftigung mit den sinnenfreudigsten antiken Dichtwerken und führten zu einer literarischen Kritik35, die sich, wenn auch in einigem Abstand, an J. C. Scaligers aristotelische (1561) und Minturnos platonische Ars poetica (1564) anreiht. Den unmittelbaren Anlaß zu dieser kritischen Tätigkeit gab der puritanische Theaterstreit, der mit Stephen Gossons The School of Abuse36 und Thomas Lodges Entgegnung A Defence of Poetry, Music and Stage Plays (beide 1579) begann und erst spät mit Prynnes ungeheurem Histriomastix (1633) seinen Abschluß fand. Die Haltung der Puritaner dem Theater gegenüber war eine grundsätzlich ablehnende. Die Verteidiger, die das Ansehen des antiken Theaters ins Feld führten und betonten, daß die englische Bühne den Patriotismus lehre und das Laster abschreckend darstelle, konnten mit diesen schwachen Gegengründen nur die Unzulänglichkeit der herrschenden Anschauung von der Dichtung dartun und zwangen zu einer vertiefteren, philosophischen Dichtbetrachtung. So baute sich auf dem rein rhetorischen Literaturstudium eines Wilson und Ascham die ordnende Analyse und Stillehre auf, wie sie von George Gascoigne (Making of Verse, 1575), Richard Puttenham (Arte of English Poesie, 1589), William Webbe (Discourse of English Poesie, 1586) vertreten wurde, und die apologetische und philosophische Kritik von Sir John Harington (Orlando-Vorwort, 1591) und SIDNEY (Defence of Poesie, ca. 1580, vgl. S. 269), die eine allgemeine Dichttheorie aufzustellen suchte. Sidneys Buch, das im Titel noch die ursprüngliche Absicht einer Gosson-Widerlegung verrät, verzichtet auf die aussichtslose Streitstellung und sucht sich eine höhere Warte durch Zurückgehen auf die aristotelische Quelle. Sidney lehnte zwar wie Gosson die zeitgenössische Literatur ab, aber nicht aus moralischen, sondern aus ästhetischen Gründen. Die große Dichtung trage wie die Philosophie das höchste Streben des menschlichen Geistes in sich, ja sie sei der nur begriffliche Lehren gebenden Philosophie ebenso überlegen wie der nur das Wirklichkeitsbeispiel gebenden Geschichte. Ihr Wesen wird als 'energia' definiert, " S a m m l u n g e n : Elizabethan Critical Essays, ed. G.G. Smith, 2 Bde. (Oxf., 1904) [vollständig, mit wichtiger Einleitung]; English Critical Essays, ed. E. D. Jones (1922, WC); Documents illustrating Eliz. Poetry, ed. L. Magnus (1906) [Sidney, Puttenham, Webbe]; Puttenham edd. G. D. Willcock and A. Walker (Cambr., 1939). Dars t e l l u n g e n : ! . E. Spingarn, Literary Criticism in the Renaissance (Columbia U. P., 1899); G. Saintsbury, History of Criticism and Taste, Bd. II (1902); C. S. Baldwin, Renaissance Literary Theory and Practice (1939); V. Hall, Ren. Literary Criticism (1945); J. W. H. Atkins, English Literary Criticism: The Renaissance (1947). 36 ed. E. Arber (1868); neuere Ausgabe ( . . 1973). Vgl. W. Ringler, S. Gosson (1941).

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die lebendig machende Verwirklichungskraft, die des Dichters Ergriffensein auf den Leser überträgt. So wird der Dichter der erste Gesetzgeber der Welt, er ist der 'vates', der heroische Gesinnung besingt und dem die Lorbeerkrone des siegreichen Heerführers gebührt. Mag im einzelnen vieles eng und zeitgebunden sein, die Höhe der Gedanken und die Weite des Blickes lassen das hinreißend geschriebene Buch neben Shelleys Defence stellen, die nicht nur in der Titelgebung an Sidney anklingt. Die Sidneysche Schrift wurde erst nach seinem Tode veröffentlicht (1595), und die sonstigen, vielfach rückständigen kritischen Schriften konnten der Dichtung keine Anregung geben. Einen Ersatz dafür boten die Übersetzungen37, die zwar oft unzureichende Gelehrsamkeit verraten, aber dafür von Begeisterung getragen sind. Man nahm stürmisch Besitz von den „fremden Gärten" und übersetzte folglich nicht nur in eine andere Sprache, sondern in einen anderen Geist. So lesen sich die meisten Übertragungen dieser größten Übersetzungszeit Englands wie englische Werke. Am stärksten ist die Antike vertreten, deren Hauptwerke zu Ende des Jahrhunderts fast alle übersetzt waren (nur Plato und die Tragiker ausgenommen), wobei allerdings neben oder anstelle des Urtextes oft französische Muster als Vorlage dienten. Von Vergils Äneis, an der sich Douglas (s. S. 201) und Surrey (s. S. 247) versucht hatten, veröffentlichte Thomas Phaer 1558 (und 1562) die ersten neun Bücher. Ovid, der zweite Lieblingsautor, wurde zuerst 1560 teilweise übersetzt (von Thomas Howell), und schon 1565 legte der Puritaner Arthur Golding die Metamorphosen™ vollständig vor, 1567 George Turberville die Herolden. Von Seneca, der nächst diesen wegen seiner prunkvollen Redeweise am meisten geschätzt wurde, übersetzte Jasper Heywood 1559-61 drei Tragödien. John Studley u. a. ließen weitere Übertragungen folgen, bis 1581, in Thomas Newtons Tenne Tragedies of Seneca, alle Dramen in englischer Übersetzung vorlagen. Die größte aller Versübertragungen, ein Werk, das noch Keats begeistern konnte, ist der Homer von GEORGE CHAPMAN39 (1598-1615). Die Bedeutung dieser Übersetzungen für die englische Literatur ist schwer abzuschätzen. So ist etwa Senecas Einfluß auf die elisabethanische Tragödie sicher ebenso stark durch den lateinischen Urtext bestimmt wie durch die recht freie Übertragung. Andererseits wurden etwa Ovids Metamorphosen eine vielgenutzte 37

H. B. Lathrop, Translations from the Classics (Madison, 1933) [Standard]; C. H. Herford, Literary Relations of England and Germany in the 16th Century (1886); A. H. Upham, French Influence in English Literature (N. Y., 1909); S. Lee, The French Renaissance in England (1910); L. Einstein, The Italian Renaissance in England (N. Y., 21902); J. G. Underbill, Spanish Literature in England (1899). - Neudrucke vieler Übersetzungen in den Tudor Translations, ed. Whibley (Seneca, Plutarch, Sueton, Heliodor, Apuleius, Celestina, Cervantes, Montaigne, Castiglione, Bandello). Proben: O. L. Jiriczek, Specimens of Tudor Translations (Heidelberg, 1923) [Dichtung]; E. F. Clements, Tudor Translations (Oxf., 1940) [Prosa]. 38 ed. W. H. D. Rouse (1904) [King's Libr.]; neuere Ausgabe 1961 (Centaur Classics). 39 Works, ed. R. H. Shepherd, 3 Bde (21889); Homer, 2 Bde. (Oxf., 1930); ed. A. Nicoll, 2 Bde. (N. Y., 1956). Vgl. R. Sühnel, Homer und die engl. Humanität (Tübingen, 1958).

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Fundgrube für klassische Erzählstoffe und lieferten damit weniger formale als rein inhaltliche Anregungen. Durchschnittlich besser als diese - von Chapman abgesehen - künstlerisch ungleichen Versübertragungen sind die Prosaübersetzungen40, die dem lernbegierigen Geist des 16. Jahrhunderts mehr entsprachen. Die Liste der Historiker ist deshalb bezeichnenderweise die größte. Thukydides lag schon 1550 vollständig vor (von Thomas Nichols, allerdings auf doppeltem Umwege über das Lateinische und Französische), Herodot 1584 (zwei Bücher von 'B. R.'), Xenophon 1567 (die Cyropedia von William Barker), Caesar 1563 (yon A. Golding), Tacitus 1591 (von H. Savile). Als großer Übersetzer hat Sir Thomas North zu gelten; sein aus dem Französischen Amyots übersetzter Plutarch (1579) ist der englische Plutarch geworden. Ebenso führend sind die Übertragungen von Philemon Holland (Livius 1600, Plinius 1601, Sueton 1606). Neben den Wissenstoffe liefernden Werken, von denen u. a. die philosophischen und moralischen Schriften von Cicero, Epictet, Seneca und Theophrast zu nennen sind, kommt auch der Roman zu Wort in einer Helioi/orübertragung (1569 von Th. Underdowne) und der weit besseren Äpuleiusübertragung The Golden ASS von William Adlington 1566. Zu diesen Übersetzungen antiker Autoren kommen die aus den fremden zeitgenössischen Literaturen, unter denen Frankreich und Italien bevorzugt sind. Deutschland hatte außer dem für die Schwankbücher wichtigen Till Eulenspiegel (ca. 1519) und Pfarrer vom Kalenberg (ca. 1560) keine literarischen Anregungen zu geben, sein Einflußgebiet war das reformatorische. Spanien, aus politischen Gründen im Hintergrund gehalten, lieferte wenige, aber einflußreiche Bücher: für die volkstümliche Literatur die Komödie Celestina und den pikaresken Roman Lazarillo de Tormes (1576), für den höfischen Roman den Amadis (1567) und den besonders stilistisch einflußreichen Guevara (das goldene Buch des Marcus Aurelius übertrug Lord Berners 1534 und North ein zweites Mal als The Diall of Princes, 1557, den Höflingsspiegel Francis Bryan 1548 als A looking glass for the Courte}. Der Einfluß Frankreichs ist schwerer abzuschätzen; das Französische spielte herkömmlich eine so große Rolle in englischer Erziehung und Bildung, daß einerseits der Wunsch nach Übersetzungen verhältnismäßig gering war, andererseits der französischen Fassung die Vermittlerrolle zwischen der antiken Urfassung und der englischen Übersetzung zufiel. Gerade das 16. Jahrhundert ist schwach vertreten, denn die mustergültige Montaigneübersetzung durch J. Florio erschien erst 1603; und die anderen großen Übertragungen beziehen sich entweder auf eine frühere Entwicklung (Lord Berners' Übersetzung der Chroniken Froissarts 1523), oder sie hatten erst für das 17. Jahrhundert Bedeutung (Joshua Sylvesters Übersetzung der Werke Du Bartas' ab 1592). So steht an Umfang und Bedeutung der Anteil Italiens dem antiken am nächsten. Italien war das vorbildliche Land, dessen geistige Errungenschaften man um so lieber nachahmte, weil es auch zivilisatorisch besaß, was England 40

F. O. Matthiessen, Translation, an Elizabethan Art (Cambr., Mass., 1931).

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noch nicht oder nur in den Anfängen hatte. Neben zahlreichen Übersetzungen kurzer Gedichte (z. B. Sonette durch Wyatt und Surrey) und der bereits erwähnten CortegianoÜbertragung (s. S. 235) wurden Petrarcas Trionfi 1553 von Henry, Lord Morley übersetzt.41 1594 übersetzte Richard Carew Tassos Gerusalemme Liberate, und 1600 tat das Fairfax ein zweites Mal und sehr viel besser. Zu den italienischen Übersetzungen gehört auch die zweibändige Geschichtensammlung The Palace of Pleasure42 (1566) von William Painter, denn die meisten seiner Stoffe sind italienischen Novellensammlungen entnommen. Die Sammlung, die insbesondere den Dramatikern Vorwürfe lieferte, wurde so beliebt, daß ihr mehrere ähnliche folgten: Sir Geoffrey Fentons Tragical Discourses of Bandello (1567), George Petties A Petite Palace of Pettie his Pleasure (1576),43 George Whetstones Heptameron (1582) und George Turbervilles Tragical Tales (1587). Eine derart ausgebreitete Übersetzungsliteratur, auf die man Gascoignes Gedichttitel „Hundert Blumen, gepflückt in allen Gärten" anwenden könnte, bedeutete ebenso eine Einbürgerung fremder Kunstwerke und damit eine Bildung des Geschmacks wie eine von solchen Vorbildern angeregte Schulung des englischen Stils und poetischer Ausdrucksweise.

3. Anfänge der höfischen Renaissancedichtung',44 Die englische Renaissancelyrik beginnt mit einer Gruppe von Dichtern am Hofe Heinrichs VIII., die man als 'courtly makers' bezeichnet und die sich vor allem um eine neue lyrische Sprache nach dem Vorbild des Lateinischen und Italienischen bemühten. Zu ihnen gehörten Thomas Wyatt, Henry Howard, Earl of Surrey, Thomas Baron Vaux, Thomas Churchyard und andere. Lyrik wurde dabei in erster Linie unter rhetorischen Gesichtspunkten gesehen, als Anwendung stilistischer Gesetze und Variation übernommener Konventionen, nicht als spontaner Ausdruck individueller Emotionen. Je nach ihrem Anspruch oder Inhalt orientierte sich die englische Renaissancelyrik an der Tradition des 'plain style', der vor allem lehrhafter, moralisierender oder philosophischer Dichtung angemessen schien, oder des 'eloquent style', der auf die höfische Dichtung, insbesondere die Liebesdichtung, beschränkt war. Ent41

ed. Roxburghe Club (1887); Proben in E. P. Hammond, English Verse between Chaucer and Surrey (Durham, N. C, 1927), S. 383ff. 42 ed. H. Miles, 4 Bde. (1930); ed. J. Jacobs, 3 Bde. (N. ., 1967). - H. G. Wright, Boccaccio in England (1957). 43 ed. H. Hartmann ( . ., 1938). - P. W. Pomeroy, The Elizabethan Miscellanies (1973). 44 Gute Zusammenstellung: Silver Poets of the 16th Century, in EL; J. W. Hebel and H. H. Hudson, Poetry of the English Renaissance (N. Y., 1929); N. Ault, Elizabethan Lyrics (31949); G. G. Hiller, Poems of the Elizabethan Age (1977). - D. L. Peterson, The English Lyric from Wyatt to Donne (Princeton, 1967); F. Inglis, The Elizabethan Poets (1969). Gute Aufsatzsammlung: Elizabethan Poetry: Modern Essays in Criticism, ed. P. J. Alpers (1967).

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scheidend für das Verständnis dieser Lyrik ist auch ihre gesellschaftliche Funktion: sie ist an einen ganz bestimmten Kreis gerichtet, ist oft Teil eines höfischen 'game of love' und muß zunächst in dieser einmaligen Situation als mündliche Darbietung oder persönlich weitergereichte Abschrift, nicht als gedrucktes Buch für ein anonymes Publikum gesehen werden. Dies erklärt ihren oft stereotypen, an wiederkehrenden Formeln reichen Stil, aber auch ihre häufig dramatische, dem Gesprächscharakter angepaßte Qualität. In den Gedichten THOMAS WYATTs45 (1503-42) sind diese Tendenzen besonders deutlich. Aus Handschriften und späteren Drucken sind etwa 205 seiner Gedichte bekannt. Wyatt war ein offensichtlich geschätzter Hof mann; er war in Spanien, Frankreich und Flandern, und als Gesandter bei der Kurie reiste er viel in Italien. Dabei lernte er Gelehrte, Politiker und Dichter kennen, ebenso auch die Gedichte Petrarcas und seiner Nachfolger. Wyatt hat in der neueren Kritik recht verschiedene Beurteilungen erfahren. Sicher wird man ihm nicht gerecht, wenn man ihn nur als ungeschickten Vorläufer der Elisabethaner sieht. Sinnvoller ist eine Betrachtung seines Werks unter dem Gesichtspunkt der eigenständigen Auseinandersetzung mit den lyrischen Anregungen des Petrarkismus und mit den noch wenig entwickelten Möglichkeiten der englischen Sprache. Dies betrifft sowohl die metrische Form als auch die Thematik und den Metapherngebrauch. Wyatts Versbehandlung erschien späteren Lesern bald unbeholfen, bald gewagt. Dies ist die- Konsequenz seiner freizügigen Behandlung des alternierenden Jambus, den er zwar grundsätzlich als metrisches Schema akzeptiert (regelmäßige Silbenzahl), aber doch dem Rhythmus der gesprochenen Sprache unterordnet, wenn sich dieser nicht ohne Umstellungen der Wortfolge dem Versmuster fügen würde. So entsteht ein unregelmäßiger, kolloquialer Versstil, der schon seinen unmittelbaren Nachfolgern unannehmbar erschien und zu glättenden Bearbeitungen führte. Bereits in Richard Tottels erfolgreicher Anthologie von 1557 werden Wyatts Verse zum Teil ihrer charakteristischen Widerspenstigkeit beraubt und stärker dem metrischen Schema angenähert, was nicht jeder Leser als Verbesserung empfinden wird. So erscheint Wyatts berühmtes Gedicht They flee from me that sometime did me seek, With naked foot stalking in my chamber: I have seen them gentle, tame and meek, That now are wild and do not remember That some time they put themselves in danger To take bread at my hand... in Tottel's Miscellany als 45

ed. A. K. Foxwell, 2 Bde. (1913); Collected Poems, edd. K. Muir and P. Thomson (Liverpool, 1969); ed. J. Daalder (1975). - A. K. Foxwell, A Study of Sir T. W's Poems (1911; repr. N. Y., 1964); P. Thomson, Sir T. W. and his Background (1964). - Gute Auswahl: F. M. Padelford, Early 16th Century Lyrics (Boston, 1907) [Wyatt und Surrey].

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They flee from me that sometime did me seek, With naked foot stalking within my chamber: Once have I seen them gentle, tame and meek, That now are wild and do not once remember That sometime they have put themselves in danger To take bread at my hand... Wie im Metrischen, so geht Wyatt auch im Inhaltlichen eigene Wege. Seine auffallendste Leistung ist die Einführung des italienischen Sonetts nach England, einer vierzehnzeiligen Gedichtform mit charakteristischer Reimverschränkung (abba abba cdc cdc, oder cdc dcd). Petrarca hatte in seinen Sonetten an Laura die höfische Konvention idealisierter Frauenverehrung zu einem kunstvollen System von Metaphern und Liebesreflexionen entwickelt, so daß durch ihn eine Dichtung inspiriert wurde, die man als „petrarkistisch" bezeichnet. Wyatt versuchte freilich nicht, den preziösen Stil Petrarcas getreu ins Englische zu übertragen, sondern ließ sich vor allem von seiner Metaphorik inspirieren, übersetzte die Sonette aber weithin in einen 'plain style' und modifizierte deutlich ihren Inhalt, indem er dem höfischen Liebeswerben vielfach einen etwas aggressiveren, direkteren und gegenüber den künstlichen Konventionen kritischeren Ton verlieh. Formal variierte er das italienische Sonett, indem er es regelmäßig mit einem Reimpaar abschloß (also cdc cdd), was in der Folgezeit von fast allen Elisabethanern beibehalten wurde. Im Gegensatz zu Petrarca wird damit das Sonett häufig mit einer sentenziösen Schlußfolgerung versehen, und dies verbindet sich hier mit Wyatts Tendenz, die höfische Situation durch moralische Fragestellungen zu kommentieren. Daneben versuchte Wyatt sich jedoch in den verschiedensten Gedichtformen, so der betrachtenden Epistel und vor allem dem strophischen Lied, das vielfach durch die pointierte Verwendung eines Refrains gegliedert wird. Etwas jünger und von Wyatt beeinflußt ist der neben ihm begabteste Dichter dieser Generation, HENRY HOWARD, EARL OF SURREY46 (1517-47). Auch er experimentierte mit einer Vielzahl lyrischer Formen, der moralischen Betrachtung wie diversen Variationen der Liebesdichtung. Wie Wyatt übersetzte und adaptierte er Sonette Petrarcas, denen er eine neue charakteristische Form gab: abab cdcd efef gg. Aus der Zweiteilung in Oktave und Sestett wird so eine Gliederung in drei Quartette mit abschließendem Reimpaar. Die besonderen Möglichkeiten dieser Form werden später vor allem in Shakespeares Sonetten virtuos ausgeschöpft. Auch rhythmisch und inhaltlich geht Surrey andere Wege als Wyatt. Im Gegensatz zu dessen metrischer Sorglosigkeit bemüht er sich fast pedantisch um genaue Erfüllung des metrischen Schemas, auch wo dies auf Kosten des natürlichen Sprechrhythmus und der sprachlichen Lebendigkeit geht. Sein Vers ist sehr viel glatter als der Wyatts und bestimmte zunächst stärker den Stil der Nachfolger, denen die Verbind46

Ed. E. Jones (Oxf., 1964); ed. F. M. Padelford (Seattle, rev. edn., 1928). - J. M. Berdan, Early Tudor Poetry (1920); E. Casady, H. H. (N. Y., 1938).

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lichkeit der metrischen Regeln als wesentliches Gesetz galt. Glättung und klarer Aufbau ist auch für die inhaltliche Gestaltung der Sonette bezeichnend. Petrarcas Aussagen werden weniger verändert als bei Wyatt; doch schon die neue Sonettform begünstigt eine andere Gliederung; dazu kommt bei Surrey eine im Vergleich zu Petrarca oft abstraktere Gedankenfügung und eine stärkere sinnliche Anschaulichkeit, die für die weitere Entwicklung des Sonetts wichtig wurde. Für seine klassischen Interessen zeugt die Übertragung zweier Bücher der Vergilschen Äneis in reimlose Blankverse, während er in seiner Elegie aus dem Gefängnis konventionelle Strukturen mit persönlicher Unmittelbarkeit vereint und im klagenden Rückblick ein anschauliches Bild höfischen Lebens zeichnet. Petrarcas Verdienst wurde von den englischen Nachahmern vor allem darin gesehen, daß er die Volkssprache auf die rhetorische Höhe des Lateinischen gehoben hatte. Die englische Dichtung der Zeit hatte mit den Humanisten das Ziel gemeinsam, auch der englischen Sprache, die als ungehobelt und plump galt, die differenzierten Ausdrucksmöglichkeiten und die geschmückte Diktion einer verfeinerten Rhetorik zu erschließen. Diese Bestrebungen erklären wohl den Erfolg der ersten größeren Anthologie englischer Lyrik, der von dem Verleger Richard Tottel herausgebrachten Sammlung Songes and Sonettes {Tottel's Miscellany} von 1557.47 Durch sie wurde erst die Dichtung Wyatts, Surreys und anderer 'courtly makers' über den engeren Kreis des Hofes hinaus verbreitet. Einer literarisch aufgeschlossenen Leserschaft sollten hier modellhafte Versuche einer nach klassischem Vorbild verfeinerten Diktion geboten werden. Das Vorwort spricht davon, daß die Sammlung 'to the honour of the English tongue' zusammengestellt sei. Sie enthält 96 Gedichte von Wyatt, je 40 von Surrey und Grimald und 95 weitere von verschiedenen, nicht immer bestimmbaren Verfassern (z. B. Lord Vaux). Es finden sich hier Beispiele der verschiedensten Gedichttypen, von der Totenklage bis zum Liebesgedicht, wobei sich immer wieder das Bemühen feststellen läßt, den Regeln der rhetorischen Handbücher zu folgen. Dies zeigt sich vor allem in den Elegien oder auch Gedichten über klassische Themen, wie NICHOLAS GRiMALDs48 (1519-62) Marcus Cato's Comparison of Man's Life with Iron, Marcus Tullius Cicero's Death, Concerning Vergil's Eneids, in denen seine humanistischen Interessen besonders deutlich artikuliert sind. Zwischen 1557 und 1587 erlebte das Buch 8 Auflagen. In späteren Anthologien ist die Vielfalt von Tottel's Miscellany meist einer gewissen Einengung auf bestimmte Themen und Stillagen gewichen. A Handful of Pleasant Delights (1584 erschienen, doch im wesentlichen bereits fast zwanzig Jahre früher zusammengestellt) gibt einen Querschnitt durch die höfische, rhetorisch ehrgeizige Lyrik im 'eloquent style', während The Paradise of Dainty Devices (1576) sprachlich schlichtere Gedichte vorwiegend 47 48

ed. H. E. Rollins, 2 Bde. (Cambr., Mass., 21965) [mit Kommentar]. L. R. Merrill, Life and Poems of Grimald (New Haven, 1925) [Abdruck der Gedichte, der Dramen Archipropheta und Christus Redivivus mit Übersetzung und Monographie].

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didaktischen und moralischen Inhalts sammelt. Zu den Dichtern dieser Sammlung gehörten eine Reihe von Autoren, die bereits an Tottel's Miscellany beteiligt waren, sowie einige bekanntere Dichter und Übersetzer (Lord Vaux, Thomas Churchyard, Jasper Heywood, Fulke Greville und Edward Vere, Earl of Oxford). Eine dritte Sammlung, A Gorgeous Gallery of Gallant Inventions (1578) illustriert vor allem eine Tendenz zu artifizieller und ostentativ gelehrter Sprache; der Überschwang rhetorischer Begeisterung barg offensichtlich die Gefahr des Exzesses in sich. Die Zeit zwischen Tottel's Miscellany und dem Auftreten der großen elisabethanischen Lyriker war bestimmt von vielerlei Experimenten und einer ständigen Auseinandersetzung mit Problemen der Rhetorik im Hinblick auf die Entwicklung einer flexiblen einheimischen Dichtungssprache. Unter diesem Gesichtspunkt ist das literarische Werk von Dichtern wie Sackville, Gascoigne oder Googe zu beurteilen. Die Bedeutung von THOMAS SACKVILLE, Lord Buckhurst (1536-1608) liegt in erster Linie in seinen Beiträgen zu der mehrfach bearbeiteten und aufgelegten Sammlung von Versbiographien bekannter Persönlichkeiten aus der englischen Geschichte, die zuerst 1559 unter dem Titel A Mirror for Magistrates^ erschien. Sie war ursprünglich als Ergänzung zu Lydgates Fall of Princes gedacht, verselbständigte sich jedoch und nahm mehr den Charakter eines nationalen Geschichtswerks mit lehrhafter Tendenz an. Die Fassung von 1559 enthält 19 Biographien oder „Tragödien", vorgetragen jeweils von dem Geist des Toten, als klagender Rückblick, mit besonderem Nachdruck auf dem durch eigene Fehler oder Sünden verschuldeten Fall. Mortimer, Gloucester, Mowbray, Richard II., Hastings und andere „Tragödien" wurden nach Sackvilles Plan von verschiedenen Verfassern - neben Sackville unter anderen George Ferrars und Thomas Churchyard - episch bearbeitet, und der Herausgeber Baldwin verband die einzelnen Erzählungen durch historisch erläuternde Zwischenstücke, worauf dann J. Higgins noch einen altbritischen Teil voranstellte (1574), bis schließlich das Werk durch lauter Zutaten zu einer unkünstlerischen Länge zerdehnt war (1611). Sackville, der an Großzügigkeit der Schilderung, an Pathos und Gewalt der Sprache die anderen Mitarbeiter weit überragte, steuerte die Induction und den Complaint of the Duke of Buckingham^ bei. Mittelalterlich im Gedanken und in der Strophenform an die Chaucertradition anklingend, verrät seine Dichtung doch in jeder Zeile die humanistischen italienischen Einflüsse. Neu ist die durchgeführte düstere Stimmung, die Dantesche Feierlichkeit, die durch kein aus dem Rahmen fallendes Wort gestört wird; dann zeigt sich die genaue Kenntnis Vergils, der Sackville die ideale Szenerie lieferte, und die von Wyatt gebrachte italienische Metrik erscheint verbessert, indem der Zusammenklang von Wort- und Versakzent noch reiner ist als bei Surrey. Fast die ganze elisabethanische Dichtung ist 49

ed. J. Haslewood, 3 Bde. (1815); neue Ausgabe, ed. L. B. Campbell (Cambr., 1938) [Huntington Libr. Publ.], Parts added to the Mirror, ed. L. B. Campbell (Cambr., repr. 1960). - N. Berlin, Thomas Sackville, TEAS (N. Y„ 1974). 50 ed. M. Hearsey (New Haven, 1936) [Yale Studies in English 86].

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diesem Werk verpflichtet; Spenser wurde zu seinen Complaints von Sackville angeregt, bei dem er auch die dichterische Wirkung der absichtlich gebrauchten altertümlichen Wörter und Wendungen lernen konnte. Nur klassische Klarheit geht dem Sackvilleschen Dichten ab, aber das gilt nahezu für die ganze englische Renaissancedichtung, die zu überhitzter Redeweise neigte und im Streben nach zusammengeballter Lebensdarstellung sich durch klassisches Maß nicht binden lassen wollte. Sackville war Staatsmann und Dichter, der andere an dieser Stelle zu nennende Autor GEORGE GASCOIGNESI (1525-77) war Soldat und Dichter, wie es sein Leitsatz 'tarn Marti quam Mercurio' betont. Seine Bedeutung liegt in der Beweglichkeit und Vielseitigkeit, die ihn zum Wegbereiter der kommenden großen Dichtung befähigten. Auf allen Gebieten hat er sich versucht: er wurde bereits erwähnt als Verfasser der Notes of Instruction, der ersten englischen Abhandlung über Metrik; er wäre auch beim Roman zu erwähnen wegen seiner Adventures of Master F. J. (1573), die wegweisend wurden für den vornehmen und preziösen Roman, und beim Drama wegen seiner Übersetzung einer Komödie Ariosts und Dolcis Euripidesbearbeitung Jocasta in der Form des Originals, wodurch der englischen Tragödie der Blankvers, der Komödie die Prosa zugewiesen wurde. Für die Dichtung im engeren Sinne ist er von Bedeutung durch die Blankverssatire Handspiegel (Steele Glass, gedr. 1576) und durch seine Gedichte, die er 1575 gesammelt herausgab (The Posies) und die er einteilte in 'Floures to comfort, Herbes to cure, and Weedes to be avoyded'. Schließlich wendete er sich von der Liebesdichtung seiner Jugend ab und schrieb in dramatischer Form die Satire Glasse of Government und gab eine freie Bearbeitung von Innozenz' III. De contemptu mundi unter dem Titel The Droomme of Doomesday. Sackville an dichterischer Kraft unterlegen, aber den Mirror als Ganzes überragend und zu seiner Zeit ebenso hoch geschätzt, war er einer der wichtigsten Vermittler italienischer Kultur. Bewundernswert ist die metrische Leichtigkeit, mit der er, den italienischen Vorbildern, besonders seinem Liebling Ariost nacheifernd, der englischen Dichtung größere Glätte und Ungezwungenheit verlieh, was allerdings in den längeren Dichtungen zu einer ermüdenden Gleichförmigkeit entartet. Die Zeit ging schnell über ihn hinweg; er teilt das Schicksal der Anreger, die gerade, weil sie Erfolg hatten, bald überwunden wurden. Wie es Nashe schon richtig sah: „Er öffnete den Weg zur Vollendung, die unsere besten Dichter nach ihm erstrebten". Er zerstreute seine Kräfte und beackerte zu viele Gebiete, um auf einem Hervorragendes zu leisten. Er hatte weder die Beharrlichkeit des berufsmäßigen Literaten noch die Eingebung des wirklichen Dichters, er blieb der Liebhaber, der zufällig und oberflächlich, wie er selbst entwaffnend sagte, seine Dichtungen zusammenstellte. BARNABE GOOGE (154094) endlich, der als dritter, obwohl in geraumem Abstände, Sackville und Gascoigne angeschlossen werden kann, vertritt nochmals die humanistische Linie. Seine acht Schäfergedichte, die er Eglogs, Epytaphes and Sonettes52 51 52

ed. J. W. Cunliffe, 2 Bde. (Cambr., 1907-10). - C. T. Prouty, G. G. (N. Y., 1942). ed. E. Arber in English Reprints (1871, 21895). - J. M. Berdan, Early Tudor Poetry (N. ., 1920); P. E. Parnell, B. G. in: JEGP LX (1961).

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(1563) nennt, vereinen die von Barclay eingeführte moralisch-allegorische Richtung, die er puritanisch zuspitzte, mit der antik-renaissancemäßigen Liebesekloge, die einer der 'Uncertaine authors' zu Tottels Sammlung beigesteuert hatte. Diese seltsame Mischung und die Erörterung politischer und kirchlicher Fragen in der Pastoraldichtung deutet Spenser voraus.

4. Spenser und die elisabethanische Lyrik EDMUND SPENSER" (1552-99) galt mehreren Generationen als einer der größten und einflußreichsten Dichter, in einer Reihe mit Chaucer, Shakespeare und Milton. Dies entspricht wohl kaum mehr seiner heutigen Wirkung, sagt aber doch etwas aus über seine bestimmende Leistung für die Entwicklung der englischen Dichtung sowohl in thematischer als auch in formaler Hinsicht. Sein früher Gedichtzyklus, The Shepheardes Calendar (1579), läßt sich fast als ein Programm der elisabethanischen Dichtergeneration beschreiben und gibt einen besonders guten Einblick in die neue Synthese aus den verschiedensten Konventionen, verbunden durch eine höchst eigenständige geistige Konzeption. Das Werk wurde von seinem Cambridger Studienfreund E(dward) K(irke) mit Anmerkungen und einem Brief an Gabriel Harvey versehen und von Spenser selbst mit einer Abhandlung über die Eklogendichtung eingeleitet. Damit ist die humanistische Richtung betont; denn Harvey, der auch ein lateinisches Buch über sein Fach veröffentlichte (1577), und dessen weite Belesenheit seine Marginalien erweisen, war Lehrer der Rhetorik, und in einem mit Spenser geführten Briefwechsel (1579-80) über English Refourmed Versifying vertrat er die von Cheke, Ascham und Grimald befürwortete Einführung klassischer Metren, die er auch in dem 'Areopago' genannten literarischen Kreis erörterte, dem neben Spenser auch Sidneys Freund und Biograph Fulke Greville angehörte. Man wollte die von den Humanisten aus der Analyse der antiken Dichtung erschlossenen künst53

B i b l i o g r a p h i e : W. F. McNeir and F. Provost, Annotated Bibl. 1933-1960 (Pittsburgh, 1962). - W e r k e : Variorum Edn., edd. E. Greenlaw et al., 10 Bde. (Baltimore, 1932-49); ed. W. L. Renwick, 4 Bde. (1928-34) [ohne Faerie Queene]; edd. J. C. Smith and E. de Selincourt, OSA (Oxf., 1912 u. ö.).- Kommentierte Ausgabe des Schäferkalenders von C. H. Herford (repr. 1925) [sehr gut]; Fowre Hymnes (Cambr., 1907) von L. Winstanley; Faerie Queene I (1966), II (1965) von P. C. Bayley, V von A. B. Gough (Oxf., 1921). Faerie Queene, ed. A. C. Hamilton (1977) [AEP]. Konkordanz von C. G. Osgood (Washington, 1915); C. H. Whitman, A Subject Index to the Poems of E. S. (N. Y., 1966).- B i o g r a p h i e und K r i t i k : W. L. Renwick, E. S. (1925); A.C. Judson, E. S. (Baltimore, 1945) [überausführlich]; J.W. Bennett, The Evolution of the F. Q. (N. Y., 1960); A. C. Hamilton, The Structure of Allegory in the F. Q. (Oxf., 1961); G. Hough, A Preface to the F. Q. (1962); P. J. Alpers, The Poetry of the F. Q. (Princeton, 1967); R. Freeman, The F. Q.: A Companion for Readers (1970); M. Evans, S.'s Anatomy of Heroism: A Commentary on the F. Q. (Cambr., 1970); P. E. McLane, S.'s Shepheardes Calender (Notre Dame, 1968); Essential Articles for the Study of E. S., ed. A. C. Hamilton (1972); I. MacCaffrey, S.'s Allegory (Princeton, 1976).

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lerischen Erkenntnisse für die landessprachliche Dichtung verwerten, wie das die Plejade in Frankreich bereits getan hatte, und durch Gelehrsamkeit in Nacheiferung der besten Muster die Muttersprache zu einem dem Lateinischen ebenbürtigen Mittel gestalten. Ronsards Poetik sowie die Programmschrift und das Vorbild Du Bellays, dessen Sonette er übersetzte, ermutigten Spenser, neben der klassischen auch die ältere englische Dichtung, besonders Chaucer, sprachlich zu verwerten. E. K.s Anmerkungen weisen auf die Mannigfaltigkeit und angemessene Verwendung der Redefiguren, der altertümlichen Worte, der Neubildungen und Neueinbürgerungen besonders hin. Daraus ergab sich eine Dichtsprache, die Ben Jonson später mit den Worten 'Spenser writ no language' kennzeichnete, die aber zu dieser hohen Schule der Dichtkunst paßte. Der Abwechslung von Hofton und rauher Hirtensprache gemäß sind mannigfache Metren und die verschiedensten Eklogenarten vertreten: Monologe, Zwie- und Dreigespräche, Wettstreit, Erzählung und lyrisches Gedicht. Auch inhaltlich ist Vielfalt angestrebt: die Februar-, Mai-, Juli- und Septembereklogen sprechen Spensers puritanische Ansichten über die Bischöfe und Lord Burghleys Kirchenpolitik aus; die Januar-, März-, Juni- und Dezembereklogen lassen den Schäfer als Liebenden sprechen; die April-, August-, Oktober-, Novembereklogen enthalten das enthusiastische Bekenntnis des Dichters, die entartete Gegenwart zu dem goldenen Zeitalter des Maecenas zurückzuführen. Es gelang Spenser nicht ganz, diese Vielfalt durch die Leitmotive des Colinschen Liebesromans und des den Stimmungen angepaßten Monatskalenders zur Einheit zu binden; aber die in den Geleitworten geforderte Klarheit zeigt sich in der durchsichtigen Gliederung der einzelnen Eklogen, und die Forderung der Gedrängtheit ist in dem gegenüber einem Skelton oder Gascoigne dichtgewobenen Stil erfüllt. Um wieviel freier als das Wyatt-Surreysche Vorspiel sich Spenser schon in diesem formalen Erstlingswerk bewegte, zeigen die Totenklage im November und das Preislied im April, die lyrische Höhepunkte der damaligen Dichtung darstellen. Die Früchte dieser Schulung erweisen die späteren kleineren Stücke, die Spenser wie Vergil neben seinem Hauptwerk schrieb, und die er 1591 unter dem Titel Complaints sammelte. Zugleich zeigen sie nochmals die vielfältigen Anregungen: neben den ganz humanistischen und etwas papieren bleibenden Teares of the Muses und Ruines of Time, steht die Übersetzung des pseudovergilischen 'Culex' unter dem Titel Virgils Gnat. Die Astrophel-Totenklage auf Sidney bedient sich der herkömmlichen Pastoralform. Die satirisch gegen Kirche und Hof gerichtete Mother Hubberds Tale nimmt Chaucer zum Vorbild. Die Erzählung, wie ein Affe und ein Fuchs niederer Herkunft zu Geistlichkeit und Adel bei Hofe aufsteigen und schließlich König und Minister werden, hat die rauhe Kraft der heimischen Tradition, ohne die formlose Weitschweifigkeit früherer Dichtung. Im äußersten Gegensatz dazu steht das Muiopotmosged'icht, das unter dem Bilde eines Schmetterlingslebens die Tragödie des Idealismus erzählt. Zart, flüchtig und beweglich wie das Farbenspiel eines Falters sind die Bilder, die Clarion, den schwachen und unschuldigen

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Liebhaber der Schönheit, und seine Feindin, die Spinne Aragnoll, umspielen. Ist das schon voll verschleierter autobiographischer Bezüge, so ist das Vergilsche Pastoral Colin Clout's Come Home Again nur von Spensers Lebensgeschichte aus zu erklären. Er bekleidete eine Stelle beim königlichen Statthalter in Irland, was er als Verbannung empfand, denn sein Ehrgeiz war, durch seine Dichtung prophetisch Geschichte zu machen und mitzuwirken am Ruhm seines glühend geliebten Vaterlandes. Die mitleidslose Prosaabhandlung The Present State of Ireland (1595) suchte die gewalttätige irische Tudorpolitik noch zu verschärfen, zur Stärkung des englischen Staates, denn der Staat galt ihm als eine Form der Stetigkeit inmitten des ewigen Wandels. Die Zukunft des englischen Imperiums sollte sein großes, auf 12 oder gar 24 Bücher geplantes Feenkönigin-Epos gründen helfen. Colin Clout erzählt, wie Raleigh ihn 1589 in Irland besuchte und ihn veranlaßte, nach London zu kommen, wo er die ersten drei Bücher der Königin überreichte, und wie er erfolglos und enttäuscht nach Irland zurückkehrte. Mit dem Tode Sidneys und Leicesters und mit Raleighs Verdrängung durch Essex waren die Helden seines Dichttraums geschwunden, und das Werk blieb unvollendet (6 Bücher, gedruckt 1596 [Buch I-III, 1590]). Dafür entstanden reicher als zuvor die kleineren Werke, die Hymnen auf die Schönheit und Liebe, die Liebessonette auf seine Braut und das Hochzeitslied. Das in diesen Schöpfungen hervortretende platonische Gedankengut54 ging auf die Anregung der Humanisten zurück, deren Bemühungen um eine platonisch-christliche Ethik von den Dichtern durch stärkere Betonung der Ideen- und Eroslehre zu einer ästhetischen Weltanschauung weitergebildet wurden. Denn es handelte sich weniger um philosophische Erkenntnis als um eine Bindung des Platonismus mit dem ritterlichen Ideal durch eine Veredlung und Vergeistigung irdischer Liebe, die nunmehr als Abglanz eines höheren Urbildes erschien. Da aber der metaphysische Hintergrund des platonischen Weltbildes durch diesen umgekehrten, von unten nach oben führenden Weg bedeutungslos wurde, so ergab sich eine Verflachung. Es wurde literarische Mode, von platonischer Liebe zu reden, und die vielen 'Platonic Love' überschriebenen Gedichte zeigen eine Entartung zum galanten Gesellschaftsspiel. Das war eine Umkehrung des ursprünglich von den Dichtern Erstrebten, und Spenser, der bedauerte, daß er durch zwei in seiner Jugend geschriebene Hymnen auf die Schönheit und Liebe die Mode mit aufbringen half, will diese nun dadurch ungeschehen machen, daß er sie durch zwei Hymnen auf die himmlische Schönheit und die himmlische Liebe ergänzte (Fowre Hymnes}. Das bedeutet eine weitergehende Verchristlichung des Platonismus, denn schon in den Jugendgedichten hieß Liebe die Offenbarung der Macht im Menschen, die das All aus dem Chaos erschuf. Schon dort hatte er die widersprechenden Symposionstellen über die Liebe als ältesten und jüngsten Gott zusammengereimt, als Liebe des Schöpfers (geoffenbart in der 54

Vgl. J. S. Harrison, Platonism in English Poetry (N. ., 1903); C. S. Lewis, The Allegory of Love (51948); R. Ellrodt, Neoplatonism in the Poetry of Edmund Spenser (Genf, 1960).

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Schöpfung) und Liebe des erschaffenen Geschöpfes zum Schöpfer. Und schon dort hatte er die Schönheit als Seelenmacht angesprochen: nur in schöner Form könne eine reine Seele wohnen, und die äußere Schönheit sei nur das Sinnbild der höheren Schönheit der moralischen Werte. Schon dort war also Platos Lehre, daß die Schönheit nur von der Seele in moralischen Ideen zu erkennen sei, zum christlichen Keuschheitsideal umgebogen, und in die platonische Ideenwelt war der Christengott eingefügt als Schöpfer einer Welt nach dem Muster idealer Schönheit, die sich der Materie mitteilte und damit zur Quelle der Schönheit der Dinge wurde. Ein derartiges Weitergehen auf den ästhetischen Bahnen von Ficinos Florentiner Akademie erlaubte eine völlige Übereinstimmung von Christentum und platonischer Lehre. Die dichterisch gestimmte elisabethanische Renaissance, die anders als das 13. oder 17. Jahrhundert einer führenden Philosophie ermangelte, liebte das Zusammenstellen mehrerer großer Systeme und nahm manchen philosophischen Widerspruch in Kauf. Man stieß sich nicht daran, den platonischen Begriff Gott und die christliche Person gleichzusetzen, das Plotinische zusammen mit und als Trinität zu nehmen und durch die Gegenüberstellung der den christlichen Dualismus herzustellen. Eine derartige Zusammenfassung von Antike und Christentum, die seit dem Humanismus das Streben aller religiös empfindenden Geister war, suchte Spenser in seinem Epos zu verwirklichen. Auch der höheren Kleindichtung der Zeit liegt ein philosophischer Anspruch zugrunde, wenn er auch kaum je einen solchen Einklang erreichte wie in Spensers Hochzeitslied, das durch die Gleichsetzung des körperlich und geistig Schönen ohne Riß von den heidnischen Anrufungen zu der christlichen Zeremonie in der Kirche übergeht. Dies Epithalamion (1595) greift auf die ursprünglich volkstümlichen, dann (beispielsweise bei Catull) zur Kunstform gewendeten antiken Hochzeitslieder zurück, die in der lateinischen Humanistendichtung (Heinsius, Johannes Secundus, Buchanan) neu belebt worden waren und von Sidney im Song at the Wedding of Thyrsis and Kala (im 3. Buch der Arcadia, ca. 1580) erstmals in englischer Sprache eine Nachbildung erfuhren. Spenser, dem es auf Musik, nicht auf gelehrte Rekonstruktion ankam, paßte die lateinische Hochzeitshymne an die Form der italienischen Canzone an und bildete 24 siebzehn- bis neunzehnzeilige Strophen mit Versen wechselnder Länge (Normalzeile fünfhebig), die jeweils abgeschlossen werden durch einen Alexandrinerkehrreim. Ein Rahmen humanistischer Erinnerungen schlingt sich um die schlichte Tatsache der Heirat Spensers und Elisabeth Boyles in Irland im Jahre 1594: zu Anfang die Musenanrufung und der Aufruf an die Nymphen der Gewässer, Wälder und Berge, zu Ende das Gebet an Juno, Cynthia und den Hausgenius. Die antike Färbung löst die Hymne nicht von der Gegenwart, denn der volle Klang der Mythologie verwischt nicht das Volkstümliche, das Spenser dem Hochzeitslied zurückgab. Die Nymphen sind die zum Glückwunsch kommenden Töchter der Pächter, Fischer und Hirten, denen der Dichter einschärft, sich gut zu waschen und hübsch zu kämmen, und die Grazien sind die Ehrendamen. Auch die den großen Tag vom Mor-

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gendämmern bis zur Nacht schildernden Mittelstrophen sind eine Reihe wirklichkeitsnaher ländlicher Bilder; jede Strophe ein abgeschlossenes Bild und doch jeweils nur ein Teil des ganzen Bildes, wie es auch äußerlich der Kehrreim andeutet. Spensers Epithalamion erschien in einem Bändchen mit einer ihm vorangestellten Sammlung von 89 Sonetten, den Amoretli, die dadurch für den Leser leicht ebenfalls autobiographische Züge erhalten und früher häufig als Beschreibung seiner eigenen Werbung in petrarkistischem Gewand verstanden wurden. Dies trifft höchstens in einem sehr allgemeinen Sinne zu. Der Sonettzyklus als neue literarische Form einer möglichst umfassenden Liebesdarstellung war eben in Mode gekommen; so erschienen seit 1592 innerhalb von zehn Jahren etwa 20 solcher Sammlungen. Spensers Sonette sind nun weniger durch persönliche Unmittelbarkeit als durch eine vertiefte, ja sublimierte Behandlung der höfischen Liebeskonventionen bemerkenswert. Während einige Gedichte der Sammlung, womöglich früher entstanden, mehr die traditionellen Themen, wie Grausamkeit der Geliebten, vergebliche Werbung und Trennung, behandeln, stellt die eigentliche Sammlung einen Vorgang der beharrlichen Werbung dar, die schließlich zur Liebesvereinigung in der christlichen Ehe führt. Der Zyklus ist stark voil neoplatonischen Gedanken bestimmt und, neben Petrarca, vor allem auch von Tasso und Bembo beeinflußt. Das Verlangen des Liebenden und seine Verzückung beim Anblick der Geliebten wird als Teil einer moralischen und religiösen Erfahrung gesehen. Die äußere Schönheit der Frau ist ein Abglanz ihrer inneren Vollkommenheit, der der Werbende sich erst würdig erweisen muß, indem er sie, jenseits aller körperlichen Reize, erkennt und dadurch auch ihren Schöpfer zu verehren lernt. Diese Verbindung von höfischem Liebeswerben, moralischer Einsicht und christlichem Ehebegriff ist Spensers einflußreicher Beitrag zur elisabethanischen Liebesdichtung. Läßt man die einzelnen Sonette außer Betracht, die einer konventionelleren Liebesauffassung folgen, so reflektiert der Zyklus einen Prozeß der Annäherung und Reifung, wobei keine eigentliche Handlung, sondern eher eine Folge innerer Zustände vermittelt wird. Spensers Sonette sind weniger vielfältig und dynamisch als die Shakespeares und überraschen kaum durch unerwartete Gedankenverbindungen, kühne Bilder oder leidenschaftliche Kontraste. Sie sind meist sehr klar aufgebaut; Gedankenführung und äußere Form des Sonetts entsprechen einander weitgehend. Das Reimschema wird, in teilweiser Rückkehr zu der italienischen Form (nur fünf verschiedene Reime), kunstvoll variiert: abab bebe cdcd ee. Der Sonettzyklus55 war freilich schon vor Spensers Amoretti in die englische Lyrik eingeführt worden. So veröffentlichte Thomas Watson eine Samm55

Sonettsammlungen: Elizabethan Sonnet-Cycles, ed. M. F. Crow, 4 Bde. (1896-98); Elizabethan Sonnets, ed. S. Lee, 2 Bde. (1904). Watson in: Arber's English Reprints (1870); Alexander in: Johnson-Chalmers, The English Poets, Bd. V; Drummond, ed. L. E. Kastner, 2 Bde. (Manchester, 1913); [vgl. F. R. Fogle, A Critical Study of W. D. (N. Y., 1952)]; Sonnets of the English Renaissance, ed. J.W. Lever (1974).- Vgl. L. C. John, The Elizabethan Sonnet Sequences (repr. N. Y., 1964); J. W. Lever, The Elizabethan Love Sonnet (1956).

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lung, Ekatompathia or Passionate Century of Love (1582), die 18-zeilige Sonette enthielt, im übrigen aber wenig über konventionelle Klischees hinausging. Wesentlich bedeutender und an origineller Vitalität den Sonetten Spensers noch überlegen ist Sir PHILIP SIDNEYS Sammlung Astrophel and Stella56 (1591 erschienen, aber etwa zehn Jahre, früher entstanden), inspiriert von seiner Liebe zu Lady Penelope Devereux, der Gattin von Lord Rieh, bemerkenswert aber vor allem als besonders eigenständige und vielseitige Auseinandersetzung mit den petrarkistischen Konventionen und dem Konzept der höfischen Liebe. Dabei wird bewußt mit autobiographischen Zügen gespielt, d. h. der Leser wird immer wieder zu einer Identifizierung von lyrischem Ich und Autor animiert. Dies geschieht vor allem dadurch, daß der Sprecher im Verlauf des Zyklus für den Leser immer stärkere persönliche Konturen gewinnt, daß er nicht nur in der typischen Situation des Liebenden, sondern zugleich als tätiges Mitglied einer Gesellschaft erscheint, die ihm auch andere Pflichten und Bindungen auferlegt. Er steht nicht nur als einsamer Werbender vor seiner Dame, sondern als ein Mann, der seine Liebe in Einklang mit mancherlei anderen Aufgaben und mit den Auffassungen seiner Umwelt bringen muß. Dadurch erfährt die konventionelle Thematik dieser Liebeslyrik eine starke Bereicherung. Astrophel erlebt an sich den Konflikt zwischen sinnlicher Leidenschaft und öffentlichen Verpflichtungen, aber auch zwischen erotischer Begierde und dem Ideal einer platonischen Freundschaft. Auch die Dame wird für den Leser dabei zu einer weniger klischeehaften Gestalt als in den meisten anderen Liebesgedichten der Zeit. Sie bleibt der Werbung gegenüber nicht gleichgültig, zeigt sogar Zeichen von Eifersucht, will aber doch einer sinnlichen Beziehung ausweichen. So kommt es nicht zu einer Vereinigung der beiden, sondern zur Trennung, mit der der Dichter sich abzufinden sucht. Aus dieser komplexen Situation ergibt sich eine Vielfalt von Stimmungen, Fragen und Themen, über die in den einzelnen Sonetten reflektiert wird. Auch wird die Beziehung von Konvention und persönlicher Empfindung, Ideal und Wirklichkeit, als dichterisches Problem behandelt und eine bloße Nachahmung petrarkistischer Klischees ohne den Lebensbezug der eigenen Erfahrung abgewertet. Im Vergleich zu Spensers Amoretti ist Sidneys Zyklus reicher an Kontrasten und verschiedenen Erfahrungsbereichen. Formal zeigen die 108 Sonette in Astrophel and Stella eine auffallende Freiheit der Variation; Gliederung und Reimschema richten sich stark nach dem Inhalt. So ist etwa das abschließende Reimpaar nicht in allen Sonetten anzutreffen und wird oft syntaktisch überspielt, indem der gedankliche Abschluß entweder erst mit der letzten Zeile erfolgt oder auch die letzten drei Zeilen als Satzeinheit zusammengefaßt werden. SHAKESPEARES Sonette57 stellen zweifellos die originellste Abwandlung des petrarkistischen Sonettzyklus in England dar. Sie wurden 1609 zum erstenmal 56

The Poems, ed. W. A. Ringler (Oxf., 1962) [mit Kommentar]; Psalmen-Übers., ed. J. C. A. Rathmell (N. Y., 1963). - Vgl. auch S. 269. 57 Kommentierte Ausgabe der Sonette, ed. T. G. Tucker (1924); Variorum Edition der Sonnets von H. E. Rollins, 2 Bde. (Philad., 1944); The Sonnets of W. S., ed. L. Fox (1958); S.'s Sonnets, edd. W. G. Ingram and T. Redpath (1964); S.'s Sonnets, ed. S. Booth (New Haven, 1977). - E. Hubler, The Sense of S.'s Sonnets (Princeton, 1952);

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gedruckt, es ist aber sicher, daß sie vor 1598 entstanden sind, da sie in diesem Jahr bereits von einem Zeitgenossen erwähnt werden. Die neuere Forschung neigt dazu, sie etwa zwischen 1592 und 1596 zu datieren, dem Höhepunkt der elisabethanischen Sonettmode. Der auffälligste Unterschied zu den Sammlungen von Spenser und Sidney ist die überraschende Ausweitung der Thematik und der traditionellen Liebeskonstellation. So wird die Erfahrung der Liebe selbst keineswegs nur als positive Möglichkeit der eigenen Reifung gesehen, sondern als beunruhigende intellektuelle wie emotionale Provokation. Nicht nur das Beste, sondern auch das Schlechteste im Menschen kann durch diese Erfahrung gefördert werden. Vor allem aber wird bei Shakespeare sowohl das platonische Ideal einer alle Bereiche der Persönlichkeit umfassenden Freundschaft zwischen zwei Männern als auch die sinnliche Abhängigkeit von einer keineswegs vollkommenen Frau in das Erlebnis der Liebe einbezogen. Es ist wichtig, vor allem diese Vertiefung der konventionellen Situation zu erkennen und sich den Zugang zu Shakespeares Sonetten nicht durch die letztlich unlösbare Frage nach ihrem autobiographischen Hintergrund zu verbauen, über die von Forschern wie von Amateuren unendlich viel spekuliert worden ist. Sicher hat der Dichter, wie Sidney und Spenser, die eigene Situation und persönliche Liebeserfahrungen in seinen Sonetten mit verarbeitet. Auch sind die angedeuteten Beziehungen zwischen dem Dichter, seinem jugendlichen Freund und Patron, der aufreizenden und zugleich unbeständigen 'dark lady' und dem glücklicheren Dichterrivalen so unkonventionell und eigen, daß viele Leser der Versuchung nicht widerstanden haben, hier einen bewegten Lebensroman Shakespeares zu konstruieren, in dem die einzelnen Mitspieler namentlich identifiziert wurden. Doch Shakespeare lädt in seinen Sonetten weniger als Sidney zur Identifizierung mit dem Autor ein, und die zeitlose Wirkung dieser Gedichte liegt sicherlich nicht in ihrem dokumentarischen Gehalt, sondern in der ungewöhnlich offenen, differenzierten und illusionslosen Analyse menschlicher Erfahrung von Liebe, Zuneigung, Neid, Verfallenheit, Eifersucht, Zweifel an sich selbst und an dem geliebten Menschen. Da Shakespeare den Druck von 1609 offensichtlich nicht selbst überwachte, läßt sich über die ursprüngliche Reihenfolge der Sonette wenig aussagen. Viele von ihnen ordnen sich durch ihren Inhalt in Gruppen zusammen; doch ist es weder möglich noch sinnvoll, eine zusammenhängende Handlung zu abstrahieren, was auch kaum der Tradition des Sonettzyklus entspricht. Deutlich wird jedoch, daß der Dichter eine Reihe höchst gegensätzlicher Erfahrungen durchläuft, die durch äußere Ereignisse ausgelöst werden. Die erste Gruppe von Sonetten richtet sich an den geliebten Freund, den der Dichter auffordert, durch Zeugung von Nachkommenschaft die eigene Vollkommenheit weiterzugeben und vor dem Angriff der Zeit zu schützen. Aber auch das dichterische Kunstwerk kann Alter und Vergänglichkeit überwinden J. B. Leishman, Themes and Variations in S.'s Sonnets (1961); J. D. Wilson, An Introduction to S.'s Sonnets (Cambr, 1964); S. Booth, An Essay on S.'s Sonnets (New Haven, 1969); Discussions of S.'s Sonnets, ed. B. Herrnstein (Boston, 1965).

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(z. B. 17, 18, 19). Die Liebe des Dichters zu dem schönen Jüngling ist freilich immer wieder gefährdet, vor allem durch die Verirrungen des jungen Mannes, der den unwürdigen Reizen der 'dark lady' erliegt und damit nicht nur dem Freund, sondern auch sich selbst untreu wird. Enttäuschung und Eifersucht lassen den alternden Dichter an sich selbst und an seiner Kunst zweifeln, die sich oft an dem unverständigen Beifall der Masse orientiert (z. B. 110, 111). Auch er wird gegen sein eigenes besseres Urteil von unbeherrschter Lust in die Arme der dunklen Schönheit getrieben, und einige Sonette beschreiben mit wenig verblümter Direktheit, was er dort sucht (z. B. 135, 136, 151). Während der ausgelassene Wortwitz (etwa das Spiel mit dem Namen 'Will') hier an die Shakespearesche Komödie erinnert, sind andere Sonette von einer komplexen Bildersprache geprägt oder stellen subtile Gedankenverbindungen her. Dies entspricht der Breite der dargestellten Erfahrungen. Dem eingestandenermaßen ungeistig-körperlichen Liebesgenuß im Bett der offensichtlich nicht nur dem Dichter ergebenen Dame steht eine vertiefte, von aller sexuellen Ablenkung ungetrübte Liebesauffassung gegenüber, die sich etwa in dem bekannten Sonett 116 ausdrückt, wo von der 'marriage of true minds' gesprochen wird, die auch durch die Veränderung des Partners nicht endgültig erschüttert werden kann. Wiederholte Trennungen führen immer wieder zur Versöhnung, da wirkliche Liebe Zeit und menschliche Unbeständigkeit überdauert. Während die Dame äußerlich und in ihrem Wesen den denkbar stärksten Kontrast zu der traditionellen Adressatin der höfischen Liebesdichtung bildet, so daß der Preis ihrer Schönheit zu einem antipetrarkistischen Sonett gerät (131), erfährt der Dichter in seinem Verhältnis zu dem jungen Freund den ganzen Reichtum einer uneigennützigen menschlichen Beziehung, wobei er auch in der Person des Geliebten ausdrücklich zwischen der geistigen Liebe unterscheidet, die er für sich in Anspruch nimmt, und 'women's pleasure', womit er nichts zu tun hat (2). Diese Vielfalt der Themen und Stimmungen, die virtuose und immer wieder überraschende Vertiefung traditioneller Liebessituationen und die unkonventionelle Rückhaltlosigkeit der Selbsterforschung heben die Sammlung über alle ähnlichen Sonettsequenzen der Zeit hinaus. In ihnen wird, sieht man von Spenser und Sidney ab, weithin nur in wenig einfallsreicher Weise das gleiche Thema wiederholt. Petrarcas Laura erscheint in wesentlich blasseren Nachahmungen als Phillis, Diana, Delia oder Licia wieder in Thomas Watson, Tears of Fände (1593), Henry Constable, Diana (1592), Thomas Lodge, Phillis (1593), Giles Fletcher, Licia (1593). Auch die etwas glatte Eleganz von Samuel Daniels Sonetten an Delia (1592) bleibt weithin in den gängigen Klischees stecken, während MICHAEL DRAYTONS Idea (1594) schon durch den Titel andeutet, daß hier eine neuplatonische Vergeistigung der Liebe angestrebt wird, die allerdings leicht zur unanschaulichen Lebensferne wird, so daß weder der Sprecher noch die verehrte Dame persönliche Konturen gewinnen. Die Liebe des Dichters wird in kosmischen und metaphysischen Bezügen beschrieben und verliert dadurch etwas an persönlicher Direktheit und kon-

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kreter Einmaligkeit. Anderseits gelingt es Drayton immer wieder, den traditionellen Situationen einen Ausdruck zu verleihen, der nicht im Klischee stecken bleibt. Die Verehrung der Idea wird bei ihm fast zur öffentlichen Demonstration, wenn er etwa in einem Sonett, das einer der späteren Auflagen angefügt ist, die politischen Ereignisse beschreibt, die sich seit Beginn seiner Liebe abgespielt haben (Calling to mind.. .). Auch das Thema der Verewigung der Geliebten durch unsterbliche Poesie wird bei ihm mit einer von sonst kaum einem Sonettdichter erreichten Überzeugungskraft neu formuliert (How many paltry, foolish, painted things...), und wenn C. S. Lewis von einem der Sonette (Since there's no help...) sagt: "One cannot ask more of fourteen lines", so bestätigt dieses Urteil eines der anregendsten Kenner englischer Renaissancedichtung den Rang Draytons als des letzten großen elisabethanischen Sonettdichters. Spätere Zyklen wie William Alexanders Aurora (1604) oder Fulke Grevilles Caelica (erst 1633 gedruckt), der nicht nur Sonette enthält, sind nicht von vergleichbarem Gewicht. Neben dem Sonett, vielen klassischen Formen und den verschiedensten Gelegenheitsgedichten ist der gesungene Vers ein besonders wichtiger Beitrag der Elisabethaner zur englischen Lyrik. Die Beziehung zwischen Wort und Musik wurde von den Humanisten, den Reformatoren und später den Dichtern viel diskutiert. Dabei setzte sich gegenüber der früheren Einschätzung der Musik als einer Widerspiegelung der kosmischen Harmonie die Auffassung durch, daß die Musik dem Text zu dienen und dessen Ausdrucksmöglichkeiten zu unterstützen habe. So kam es zu einem engen Zusammenwirken von Dichtern und Musikern, die nicht selten in einer Person vereint waren, wie wir dies von Thomas Campion wissen, der sich auch theoretisch zu Vertonungsproblemen äußerte. Die Bedeutung des Liedes muß vor allem aus seiner Rolle in der elisabethanischen Gesellschaft verstanden werden. Die Fähigkeit, zur Begleitung oder in einer mehrstimmigen Gruppe zu singen, gehörte zur selbstverständlichen Bildung des Höflings und 'gentleman' ebenso wie offensichtlich in allen Schichten privat oder öffentlich bei den verschiedensten Anlässen gerne gesungen wurde. So enthalten nicht nur einige der wichtigsten Anthologien der Zeit viele Lieder, wie The Phoenix' Nest56 (1593), The Passionate Pilgrim™ (1599), England's Helicon™ (1600) und Poetical Rapsody^ (1602), in denen bekannte Dichter (Lodge, Greene, Spenser, Raleigh) neben zahlreichen anonymen Verfassern stehen, sondern es erschienen auch Liedsammlungen mit Noten, etwa von William Byrd (1587), Nicholas Yonge (1588), John Dowland (1597) und Thomas Campion (160l).62 Na58

ed. H. E. Rollins (Cambr., Mass., 1931). ed. S. Lee (Oxf., 1905) [Facs.]. 60 ed. H. E. Rollins (Cambr., Mass., 1935); auch in Muses' Libr. (1950). 61 ed. A. H. Bullen, 2 Bde. (1890-91); ed. H. E. Rollins (Cambr., Mass., 1931-32). 62 Vgl. A. H. Bullens Sammlungen: Lyrics from the Dramatists (1889 u. 1891) und Lyrics from the Songbooks of the Elizab. Age (1889 und 1891); ferner F. S. Boas, Songs and Lyrics from the English Masques and Light Operas (1950); N. Ault, Elizab. Lyrics (31949). Works of T. Campion, ed. W. R. Davis (N. Y., 1967). 59

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mentlich finden sich aber auch in fast jedem Drama und jedem Roman der Zeit eingestreute Lieder, von denen manche zu den reizvollsten Zeugnissen der englischen Renaissancelyrik gehören. So ließe sich allein schon an Shakespeares Dramen die Vielfalt und der poetische Reichtum des elisabethanischen Liedes illustrieren, vom volkstümlichen Strophenlied mit witzigem Refrain It was a lover and his lass und dem pastoralen Under the greenwood tree aus As You Like It, den ebenso melodischen wie tiefsinnigen Liedern des Narren in Twelfth Night bis zur kunstvollen Elegie Fear no more the heat 'the sun aus Cymbeline. Ein enger Zusammenhang besteht auch zwischen Text und Kompositionsweise. Da die Melodie sich in vielen Fällen möglichst eng dem Inhalt oder der Stimmung des Textes anpaßt, kommen viele dieser Lieder erst im Vortrag zu ihrer ganzen Wirkung. Zwei verschiedene musikalische Formen wurden im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts besonders beliebt, das aus Italien eingeführte Madrigal und das Air. Der Unterschied zwischen den beiden Formen liegt vor allem in der Stimmenführung. Im Madrigal, das keine eigentliche Melodie, sondern ein kontrapunktisches Nebeneinander mehrerer Stimmen bietet, lehnt sich die Musik besonders eng an den Text an, der durch kunstvolles Ineinandergreifen der verschiedenen Stimmen und eine jedes einzelne Wort ausdeutende Tonführung auf eine höchst wirkungsvolle Weise zum Klingen gebracht werden kann. So wurden gern klischeehaft wiederkehrende Worte wie 'stand, fall, die, weep, tears' durch rhythmische und melodische Mittel und Wiederholung besonders hervorgehoben. Dabei waren schlichte Texte mit simplen Stimmungsumschwüngen für diese Vertonung besser geeignet als Gedichte mit differenzierter Argumentation oder subtiler Andeutung. Etwas freier ist das Verhältnis von Wort und Musik im einstimmigen Air, das für eine Solostimme mit Begleitung (meist Laute) gedacht und in der Regel strophisch aufgebaut war, während das Madrigal den Text, auch wenn er strophisch war, durchkomponierte. Da im Air eine Melodie für mehrere verschiedene Strophen passen mußte, konnte die Zuordnung zum einzelnen Wort weniger eindeutig erfolgen, es sei denn man wählte oder verfaßte Texte, bei denen sich der inhaltliche und syntaktische Bau der einzelnen Strophen möglichst genau entsprach. Es ist aufschlußreich, den Aufbau elisabethanischer Lieder unter diesem Gesichtspunkt zu verfolgen. Ein besonders viel und abwechslungsreich benutztes Mittel der Strophengliederung war der Refrain, vom einfachen 'ding dong' oder 'heigh ho' bis zur raffiniert variierten Pointe. Ein besonders gelungenes Beispiel ist Thomas Campions Lied There is a garden in her face, wo das 'Cherry ripe' des Refrains durch die Vertonung als Londoner Straßenruf der kunstvollen Gartenmetapher entgegengesetzt und die petrarkistische Zurückhaltung der Dame dadurch ironisch in Frage gestellt wird. Ähnliche Beziehungen sind häufig und zeigen, daß die Mehrzahl dieser Lieder erst aus dem Zusammenwirken von Wort und Musik und aus der geselligen Vortragssituation ganz verstanden werden kann.

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5. Spenser und das Epos Für die Dichter der Renaissance war das Epos die höchste der literarischen Gattungen. Die antiken Epen wurden nicht nur als zeitlose Gestaltungen großer Mythen geschätzt, sondern auch immer wieder allegorisch gedeutet, als verherrlichende Demonstrationen politischer und ethischer Werte. Spensers Faerie Queene ist der ehrgeizigste Versuch, in Anlehnung an klassische, aber auch neuere, vor allem italienische Muster, ein nationales englisches Epos zu schaffen, das die politische Größe Elisabeths als Regentin einer blühenden Nation und Haupt einer geeinten Kirche feiern und zugleich einen Spiegel aller christlich-höfischen Tugenden darstellen sollte. Als Helden wählte er den britischen König Arthur, der freilich mit dem höfischen Herrscher so vieler mittelalterlicher Romanzen nicht allzuviel gemeinsam hat, sondern hier als Prinz auf der Suche nach Gloriana, der Feenkönigin und Verkörperung aller erstrebenswerten Vollkommenheit, erscheint. Der Plan des großen Werkes wurde von Spenser in einem Brief an Sir Walter Raleigh entwickelt, der zusammen mit den ersten drei Büchern 1590 veröffentlicht wurde und eine notwendige erste Einführung in den beabsichtigten Aufbau des Gedichtes gibt. Demnach sollte im letzten der zwölf Bücher erst der eigentliche Ausgangspunkt für die einzelnen Abenteuer geschildert werden, ein zwölftägiges Fest der Gloriana, mit der Aussendung der zwölf Ritter, die jeweils eine Einzeltugend repräsentieren und jeweils im Zentrum eines Buches stehen sollten. Das vorliegende Werk beginnt also nach klassischer Epentradition mitten in der Handlung: die Ritter begegnen uns bereits bei der Ausführung ihrer Mission. Arthur, in dem alle männlichen Tugenden vereint sind, greift als Gnade Gottes helfend ein, wo die Einzelritter zu scheitern drohen, und führt sie zuletzt vor den Thron Glorianas. Freilich wurde von diesem großartigen Aufriß nur die Hälfte ausgeführt. 1596 erschienen die Bücher IV bis VI, und vieles spricht dafür, daß Spenser den ursprünglichen Entwurf modifizierte, so daß sein Brief an Raleigh nur einen recht allgemeinen Leitfaden darstellt. Er scheint freilich den Leser anzuregen, das ganze Werk als eine Art Schlüsselroman zu lesen, und in diesem Sinne ist es auch vielfach kommentiert worden. Der Dichter selbst deutet ja sein Buch als politische und moralische Allegorie und erklärt die Hauptfiguren als Personifikationen: so vor allem Gloriana als Abbild der Königin Elisabeth und zugleich Inbegriff aller Vollkommenheit, Arthur als 'magnificence' und die Einzelritter als Darstellungen bestimmter aristotelischer Tugenden. Der Leser wird damit ermutigt, auf diesem Weg weiterzugehen. Arthur läßt sich auch als Verklärung Leicesters verstehen, dessen Verehelichung mit Elisabeth Spenser erhoffte, die falsche Duessa als personifizierter Katholizismus, falsche Religion, Mary Tudor und Mary Stuart; es ist sicher, daß für den zeitgenössischen Leser oder den späteren Gelehrten die Zahl möglicher Anspielungen und Bezüge kaum ein Ende hat. Dies kann jedoch allzu schnell zu unnötiger Verwirrung führen, wenn man das Gedicht nur als ein zu entzifferndes Rätselspiel liest und übersieht, daß die Allegorie hier weder

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konsequent durchkonstruiert noch bis in jedes Detail ausgearbeitet ist. In weiten Passagen spricht die Erzählung für sich selbst und die politisch-ethische Grundausrichtung des Werkes wird auch ohne gelehrte Entschlüsselung deutlich. Spensers Allegorie verbindet die unmißverständliche Anschaulichkeit populärer Erzählung, Homiletik und Schaustellung mit philosophischer Reflexion und schöpferischer Mythenbildung. Sie ist nicht Selbstzweck und will nicht vernebeln, sondern verdeutlichen und einprägen. Wie die größten allegorischen Dichtungen vor Spenser, etwa Langlands Piers Plowman oder Dantes Divina Commedia, erschließt das Werk bei jeder Lektüre neue Bedeutungsschichten. Die Fülle der politischen, historischen, mythologischen und philosophisch-theologischen Bezüge ist noch lange nicht vollständig erhellt und bedarf noch mancher Kommentierung. Doch dieser gelehrte Bedeutungsreichtum soll nicht den Zugang erschweren, und der Leser sollte daher auch nicht als erstes nach der hinter dem Text verborgenen Bedeutung fragen, sondern zunächst die farbig bewegte Handlung und die phantasievolle Personenfülle auf sich wirken lassen. Spensers beispiellose, allenfalls von Shakespeare und Milton übertroffene Nachwirkung bis in unser Jahrhundert läßt sich weniger aus seinem zeitgeschichtlichen Engagement erklären als aus seiner originellen Verbindung verschiedenster Traditionen, vor allem der mittelalterlichen Allegorie, der volkstümlichen wie der gelehrten, und des italienischen Romanzenepos (Ariosto, Tasso), das wiederum eine exuberante Abwandlung des höfischen Ritterromans ist. Das Werk sollte eine Vereinigung des Epos, das wie die Aeneasfahrt ein Thema und einen Helden hat, und des Versromans darstellen, der vielerlei Abenteuer von vielen Helden berichtet. Im Mittelpunkt jedes Buches wie des ganzen Werkes steht die 'Quest', die ritterliche Fahrt durch eine Serie von Bewährungsproben auf das Ziel einer endgültigen Vereinigung mit der als Ideal verehrten Frau. Das Werk quillt fast über von immer neuen Begegnungen, Kämpfen, Kraftproben und Versuchungen. An reiner Handlungsfülle steht es keinem Abenteuerroman nach. Spenser ist hier in erster Linie Erzähler, nicht Philosoph und Lehrmeister. Seine Dichtung will alle geistigen und sinnlichen Fähigkeiten des Lesers ansprechen und mehr durch lebendige Anschauung wirken als durch direkte Instruktion. Dies gilt für die verschlungene Handlung ebenso wie für die mehr statischen Beschreibungen allegorischer Lokalitäten, wie House of Holiness (Buch I), House of Alma und Bower of Bliss (II), Garden of Adonis (III) und Temple of Venus (IV). Spensers Gestalten bewegen sich in einer höchst anschaulich vergegenwärtigten Phantasiewelt, die viele traditionelle Elemente literarischer Landschaften in sich vereint, aber kaum präzise lokalisierbar ist und als fiktiver Handlungsschauplatz ihren unverwechselbaren Charakter hat wie Thomas Hardys Wessex oder J. R. R. Tolkiens Middle-earth (The Lord of the Rings' ist ohne das Vorbild der Faerie Queene kaum zu denken). Spensers reiche Bildlichkeit lebt von einem bei aller rhetorischen Brillanz und archaisierenden Patina durchaus auch idiomatischen und präzisen Sprachstil, der den Leser (nach einer gewissen Eingewöhnung) unmittelbar

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anspricht und zudem durch seine musikalischen Qualitäten und die dekorative Strophenform auch auf das Ohr wirken will. Spenser schuf sich eine eigene Strophe, die in der englischen Literatur lebendig blieb, eine Weiterbildung der vor allem von Chaucer virtuos gehandhabten rhyme-royal Strophe, deren Reimfolge (ababbcc) er durch zwei weitere mit b und c reimende Zeilen kunstvoll ergänzte und durch Erweiterung der letzten Zeile um einen Versfuß einen feierlichen Abschluß gab (ababbcbcc). Der Anspruch des Werkes, von dem vorliegenden Fragment nur teilweise eingelöst, spricht nicht nur aus dem imponierenden Gesamtplan, sondern auch aus der enzyklopädischen Einbeziehung geschichtlicher, mythologischer und philosophischer Gegenstände, dem Versuch, politische, ethische und theologische Überzeugungen zu einem etwas synkretistischen Gesamtbild einer idealen Welt zu verschmelzen, einer Welt, in der bei aller Vielgestaltigkeit doch die grundsätzliche Orientierung leicht fällt. Der das ganze Gedicht durchziehende Dualismus von Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Licht und Dunkel, reiner Liebe und bestialischer Begierde bestimmt die Entscheidungen und den Status jedes Einzelnen, aber das Werk läßt keinen Zweifel daran, wem letztlich der Sieg zufällt und was am Ende Bestand haben wird. Spensers Faerie Queene ist auch darin das wohl eindrucksvollste Dokument des platonischen Protestantismus der elisabethanischen Renaissance. Die übrigen Epenversuche der Zeit lassen sich mit Spensers Gedicht kaum vergleichen. Spenser selbst setzte offensichtlich, wie aus Colin Clout hervorgeht, große Hoffnungen in den vielseitigen SAMUEL DANIEL63 (1562-1619), dessen poetische Ziele den seinen zu entsprechen schienen. Als Dichter erhebt er sich freilich kaum über konventionelle Kunstübungen, so in der Complaint of Rosamond (1592), einer Klage der Geliebten Heinrichs II. im Stil des Mirror for Magistrates, oder einer an Ovids Heroiden angelehnten Versepistel der Octavia an Marcus Antonius (1599). Im gleichen Jahr entstand auch das umfangreiche Disputationsgedicht Musophilus, in dem über die Rolle der Dichtkunst in der gegenwärtigen Zeit, vor allem auch das Verhältnis zwischen Dichter und Publikum reflektiert wird. Daniel erweist sich hier, wie auch in seinen anderen Werken, als ein kluger und nüchterner Denker, dem der Inhalt sehr viel wichtiger ist als die poetische Form. Dies bestätigt sich in seiner Streitschrift Defence of Rhyme (1603), einer Antwort auf Campions Observations in the Art of English Poesie (1602) und einem intelligenten Plädoyer für die Vorzüge gereimter Dichtung sowie überhaupt für eine gewisse Freiheit von falsch verstandenen Traditionsbindungen. Der für die englische Renaissance charakteristische Streit um die ausschließliche Verbindlichkeit antiker metrischer Formen war damit abgeschlossen. Daniels ehrgeizigstes Werk ist ein unvollendetes historisches Epos über die Civil Wars between Lancaster and York (1595-1609), das den Aufstieg Englands zur Größe in 63

ed. A. B. Grosart, 5 Bde. (repr. 1963) [desgl. in Johnson-Chalmers, The English Poets, Bd. Ill und IV]; Poems and Defence of Ryme, ed. A. C. Sprague (Cambr., Mass., 1930); Defence auch in: Critical Essays of the 17th Century, ed. J. E. Spingarn, 3 Bde. (1908-9). - Biographien von J. Rees (Liverpool, 1964) und C. Seronsky (N. Y., 1967).

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einer „der besten aller Verfassungen" würdigen Sprache darstellen sollte. Die enge Verbindung von Poesie und politischer Geschichte erinnert an Spenser, aber der Vers ist weithin lahm, und es bleibt letztlich bei einer Reihe dürftig belebter historischer Bilder. Es ist offensichtlich, daß Daniel mehr an der Vermittlung des Inhaltes als an den literarischen Qualitäten seines Werkes interessiert ist. Er will nur die Wahrheit überliefern und empfand letztlich alles Erdichtete als fragwürdig. Dieser zu Ende des Jahrhunderts an vielen Stellen sich ausdrückende weltanschauliche Wandel, der Dichtung überhaupt zum Problem machte, ist auch im Werk MICHAEL DRAYTONs64 (1563-1631) spürbar. Noch stärker als Daniel besaß er zwar die äußere Begabung, nicht aber die innere Haltung des Dichters, und es gelang ihm ebensowenig, mit vaterländischer Geschichtsschreibung epischen Ruhm zu erringen. Er schöpfte seine Anregungen vorwiegend aus der Literatur, von den frühen, später stark überarbeiteten Gedichten Idea, The Shepherd's Garland (1593), das stark von Spenser beeinflußt ist, und Endimion and Phoebe (1595) bis zu dem späten, im Stil des 'mock-heroic epic' geschriebenen Feenmärchens Nymphidia (1627). Die für sein umfangreiches Werk kennzeichnende erstaunlich leichte Versgebung, der rhythmische Schwung und die dekorative Bildersprache werden oft durch eine gewisse Gedankenarmut beeinträchtigt, und trotz mühsamen Feilens und ständigen Umarbeitens bleibt sein Stil oft formlos und unkonzentriert. Er schrieb eine Reihe kleinerer historischer Gedichte, teils Elegien in der Nachfolge des Mirror for Magistrates wie Gaveston, Mathilde, Robert of Normandy, teils Darstellungen bestimmter Ereignisse wie The Barons' Wars (1603) und The Battaile of Agincourt (nach 1620), beide in Ottavenstrophen; sie sind ungleichmäßiger als die Gedichte Daniels, an ihren Höhepunkten aber farbiger und origineller. Wo die historische Wahrheit seinen Figuren mehr Freiheit läßt, wie in dem Briefwechsel berühmter Liebespaare, England's Heroical Epistles (1597), als Beiwerk zur Geschichtsepik entstanden, gelingt ihm auch eine lebendigere Gestaltung seiner Charaktere und ein persönlicherer Stil. Weniger glücklich war freilich Draytons Plan eines umfassenden geographischen Epos Poly-Olbion, von dem 1612 achtzehn und 1622 weitere zwölf Gesänge erschienen mit zusammen 15000 Verszeilen (Alexandriner). Von Südwesten ausgehend, den Flußläufen folgend, handelt das Werk eine Grafschaft nach der anderen ab, mit der gleichen, etwas profillosen Gerechtigkeit, die schon die Geschichtsepen zu einer etwas öden Fläche gemacht hatte. Es finden sich reizvolle Beschreibungen von taufrischen Morgen, Abendstimmungen mit der Schönheit des Wassers, hübsche Bilder von Jagd und ländlichem Leben, geschickt eingeflochtene Ortslegenden und Geschichtsrückblicke; aber die nichts auslassende Genauigkeit, die etwas schwerfällige alle64

ed. J.W. Hebel, 6 Bde. (Oxf., 21962); Poems, ed. J. Buxton, 2 Bde. (1953); Minor Poems, ed. C. Brett (Oxf., 1907); Auswahl aus Daniel und Drayton, ed. H. C. Beeching (1899). - Biographie von B. H. Newdigate (Oxf., 1941); R. F. Harding, M. D. and the Passing of Elizabethan England (Lawrence, 1973).

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gorische Verkleidung von Bergen, Flüssen und Wäldern wie auch die etwas eintönige, allzu gravitätische Würde des Versmaßes lassen die Schilderung nicht recht zu poetischem Leben erwachen. Der Gegenstand war kaum für ein Epos geeignet, und es fragte sich, wie Spensers Bemühen um eine eigenständige epische Tradition fortzusetzen war. Man konnte beim Nachahmen bleiben, konnte wie WILLIAM BROWNE65 (1591-1643) den Schäferkalender zu den epischen Britannia's Pastorals (I. Buch 1613, 2. Buch 1616) ausweiten, den Colinschen Liebesroman mit anderen Namen - hier sind es die Leiden und Tröstungen der liebeskranken Schäferin Marina, die ihr Geliebter Celadine verlassen hat - als dünnen Faden benutzen, um die englische Landschaft mit Hügeln und Wasser, Bäumen und Blumen, Vögeln und Tieren zu beschreiben, konnte allerhand Geschichten, Allegorie und Mythologie einflechten, aber damit kam man nicht weiter als Drayton und gab im Grunde doch nur einen verwässerten Spenser. Erst im 17. Jahrhundert wurden hier wirklich neue Wege eingeschlagen, während die Kleinepik der elisabethanischen Zeit eher im Gegensatz steht zu der ethisch-religiösen Welt Spensers und der Humanisten. Auf Italienreisen, deren Gefahren Roger Ascham bereits eindringlich ausgemalt hatte, und in der Begegnung mit der italienischen Renaissance trat den Engländern eine andere Auffassung der Antike entgegen, ein freierer, ungläubigerer Geist und eine offen diskutierte Skepsis gegen einengende Orthodoxie. Eine scharfe, politisch-kirchliche Zensur stand der Verbreitung solcher Gedanken in England im Wege; doch einzelne Kreise des Hofes, der akademischen Jugend und der Londoner Schauspieler zeigten sich dafür durchaus empfänglich. So hatte MARLOWE bereits als Student Ovids Amores übersetzt, und Ovids Versionen der klassischen Mythologie dienten als Anregung für zahlreiche modische Neufassungen. Ein besonders gelungenes Beispiel ist Marlowes Verserzählung Hero and Leander (1593), ein Fragment, das 1598 von George Chapman zu Ende geführt wurde. Marlowe gibt in schwungvollen, oft auch kecken und witzigen heroischen Reimpaaren den ersten Teil der Geschichte frei nach Musaeus wieder, das Aufflammen der Liebe und ihre erste Erfüllung. Es ist ein betont unbefangener Preis der sinnlichen Leidenschaft mit spöttischer Abwertung keuscher Jungfräulichkeit oder schanivoller Zurückhaltung. Erotische Freuden, Schönheit des Körpers, berauschende Farben und Klänge werden um ihrer selbst willen gefeiert. Die virtuose Leichtigkeit der Sprache, die farbige Anschaulichkeit und die Beschränkung auf ein Thema verleihen dem Gedicht eine erstaunliche Einheitlichkeit. Freilich bricht das Werk auf dem Höhepunkt der Liebe ab, und Chapmans Fortsetzung, die das tragische Ende schildert, schlägt von vornherein einen ganz anderen Ton an, der aber auf seine Weise nicht weniger angemessen und überzeugend ist. Den zwei Hälften der Geschichte entsprechen zwei ungleiche Bearbeitungen, der ungehemmten Liebesfreude steht die ausgedehnte Klage über die Vergänglichkeit solcher Liebe gegenüber. 65

ed. W. C. Hazlitt, Roxburghe Club (1868); Poems, ed. G. Goodwin, 2 Bde. (1894) [Muses' Libr.]; in Johnson-Chalmers, The English Poets, Bd. VI.

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Ein besonders charakteristisches Beispiel des erotischen Kleinepos (Epyllion) ist SHAKESPEARES Venus and Adonis (1593), wiederum eine glitzernde Nacherzählung eines Ovidschen mythologischen Märchens. Die Leidenschaft der mächtigen Liebesgöttin für den blühenden Jüngling Adonis, sein Tod und ihre Klage, werden mit sinnlicher Farbenpracht und respektlosem Witz wiedergegeben, so daß tragische Wehmut, glühende Verherrlichung der Liebe und distanzierte Komödie sich auf eine höchst gewagte Weise verbinden. Der große Erfolg des Werkes, durch das Shakespeare seinen Ruhm als geistreicher, sprachbegabter Dichter stärker begründete als durch seine frühen Dramen (die als Spielvorlagen literarisch sehr viel weniger ernst genommen wurden), beweist, daß diese brillante, moralisch unbekümmerte Version des antiken Mythos der geistigen Disposition einer bestimmten Publikumsschicht sehr entgegenkam. Die schwelgerische Demonstration rhetorischer Virtuosität (vgl. etwa die Eber- und Hengstschilderung oder die Hasenjagd), die unromantische Schilderung einer übermächtigen, aber zugleich auch etwas aufdringlichen Liebessehnsucht und die Erfahrung der unwiederbringlichen Hinfälligkeit von Jugend und Schönheit tragen zu dem bei aller modischen Aktualität doch recht individuellen Charakter des Werkes bei. Shakespeares zweites Kleinepos The Rape of Lucrece (1594) ist dem modernen Leser wohl noch etwas schwerer zugänglich, was vor allem am Stoff und seiner ethischen Implikation, aber auch an der nach heutigem Geschmack leicht zur Geschwätzigkeit ausufernden Rhetorik der Klage liegen dürfte. Die tragische Geschichte der Lukrezia aus Ovids Fasti war ein vielfach behandeltes Schulbeispiel ehelicher Treue. Shakespeare konzentriert seine Darstellung ganz auf die Vergewaltigung, die als überzeugendes Beispiel korrumpierender Lust und unmittelbar auf die Tat folgender Selbstverachtung dramatisiert wird, und auf den Selbstmord der Geschändeten, dem eine wortreiche Klagerede vorausgeht, ein besonders kunstvolles Beispiel des traditionellen 'Complaint'. Die klassische Erzählung wird kaum als menschliche Tragödie lebendig; sie dient mehr als Anlaß zu einem rhetorischen Feuerwerk, das neben dekorativem Leerlauf doch immer wieder Momente dramatischer Intensität und eindrucksvoller poetischer Formulierungskunst bietet. Die vielfach variierten Themen der sinnlichen Begierde, Desillusion, Verzweiflung, Ehre und Treue erinnern deutlich an Shakespeares Dramatik, in der sich freilich rhetorische Deklamation fast immer der lebendigen Charakterisierung unterordnet und lähmende Statik vermieden wird. Das elisabethanische Versepos appelliert an einen Geschmack, den sich der heutige Leser meist erst durch einen aufnahmebereiten und offenen Umgang mit diesen Texten wieder erwerben muß.

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6. Der elisabethanische Roman66 Die elisabethanische Zeit ist reich an erzählender Prosa. Die unbekümmerte Vielfalt der Formen macht freilich eine Einteilung in bestimmte Erzählgattungen problematisch, und es ist sicher, daß der Roman als ein fest abgegrenzter Erzähltyp im allgemeinen Bewußtsein noch nicht existierte: es gab die höfische Großerzählung, die äußerlich am ehesten unserer Vorstellung von Roman entspricht, jedoch stark an den Konventionen des Versepos ausgerichtet ist; daneben waren Übersetzungen italienischer Novellen besonders beliebt (oft auf dem Umweg über Frankreich); andere Formen der Prosaerzählung orientieren sich mehr am spanischen Schelmenroman, am volkstümlichen Schwank oder am abenteuerlichen Reisebericht. Besonders wichtig für die Entwicklung der englischen Kunstprosa wurde der „Roman" Euphues or the Anatomy of Wit (1578) von JOHN LvLY67 (1554-1606), nach dessen Vorbild man eine ganze Stilrichtung benannt hat („Euphuismus"). Es handelt sich hier um eine Form der Prosa, bei der die sachliche Aussage ganz hinter der überreichen Ausschmückung durch rhetorische Figuren aller Art, gewählte Vergleiche, sentenziöse Weisheiten und dekorativ ausgeweitete Bilder zurücktritt. Humanistische Bemühungen verbinden sich mit demonstrativer Gelehrsamkeit, spitzfindigem Einfallsreichtum und dem Streben nach einer Sprachform, die dem Ideal des höfischen Lebens adäquaten Ausdruck verleihen sollte. Die undramatische Überladenheit und Lebensferne dieser Sprache wurde zwar immer wieder nachgeahmt, sehr bald aber auch parodiert, etwa in Shakespeares Love's Labour's Lost, und Lylys Euphues galt schon wenige Jahre nach seinem Erscheinen als etwas antiquiert. Der Roman ist in erster Linie ein stilistisches Bravourstück, das dem Leser einen solchen Reichtum an angelesener Weisheit und überquellendem Sprachschmuck bietet, daß die gedankliche Plattheit des Inhaltes dadurch fast zugedeckt wird. Der moralische Gehalt des Buches beschränkt sich weithin auf konventionelle Gemeinplätze und stellt eine deutliche Verflachung des elisabethanischen Humanismus dar. Die Handlung des Romans ist nur ein dürftiges Gerüst und bleibt der stilistischen Demonstration untergeordnet. Der Held, Euphues, erfährt an sich die Gefahren des Hoflebens, die Unbeständigkeit weiblicher Liebe und den bleibenden Wert weitabgewandter philosophischer Gelehrsamkeit. Aus der sicheren Position gesellschaftlicher 66

Sammlung: Shorter Novels: Elizabethan, ed. G. Saintsbury (1960), und: Shorter Elizabethan Novels, EL. - J. J. Jusserand, The English Novel in the Time of S. (1890 u. ö.); M. Schlauch, Antecedents of the English Novel 1400-1600 (from Chaucer to Deloney) (Warszawa, 1963); W. R. Davis, Idea and Act in Elizabethan Fiction (Princeton, 1969); K. L. Klein, Vorformen des Romans in der engl. erzählenden Prosa des 16. Jh. (Heidelberg, 1969); K. Otten, Der englische Roman v. 16. zum 18. Jh. (Bln., 1971); D. Mehl, Der englische Roman bis zum Ende des 18. Jh. (Düsseldorf, 1977). 67 Works, ed. R.W. Bond, 3 Bde. (1902); Handliche Ausgabe der Euphues-Romane: M. W. Croll and H. Clemons ( 1916, repr. 1964). - A. Feuillerat, J. L. (N. Y., repr. 1968); C. G. Child, J. L. and Euphuism (Erlangen, 1894); J. W. Houppert, J. L., TEAS (Boston, 1957); vgl. auch: G. K. Hunter, J. L.: The Humanist äs Courtier (1962).

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Zurückgezogenheit heraus schreibt er umfangreiche Briefe und erzieherische Traktate, die für die zeitgenössischen Leser und den Autor wohl das eigentliche Kernstück des Romans ausmachen. Auch die Charaktere werden kaum zu individuellem Leben erweckt und treten ganz hinter der kunstreichen Formulierung persönlicher und sozialer Verhaltensregeln zurück. Dabei wird freilich durchaus der Anspruch erhoben, daß es sich hier nicht um abstrakte Maximen sondern um Erfahrungen handelt, die das konkrete Leben selbst vermittelt. Der große Erfolg des Romans regte den Verfasser zu einer Fortsetzung an, Euphues and his England (1580), die zwar der Handlung und Charakterisierung eine etwas größere Rolle einräumt, zuletzt aber ebenfalls in eine Serie belehrender Episteln einmündet. Aufschlußreich ist freilich, daß das Buch sich ausdrücklich an eine weibliche Leserschaft wendet, daß Liebesauffassung und Liebesetikette fast ganz im Zentrum stehen und daß der Frau eine erstaunlich wichtige Stellung in der Persönlichkeitsbildung des Mannes zuerkannt wird. Besonders die englischen Damen, die hier auftreten, erweisen sich den Männern vielfach an Tugend und kluger Schlagfertigkeit überlegen. Philautus, der Held, muß sich in seinem vergeblichen Werben um die vornehme Camilla von ihr immer wieder über die feineren Gesetze gesellschaftlichen Verhaltens belehren lassen. Der handlungsarme euphuistische Roman wurde von Lylys Nachfolgern bald etwas aufgelockert, und die hemmungslosesten Auswüchse des statischen Prosastils wurden etwas zurückgedrängt. So schrieb der vielseitige ROBERT GREENE 68 (1560-92) neben zahlreichen Pamphleten und satirischen Sittenschilderungen zwei romanzenhafte Prosaerzählungen, die bereits ein distanziertes Verhältnis zu euphuistischem Exzess verraten und neben dem rhetorischen Schmuck doch der bewegten Handlung mehr Spielraum lassen. Pandosto (1588) ist heute vor allem als Quelle für Shakespeares Winter's Tale bekannt, wobei gerade am Vergleich deutlich wird, wie wenig die unglaublichen Ereignisse dem Leser durch eine überzeugende Gestaltung der handelnden Charaktere nähergebracht werden. Menaphon (1589) benutzt ähnliche Handlungsmotive (der ausgesetzte Säugling, dadurch drohender Inzest, Liebeswerben durch den unerkannten Blutsverwandten); der Roman spielt in einer arkadischen Schäferwelt, deren idyllisch-lyrischer Charakter durch zahlreiche eingestreute Lieder betont wird. Lebendiger wirkt der ausdrücklich auf Lyly Bezug nehmende Roman Rosalynde, Euphues' Golden Legacy (1590) von THOMAS LODGE69 (1558-1625), der ebenfalls von Shakespeare als Quelle für eine seiner Komödien benutzt wurde (As You Like It). Lehrhafter Inhalt und sprachliche Ausschmückung 68

ed. A. B. Grosart, 15 Bde. (repr. 1964); Extracts, ed. A. B. Grosart (1894); Groatsworth (repr. 1923) [Bodley Head Quartos], - R. Pruvost, R. G. et ses romans (Paris, 1938); J. C. Jordan, R. G. (N. Y., 1965). 69 ed. E. Gosse, 4 Bde. (Glasgow, 1883) [Hunterian Club]. Rosalynde, ed. W.W. Greg (1907, 21931), leichter zugänglich in: Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare, ed. G. Bullough, Bd. II (1963).

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sind hier zugunsten der romanzenhaften Handlung stark zurückgedrängt, wenn auch die rhetorischen und lyrischen Einlagen immer noch einer wirklich dramatischen Gestaltung oder einer lebendigeren Individualisierung der Charaktere im Wege stehen. Szene, Dialog und Selbstgespräch sind die wichtigsten Erzählmittel. Die künstliche Welt des Ardennerwaldes dient als Schauplatz für die exemplarische Darstellung menschlicher Empfindungen und Leidenschaften, wozu auch die eingestreuten Gedichte beitragen. Für den heutigen Leser ist dieser Roman wegen seiner gefälligen, im Vergleich zu Euphues unaufdringlichen Sprachkunst, der unbeschwerten Schilderung einer künstlichen Romanzenwelt und nicht zuletzt wegen seiner Kürze der wohl zugänglichste Vertreter dieser Gattung. Das bedeutendste, für Generationen vorbildliche Beispiel des arkadischen Schäferromans, der romanzenhafte Handlung, rhetorische Kunst und humanistischen Bildungsanspruch verbindet, ist Sir PHILIP SIDNEYS (1554-1586) Arcadia.10 Das Werk veranschaulicht die höchsten künstlerischen, politischen und ethischen Hoffnungen des Zeitalters und vermittelt vielleicht den bestmöglichen Einblick in den Geist der elisabethanischen Hofkultur. Sir Philip Sidney war eine der glänzendsten Erscheinungen seiner Zeit, aus altem Adel, vertraut mit den wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Größen Europas, erfolgreich als Höfling und Diplomat, umgeben von einem romantischen Licht durch seine für Eingeweihte aus den Sonetten erkennbare Liebesgeschichte und den frühen Tod auf dem Schlachtfeld. Die erste Version seines Romans, die sog. „alte" Arcadia, entstand wohl um 1578-79, als eine Art privater Zeitvertreib für Sidneys Schwester, die Countess of Pembroke, und ihren Kreis. Das Werk war bei den ersten Lesern offensichtlich ein großer Erfolg, da mehrere Abschriften angefertigt wurden; doch wurde es nicht gedruckt und blieb drei Jahrhunderte lang unbekannt. Sidney selbst machte sich an eine durchgreifende Umarbeitung und Erweiterung, deren erste Hälfte vier Jahre nach seinem Tode (1590) erschien. Die restlichen drei Bücher wurden dann 1593 von der ursprünglichen Fassung übernommen und an die Neubearbeitung angefügt, wodurch sich freilich ein recht uneinheitliches Werk ergab, da Sidneys Neubearbeitung aus dem geradlinigen und symmetrischen ersten Roman ein sehr viel anspruchsvolleres, höchst verwikkeltes Prosaepos machen wollte, so daß die beiden Versionen kaum mehr zueinander passen, und nur noch die Grundzüge der Handlung gemeinsam haben. 70

Works, ed. A. Feuillerat, 4 Bde. (Cambr, 1912-26); The Countess of Pembroke's Arcadia (The Old Arcadia), ed. J. Robertson (Oxf., 1973); Arcadia, ed. M. Evans (Harmondsworth, 1977); An Apologie for Poetrie, ed. E. S. Shuckburgh (Cambr., 1891); ed. G. Shepherd (1965) [Standardausgabe].- Life von Fulke Greville, ed. N. Smith (Oxf., 1907); M. W. Wallace, Life of P. S. (Cambr., 1915); M. Wilson, Sir P. S. (1931); M. Poirier, P. S. (Lille, 1948); R. Kimbrough, Sir P. S., TEAS (N. Y., 1971); A. C. Hamilton, P. S. (Cambr., 1977); D. Connell, Sir P. S. (Oxf., 1977); zur Arcadia: W. R. Davis, A Map of Arcadia, und R. A. Lanham, The Old Arcadia (New Haven, 1965) [zusammen in einem Band der Yale Studies in English).

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Die Handlung verbindet politische Intrige, romantische Liebesgeschichte und rustikale Komödie auf kunstvolle Weise. Im Zentrum steht Basilius, der König Arkadiens, der wider besseren Rat, durch einen Orakelspruch geschreckt, die Herrschaft aus der Hand gibt, um sich eine Zeitlang in eine abgelegene Hirtenlandschaft zurückzuziehen, wo er mit seiner Gattin Gynecia und seiner Tochter Philoclea lebt, während er seine ältere Tochter Pamela einer groben Bauernfamilie anvertraut. Dorthin werden durch einen Schiffbruch die beiden befreundeten Prinzen Musidorus und Pyrocles verschlagen. Sie verlieben sich in die beiden Königstöchter und nähern sich ihnen in Verkleidung, der eine als Amazone, der andere als Schäfer. Aus dieser Grundsituation folgen die verschiedensten Verwicklungen, die zu Schuld, Bürgerkrieg und Leiden führen, bis sie am Ende durch Einsicht und göttliche Gnade aufgelöst werden. Das Schicksal des Staatswesens und die Liebeshandlung sind eng aufeinander bezogen. Der seiner politischen Verantwortung untreu gewordene König wird selbst zum Opfer einer sündigen wie auch absurden Leidenschaft, da er sich in die Amazone (Pyrocles) verliebt. Er wird damit zum Nebenbuhler seiner Gattin, die sich in den Mann verliebt, den sie hinter der Amazone zu erkennen glaubt. Am Schicksal der Prinzen erweist sich noch deutlicher, daß Liebe hier nicht nur als romantische, individuelle Erfahrung gesehen wird, sondern als eine Leidenschaft, deren Macht sich zum Guten wie zum Bösen auswirken kann, als Aspekt eines Erziehungsprozesses. Obwohl die Prinzessinnen ein höchst würdiges Objekt der Verehrung sind und einen wesentlichen Anteil an der Läuterung der Prinzen haben, weraen die beiden Männer durch ihre Liebe zeitweilig von ihren heroischen Idealen abgebracht, ihre Freundschaft wird auf die Probe gestellt, und sie verstricken sich in echte Schuld. So ist Liebe, ganz im Sinne der höfischen Minne, Ansporn zu höchster Bewährung; doch muß sie durch Vernunft gereinigt und in die rechten Bahnen gelenkt werden. Höfisch-Mittelalterliches und Christlich-Platonisches begegnen sich hier. Den Höhepunkt der Arcadia in ihrer frühen Version bildet eine großangelegte Gerichtsszene, in der alle Fäden zusammenlaufen, alle moralischen Themen noch einmal ausführlich zur Sprache kommen und durch Gnade das strenge Recht (verkörpert in Euarchus, dem Ideal des gerechten Herrschers) gemildert wird. Gerade dieser Schluß zeigt, daß trotz der scheinbaren Realitätsferne der arkadischen Welt keine utopische Moral konstruiert wird, sondern ein durchaus lebensbezogenes Menschenbild vorherrscht. Die enge Verbindung zur zeitgenössischen Wirklichkeit äußert sich am deutlichsten in der politischen Thematik. Die schwächliche Regierung des Basilius hat Aufstände und einen drohenden Zerfall des Gemeinwesens zur Folge, eine deutliche Warnung an die Adresse Elisabeths, deren sorgfältig abwägende, kaum zu Kraftdemonstration neigende Politik Sidney mit gewisser Besorgnis betrachtete. Eine Reihe weiterer politischer Porträts verbirgt sich in dem Roman; es kommt zu ausführlichen politischen Gesprächen, und es spricht manches dafür, daß diese Thematik zunächst ganz im Vordergrund

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stehen sollte, während die Liebeshandlung erst später eingefügt und in der zweiten Fassung noch erheblich ausgeweitet wurde. In der späteren Form wird das Werk zum Kompendium moralischen Verhaltens und philosophischer Diskussion. An enzyklopädischem Anspruch steht es hinter der Faerie Queene kaum zurück, die es an didaktischem Ernst, aber auch an Vielfalt der Tonlagen und Stilformen noch übertrifft. So findet sich im dritten Buch ein ausführliches Lehrgespräch über Vorsehung und Zufall; an anderen Stellen werden Unsterblichkeit, Freundschaft und Gerechtigkeit diskutiert; dazu kommt eine Fülle konkreter Wissensbereiche, von der Kriegskunst bis zur Architektur, von der Prinzenerziehung bis zur klassischen Rhetorik und Metrik. Sidney hat in seiner Arcadia eine Reihe verschiedener Erzähltraditionen vereint, den spätgriechischen Abenteuerroman von der Art der Äthiopischen Abenteuer des Heliodor, den Ritterroman und den Schäferroman (vgl. etwa Montemayors Diana von 1559), und eine neue Form des Prosaepos geschaffen, die zwar jahrhundertelang bewundert, aber wenig nachgeahmt wurde. Möglicherweise hat das Werk jedoch dazu beigetragen, daß man in der Folgezeit der Gattung des Prosaromans, die so oft in dem Verdacht belangloser Unterhaltung stand, ernsthafte moralische Aussagen zutraute. Seine interessanteste Leistung besteht wohl in der Schilderung einer arkadischen Schäferwelt, die zwar in engem Zusammenhang mit der vielfältigen Rezeption antiker Hirtendichtung in der Renaissance zu sehen ist, in ihrem gedanklichen Anspruch und ihrem konkreten Wirklichkeitsbezug aber über die Mehrzahl pastoraler Dichtungen weit hinausragt. Sidneys Arkadien ist kein problemloses Urlaubsparadies, keine den Realitäten entrückte Insel, sondern eine exemplarische Gemeinschaft, in der sich ethische Fragen des persönlichen und des politischen Lebens besonders klar herausstellen lassen, ohne daß die Diskussion der zentralen Themen durch belanglose und komplizierende Unberechenbarkeiten des alltäglichen Lebens abgelenkt wird. Auch handelt es sich nicht um ein isoliertes Märchenland; denn es gibt sehr reale Gefährdungen von außen und innen, durch politische Unruhen und diabolische Versuchungen. Moralische Entscheidungen haben deutliche Konsequenzen, ja sie wirken sich in dieser stilisierten Welt noch unmittelbarer aus. Die Hirtenlandschaft bedeutete jedenfalls für den zeitgenössischen Leser keinerlei Verzicht auf Aktualität, sondern war ein Versuch, mit literarischen Mitteln Aktualität zu schaffen. Freilich ist sie für die Hauptgestalten nur eine Durchgangsstation, aus der sie geläutert in das aktive Leben zurückkehren, während die „Berufsschäfer" mehr die Rolle von Nebenfiguren spielen. Sidneys Arcadia ist ein besonders gewichtiges Beispiel dafür, daß der Prosaroman den unmittelbaren Zeitbezug auch auf ganz andere Weise herstellen kann als durch realistische Abbildung der zeitgenössischen Gesellschaft, wie dies seit dem 18. Jahrhundert lange Zeit fast ausschließlich vom Roman erwartet wurde. Präzisere Einblicke in die Lebensumstände weniger vornehmer Schichten und in die vielgestaltige Welt von Armut und Verbrechen vermitteln die anspruchsloseren, offensichtlich um des schnellen Gelderwerbs hingeschriebe-

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nen satirischen Pamphlete und autobiographisch gefärbten Abenteuererzählungen ROBERT GREENES,?I in denen auch Anregungen des spanischen Schelmenromans aufgenommen werden und deren drastische Darstellungen wenig verlockender Lebensbereiche in bewußtem Gegensatz zum höfischen Roman stehen: Greene's Never too late (1590) und Greene's Groatsworth of Wit bought with a Million of Repentance (1592). In autobiographischer Einkleidung wird der Kampf des jungen Roberto um das Überleben in einer von Gaunern und Verbrechern regierten Welt geschildert, zur Warnung und Besserung der sorglosen Jugend. Noch schlimmer ergeht es dem Bruder, der, von Roberto angestiftet, seinen ererbten Reichtum verschwendet und in der übelsten Gesellschaft verkommt. In seinen Cony Catching Tracts (1591 und 1592), schwankhaften Lehrbüchern der Bauernfängerei, bewies Greene bereits seine Vertrautheit mit den Praktiken betrügerischer Nutznießer der Gesellschaft. In der fiktiven Selbstdarstellung verbindet sich eine exemplarische Handlung mit höchst lebendigen Bildern der zeitgenössischen Wirklichkeit. Dabei wird die für den Schelmenroman charakteristische Ich-Form verwendet, mit der sich oft der Anspruch oder die Illusion des Authentischen, Glaubwürdigen, verbindet, gelegentlich auch die großspurige Pose des Aufschneiders. Dies trifft vor allem für THOMAS NASHES (1567-1601) Abenteuerroman The Unfortunate Traveller (1594) zu, dem heute noch lesbarsten aller elisabethanischen Romane, einer höchst lebendigen Mischung aus Schelmenroman, großsprecherischem Reisebericht und satirischem Pamphlet.72 Der Held, Jack Wilton, erzählt seine eigene Geschichte, die ihn von London aus durch Deutschland, die Niederlande und Italien führt, ihn mit einer Reihe der bedeutendsten Persönlichkeiten und historischen Ereignisse zusammenbringt und mit der Rückkehr nach England endet, nachdem er mehrmals nur mit knapper Not dem Tod in der Schlacht, durch mörderisches Verbrechen oder im Gefängnis entgeht. Überall ist er zur Stelle, wo besonders wichtige Entscheidungen fallen, gräßliche Verbrechen inszeniert werden oder einmalige Begegnungen stattfinden. Die Stationen folgen in atemloser Hast aufeinander, und der Erzähler spart nicht an grellen Farben und hemmungsloser Übertreibung. Was ihn in ständiger Bewegung hält, ist nicht, wie ursprünglich im Schelmenroman, Existenznot, sondern der vitale Drang nach Erfahrung und Abenteuer. Der bunten Vielfalt der Ereignisse entspricht die demonstrative Virtuosität der Stilmittel. Dahinter steht wohl weniger die Absicht, traditionelle Formen der Abenteuerliteratur durch Übertreibung lächerlich zu machen, als die übermütige Freude am anschaulichen und zugleich grotesk verzerrenden Wort, an der eigenen Kunst der sprachlichen Schauspielerei. Der beredte Ich-Erzähler gibt sich als überlegener Autor, aber 71

72

siehe S.268, Anm. 68.

ed. R. B. McKerrow, 5 Bde (1904-08; repr. 1958) [vorzüglich kommentierte Ausgabe]; abgedruckt auch in: Shorter Elizabethan Novels, EL; deutsche Übersetzung von W. v. Koppenfels (München, 1970) und J. Schlösser (Bln., 1982); Selected Writings, ed.. S. Wells (1964). - Vgl. G. R. Hibbard, Thomas Nashe: A Critical Introduction (1962).

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auch als populärer Unterhalter, der in humoristischen Kontakt zu seinem Publikum tritt, und er nimmt darin in manchem die auktorialen Posen des späteren englischen Romans vorweg, ohne daß hier direkte Verbindungslinien bestehen. Nashes originelles Werk blieb vorerst ohne nachhaltige Wirkung; die Voraussetzungen für eine breitere Entwicklung des realistischen Romans, vor allem die entsprechende Leserschaft, waren noch nicht gegeben. Das Publikum, an das Nashe appellierte, war offensichtlich recht gemischt, aber sicher unbeständig und zahlenmäßig begrenzt. So blieb es mehr bei einzelnen Experimenten und Gelegenheitszeugnissen, zu denen auch die übrigen Schriften Nashes gehören, so die viele Themen berührende Satire Anatomy of Absurdity (1587), Pierce Pennilesse (1592), eine humoristische Bittschrift an den Teufel, der ihm zu seinem Honorar verhelfen soll, und die erfindungsreiche Verherrlichung des Räucherherings in Lenten Stuffe (1592), ein kurioser Streifzug durch Geschichte und Gegenwart mit immer neuen überraschenden Auftritten des Herings, der zum König gekrönt und vom Papst heiliggesprochen wird. Solche spontanen Einfalle sind schwer einer bestimmten literarischen Gattung zuzuordnen und sind offensichtlich Ausdruck eines undogmatischen Bemühens um die Aufmerksamkeit eines Publikums, das selbst noch keine sehr festen Beurteilungsmaßstäbe hatte und an den verschiedensten Produkten Gefallen fand, an geistreicher Satire und kritischer Sittenschilderung ebenso wie an Nacherzählungen traditioneller romantischer oder neuerer sensationeller Stoffe, wie den Geschichten vom Schwanenritter, Robert dem Teufel, Robin Hood, Dr. Faustus und zahlreichen anderen.73 Das Prosawerk des Dramatikers THOMAS DEKKER74 (1572-1632) besteht fast nur aus diversen Gelegenheitsschriften, von denen The Wonderful Year (1603) eine eindrucksvolle Beschreibung der Pestepidemie dieses Jahres enthält, während The Gull's Hornbook (1609) sich als Handbuch des modischen Mannes ausgibt, den es in den verschiedensten Situationen schildert, zu Hause, in der Kirche, im Theater; wie zahlreiche ähnliche Werke vermittelt es einen an Details reichen Eindruck vom Leben und Treiben im elisabethanischen und jakobäischen London. Eine aufschlußreiche Ergänzung dieses Bildes bieten die kurzen Romane THOMAS DELONEYs75 (1543-1600), eines Londoner Webers, der als Leser offensichtlich die aufstrebende, erwerbstüchtige und zunehmend selbstbewußte Schicht der städtischen Handwerker und Händler gewinnen möchte und eine 73

Schwanenritter, Robert der Teufel u.a. Prosaauflösungen und Romane in: Early English Prose Romances, ed. W. J. Thorns, 3 Bde. (1858) u. in: Early Prose Romances, ed. H. Morley (1889) [Carisbrooke Libr.]. 74 Non-dramatic Works, 5 Bde., ed. A. B. Grosart. (1884-86) [Huth Libr.]; Gull's Hornbook etc., ed. R. B. McKerrow (1904); Plague Pamphlets, ed. F. P. Wilson (Oxf., 1925); Selected Prose Writings, ed. E. D. Pendry (1968). - M. L. Hunt, T. D. (N. Y., 1911); G. R. Price, T. D., TEAS (N. Y., 1969); s. auch S. 335, Anm. 6. 75 ed. F. O. Mann (1912); The Novels, ed. M. E. Lawlis (Bloomington, 1961). - R. Sievers, T. D. (Bln. 1904) [Palaestra]; K. M. Paetzold, Historischer Roman u. Realismus (Regensburg, 1972).

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eingängige, wenn auch etwas naive Glorifizierung verschiedener Handwerksstände unternimmt. Jack of Newberie (ca. 1596-97) beschreibt den Aufstieg eines Webergesellen durch Fleiß und Verzicht auf Zerstreuung zum allseits geachteten Meister, der selbst den König von der Würde und dem Nutzen seines Standes überzeugt und aus Solidarität eine Ritterwürde ablehnt. Der tüchtige Handwerker erweist sich manchen Vertretern höherer Stände durch seine zielstrebige Klugheit als überlegen. Der Stil Deloneys, der nur sparsamen Gebrauch von rhetorischer Ausschmückung macht, deutet darauf hin, daß ein schlichteres Publikum angesprochen werden sollte, dem das Gefühl seiner sozialen und moralischen Bedeutung, zugleich aber auch ein handfester Verhaltenskodex gegeben werden sollte, dessen Befolgung zu Achtung und Erfolg verhelfen müsse. Deloneys letzter Roman, Thomas of Reading (1600), ist etwas ehrgeiziger und verbindet die Geschichte eines angesehenen Tuchmachers mit einer populären Romanze, der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen dem Bruder des Königs und der Tochter eines verbannten Herzogs. Märchenhafte Elemente stehen neben der volkstümlichen Anekdotik. Die kunstlose Eindringlichkeit mancher Szenen, etwa die Ermordung Thomas of Readings, gibt dem Roman einen eigenständigen Ton, der in anspruchsvolleren erzählenden Werken der Zeit kaum wiederkehrt. Die literarische Ebenbürtigkeit des Handwerkerstandes wird nicht allein durch Mutterwitz und aufrichtige Tüchtigkeit demonstriert, sondern auch darin, daß ihm selbst tragische Erfahrungen zugestanden werden. Freilich blieb Deloneys Wirkung sehr begrenzt. Für die Leser und Verfasser heroischer und rhetorischer Romane gehörten diese simplen Erzählungen sicher nicht in den Bereich der ernstzunehmenden Literatur. Auch sollte man den Realismus dieser verklärenden Schilderungen einer utopischen gesellschaftlichen Harmonie nicht überschätzen, so sympathisch sie unser Bild der elisabethanischen Erzählkunst bereichern.

275 II. DAS D R A M A IM 16. J A H R H U N D E R T 1 1. Klassizistisches und Einheimisches2 Das humanistische Interesse an klassischen Vorbildern, das bereits die für öffentliche Aufführungen vor einem breiteren Publikum bestimmten späten Misterienspiele und Moralitäten stark beeinflußt hatte, führte in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts zu regelrechten Aufführungen antiker Dramen im Urtext an den anspruchsvolleren Bildungsstätten, den Schulen, Universitäten und den Londoner Juristenkollegien (Inns of Court), wo sie zum Teil im Lehrplan vorgesehen waren (Statuten des Queen's College, Cambridge, 1564). Dadurch wurden bald auch Übersetzungen, Bearbeitungen und Nachahmungen angeregt. Die Komödie ging dabei voran: eines der frühesten Beispiele ist die an Plautus und Terenz angelehnte Komödie Ralph Roister Bolster1 (ca. 1552) von NICHOLAS UDALL, dem Leiter der Schule in Eton, der vermutlich auch eine Schulaufführung im Sinne hatte. Hier ist erstmals das klassische Aktschema durchgeführt, das freilich weniger symmetrisch und ausgewogen gehandhabt wird als in den klassischen Vorbildern. Überhaupt stellt das Stück eine durchaus gelungene Mischung aus lateinischer und einheimischer Tradition dar. Die erfolglose Werbung des Maulhelden um eine Witwe folgt zwar etablierten Komödienkonventionen, aber die Komik der Sprache und der Situationen (der Held wird von Mägden verprügelt) wie die Gestalt des witzigen Dieners Matthew Merrigreek greifen auch auf die volkstümliche eng1

Zum englischen Drama im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts: J. E. Cunningham, Elizabethan and Early Stuart Drama (1966); K.J. Holzknecht, Outlines of Tudor and Stuart Plays, 1475-1642 (1963); T. M. Parrott and R. H. Ball, A Short View of Elizabethan Drama (N. Y., 21948); The Revels History of Drama in English, II, 1500-1576 (1980), III, 1576-1613 (1975); W. Weiß, Das Drama der S.-Zeit (Stuttgart, 1979). Tabellarische Zusammenstellung aller Dramen in A. Harbage, Annals of English Drama 975-1700, rev. S. Schoenbaum (1964). - Texte in zahlreichen Sammlungen; die wichtigste der älteren ist: Dodsley's Collection of Old English Plays, ed. W. C. Hazlitt, 15 Bde. (1874-76). Umfängliche und handliche neuere Sammlungen: Chief Elizabethan Dramatists (excluding Shakespeare), ed. W. A. Neilson (Boston, 1911); English Drama 1580-1642, edd. C. F. T. Brooke and N. B. Paradise (Boston, 1933); Elizabethan and Stuart Plays, edd. E. R. Baskervill, V. B. Heltzel and A. H. Nethercot (N. Y., 1934, rev. 1971); Drama of the English Renaissance, edd. R. Fräser and N. Rabkin; kleine gute Auswahl: Minor Elizabethan Drama, ed. A. Thorndike, 2 Bde. (EL). - Übersetzungen in: Shakespeares Zeitgenossen, 2 Bde. (Bln., 1941); Dramen der Shakespearezeit, ed. R. Weimann (Lpzg., 1964). 2 Vgl. F. S. Boas, University Drama in the Tudor Age (Oxf., 1914). Zum Drama vor Shakespeare: A. P. Rossiter, English Drama from Early Times to the Elizabethans (1950); D. M. Bevington, From 'Mankind' to Marlowe (Cambr., Mass., 1962); R. Weimann, Shakespeare und die Tradition des Volkstheaters (Bln., 1967); W. Habicht, Studien zur Dramenform vor Shakespeare (Heidelberg, 1968). 3 ed. W. W. Greg, Malone Soc. (1935); auch in: Five Pre-Shakespearean Comedies, ed. F. S. Boas (Oxf. 1934, WC).

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lische Dramatik zurück; das Stück macht jedenfalls kaum den Eindruck einer akademischen Pflichtübung. Noch gelungener ist die originelle Übernahme klassischer Anregungen in dem anonymen Gammer Gurton's Needle* (ca. 1553), entstanden an der Universität Cambridge. Die Komik beruht hier vor allem auf dem Kontrast zwischen dem rhetorischen Aufwand und dem geringfügigen Anlaß, dem Verlust einer Nähnadel, die sich nach großem Lamentieren und lautstarker Suche im Hosenboden des Bauerntölpels Hodge wiederfindet. Die Komödie gibt ein anschauliches, wenn auch satirisch verzerrtes Bild englischen Dorflebens; wiederum zeigt sich in den lebhaften Schwankszenen eine deutliche Verbindung zum Volkstheater, während das wiederholte Motiv der Täuschung wie auch die Akteinteilung Plautus zu verdanken sind. Neben der lateinischen diente bald auch die italienische Komödie als anregendes Vorbild, deren bewegte Handlungsfülle den Vorstellungen der englischen Dramatiker mehr entgegenkam als die konzentrierte Knappheit des Plautus. Ein besonders geglücktes Beispiel ist GEORGE GASCOIGNES Lustspiel Supposes* (Mißverständnisse), nach Ariostos GH Suppositi (1509) in der Juristenschule Gray's Inn entstanden (1566), bedeutsam als erste Prosakomödie, mit einer verwickelten Handlung, einer von Gascoigne noch gesteigerten Personenfülle und einer Vielzahl überraschender Verwechslungen, die in Heirat und allgemeiner Versöhnung enden. In der italienischen Komödie fanden die englischen Nachdichter Modelle logisch aufgebauter und doch komplizierter Handlungsführung, und dies trug wesentlich zur Überwindung der lockeren und reihenden Technik der Moralitäten bei. Wichtiger noch für die Herausbildung des elisabethanischen Dramas wurde die Auseinandersetzung mit der Tragödie Senecas und ihrer Nachahmer in Italien und Frankreich.6 Die Tragödien Senecas, von denen noch nicht einmal feststeht, ob sie überhaupt für eine theatralische Darstellung verfaßt wurden oder zur statischen Rezitation, wirkten vor allem durch ihre krassen, oft an Greueln reichen Fabeln, die kunstvolle, deklamatorische Ausgestaltung von Affekten, sowie den strengen Aufbau und die stoische Hinnahme von Leiden und Tod. Die englische Senecarezeption ist freilich ein vielschichtiger, in der Forschung unterschiedlich beurteilter Vorgang, der sich über eine längere Zeit und auf verschiedenen Ebenen vollzog. Eine ganze Reihe gelehrter oder stark klassizistisch orientierter Dichter hielt sich streng an das lateinische Vorbild, dem man häufig selbst in der Sprache folgte. So schrieb NICHOLAS GkiMALD7 in Cambridge christliche Senecadramen in lateinischer Sprache (Christus Redivivus, 1543, und Archipropheta, 1548); THOMAS LEGGES Richardus Tertius (1579)8 ist eines der ersten englischen Historiendramen, 4

ed. H. F. B. Brett-Smith (Oxf., 1920); auch in: Five Pre-Shakespearean Comedies. ed. J. W. Cunliffe, 2 Bde. (Cambr, 1907-10); Supposes auch in Five Pre-Shakespearean Comedies. 6 Vgl. F. L. Lucas, Seneca and Elizabethan Tragedy (Cambr., 1922); W. Clemen, Die Tragödie vor Shakespeare (Heidelberg, 1955, engl. 1961). 7 ed. R. L. Merrill in: Life and Poems of Grimald (New Haven, 1925). 8 ed. Shakespeare Soc. Publ. (1844); reprint, ed. W. C. Hazlitt in: Shakespeare's Libr. II, 1 (1875). 5

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und der bedeutende WILLIAM GAGER verfaßte noch in den achtziger Jahren eindrucksvolle lateinische Tragödien, Meleager (1581), Dido (l583) und Ulysses Redux (1591).9 Diese Tendenzen setzten sich noch einige Jahre fort, später auch in Reaktion gegen die als formlos und übersteigert empfundene Tragödie Marlowes, teilweise in enger Anlehnung an die französische klassizistische Tragödie (Garnier, Jodelle). Die Wirkung blieb freilich auf den engen Kreis Gebildeter beschränkt; das Theater und damit das breitere Publikum blieben davon unberührt. Nachhaltigere Wirkung erreichte die erste englisch geschriebene Senecatragödie Gorboduc, or Ferrex and Porrex™ (1562), von den beiden Juristen THOMAS SACKVILLE und THOMAS NORTON aus der Juristenschule Inner Temple. Sie entfernt sich freilich in vielem von dem klassizistischen Vorbild, von dem vor allem der strenge fünfaktige Aufbau, die statische Handlungs- und Dialogführung und die rhetorische Deklamation übernommen werden; sie sind hier aber in den Dienst einer höchst aktuellen und konkreten politischen Belehrung gestellt. Die Handlung, aus der legendären englischen Geschichte entlehnt, dient zur Verdeutlichung der Gefahren, die sich aus unsicherer Thronfolge und schwacher Regierung für den inneren Frieden ergeben. Auf diese Gefahren war die junge Königin Elisabeth schon von einer Parlamentskommission hingewiesen worden, der auch Thomas Norton angehörte; das Drama enthält denn auch einen deutlichen Hinweis auf die wichtige Rolle des Parlaments bei der Erhaltung der Staatsordnung. Eine aufschlußreiche Zutat sind fünf ausgedehnte und teils aufwendige 'dumb shows', pantomimische Aufzüge vor den einzelnen Akten, in denen die jeweilige lehrhafte Aussage auch visuell unterstrichen wird.11. Diese eigenwillige Verbindung von statischer Rhetorik und dramatischer Schaustellung beweist, daß Gorboduc für die Bühne geschrieben wurde, nicht zur stillen Lektüre. Freilich fand das Stück keinen Eingang in das volkstümliche Theater, sondern blieb auf die Juristenschule beschränkt. Immerhin gehörte Königin Elisabeth zu den ersten Zuschauern. Eine Reihe späterer klassizistischer Tragödien verbindet ebenfalls farbigbewegte 'dumb shows' mit unbewegter Deklamation, so Jocasta (Gray's Inn, 1566), eine Übersetzung aus dem Italienischen, an der George Gascoigne mitwirkte, Gismond of Salerne (Inner Temple, 1567), dessen Stoff auf Boccaccio zurückgeht, und Thomas Hughes The Misfortunes of Arthur (Gray's Inn, 1588), wiederum eine Dramatisierung legendärer britischer Geschichte, mit besonders prunkvollen Pantomimen, an deren Ausgestaltung unter anderen auch Francis Bacon mitwirkte.12 Diese Form der klassizistischen Tragödie blieb in England jedoch eine untypische Randerscheinung, da hier, im 9

Dido in: Works of Marlowe, ed. A. Dyce (1858), App. 3; zu Meleager und Ulysses vgl. ShJ 34 (1898). 10 ed. J. W. Cunliffe, Early English Classical Tragedies (Oxf., 1922); ed. I. B. Cauthen, RRenDS (1971). 11 Vgl. D. Mehl, The Elizabethan Dumb Show (1965). 12 Alle drei Tragödien abgedruckt in Early English Classical Tragedies, s. Anm. 10.

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Gegensatz zu Frankreich, kein rein humanistisches Theater entstand und die Bühnenpraxis von der Poetik der Renaissance kaum beeinflußt wurde. Wesentlich unbekümmerter wird die klassische Tragödie in einer Reihe von Mischdramen verarbeitet, die sich nicht mehr an die strenge Form, den einheitlichen Stil und die statische Rhetorik halten, sondern antike Mythen und heroische Gestalten zusammen mit volkstümlichen Komödienfiguren und burlesken Nebenhandlungen verwenden. Leider wissen wir gerade bei diesen Stücken oft kaum, ob, wo und von wem sie gespielt wurden. Appius and Virginia^ (ca. 1564) von R. B. (Richard Bower?) und JOHN PICKERINGS Heresies™ (ca. 1567), das die griechische Orestes-Sage behandelt, mögen für Knabentruppen, etwa die Schüler der Abteischule von Westminster, verfaßt und am Hof gespielt worden sein. Der klassische Stoff wird hier grob moralisiert, durch komische Szenen aufgelockert und nicht nur in Deklamation, sondern in bewegtes Bühnengeschehen umgesetzt. Die aus den Moralitäten bekannte Gestalt des 'Vice' tritt neben den antiken Gestalten auf und stellt eine unmittelbare Beziehung zum zeitgenössischen Publikum her. Noch bunter ist die Mischung in THOMAS PRESTONS Cambises^ (ca. 1561), möglicherweise auch am Hof gespielt, dessen Untertitel bereits unmißverständlich anzeigt, was die Zuschauer zu erwarten haben: A Lamentable Tragedie mixed full of pleasant mirth. Die didaktisch ausgeschlachtete Geschichte des tyrannischen Perserkönigs verbindet sich mit einer rustikalen Komödie. Prügeleien, die offensichtlich auch der Improvisation einigen Spielraum ließen, stehen neben zeremoniellen Staatsszenen. Auch sprachlich stechen diese größtenteils in kunstlosen Reimpaaren abgefaßten Dramen deutlich von dem reimlosen Blankvers in Gorboduc und den klassizistischen Tragödien ab. Zu den interessanteren Mischdramen gehört auch noch GEORGE WHETSTONES zweiteiliges Stück Promos and Cassandra^ (1578), das einen italienischen Novellenstoff dramatisiert und schon als Quelle für Shakespeares Measure for Measure besondere Aufmerksamkeit verdient. Die komische Nebenhandlung ist hier auch thematisch mit der Haupthandlung verknüpft; darin und in dem spürbaren Versuch, ein moralisches Dilemma zu gestalten, das zu menschlichen Konfliktsituationen führt, nimmt Whetstone wichtige Elemente des elisabethanischen Dramas vorweg.

13

Malone Soc. Reprints (1911). Malone Soc. Reprints (1962). 15 In: Chief Pre-Shakespearean Dramas, ed. J. Q. Adams (Cambr., Mass., 1924) [eine für das mittelalterliche und frühelisabethanische Drama besonders nützliche Anthologie]. 16 Am besten zugänglich in: Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare, ed. G. Bullough, Bd. II (1958). 14

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2. Schauspieler, Theater und Bühne17 Die Blüte des elisabethanischen Dramas ist eng verknüpft mit der Herausbildung eines festen Schauspielerstandes und der Entwicklung eines stehenden Theaters, dessen Bühnenform dem dramatischen Mischstil in besonderer Weise entsprach. Schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts existierten wandernde Schauspieltruppen, die wohl vor allem in Moralitäten und Misterienspielen auftraten. Eine indirekte Anerkennung des Schauspielerberufes stellt dann ein Gesetz von 1572 dar, in dem die Erlaubnis zum öffentlichen Auftreten auf solche Spieler beschränkt wird, die unter dem Patronat eines Adeligen stehen und dies durch königliche Erlaubnis bestätigt bekommen. Alle anderen verfielen damit den strengen Gesetzen gegen Landstreicher und Vagabunden. So entwickelten sich die Berufsschauspielertruppen, die das Zeichen ihres Patrons trugen, unter seinem ausdrücklichen Schutz standen und sich ihm zur Verfügung hielten, im übrigen aber von ihren eigenen Einnahmen lebten und in ihrer Tätigkeit verhältnismäßig frei waren. Während in der Stadt London die stark puritanisch bestimmten Behörden ein Verbot aller Aufführungen innerhalb der City durchsetzten, verstärkte sich das Interesse des Hofes an den Schauspielertruppen. Gleichzeitig wurde jedoch ihre Zahl begrenzt. Durch Beschluß des Privy Council erhielten die beiden angesehensten Truppen, die Lord Admiral's Men und die Lord Chamberlain's Men, eine Art Monopol für London (1598). Diese Tendenz verstärkte sich mit dem Regierungsantritt von Jakob L, der die beiden Truppen unmittelbar dem Hof unterstellte: aus den Lord Admiral's Men wurden die Prince Henry's Men, aus den Lord Chamberlain's Men die King's Men. Über die Organisationsformen und Finanzen dieser Truppen sind wir vor allem durch die Aufzeichnungen Philip Henslowes, des Managers der Lord Admiral's Men, gut informiert (Henslowe's Diary), aber auch durch zahlreiche andere Zeugnisse. Am erfolgreichsten war jahrelang die Truppe der Lord Chamberlain's Men, nicht zuletzt durch ihren prominentesten Dramatiker William Shakespeare, aber auch wohl durch eine ungewöhnliche menschliche und geschäftliche Harmonie. Die Truppe besaß ihr eigenes Theater (The Globe) und teilte sich in die Einnahmen. Einen wesentlichen Anteil am Erfolg hatte auch der beim Publikum gefeierte Schauspieler Richard Burbage, der von 1594 bis zu seinem Tode, 1619, der Truppe angehörte und wohl die meisten großen Rollen Shakespeares als erster gestaltete. Neben den 'Adult Companies' bestanden lange Zeit hindurch die aus den Chorschulen hervorgegangenen Kindertruppen, die noch in den achtziger Jahren die Hofbühne be17

Grundlegende Materialsammlung: E. K. Chambers, The Elizabethan Stage, 4 Bde. (Oxf., 1923); G. Wickham, Early English Stages 1330-1660, 3 Bde. (1958ff.); gute Einführungen in: The Revels History of Drama in English, Bd. Ill; ShakespeareHandbuch, ed. I. Schabert (Stuttgart, 21978) [mit ausführlichen Bibliographien], und A. Gurr, The Shakespearean Stage, 1574-1642 (Cambr., 1970). Diskussion von Einzelaspekten in: Elizabethan Stage, edd. J. R. Brown and B. Harris (1966), und The Elizabethan Theatre, ed. D. Galloway, 3 Bde. (1969-73).

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herrschten, dann an Bedeutung zurücktraten, um zu Beginn des Jahrhunderts wieder stärker von sich reden zu machen. Mit ihrem offensichtlich sehr eigenständigen satirischen, intellektuellen und auch musikalischen Darstellungsstil wurden sie zeitweise zur ernsten Konkurrenz für die Erwachsenentruppen. Der Initiative einzelner Schauspieltruppen verdanken auch die ersten festen Theater ihr Entstehen. 1576 errichtete James Burbage, der Vater des Schauspielers, den ersten Theaterbau, The Theatre, in der nördlichen Vorstadt Shoreditch. Kurz darauf entstand dort ein zweites, The Curtain (1577), beide, wie alle späteren, außerhalb der Jurisdiktion der City, wo aus moralischen, aber auch hygienischen Gründen (London wurde in dieser Zeit mehrmals von verheerenden Pestepidemien heimgesucht) regelmäßige Aufführungen nicht geduldet wurden. Bald zog man das Gebiet südlich der Themse vor, wo The Rose (1587), The Swan (1595) und The Globe (1599) entstanden. 1600 wurde im Nordwesten noch von Henslowe und seinem bedeutendsten Schauspieler, Edward Alleyn, The Fortune errichtet. Alle diese und eine Reihe anderer Bauten sind in der Geschichte des Theaters einmalig und gehörten in ihrer Zeit zu den Sehenswürdigkeiten Londons. In ihrer äußeren Konstruktion als Rundbau oder Vieleck basieren sie auf den populären Tierhetzarenen (beargarden, bull ring), verwenden aber auch Elemente des von Gebäuden umschlossenen Wirtshaushofes (innyard), der lange Zeit für volkstümliche Aufführungen benutzt wurde. Ein großer umschlossener Hof bot Stehplatz für zahlreiche Zuschauer unter freiem Himmel, während zwei bis drei umlaufende Galerien für zahlungskräftigere Gäste vorbehalten waren. Die auf drei (durch die Galerien teilweise sogar auf vier) Seiten von Zuschauern umgebene Bühne reichte als Plattform weit in den offenen Hof hinein. Über das genaue Aussehen ihres rückwärtigen Abschlusses wurden in der Forschung recht unterschiedliche Theorien entwickelt. Das ältere Modell einer regelrechten, durch einen Vorhang abgetrennten Hinterbühne und einer fast gleichwertigen Oberbühne ist durch neuere Untersuchungen stark korrigiert worden. Die verhältnismäßig wenigen Szenen, in denen ausdrücklich ein Vorhang, eine Enthüllung oder ein Überraschungseffekt vorgesehen ist, ließen sich ohne Schwierigkeit durch ein bewegliches Gerüst auf der Bühne (wie es die älteren Budenbühnen benutzten) oder einen vor die Hinterwand gespannten Vorhang bewerkstelligen. Ebenso verlangen nur wenige Szenen unbedingt eine Oberbühne: solche Auftritte (etwa Balkon, Stadtmauer, Fenster) sind meist kurz, personen- und bewegungsarm und stets mit dem Geschehen auf der eigentlichen Bühne verbunden. Hier wurde offensichtlich ein Teil der sonst den Zuschauern vorbehaltenen, gelegentlich wohl auch von Musikern genutzten Galerie in das Spiel einbezogen. Der überwiegende Teil aller Aufführungen fand auf der weiträumigen Plattform statt, die einerseits Raum für zeremonielle Auftritte und Staatsszenen bot, andererseits aber auch einen sehr unmittelbaren Kontakt zum Publikum erlaubte. Diese durchaus flexible Bühnenform vereinigt Elemente der beweglichen Straßenaufführung mit schnell errichteten Schaugerüsten und der ebenfalls sehr verbreiteten Dra-

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meninszenierung in den großen Sälen der Adelssitze, Schulen und Colleges, deren dekorative Rückwand mit meist mehreren Eingängen als rückwärtiger Abschluß einer temporären Bühnenplattform diente. Die öffentlichen Theater boten nach zeitgenössischen Berichten Platz für 2000-3000 Menschen. Dabei handelte es sich, da die Eintrittspreise ausgesprochen niedrig waren, offensichtlich um ein sehr gemischtes Publikum, das es zufriedenzustellen galt. Die Vorstellungen fanden am Nachmittag, weithin ohne künstliche Beleuchtung statt. Ein etwas anderer Personenkreis wurde durch die 'private theatres' angesprochen, die in geschlossenen Räumen eingerichtet wurden, weniger Zuschauer faßten, auch im Winter bespielbar waren und mit künstlicher Beleuchtung arbeiteten. Das bedeutendste dieser Theater, The Blackfriars Theatre, wurde von James Burbage 1597 in den Gebäuden eines Dominikanerklosters eingerichtet und bot Raum für etwa 600-700 Zuschauer. Es wurde zunächst von Kindertruppen, seit 1608 aber auch von den King's Men im Wechsel mit dem Globe benutzt. Die innere Einrichtung und die Bühnenform war der in den 'public theatres' wohl ähnlicher als früher angenommen wurde. Es gab umlaufende Galerien und eine Plattform. Auch wurden gelegentlich die gleichen Stücke in beiden Theatern gespielt. Die elisabethanische Bühne ermöglichte ein Spiel ohne Pause, mit zahlreichen wechselnden Szenen und Schauplätzen, die oft nur durch charakteristische Requisiten angedeutet wurden, vor allem aber auf die illusionsschaffende Kraft der Sprache und Poesie angewiesen waren. Die dramatischen Texte sind voll von nachdrücklichen Appellen an die Einbildungskraft des Publikums: ein besonders anschauliches Beispiel ist der Prolog zu Shakespeares Henry V. Die Wirkung der Aufführung hing fast ausschließlich vom Schauspieler ab, dessen Wort Bühnenbild, Beleuchtung und andere Hilfen der modernen Guckkastenbühne ersetzen mußte. Viele Zeugnisse sprechen für die hohe Entwicklung der elisabethanischen Schauspielkunst. Auch trug der enge Kontakt zwischen Schauspielern und Dramatikern (häufig, wie auch im Falle Shakespeares, in einer Person vereint) zweifellos zu der Bühnenwirksamkeit der dramatischen Literatur bei, die ja in erster Linie für das Theater, nicht für den Druck produziert wurde. Grundsätzlich verschieden von der Bühne der Volkstheater, auch der 'private theatres', entwickelte sich die eigentliche Hofbühne, die der Darstellung festlicher Maskenspiele (Masques) diente.18. Der Höhepunkt dieser für die europäischen Fürstenhöfe des Barock charakteristischen Mischgattung liegt erst im 17. Jahrhundert; doch schon unter Heinrich VIII. und Elisabeth wurden höfische Feste inszeniert, bei denen allegorische Sing- und Tanzspiele zur Aufführung kamen. Diese Art der Schaustellung, die häufig das Publikum einbezog oder in ein allgemeines Tanzfest einmündete, war von vornherein auf eine stärkere Verbindung sprachlicher und visueller Kunst angelegt, und hier wurden Bühnenwirkungen angestrebt, die sich am ehesten mit dem mo18

Vgl. die Sammlung von 14 Court Masques in: A Book of Masques (Cambr., 1967). E. Welsford, The Court Masque (1927); A. Nicoll, Stuart Masques and the Renaissance Stage (1938; repr. 1963).

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dernen Ausstattungstheater vergleichen lassen. Prunkvolle Bilder, perspektivische Kulissen, Lichtwirkungen und technische Raffinessen hatten zunehmend den Vorrang vor dem Wort, wofür die dominierende Stellung des Architekten Inigo Jones am Hofe Jakobs I. ein deutlicher Beweis ist. Seine ebenso fruchtbare wie konfliktreiche Zusammenarbeit mit dem Dramatiker Ben Jonson führte immer wieder dazu, daß der Dichter sich durch den Ausstattungskünstler eingeengt fühlte. Der Unterschied zur populären Bühne wird hier besonders augenfällig.

3. Die frühe elisabethanische Komödie19 Ähnlich wie im elisabethanischen Roman wurden auch im Drama die verschiedenartigsten literarischen Traditionen aufgegriffen und in oft recht origineller Mischung miteinander verbunden. Für die Komödie waren neben den klassisch-lateinischen Vorbildern vor allem die mittelalterlichen Romanzen, aber auch die Handlungsmuster der Moralitäten bestimmend. Die Anfänge dessen, was man häufig als „romantische Komödie" ('romantic comedy') bezeichnet, gehen weit ins 16. Jahrhundert zurück; ein erster Höhepunkt sind die romanzenhaften Lustspiele von John Lyly, George Peele und Robert Greene. Sie entstanden vermutlich in enger Nähe zum Hof, für am Hof tätige Schauspieltruppen und Chorschulknaben. So sind JOHN LYLYs20 (15547-1606) Komödien durch ihre zahlreichen Liedeinlagen und musikalischen Elemente besonders auf die Darstellung durch Chorknaben abgestellt (er selbst leitete die Singschule von St. Paul's); der rhetorische Prosadialog, die Thematik und die geistreiche Verwendung von mythologischen Anspielungen und Motiven deuten darauf hin, daß an ein gebildeteres Publikum gedacht war, als sich in den volkstümlichen Theatern einfand. Sein erstes Stück, Alexander and Campaspe (aufgef. 1584), beschreibt die Liebe Alexanders zu einer schönen Sklavin, seinen Kampf mit Ehr- und Pflichtgefühl und seine großmütige Entsagung zugunsten des Malers Apelles. Hier finden wir bereits eine klare Gruppierung der Hauptfiguren und ihrer Diener, deren Gespräche die Haupthandlung auf tieferer Stufe wiederholen, sie in einem weiten Sinne „parodieren". Charakteristischer ist der mythologische Traum, wie er erstmals in Sapho and Phao (ca. 1584) erscheint. Wiederum ist die nicht zur Erfüllung findende Liebe Anlaß zu geistreichen moralischen Betrachtungen und direkten politischen Anspielungen. Die Liebe der Prinzessin Sapho zu dem schönen Syrakusaner Fährmann kann nur durch Venus selbst einer Lösung zugeführt werden: die Liebesgöttin macht Saphos Herz unempfänglich für Liebe. Noch vielfältiger werden die verschiedenen Erscheinungsformen der Liebe in Endimion, the Man in the Moon (1588) durchgespielt. 19

Vgl. M. C. Bradbrook, The Growth and Structure of Elizabethan Comedy (21973); W. Habicht, s. S. 275, Anm. 2. 20 Works, ed. W. Bond, 3 Bde. (1902). - G. K. Hunter, J. L. (1962); P. Saccio, The Court Comedies of J. L. (Princeton, 1969).

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Auch hier zeigen unmißverständliche Anspielungen, daß ein höfisches Publikum adressiert wird: in der Liebe des Schäfers Endimion zur Mondgöttin Cynthia spiegeln sich die wechselnden Beziehungen Elisabeths zu ihrem Günstling Leicester. Wichtiger aber als der zeitgebundene Anlaß ist die exemplarische Darstellung sinnlicher und geistiger, sündhaft-begehrlicher und platonisch-veredelnder Liebe. Durch bösen Zauber soll die reine Liebe pervertiert werden; doch übersinnliche Mächte führen zur Erlösung und Reinigung. Diese Thematik wird durch eine Reihe von Nebenfiguren und -episoden, auch burlesker Art, vielfach variiert. Der Sieg Cynthias am Ende ist zugleich der Sieg des Lichtes und der himmlischen Liebe. Die meisten übrigen Stücke Lylys bedienen sich der mythologischen Einkleidung zur exemplarischen Vorführung verschiedener Liebeshaltungen, während Mother Bombie (ca. 1590) Motive der klassischen Terenz-Komödie mit der Schilderung des zeitgenössischen Lebens (das Stück spielt in Rochester) verbindet. Lylys Dramen sind gekennzeichnet durch eine meist sehr symmetrische Struktur, von den parallelen Figurenkonstellationen bis hin zu den stilisierten Satzperioden. Sie verbinden das humanistische Interesse an klassischer Mythologie mit höfischem Schliff und exemplarischer Diskussion moralischer Fragen, vor allem am Beispiel der Liebe in ihren vielfältigen Ausprägungen. Der lateinischen Komödie wurde damit eine ganz neue Form des Lustspiels entgegengestellt, die bald viele Nachahmer fand und durch Shakespeare ihre genialste Weiterentwicklung erfuhr. George Peele und Robert Greene gehören zu der Gruppe der sog. 'University Wits', Autoren, die nach einer mehr oder weniger vertieften Universitätsausbildung nach London kamen, um sich hier mit der Feder durchzuschlagen, meist vielseitig belesen und sprachbegabt, aber wenig wählerisch in dem, was sie schrieben, und völlig abhängig vom Geschmack ihres Publikums oder eines aristokratischen Patrons. GEORGE PEELE21 (1556-96) versuchte sich in den verschiedensten Dramenformen, vom höfischen Schäferspiel (The Arraignment of Paris, ca. 1581) bis zum biblischen Historiendrama (The Love of King David and Fair Bethsabe, ca. 1587), von der Maurentragödie (The Battle of Alcazar, ca. 1589) bis zur romantischen Komödie, in der das Vorbild Lylys weitergeführt wird; The Old Wives' Tale (1590) vereint wiederum exemplarische Darstellung der Liebe mit märchenhafter Magie, guter und böser Illusion, sowie einer zunächst verwirrenden Mischung realistischer und phantastischer Figuren. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Märchen werden humorvoll verwischt, doch ist darin nicht so sehr eine parodistische Verspottung der romantischen Komödie zu sehen, als ihre konsequente Ausweitung durch zusätzliche Kontraste und Variationen. Die Vielfalt der Szenen und Figuren wie auch der Sprachformen ist der zentralen Thematik untergeordnet. Böser Zauber erweist sich als ohnmächtig gegenüber der wahren Liebe, die auf vielerlei Weise auf die Probe gestellt wird. Besonders kunst21

Works, ed. A. Bullen, 2 Bde. (1888, repr. 1966); The Life and Works of G. P., ed. C. T. Prouty, bisher 3 Bde. (New Haven, 1952ff.). - L. R. N. Ashley, G. P. (1970).

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voll ist auch die Rahmenhandlung verwendet, die der Einleitung des Stückes dient, zugleich aber eine reizvolle Brücke zwischen der Märchenwelt und der Realität herstellt. Ähnliche Rahmenhandlungen werden im elisabethanischen Drama immer wieder abgewandelt. Auch ROBERT GREENE22 (1558-92) ist, wie schon seine Prosawerke zeigen, ein ungewöhnlich vielseitiger Schriftsteller, von dessen dramatischem Schaffen vermutlich nur ein Teil erhalten ist. Seine bekanntesten Komödien stellen einfallsreiche Variationen über die Themen Liebe, Tugend, Magie und bösen Schein dar, teils in historischem, teils in mythologischem Gewand. In Friar Bacon and Friar Bungay (1589), das auf ein Volksbuch zurückgreift, geht es um verschiedene Formen der Magie, böse und heilsame, deren Wettstreit mit einer romantischen Liebeshandlung verknüpft ist. Der Sieg der tugendhaften Liebe und die Entsagung falscher Lust bedeuten zugleich die Niederlage des falschen Zauberers. In The Scottish History of James IV (1590) wird das eigentliche Drama umrahmt von einem Streitgespräch zwischen dem Misanthropen Bohun und dem Elfenkönig Oberon; das Spiel von der pervertierten Liebe des Königs, der seine Gattin verstößt und der schönen Ida nachstellt, wird von beiden Parteien als Bestätigung für ihre Weltsicht interpretiert. Es wird damit ausdrücklich als Exemplum charakterisiert. Auch hier wird das Thema vielfältig variiert, und komische Nebenepisoden tragen zur Diskussion bei. Die Verknüpfung verschiedener Spiel- und Handlungsebenen wirkt zwar gelegentlich etwas willkürlich, dient aber der thematischen Aussage und illustriert die formale Experimentierfreudigkeit der frühelisabethanischen Dramatiker, die der weiteren Entwicklung der Komödie zugutekam. Eine etwas andere Form des aus mehreren Handlungen zusammengesetzten Exempelstücks repräsentiert Greenes gemeinsam mit Thomas Lodge verfaßtes, offensichtlich beliebtes Drama A Looking-Glass for London and England (1590), das die biblische Geschichte vom Propheten Jona mit einer Reihe teils moralitätenhafter, teils satirischer Nebenhandlungen umgibt und auf verschiedenen sozialen und stilistischen Ebenen warnende Beispiele moralischer Korruption gibt. Die zur Buße aufgerufene Stadt Ninive wird mit London identifiziert. Das Komische ist hier weitgehend auf die niederen Clownsfiguren beschränkt, bleibt aber doch mit dem Gesamtthema verbunden. Insofern läßt sich auch an diesem Stück zeigen, daß der auf den ersten Blick formlos erscheinende Aufbau vieler elisabethanischer Dramen keineswegs willkürlich, sondern durch thematische Bezüge bestimmt ist.

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Plays and Poems, ed. J. W. Collins, 2 Bde. (Oxf., 1905); Plays, ed. T. H. Dickinson, MS (1909).

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4. Marlowe und die Tragödie Nachdem die englische Tragödie zunächst stark durch klassizistische Tendenzen bestimmt war, wurden ihr durch die originelle, von Konventionen kaum eingeengte Leistung CHRISTOPHER MARLOWEs23 (1564-93) neue Wege gewiesen, die auch für Shakespeare entscheidend wurden. Marlowes Leben, nur teilweise aufgehellt, scheint höchst bewegt gewesen zu sein, von seinem durch geheimnisvolle Reisen unterbrochenen sechsjährigen Aufenthalt an der Universität Cambridge, die ihm erst auf eine Intervention des Privy Council hin den Grad des M. A. verlieh, bis zu seinem plötzlichen Tod im Verlauf einer Rauferei mit recht zwielichtigen Kumpanen. Offenbar erfüllte Marlowe nicht nur eine Reihe geheimdienstlicher Regierungsaufträge, sondern bewegte sich auch in Kreisen, die sich sehr unorthodoxen, ja der Blasphemie verdächtigen Diskussionen hingaben. Daß Marlowe in dem Ruf eines respektlosen Atheisten stand, sollte die Interpretation seiner Dramen nicht präjudizieren; doch ist nicht zu übersehen, daß in ihnen oft trotziger und unbekümmerter mit herrschenden Orthodoxien umgegangen wird als etwa bei Shakespeare und daß die Dynamik seiner Tragödien sich oft gerade daraus ergibt, daß akzeptierte Grundsätze rücksichtslos in Frage gestellt werden. Marlowes erster großer Erfolg war die Tragödie Tamburlaine the Great (ca. 1587),24 der er sogleich einen zweiten Teil folgen ließ und die schon im Prolog ihren stolzen Anspruch verkündet, die schwächlichen Produkte von 'rhyming mother-wits' durch die Kraft von Tamburlaines 'high astounding terms' zu überbieten. Das Stück lebt denn auch von einer sprachlichen und dramatischen Energie, die auf dem englischen Theater neu war. Der Protagonist Tamburlaine, der sich eines der vorderasiatischen Reiche nach dem anderen unterwirft, ihre Herrscher demütigt und seinen Siegeszug mit spektakulären Machtdemonstrationen begleitet, ist nicht der verwerfliche Tyrann der Moralitäten oder ein letztlich lächerlicher Maulheld, sondern er wird von einem Machthunger getrieben, den er selbst als Teil der menschlichen Natur erklärt und der im Drama keineswegs nur abgewertet wird, sondern staunende Be23

Grundlegende ältere Ausgabe: ed. R. H. Case, 6 Bde. (1930-33); neuere Ausgaben: Complete Works, ed. F. Bowers, 2 Bde. (Cambr., 1973); Complete Plays, ed. I. Ribner (N. Y., 1963); Plays and Poems, ed. E. D. Pendry (1970). - J. Bakeless, The Tragical History of C. M., 2 Bde. (Cambr., Mass., 1942); A. L. Rowse, C. M.: His Life and Works (N. Y., 1964); F. P. Wilson, M. and the Early Shakespeare (Oxf., 1953); H. Levin, The Overreacher (Cambr., Mass., 1952); J. B. Steane, M.: A Critical Study (Cambr., 1964); D. Cole, Suffering and Evil in the Plays of C. M. (Princeton, 1962); G. Pincis, C. M. (N. Y., 1975); J. Weil, C. M. (Cambr., 1977). Grundlegend zur elisabeth. Tragödie auch: M. C. Bradbrook, Themes and Conventions of Elizabethan Tragedy, (Cambr., 1935). 24 Die Chronologie der Werke Marlowes ist recht unsicher und macht es unmöglich, eine künstlerische Entwicklung zu rekonstruieren. Weniger typisch für Marlowes Beitrag zur elisabethanischen Tragödie ist Dido, Queen of Carthage (1587-93), wo das klassizistische Muster zwar deutlich aufgelockert und die traditionelle Geschichte des Äneas durchaus selbständig bearbeitet wird, aber der charakteristische Marlowesche Held fehlt.

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wunderung erregt. Wenn dieser Held sich in einen maßlosen Machtrausch hineinsteigert und zuletzt doch im Tod allen Menschen gleichgemacht wird, so ist dies für das Drama kein Anlaß zu unkritischer Befriedigung und Selbstbestätigung, sondern ein beunruhigender Beweis für die Unzuverlässigkeit des Schicksals. Verschiedene Interpretationen haben bald die orthodoxe, bald die häretische Seite von Marlowes Dramatik herausgestellt. Die provozierende Kraft seiner Tragödie besteht aber wohl gerade darin, daß sie zu keiner einfachen Lösung führt und nicht in Versöhnlichkeit endet. Ihre rebellische Dynamik äußert sich vor allem in der leidenschaftlichen Sprache. Marlowe hat den Blankvers endgültig in die Tragödie eingeführt und ihm zugleich eine bei aller gelehrten Rhetorik überraschende Flexibilität gegeben. Dieser überzeugenden Sprachgewalt ist es vor allem zuzuschreiben, daß Tamburlaine nicht als deklamierender Großsprecher wirkt, sondern sein Machtwille sich durch das Wort beglaubigt: "Nature... doth teach us all to have aspiring minds." Dieser eingeborene Wille zur Macht äußert sich in verschiedener Form auch in den übrigen Tragödien Marlowes. In The Jew of Malta (ca. 1589-90) steigert der Protagonist sich in einen Rausch des Verbrechens hinein, der ihn immer erfindungsreicher im Erdenken von Brutalitäten und mörderischen Intrigen werden läßt, bis er auf groteske Weise in der eigenen Falle gefangen wird. Doch bleibt es nicht bei der eindeutigen Darstellung eines Bühnenschurken, sondern Barabas wird durch das sehr unchristliche Verhalten der Christen provoziert und in seiner Haltung bestätigt. Sein verdienter Tod ist keineswegs der erlösende Sieg der guten Sache, sondern läßt viele Fragen offen. Der Prolog beruft sich auf das Vorbild Machiavellis (er selbst spricht den Prolog), der den Elisabethanern vielfach als die Verkörperung skrupelloser politischer Rücksichtslosigkeit galt und der hier triumphierend seinen großen Einflußbereich schildert. Zynische Menschenverachtung bestimmt fast alle Aktionen in diesem Stück, das nur in einem recht äußerlichen Sinne Tragödie genannt werden kann, da es zu keinem echten Konflikt kommt, sondern nur zu einer vielfältigen Demonstration der Bosheit. Fast ebenso finster ist die Welt, die in dem leider nur sehr schlecht überlieferten Historienstück The Massacre at Paris (ca. 1593) gezeichnet wird. Im Zentrum stehen die blutigen Ereignisse der Bartholomäusnacht (1572), die wahllose Abschlachtung aller in Paris auffindbaren Protestanten, die kaum zwanzig Jahre zurücklag und mit ihren Wirkungen in die unmittelbare Gegenwart hineinreichte. Der leidenschaftlich antikatholische Charakter des Dramas scheint es vor dem Verbot bewahrt zu haben, das sonst alle Darstellungen aktueller politischer und religiöser Kontroversen untersagte. Aus der bruchstückhaften Form, in der es erhalten ist, läßt sich erschließen, daß die beherrschende Figur des Herzogs von Guise als treibende Kraft im Mittelpunkt stand. Sein wenigstens in einem Monolog noch deutlich demonstrierter rücksichtsloser politischer Ehrgeiz verbindet ihn deutlich mit den anderen Protagonisten Marlowes.

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Überlieferungsprobleme erschweren leider auch eine gesicherte Bewertung von Marlowes bekanntester Tragödie, Doctor Faustus25 (zwischen 1588 und 1592), die häufig aufgeführt und mehrmals überarbeitet wurde, offensichtlich also schon die Zeitgenossen fasziniert hat. Das Stück wurde zwischen 1604 und 1631 mindestens neunmal gedruckt und liegt in zwei Fassungen vor, der A-Version (1604) und der B-Version (1616), die sich so stark voneinander unterscheiden, daß man fast von zwei verschiedenen Konzeptionen sprechen kann. Das Volksbuch von Doktor Faustus, 1587 in Frankfurt am Main erschienen und bereits 1592 ins Englische übersetzt, beschreibt Faust als Exempel menschlicher Vermessenheit, die der gerechten Strafe zugeführt wird. Faust überschreitet die Grenzen legitimen Erkenntnisstrebens, verbündet sich mit dem Bösen und verspielt damit sein Seelenheil. Marlowes Held dagegen ist eine sehr viel komplexere Figur. Wie Tamburlaine wird er von dem ungezügelten Willen getrieben, die dem Menschen mitgegebenen Fähigkeiten bis zum Äußersten auszunutzen. Dabei geht es ihm jedoch nicht um politische Macht, sondern um Erkenntnis, um die Möglichkeit, sich durch die Kraft des Geistes alle Bereiche und Geheimnisse des Kosmos zugänglich zu machen. Da alle bekannten Wissenschaften ihn hier im Stich lassen, erhofft er sich von dem Bund mit der Hölle die entscheidenden Aufschlüsse. Dieses Ringen um die Erweiterung der Grenzen des Menschlichen ist in den Eingangsszenen auf großartige Weise gestaltet. Dabei wird vor allem der dramatische Monolog von Marlowe eindrucksvoll weiterentwickelt und dient der Darstellung einer geistigen Auseinandersetzung. Freilich muß Faust erfahren, daß gerade der Teufel ihm nicht die höchsten Stufen der Erkenntnis vermitteln kann. Nach einer Entdeckungsfahrt durch den Kosmos und die exotischeren Teile der Erde findet Faust sich als gefeierter Magier wieder, der seine Zeit mit spektakulären Demonstrationen seiner Kunst verbringt und seinen grandiosen Wissensdrang vergessen zu haben scheint. Seine Verblendung erreicht ihren Höhepunkt, als er sich durch Magie die Liebesvereinigung mit der von den Toten zurückgeholten Helena verschafft und dabei endgültig seinem Seelenheil abschwört. In einem großangelegten Schlußmonolog, der im elisabethanischen Drama kaum seinesgleichen hat, erfährt Faust, dessen Zeit abgelaufen ist, alle Stufen der Verzweiflung, der vergeblichen Sehnsucht nach Erlösung und der Erkenntnis dessen, was er verspielt hat. Die volkstümliche Schauermär von dem bösen Zauberer, den zuletzt der Teufel holt, wird hier sublimiert zu der eindringlichen Darstellung einer religiösen Krise. Das Stück wurde, wie auch Tamburlaine, von den Lord Admiral's Men gespielt. In der Art, wie es differenzierte Charaktertragödie mit spektakulärer Unterhaltung verbindet, ist es besonders typisch für die erstaunliche Vielfalt des elisabethanischen Volkstheaters. Mit Edward II (ca. 1591-93) leistete Marlowe einen gewichtigen Beitrag zur Entwicklung des englischen Historiendramas. Im Gegensatz zu Shake25

Vgl. die Parallelausgabe der beiden Texte, ed. W. W. Greg (Oxf., 1950), und die gut kommentierte Ausgabe von J. D. Jump, RP (1962).

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speares Königsdramen geht es hier weniger um allgemeine politische Themen oder das Schicksal des Gemeinwesens als um die Auseinandersetzung zwischen Individuen, die freilich in historischen Dimensionen gesehen werden. Mit beachtlichem Geschick hat Marlowe vor allem aus Holinsheds Chronicles die höchst unübersichtlichen Ereignisse von fast dreißig Jahren gegliedert, reduziert und neu geordnet, so daß Edwards Niedergang von dem jungen verantwortungslosen Herrscher zum leidenden, von allen verlassenen König als geschlossene, in den Charakteren motivierte Handlung erscheint. In dem skrupellosen Gegenspieler Mortimer wird noch einmal das Porträt eines ehrgeizigen Machiavellisten entworfen. Neu im Werk Marlowes ist die Darstellung des Königs, seiner leidenschaftlichen, fast erotischen Beziehung zu dem Günstling Gaveston und seines langen Leidensweges, der zwar in der eigenen Schwäche begründet ist, der aber doch durch lyrisches Pathos und die Verwerflichkeit der Gegner an das Mitgefühl des Zuschauers appelliert. Der oft angestellte Vergleich mit Shakespeares etwa drei Jahre später entstandener Tragödie Richard II. ist aufschlußreich; er zeigt vor allem Marlowes weniger planvolle Konstruktion, seine ungebärdigere Sprachkunst und den Verzicht auf die eingehende Problematisierung des Herrscherideals, die bei Shakespeare eine so wichtige Rolle spielt. Marlowes Bedeutung für das englische Theater ist schwer zu definieren, kann aber wohl kaum überschätzt werden. Innerhalb nur weniger Jahre wurde durch die aufrüttelnde Kraft seines Beispiels die Entwicklung der englischen Tragödie in ganz neue Bahnen gewiesen und zwar sowohl durch sein Konzept des dynamischen, handlungsbestimmenden Individuums als auch durch den Anspruch seiner ebenso mitreißenden wie poetisch-ausdrucksvollen dramatischen Sprache. Gerade hierin konnte Shakespeare auf Marlowes Leistung aufbauen. Einen weiteren für die Folgezeit wichtigen Anstoß erfuhr die Tragödie durch THOMAS Kvo26 (1558-93), der zeitweise eng mit Marlowe verbunden war und wie er in politisch-religiöses Zwielicht geriet. Über sein Leben ist wenig bekannt, ebenso über seinen genauen Anteil an einer Reihe von Dramen, mit denen er in Verbindung gebracht wurde. Dies ist bedauerlich, da er den Zeitgenossen als bedeutender Dramatiker galt. Für uns liegt seine Bedeutung fast ausschließlich in der Spanish Tragedy (zwischen 1582 und 1592), einem der bekanntesten und einflußreichsten Dramen der Zeit, das sich zwar weder an geistiger Energie noch an differenzierter Sprachkunst mit Marlowe vergleichen läßt, in seiner neuartigen Verbindung von Mordstück und Charaktertragödie aber doch ebenfalls einen nachhaltigen Einfluß ausübte. Im Mittelpunkt steht der spanische Marschall Hieronymo, dessen Sohn einer Mordintrige zum Opfer fällt und der auf der Suche nach Gerechtigkeit und 26

ed. F. S. Boas (Oxf., 21955); gut kommentierte Ausgabe von P. Edwards, RP (1959). P. W. Biesterfeldt, Die dramatische Technik K.s (Halle, 1936); P. Edwards, T. K. and Early Elizabethan Tragedy (Oxf., 1967); A. Freeman, T. K. (Oxf., 1967); P. B. Murray, T. K., TEAS (N. Y., 1969); zur Rachetragödie vgl. F. T. Bowers, Elizabethan Revenge Tragedy 1587-1642 (Gloucester, Mass., 21959).

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Rache für dieses Verbrechen die Maske des Wahnsinns gebraucht, bis er durch seine Erfahrung der ungerechten Welt tatsächlich den Verstand zu verlieren droht, zuletzt aber im Rahmen eines sorgfältig inszenierten Spiels im Spiel den Tod der Mörder herbeiführt. Das Stück wird umrahmt von Auftritten der personifizierten Rache und des Geistes eines toten Höflings, der nach Vergeltung verlangt und mit Spannung Hieronymos Bemühen um Gerechtigkeit verfolgt. Senecistische Motive verbinden sich hier auf wirkungsvolle Weise mit Elementen des Volkstheaters. Vor allem wird durch das Drama das Thema der Rache in die elisabethanische Tragödie eingeführt, das jahrzehntelang immer wieder abgewandelt wurde, wobei das Interesse besonders der Figur des Rächers galt, der Unrecht sühnen will und sich dabei selbst in Unrecht verstrickt. In dem Bewußtsein, Unrecht erlitten zu haben, steht er einer Welt gegenüber, deren korrupten Charakter er immer deutlicher erkennt und die er vergeblich zu beeinflussen sucht, bis er in völlige Isolierung gerät. The Spanish Tragedy ist in der Charakterzeichnung recht grobschlächtig und oft primitiv im Gebrauch bombastischer Rhetorik, so daß das Stück bald auch zur Parodierung Anlaß gab. Seine zentrale Situation aber und die Figur Hieronymos gerieten nicht so schnell in Vergessenheit. Es ist in diesem Zusammenhang aufschlußreich, daß Kyd, aufgrund einer freilich wenig eindeutigen Anspielung bei Thomas Nashe, lange Zeit als Verfasser eines Hamletdramas galt, das jedoch nicht erhalten ist. Damit bleibt The Spanish Tragedy die erste englische Rachetragödie. Zusammen mit Marlowes Tragödien und Lylys Komödien macht sie deutlich, daß um 1590 die wesentlichen Formen des elisabethanischen Dramas sich herausgebildet hatten. So konnte sich Shakespeare auf eine Fülle formaler Anregungen und auf eine sehr lebendige Theatertradition stützen.

5. Das Drama William Shakespeares27 Vom Leben WILLIAM SHAKESPEARES (1564-1616) wissen wir trotz der Bemühungen vieler Generationen um Aufhellung seiner Biographie nur recht wenig. Als Schauspieler und Dichter gehörte er nicht zu dem Personenkreis, 27

F ü h r e r durch die S. Literatur: A S. Bibliography by W. Ebisch and L. L. Schücking (Oxf., 1931) [mit Supplement 1937], fortgeführt bis 1958 in: G. R. Smith, A Classified S. Bibliography (University Park, Pa. 1963); R. Berman, A Reader's Guide to S.'s Plays (Chicago, 1965); S. Wells, S.: Select Bibliographical Guides (1973); J. G. McManaway, A Selective Bibliography of S. (Charlottesville, 1975); jährliche Bibliographien in Shakespeare Quarterly, Jahrbuch der Deutschen Shakespeare Gesellschaft West und Shakespeare Jahrbuch; kritischer Forschungsbericht in Shakespeare Survey (jährlich seit 1948). H a n d b ü c h e r : ? . E. Halliday, A S. Companion 1564-1964 (Harmondsworth, 1964); A S. Encyclopaedia, edd. O. J. Campbell and E. G. Quinn (1966) [ausgezeichnetes Nachschlagewerk]; A New Companion to S. Studies, edd. K. Muir and S. Schoenbaum (Cambr., 1971); U. Suerbaum, S.s Dramen (Düsseldorf, 1980) [Studienreihe Englisch]; S. Handbuch, ed. I. Schaben (Stuttgart, 2 1978). A u s g a b e n : The Norton Facsimile, ed. C. J. K. Hinman (N. Y., 1968); Variorum Edn., edd. H. H. Furness et al. (Philadelphia, 1871 ff.); New Arden Edn., edd. U. Ellis-Fermor et al. (1951ff.) [meist vorzügliche Einzelausgaben]; New Cambridge S., edd. A. Quiller Couch, J. D. Wilson et al., 39 Bde. (Cambr., 1921-62); The Pelican

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dessen Lebensläufe eine breitere Öffentlichkeit interessiert hätten. Immerhin läßt sich jedoch aus einer ganzen Reihe erhaltener Dokumente in Umrissen eine Laufbahn rekonstruieren, die kaum ungewöhnlich, aber durchaus erfolgreich war. William Shakespeare besuchte wahrscheinlich die Lateinschule seines Geburtsortes Stratford-upon-Avon, heiratete 1582 die um acht Jahre ältere Anne Hathaway und siedelte zu einem nicht mehr genau bestimmbaren Zeitpunkt nach London über, wo er bald als Dramatiker von sich reden machte; er wurde Schauspieler in der von Richard Burbage geleiteten Truppe der Lord Chamberlain's Men, dann Mitbesitzer des für diese Truppe erbauten Globe-Theaters und später des Blackfriars-Theaters. Künstlerische Vielseitigkeit verbanden sich bei ihm offensichtlich mit geschäftstüchtigem Erwerbssinn. Er legte sich ansehnlichen Grundbesitz in Stratford zu und zog sich um 1611 dorthin zurück, wo er die letzten Lebensjahre verbrachte. Das Grabmal im Chor der Kirche von Stratford ist Zeugnis eines geachteten Ansehens unter den Mitbürgern. Von den Dramen Shakespeares sind 19 in den sog. Quartos überliefert, d. h. Einzelausgaben im Quartformat, die zu seinen Lebzeiten erschienen. Die Mehrzahl sind relativ verläßliche, von der Schauspieltruppe autorisierte Ausgaben, denen vermutlich ein Manuskript des Dichters oder ein von ihm abgeleiteter Text zugrundeliegt (sog. 'Good Quartos'); andere sind Raubdrucke höchst zweifelhafter Qualität. Vermutlich handelt es sich meist um illegale Gedächtnisrekonstruktionen, die von für Nebenrollen eingesetzten Schauspielern oder anderen Berichterstattern für interessierte Verleger angefertigt wurden (sog. 'Bad Quartos').28 17 Dramen finden sich nur in der von ShakeS., ed. A. Harbage (Baltimore, 1956-67), rev. in einem Band (Baltimore, 1969); The Signet Classic S., ed. S. Barnet (N. Y., 1963-70); The New Penguin S., edd. T. J. B. Spencer et al. (Harmondsworth, 1967ff.). Einbändige Ausgaben von G. L. Kittredge (Boston, 1936), rev. edn. I. Ribner (Boston, 1967); P. Alexander (1951); Riverside S., edd. G. B. Evans et al. (1974). B i o g r a p h i e : E. K. Chambers, S.: Facts and Problems, 2 Bde. (1930); S. Schoenbaum, S.'s Lives (Oxf., 1970); ders., W. S.: A Documentary Life (Oxf., 1974). - Weitere H i l f m i t t e l : S. Wörterbuch von A. Schmidt, 2 Bde. (Bln., 41902); S. Grammatik von W. Franz (Halle, 41939); S. Konkordanz von J. Bartlett (1906) und M. Spevack, 8 Bde. (Hildesheim, 1968-75); H. Kökeritz, S.'s Pronunciation (New Haven, 1953); E. J. Dobson, English Pronunciation 1500-1700, 2 Bde. (Oxf., 1957). - T e x t f r a g e n : W. W. Greg, The Editorial Problem in S. (Oxf., 2 1954); ders., The S. First Folio (Oxf., 1955); F. Bowers, On Editing S. (Charlottesville, 1966); einführend: F. P. Wilson, S. and the New Bibliography, rev. by H. Gardner (Oxf., 1970). Q u e l l e n : Narrative and Dramatic Sources of S., ed. G. Bullough, 8 Bde. (1957-75); K. Muir, S.'s Sources: Comedies and Tragedies (21961). - Einige a l l g e m e i n e D a r s t e l l u n g e n : P. Alexander, S.'s Life and Art (1939); M. Lüthi, S.s Dramen (Bln., 1957); D. Traversi, An Approach to S. (N. Y., 21956); H. GranvilleBarker, Prefaces to S., 5 Bde. (repr. 1972 u. ö.); T. Spencer, S. and the Nature of Man (N. Y., 1942); W. Clemen, The Development of S.'s Imagery (21977). 28 Die 'bad quartos', denen 'diverse stolen and surreptitious copies' zugrundeliegen, wie die Herausgeber der Folio schreiben, sind: The First Part of the Contention betwixt the two Famous Houses of York and Lancaster (= Henry VI, Part II), 1594; The True Tragedy of Richard Duke of York ( = Henry VI, Part III), 1595; Romeo and Juliet, 1597 (im Gegensatz zur 'good quarto' von 1599); Henry V, 1600; The Merry Wives of Windsor, 1602; Hamlet, 1603 (im Gegensatz zur 'good quarto' von 1604-1605); Pericles, 1609.

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speares Freunden und Schauspielerkollegen John Heminge und Henry Condell sieben Jahre nach seinem Tod herausgegebenen Folio-Gesamtausgabe (1623), einem mit großer Sorgfalt hergestellten Text, für den die meisten Texte neu revidiert und vielfach mit den Manuskripten verglichen wurden. Die Folio ist die Grundlage der meisten neueren Ausgaben, wobei freilich die Quartos oft wichtige Lesarten oder auch ganze Passagen beitragen. Insgesamt sind die Dramen Shakespeares besser und vollständiger überliefert als die der meisten seiner Zeitgenossen. Die Folio von 1623 gibt freilich keinen Hinweis auf die zeitliche Reihenfolge der Dramen, doch nimmt sie die bis heute gültige Einteilung in Komödien, Historien und Tragödien vor, von der die neuere Forschung nur in Einzelfällen abweicht.

Die Komödien29 Die genaue Chronologie der Dramen Shakespeares ist noch immer recht ungesichert, doch lassen sich mit einiger Sicherheit The Comedy of Errors, The Two Gentlemen of Verona und Love's Labour's Lost als Shakespeares erste Experimente mit den ihm vorliegenden Formen der Komödie bezeichnen. The Comedy of Errors (1590-94) wurde 1594 in der Londoner Juristenschule Gray's Inn gespielt und ist Shakespeares am stärksten der klassischen Tradition verpflichtete Komödie. Die Grundlage bildete die Farce 'Menaechmi' des Plautus, die jedoch in mehrfacher Richtung ausgeweitet und vertieft wird. So wird die Verwechslungskomödie durch die Verdoppelung des Zwillingspaares gesteigert. Den ununterscheidbaren Herren steht ein ebenso gleichgesichtiges Dienerpaar gegenüber, das vor allem die possenhafte Seite der Verwechslung vorführt, während in dem Schicksal der Herren durchaus auch die problematischen Aspekte der Identitätssuche angesprochen werden. Auch sprachlich ist der Kontrast sehr deutlich gestaltet: der derbkomischen Prosa der Diener steht die poetische Verssprache der Herren gegenüber. Eine weitere Ausweitung des Geschehens unter dem offensichtlichen Einfluß der mittelalterlichen Romanze und der romantischen Komödie erfolgt durch die Rahmenhandlung, in der das viele Jahre lang getrennte Elternpaar wieder zusammenfindet. Die Auflösung aller Verwechslungen verbindet sich in der Schlußszene mit der Wiedervereinigung der Familie und der Generationen. Die Thematik des Stückes wird dadurch und durch zahlreiche kleinere Veränderungen wesentlich vertieft und die farcenhafte Handlung spürbar hu29

Zu S.s Komödien vgl. J. R. Brown, S. and his Comedies (1957); C. L. Barber, S.'s Festive Comedy (1959); B. Evans, S.'s Comedies (1960); E. T. Sehrt, Wandlungen der S.schen Komödie (Göttingen, 1961); J. D. Wilson, S.'s Happy Comedies (1962); R. G. Hunter, S. and the Comedy of Forgiveness (1965); P. G. Phialas, S.'s Romantic Comedies (Chapel Hill, 1966); S.'s Comedies: An Anthology of Modern Criticism, ed. L. Lerner (Harmondsworth, 1967); L. S. Champion, The Evolution of S.'s Comedy (Cambr., Mass., 1970); L. Salingar, S. and the Traditions of Comedy (Cambr., 1974); K. Muir, S.'s Comic Sequence (Liverpool, 1979); R. Nevo, Comic Transformations in S. (1980).

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manisiert. Klassische Straffheit des Aufbaus vereint sich mit romanzenhafter Handlungsvielfalt und ethischem Ernst. Auch The Two Gentlemen of Verona (1590-93) ist ein Vorklang späterer Entwicklung, Vorläufer der „Problemstücke" mit glücklichem Ende. Der Stoff geht in seinen Grundzügen auf eine spanische Prosaromanze Montemayors zurück. Dramentechnisch ist der Einfluß der romantischen Komödie Lylys besonders deutlich. In der Dialogbehandlung und der Charakterisierung hat Shakespeare sich hier noch wenig von den relativ starren Konventionen der frühelisabethanischen Komödie gelöst, während Handlung und Thematik auf seine eigenständigeren Komödien vorausweisen: die Betonung der Freundschaft, das als Page verkleidete, dem Impuls seiner Liebe folgende Mädchen sowie die Lösung der Konflikte durch Reue und Vergebung verbinden das Stück vor allem mit The Merchant of Venice, an das auch der komische Soloauftritt des Dieners Lance erinnert. Freilich kommt die Versöhnung hier etwas unvermittelt; allzu hastig wird dem Bösewicht Proteus Verzeihung gewährt, und auch an anderen Stellen werden die grundsätzlichen Positionen mehr deklamatorisch als in lebendiger Charakterentwicklung vorgeführt. Die romantischen Ideale bedingungsloser Liebe und Freundschaft werden kaum wie in den späteren Komödien Shakespeares mit kritischer Distanz gesehen, sondern in undifferenzierter Eindeutigkeit gegeneinandergestellt. Gerade die Unausgeglichenheit des Werkes zeigt Shakespeares frühes Bemühen um eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Konventionen der romantischen Komödie, deren moralischen Dualismus er übernimmt: Freundestreue und Reinheit der Liebe werden durch sinnliche Leidenschaft bedroht, die zur Verblendung gegenüber sich und anderen verführt; nur durch Reue und Vergebungsbereitschaft kann eine neue Harmonie hergestellt werden. Noch deutlicher ist der Einfluß der höfischen Komödie Lylys in Love's Labour's Lost (1593-95). Der Stoff ist keiner uns bekannten Vorlage entnommen, sondern recht lose an zeitgenössische Ereignisse angelehnt. Die Fabel ist wie meist bei Lyly recht dünn, der lockere Aufbau mit stark paralleler Personenführung, fast symmetrischen Charakterkontrasten und lyrischen Einlagen gibt dem Stück eine mehr episch-lyrische als dramatische Qualität. Auf vielen Ebenen wird der traditionelle Widerstreit zwischen Geist und Natur diskutiert und in komische Situationen umgesetzt. Die Utopie einer platonischen Männerakademie wird von den Frauen mit humorvollem Wirklichkeitssinn überwunden. Der geniale Schluß verzichtet auf eine problemlose Versöhnung und stellt diese erst nach einem Jahr der Bewährung und Besinnung in Aussicht. Den nicht-aristokratischen Charakteren bleibt diese Läuterung durch Vernunft versagt. Sie verharren in ihren vielfältigen Formen der unnatürlichen Beschränkung, die sich vor allem in einer breiten Fülle sprachlicher Posen und Verirrungen manifestiert. Shakespeares stilistische Meisterschaft erweist sich in der parodistischen Überzeichnung von Sprachmoden, pedantischem Jargon, rhetorischem Schwulst und hilfloser Kapitulation vor dem übermächtigen Wort. Die Komödie ist darin auch ein besonders

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aufschlußreiches Zeugnis für den neuentdeckten Reichtum des elisabethanischen Englisch. Vor allem verdeutlicht sie Shakespeares Freiheit gegenüber den Einseitigkeiten rhetorischer und sittlicher Extreme, seine originelle Beherrschung der verschiedensten Stilformen und Spielarten der Komik. Eine über die bisherigen Versuche hinausgehende Verbindung der angeschlagenen Themen und recht heterogener Stoffelemente stellt die Komödie A Midsummer Night's Dream (1594-98) dar. Anregungen für die verschiedenen Handlungsstränge übernahm Shakespeare aus Chaucer, der mittelalterlichen Romanze und Ovid: das Nebeneinander dreier ganz verschiedener Welten - das übernatürliche Feenreich, der anachronistische Hof eines vorhomerischen Athen und die realistische Welt der einheimischen Landbevölkerung - ist seine eigene Leistung und erweist von neuem seine stilistische Virtuosität, seine beispiellose Fähigkeit der Synthese aus Gelehrtem und Volkstümlichem, Unbeschwertem und Beunruhigendem, Imaginärem und höchst Konkretem. Thematisch werden die verschiedenen Fäden durch die verwandelnde Kraft der Liebe verknüpft. Der Liebeszwist im Feenreich führt zu kosmischen Verwirrungen und unnatürlicher Entstellung; ein sichtbarer Ausdruck dafür ist die unwiderstehliche Wirkung des Liebestranks, der beliebige Liebespaarungen schaffen kann und auch die romantische Liebe der jungen Athener in Versuchung führt. Das rührend unbeholfene Spiel der Handwerker ist nicht nur eine ausgelassene Parodie rhetorischer Liebestragödien, sondern stellt auch eine komische Variation des lebensfernen Liebesideals dar. Die allgegenwärtige Figur des koboldartigen Puck verbindet die Spielebenen und stellt zugleich einen Bezug zur Welt des volkstümlichen Brauchtums her, in die auch das Publikum einbezogen wird. Shakespeares Feen sind nicht als romantische Attrappen einer gefühlsseligen Mondnachtsstimmung zu sehen, sondern eher als Ausdruck des Naturhaft-Elementaren, Dämonischen und Grotesken, das durchaus auch seine bedrohlichen Seiten hat und immer wieder die wirklichkeitsfernen Idealisierungen einer höfischen Kunstwelt relativiert. Der alles versöhnende Ausgang führt die verschiedenen Welten im Bild des Traumspiels zusammen, und auch der Zuschauer wird eingeladen, das Drama in diesem Sinne zu verstehen. Wohl nur zweimal kehrte Shakespeare zu der farcenhaften Komödienform von der Art der Comedy of Errors zurück. Zuerst mit The Taming of the Shrew (1593-98), das möglicherweise die Überarbeitung eines gegen überspitzten Frauenkult gerichteten älteren Stücks ist und sich wegen der besonders problematischen Überlieferung nur recht ungefähr datieren läßt. Wiederum sind mehrere Handlungen geschickt verknüpft. Die eigentliche Zähmungsgeschichte, ein traditionelles Märchenmotiv, wird begleitet von der romantischen Werbung um die scheinbar so viel gefälligere Schwester, deren Liebe sich am Ende als weniger verläßlich erweist. Katharinas „Zähmung" wird von Shakespeare nicht als gewalttätige Unterwerfung dargestellt, sondern als einfallsreiche Erziehung zur Selbsterkenntnis durch ein übermütiges Rollenspiel. Dieses Element des Spiels wird durch den Rahmen unterstrichen, der die ganze Komödie als höfischen Zeitvertreib und Teil eines ausgelassenen Spaßes hinstellt.

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Auch The Merry Wives of Windsor (ca. 1598) fällt etwas aus dem Rahmen der romantischen Komödie Shakespeares. Angeblich wünschte sich Königin Elisabeth, den vitalen Ritter Falstaff aus dem Historiendrama Henry IV in der Rolle des Liebhabers zu sehen, und Shakespeare löste die Aufgabe durch eine schwankhafte Handlung. Die grotesken Werbungen des herabgekommenen Aristokraten werden durch den Witz der Bürgerfrauen zu derbkomischen Schlappen; der heitere Sieg natürlicher Vernunft über realitätsferne Einbildung wird auch hier durch verschiedene Nebenepisoden verdeutlicht. Das Stück ist besonders bemerkenswert als farbige Darstellung elisabethanischen Kleinstadtlebens und bürgerlicher Häuslichkeit. Die zwei Opernfassungen von Nicolai und Verdi beweisen die Bühnenwirksamkeit des Stoffes, haben aber auf dem Theater Shakespeares Text häufig den Rang abgelaufen. Charakteristischer für Shakespeares unübertroffene Weiterentwicklung der Komödie sind die drei romantischen Komödien Much Ado About Nothing, As You Like It und Twelfth Night. In Much Ado About Nothing (ca. 1598) tritt die zentrale Handlung, deren Umrisse Shakespeare in einer Novelle Bandellos und in Ariosts Orlando Furioso vorfand, fast hinter den kunstvoll mit ihr verknüpften Nebenepisoden zurück, die seine eigene Zutat sind. Täuschung, falscher Schein und ihre Überwindung sind die verbindenden Motive. Durch erzieherische Täuschungsmanöver wird die vergiftende Wirkung bösartiger Verleumdung abgewehrt und der trotzige, ehefeindliche Stolz der beiden Liebenden Beatrice und Benedick überwunden, die ihre auf echter Wesensgemeinschaft beruhende Zuneigung hinter geistreichen Wortgefechten verbergen. Ausgerechnet den tölpelhaften Handlangern der öffentlichen Ordnung, Dogberry und Verges, deren komische Hilflosigkeit im Umgang mit der Sprache in erheiterndem Gegensatz zu ihrer Selbstzufriedenheit steht, gelingt die Entlarvung der Bösewichte. Durch vielfältige Abstufungen der Sprache und der Formen komischer Verwirrung wird eine farbige Welt geschaffen, in der Lied, Tanz und gesellschaftliches Fest Ausdruck einer sozialen Harmonie sind, die durch unmotivierte Bosheit nur vorübergehend gestört wird. As You Like It (1598-1600) folgt in seinem Handlungsverlauf weitgehend dem höfischen Prosaroman Rosalynde von Thomas Lodge (1590), in dem die modische Utopie einer arkadischen Schäferwelt freilich sehr viel undifferenzierter und unkritischer gesehen wird als bei Shakespeare. Seine Komödie macht zwar auch die pastorale Idylle zu einer Gegenwelt des durch Haß und Ehrgeiz bedrohten Hofes, aber die Flucht in die unschuldige Natur ist keine endgültige Lösung, und sie wird begleitet von einer illusionslosen Erkenntnis ihrer Begrenztheit, von den mißmutigen Kommentaren des Melancholikers Jaques wie von der unverblümten Direktheit des Narren Touchstone, dessen unromantische Werbung um das unbedarfte Landmädchen Audrey einen komischen Kontrast zu dem konventionellen Liebespaar Silvius-Phebe bildet. Ihnen stehen Rosalind und Orlando gegenüber, in deren Liebe sich romantisches Vollkommenheitsstreben mit heiterer Selbsterkenntnis verbindet. Auch hier dient das geistreiche Rollenspiel, Rosalinds Verkleidung als Knabe,

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der Erziehung zum unverstellten Eingeständnis der Liebe. Dabei ist es, wie auch in anderen Komödien Shakespeares, gerade das Mädchen, von dem die Initiative ausgeht und dessen Wirklichkeitssinn konventionelle Posen überwindet. Der Schluß vereint drei glückliche Liebespaare in Tanz und Gesang und bringt zugleich die Rückkehr an den durch die Bekehrung der Schurken von Haß und Zwietracht befreiten Hof. In Twelfth Night, or What You Will (1600-1602) halten sich eine höfischromanzenhafte und eine komische Handlung das Gleichgewicht: der posenhaften Liebesschwermut des Grafen Orsino und der nicht weniger gekünstelten Trauer Olivias um den verstorbenen Bruder steht das ausgelassene Gelächter der Sir Toby Belch-Malvolio-Handlung gegenüber. Auch hier wird der 5. Akt zum heiter-festlichen Ausklang durch Einsicht, Versöhnung und die Wiedervereinigung getrennter Familienmitglieder. Die Komödie ist, wie der Titel vermuten läßt, für den Vorabend des Dreikönigsfestes geschrieben; belegt ist eine Festaufführung anläßlich Maria Lichtmeß in der Juristenschule des Middle Temple. Der Stoff der Haupthandlung entstammt einer englischen Novellensammlung von Barnabe Riche, Riche his Farewell to Military e Profession (1581), die wiederum auf italienische Novellen und Komödien zurückgreift. Das Motiv der verwechselten Zwillinge erinnert an Shakespeares plautinische Komödie The Comedy of Errors. Gerade ein Vergleich mit diesem frühen Stück zeigt jedoch, wie ungleich vielseitiger, gedanklich tiefer, menschlich anrührender und stilistisch eigenständiger Twelfth Night ist. Verbindet sich schon in der romantischen Zentralhandlung eine differenzierte Darstellung höfischer Tugenden mit vorsichtiger Distanz gegenüber ihren Exzessen, so stellt die von Shakespeare dazu erfundene Nebenhandlung der poetischen Märchenwelt einen unbekümmerten Wirbel von fröhlichem Lebensgenuß und boshaftem Schabernack entgegen, dessen Opfer, der humorlose und ehrgeizige Puritaner Malvolio, als Einziger auch von der allgemeinen Versöhnung am Ende ausgeschlossen bleibt, während der scharfsinnige und weise Narr Feste sich an der komischen Zurechtweisung beteiligt und mit seinem fast wehmütigen Schlußlied den Zuschauer in die Alltagswelt zurückverweist. Beide Handlungsstränge werden verbunden durch das Motiv der Verkleidung und des Rollenspiels, das hier, noch stärker als in den früheren Komödien, zu einem Sinnbild menschlicher Täuschbarkeit und Unbeständigkeit wird. Die geniale Verschmelzung von Märchenhaft-Poetischem und Vital-Komischem macht Twelfth Night zum gelungensten Beispiel für Shakespeares romantische Komödie. Trotz bedrohlicherer Züge wird man auch die 1600 gedruckte und wohl schon 1596-98 entstandene Komödie The Merchant of Venice dieser Gruppe zurechnen, wenngleich hier deutliche Anklänge an die späteren, weniger unbeschwerten Lustspiele Shakespeares festzustellen sind. Wiederum werden mehrere Handlungsstränge höchst kunstvoll verflochten, sowohl durch direkte Personenbezüge als auch durch thematische Parallelen. Ein Vergleich mit Shakespeares wichtigster Vorlage, einer italienischen Novelle Giovanni Fiorentinos (1558), und anderen mutmaßlichen Quellen zeigt, wie bewußt Shake-

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speare bestimmte Motive herausgearbeitet und den mehr anekdotischen Stoff vertieft hat. Im Gegensatz zu As You Like It oder Twelfth Night wird das harmonische Gleichgewicht der Romanzenwelt hier durch die beunruhigende Figur Shylocks aus dem Lot gebracht, der diese Komödie nicht nur von jeher für bedeutende Charakterdarsteller besonders attraktiv gemacht hat, sondern auch vor allem den modernen Leser leicht dazu bewegt, die tragische Seite dieses Lustspiels in den Vordergrund zu stellen. In der Figur des haßerfüllten Außenseiters, sicherlich beeinflußt von Marlowes Jew of Malta, der sich an den selbstsicheren und (mit Ausnahme des ahnungsvollen Antonio) unbeschwerten Christen zu rächen sucht, hat Shakespeare eine so vitale und, etwa auch durch den charakteristischen Sprachgebrauch, individuelle Bühnengestalt geschaffen, daß dadurch der Rahmen der romantischen Komödie fast gesprengt wird, da im Vergleich dazu fast alle übrigen Spieler blaß und konventionell erscheinen. Von der Konzeption des Dramas her ist Shylock der bösartige Gegenspieler, der von den Protagonisten zu recht überwunden und (freilich gegen seinen Willen) „bekehrt" wird. Es ist bezeichnend, daß er in dem von Versöhnung und allgemeiner Harmonie bestimmten Schlußakt nicht mehr auftritt. Der Anschein von Realismus, der durch die dynamische Rachsucht Shylocks entsteht, wird stark relativiert durch die vielen märchenhaften Züge. Thematisch wird das Drama durch den Gegensatz von freizügiger, zum Risiko bereiter Liebe und eigensüchtigem, auf Habsucht und starrem Gesetzestext beharrendem Haß bestimmt. Bassanios von falschem Goldglanz unbeirrte Kästchenwahl und Portias beherztes Verkleidungsspiel im Dienste des Freundes und der gerechten Sache sind der Ausdruck eines harmonischen und freien Verhältnisses zum Mitmenschen und zum Besitz. Die ethische Grundlage dieses Verhaltens wird in Portias programmatischer Rede vor Gericht entwickelt. Durch sie wird auch ihre Überlistung Shylocks gerechtfertigt, der angesichts seiner mörderischen Absicht am Ende doch unverdient glimpflich davonkommt. Weniger ausgeprägt ist das poetische und lustspielhafte Element in All's Well That Ends Well (1601-1604). Wegen der härteren Darstellung der durch die Handlung (sie geht auf eine Novelle aus Boccaccios Decamerone zurück) provozierten menschlichen Konflikte und der auf den ersten Blick etwas gewaltsamen Schlußversöhnung hat man das Stück, meist zusammen mit Measure for Measure und Troilus and Cressida, als 'problem play' bezeichnet, eine Gruppierung, die in der Forschung selbst wieder zum vieldiskutierten Problem geworden ist.30 Entscheidend für das Verständnis des Stückes ist die Zentralfigur Helena, deren mutig eingestandene Liebe zu dem sozial höher stehenden, unreifen Bertram von ihr mit einfallsreicher Initiative einem guten Ende zugeführt wird, obwohl sich Bertram einer Verbindung mit ihr widersetzt und sich der ihm zunächst aufgezwungenen Gattin durchaus unwürdig erweist. Für Shakespeares Zeitgenossen waren die Disharmonien des Stof30

E. M. W. Tillyard, S.'s Problem Plays (1950); E. Schanzer, The Problem Plays of S. (1963).

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fes offensichtlich weniger gravierend; denn Helena wird im Stück als heilende und vergebende Vorbildfigur gezeichnet, deren Handlungen, selbst der modernem Empfinden wenig sympathische 'bed-trick' (Märchenmotiv der untergeschobenen Braut), durch ihr Ergebnis gerechtfertigt werden: der Verwirklichung ihrer Liebe und der „Erziehung" des verblendeten Bertram, der sich glücklich schätzen muß, eine solche Gattin zu erhalten. Auch die Nebenhandlung, in der der verlogene Prahler Parolles grausam überführt wird, und vor allem die vielfach kantige und ungleichmäßige Sprache unterstreichen die Dissonanzen und tragen zu dem Eindruck einer gewissen Unsicherheit bei, einer experimentellen Komödienform, die Shakespeares Bemühen um eine Ausweitung der romantischen Komödie und die Einbeziehung auch problematischerer Aspekte zeigt. Einen weiteren Schritt in dieser Richtung stellt Measure for Measure (1603-1604) dar, das eine ganze Reihe von Motiven mit All's Well gemeinsam hat, vor allem den 'bed-trick', im ganzen aber eine überzeugendere Synthese erreicht, obwohl die potentielle Tragik sehr viel konsequenter zugespitzt und die harmonische Schlußversöhnung noch plötzlicher in die Wege geleitet wird. Shakespeares unmittelbare Quelle war George Whetstones Drama Promos and Cassandra (1578), dem wiederum eine italienische Novelle Giraldi Cinthios zugrundelag. Shakespeares wichtigste Änderungen betreffen die Figur Isabellas und die Rolle des Herzogs. In allen früheren Versionen des Stoffes geht die Frau auf die Forderung des ungerechten Statthalters ein und opfert ihre Ehre der Begnadigung des Verurteilten. Shakespeares Isabella ist so gezeichnet, daß sie ihrer ganzen Natur nach eine solche Entscheidung nicht treffen kann. Ihre rigorose Weigerung, das Leben des Bruders durch eine Todsünde zu erkaufen, spitzt den tragischen Konflikt aufs Äußerste zu. Er wird freilich auf seinem Höhepunkt durch das Eingreifen des Herzogs abgebogen, der bei Shakespeare im Gegensatz zur Quelle von Anfang an das Geschehen beobachtet, dessen eigentlicher Urheber er ja ist, da er durch seinen zeitweiligen Rückzug von der Herrschaft den sittenstrengen Angelo auf die Probe stellt. Angelo, der voll Entsetzen die teuflischen Impulse in seinem eigenen Wesen erkennen muß und von ihnen überwältigt wird, ist eine Figur, die mehr mit den Tragödien Shakespeares als mit den romantischen Komödienschurken gemeinsam hat, wie schon seine eindrucksvollen, von innerem Ringen bestimmten Monologe zeigen. Daß selbst er am Ende zu Einsicht und Reue geführt wird, daß selbst Isabella für ihn um Vergebung bittet und die schofel verlassene Mariana ihm zur liebenden Gattin wird, ist nur durch die allgegenwärtige Lenkung des Herzogs und einen plötzlichen Umschlag von tragischer Konfliktsituation in komödiantische Intrige möglich. Dieser Kontrast, der fast als ein Bruch im Drama erscheint und deutlich an die gerade in diesen Jahren aus Italien übernommene Form der Tragikomödie erinnert, hat zu sehr unterschiedlichen Interpretationen des Stückes geführt. Er ist aber zugleich der Grund für die provozierende und immer neu zur Auseinandersetzung reizende Kraft dieser Komödie, die einige der eindrucksvollsten Szenen und Charaktere im ganzen Werk Shakespeares ent-

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Drittes Buch: Die Zeit der Renaissance

hält, deren geistige Spannweite vom Kloster zum Bordell und Gefängnis reicht und deren zentraler Konflikt nicht durch eine glatte Lösung versöhnt, sondern durch einen bewußten Wechsel des Tones offengehalten wird. Nach Measure for Measure scheint Shakespeare sich eine Zeit lang von der Komödie abgewandt und sich vor allem mit der Tragödie beschäftigt zu haben. Erst nach 1608 (wenn man von Pericles absieht) entstanden noch einmal eine Reihe von Komödien, die zwar deutlich an Früheres anknüpfen, aber doch so viele neue Züge gemeinsam haben, daß sie in der Kritik seit langem als „Romanzen" oder Märchenspiele zu einer eigenen Gruppe zusammengefaßt werden, wodurch freilich leicht ihre Verwandtschaft mit den romantischen Komödien verdeckt wird.31 Stofflich sind diese Dramen vor allem vom spätgriechischen Roman und der populären mittelalterlichen Romanze abhängig, die den Elisabethanern in vielerlei Form bekannt war. Zu den immer wiederkehrenden Motiven aus diesem Bereich gehört vor allem die Trennung und Wiedervereinigung von Familiengliedern, sei es durch Verbannung, Schiffbruch oder andere feindselige Kräfte, denen eine gute Vorsehung entgegenwirkt. Die oft archetypisch oder auch christlich interpretierte Abfolge von Trennung und Wiedervereinigung, Schuld und Läuterung, Haß und Versöhnung ist all diesen „Romanzen" gemeinsam. Dabei treten die meist nicht sehr individuell gezeichneten Charaktere hinter der übergreifenden Handlung und der wirklichkeitsentrückten Märchenwelt zurück. Ebenso ist im Vergleich zu den frühen Lustspielen das eigentlich Komische nur schwach ausgeprägt, sei es in der Form des komischen Sprachspiels oder der lustigen Intrige. Als Komödien wird man diese Dramen daher vor allem im Hinblick auf die betonte Harmonie des Ausgangs bezeichnen, während im ersten Teil das Böse oft mit einer Intensität dargestellt wird, die eher an die Tragödien erinnert. Die Welt der Märchenspiele eröffnet Pericles (1606-1608), der im Stoff auf den hellenistischen Roman über Apollonius von Tyrus zurückgreift; die wichtigste unmittelbare Quelle ist die entsprechende Erzählung aus Gowers Confessio Amantis, deren Dichter in Shakespeares Stück selber als 'presenter' auftritt und durch seinen Bericht die zeitlich weit auseinanderliegenden Szenen und Pantomimen verknüpft. Das Stück wurde zwar mehrfach unter Skakespeares Namen in Quartoausgaben gedruckt (zuerst 1609), erscheint jedoch nicht in der Folio von 1623 und galt lange Zeit als nicht authentisch. Vermutlich handelt es sich um die Überarbeitung eines älteren Dramas, von dem die schwächeren ersten beiden Akte stehenblieben, während vom dritten Akt an eine gründlichere Revision erfolgte. Im Mittelpunkt des Spiels von Seesturm, Schiffbruch, Scheintod und wunderbarer Rettung steht die Gestalt Marinas, der Tochter des Pericles, die Shakespeare, ohne Rücksicht auf die 31

Vgl. P. Edwards, S.'s Romances 1900-1957, in: Shakespeare Survey 11 (1958) [Forschungsbericht]; G. W. Knight, The Crown of Life (Oxf., 1947); E. C. Fettet, S. and the Romance Tradition (1949); E. M. W. Tillyard, S.'s Last Plays (1958); N. Frye, A Natural Perspective (1965); H. Smith, S.'s Romances (San Marino, 1972); H. Felperin, Shakespearean Romance (Princeton, 1972).

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Einheit von Zeit und Handlung, über 16 Jahre von der Geburt bis zur Ehe führt. Durch ihr Schicksal und ihre Liebe wird der von der Fortuna heimgesuchte Pericles aus Verzweiflung und Verzagen zum Frieden geführt. Die episodenhaft dargestellten Leiden von Vater und Tochter werden hier freilich noch nicht, wie in den späteren Romanzen, in einen Zusammenhang von Schuld und Vergebung gestellt, sondern erscheinen als Laune des Zufalls und eines willkürlichen Geschicks. Es bleibt vielfach, was sich auch in der oft wenig suggestiven Sprache ausdrückt, bei einer rein handlungsbezogenen Folge bunter und märchenhafter Abenteuer, so daß, trotz aller Gemeinsamkeiten, die Verwandtschaft mit den späteren, von Shakespeare allein verfaßten Dramen dieser Gruppe weithin auf stoffliche Parallelen beschränkt bleibt. Cymbeline (1608-1611) erscheint in der Folioausgabe, dem ersten erhaltenen Text, als The Tragedy of Cymbeline'. Dies mag seinen Grund darin haben, daß der Titelheld ein legendärer Britenkönig ist, dessen Geschichte Shakespeare in Holinsheds Chronik vorfand; unter diesem Aspekt wäre das Stück eher King Lear oder Macbeth zuzuordnen als den Märchenspielen, zu denen es aber seiner ganzen Konzeption nach offensichtlich gehört. Die zentrale Handlung um Imogen und Posthumus entstammt denn auch Boccaccios Decamerone. Das legendäre Britannien und sein Hof ist in eine weithin geschichtslose Romanzenwelt entrückt; auch die unhöfische Welt der walisischen Berge ist, wie der Ardennerwald in As You Like It, ein poetisches Arkadien. Dort gewinnen die beiden Prinzen die Kräfte, mit denen sie den Hof von dem verderblichen Einfluß der Königin und Clotens befreien. Von ihnen ging letztlich alles Böse aus, das bei Posthumus freilich auch aus dem eigenen Herzen kommt und seine Liebe in plötzlichen, grundlosen Haß verwandelt. Nur durch die Vergebung der unschuldig verdächtigten und verfolgten Imogen kann Posthumus' Verirrung endgültig ausgelöscht werden. Daß dieser Sieg der guten Mächte aber nicht allein von den Menschen ausgeht, zeigen die vielfältigen Hinweise auf eine übernatürliche Lenkung, die in dem Auftritt Jupiters und der Wirkung des Orakels konkret in Erscheinung treten. Die lockere Struktur der Szenen ist für Shakespeares Romanzen charakteristisch, wenn sie auch hier gelegentlich etwas planlos erscheint. Auch in der mehr flächigen als differenzierten Charakterisierung und der im Vergleich zu den früheren Komödien spannungsloseren, bilderärmeren Sprache ist Cymbeline ein Beispiel für den dramatischen Spätstil Shakespeares. In The Winter's Tale und The Tempest ist dieser Stil am reinsten ausgeprägt. Die Handlung des Winter's Tale (1610-11) folgt relativ genau der populären Prosaromanze Pandosto, Or the Triumph of Time (1588) von Robert Greene, deren Motto Temporis filia veritas' Shakespeare als thematisches Zentralmotiv übernimmt und durch den Auftritt der personifizierten Zeit augenfällig macht. Seine wichtigste Änderung betrifft die „Wiedergeburt" der verleumdeten Königin, deren Tod in der Vorlage nicht mehr durch Vergebung und Versöhnung rückgängig gemacht wird. Die Harmonie des Endes wird dadurch, daß beide Generationen wieder zueinanderfinden, in ihrer grundsätzlichen Bedeutung wesentlich erhöht. Märchenhaft sind sowohl die

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durch das Meer getrennten Handlungsschauplätze Sizilien und Böhmen als auch wesentliche Elemente der Geschichte wie das Orakel und die wunderbare Errettung der ausgesetzten Perdita. Der große Zeitsprung in der Mitte des Dramas ist sichtbarer Ausdruck einer zweiteiligen Entwicklung. Die ersten Akte führen die zerstörerische Wirkung von Haß und Mißtrauen vor und sind oft mit den Tragödien verglichen worden, namentlich mit Othello, dessen verhängnisvolle Eifersucht freilich sehr viel präziser psychologisch motiviert ist als der jähe Wahn des Leontes, für den keine rationale Erklärung gegeben wird. Gerade das grundlose Aufflammen bösartiger Leidenschaft entspricht dem Stil dieses Dramas, in dem auch der harmonische Ausgang nicht allein durch menschliches Wirken erreicht wird, sondern der läuternden Kraft der Zeit zuzuschreiben ist. So wie der maßlose Argwohn des Leontes alle Bindungen von Liebe, Freundschaft, Familie und Staatswesen zerreißt, so werden, ebenso hingebungsvoll und letztlich unmotiviert, im zweiten Teil neue Bindungen geschaffen und alte wiederhergestellt. Der Gegensatz zwischen dem vergifteten Hof und der pastoralen Natur wird durch das Bild der Jahreszeiten und viele einzelne Motive unterstrichen. Die scheinbar ungetrübte Heiterkeit des von Tanz und Gesang bestimmten Schafschurfestes wird zwar durch das Dazwischentreten des aufgebrachten Polixenes bedroht; doch die Liebe des jungen Paares überwindet auch dieses Hindernis und verbindet sich mit dem Bild der fruchtbaren, frühlingshaften Natur zur Hoffnung auf eine neue Welt, in der die blinde Verhärtung des Winters durch Erkenntnis und Zuneigung abgelöst wird. Ganz anders im Aufbau, aber ebenso geglückt in der überzeugenden Verbindung von Thema und dramatischer Form ist das wohl letzte von Shakespeare allein verfaßte Drama The Tempest (1611). Auch hier spielt die läuternde Wirkung der Zeit und die Überwindung des Bösen durch Liebe und Vergebung eine zentrale Rolle, aber die strenge Begrenzung der Zeit und des Schauplatzes geben dem Stück eine fast klassische Geschlossenheit, wie sie sonst nur von der Comedy of Errors erreicht wird. In seiner Verwendung mythologischer Gestalten weist es gewisse Ähnlichkeiten mit den am Hofe Jakobs I. beliebten Maskenspielen auf; dort wurde The Tempest auch nach vorliegenden Zeugnissen mehrmals gespielt. Im Gegensatz zu den vorausgehenden Romanzen sind konkrete Vorlagen hier nur für einige Details der Handlung nachgewiesen worden. Die wichtigste Quelle scheinen Shakespeares eigene Dramen zu sein, aus denen eine ganze Reihe von Motiven übernommen, freilich ganz neu miteinander verbunden sind. Die Naturkraft des Sturmes als Sinnbild einer zerstörenden und auch läuternden Macht erscheint hier nicht zum ersten Mal; neu ist jedoch die konsequente Durchführung und die Verbindung mit der verwandelnden Wirkung der weißen Magie. Die wesentliche Rolle der Zeit wird durch die ständige Einbeziehung der Vorgeschichte vergegenwärtigt. Die wenigen Stunden auf der Insel, die das Drama zeigt, sind das Ergebnis einer vielfältigen Verkettung von Haß, Barbarei, Verblendung und mühsam gewonnener Erkenntnis, wie Prospero der ahnungslosen Tochter zu erklären sucht. Die bedrohliche Vergangenheit

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dringt nicht nur mit der hierher verschlagenen Schiffsbesatzung ein, sie ist auch in der nur unvollkommen gebändigten Figur des Caliban gegenwärtig, der einen früheren Zustand der Insel verkörpert und sich bezeichnenderweise bei der ersten Gelegenheit mit den Vertretern einer unkontrollierten Leidenschaft, den betrunkenen Matrosen, verbündet. Auch in der vereitelten Verschwörung der gestrandeten Höflinge wiederholt sich die Vergangenheit, wenn auch nur in der Absicht der Beteiligten; denn der wohltätigen Magie Prosperos gelingt es, das Böse unwirksam zu machen und die Möglichkeit von Erkenntnis und Neubeginn zu schaffen. Das junge liebende Paar wird von ihm selbst durch Hindernisse und Belehrung aus dem Zustand unwissender Torheit herausgeführt; doch die Bewährung steht noch bevor. Überhaupt ist die Harmonie des Endes hier nichts Endgültiges. Prosperos Magie ist Illusion, der er selbst am Schluß des Spiels entsagt. Das Böse ist nicht ausgelöscht, sondern macht eine ständige Bewährung nötig, auch für die Zuschauer, deren Wohlwollen sich Prospero ausdrücklich empfiehlt.

Die Historien32 Die Herausgeber der Folio von 1623 fügten die zehn Dramen Shakespeares zur englischen Geschichte als 'histories' zwischen die Tragödien und Komödien ein. Dies bedeutet nicht unbedingt, daß es sich hier um eine fest umrissene Dramengattung handelt. Schon die unterschiedlichen, keineswegs konsequent gebrauchten Bezeichnungen wie 'true tragedy', 'true chronicle history' u. a. sprechen gegen eine rigorose Trennung und deuten auf zahlreiche Überschneidungen, vor allem zwischen Historic und Tragödie. Doch ist die stattliche Zahl von Dramen, die sich speziell mit Themen aus der dynastischen Geschichte Englands befassen, aufschlußreich und hängt mit dem starken Interesse der Elisabethaner an der eigenen Vergangenheit und an Fragen der Historiographie zusammen. Neben der schon seit dem Mittelalter lebendigen Diskussion um grundsätzliche Probleme der politischen Ethik ging es dabei durchaus auch um aktuelle, für die Gegenwart bedeutsame Zusammenhänge. Die viele Jahre lang ungeklärte Frage der Thronfolge und die keineswegs über jeden Zweifel erhabene Legitimation der Tudor-Dynastie gaben diesem ganzen Themenbereich eine ungewöhnliche Brisanz und führten zu einem Geschichtsbild fast offiziellen Charakters, das man in der Forschung als Tudor-Myth' bezeichnet hat und das in verschiedenen umfangrei32

Vgl. L. B. Campbell, S.'s 'Histories': Mirrors of Elizabethan Policy (San Marino, 1947); E. M. W. Tillyard, S.'s History Plays (1944); I. Ribner, The English History Play in the Age of S. (21965); M. M. Reese, The Cease of Majesty (1961); S. C. Sen Gupta, S.'s Historical Plays (Oxf., 1964); D. Bevington, Tudor Drama and Politics: A Critical Approach to Topical Meaning (Cambr., Mass., 1968); R. Ornstein, A Kingdom for a Stage: The Achievement of S.'s History Plays (Cambr., Mass., 1972); M. Manheim, The Weak King Dilemma in the Shakespearean History Play (N. Y., 1973).

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eben elisabethanischen Chroniken festgehalten ist, die auch Shakespeares Historien als Quelle dienten (vor allem Hall und Holinshed).33 Die Historien lassen sich daher vor allem inhaltlich von den Tragödien abgrenzen, mit denen sie formal oft sehr viel gemeinsam haben. Sie dramatisieren die Geschichte englischer Könige als unmittelbar relevant für die Gegenwart, wobei es immer wieder um die Fragen der Rechtmäßigkeit, der wesentlichen Qualitäten und der Pflichten des Herrschers wie auch um die Rolle der Untertanen und die Gefahren für ein geordnetes Staatswesen geht. Die frühen elisabethanischen Historiendramen, deren genaues Verhältnis zu Shakespeares Historien schwer zu ermitteln ist, begnügten sich oft mit einer lockeren, episodenhaften Dramatisierung der in den Chroniken verzeichneten Ereignisse, wobei die aristokratischen Hauptpersonen häufig von Vertretern niederer Volksschichten begleitet werden, die für komische Prosaauftritte neben den rhetorischen Staatsszenen sorgen. The Famous Victories of Henry V (1583-88), The Troublesome Reign of King John (ca. 1587-91)34 und The True Tragedy of Richard the Third (1588-94)35 behandeln gleiche Ereignisse wie Shakespeares Historien und haben teilweise sicher als Anregung gedient. Doch ordnet Shakespeare die oft unverbundenen, weit auseinanderliegenden Episoden wesentlich stärker einer verbindenden Konzeption unter und geht dazu vielfach recht frei mit den historischen Zusammenhängen um. Die drei Dramen über die Regierungszeit von Heinrich VI., Henry VI, Part I-IH (1590-92), verraten noch am deutlichsten die lose, chronikhafte Struktur und zerfallen oft in wirkungsvolle Einzelszenen. Die mörderischen Rosenkriege, die zu außenpolitischen Katastrophen und Chaos im Inneren führen, werden als Beispiel für die tödlichen Gefahren von Uneinigkeit und Bürgerkrieg unter einem schwachen Herrscher dargestellt. Der erste Teil wird durch die patriotische Heldengestalt Talbots bestimmt, der trotz glänzender Erfolge im Kampf gegen Frankreich die Niederlage nicht aufhalten kann, weil ihm ungenügende Unterstützung zuteil wird. Als Gegenspielerin tritt ihm Joan of Arc entgegen, von Shakespeare als mit teuflischen Mächten verbündete Gottesgeißel gezeichnet, die das zerfallene England züchtigt. Der zweite Teil schildert den Höhepunkt innerer Zerrissenheit, die Beseitigung fast aller Adelshäupter, die noch für Ordnung im Inneren hätten sorgen können, und den Aufstand des führungslosen Volkes unter dem anarchischen Jack Cade, der eine kurzlebige blutige Herrschaft der chaotischen Analphabeten errichtet, bis er im friedlichen Garten Idens, einem sehnsüchtigen Symbol politischer Ordnung, zur Strecke gebracht wird. Dieser zweite Teil ist der geschlossenste und dramatisch wirksamste der Trilogie. Der dritte besteht aus 33

Ausführliche Auszüge aus den Chroniken und anderem Quellenmaterial in: Narrative and Dramatic Sources of S., ed. G. Bullough, III (1960) und IV (1962); vgl. auch S.'s Holinshed, ed. R. Hosley (N. Y., 1968). 34 Die beiden Dramen am leichtesten zugänglich in: Narrative and Dramatic Sources of S., IV. 35 Malone Soc. Reprints (1929); Auszüge in: Narrative and Dramatic Sources of S., III.

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einer Häufung von Schlachtszenen, in denen sich der völlige Zerfall des Gemeinwesens bis hin zur Familiengemeinschaft manifestiert. Aus dem allgemeinen Gemetzel, dem schließlich auch der König zum Opfer fällt, gehen die ehrgeizigen Söhne Yorks als Sieger hervor, und es kündigt sich bereits der Aufstieg des diabolischen, mißgestalteten Richard an. Er steht dann ganz im Mittelpunkt des vierten Dramas der York-Tetralogie, Richard III (ca. 1591-97),36 dessen Datierung und genaue textliche Bestimmung leider durch die Überlieferung erschwert ist, das aber als erster Höhepunkt in der Reihe von Shakespeares Historien bezeichnet werden kann. Die schon von Tudor-Biographen und Chronisten als faszinierendes Ungeheuer vorgeprägte Gestalt des durch Brutalität und Verwandtenmord zum Thron gekommenen Königs, der zur Strafe Gottes für das verwirrte Land wird, bis er durch den ersten Tudor Henry, den strahlenden Sieger von Bosworth, überwunden wird, bildet das dynamische Zentrum dieser Tragödie, von dem alle Ereignisse ausgehen und dessen allgegenwärtige Bosheit das Geschehen bestimmt. Das Drama gewinnt dadurch eine Geschlossenheit und Konsequenz, die es von allen bisherigen 'chronicle plays' unterscheidet. Virtuos hat Shakespeare hier Stoff und Thematik des Historiendramas mit Konventionen des senecistischen Rachedramas und der moralitätenhaften Volksstücke vereint. Richard ist nicht nur der skrupellose, gewalttätige Tyrann, sondern der diabolische Verführer, der seine Umwelt manipuliert und die Brillanz seiner eigenen Machenschaften auskostet, wie etwa die meisterhafte Werbung um die trauernde Anne am Sarg ihres von Richard selbst getöteten Gatten oder das heuchlerische Rollenspiel gegenüber mehreren seiner Opfer. Tragische Ironie und unheilvolle Vorausahnung bestimmen die Atmosphäre des Stückes, dessen Szenen häufig durch symmetrische Entsprechungen und rhetorische Deklamation akzentuiert werden und dessen Ende, ähnlich wie in den späteren Tragödien, den Ausblick in eine bessere Zukunft bringt, hier jedoch als Geschenk einer gnädigen Vorsehung, nicht als Ergebnis einer inneren Entwicklung. Richard kommt kaum zu einer echten Erkenntnis seiner Verfehlungen; auch reflektiert er nicht über seine politische Verantwortung und die Rolle des Königtums. Sein Untergang ist das Ende der Leidenszeit Englands und markiert den Anbruch der segensreichen Tudorherrschaft, in der das Chaos durch innere Einigkeit und einen starken legitimen König überwunden wird. In dieser Konzeption liegt das verbindende Thema der ganzen York-Tetralogie. King John (1591-98) behandelt eine weiter zurückliegende Zeit, die aber ebenfalls in einen deutlichen Bezug zur Gegenwart gestellt wird. In dem Kampf Johanns gegen päpstliche Machtgelüste und den vielfältigen Wirren um rivalisierende Thronansprüche sahen die Elisabethaner manche Parallele zur eigenen Situation. Im Gegensatz zur Vorlage, The Troublesome Reign of King John, wird der König als zwiespältige Figur gezeichnet, als Usurpator 36

Vgl. W. Clemen, Kommentar zu S.'s Richard III. (Göttingen, 1957; engl. Ausgabe 1968).

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und Verbrecher, der aber doch verschiedentlich politisches Geschick beweist und gelegentliche Erfolge erringt. Shakespeare steigert seine Schuld, indem er im Unterschied zur Quelle Johanns Anspruch auf den Thron zweifelhafter und den rechtmäßigen Thronerben Arthur zu einem rührenden, hilflosen Kind macht. Die eindruckvollste Gestalt neben dem König ist der Bastard Faulconbridge, ein illegitimer Sohn des Richard Löwenherz, der seine Ehre höher schätzt als materiellen Besitz, für den die ihm in gewissem Sinne zustehende Krone völlig unerreichbar ist und der als illusionsloser, unbestechlicher Beobachter das Geschehen kommentiert. Im Verlauf des Dramas wird er immer stärker in die Ereignisse hineingezogen und tritt am Ende als verantwortungsvoller Fürsprecher politischer Geschlossenheit und Unterordnung unter das gemeinsame Interesse auf. Das Drama ist reich an politischer Debatte und grundsätzlicher Thematik, was sich in der Dialogtechnik ebenso äußert wie in der differenzierten, bilderreichen Sprache. Mit Richard II (1594-95) beginnt die sog. Lancaster-Tetralogie, in der die Henry VI vorausgehenden Ereignisse behandelt werden. Noch bewußter ist die Verknüpfung mehrerer Dramen durch die Konzeption eines planvollen Geschichtsablaufes, der hier vor allem durch das Gesetz von Schuld und Sühne sowie die unterschiedlichen Qualitäten der jeweiligen Vertreter des Königtums bestimmt wird. Richard ist der legitime Herrscher, bis ins Innerste erfüllt von seiner königlichen Würde und ihrem zeremoniellen Glanz. Die theatralische Demonstration selbstherrlicher Macht steht jedoch in verhängnisvollem Gegensatz zu politischer Verantwortungslosigkeit und Inkompetenz. Aus dieser zwischen Schwäche und Willkür, Selbstbespiegelung und Selbstmitleid schwankenden Veranlagung erwächst der tragische Fall, vorangetrieben durch den Zusammenstoß mit dem völlig andersartigen Vetter Bolingbroke, der zwar nicht die Legitimation, aber das politische Geschick und die nüchterne Durchsetzungskraft des Herrschers besitzt. Mit ihm besteigt ein glanzloser Pragmatiker den Thron, der sich der Rebellion und des Königsmordes schuldig macht und durch die leichtfertige Schwäche Richards keineswegs gerechtfertigt wird. Obwohl er als Herrscher versagt, was etwa in der allegorischen Gartenszene besonders sinnfällig ausgesprochen wird, bleibt er der legitime Stellvertreter Gottes, dessen Absetzung das Land in verhängnisvollen Bürgerkrieg stürzt und den Nachfolger nicht glücklich werden läßt. Richards Fall, von ihm in eindrucksvollen poetischen Klagereden ausführlich kommentiert und zuletzt im Kerker als verdiente Strafe erkannt, macht das Drama zu einer ungewöhnlich konzentrierten, folgerichtigen Charaktertragödie. Der Sturz des Helden und der gleichzeitige Aufstieg seines Gegenspielers entsprechen der Vorstellung vom Rad der Fortuna; doch ist es nicht die launische Schicksalsgöttin, die das Geschehen lenkt, sondern menschliche Unzulänglichkeit und ihre unmittelbaren Folgen für das ganze Staatswesen, Die Einheit des Dramas beruht auch stark auf der poetisch stilisierten Sprache, einem ausgesprochen lyrischen Tonfall, der einen Gipfelpunkt Shakespearescher Ausdruckskunst darstellt und dem Zuschauer oder Leser wohl stärker im Gedächtnis bleibt als die Ereignisse selbst.

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Ein völlig anderer dramatischer Stil kennzeichnet die Fortsetzung, die beiden Stücke über die Regierung Henry Bolingbrokes, The First and Second Part of King Henry the Fourth (1596-98). Sie ist geprägt von äußerer Bedrohung und inneren Unruhen, die hier als Strafe für die Absetzung Richards II. verstanden und in diesem Sinne mehrfach kommentiert werden. Eine Reihe direkter Rückbezüge macht deutlich, daß Shakespeare die Kenntnis des früheren Dramas beim Zuschauer voraussetzt, und es spricht zumindest einiges dafür, daß er von vornherein zwei Dramen über Heinrich IV. plante, da die im ersten Teil eingeleitete Entwicklung erst am Ende des zweiten Teils wirklich abgeschlossen wird. Das auffallendste Merkmal beider Stücke ist die bunte Fülle von Personen und Schauplätzen, die panoramahafte Schilderung eines vielgestaltigen und von den unterschiedlichsten Interessen geformten Gemeinwesens, in dem der König keineswegs die alles beherrschende Figur ist. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß es sich dabei nicht um einen lockeren Bilderbogen handelt, sondern daß alle Episoden letztlich auf ein gemeinsames Thema bezogen sind, auf die Frage nämlich, wie ein solch differenzierter Organismus zu lenken ist und welche Qualitäten der Inhaber des höchsten Amtes besitzen muß, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Heinrich IV. selbst ist diesem Anspruch kaum mehr gewachsen. Seine draufgängerische Aktivität, die ihn zum Usurpator machte, ist einer resignierten Erkenntnis der Schuld gewichen. Die Krone erscheint ihm als Last, die den Schlaf raubt und ihn nicht froh werden läßt. Alte Verbündete wenden sich gegen ihn, und der Rebell Percy Hotspur konfrontiert ihn selbst mit der Herausforderung eines auf sein Recht pochenden Thronprätendenten, dessen sich der Staat erwehren muß. Ihre besondere Beliebtheit und Theaterwirkung verdanken die beiden Dramen jedoch den Szenen um den Kronprinzen Hai und vor allem der vitalen Gestalt des herabgekommenen Ritters Falstaff, der genialsten komischen Figur Shakespeares, von grotesker Fettleibigkeit und zugleich von unerschöpflichem Witz und kaum in Verlegenheit zu bringender, genießerischer Selbstzufriedenheit. Die verschiedensten Einflüsse haben hier Pate gestanden, von allegorischen Verkörperungen der Völlerei bis zur Lasterfigur der Moralitäten. Entscheidend für das Verständnis von Falstaffs Rolle ist sein Verhältnis zu dem Thronfolger, für den er all die Versuchungen und Ablenkungen darstellt, die er als Monarch zu meiden haben wird. Falstaffs fröhliche Gesetzlosigkeit und von jeder Verantwortung freie Eigensucht schaffen zwar eine Fülle komischer Situationen, an denen sich auch der Prinz beteiligt, aber sie sind zugleich ein warnendes Gegenbild zu den schweren Aufgaben, die auf den Prinzen warten, und zu der unbestechlichen Rechtsordnung, die er aufrechtzuerhalten hat. Freilich ist der Prinz, wie sein erster Monolog zeigt, nie ernstlich in Gefahr, und die düsteren Befürchtungen seines Vaters erweisen sich als unberechtigt. Für Hai sind gerade die ausgelassenen Wirtshausszenen ein Teil seiner Erziehung zum echten Volkskönig. Wo er wirklich zur Verantwortung gerufen wird, bewährt er sich in glänzender Weise, so im ersten Teil bei der Bekämpfung Percys, von dem er sich gerade durch sein Eintreten für das Gemeinwohl unterscheidet, und vor allem am

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Ende des zweiten Teils, als er Falstaff verbannt, den höchsten Richter um väterlichen Rat bittet und eine vielversprechende Herrschaft antritt. Das von Zuschauern und Kritikern immer wieder bedauerte Schicksal des in all seinen schlaraffenhaften Hoffnungen enttäuschten Falstaff ergibt sich notwendigerweise aus der ganzen Konzeption dieser Dramen, dem Heranreifen eines in allen Lebensbereichen erfahrenen, dem ganzen Gemeinwesen verantwortlichen idealen Herrschers, der keinen Anteil mehr an der Schuld des Vaters hat und daher auch die durch die frevelhafte Absetzung Richards heraufbeschworene Zeit des Unfriedens beenden kann. Der reichen Handlung entspricht eine stilistische Vielfalt, die im Gegensatz zu der Konzentration der Tragödie Richards steht. Neben der getragenen Poesie der Staatsszenen bestimmt die überquellende, von keinem Zeitgenossen erreichte komische Prosa der Falstaffszenen den Ton der beiden Dramen, in denen bühnenwirksame Verlebendigung der Geschichte und politisches Lehrstück eine geniale Verbindung eingegangen sind. Den Abschluß der Lancaster-Tetralogie bildet King Henry the Fifth (1599), das die glänzende Herrschafts Hals vorstellt, vor allem seinen spektakulären Sieg über die Franzosen bei Agincourt, und sich als dramatisches Porträt eines Volkskönigs, idealen Monarchen und Nationalhelden beschreiben läßt. Seine vorbildlichen Tugenden als Freund der Kirche, Wahrer der Gerechtigkeit, überlegener Feldherr und leidenschaftsfreier Mensch werden in einer Reihe episch aneinandergefügter Szenen vorgeführt, die wiederum alle Volksschichten umfassen, wenn auch, entgegen dem im Epilog zu Henry IV, Part II gegebenen Versprechen, Falstaff selbst nicht mehr auftritt, sondern nur in eindrucksvoller Weise sein Tod berichtet wird. Die ehemaligen Wirtshausgefährten erscheinen nur noch als Randfiguren, während das Volk jetzt vor allem in der Person einfacher Soldaten, bezeichnenderweise von den verschiedenen Enden der britischen Inseln, auftritt. Die kameradschaftliche Harmonie zwischen Waliser, Iren und Schotten ist der heitere Ausdruck eines geeinten Staatswesens. Der Sieg gegen die erdrückende französische Übermacht wird als für alle Nachkommen vorbildliche Leistung einer durch die gemeinsame Gefahr zusammengeschlossenen Gemeinschaft verherrlicht, der sich auch der König einfügt. Sein Gang durch das Lager vor der Schlacht betont diese Verbundenheit mit seinen Untertanen, die auch vom Chorus besonders gerühmt wird. Dieser Chorus, der vor jedem Akt auftritt und das ganze Drama abschließt, wirkt nicht nur als Klammer und Orientierung für das Publikum; er schafft durch seinen hymnischen Ton auch eine gemeinsame Perspektive und bezieht den Zuschauer in die allgemeine Bewunderung für den König ein, wobei man freilich die Frage stellen kann, ob das ganze Drama nicht ein etwas differenzierteres Bild zeichnet als der durchweg begeisterte Chorus. Er selbst deutet am Ende an und die Zeitgenossen wußten dies wohl nur zu gut, daß der Sieg von Agincourt ein sehr kurzlebiger Triumph war und das von Heinrich Erreichte sehr schnell wieder in den Wirren der Rosenkriege verspielt wurde. Der patriotische Enthusiasmus des Dramas wird dadurch jedoch kaum beeinträchtigt und ist in England bis heute wirkungsvoll geblieben.

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Shakespeares letztes Historiendrama, King Henry the Eighth (1612-13), entstand nicht nur sehr viel später, es nimmt auch eine gewisse Sonderstellung ein, da es höchstwahrscheinlich nicht von Shakespeare allein verfaßt ist, sondern in Kollaboration mit dem erfolgreichen jüngeren Dramatiker John Fletcher entstand. Das Stück ist recht verschieden von den beiden großen Tetralogien der neunziger Jahre, weniger politisch lehrhaft als festspielartig, und ist, auch seines Entstehungsdatums wegen, meist den Romanzen zugeordnet worden. Es besteht aus einer Reihe glänzender, offensichtlich mit großem theatralischem Aufwand inszenierter Aufzüge, die nur lose durch die Titelgestalt zusammengehalten werden und im wesentlichen drei Episoden vorführen: die „Tragödien" des Sturzes von Buckingham, Katherine und Wolsey, den Aufstieg von Anne Boleyn und Thomas Cranmer sowie die Geburt und Taufe Elisabeths mit dem Ausblick auf eine glückliche Zukunft, die jetzt schon im Rückblick verklärte Epoche der jungfräulichen Königin. Die mit Musikbegleitung, Tanz und Pantomime ausgeschmückte Folge erhabener und trauriger Ereignisse, der Genientanz und die an Hermione erinnernde Gestalt der unschuldig angeklagten Katherine weisen in die Nachbarschaft von Shakespeares Märchenspielen. Die historischen Ereignisse sind sehr frei ausgewählt und komprimiert, aber die eigentlich staatspolitischen Fragen, wie sie Shakespeares frühere Historien beherrscht hatten, sind gegenüber einer allgemeineren Thematik, der Abfolge von Aufstieg und Sturz, Unrecht und Versöhnung, stark in den Hintergrund getreten. Der fast rituelle Charakter des Spiels kommt auch in der ausladenden Rhetorik und den wenig individuell gezeichneten Charakteren zum Ausdruck.

Die Tragödien37 Im Gegensatz zur Historic war die Tragödie eine fest umrissene dramatische Gattung mit einer langen Tradition, die sowohl das antike Drama als auch die mittelalterliche Konzeption vom jähen Fall aus der einsamen Höhe des 37

Zur Vielfalt der Interpretation der Tragödien vgl. die nützlichen Auswahlbände: S.: The Tragedies, ed. A. Harbage, TCV (Englewood Cliffs, 1964); und S.: The Tragedies, ed C. Leech (Chicago, 1965); ferner: A. C. Bradley, Shakespearean Tragedy (1904); G. W. Knight, The Wheel of Fire (1930); ders., The Imperial Theme (1931); E. E. Stoll, Art and Artifice in S. (1933); L. L. Schücking, Die Charakterprobleme bei S. (Lpzg., 31932; repr. Stuttgart, 1969); H. S. Wilson, On the Design of Shakespearean Tragedy (Toronto, 1957); P. N. Siegel, Shakespearean Tragedy and the Elizabethan Compromise (N. Y., 1957); W. Rosen, S. and the Craft of Tragedy (Cambr., Mass., 1960); I. Ribner, Patterns in Shakespearian Tragedy (1960); J. Lawlor, The Tragic Sense in S. (1960); J. Holloway, The Story of the Night (1961); J. Kott, S. heute (München, 1964); N. Frye, Fools of Time: Studies in Shakespearean Tragedy (Toronto, 1967); N. Brooke, S.'s Early Tragedies (1968); R. Brower, Hero and Saint: S. and the Graeco-Roman Heroic Tradition (Oxf., 1971); K. Muir, S.'s Tragic Sequence (1972); R. Nevo, Tragic Form in S. (Princeton, 1972); B. McElroy, S.'s Mature Tragedies (Princeton, 1973); E. A. J. Honigmann, S.: Seven Tragedies (1976); J. Bayley, S. and Tragedy (1981); D. Mehl, Die Tragödien S.s (Bln., 1983).

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Glücks oder der Macht einschloß. Wird in der griechischen Tragödie der Unglücksablauf aus einer von Anfang an feststehenden Schicksalslage abgeleitet, so stellte die Senecanachfolge einen Zusammenhang zwischen Schicksal und Leidenschaft her und machte den Helden mitverantwortlich für sein Leiden. Dazu kamen, in immer neuer Kombination, die alte Vorstellung von dem sich drehenden Rad der Fortuna, der launischen Unbeständigkeit des Glücks, wie auch die christliche Interpretation von menschlicher Schuld und göttlichem Strafgericht. Shakespeares Tragödie läßt sich nur als Synthese aus den verschiedensten Einflüssen beschreiben; sein besonderes Interesse gilt offensichtlich den verschiedenen Protagonisten, ihrer tragischen Erfahrung und der verhängnisvollen Verkettung von persönlicher Veranlagung, unausweichlicher Konfliktsituation und einer dynamischen Realität des Bösen, die immer wieder die Frage nach der Existenz einer gerechten Weltordnung aufwirft. Die Tragödie Shakespeares geht gerade den Widersprüchen zwischen menschlicher Größe, vorbildlichem Wollen, Sehnsucht nach idealer Ordnung einerseits und sinnlosem Leiden, unverdientem Scheitern, Triumph der Ungerechtigkeit anderseits nach und verzichtet auf bequeme Harmonisierung ebenso wie auf hoffnungslose Resignation. Der Held hat alle Möglichkeiten zum Guten in sich, sei es zum vollkommenen Liebenden wie Othello oder zum gerechten Herrscher wie Hamlet; doch er wird hineingezogen in einen Zusammenstoß unvereinbarer Wertvorstellungen und verstrickt sich in Schuld, wobei die eigentlich moralitätenhafte Versuchungs- und Entscheidungssituation meist zurücktritt hinter der Darstellung der tragischen Erfahrung. Sie besteht häufig in der Erkenntnis der nicht für möglich gehaltenen Fähigkeit zum Bösen in dem geliebten Menschen oder in sich selbst, dem jähen Zerbrechen einer Illusion, ohne die das Leben seinen Sinn verloren zu haben scheint; dazu kommt vielfach die Einsicht, daß eigene Verblendung und Schuld zum Verlust gerade dessen geführt haben, wovon das ganze Glück abhing. Wie weit der tragische Untergang des Helden zugleich die Hoffnung auf eine heilere Zukunft einschließt und die Möglicheit einer durch das Gute bestimmten Existenz bestätigt, darüber haben Generationen von Lesern und Zuschauern recht verschieden gedacht. Weder eine Deutung im Sinne christlicher Zuversicht und gleichnishafter Allgemeinheit noch die Interpretation der Tragödien als Ausdruck sinnloser Widersprüchlichkeit wird wohl ihrem gedanklichen und poetischen Reichtum gerecht, der immer wieder zu neuer Auseinandersetzung mit dem Text reizt und dem aufnahmebereiten Betrachter neue Seiten erschließt. Die Shakespearekritik hat sich denn auch den Tragödien von sehr verschiedenen Seiten genähert. Lange Zeit galt das Interesse fast ausschließlich den Charakteren, über deren Motive und Wechselbeziehungen Dichter, Kritiker und Gelehrte sich Gedanken machten, wobei nicht selten die historische Bedingtheit des Shakespeareschen Dramas wie auch seine genaue sprachliche Gestalt außer Acht gelassen wurden. Den bis heute eindrucksvollsten Höhepunkt einer vor allem von den handelnden Personen ausgehenden Deutung stellt Bradleys Untersuchung der vier großen Tragödien dar, der man später, nur teilweise berechtigt, ein allzu psycholo-

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gisches Interesse an den Charakteren vorgeworfen hat. Freilich ist seine Darstellung durch viele neuere Untersuchungen korrigiert und ergänzt worden. Die enge Beziehung zur elisabethanischen Literatur und den Gegebenheiten des zeitgenössischen Theaters ist dabei ebenso detailliert beleuchtet worden wie die poetische Struktur der Dramen, ihrer Bildwelt und Metaphorik (Clemen, G. W. Knight) oder ihre recht unterschiedliche Wirkung auf den heutigen Leser (Kott). Den Ausgangspunkt hat jedoch stets die Beschäftigung mit dem Einzelwerk zu bilden, nicht eine umfassende Tragödientheorie, die den keineswegs einheitlichen Charakter der als Tragödien zu bezeichnenden Stükke Shakespeares verdecken könnte. Sein frühestes Experiment in dieser Form ist wohl Titus Andronicus (1589-90), eine blutrünstige Rachetragödie, die, stark beeinflußt von Kyds rhetorischer Affektdramatik und manchen Auswüchsen der Senecanachfolge, ein gewalttätiges Bild der Gotenkriege im späten Rom entwirft. Der Konflikt erwächst noch nicht aus dem Charakter des Helden, sondern ist auf eine äußere Intrige gegründet. Das von Mord, Grausamkeit und Haß vorangetriebene Geschehen wird begleitet von einer höchst kunstvollen, oft in undramatischer Statik stilisierten Rhetorik, die auch den schaurigen, auf der Bühne vorgeführten Ereignissen jeden Anschein von Realismus nimmt und sie zu einer grellen, lyrisch und emblematisch ausgedeuteten Bildfolge macht. Wort und Schaueffekt stehen oft unverbunden nebeneinander, und die handelnden Charaktere erwecken eher den Eindruck exemplarischer Rollen als menschlicher Individuen. Auch Romeo and Juliet (1591-97) steht etwas abseits von den großen Tragödien und ist häufig mit den frühen lyrischen Komödien verglichen worden. Shakespeare griff hier einen in der Renaissance beliebten, in mehreren Novellen und vor allem in einer Verserzählung Arthur Brookes (1562) verarbeiteten Stoff auf. Durch Zusammendrängung auf wenige Tage und einen rhythmischen Wechsel von Handlung und Gegenhandlung erreichte er eine dramatische Intensivierung des Geschehens. Vor allem modifizierte er die eindeutige Didaktik der Vorlage, die den Tod der Liebenden als Beispiel für die Unbeständigkeit der Fortuna und als Strafe für ihre unbeherrschte Leidenschaft präsentierte. Zufall und Schuld spielen bei Shakespeare eine spürbare, aber nicht entscheidende Rolle. Die Liebe der beiden jungen Veroneser wird als reine und aufrichtige Zuneigung dargestellt, sowohl durch den Kontrast zu anderen, weniger echten Formen der Liebe als auch durch die innige Poesie der Dialoge, wofür etwa die mit Recht berühmte Balkonszene ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist. Die Absolutheit dieser Liebe kann freilich erst im Tod eine endgültige Erfüllung finden; denn sie steht im Widerspruch zu der haßerfüllten Welt der Familienfehde, die selbst noch die niedere Schicht der Diener zu gegenseitiger Feindschaft treibt. In der vielfältig gezeichneten Gesellschaft Veronas wirkt die Liebe wie ein Fremdkörper. Auch die komischen Figuren, der spottende Satiriker Mercutio und die vitale, geschwätzige Amme, stehen den Liebenden letztlich verständnislos gegenüber, und der weltfremde, wenn auch wohlmeinende Klosterbruder Lorenzo kann

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das verhängnisvolle Schicksal nicht aufhalten. Der Schluß, mit dem Auftritt des über den Streitenden stehenden Herzogs deutet aber zumindest an, daß der Tod der Liebenden Anlaß zur Aussöhnung wird. Der lyrische Reichtum der ebenso bildhaften wie musikalischen Sprache zeigt die Verwandtschaft dieser Tragödie mit der elisabethanischen Liebesdichtung. Die Verherrlichung einer unschuldigen, wenn auch unreif-ahnungslosen Liebe und ihres unvermeidlichen Untergangs hat in diesem Drama den eindeutigen Vorrang von einer differenzierenden Charakterdarstellung und einer aus ihr herauswachsenden Motivierung des tragischen Geschehens. Den Schritt zur Charaktertragödie tut dann Julius Caesar (1598-99), die erste der Römertragödien.38 Das Stück fußt wie alle Dramen Shakespeares zur römischen Geschichte auf den Biographien Plutarchs in der freien Übersetzung von Thomas North (1579) und drängt in meisterhaft knappem Bau und thematischer Dichte ein figurenreiches Geschehen von zweieinhalb Jahren auf fünf Tage und wenige Personen zusammen. Anders als frühere Caesardramen behandelt Shakespeares Tragödie nicht Caesars Leben und Tod, sondern seine Ermordung und die anschließende Rache seines Geistes. Die äußere Handlung ist auf den politischen Gegensatz zwischen der republikanischen Idee und der sich abzeichnenden Entwicklung zum Prinzipal zugespitzt; sie ist verflochten mit einer inneren Handlung, dem Gewissenskonflikt des Brutus zwischen Freundestreue und republikanischer Gesinnung. Brutus will zwischen privater und politischer Moral scheiden und nicht die Person, sondern die geistige Macht Caesars treffen. Aber das Drama trägt zu Recht den Namen Caesars; denn Brutus kann zwar den von Shakespeare durchaus als verletzlich gezeichneten Menschen auslöschen, aber gerade nicht den Geist, der die zweite Hälfte des Dramas beherrscht. Auch erliegt Brutus einer Selbsttäuschung, wenn er meint, er befinde sich in einem Dilemma zwischen Freundestreue und seiner Verpflichtung gegenüber dem 'general good'. Im Gegensatz zu anderen Bearbeitungen des Stoffes ist Caesar hier nämlich durchaus nicht als Tyrann gezeichnet, und der Mord, den Brutus als edles Opfer sehen möchte, wird zur blutigen Schlächterei, die den Staat in viel größeres Unheil stürzt, als es je von Caesar gedroht hätte. Rasch muß Brutus erkennen, daß die römischen Plebejer, von denen einer gar vorschlägt, nun Brutus selbst zum Caesar zu machen, den Sinn der Tat überhaupt nicht begreifen, und Marcus Antonius, in dessen Porträt sich hier opportunistisches Geschick und echte Anhänglichkeit an Caesar verbinden, vermag in seiner unmittelbar anschließenden großen demagogischen Rede die Emotionen des Volkes zum Aufruhr gegen die Verschwörer anzustacheln. Der Gegensatz der beiden Volksreden, der an Vernunft und politisches Verantwortungsgefühl appellierenden kraftvollen Prosarede des Brutus und dem alle Kunstgriffe 38

Vgl. M. W. MacCallum, S.'s Roman Plays and Their Background (21926); M. Charney, S.'s Roman Plays (Cambr., Mass., 1961); D. Traversi, The Roman Plays (1963); E. Schanzer, The Problem Plays of S. (1963) [zu Julius Caesar und Antony and Cleopatra]; zu den Quellen vgl. die nützliche Ausgabe: S.'s Plutarch, ed. T.J.B. Spencer (Harmondsworth, 1964).

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stimmungsmachender Rhetorik ausnützenden, das Publikum zum Haß gegen die Mörder anstachelnden Auftritt des Antonius ist eines der genialsten Beispiele von Shakespeares dramatischer Gestaltungskraft. Insgesamt tritt in diesem Drama das lyrische Element und die stilistische Vielfalt von Romeo and Juliet zugunsten einer einheitlicheren, dem Stoff angemessenen dynamischen Sprache zurück, die sowohl die hochgestimmte Deklamation wie auch den geschliffenen Dialog prägt. Der Konflikt zwischen politischem Handeln und privater Moral bleibt jedoch letztlich unaufgelöst. Brutus stirbt einen ehrenhaften römischen Freitod, aber dem Sieger Antonius steht bereits der junge Octavius zur Seite, der spätere Augustus, der ihn selbst zu Fall bringen wird. Die mehrere Jahre später, wohl erst nach den vier großen Tragödien entstandene zweite Römertragödie Antony and Cleopatra (1606-08) ist in ihrer äußeren Handlung die Fortsetzung des Julius Caesar und hat den Kampf der Triumvirn um die Alleinherrschaft zum Gegenstand. Antonius, bei Shakespeare der weitaus größte Feldherr der drei, dazu ein fähiger Politiker und überzeugender Redner, verliert im politischen Machtkampf, weil er von der Leidenschaft für Cleopatra beherrscht wird, und zwar mit solcher Unbedingtheit, daß die Auseinandersetzung um den Besitz der Welt und letztlich auch das Schicksal Roms ihm dagegen unbedeutend erscheinen. Die Liebe der beiden steht ganz im Mittelpunkt des Stückes; alle Änderungen und Kürzungen gegenüber dem Bericht des Plutarch, der als Quelle diente, unterstreichen den Ausnahmecharakter dieser Beziehung, die wenig mit der poetischen Jugendliebe des Romeo gemeinsam hat, sondern als Rausch erscheint, der einen zum Manne Gereiften trifft und ihn alle andere Verantwortung vergessen läßt, sowohl die eigene Familie in der Gestalt der liebenden Gattin Octavia als auch das Wohl des Staates, desen Lenkung immer mehr in die Hände des nüchtern taktierenden Octavius Caesar übergeht. Die Liebe ist jedoch nicht nur von außen bedroht, sie erscheint auch ständig gefährdet durch die launische Unberechenbarkeit der Cleopatra, durch Mißtrauen und Unsicherheit; kaum je erleben wir als Zuschauer eine Szene harmonischer Gemeinsamkeit. Der ständige Wechsel des Schauplatzes zwischen Rom und Ägypten, die fluktuierende Bewegung, die die Liebenden immer wieder trennt und zusammenführt, wie auch die zwischen Abscheu und ohnmächtiger Bewunderung schwankende Reaktion der Außenstehenden sind charakteristisch für Shakespeares komplexe Gestaltung dieses Stoffes und seinen Verzicht auf eine eindeutige Wertung. Bei aller kapriziösen, der heftigsten Stimmungsumschwünge fähigen Leidenschaftlichkeit der Cleopatra ist sie in ihrer majestätischen Größe der Liebe des Antony durchaus würdig. Ihr großartiger Liebestod ist jenseits moralischer Mißbilligung, und das eindrucksvolle Finale des Dramas verherrlicht die exemplarische Größe dieses Paares, ohne den im ganzen Stück gegenwärtigen Zwiespalt zwischen dem nüchternen Gemeinwohl Roms und dem exotischen Zauber Ägyptens aufzulösen. Der Zwiespalt wird verdeutlicht durch die als letztlich ohnmächtiger Kommentator besonders wichtige Figur des Enobarbus, der zunächst in kritischer Distanz Antonys Schwäche erkennt und sich zeitweilig von ihm abwendet.

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zuletzt aber doch von seiner Größe überwältigt wird und an diesem Konflikt zerbricht. Die Gegensätze des Dramas werden durch eine flexible Sprache unterstützt, die vor allem den verstandesmäßig nicht zu umschreibenden Glanz dieser überlebensgroßen Liebesbindung in reichen Bildfolgen beschreibt, wobei zugleich das Sinnlich-Erotische wie auch die kosmische Dimension gesteigerten Ausdruck erfahren. Straffer gebaut ist die letzte der Römertragödien, Coriolanus (ca. 1608), in deren Mittelpunkt wiederum eine höchst zwiespältige Figur steht. Die äußere Handlung ist einfach: die Gegnerschaft zwischen dem Patrizier Coriolanus und dem römischen Volk spitzt sich zu bis zur Herausforderung und Verbannung im dritten Akt, die der Verteidiger Roms mit dem Wechsel seiner Loyalität beantwortet. Er verbündet sich mit dem langjährigen Gegner Aufidius, wendet sich jedoch, umgestimmt durch das eindringliche Flehen seiner Mutter, wieder Rom zu und wird daraufhin von den aufgebrachten Volskern erschlagen. Die widersprüchliche Natur des Helden, in dem sich arroganter Hochmut und echte menschliche Größe verbinden, ist von Shakespeare gegenüber der Quelle noch deutlich pointiert worden. Einem in sich uneinigen, der geschichtlichen Veränderung unterworfenen Gemeinwesen steht das überragende Individuum gegenüber, das weder isoliert existieren kann noch sich der als minderwertig empfundenen Menge einzuordnen bereit ist. Coriolanus stellt letztlich die Pietät gegen die Mutter und gegen Rom über den eigenen Ehrgeiz und findet den Tod, ohne zum Verräter geworden zu sein. Freilich bleibt er für Leser und Zuschauer bis zuletzt etwas undurchsichtig, da wir ihn fast nur von außen sehen und an seiner inneren Entwicklung kaum beteiligt werden. Die Sprache bleibt oft etwas abstrakt und gewinnt nur selten die poetische Ausdruckskraft der großen Tragödien. Debatte und gedankliche Auseinandersetzung nehmen einen großen Raum ein. Ein dramatischer Höhepunkt ist die Umstimmung des Helden durch seine Mutter, die durch eine ausdrucksvolle, stumme Geste besiegelt wird. Hamlet (1599-1601), die erste der großen Tragödien Shakespeares, dramatisiert eine äußerlich höchst sensationelle Geschichte mit mehreren gewaltsamen Todesfällen, Ehebruch und Rache, Geistererscheinungen und Wahnsinnigen und einem Zweikampf im offenen Grab. Shakespeare fand sie in Fran9ois de Belleforests Histoires Tragiques (1570) und wahrscheinlich in einem Hamletdrama der achtziger Jahre, von dem wir freilich nur durch zeitgenössische Anspielungen wissen und als dessen Verfasser Thomas Kyd gilt. Shakespeare übernimmt hier wesentliche Konventionen der elisabethanischen Rachetragödie, vor allem die Konzentration auf die Figur des Rächers, der durch die Erfahrung ungesühnten Verbrechens zur Frage nach der gerechten Weltordnung überhaupt getrieben wird und der die Verpflichtung zur Rache als eine ihm auferlegte Last empfindet, als göttliches Gebot zur Besserung einer korrupten Gesellschaft. Diese Züge sind in Kyds Spanish Tragedy, freilich in recht grobschlächtiger Form, angelegt, und der Blick auf die Tradition kann sicherlich das Verständnis für einige Motive fördern, die zu besonderen Problemen der Hamletdeutung geworden sind, wie die Gei-

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stererscheinung, den angenommenen Wahnsinn und die schon durch die Form des Dramas bedingte Verzögerung der Rache. Freilich ist Shakespeares Dänenprinz ein ungleich fesselnderer und differenzierterer Charakter als Kyds Hieronymo oder andere Rächergestalten der Zeit, und das bewegte Geschehen ist so eindeutig auf seine Persönlichkeit bezogen, daß jede Interpretation des Dramas bei der Auseinandersetzung mit dieser Figur einsetzen muß. Einflußreich wurde Goethes Erklärung Hamlets als einer zarten Seele, die durch die ihr auferlegte ungeheure Tat erdrückt wird, und vor allem die Deutung Hamlets als einer Tragödie des reflektierenden Menschen durch die Romantiker Schlegel und Coleridge. Diese und viele spätere Interpretationen gehen von einer allzu psychologisch orientierten Charakterauffassung aus, wobei leicht das Gesamtdrama, seine historische Einordnung und seine ungewöhnlich reiche poetische Sprache vernachlässigt werden. Jede Generation hat sich ihren eigenen Hamlet zurechtgelegt, vom Melancholiker und glaubenslosen Zweifler bis zum intellektuellen Revolutionär, vom unbewußten Opfer eines Ödipuskomplexes bis zum 'angry young man', und die eigentliche Frage scheint mehr darin zu liegen, warum eine fiktive Gestalt jahrhundertelang eine so beispiellose Faszination ausüben konnte. Gerade diese Frage läßt sich sicher nicht durch eine bündige Charakteranalyse Hamlets beantworten, sondern nur durch einen Versuch, das Drama als Ganzes zu sehen, als ein immer wieder anregendes Kunstwerk, das eine Fülle von drängenden Problemen anspricht, ohne sie ein für allemal zu lösen. Die zentrale Situation des Helden hat dabei freilich ihr besonderes Gewicht. Der junge Prinz, zutiefst verstört durch den Tod des Vaters und die schnelle Wiederheirat der Mutter, erhält den Auftrag, den Mord zu sühnen, ohne aber selbst Unrecht auf sich zu laden. Die vieldiskutierte Natur des Geistes ist hierbei weniger entscheidend als seine Wirkung auf Hamlet, der nun sein ganzes Leben einer Aufgabe weiht, deren Größe und Undurchführbarkeit ihm immer mehr zum Bewußtsein kommen. In seinen großen Monologen wird das quälende Dilemma von den verschiedensten Seiten her reflektiert, namentlich in der durch keine Interpretation ausgeschöpften 'To be or not to be'-Rede, wo die beiden widersprüchlichen Impulse der menschlichen Natur, ohnmächtiges, untätiges Leiden und entschlossenes Handeln im Kampf gegen das Unrecht in der Welt als Aspekte eines unauflöslichen Konfliktes unserer moralischen Persönlichkeit gesehen werden. Nur den einfacher gebauten Haudegen wie Laertes, Fortinbras und Pyrrhus ist in dieser komplexen Welt eine eindeutige Entscheidung für die entschlossene Rache möglich; andererseits kann nur der leidenschaftslose Horatio den Anfeindungen des Schicksals mit unangefochtener Ruhe entgegentreten. Hamlets ebenso heftiger wie präziser, unentwegt fragender Geist kann sich mit keiner einfachen Antwort zufrieden geben, auch wenn er gegen Ende des Dramas zu einer ausgeglicheneren Haltung resignierter Ergebung in das Schicksal gekommen zu sein scheint. Der äußere Erfolg seines Auftrags ist denn auch weniger bedeutungsvoll als die vielfältige geistige Auseinandersetzung, die ihm vorangeht. Der Zuschauer wird kaum mit der Zuversicht entlassen, daß

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mit der Herrschaft des Fortinbras eine neue und gerechte Ordnung beginnt; die eigentliche Kraft des Dramas geht aus von Hamlets unbeirrtem Widerstand gegen eine vergiftete Welt und seine verzweifelte Suche nach einer menschlichen Möglichkeit, das Übel zu beseitigen, ohne selbst von ihm erfaßt zu werden. Diese Thematik wird entwickelt in einer Fülle verschiedenartigster Szenen, Sprachtöne und Figurenkonstellationen. Kein anderer Charakter Shakespeares verfügt über eine so wandlungsfähige und gedankenreiche Sprache und bewegt sich in so vielen geistigen Bereichen, wobei die Welt des Theaters eine besonders wichtige Rolle spielt: vom Theater, dem Spiel im Spiel, erwartet Hamlet sich eine unmittelbare moralische Wirkung, und in der Diskussion mit den Schauspielern entwickelt er seine Vorstellung von der Bühne als einem Spiegel des Lebens, die für das ganze Drama relevant ist. Die Maske des Schauspielers wird immer wieder in Beziehung gesetzt zu den vielfältigen Rollen, die jeder einzelne Mensch spielt und die eine schlichte Trennung von wahrem Wesen und täuschendem Schein unmöglich machen. Othello, the Moor of Venice (1603-1604) ist sehr viel straffer gebaut als Hamlet und erreicht eine künstlerische Geschlossenheit, die man diesem Drama zuweilen abgesprochen hat. Das dramatische Tempo und die thematische Konzentration unterscheiden das Stück von den ändern Tragödien Shakespeares. Die Handlung folgt im wesentlichen einer Novelle aus den 'Hecatommithi' des Giraldi Cinthio (1566), wo die sehr viel simpler motivierte Mordgeschichte als Beispiel für die schlimmen Folgen einer unnatürlichen Heirat erzählt wird. Shakespeare komprimiert nicht nur ein ausgedehntes Geschehen auf wenige Tage, er rückt vor allem die Persönlichkeit des Liebenden und die Vergiftung der Liebe durch diabolischen Haß in den Mittelpunkt. Wie in den anderen Tragödien Shakespeares entsteht tragisches Leiden hier aus der jähen Enttäuschung über den geliebten Menschen, die zum Zusammenbruch des Glaubens an das Gute überhaupt führt und an sich selbst verzweifeln läßt. Othellos heroische Liebe ist für ihn der Beweis des eigenen Wertes, aber auch einer gütigen Weltordnung; ohne sie gibt es für ihn nur das Chaos. Die mit teuflischer Treffsicherheit berechneten Einflüsterungen des Intriganten und Verführers, in dem sich Züge des skrupellosen Machiavellisten mit denen des satanischen 'Vice' aus den Moralitäten verbinden, wirken auf den edlen Mohren wie ein immer tiefer fressendes Gift. Zweifel und Verdächtigungen wuchern in ihm mit zerstörender Kraft, bis er die Geliebte mit Jagos Augen sieht und sogar dessen Sprache und Bildlichkeit übernimmt. Als er Desdemona tötet, glaubt er wie ein Richter zu handeln, und mit demselben sittlichen Ernst vollzieht er das Urteil an sich selbst, sobald er den ungeheuren Irrtum erkennt. Das tragische Ende bestätigt jedoch auch die Wahrheit, daß der Glaube an Reinheit und Treue nicht Schein, sondern Wirklichkeit war. Im Tode gewinnt Othello seine frühere Würde und Größe zurück, sowohl für seine Umgebung, wie auch für den Zuschauer, dem das Schauspiel seines moralischen Zusammenbruchs sicher nicht zur selbstzufriedenen Verurteilung, sondern zur erschütterten Erkenntnis menschlicher Versuchbarkeit dargeboten wird. Die Frage nach den letzten Motiven Jagos erscheint

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angesichts der zwingenden Konsequenz seines Vorgehens und seines „Erfolges" ebenso unerheblich wie das vieldiskutierte Problem, ob Othellos Liebe nicht von Anfang an den Keim des Mißtrauens in sich getragen habe. Die zentralen Dialoge zwischen dem Verführer und seinem Opfer zeigen Shakespeares glänzende Charakterisierungskunst und seinen besonderen Sinn für den Zusammenprall höchst ausgeprägter Persönlichkeiten in besonders eindrucksvoller Weise und erinnern in ihrer konzentrierten Dynamik an die Versuchungsgespräche zwischen Angelo und Isabella in der etwa gleichzeitig entstandenen Tragikomödie Measure for Measure. Der straffe Bau des Dramas wird nicht nur durch die Atemlosigkeit des dramatischen Tempos, sondern auch durch die Beschränkung des Schauplatzes bestimmt. Aus der durch Recht und Sitte geordneten Gemeinschaft Venedigs wird Othello zum Kampf gegen die Barbaren nach Zypern gesandt, wo der größte Teil des Geschehens sich abspielt und wo die Kräfte der Barbarei in ihm selbst die Oberhand gewinnen. Die kriegerischen Ereignisse und die weiträumige Poesie der dramatischen Sprache schaffen jedoch einen Hintergrund, vor dem die dramatische Handlung nicht nur wie ein privates Schicksal erscheint, sondern als Ausdruck eines universalen Konfliktes. King Lear (1604-1606) hat Kritiker und Zuschauer immer wieder als die gewaltigste und erschütterndste der Shakespeareschen Tragödien beeindruckt. Sie ist urtümlich einfach und zugleich vielstimmig, die Geschichte einer fortschreitenden Zerrüttung, aber auch eines Läuterungsprozesses, in dem der auf das Feuerrad des Leids geflochtene und zerbrochene Lear zu Selbsterkenntnis und reuiger Einsicht gelangt, während in der gleichzeitig ablaufenden Parallelhandlung der geblendete Gloster gerade das zu erkennen lernt, was er vorher sehenden Auges nicht begriff. Die kunstvolle Verknüpfung dieser beiden Geschichten ist Shakespeares eigenes Werk. Den Learstoff fand er in der Chronik Holinsheds und in einem anonymen Drama aus den neunziger Jahren, The True Chronicle History of King Leir, das freilich mit einer rührenden Versöhnung endet; die Glosterhandlung entnahm er Sidneys Arcadia und schuf dazu nicht nur die zahlreichen thematischen Querverbindungen, sondern auch eine Reihe von Figuren und Motiven, die entscheidend zu der von Shakespeare sonst nirgends erreichten Wirkung des Stückes beitragen: Lears Wahnsinn, die Gestalt des Narren, die Verbannung Kents und die unvergleichlichen Sturmszenen des dritten Aktes mit dem Zusammentreffen all derer, die sich freiwillig oder gezwungen in Wahnsinn, Narrheit und Elend geflüchtet haben. Die beiden Väter, Gloster und Lear, werden von den Kindern, denen sie blind vertraut hatten, grausam in die einsame Wildnis des Sturms gestoßen, bis sie dann von den ebenso blind verkannten und enterbten Kindern Hilfe und Vergebung erfahren. Lear verkennt nicht nur das Wesen seiner Töchter, sondern auch sein sakrosanktes Amt, wenn er meint, er könne auf die Herrschaft verzichten. Ebenso läßt Gloster sich von dem pervertierten Bastard täuschen und erkennt erst zu spät, daß nur Edgar die natürliche Kindschaft heilig hält und sich als der wahre Sohn bewährt. Er ist die Parallelfigur zu Cordelia, die sich weigert, ihre Liebe in rhetorischen

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Beteuerungen zu messen, sondern sie durch ihr ganzes Wesen verkörpert, als sie den gebrochenen Vater aufnimmt, der knieend ihre Verzeihung erbittet. Das Drama beschreibt die völlige Auflösung aller staatlichen und familiären Bindungen und ihre Bestätigung durch die gerade in der Ausgestoßenheit sich bewährende Liebe. Man sollte Lears Leidens- und Erkenntnisweg freilich nicht sentimentalisieren. Nur im Wahnsinn, als armer nackter Bettler, reduziert auf die bloße Kreatürlichkeit des Menschen, kommt ihm eine Einsicht in seinen hochmütigen Irrtum und in das wahre Wesen seiner Mitmenschen, aber die Erfahrung ist zu erschütternd, als daß sein zerrütteter Geist sie wirklich noch bewußt aufnehmen und tätig aus ihr Nutzen ziehen kann. Im Gegensatz zu dem rührenden Chronikstück, das Shakespeare kannte, ist dieser Lear zu keiner äußeren Genesung und Herrschaft mehr fähig. Auf das unsägliche Leid des Königs folgt nur ein kurzes Aufleuchten von Liebe und Vergebung und der Traum von einem Paradies im Gefängnis, ehe Cordelia eines sinnlos scheinenden Todes stirbt und der gequälte Vater ihr folgt. Doch das so grauenvoll wirkungsmächtige Böse triumphiert nicht endgültig, sondern zerstört am Ende sich selbst. Das Drama versucht keine glatte Antwort auf die Frage, ob der Mensch nur das Spielzeug gleichgültiger Mächte ist oder ob das unerträgliche Leid sich als sinnvolles Glied eines gütigen Planes erklären läßt. Der Schluß deutet jedenfalls keine lichtvollere Zukunft an, sondern artikuliert nur die tiefe Erschütterung der Überlebenden, die sich als Zeugen von Ereignissen verstehen, deren Größe sie nie erreichen werden und deren Sinn sich in keine schlichte Moral fassen läßt. Es ist kaum verwunderlich, daß ein solches Drama die widersprüchlichsten Deutungen erfahren hat, denn es rührt mehr Fragen im Zuschauer auf als fast alle anderen Tragödien Shakespeares. Die breit gefächerte Handlung und die Fülle gegensätzlicher Charaktere bedingen eine episch anmutende Struktur mit häufigem Szenenund Ortswechsel und einer erstaunlichen Skala verschiedenster Sprachtöne, von der zeremoniellen Rhetorik der Eingangsszene bis zu den Liedfragmenten des Narren, von der prägnanten Prosa bis zu der ungebändigten Sprache der Sturmszenen. Auch stilistisch sprengt dieses Drama alle gewohnten Maße der elisabethanischen Tragödie. Wesentlich straffer gebaut ist Macbeth (1606), die letzte der vier großen Tragödien, deren Stoff Shakespeare wiederum der Chronik Holinsheds entnahm. Die sich über Jahre erstreckenden Ereignisse der Regierungszeit Macbeths (1040-57) werden im Drama auf wenige Wochen zusammengedrängt und laufen in ungewöhnlich raschem Tempo ab, ohne von einer Nebenhandlung verzögert zu werden. Die Charakterisierung ist ganz auf Macbeth und seine Gattin konzentriert; auch Banquo wird gegenüber der Quelle, wo er selbst am Königsmord beteiligt ist, zurückgedrängt und wirkt vor allem als Kontrastfigur zu Macbeth. Das Verbrechen Macbeths wird durch mehrere Änderungen in seiner widernatürlichen Frevelhaftigkeit gesteigert und damit der moralische Abfall Macbeths unter dem diabolischen Einfluß seiner Frau und der Hexen ganz in den Mittelpunkt gerückt. Da er zunächst als tapferer Krieger und treuer Gefolgsmann seines Königs erscheint und er uns, vor

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allem in den Monologen, ständig den Blick in sein Inneres freigibt, so daß wir Zeugen seines Schwankens und seines Schauderns vor den Folgen der Tat werden, weckt er in ganz anderem Maße unser Mitgefühl als etwa Richard III. Der Mord am König entspringt nicht nur sündiger Machtgier und er ist keine hell bewußte Tat, wie etwa Brutus sie sich aufgibt, sondern er geschieht in einem dumpfen, von Urmächten getriebenen Drang, in einem rational kaum erklärbaren Zwiespalt von moralischer Verantwortlichkeit und innerem Zwang, persönlicher Entscheidung und schicksalhafter Vorherbestimmung. Mehrdeutigkeit, vor allem auch im Sprachlichen, ist ein wichtiger Zug dieses Dramas und kennzeichnet schon den ersten großen Hexenauftritt in der dritten Szene, wo sich teuflische Suggestion mit innerem Trieb verbündet und der Keim für Macbeths Sturz gelegt wird. Auch Lady Macbeth ist nicht nur die virtuose Verführerin, sondern sie versteht es, seine eigenen Vorstellungen und Leidenschaften zu artikulieren und in konkretes Handeln hineinzusteigern. Doch als die grauenvolle Vision Wirklichkeit geworden ist und Lady Macbeth entsetzt zurücksinkt in Furcht und Schlafwandel, wird er der Handelnde. Das Verbrechen macht ihn frei und furchtlos, zuletzt aber dämonisch besessen im Angesicht einer ganzen gegen ihn gerichteten Welt und dem Bewußtsein der Sinnlosigkeit des Erreichten. Wie die in ihm wirkenden elementaren Kräfte des Chaos übernatürliche Größe haben, so müssen ihnen auch übernatürliche Ordnungsmächte entgegentreten. Die drei Menschheitsalter, der junge Königssohn Malcolm, Macduff und der greise Siward, verbünden sich als von Natur und Schicksal bestimmte Rächer, um die zerstörte Ordnung wiederherzustellen. Die für Macbeth tröstlichen Prophezeiungen erweisen sich als doppeldeutiger Trug und werden ihm zum Verhängnis. Dabei geht es auch in dieser Tragödie nicht primär um individuelle Schuld und verdiente Strafe, sondern um die Frage nach dem Bösen überhaupt, seiner Auswirkung auf die menschliche Gemeinschaft und seiner möglichen Überwindung. Dieser universale Bezug, die enge Verflechtung von persönlichem und kosmischem Geschehen, wird im Drama ständig durch die evozierende Kraft der Bildersprache im Bewußtsein des Zuschauers wachgehalten. Die vermutlich letzte der Tragödien ist Timon of Athens (1606-1608), die womöglich von Shakespeare nicht mehr endgültig überarbeitete Dramatisierung eines Stoffes, den er bei Plutarch und in verschiedenen zeitgenössischen Versionen fand. Der Verrat der Welt an Liebe und Freundschaft wirft Timon aus maßloser, an Verschwendung grenzender Großzügigkeit in maßlose Verwirrung und führt ihn in verbitterte, selbstgewählte Einsamkeit. Dramatische Handlung und individuelle Charakterisierung werden dabei oft durch typenhafte Exemplifizierung und Deklamation ersetzt. Die bildhafte Verdeutlichung thematischer Bezüge hat den Vorrang vor der Entwicklung der Einzelgestalt, weshalb das Drama oft in seiner Geschlossenheit unterschätzt worden ist. Der nur in Extremen denkende Timon wird durch die Gesellschaft, in der er lebt, für den Zuschauer doch verständlich gemacht und verliert nie ganz die Sympathie des Dramatikers, auch wenn er letztlich durch das Verhalten des Alcibiades widerlegt ist, der die Bedingtheit der menschlichen Na-

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tur zu akzeptieren bereit ist und am Ende den Ausgleich schafft. An dichterischer Kraft und dramatischer Intensität steht das Drama jedoch kaum auf einer Stufe mit den übrigen Tragödien Shakespeares. Troilus and Cressida (1601-02), etwa gleichzeitig mit Hamlet und den ans Tragische streifenden Komödien entstanden, ist gattungsmäßig schwer einzuordnen. In der Folio steht es bei den Tragödien, mit denen es den heroischen Stoff und das düstere Ende gemeinsam hat, auch wenn der Tod des Helden im Stück selbst nicht mehr gezeigt wird. Den in vielen Versionen verbreiteten Trojastoff übernahm Shakespeare vor allem in der Form, wie ihn das Mittelalter abgewandelt hatte, und stellte die Liebe des Troilus und den Verrat Cressidas in den Mittelpunkt, Zutaten aus der Welt der höfischen Dichtung, am schönsten gestaltet in Chaucers Versroman Troilus and Criseyde (ca. 1385), aber seitdem immer mehr abgesunken, so daß eine wirklich tragische Gestaltung für Shakespeare wohl kaum mehr vorstellbar war. Cressida war bereits vor Shakespeare zu sprichwörtlicher Berühmtheit als Verkörperung weiblicher Treulosigkeit gelangt, und der Name des Pandarus zu einem Synonym für Kuppler geworden. Aber auch die homerischen Helden, vor allem Achilles, waren bereits vor Shakespeare recht abschätzig dargestellt worden. Shakespeare nahm also keine radikale Umwertung vor, wenn er mit illusionsloser satirischer Schärfe die großsprecherische Tatenlosigkeit der Griechen und den naiven Idealismus der Trojaner einander gegenüberstellte und die Liebe des Troilus als groteske, wenn auch tragisch durchlittene Verblendung zeichnete. Auch ist Shakespeares Cressida mehr als allein das wertlose Objekt einer zum Scheitern verurteilten Illusion. Im Gegensatz zu Chaucers Criseyde erfährt sie nie den beglückenden Reichtum einer echten Liebe und wird schon nach einer kurzen, unter wenig romantischen Umständen zustandegekommenen Liebesnacht von Troilus getrennt. Ihre Treulosigkeit wird nicht so sehr als persönliches Versagen angeprangert, sondern scheint unausweichlich in einer Welt, in der ein aufwendiger Krieg um eine oberflächliche Liebschaft und um hohle Ehrbegriffe ausgefochten wird, in der ein ständiges Mißverhältnis zwischen lautstarken Beteuerungen, plakativen Wertvorstellungen einerseits und tatsächlichem Verhalten andererseits besteht. Der geifernde Lästerer Thersites stellt diese hohle Scheinwelt am radikalsten bloß, aber seine erfindungsreichen Schimpfreden sind nicht das letzte Wort im Drama, das auch immer wieder die Wunschvorstellung einer geordneten Welt, ritterlicher Ehre und treuer Liebe wachhält und dessen satirischer Grundton nicht als Ausdruck einer hoffnungslosen Desillusion zu sehen ist. Das Stück läßt sich auch als ein originelles Experiment mit einem Stoff verstehen, der wie kaum ein anderer, den Shakespeare bearbeitete, beim Publikum als bekannt vorausgesetzt werden mußte und dem er durch provozierende Respektlosigkeit, aber auch eine mit den bedeutendsten Tragödien zu vergleichende Intensität des geistigen Fragens und thematische Vielfalt eine ganz neue Bedeutung abgewann. Durch die Dramatisierung eines traditionellen Stoffes wird der Zuschauer mit besonderer Deutlichkeit auf die im Stück immer wieder angesprochene Rolle der Zeit hingewiesen, die Ruhm und Ver-

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gessenheit austeilt, Größenverhältnisse relativiert und jede endgültige Wertung in Frage stellt. Die unbekümmerte Auseinandersetzung mit heroischer Tradition und durch die Zeit geheiligten Werten hat dem Drama gerade in unserem Jahrhundert eine neue Popularität eingetragen.

Shakespeare-Apokryphen39 Unter der Bezeichnung Shakespeare-Apokryphen wurde früher eine größere Zahl recht verschiedenartiger Stücke zusammengefaßt, die nur das eine gemeinsam haben, daß sie von Zeitgenossen oder späteren Generationen Shakespeare zugeschrieben wurden. Die meisten der etwa 15 zu dieser Gruppe gehörenden Dramen haben jedoch mit Shakespeare nur wenig zu tun, und wenn man Henry VIII ausnimmt, das mit seiner Aufnahme in die Folioausgabe von 1623 traditionellerweise dem Shakespearekanon zugerechnet wird, so bleiben nur zwei Dramen, bei denen man mit einiger Sicherheit einen Anteil Shakespeares vermutet. Das bedeutendste ist wohl The Two Noble Kinsmen*® (1613-16); es wurde 1634 in einer Quartoausgabe gedruckt, deren Titelseite Shakespeare und John Fletcher als Verfasser nennt. Diese Angabe ist von der neueren Forschung im wesentlichen bestätigt worden, wobei Shakespeare vor allem die Ausgangssituation und wesentliche Teile des letzten Aktes, dazu einige Szenen aus dem zweiten und dritten Akt zugeschrieben werden. Die Handlung folgt im wesentlichen Chaucers Knight's Tale; der weiträumige Charakter des Dramas und der hellenistische Hintergrund erinnern vor allem an Pericles, aber auch zu den übrigen Romanzen Shakespeares bestehen deutliche Bezüge. Freilich ist durch die Mitarbeit Fletchers nicht nur die Sprache uneinheitlich geworden, sondern auch die Charakterisierung bleibt oft undeutlich und inkonsequent. Doch handelt es sich um ein wirkungsvoll konstruiertes Stück, in dem vor allem die Ironien des Schicksals und die zerstörerische Macht sinnlicher Leidenschaft im Mittelpunkt stehen. Unsicherer und weniger bedeutend ist Shakespeares Anteil an der biographischen Historic Sir Thomas More (Datierung recht unsicher, schwankt zwischen 1593 und 1601), in deren Manuskript man sogar Shakespeares eigene Handschrift vermutete. Die große Volksszene ist oft mit Julius Caesar verglichen worden, und die Lebendigkeit des Geschichtsbildes erinnert an Shakespeares Historien. Dagegen ist das ungewöhnlich geschickte Chronikstück The Reign of King Edward III (1590-95) sicher anderen Verfassern zuzuschreiben, denn Shakespeare hatte diesen lockeren Chronikstil bereits hinter sich gelassen, und es fehlen alle Beweise für seine Verfasserschaft. Ähnliches gilt von der romantischen Komödie The Merry Devil of Edmonton (1599-1604), deren nächtliche Wirrwarrszene an Shakespeares Sommernachts39

S. Apocrypha, ed. C. F. Tucker Brooke (Oxf., 21917). K. Muir, S. as Collaborator (1960). 40 Ausgabe von C. Leech, Signet Classic S. (N. Y., 1966); G. R. Proudfoot, RRenDS (1970); N. W. Bawcutt, New Penguin S. (Harmondsworth, 1977).

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träum und noch mehr an The Merry Wives of Windsor erinnert; denn statt eines zeitlosen Romanzenlandes finden wir hier ein wirklichkeitsbezogenes englisches Kleinstadtleben, statt sorgenfreier Adeliger geschäftige englische Bürger. Der leichten Handlung ist wie in Shakespeares Komödie durch die überzeugende Darstellung wahrer Liebe und Freundschaft menschliches Gewicht verliehen. Man kann hier wohl die Hand eines Nachahmers, vielleicht John Fletchers, vermuten. Die übrigen zu den Shakespeare-Apocrypha gerechneten romantischen Komödien gehören meist einer früheren Entwicklungsstufe dieser Gattung an als Shakespeares Lustspiele und haben mit diesen allenfalls einige Äußerlichkeiten gemeinsam: Fair Emm, the Miller's Daughter of Manchester, with the Love of William the Conqueror (1589-91) erinnert eher an Greene mit seiner lockeren Verknüpfung zweier Handlungen und der hier wenig gelungenen Verbindung romanzenhafter Ereignisse und exemplarischer Liebesdarstellung. Wichtiger ist Mucedorus (zwischen 1588 und 1598), da es besonders erfolgreich gewesen zu sein scheint und eine recht typische, auf volkstümliche Wirkung abgestellte Mischung aus romantischen, moralitätenhaften und pastoralen Klischees bietet. Andere Tendenzen werden in den zwei Komödien The London Prodigal (1603-1605) und The Puritan (1606) deutlich, in denen ein zeitgenössischer Schauplatz sich mit satirischer Darstellung des Bürgerlebens und typenhaften Figuren verbindet, die mehr mit Ben Jonsons 'humours' gemeinsam haben als mit Shakespeares Charakteren. Präziser Wirklichkeitsbezug und karikierende Sittenkritik treten an die Stelle romantischer Verwicklungen und idyllischer Schauplätze. Ebenso weit von Shakespeare entfernt sind die oft etwas mißverständlich als „bürgerliche Tragödien" bezeichneten Dramatisierungen zeitgenössischer Kriminalfälle mit rührend erbaulicher Tendenz. Die früheste ist wohl The Lamentable and True Tragedy of M. Arden of Feversham in Kent (1585-92), wo von Tragik nur im Sinne des blutigen Ausgangs gesprochen werden kann, wenn es auch bemerkenswert ist, wie dem bürgerlichen Milieu hier durch wirkungsvolle Rhetorik und die Verwendung dramatischer Konventionen aus dem Bereich der klassizistischen Tragödie die Würde des poetischen Trauerspiels verliehen wird. Die durchaus realistische Darstellung der Verführung einer reichen Bürgersfrau durch den skrupellosen Liebhaber, der gemeinsamen Planung und Ausführung des Mordes und der Aburteilung der Schuldigen ist von eindrucksvollem Rang. Das dramatische Porträt der Mörderin mit ihrer Leidenschaft, ihrem Zweifel und ihrer Selbstqual enthält eine bis dahin unbekannte psychologische Intensität, wenn auch die melodramatischen Züge und die massive Erbaulichkeit den volkstümlichen Charakter des Stückes verraten. Die Gattung, zu der auch das anonyme, die Spannung des Polizeiberichts mit moralitätenhafter Allegorie verbindende Drama A Warning for Fair Women (1598-99) gehört, wurde besonders von Dekker und Heywood vertreten, unter starker Betonung des sozialen Problems. A Yorkshire Tragedy gehört mehr einer älteren Form an und räumt der Umwelt wenig motivierende Bedeutung ein, übertrifft aber Arden of Feversham in

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dem Aufsehen erregenden Vorwurf eines Glücksspielers, der vom Spiel zugrundegerichtet nach Hause kommt, Gattin und Kinder erschlägt und dann als Reuiger zur Hinrichtung geht. Das ist mit einer rohen Kraft und in teilweise glänzender Prosa fesselnd gestaltet. Daß solche Dramen gleichzeitig mit Shakespeares Tragödien entstanden und teilweise von den gleichen Schauspielern aufgeführt wurden, ist ein sprechendes Zeugnis für die experimentelle Vielfalt des elisabethanischen Theaters.

III. DAS D R A M A IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 17. J A H R H U N D E R T S l. Elisabethanisches und jakobäisches Drama1 Die einzigartige Blüte des englischen Renaissancedramas dauerte an bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts; ihr äußeres Ende wurde mit der Schließung der Theater durch das puritanische Parlament 1642 besiegelt. Aber schon bei Shakespeare ist ein deutlicher Wandel im dramatischen Stil und in der Behandlung zentraler Themen festzustellen, der bei den Zeitgenossen zum Teil noch auffälliger in Erscheinung tritt und sich besonders in der neuen Gattung der Tragikomödie ausspricht. Man hat diesen Wandel immer wieder beschrieben und zu erklären versucht: Sicher hängt er zusammen mit dem Ende des gesellschaftlichen Gleichgewichts, wie es sich unter Elisabeth I. herausgebildet hatte, schon in ihren letzten Regierungsjahren, und mit dem veränderten Klima am Hofe unter dem sehr viel ungeschickteren und weniger ausgleichenden Jakob L, das von wachsenden wirtschaftlichen und religiösen Animositäten, Günstlingswirtschaft und auseinanderstrebenden Gruppierun1

M.'C. Bradbrook, Themes and Conventions of Elizabethan Tragedy (Cambr.,^935) [reicht von Marlowe bis Shirley]; U. Ellis-Fermor, The Jacobean Drama (41957); R. Ornstein, The Moral Vision of Jacobean Tragedy (Madison, 1960); I. Ribner, Jacobean Tragedy: The Quest for Moral Order (1962); T B. Tomlinson, A Study of Elizabethan and Jacobean Tragedy (Cambr., 1964); gute Aufsatzsammlung: Jacobean Theatre, edd. J. R. Brown and B. Harris, Stratford-upon-Avon Studies (1960). Über Schauspieler und Bühne: G. E. Bentley, The Jacobean and Caroline Stage, 7 Bde. (Oxf., 1941-68). - Auswahlbände: Six Plays by Contemporaries of Shakespeare, ed. B. B. Wheeler (1971, Oxf. pb., zuerst in WC) [enthält Shoemaker's Holiday, White Devil, Knight of the Burning Pestle, Philaster, Duchess of Malfi, New Way to Pay Old Debts]; Jacobean Tragedies, ed. A. H. Gomme (1969, Oxf. pb.) [enthält Malcontent, Revenger's Tragedy, Atheist's Tragedy, Changeling, Women Beware Women]; Five Stuart Tragedies, ed. A. K. Mcllwraith (1953, WC) [enthält Bussy D'Ambois, Maid's Tragedy, Duchess of Malfi, Roman Actor, Tis Pity She's a Whore]; Three Jacobean Tragedies, ed. G. Salgado (Harmondsworth, 1965) [enthält Revenger's Tragedy, White Devil, Changeling); Four Jacobean City Comedies, ed. G. Salgado (Harmondsworth, 1975) [enthält Dutch Courtezan, A Mad World, My Masters, The Devil is an Ass, New Way to Pay Old Debts].

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gen geprägt war. Das Theater wird weniger von einem allgemeinen Bildungsanspruch und dem Wunsch, möglichst viele Schichten anzusprechen, bestimmt als von satirischer Aufsässigkeit, provozierender Sucht nach Originalität und fast wahlloser Unbekümmertheit in der Auswahl und Abwandlung dramatischer Konventionen. Es fehlt vielfach eine gewisse Harmonie der Form und eine überlegene Distanz gegenüber der dargestellten Welt. Statt dessen wird die Wirklichkeit unverblümter und schonungsloser wiedergegeben. In der Komödie macht sich vor allem das Eindringen satirisch verzerrender Gesellschaftskritik bemerkbar, in der Tragödie der weitgehende Verlust einer erhebenden, allgemeinverbindlichen sittlichen Würde, an deren Stelle vielfach die zwiespältige Stimmung einer psychologischen oder melodramatischen Handlung tritt, die den äußeren Umständen oder auch der Willkür des Zufalls einen bestimmenden Einfluß einräumt. Volkstümliches Unterhaltungstheater und exklusive Hofdramatik setzen sich stärker voneinander ab. All dies führt zu einer deutlichen Uneinheitlichkeit des Dramas, zu der abnehmenden Verbindlichkeit unbestrittener Normen und damit auch zu neuen Unsicherheiten der Interpretation. Die unberechenbare, oft exzentrische Vitalität des jakobäischen Dramas hat gerade in unserem Jahrhundert immer wieder faszinierend auf Forscher, Kritiker und Theater gewirkt, dabei aber auch recht widersprüchliche Interpretationen hervorgebracht.

2. Ben Jonson2 BEN JONSON (1573-1637) ist nach Shakespeare der weitaus bedeutendste Dramatiker dieser Epoche; die Zeitgenossen hätten ihn zweifellos noch über Shakespeare gestellt, den er an gelehrter Bildung, dichterischem Anspruch und farbiger Persönlichkeit übertraf. Trotz relativ bescheidener Herkunft, fehlender Universitätsausbildung und offenbar rauflustigem Temperament erwarb er sich das Ansehen eines der belesensten, mit der klassischen Dichtungstradition bestens vertrauten, als anregender Gesprächspartner vielfach geschätzten Mannes, der zwar immer wieder im Streit mit Schauspielern, Dichterkollegen oder seinem Publikum lag, dessen Position als klassischer Dichter aber die aller Zeitgenossen überragte und etwa auch durch die von ihm selbst 1616 veranstaltete Folioausgabe seiner bis dahin verfaßten Werke dokumentiert 2

Works, edd. C. H. Herford and P. Simpson, 11 Bde. (Oxf., 1925-52) [biograph. und krit. Einl. in Bd. l/U]; Yale Ben Jonson, edd. A. B. Kernan and R. B. Young (New Haven, 1962ff.) [i. E.]; Dramen, ed. F. E. Schelling, 2 Bde. (1910, EL); Einzelausgaben der wichtigsten Dramen in NMS, RP, RRenDS; Auswahlbände in WC und PB. R.E. Knoll, B. J.'s Plays: An Introduction (Lincoln, Nebr., 1965); E.B. Partridge, The Broken Compass: A Study of the Major Comedies of B. J. (1958); C. G. Thayer, B. J.: Studies in the Plays (Norman, Okla., 1963); B.C. Dunn, B. J.'s Art (N. Y., 1963); S. Orgel, The Jonsonian Masque (Cambr., Mass., 1965); J. A. Bryant, The Compassionate Satirist (Athens, 1972); G. Parfitt, B. J. (1976); nützliche Aufsatzsammlung: B. J., ed. J. Barish, TCV (Englewood Cliffs, 1963); gut zum Hintergrund: L. C. Knights, Drama and Society in the Age of Jonson (1937).

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wurde. Wesentlich stärker als Shakespeare nahm er sich die klassische Dramatik zum Vorbild, vor allem die römische Komödie, deren satirisch pädagogische Tendenz er sich zu eigen machte und damit zugleich der romantischen Komödie Lylys und Shakespeares den Rücken kehrte. Das zeigen schon seine ersten Lustspielversuche The Tale of a Tub (ca. 1596) und The Case is Altered (ca. 1597); die erste Komödie entspricht etwa dem Typ von Gammer Gurton's Needle, die zweite schaltet das Liebesmotiv aus, scheint aber zunächst erfolglos geblieben zu sein und wurde von Jonson nicht in die Sammlung seiner Werke aufgenommen. Sein erster großer Erfolg war die 1598 von den Lord Chamberlain's Men unter Beteiligung Shakespeares gespielte Komödie Every Man in His Humour. Sie wurde für die Folioausgabe von 1616 vom Verfasser überarbeitet, wobei die ursprünglich in Florenz angesiedelte Handlung nun nach London verlegt wurde, was den realistischen und zeitkritischen Charakter des Stückes ausdrücklich unterstrich. Im strengen Aufbau - mit Beachtung der Einheiten und Wahrung eines einheitlichen Tons hält Jonson sich eng an die lateinische Komödie des Plautus; da aber ein sittenkritisches Zeitgemälde sein Ziel ist, verlagert er das Schwergewicht von der Intrige auf die Figuren. Er zeigt, daß auch ohne sensationelle Handlung mit vertrauten Gestalten und Alltagsereignissen aus dem bürgerlichen London eine spannende Szenenfolge aufzubauen war. Dem jungen Knowell gelingt es, sich unter Überlistung seines Vaters einer Dame anzunähern, deren Schwester mit dem Kaufmann Kitely vermählt ist. Mit Hilfe des intriganten Dieners Brainworm werden nun Ereignisse in Gang gesetzt, die den eifersüchtigen Kitely und seine Frau jeweils unter der Vorspiegelung, den anderen bei einer Untreue ertappen zu können, aus dem Hause locken, obwohl sich all diese Intrigen letztlich als unnötig erweisen. Sie sind ein Hilfsgerüst, um die Personen schließlich an einem Ort zusammenzuführen, wo als Höhepunkt des Stückes die Auflösung, hier die Bloßstellung der 'humours' erfolgt. Seine Handlung ist nicht das ineinandergeschachtelte 'cross-wooing', das er der elisabethanischen Komödie vorwirft, sondern eine Zusammensetzung gleichberechtigter Teilhandlungen, die sich in dem Ziel der 'correction of manners' vereinigen. Die Torheiten der Gesellschaft sollen in einem geradezu medizinischen Sinne kuriert werden, dadurch daß die Komödie sie bewußt macht und der Lächerlichkeit preisgibt. Die einzelnen Figuren sind in diesem Sinne jeweils durch einen besonders ausgeprägten Charakterzug gekennzeichnet, wie schon aus der Namensgebung hervorgeht. Diese vorherrschende, alle anderen individuellen Eigenschaften überdeckende Charakterausrichtung wurde mit einem alten medizinischen Fachausdruck als der 'humour' der betreffenden Person bezeichnet, wobei jedoch, entsprechend dem Vorbild des Theophrast und des Narrenschiffs, aus dem dominierenden Charakterzug bald eine einseitige Schwäche, Torheit oder Wahnvorstellung wurde. Daher sind Jonsons Gestalten auch nach ganz anderen Maßstäben zu beurteilen als die Shakespeares, da die satirische Absicht und die Idee des 'humour' von vornherein eine psychologische Wirklichkeitsnähe verbietet und die Figuren zu Verkörperungen extremer menschlicher Verirrungen macht. Das nächste,

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dasselbe Thema abwandelnde Stück Every Man Out of His Humour (1599) wird folgerichtig als 'a comical satire' bezeichnet. Die neue Technik ist hier weitergeführt. Statt einer geradlinig entwickelten Intrige haben wir eine Aneinanderreihung von Bildern. In wechselnden Szenen werden locker gefügte Bündel von Personen vorgeführt, die ihre 'humours' ausleben. Es ist „eine Rhapsodie lächerlicher Auftritte ohne Zusammenhang oder Fortrücken" (A. W. Schlegel), in denen aber ein unübertrefflich lebendiges Sitten- und Charakterbild entsteht. Einzelne Auftritte, etwa die Saufszene Carlo Buffones im letzten Akt, sind mit der Virtuosität des dramatischen Meisters entworfen. Die Aufnahme beim Publikum war jedoch kühl. Der sittenkritische Aspekt, unter dem alle Charaktere brüchig, schmutzig und betrügerisch erscheinen, war wohl allzu unliebenswürdig. Cynthia's Revels, or The Fountain of Self-Love (1600-1601), das, wie der Prolog sagt, mehr Worte als Handlung bietet, ließ auch den satirischen Schwung vermissen, weil es in aristophanischer Weise aus der Wirklichkeit in das Gebiet der Phantasie hinüberspielt. Freilich werden in märchenhafter Verkleidung auch Gestalten und Ereignisse des Hofes kommentiert. Da Jonson außerdem durch Prologe und als Sprachrohr verkleidete Figuren seine Mitdramatiker derb angriff und seine ethisch anspruchsvolle Form der Komödie anmaßend verteidigte, wurde er in den heftigen 'war of the theatres' verwickelt, der zwischen 1599 und 1601 unter mehreren Dramatikern und Schauspieltruppen ausgefochten wurde und mit Dekkers Satiromastix, or The Untrussing of the Humorous Poet (1601) seinen Höhepunkt erreichte. Jonson antwortete mit Poetaster, or The Arraignment (1601), einer Satire in römischem Gewand: er selbst ist Horaz, der Vergil zum Freunde, Caesar Augustus zum Bewunderer hat, was ihm die schlechten Dichterlinge Crispinus (Marston) und Demetrius (Dekker) neiden. Aller Ruhm ist auf seiner Seite, auf der Gegenseite nur Dummheit und Böswilligkeit. Um das darzustellen, kam der Gelehrte dem Satiriker zu Hilfe: auf Grund genauer Quellenstudien entwarf er ein aufschlußreiches Zeitbild des Augusteischen Rom. Die Satire hatte jedoch keinen Erfolg, und in seinem Apologetical Dialogue sagte Jonson sich zunächst von der Komödie los. Aber die Geschichtsrekonstruktion des Poetaster deutete bereits voraus auf Jonsons erste Tragödie Sejanus His Fall (1603), die von Shakespeares Truppe der 'King's Men' ohne großen Erfolg gespielt wurde und wohl Shakespeares erfolgreiches Caesardrama übertreffen sollte. Das Stück zeigt sicherlich mehr Gelehrsamkeit und greift eine weniger bekannte Zeit heraus, nämlich die Regierung des Tiberius von der Ermordung des Drusus bis zum Tod von Sejanus. Es sollte sich gegen die üblichen lockeren Historien wenden, aber gerade sein strengerer Aufbau und die im Vergleich zu Shakespeare weniger vielstimmige Rhetorik, lassen kaum dramatische Bewegung aufkommen. Es wird ein breites Milieubild geboten mit vielen Personen, aus denen sich die beiden Gegner, Sejanus und Tiberius, herausheben. Höhepunkte sind die Senatssitzung im dritten Akt und die Verlesung des Tiberiusbriefes im Schlußakt, durch den Sejanus gestürzt wird. Die Katastrophe kommt als plötzlicher

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Fall, wie ein letzter Würfelwurf, der ein fast gleiches Spiel entscheidet. Dies erinnert mehr an ältere Tragödienauffassungen als an die Charaktertragödie Shakespeares. Es ging Jonson nicht darum, einen tragischen Helden zu schaffen, sondern um das Wirken einer gerechten Vergeltung in der Niederwerfung des Bösen. Auch in der später entstandenen Tragödie Catiline His Conspiracy (1611) handelt es sich weniger um die Schicksale eines einzelnen, etwa Catilinas Untergang oder Ciceros Triumph, als um die Darstellung einer ganzen Gesellschaft, der Sittenverderbnis Roms im letzten Jahrhundert der Republik. Das Thema wird in Anlehnung an die senecistische Tragödie von dem das Spiel eröffnenden Geist Sullas verkündet. Dazu werden über 30 Personen und eine überreiche Handlung aufgeboten, die Szenen tragischer Würde abwechseln läßt mit Satire und Genrebildern. Diese von der Komödientechnik übernommenen Kontraste, die sich auch in der Personengegenüberstellung zeigen, wirken in der Tragödie leicht künstlich. Das oft von beinahe zufälligen Kleinigkeiten abhängende Geschick wirkt kaum tragisch, vor allem da weder der Held noch eine der anderen Figuren als fesselnde Charaktere gezeichnet sind, die den Zuschauer engagieren. Die mitleidlose, satirische Zeichnung einer korrumpierten Welt ist jedoch Jonsons besondere Stärke als Dramatiker, und dies kommt am überzeugendsten in seinen genialen Komödien Volpone, or The Fox (1605-1606) und The Alchemist (1610) zum Durchbruch. Aus den 'humours' der frühen Komödien ist hier eine alles beherrschende, die Figuren zu monomanischer Blindheit treibende Leidenschaft geworden, deren unaufhaltsame Konsequenz fast an Shakespeares Tragödie erinnert, nur daß es sich hier um Habgier und Gaunerei handelt, traditionelle Gegenstände der komischen Satire, namentlich in der römischen Literatur. Das oft behandelte Thema der Erbschaftsjagd verbindet sich im Volpone mit der in das zeitgenössische Venedig übertragenen Fabel vom listigen Fuchs, der sich tot stellt, um die Raubvögel anzulocken. Die tierische Natur der von Gier besessenen Figuren wird durch die Namengebung verdeutlicht. Der von der Sucht nach Besitz berauschte alte Grande Volpone mimt den Sterbenden, um beutelüsterne Erbschaftsjäger anzureizen, die wie von einem Magneten an sein Krankenbett gezogen werden. Jedem wird vorgegaukelt, er sei der einzige Erbe, und jeder entlarvt sich dadurch, wie er um dieser Aussicht willen Geld, Ehre, ja Frau und Kinder zu opfern bereit ist. Die überaus kunstvoll gebaute Handlung zeigt in sich steigernden Szenen die groteske Verblendung der Habsüchtigen, denen nichts mehr heilig ist und die selbst schamlos die eigene Menschenwürde verraten, um sich den Preis nicht entgehen zu lassen. Der sein Spiel immer mehr genießende Volpone und sein virtuoser Diener machen sich die Verruchtheit ihrer Umwelt zunutze, um sich zu bereichern, und dienen damit der satirischen Absicht des Dramatikers, bis sie sich in einem fulminanten Finale selbst gegenseitig ans Messer liefern und der gerechten Strafe zugeführt werden. Der harte Gerichtsspruch am Ende entspricht zwar dem formalen Erfordernis der poetischen Gerechtigkeit und wird von Jonson in diesem Sinne verteidigt, läßt aber

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kaum auf eine gerechtere Gesellschaft hoffen, da sich das Gericht zunächst als ebenso täuschbar erwiesen hat und die positiven Gegenfiguren allzu schwach ausgebildet sind. Der Zuschauer wird zwar der harten Verurteilung Volpones und seines Dieners seine moralische Zustimmung nicht verweigern, erkennt aber gleichzeitig, daß gerade Volpone es war, der die gierige Besessenheit der Erbschleicher enthüllte und dabei offensichtlich nicht nur nach eigener Bereicherung strebte, sondern auch gleichzeitig seine einfallsreiche Kunst der Manipulation auskostete und das Tempo der Komödie bestimmte. Eine stärker zeitgebundene, mehr statische Nebenhandlung weitet den Gesichtskreis des Stückes aus und stellt eine unmittelbare Verbindung zum zeitgenössischen England her. The Alchemist geht einen entscheidenden Schritt weiter in dieser Richtung, indem der Schauplatz in das jakobäische London, in die unmittelbare Nähe des Blackfriars Theatre, und in das Entstehungsjahr des Dramas selbst verlegt wird. Die Pestepidemie von 1610 bildet den unmittelbaren Bezugspunkt. Das aus Furcht vor Ansteckung verlassene Haus Lovewits wird von dem Gaunertrio Subtle, Face und Doll Common als Alchimistenlaboratorium, Bordell und Zentrum aller Arten von Betrügereien eingerichtet und zieht nun, ähnlich wie Volpones Krankenzimmer, die verschiedensten Klienten an, die sich unverdienten Reichtum, gesellschaftlichen Erfolg oder geschäftliches Vorankommen erhoffen und in ihrer Verblendung nach Strich und Faden ausgenommen werden. Wiederum werden die verschiedensten Formen der Habgier bloßgestellt, von der kleinkarierten Raffsucht bis zu den übersteigerten Goldträumen des Sir Epicure Mammon. Gerissene Skrupellosigkeit siegt ständig über arglose Dummheit. Ehrlichkeit und Liebe sind in dieser satirisch überzeichneten Welt unbekannt, und der Schluß bringt im Gegensatz zu Volpone gerade keine gerechte Strafe, sondern einen virtuosen Triumph unverfrorener Gaunerei: der überraschend zurückgekehrte Hausherr macht mit seinem betrügerischen Diener Face gemeinsame Sache, nimmt die in seinem Hause angesammelten erschwindelten Güter an sich und läßt alle anderen, Betrogene, Betrüger und die herbeigeeilten Diener der Gerechtigkeit, leer ausgehen. Die Radikalität der Satire wird durch keine poetische Gerechtigkeit abgemildert, und das Publikum wird am Ende von den beiden Gewinnern augenzwinkernd in die straffreie Komplizenschaft einbezogen. Die ungewöhnlich straff und folgerichtig konstruierte Handlung und das unaufhaltsame Tempo der ineinandergreifenden Szenen machen dieses Stück zu einer der wirkungsvollsten Komödien des englischen Theaters. Der respektlose Übermut der Intrigen und die meist mehr lächerliche als kriminelle Torheit der Opfer verhindern den in Volpone gelegentlich anklingenden tragischen Unterton. Andererseits bleiben die Kräfte der moralischen Ordnung hier noch ohnmächtiger, und die Satire läßt kaum eine positive Alternative erkennen. Sie ist, entsprechend der klassischen Tradition, allein in der bessernden Wirkung auf den Zuschauer zu suchen, der sich mit einer unverändert boshaften Welt auseinandersetzen muß.

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Recht bühnenwirksam ist auch die durch possenhafte Übertreibung belehrende Komödie Epicoene, or The Silent Woman (1609), die Dryden als vollkommenste moderne Komödie lobte. In einer verdeckten, erst in der letzten Szene sich enthüllenden Geschichte entwickelt Jonson, lustiger als man es aus seinen satirischen Stücken gewohnt ist, die Geschichte von dem extrem lärmscheuen Alten, dem ein verkleideter junger Mann als angeblich schweigsame Braut angedreht wird. Die Auflösung der zur Tortur gewordenen „Ehe" läßt sich der junge Neffe, der sie eingefädelt hat, von dem geizigen Onkel teuer bezahlen. Nach diesem brillanten Beispiel bewährter Dramentechnik kehrt Bartholomew Fair (1614) zur Form der locker gebauten Humour-Komödie zurück, die hier allerdings eine höchst originelle Abwandlung erfährt. Der realistisch und farbenreich dargestellte Jahrmarkt wird als konzentrierte Erscheinungsform einer von Selbstsucht, Heuchelei und Torheit bestimmten Gesellschaft gesehen. Die lockere Handlung führt immer neue Personengruppen vorüber und verzahnt sie miteinander, wobei sich ständig andere Aspekte der Verblendung und der, freilich meist verhältnismäßig harmlosen Korruption enthüllen. Es ist ein mit großem dramatischen Geschick konstruiertes Zeitgemälde, wenn auch weniger unmittelbar theaterwirksam und dem heutigen Zuschauer schwerer zugänglich als Volpone und The Alchemist. Einfacher als dieses Experiment und dem die Teufelsdramen schätzenden Volksgeschmack näher ist The Devil is an Ass (1616), eine Neufassung der alten Geschichte vom betrogenen Teufel. Die späteren Stücke Jonsons blieben zunehmend erfolglos und zeigen meist nicht mehr die gelungene Mischung von satirischer Intelligenz und dramatischem Sinn. The Staple of News (1626) greift auf die allegorische Darstellungsweise von Cynthia's Revels zurück, um mit Motiven aus der Komödie des Aristophanes die Geldgier an den Pranger zu stellen. Belebend wirkt die Einführung eines Nachrichtenamtes, das den Leichtgläubigen die unwahrscheinlichsten Geschichten aufbindet. Ein deutlicher Fehlschlag war The New Inn (1629), mit dem Jonson sich an die immer noch beliebte Form der romantischen Komödie annähert und sie mit einer mehr wirklichkeitsbezogenen Darstellung zu verbinden sucht. Der Mißerfolg des Stückes veranlaßte den Dichter zu einer Ode, in der das Publikum abgewertet und sein Abschied von der Bühne angekündigt wird. Der letzte Versuch, The Magnetic Lady, or The Humours Reconciled (1632), bindet die verschiedenen Humours zu einer einheitlichen Handlung durch die von allen umworbene Figur der Placentia; das Mißverhältnis zwischen satirischem Aufwand und dem gegeißelten Gegenstand läßt jedoch keine genügende dramatische Spannung aufkommen. Angesichts der oft allzu gewichtigen Komödien ist es umso erstaunlicher, wie überlegen Jonson die leichteren Formen des Schäferspiels und der höfischen 'Masques' zu handhaben wußte. Durch ihn wurde diese ursprünglich anspruchslose Form aristokratischer Vergnügung - meist mit musikalischen Aufführungen verbundene Tanzunterhaltungen - zu einer interessanten dramatischen Gattung, die mythologische Handlungen mit lyrischen Einlagen und ethischem Gehalt verbindet und eine originelle Zwischenstellung zwi-

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sehen eigentlichem Drama und musikalischem Tanzspiel darstellt. Schon die Masque of Blackness (The Twelfth Night's Revels) (1605) und erst recht deren Fortsetzung The Masque of Beauty (1608) zeigen eine gelehrte, oft symbolische und verschlüsselt didaktische Entfaltung antiker Mythologie. Hymenaei (1606), ein Hochzeitsspiel, und The Masque of Queens (1609) betonen noch stärker die moralische Aussage. Die letztere, eine der literarisch anspruchsvollsten, stellt mit großem theatralischem Aufwand den Dualismus zwischen zwölf moralischen Tugenden und ihren Gegenkräften in der Person von zwölf Hexen dar, der weniger durch Handlung oder Dialog, sondern spektakuläre Bühnenmaschinerie und verblüffende Schaueffekte aufgelöst wird. Der würdevoll feierlichen Masque steht hier die groteske 'Antimasque' gegenüber, in der sich die Machtlosigkeit, ja Irrealität des Bösen vor dem endgültigen Triumph des Guten manifestiert. Die Gattung der Masque erlaubte damit auch die Aufnahme satirisch-komischer Szenen und Tänze wie auch die Einführung satirischer Charaktere, die sich von den Idealgestalten der eigentlichen Masque abheben. In seinen regelmäßig für den Hof geschriebenen Maskenspielen (zwischen 1605 und 1625, dem Tod von Jakob L, entstanden etwa 25) stellte Jonson eine enge thematische Beziehung zwischen Masque und Antimasque her und schlug damit den Weg ein, der zu Miltons Comus führte. Bezeichnend ist etwa der Titel von Pleasure Reconciled to Virtue (1618), wo das Vergnügen mit der Tugend versöhnt wird, weil es sich ihr als Dienerin unterordnet. Der Held, Hercules, verbannt die niedrigen Vergnügungen des Comus, Völlerei, Trunksucht und Ausschweifung, und wendet sich statt dessen den geistigeren Freuden, Gesang und Tanz zu. Die Szenerie wird durch den Berg Atlas gebildet, der offensichtlich ein besonderer Triumph effektvoller Bühnenausstattung und Szenentechnik war. Überhaupt hängt der Erfolg dieser Spiele eng mit der Entwicklung einer neuen Form der Ausstattung zusammen, insbesondere mit dem Werk des genialen Hofarchitekten Inigo Jones, der die visuelle und technische Seite der Bühnenkunst zu einer das Wort fast verdrängenden Prominenz entwickelte und dadurch zunehmend in Kollision mit dem nicht weniger ehrgeizigen Ben Jonson geriet. In der aufwendigen Ausstattung der Masques wurden Möglichkeiten der Bühnenwirkung entdeckt, die das englische Theater der Zeit noch nicht kannte: perspektivische Szenerie mit kalkuliertem Illusionscharakter, raffinierte Verwandlungen und Erscheinungen, überraschende Wunder und Sinnestäuschungen, Lichteffekte und Witterungsumschläge. All dies wirkte später auch auf das Theater zurück und veränderte seinen Charakter nicht unbeträchtlich. Wertvolle Anregungen brachte Inigo Jones aus Italien mit, wo die Kunst der prunkvollen Bühnenausstattung bereits früher entwickelt worden war. Jonson machte sich diese neuen Möglichkeiten durchaus zunutze und arbeitete mehrere Jahre lang erfolgreich mit Inigo Jones zusammen, bis seine Stellung am Hofe nach dem Tod von Jakob I. geschwächt wurde und Jones immer mehr in die Lage versetzt wurde, seine eigenen Vorstellungen auf Kosten der Textdichter umzusetzen. Das in Jonsons Masques so gelungene Gleichgewicht von Wort, Bild

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und Musik trat zurück zugunsten einer fast nur noch auf Schaueffekte hin berechneten musikalischen und pantomimischen Unterhaltung, für die nun weniger eigenwillige und ehrgeizige Dichter herangezogen wurden. Shirleys Triumph of Peace (1634), Carews Coelum Britannicum (1633) und Davenants Salmacida Spolia (1640), die letzte, fast am Vorabend des Bürgerkriegs inszenierte Hofmaske, sind Beispiele dieser spektakulären, literarisch weniger bedeutenden Form. Maskenspielhafte Elemente und ganze Masques drangen aber auch in das Drama ein, und es ergaben sich die verschiedensten Formmischungen. Neben den reinen Schaustellungen wurde auch immer wieder die mehr literarische Form des höfischen Maskenspiels gepflegt, als deren Höhepunkt Miltons Comus (1634) bezeichnet werden kann, ein weithin auf dem dichterischen Wort beruhendes dramatisches Kunstwerk, das sich ebenso von der Jonsonschen Zwischengattung entfernt wie die visuellen Schaustellungen von Inigo Jones. Dazu kam die Einbeziehung des Pastoralspiels, das zunächst, und zwar ebenfalls von Jonson angeführt, selbständige Bedeutung gehabt hatte. Das von Tassos Aminta (1581) und Guarinis Pastor Fido (1590) gegebene Vorbild hatte zu einer ganzen Reihe mehr oder weniger erfolgreicher Nachahmungen und Neufassungen geführt, von denen besonders John Fletchers lyrisch reiches Spiel The Faithful Shepherdess hervorzuheben ist, wo kaum versucht wird, die idyllische Liebesstimmung durch eigenständige Handlung oder Charaktere dramatischer zu gestalten. Jonson erstrebte in seinem als Fragment hinterlassenen The Sad Shepherd, or A Tale of Robin Hood (ca. 1612-1637) ein der griechischen Hirtendichtung entsprechendes englisches Pastoral, das auf die Verschlüsselungen der Allegorie ebenso verzichtet wie auf satirische Nebenabsichten. So griff er die poetische Tradition des englischen Landlebens auf und verwandte Themen aus dem Legendenkreis um Robin Hood. Die Liebeshandlung wie auch die ihr gegenübergestellte Gegenhandlung der Kobolde gewann dadurch eine gewisse derbe Natürlichkeit. Diese Anregung wurde jedoch nicht weiter verfolgt. James Shirleys Arcadia (ca. 1630-40) wählte die literarische Kunstwelt des Sidneyschen Romans als Quelle; andere pastorale Spiele gingen ebenfalls kaum über die Wiederbelebung früherer Motive hinaus.

3. Die Entwicklung des Dramas nach Shakespeare Neben Ben Jonson war JOHN FLETCHER (1579-1625) zweifellos Shakespeares erfolgreichster, wenn auch nicht unbedingt bedeutendster Zeitgenosse, der mit verschiedenen Dramatikern zusammenarbeitete und meist mit FRANCIS BEAUMONT (1585-1616) in einem Atem genannt wird, da die beiden schon den Zeitgenossen als Autorenpaar galten und ihre bekanntesten Dramen gemeinsam verfaßten.3 Als einzigen Dramatikern neben Shakespeare und Ben 3

Works, edd. A. Glover and A. R. Waller, 10 Bde. (Cambr., 1905-12); Dramatic Works, edd. F. Bowers et al. (Cambr., 1966ff.); Auswahlband, ed. G. P. Baker (1911,

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Jonson wurde ihnen die Ehre einer Folio-Gesamtausgabe zuteil (1647), die während der Restaurationszeit in erweiterter Auflage erschien (1679) und 52 Dramen unter dem Namen Beaumont und Fletcher vereinte, die keineswegs alle von den beiden gemeinsam stammen, sondern teils von ihnen einzeln, teils in Zusammenarbeit mit anderen Dramatikern verfaßt wurden, ohne daß sich die genauen Anteile haben bisher entwirren lassen. Beaumont und Fletcher scheinen sich wesentlich stärker als Shakespeare oder gar Jonson am Geschmack des Publikums orientiert zu haben, wenn es auch falsch wäre, ihnen eigenständige Originalität abzusprechen. Ausgangspunkt war für sie zunächst das Jonsonsche Charakterlustspiel, dem Beaumonts The Woman-Hater (1606) ebenso verpflichtet ist wie Fletchers derbes Gegenstück zu Shakespeares Taming of the Shrew, The Woman's Prize, or The Tamer Tamed (ca. 1604-17). In den gemeinsam verfaßten Dramen trat die Freude an verschlungenen Handlungsverwicklungen und überraschenden Situationen in den Vordergrund. Ein erstes, besonders gelungenes Beispiel ist The Knight of the Burning Pestle (ca. 1607), das die Gegensätze zwischen verschiedenen Publikumserwartungen, Zuschauergruppen und dramatischen Konventionen brillant in Szene setzt und eine besonders wirkungsvolle Form des Spiels im Spiel präsentiert, die eine vielfältige Kommentierung des Bühnengeschehens erlaubt und reiche Gelegenheit für Parodie und Satire gibt. Der als Ritter vom brennenden Stößel von dem selbstbewußten Händlerehepaar auf die Bühne geschickte Lehrling soll mit seinen romantischen Abenteuern den bescheideneren Bürgern die Möglichkeit geben, den eigenen Stand auf der Bühne verherrlicht zu sehen; doch richtet sich die Satire ebenso gegen ungebildetes Geltungsbedürfnis wie gegen törichte Klischees einer inhaltsleer gewordenen Ritterromantik. Genial werden die verschiedenen Darstellungsebenen zueinander in Beziehung gesetzt und ein vielseitig bewegtes Spiel entwickelt, das freilich eine eher skeptische Einschätzung der erzieherischen Möglichkeiten des Theaters erkennen läßt. Das in Ralph und seiner vorlauten Meisterin verkörperte Kleinbürgertum hat offensichtlich kein Organ für künstlerische Qualitäten und sieht nur unterhaltende Verkleidung oder hausbackene Moral. Das Drama gibt einen aufschlußreichen, wenn auch sicher etwas einseitigen Einblick in die zwiespältige Situation des jakobäischen Theaters, das zwischen exklusiver Hofvergnügung und volkstümlicher Unterhaltung nur selten einen überzeugenden Kompromiß fand. Rasche Handlung, effektvoller Witz und eine nicht allzu tiefsinnige Verwendung ähnlicher Motive sind für zahlreiche Lustspiele Fletchers charakteristisch. The Scornful Lady (1613-16) ist mit der 'City Comedy' verwandt und hat London als Schauplatz einer flotten, wenn auch etwas abgegriffenen Handlung. Auch die gern hineingeflochtene, ernstere Doppelhandlung, wie die über die Liebe siegende Freundschaft in der tollen Verwechslungskomödie Monsieur Thomas (1610-16) bedeutet kaum eine thematische Vertiefung. EL); Einzelausgaben in NMS, RP, RRenDS. - C. Leech, The John Fletcher Plays (1962).

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Bezeichnenderweise ist der Titelheld öfter der Träger der rein komischen Nebenhandlung, die (wie in den späteren Antimasques) das ernstere Hauptthema an Umfang und Gewicht übertrifft. So fesselt der durch seinen Zufallssieg eine Vorliebe für das Duell entwickelnde Winkeladvokat in The Little French Lawyer (1619-23) mehr als die Liebeshandlung. Eine verschiedentlich wiederkehrende Figur ist der zynische Kavalier, der wie ein Wüstling redet, ohne einer zu sein. Das ist schon der Monsieur Thomas und der Held von Wit Without Money (1614), aber das Musterbeispiel ist Mirabel in The Wild Goose Chase (1621), den die liebende Frau bis zur Ehebereitschaft jagt. Liebe in den verschiedensten Spielarten wird in Haupt- und Nebenhandlung all dieser Komödien abgewandelt: sie löst als deus ex machina die Verwicklungen in Love's Cure, or The Martial Maid (ca. 1625), sie macht den Stubengelehrten zum Helden (The Elder Brother, ca. 1625) und narrt die aus Berechnung die Ehe Schließenden (Rule a Wife and Have a Wife, 1624). Ein auffälliger Zug der Komödie Fletchers ist die Vorliebe für gewagte Szenen und extreme Situationen, vor allem im sexuellen Bereich. Ein höchst lebendiges Beispiel ist The Custom of the Country (1619-23), wo die Charaktere vor pointierte Keuschheits- und Treueproben gestellt werden und sinnliche Begier in ungewöhnlicher Offenheit (einschließlich der Darstellung eines männlichen Bordells) vorgeführt wird. Geile Verführungskünste und höfische Sittenlosigkeit stehen auch im Zentrum der effektvollen Komödie The Humorous Lieutenant (ca. 1619), in der der König selbst eine professionelle Kupplerin einsetzt, um die keusche Celia zu verführen, und selbst ihr Liebhaber kaum glauben will, daß sie den Verlockungen widerstanden hat. Die Freizügigkeit, mit der solche verfänglichen Situationen im Dialog ausgeschlachtet werden, geht über die elisabethanische Komödie deutlich hinaus. Extreme Situationen und scheinbar unauflösliche Konflikte sind auch besonders charakteristisch für Beaumont und Fletchers Tragikomödien, die wohl ihren originellsten Beitrag zum jakobäischen Theater darstellen. Die zu Beginn des Jahrhunderts aus Italien übernommene Gattung der Tragikomödie wird hier, anders als etwa bei Shakespeare, so abgewandelt, daß ausweglos, ja oft betont quälend konstruierte Situationen durch überraschende Enthüllungen oder unvorhersehbare Ereignisse zu einem guten Ende geführt werden, das in den handelnden Figuren kaum angelegt ist und den Zuschauer meist völlig unvorbereitet trifft. Ein gewisser Nervenkitzel und neuartige Schockwirkungen scheinen den Dramatikern mehr am Herzen zu liegen als die Erforschung menschlicher Leidenschaften oder die Darstellung konsequenter Charakterentwicklungen. Daraus ergeben sich oft erstaunlich wirkungsvolle Szenen, die aber meist isoliert bleiben und nicht als sinnvolle Teile eines überzeugenden Planes wirken. Die erste Tragikomödie, Philaster, or Love Lies -Bleeding (1608-10), zeigt mit ihrem südländischen Schauplatz, dem rührenden Verkleidungsspiel und der leidgeprüften Liebe noch deutliche Anklänge an die romantische Komödie, deren ethischer Anspruch hier aber weitgehend aufgegeben ist. Die überraschende Wendung zum Guten ist kaum als verdienter Sieg über böse Mächte aufzufassen, sondern bleibt ein

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theatralischer Effekt. Es wäre aber falsch, deshalb die dramatische Virtuosität der Verfasser, ihre Beherrschung aller sprachlichen und szenischen Mittel gering zu achten. Die Liebe des sizilianischen Königssohnes zur Tochter des Usurpators wird nach leidvollen Verwirrungen durch die Abdankung des Vaters einer glücklichen Vereinigung zugeführt. Seine Situation an einem korrupten Hof ähnelt der Hamlets, doch sind die in der Handlung angelegten Konflikte sehr viel oberflächlicher und distanzierter entwickelt. Die rührende oder überraschende Situation hat den eindeutigen Vorrang vor individueller Charakterisierung oder ethischer Reflexion. Dies wird auch durch die weiche, gefällige Sprache bestätigt, die sich vorzüglich den komischen oder lyrischen Stimmungen der einzelnen Szenen anzupassen versteht, aber kaum durch unerwartete Bilder oder poetischen Ausdrucksreichtum überrascht. Bezeichnender für den neuen Stil und das Streben nach ausgefallenen Emotionen ist A King and No King (1611), wo es um die leidenschaftliche Liebe des vermeintlichen Königs Arbaces zu seiner vermeintlichen Schwester Panthea geht. Das Motiv der Blutschande und der Ausweglosigkeit des Dilemmas verleiht dem Geschehen eine quälende Intensität. Ein guter Ausgang scheint unmöglich, bis die überraschende Enthüllung, daß Arbaces seit seiner keineswegs königlichen Geburt nur als Königssohn ausgegeben wurde, alle Hindernisse aus dem Wege räumt. Auch hier wird die Katastrophe nur durch äußere Mittel abgebogen, und die höchst effektvollen Szenen verbinden sich zu keinem geschlossenen Charakterdrama, obwohl es immer wieder zum kalkulierten Zusammenprall gegensätzlicher Naturen kommt und die emotionalen Auswirkungen der Handlung nach allen Richtungen hin ausgelotet werden. Ein bezeichnendes Beispiel für eine ganze Reihe anderer Tragikomödien ist das spätere Stück A Wife for a Month (1624), in dem ein grausamer Usurpator das Liebespaar Valerio und Evanthe zu einer Scheinehe verdammt und ihm sadistische Bewährungsproben auferlegt, bis er durch den überraschend von sprachloser Melancholie geheilten rechtmäßigen Herrscher entmachtet wird. Wieder verbinden sich ausgeklügelte Konfliktsituation mit der drastischen Darstellung höfischer Korruption und frustrierter Liebe. Der etwa im Vergleich zu Ben Jonsons Satire auffälligen ethischen Unverbindlichkeit steht eine souveräne Meisterschaft der Konstruktion und der spannungsreichen Dialogführung gegenüber. Dies gilt auch für Beaumont und Fletchers Tragödien, die sich oft durch wenig mehr als den tödlichen Ausgang von den Tragikomödien unterscheiden und jedenfalls weithin die durch Charakter und Schicksal bedingte tragische Notwendigkeit der Katastrophe vermissen lassen. Die bedeutendste und bis heute erfolgreichste der von beiden gemeinsam verfaßten Tragödien ist The Maid's Tragedy (1608-11), deren Grundsituation gewisse Ähnlichkeiten mit der in A Wife for a Month hat und sich ebenfalls in einer zur Farce gewordenen Hochzeitsnacht zuspitzt. Der König verheiratet seine Geliebte Evadne mit dem Ritter Amintor, der daraufhin seine Braut Aspatia verstößt (nach ihr ist das Stück benannt). Der von Evadne schonungslos aufgeklärte und zurückgestoßene Ehemann will sich zunächst aus Respekt vor dem Mo-

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narchen fügen; doch Evadnes Bruder überredet sie zur Reue und zwingt sie dazu, den König zu töten. Mit dem blutigen Dolch von der Tat kommend, glaubt sie, Amintors Liebe wiedergewonnen zu haben. Der aber wendet sich entsetzt ab, und um ihm ein Verzeihungswort zu entlocken, tötet sie sich vor ihm. Aspatia reizt Amintor, sie im Irrtum zu töten, und er selbst stirbt von eigener Hand. Ungeachtet des melodramatischen Blutvergießens am Ende, das sich ohne Bruch in der Charakterdarstellung durch eine tragikomische Überraschung hätte abwenden lassen, handelt es sich um ein ungewöhnlich wirkungsvolles Stück mit einem meisterhaften Aufbau und einer Reihe abwechslungsreicher, höchst spannungsgeladener Szenen. Farcenhafte, heroisch-bombastische und lyrische Auftritte lösen einander ab, doch geht es den Dramatikern auch hier offensichtlich mehr um die zugespitzte Einzelsituation als um die konsequente Darstellung menschlicher Verhaltensweisen und Reaktionen. Der Zuschauer wird emotional angerührt, aber kaum zu tieferen moralischen Einsichten oder Fragestellungen veranlaßt. Dazu kommt in den Tragödien Fletchers, im Gegensatz zu den meisten seiner Zeitgenossen, eine auffällige Beschränkung auf die Welt der säkularen Gesellschaft, der keine kosmische Ordnung gegenübergestellt wird. Menschliches Handeln wird in keinen direkten Bezug gesetzt zu einem übermächtigen Schicksal oder zeitlosen Wertvorstellungen, so daß auch die Weltsicht des Dramatikers letztlich verborgen bleibt. In anderer Hinsicht jedoch zeigt das nach Umfang und Vielseitigkeit die zeitgenössischen Dramatiker übertreffende Werk Fletchers die allgemeine Richtung an, in der sich das Drama entwickelte. Durch neuartige Themen und bühnentechnische Raffinesse erzielte er eine intensive Reizwirkung, die freilich die Sinne und die oberflächlicheren Emotionen mehr anspricht als die eigenständige Phantasie und die geistige Mitarbeit des Publikums, an die Shakespeares Drama so ausdrücklich appelliert. Tragödie und Komödie entwickeln dabei stark satirische Züge und nähern sich einander an, wofür die Tragikomödie in ihren verschiedenartigen Ausprägungen ein aufschlußreiches Zeugnis ist. Gleichzeitig verliert das Theater, trotz größerer Lebensnähe und zunehmender Freiheit von formalen Konventionen, den Kontakt mit den eigentlich bewegenden gesellschaftlichen, politischen und religiösen Strömungen der Zeit und zeigt oft eine künstliche Einengung, die letztlich auch den puritanischen Kampf gegen die Bühne erleichterte. Von Fletchers Zeitgenossen gehörte der Homerübersetzer GEORGE CHAPMAN4 (1559-1634) seinen literarischen Zielen nach noch weitgehend zu Shakespeares Generation, während er in der Wahl seiner Stoffe und Probleme deutlich an der zunehmenden geistigen Unsicherheit teilhat. Mit der gleichen Begeisterung für das klassische Altertum wie Ben Jonson, aber einem unge4

Works, ed. R. H. Shepherd, 3 Bde. (21889); Plays, ed. T. M. Parrott, 2 Bde. (1910-14); Comedies, ed. A. Holaday (Urbana, 1970); Poems, ed. P. B. Bartlett (N. Y., 1941); Einzelausgaben in NMS, RP, RRenDS. - J. Jacquot, G. C. (Paris, 1951); M. MacLure, G. C: A Critical Study (Toronto, 1966); E. Rees, The Tragedies of G. C.: Renaissance Ethics in Action (Cambr., Mass., 1954); C. Spivack, G. C. (N. Y., 1967).

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baldigeren Temperament verfaßte er eine größere Anzahl von Komödien und Tragödien, und schon vor Jonson brachte er in der Eifersuchtskomödie A Humourous Day's Mirth (1597) typenhafte 'humour'-Figuren auf die Bühne. Aber, wie schon sein erstes Stück The Blind Beggar of Alexandria (1596) bewies und May-Day (ca. 1601) bestätigte, lag ihm die Charakterkomödie weniger als die Intrige, und so wählte er nicht Plautus, sondern Terenz zum Vorbild für seine erste bedeutendere Komödie All Fools (1599-1604). Häufig konzentrierte er seine Satire auf eine einzige Figur, in All Fools den geizigen Bauern, in The Gentleman Usher (1602-1604) den Malvolio nachgebildeten Haushofmeister, in Monsieur d'Olive (1604) den eitlen Franzosen. Nur die glänzende, zusammen mit Marston und Jonson verfaßte Komödie Eastward Ho! (1605) zeigt die gleiche schöpferische Freude in der Charaktergegenüberstellung des biederen Goldschmiedes Touchstone und seiner höher hinauswollenden Frau wie in der lustigen und flott durchgeführten Intrige. Das Leben der Londoner City wird mit überzeugender Vitalität auf die Bühne gebracht, und das Stück ist eines der ersten und erfolgreichsten in einer langen Reihe teils mehr romantischer, teils satirischer 'City-Comedies'. Wie die meisten Stücke Chapmans wurde es für eine der gerade in diesen Jahren besonders florierenden Kindertruppen geschrieben. Dies gilt auch für Chapmans Tragödien, denen offensichtlich sein größerer Ehrgeiz als Dichter galt. Ihre wortreiche, stark an Marlowe orientierte, aber wesentlich gelehrtere Deklamation macht sie für den heutigen Leser schwerer zugänglich, doch imponiert der intensive Gedankenreichtum und der weite geistige Horizont, der sich in den vielfältigen Bildern aus allen Lebens- und Wissensbereichen öffnet. Als durchaus neuartige Themen wählte Chapman eigenwillige Gestalten aus der neuesten französischen Geschichte. Bussy D'Ambois5 (1600-1604), in vielem sein gelungenstes Stück, behandelt ein charakteristisches Schicksal am Hofe Heinrichs III. von Frankreich. Der verarmte Bussy wird durch Ehrgeiz und Geld an den Hof gelockt, wo er inmitten korrupter Intrigen ein Zeichen einsamer Größe und Integrität setzen möchte; doch wird er hineingezogen in den Strudel von Habgier, ehebrecherischer Liebschaften und hinterhältiger Mißgunst, und seine unnachgiebige Arroganz, hinter der doch auch ein berechtigtes Bewußtsein des eigenen Wertes steht, macht ihn zum Opfer tödlicher Feindschaften. Das Stück läßt offen, ob er als schuldiges Opfer eigener Überheblichkeit und Verführbarkeit fällt oder ob sein Tod nur die Unberechenbarkeit eines sinnlosen Schicksals, den vergeblichen Kampf heroischer Tugend demonstriert, aber gerade diese Offenheit gehört zu der Intensität geistigen Fragens und der Erforschung unergründlicher seelischer Bereiche in diesem eindrucksvollen Drama. Mit großer Dringlichkeit wird, im Rahmen einer höchst ereignisreichen und spannungsgeladenen Handlung, die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Integrität inmitten einer korrupten Gesellschaft, nach der großen Ausnahmenatur unter mittelmäßigen Geistern gestellt. Die Marlowesche Vorstellung des Over1

Vgl. die vorzüglich kommentierte Ausgabe von N. Brooke, RP (1964).

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reacher' erscheint hier in einer säkularisierten, an stoische Ideale angelehnten Form, als 'Senecal man'. Das Thema wird variiert in der Fortsetzung, The Revenge of Bussy D'Ambois (ca. 1601-1612), die Bussys Bruder als hamletartig zögernden Rächer zeigt, der zuletzt dem Rachegedanken absagt und in stoischem Gleichmut dem Schicksal seinen Lauf läßt. Dramatische Handlung und rhetorische Debatte sind in diesem Stück jedoch weniger wirkungsvoll integriert, und Deklamation hat den deutlichen Vorrang vor dem Bühnengeschehen. Noch einseitiger ist das Vorherrschen der großen Rede in dem themenverwandten Doppeldrama The Conspiracy and Tragedy of Charles Duke of Byron (1608), dessen Held zwar den geistigen Anspruch und die Anmaßung Bussys teilt, kaum jedoch dessen imponierende Größe, und zuletzt in völliger Uneinsichtigkeit den verdienten Tod des Verräters erleidet. Das Stück stellte nicht nur den lebenden König Heinrich IV. von Frankreich auf die Bühne, sondern erörterte aktuelle politische Fragen mit einer Offenheit, die die Zensur zum Eingreifen veranlaßte. Auch die Tragödie Chabot, Admiral of France (ca. 1611-22) stellt einen stoischen Helden in den Mittelpunkt, dessen Lebensphilosophie das Thema des Stückes ist, und die klassische Tragödie Caesar and Pompey (1599-1607) kreist vor allem um die Figur Catos. Chapmans Tragödien wenden sich bewußt an ein mehr elitäres Publikum und scheinen kaum in die populären Volkstheater Eingang gefunden zu haben. Ein völlig anderer Dramatiker ist THOMAS DEKKERO (1572-1632), der es gerade dem volkstümlichen Geschmack rechtzumachen suchte und dabei weniger wählerisch hinsichtlich seiner Stoffe und Themen war. Er gehört zu den Elisabethanern wie Deloney, dem er den Stoff zu seiner volkstümlichen Schuhmacherkomödie The Shoemaker's Holiday, or The Gentle Craft (1599) entnahm, einer märchenhaft beschönigenden Verklärung des tüchtigen Handwerks, und wie Greene, dessen Märchenvorliebe er in seinem moralitätenhaften Old Fortunatus (1599) teilt und mit dem er die Fähigkeit gemeinsam hat, Alltag und Romantik miteinander in Beziehung zu bringen, meist im Dienste einer eingängigen Moral. Dekker, der auch in seinen Prosaschriften das nicht immer beschönigte London der kleinen Leute mit humorvoller Anteilnahme schildert, versuchte sich in bürgerlichen Sittenkomödien, von denen zwei (zusammen mit Webster verfaßte) mit den Fährmannsrufen Westward Ho! (1604) und Northward Ho! (1605) liebeslüsterne Bürgerfrauen auf ihren Abenteuern begleiten, eine dritte, The Roaring Girl, or Moll Cutpurse (1604-10), wohl gemeinsam mit Middleton verfaßt, eine stadtbekannte Persönlichkeit verschönt und in sehr amüsanter Form auf die Bühne bringt. Sein bedeutendstes Werk ist die Tragödie The Honest Whore (1604, möglicherweise mit Middleton), von der kurz darauf ein zweiter Teil erschien. Die Bekehrung der Titelheldin durch ihren Vater, der als Diener in ihre Dienste tritt, ist überaus 6

Dramatic Works, ed. F. Bowers, 4 Bde. (Cambr., 1953-60); Auswahl, ed. R. Rhys, MS (1887). - M. L. Hunt, T. D. (N. Y., 1911); T. M. Jones-Davies, Un Peintre de la Vie Londonienne: T. D., 2 Bde. (Paris, 1967); G. Price, T. D., TEAS (N. Y., 1969). Vgl. auch S. 273, Anm. 74.

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lebensvoll gezeichnet, und das Drama verbindet präzise Bilder des elenden Dirnenlebens mit handfester Moral und bewegter Rhetorik. Der Zuschauer wird hier sehr viel unmittelbarer und weniger intellektuell angesprochen als bei Chapman, und die moralische Aussage wird durch ausdrucksvolle Schaubildeffekte unterstützt. Eine ähnlich zugkräftige und für die verschiedensten Stoffe empfängliche Dramatik tritt in den zahlreichen Stücken THOMAS HEYWOODs7 (1570-1641) entgegen, der sich in allen gewünschten Gattungen betätigte und die verschiedenartigsten Stoffe aufgriff, so die abenteuerliche Kreuzzugsgeschichte The Four Prentices of London with the Conquest of Jerusalem (1592-1600), zwei Historien, Edward IV (1592-99, in zwei Teilen) und die schon durch ihre vielversprechenden Titel zugkräftigen Dramen aus der jüngeren Geschichte I If You Know Not Me You Know Nobody, or The Troubles of Queen Elizabeth (1603-1605) und II If You Know Not Me You Know Nobody, with the Building of the Royal Exchange, and the Famous Victory of Queen Elizabeth (1605), dazu zahlreiche, romantische und satirische, Lustspiele, Tragikomödien und, ein besonders charakteristisches Produkt dieser Art von Gebrauchsdramatik, eine Serie von fünf Dramen {The Golden Age, The Silver Age, The Brazen Age, The Iron Age (2 Teile), 1609-13), in denen fast die gesamte klassische Mythologie in einer Folge spannungsloser und thematisch wenig gehaltvoller Bilderbogen auf die Bühne übertragen wird. Wesentlich bedeutender ist A Woman Killed with Kindness (1603), das „bürgerliche Tragödien" wie Arden of Feversham zum Vorbild hat, dem Ehebruch aber durch die Großmut des Betrogenen eine neue Wendung gibt.8 Die ertappte Ehefrau wird gerade durch die 'kindness' des Gatten, den Verzicht auf blutige Rache, getötet und zu rührender Umkehr getrieben. Von wirklicher Verzeihung kann im Rahmen dieser Moral keine Rede sein, doch der offensichtlich als Vorbild hingestellte Frankford erkennt der Sterbenden den von ihr verwirkten Namen 'wife' wieder zu und stellt damit die Gemeinschaft wieder her. Die larmoyante Stimmung des Endes und die vom Dramatiker anscheinend kaum angezweifelte Moral sollte nicht den Blick trüben für die erstaunlich realistische, von einer im elisabethanischen Drama ungewöhnlichen häuslichen Sentimentalität geprägte Wiedergabe der Verführung einer schwachen Frau und des echten dadurch verursachten Leidens. Ihr galt das Interesse des Dichters mehr als einer exemplarischen Darstellung von Sünde und Strafe. Diese Beschränkung und Verinnerlichung, wie sie das Drama des 18. Jahrhunderts wieder aufnahm, trat aber vorerst zurück gegenüber den wesentlich lauteren und meist exotischeren Effekten der Rache- und Schauertragödie. Ein Musterbeispiel für diese Dramatik ist JOHN MARSTONs9 (1575-1634) Doppeldrama Antonio and Mellida (1599-1600) und Antonio's Revenge 7

Works, ed. R. H. Shepherd, 6 Bde. (1874; repr. 1964); Auswahl, ed. A. W. Verity, MS (1888). - F. S. Boas, T. H. (1950). 8 Vgl. die gute Ausgabe von R. W. van Possen, RP (1961). 9 Plays, ed. A. H. Bullen, 3 Bde. (1887); Plays, ed. H. H. Wood, 3 Bde. (Edinb., 1934); Poems, ed. A. Davenport (Liverpool, 1961); Einzelausgaben in NMS, RRenDS, RP. A. J. Axelrad, J. M. (Paris, 1955); A. Caputi, J. M.: Satirist (Ithaca, 1961); P. J. Finkelpearl, J. M. of the Middle Temple: An Elizabethan Dramatist in his Social Setting (Cambr., Mass., 1969).

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(1599-1601), deren erstes eine Geschichte voll tödlichen Hasses und gefährlicher Nachstellung novellistisch mit einer Hochzeit beschließt, deren zweites Motive aus Hamlet und der Spanish Tragedy mit Marlowe übertrumpfender Sprache zur blutrünstigen Rachetragödie formt. Sadistisches Auskosten der Rache, Geistererscheinung, Mord und Intrige werden mit greller Rhetorik und sensationellen Bühneneffekten zu einem Schauerstück gesteigert, das kaum Anspruch auf unmittelbare Lebensnähe erhebt, sondern eine grotesk verzerrte Welt als bildhaften Ausdruck gesellschaftlicher Korruption vorführt. Die auch von Zeitgenossen als schwülstig empfundene Sprache, von Jonson im Poetaster verspottet, ist in The Wonder of Women; or, The Tragedy of Sophonisba (1605-1606) auf einen womöglich noch greuelvolleren Stoff angewandt, der Marstons Darstellung einer unmenschlichen Welt besonders entgegenkam. Seine Komödien sind von schonungsloser Satire bestimmt, und sein wohl gelungenstes Stück, die Tragikomödie The Malcontent (1600-1604), verbindet auf charakteristische Weise Motive der Rachetragödie mit ätzender Hofsatire und moralischem Ernst. Der Titelheld, der rechtmäßige Herzog von Genua, lebt als exzentrischer Menschenverächter Malevole verkleidet am Hofe, der von einem Usurpator regiert wird und zum Schauplatz von Intrige, Falschheit und Sittenverfall geworden ist. Wie der verkleidete Herzog in Measure for Measure beobachtet Malevole die fast ausnahmslose Korruption der Hofgesellschaft, führt die Menschen in Versuchung und erscheint am Ende als strafender und belohnender Richter. An Angelo aus Shakespeares Drama erinnert Malheureux in The Dutch Courtezan (1603-1604), der trotz seiner Tugendreden dem ersten sinnlichen Kitzel zum Opfer fällt, während die Titelheldin als eine Art Gegenbild zu der reuigen Honest Whore Dekkers eine bis zum Verbrecherischen gehende sündige Leidenschaft verkörpert. Verbrechen und Leidenschaft, verbunden mit ungewöhnlichem moralischem Engagement, sind auch der Vorwurf der beiden erhaltenen Tragödien CYRIL TouRNEURs10 (1575-1626), in denen Konventionen des Rachedramas, Schauerstück und fast volkspredigthaft anmutendes warnendes Exempel zusammenfließen. In The Revenger's Tragedy (1606-1607), deren Verfasserschaft freilich umstritten ist und die Motive aus Henry Chettles (1554-1607) Hoffman or A Revenge for a Father (1602) aufgreift, ist die Rache von einer Hamletpflicht zu einer selbstgerechten, sich an der eigenen Verstellungskunst und erfindungsreicher Intrige berauschenden Leidenschaft gesteigert, die ihr ursprüngliches Ziel weit überschreitet und selbst in den allgemeinen Strudel von ansteckender Bosheit und hemmungsloser Selbstzerfleischung hineingerissen wird. Die dramatische Technik vereint ausdrucksstarke Deklamation mit emblematischen Bildwirkungen, durch die das grotesk überspitzte blutige Bühnengeschehen zu einem düsteren Memento mori jenseits aller simplen Realistik stilisiert wird. Anklänge an Hamlet sind vor allem in dem moralischen Abscheu des Helden Vindice deutlich, der sich gegen den ganzen Hof 10

ed. A. Nicoll (1930); gute Ausgaben der Revenger's Tragedy von R. A. Foakes, RP (1966), und der Atheist's Tragedy von I. Ribner, RP (1964). - P. B. Murray, A Study of C. T. (Philad., 1964).

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und namentlich auch gegen die eigene, korrumpierender Versuchung zum Opfer gefallene Mutter wendet und in dem Akt der Rache ein Stück reinigender Weltverbesserung sieht. Die strenger aufgebaute, moralisch noch kompromißlosere Tragödie The Atheist's Tragedy, or The Honest Man's Revenge (1607-1611) stellt dem maßlos ehrgeizigen, das Übersinnliche leugnenden Machiavellisten den von stoischer Selbstbeherrschung und unangefochtenem Gottvertrauen bestimmten Tugendhelden gegenüber, der dem Himmel die Rache überläßt und durch das direkte Eingreifen einer übernatürlichen Gerechtigkeit bestätigt wird. Auch hier wird das ethische Programm durch eine stark sinnbildhafte Bühnentechnik unterstrichen, die gelegentlich zu etwas aufdringlichen Effekten führt, wenn etwa in der möglicherweise von Hamlet inspirierten Friedhofszene Totenschädel als Kopfkissen dienen, um emblematisch den Schlaf des Gerechten zu verdeutlichen. Nur selten wird die leidenschaftliche Rachetragödie mit so direkter Didaktik verknüpft, dramatische Konvention mit so unzweideutigem christlichem Ernst interpretiert. Sehr viel zwielichtiger und schwerer zu deuten ist die eigenwillige Dramatik JOHN WEBSTERS" (1580-1625), in der wiederum die verschiedensten klassischen, italienischen, einheimischen Traditionen eine wirkungsvolle, wenn auch uneinheitliche Verbindung eingehen und eine aus den Fugen geratene Welt höfischer Macht- und Liebesintrige zum Anlaß für intensive ethische Fragestellung genommen wird. Wie Chapman wählte er geschichtliche Ereignisse der nahen Vergangenheit - die Ermordung Vittoria Accorambuonis (1585) und der Herzogin von Amalfi (1516) -, versetzt sie in eine eigenwillig verzerrte Tragödienwelt und macht sie zum Spiegel extremer menschlicher Leidenschaften und Bewährungsproben. Webster versuchte, wie sein anspruchsvolles Vorwort zu The White Devil (1609-12) zeigt, die unmittelbar ansprechende Wirkung des Volkstheaters mit dem geistigen Niveau eines literarischen Kunstwerks zu verbinden. Sein Drama ist voll von Lesefrüchten, gelehrten Anspielungen und Zitaten, aber es demonstriert zugleich Websters virtuose Beherrschung aller dramatischen Kunstmittel, von der wortgewaltigen Deklamation zum prägnanten Dialog, von der poetischen Bildersprache zum einprägsamen Epigramm, von der farbigen Bühnenzeremonie zur bewegungsreichen Pantomime. Der sensationelle Mordfall wird zum vieldeutigen Zusammenspiel höchst individueller Charaktere. Liebe, Haß, Mißtrauen und soziale Abhängigkeiten bestimmen das Geschehen um Vittoria, deren unergründlicher Charakter durch die Paradoxie des Titels umschrieben wird. Mit gleicher Dynamik formt sie ihre Umwelt durch ihre Leidenschaft im Lieben, Hassen und Planen. Ihre mitleidlose Anstiftung zum Mord an denen, die ihrer Liebe im Wege stehen, beeindrucken den Zuschauer ebenso wie die 11

Works, ed. F. L. Lucas (1927) [vorzügliche Ausgabe]; gute Einzelausgaben des White Devil, 1960, und der Duchess of Malfi, 1964, von J. R. Brown (RP). - R. W. Dent, J. W.'s Borrowing (Berkeley, 1960); C. Leech, J. W.: A Critical Study (1951); T. Bogard, The Tragic Satire of J. W. (Berkeley, 1955); R. Berry, The Art of J. W. (Oxf., 1972); Auswahl aus der umfangreichen Webster-Literatur: J. W., edd. G. K. and S. K. Hunter (Harmondsworth, 1969) [Penguin Critical Anthologies].

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leidenschaftlichen Beteuerungen ihrer Unschuld vor einem feindseligen Tribunal und ihre unerschütterte Größe im Tode. Neben ihr ist ihr Bruder Flamineo der einprägsamste Charakter des Stückes, der durch Armut und Zurücksetzung verbitterte Helfer Brachianos, dem seine Universitätsbildung bisher keinerlei äußere Vorteile brachte und der um des Aufstiegs willen seine ganzen intellektuellen Fähigkeiten entschlossen in den Dienst teuflischer Intrigen stellt. Seine einfallsreiche Schurkerei, die sich überlegen der Verführbarkeit der Umwelt bedient, und seine Kunst der Verstellung erinnern deutlich an Jago, den er an geistiger Wendigkeit und gelehrter Wortgewandtheit noch übertrifft. The Duchess of Malfi (1612-14) ist ein in Ton und Figurenkonstellation recht ähnliches Drama, dessen Hauptgestalt, die wegen ihrer unebenbürtigen Heirat zu Tode gehetzte Herzogin, freilich weniger undurchschaubar bleibt, sondern ein bewundernswertes Beispiel unbeirrter Verwirklichung der eigenen Liebe und standhafter Erduldung infernalischer Leiden darstellt. Der in seiner psychologischen Motivation letztlich unbegreifliche Haß ihrer Brüder bedient sich wiederum eines desillusionierten Malcontent, der zum Verräter, Peiniger und Mörder wird, wenn er auch am Ende durch die Haltung der Verfolgten zur Einsicht in die verzweifelte Niederträchtigkeit seines Handelns gebracht wird und selbst die Rache für den Tod der Herzogin übernimmt. Auch wenn ihr beherztes Werben um den Untergebenen im Rahmen der Moral des Dramas ein Akt unbedachter Torheit war, so ist ihr Leben und Sterben doch ein Beispiel der 'integrity of life', der Maßstab, an dem letztlich die Gestalten gemessen werden. Die Tragödie ist wie The White Devil von einem sprachlichen und szenentechnischen Reichtum, wie er im jakobäischen Drama nur selten anzutreffen ist. Es entzieht sich der Erklärung, warum Webster außer diesen beiden Meisterwerken und der originellen Tragikomödie The Devil's Law Case (1610-19) kein Drama von vergleichbarem Interesse geschrieben hat, wenn er auch als Mitarbeiter von einer Reihe anderer Dramatiker geschätzt worden zu sein scheint. Seine beiden Tragödien sind gerade in unserem Jahrhundert immer wieder als Höhepunkte des nachshakespeareschen Dramas gewürdigt worden, doch schon die Romantiker fanden darin die Darstellung der Abgründe menschlicher Natur und sahen in seiner düsteren Welt, in der selbst der schwache Unschuldige noch mit in das Verhängnis gerissen wird, einen Ausdruck verzweifelter Resignation, ein faszinierendes Nachtbild ('night-piece' wird die Intrige im White Devil genannt), das einem Hamletschen Weltschmerz zu entspringen schien. Neuere Deutungen betonen, neben der virtuosen dramatischen und poetischen Kunst, mehr den fragenden und experimentellen Charakter dieser eigenwilligen Dramatik. Gegenüber solcher exzentrischen Steigerung der Wirklichkeit erscheint die Kunst von THOMAS MiDDLETON 12 (1580-1627) eher nüchtern und sachlich. n

ed. A. Bullen, 8 Bde. (1885-86); Auswahl, ed. H. Ellis, 2 Bde., MS (1890); Einzelausgaben NMS, RRenDS, RP. - R. H. Barker, T. M. (1959); D. M. Holmes, The Art of T. M. (1971); D. M. Farr, T. M. and the Drama of Realism (Edinb., 1973); D. J. Lake, The Canon of T. M.'s Plays (1975).

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Nach einigen Versuchen in der ihm offensichtlich weniger gemäßen Gattung der romantischen Komödie wandte er sich der stärker wirklichkeitsbezogenen Schilderung gesellschaftlicher Mißstände zu, zunächst noch in romantischer Einkleidung. In The Phoenix (1603-1604) läßt er einen jungen Prinzen dieses Namens, der sich wie der Herzog in Measure for Measure verkleidet unter die Untertanen mischt, in einem Ferrara mit Londoner Sitten kritisch Umschau halten. Dann schildert er ohne italienische Einkleidung wie Dekker und Heywood Londoner Szenen, in denen er aber dem Bürgertum nicht schmeichelt und auch nicht die didaktische Eindeutigkeit Ben Jonsons hervortreten läßt. So wählte er in Michaelmas Term (1604-1606) den Menschenzulauf in London am Gerichtstermin zum Hintergrund. Er verwertet hier das Volponemotiv mit umgekehrtem Erfolg; denn die Frau des Wucherers beeilt sich, den von ihrem Mann ausgeplünderten Landedelmann Easy zu heiraten, womit dieser durch eine Art poetischer Gerechtigkeit sein Vermögen wiederbekommt. Dabei kam es Middleton jedoch weniger darauf an, ein Rechtsempfinden zu befriedigen als die Vergnügungslust eines verwöhnten Publikums, das sich im Falle seiner Komödien wohl vor allem aus etwas gehobeneren Zuschauern zusammensetzte, da er vorwiegend für eine der beiden Kindertruppen, die Paul's Boys oder The Children of Paul's, wie die zeitgenössische Bezeichnung lautete, schrieb. Die zweite Wucherersatire, A Trick to Catch the Old One (1604-1607), verlacht einen alten Onkel, dessen Tochter sich der leichtfertige Neffe holt, während er seine Mätresse einem anderem Wucherer als reiche Witwe aufschwatzt. Middletons Komödien zeichnen sich durch eine lebhafte Szenenfolge und die unbekümmerte Darstellung der anrüchigen Viertel Londons aus. Your Five Gallants (1604-1607) führt verschiedene Formen modischer Torheit und Ausschweifung vor und bietet ein reiches Panorama der Londoner Unterwelt. The Family of Love (1602-1607) ist eine böse Satire auf sektiererhaftes Puritanertum und unterstellt den religiösen Fanatikern unsittliche Ausschweifungen. Den Höhepunkt der ausgelassenen und zugleich gesellschaftskritischen 'City-Comedy' bilden A Mad World, My Masters (1604-1607), ein kaum mehr entwirrbares Spiel von Intrigen und Übertölpelungen, und A Chaste Maid in Cheapside (1611-13), das in einer vorgetäuschten Beerdigung gipfelt: das junge Paar stellt sich tot, und während die Eltern, die die Heirat mit allen Mitteln zu hintertreiben suchten, noch im Leichenzug klagen, werden die flugs wieder Auferstandenen bereits getraut und erhalten schließlich die erlistete Zustimmung. Rücksichtslose Profitgier, ständische Überheblichkeit und törichte Lächerlichkeiten werden dabei in den verschiedensten Abwandlungen bloßgestellt, ohne daß der Zorn des Satirikers den Spaß an der närrischen Welt allzusehr beeinträchtigt. Die zügige Handlungsführung und der Sinn für bühnenwirksame Situationskomik macht diese Komödien auch heute noch zu einer sehr vergnüglichen Lektüre. Middleton arbeitete später mehrfach mit dem theaterkundigen, wenn auch wenig inspirierten WILLIAM ROWLEY (gest. ca. 1626) zusammen, dessen selbständig verfaßte Werke heute kaum mehr Beachtung finden, dessen Name als Mitverfasser aber auf dem Titelblatt von Middletons bedeutendster Tragödie,

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The Changeling (1622), steht. Die Anteile der beiden Dramatiker werden von der Forschung mit ungewöhnlicher Einmütigkeit so zugewiesen, daß Rowley für Anfang und Schluß sowie die Nebenhandlung, Middleton für die zentralen Teile der Haupthandlung verantwortlich gemacht wird. Der Plan des Ganzen dürfte von beiden gemeinsam entworfen sein. Jedenfalls ist das Werk immer wieder als besonders gelungenes Beispiel für die enge thematische Verknüpfung von Haupt- und Nebenhandlung interpretiert worden. In beiden Fällen geht es um die Verwandlungen menschlicher Natur, in der Haupthandlung um die entsetzliche Perversion eines nicht von vornherein bösen Charakters unter dem Einfluß von Leidenschaft, Versuchung und moralischer Orientierungslosigkeit, in der Nebenhandlung um täuschende Verkleidung und Entlarvung, wobei die begehrte Frau alle Anträge und Anfechtungen standhaft zurückweist. Geht es im 'sub-plot' um komödienhaftes Rollenspiel (der „Liebhaber" verkleidet sich erfolglos als Irrer, um der Frau des Doktors nahezukommen), so wird in der Haupthandlung die bessere Natur des Menschen verleugnet: abstoßende Entstellung ist keine freiwillig angelegte Maske mehr, sondern das erschreckende Ergebnis ethischer Blindheit. Die umworbene Beatrice glaubt sich des von ihr verabscheuten De Flores bedienen zu können, um einen lästigen Bewerber aus dem Wege zu räumen und ihre wahre Liebe zu verwirklichen. Doch der bestürzende Preis für den gedungenen Mord ist die erzwungene Gemeinschaft mit dem Mörder, und Beatrice wird gerade von dem zurückgestoßen, um dessen Liebe willen sie den Mord auf sich geladen hat. Diese Handlung wird in einer Reihe dramatischer Auftritte dargestellt, deren psychologische Intensität wohl nur von Shakespeare erreicht wird. Vor allem das sich von Widerwillen, Entsetzen und kalter Distanz zu hilfloser Ergebenheit und schließlich fast liebevoller Partnerschaft steigernde Verhältnis zwischen Beatrice und De Flores hat in der jakobäischen Tragödie kaum seinesgleichen. Gegenüber den heroischen Konflikten Websters wird hier ein mehr privates Dilemma von keineswegs überdimensionalen Individuen vorgeführt, ohne die simple Melodramatik und die aufdringliche Moral der „bürgerlichen" Trauerspiele, aber mit einem ungewöhnlichen Sinn für moralische Existenzfragen und deren soziale Implikationen. Beatrice fällt zweifellos der eigenen Schwäche zum Opfer, zugleich aber auch den trügerischen Wertvorstellungen einer fragwürdig gewordenen aristokratischen Ordnung, die mit einer veränderten Wirklichkeit zusammenstößt. Selbst bei Shakespeare gibt es keine weibliche Hauptgestalt, deren innere Entwicklung mit solcher Präzision und Intensität dargestellt wird. Dem mehr familiären Geschehen entspricht eine keineswegs bilderarme, aber doch unpathetische Rhetorik, die mehr durch prägnante Formulierungen als durch poetischen Reichtum beeindruckt und dem im Vergleich zu Marston, Tourneur oder Webster ausgesprochen gedämpften Charakter der Bühnenhandlung entspricht. Auch Middletons zweite, wohl von ihm allein verfaßte Tragödie Women Beware Women (1620-1627) betont die wirklichkeitsnahen, intimen Aspekte der Handlung, die sich ihrem spektakulären Charakter nach auch für eine

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grellere Form der Darstellung angeboten hätte. Als Stoff liegt dem Stück ein geschichtliches Kurtisanenschicksal zugrunde, das an Websters White Devil erinnert: die berüchtigte Bianca Capello will den Bruder ihres Geliebten, des Herzogs von Florenz, vergiften, weil er gegen ihre Verbindung ist, tötet aber versehentlich den Geliebten und gibt sich dann selbst den Tod. Es ist eine Welt, in der skrupellose Leidenschaft regiert und jeder jeden betrügt, bis es am Ende zu einem Inferno des gegenseitigen Vergiftens kommt. Die Stärke des Dramas liegt weniger in diesem eher konventionellen theatralischen Finale als in dem moralischen Niedergang der Heldin, die anfangs als liebende und geliebte Gattin erscheint, dann aber in Versuchungen geführt wird, denen ihre Natur nicht gewachsen ist. Ihr Zusammenbruch zieht den des Gatten nach sich, und gegenseitige Liebe verwandelt sich in mörderischen Haß, der beide zugrunderichtet. Wie im Changeling ist die Schilderung einer korrupten Hofgesellschaft der Darstellung quälender Charakterkonflikte untergeordnet, wenn hier auch noch stärkere Anleihen bei der elisabethanischen und jakobäischen Rachetragödie gemacht sind. Unter Middletons späteren Stücken erregte vor allem A Game at Chess (1624) Aufsehen, weil es den Heiratsplan des späteren Karl I. mit einer spanischen Prinzessin zum Anlaß nahm für eine politische Allegorie, in der die führenden englischen Persönlichkeiten als weiße, die spanischen Gegenspieler als schwarze Schachfiguren auftraten, ein höchst originell durchgeführter Einfall, der dem Verfasser eine Gefängnisstrafe eintrug. Das Drama zeigt erneut die ungemein wendige und abwechslungsreiche Produktivität Middletons, die nicht nur durch die große Zahl der von ihm erhaltenen Dramen dokumentiert ist, sondern auch durch viele Masques, Festspiele und allegorische Aufzüge, die er für die verschiedensten öffentlichen Anlässe beisteuerte.

4. Das Ende des Renaissancedramas Nach Fletcher wurde der bedeutendste seiner Schüler und Mitarbeiter PHILIP MASSINGER13 (1583-1640), zum prominentesten Dramatiker. Er schrieb Komödien, Tragikomödien und Tragödien und versuchte sich in den verschiedensten Stilrichtungen. Unter den Komödien ist A New Way to Pay Old Debts (1621-25) besonders wirkungsvoll gebaut und zeigt Massingers Sinn für schlagfertigen Dialog und lebendige Situationen, wenn auch der Humor im Vergleich zu Middleton recht zahm erscheint und unter dem didaktischen Ernst des Dramatikers leidet. Das Stück variiert die konventionelle Geschichte des geizigen Onkels und des verschwenderischen Neffen, der am Ende den Alten überlistet und sich als besserungswillig erweist. Die Moral wird deut13

ed. F. Cunningham, 3 Bde. (1870); Plays and Poems, edd. P. Edwards and C. Gibson, 5 Bde. (Oxf., 1976); Auswahl, ed. A. Symons, 2 Bde., MS (1904); Einzelausgaben NMS, RRenDS. - T. A. Dünn, P. M.: The Man and the Playwright (Edinburgh, 1957); J. H. Dorenkamp, John Fletcher and P. M. (The Hague, 1967).

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lieh genug ausgesprochen, und die für die Gesellschaftskomödie typischen sprechenden Namen, Sir Giles Overreach, Frank Wellborn, Tom Allworth, unterstreichen den exemplarischen Charakter des Geschehens. The City Madam (1632) verrät ganz ähnliche Qualitäten und wandelt, in deutlicher Anlehnung an Jonsons 'humours', das seit Eastward Ho! geläufige Thema des über seine geistigen Grenzen hinausstrebenden Bürgertums ab. Massinger wollte jedoch nicht nur unterhalten oder satirisch belehren; er wollte auch Stellung nehmen zu den die Zeit bewegenden politischen und religiösen Gedanken und tat dies in oft eigenwilliger Form. In der Bekehrungsgeschichte der Tragikomödie The Renegado (1624) zeigte er dem an papstfeindliche Ausfälle gewohnten Publikum einen sympathisch gezeichneten Jesuiten; im Emperor of the East (1631) kritisiert er in dem Kaiser, der auf den ersten Verdacht hin einen Verwandten zum Tode verurteilt, die Autokratie des Herrschers und das Hofschranzentum. Believe as You List (1631) behandelt in antiker Verkleidung die Geschichte des falschen Sebastian von Portugal, und The Picture (1629) bringt eine im späten Renaissancedrama ungewohnte Verherrlichung ehelicher Treue. Gerade die beiden letzten, die Themen von Macht und Recht und von Tugend und Versuchung abwandelnden Stücke zeigen die für Massinger charakteristische Art des Gedankendramas, in dem die Charaktere weitgehend als Verkörperungen bestimmter Ideen erscheinen. Doch trotz des geistigen Anspruchs ist Massingers Dramatik symptomatisch für einen Verlust an Vitalität und theatralischer Unbekümmertheit. Der deutliche Niedergang der Bühne wird durch das Weiterspinnen etablierter Gattungen oder gesuchte Überraschungseffekte nur künstlich überdeckt. Auch den eindrucksvollsten von Massingers Tragödien gebricht es an einheitlich geschlossener Wirkung. So versuchte er in The Virgin Martyr (1620; zusammen mit Dekker verfaßt) durch den Gegensatz einer wenig passenden Nebenhandlung von etwas gewaltsamer Komik die Erhabenheit der Heldin zu betonen. Diese Dramatisierung der Legende von der heiligen Dorothea zeigt die stoisch-humanistischer Haltung verwandte Tragödienauffassung Massingers. Es handelt sich um die Bewährung standhafter Gesinnung; der Tod der Heldin wird heroisch durch die Art, wie er erlitten wird. Auch im Duke of Milan (1621-23), der nur äußerlich Tourneursche Schrecken, wie etwa das Motiv des Küssens einer vergifteten Leiche verwendet, geht es um die Bewährung einer im Mittelpunkt stehenden Frauengestalt. Herzog Sforza hinterläßt, als er in einen Ungewissen Krieg zieht, den Befehl, seine Gattin solle getötet werden, falls er nicht mehr zurückkehre. Marcella erfährt diesen Mißtrauensbeweis des Gatten; sie wird zugleich erpreßt und verleumdet, doch bleibt sie sich selbst treu und wird getötet. Das Stück überrascht vor allem durch eine gegenüber der elisabethanischen Dramatik neue und fortschrittlichere Wertung der Beziehung von Mann und Frau. Massinger selbst war The Roman Actor (1626) das liebste seiner Dramen, wohl deshalb, weil die straffe Handlung zugleich Rahmen für die Szenen des großen Schauspielers Paris ist, der mit seinen Genossen begeistert über seinen Beruf spricht

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und sich in langer Rede vor dem Senat verteidigt, weil er auf der Bühne beleidigende Äußerungen über den Staat getan habe. Aber auch in der Haupthandlung, die das Thema „Willkür und Standhaftigkeit" variiert, glaubt man die Stimme des Dramatikers selbst zu hören, sowohl im Einspruch gegen die Tyrannenherrschaft Domitians wie in der stoischen Todesverachtung der Kaiserin. Das Stück enthält eine besonders raffinierte Abwandlung des seit der Spanish Tragedy und Hamlet beliebten Motivs des Spiels im Spiel mit einer verwirrenden Wechselbeziehung zwischen Realität und Bühnengeschehen. In dem Werk des letzten großen Tragikers der Renaissance, JOHN FORD14 (1586-1656), zeigt sich deutlich eine gewisse Erstarrung und Verengung der dramatischen Form. Seine Beherrschung der zugespitzten Situation und die glatte, oft etwas blutarme Sprache erinnern an Fletcher, den Ford an Schärfe des Geistes und Tiefe der Charakterisierungskunst übertrifft. Zugleich wirkt seine Dramatik kälter und verhaltener, was das äußerlich Melodramatische seiner Handlungsführung und Bühneneffekte um so krasser erscheinen läßt. Die Reihenfolge seiner Dramen ist bis heute nicht geklärt, und es wäre daher wenig sinnvoll, eine bestimmte Entwicklung rekonstruieren zu wollen. Seine zweifellos bedeutendste, noch heute gelegentlich aufgeführte Tragödie ist 'Tis Pity She's a Whore (1629-33). Die Handlung ist einerseits an Fletchers A King and No King angelehnt; denn im Mittelpunkt steht die unwiderstehliche Liebe zweier Geschwister - andererseits sind starke Anklänge an Shakespeares Romeo and Juliet festzustellen: die einmalige und beglückende Liebe wird durch ein unüberwindliches Schicksal von außen zerstört. Im Gegensatz zu Fletchers Tragikomödie wird das quälende Dilemma durch keine überraschende Enthüllung aufgelöst; die glückliche Vereinigung der Liebenden bleibt unmöglich, obwohl der Dramatiker keinen Zweifel daran läßt, daß die beiden in allem anderen füreinander geschaffen sind. Wie bei Shakespeare sucht ein Geistlicher mit hilfloser Beflissenheit, die Katastrophe abzuwenden; doch kein noch so beredter Hinweis auf die Sündhaftigkeit des Inzests kann den durch seine Liebe Verblendeten überzeugen. Die intensive Wirkung des Dramas besteht gerade darin, daß der Konflikt weder durch moralische Indifferenz noch durch selbstsichere Orthodoxie entschieden wird, sondern in ein Verhängnis führt, das Überlebende und Zuschauer nur voller Mitleid betrachten können. In diesem Sinne ist auch der reißerische Titel zu verstehen, als Appell an Teilnahme und Verständnis für die Liebenden, deren Schuld weder bagatellisiert noch didaktisch ausgeschlachtet wird. Freilich fehlt der Sprache dieses Dramas Shakespeares oder Fletchers lyrische Intensität; die kühle Würde des Dialogs und die sensationellen Bühneneffekte schaffen eine gewisse Distanz und verleihen dem Stück einen etwas epigonalen und sterilen Charakter. Dies gilt noch mehr für Love's Sacrifice (ca. 1632); wiederum wird das Liebespaar zum Spielball in der Hand des Schick14

edd. A. Dyce and A. H. Bullen, 3 Bde. (1895); edd. W. Bang and H. de Vocht in Bangs Materialien, 2 Bde. (Louvain 1908, 1927); Auswahl, ed. H. Ellis, MS (1888); Einzelausgaben RRenDS. - C. Leech, J. F. and the Drama of his Time (1957); M. Stavig, J. F. and the Traditional Moral Order (Madison, 1968).

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sals. Obwohl ihre Liebe nicht zur Schuld führt, bringt sie, von dem lauschenden Gatten mißverstanden, Mord und Selbstmord über alle drei. The Broken Heart (1625-33) spielt in Sparta, aber das Thema, Herzensneigung im Widerstreit mit gesellschaftlichen Konventionen, ist durchaus aktuell. Es wird in seiner Wirkung freilich beeinträchtigt durch die von Ford selbst im Personenverzeichnis festgelegte Typisierung der Charaktere (Orgilus, der Ärgerliche ; Penthea, die Klage; Calantha, Blüte der Schönheit) und die gekünstelte Melodramatik der Situationen. Die angesprochenen Probleme werden kaum konsequent weiterverfolgt, sondern nur zum Anlaß für theatralische Auftritte genommen. Sicherlich wurde dieser leidenschaftslos würdevolle Stil dadurch mit beeinflußt, daß Ford für ein relativ homogenes höfisches Publikum schrieb und sich nicht auf den vielseitigeren, unberechenbareren Geschmack eines gemischten Volkstheaters einstellen mußte. Seine Verbundenheit mit dem elisabethanischen Drama wie seinen Abstand dazu veranschaulicht sein Historienstück Perkin Warbeck (1629-34), das eine wichtige Episode aus der Regierungszeit des ersten Tudorkönigs, Heinrichs VII., behandelt und eindrucksvolle Charakterisierung mit politischer Thematik verbindet. Warbeck, der sich als der rechtmäßige Thronerbe ausgibt, besitzt viele Tugenden des echten Herrschers, obwohl kein Zweifel daran gelassen wird, daß er letztlich ein Betrüger ist. Im Gegensatz zu den Vorlagen stellt Ford ihn mit deutlicher Anteilnahme dar. Auch sein Gegenspieler, der legitime König, versagt ihm nicht einen gewissen Respekt. In ihm werden die politischen Vorstellungen des Stückes am deutlichsten artikuliert: Heinrichs Stärke beruht weniger auf der gottähnlichen Würde des Königtums als auf pragmatischem Geschick und Sinn für die wirtschaftlichen Realitäten. Trotz eindrucksvoller Szenen und aktueller Thematik scheint das Drama jedoch kaum ein neues Interesse an der bereits überholten Gattung der Historic inspiriert zu haben. Der letzte Dramatiker der Renaissance und einer der produktivsten war JAMES SHIRLEYIS (1596-1666). Auch er schrieb für ein recht beschränktes Publikum, für den Hof und die vornehmen Besucher der 'private theatres', und zeigte eine deutliche Herablassung gegenüber dem Geschmack des Volkstheaters, das immer mehr den Kontakt zu den tonangebenden Schichten verlor. Shirley war ungemein gewandt und vielseitig, aber nicht gerade von schöpferischer Originalität. Jonson, Middleton und Fletcher sind die wichtigsten Vorbilder für seine zahlreichen Komödien und romantischen Tragikomödien. Seine Lustspiele sind auch kulturgeschichtlich aufschlußreiche Schilderungen einer Gesellschaft, deren leichtfertige Sitten und unernster Zeitvertreib an die Restaurationskomödie erinnert, wenn auch Shirley sich mit Rücksicht auf die Hofzensur noch etwas mehr Zurückhaltung auferlegte und die moralische Tendenz seiner Komödie deutlich macht. Oft geht es bei der Handlung darum, daß der Kavalier die Dame zu verführen und sie ihn 15

ed. A. Dyce, 6 Bde (1833); Auswahl, ed. E. Gosse, MS (1888); The Lady of Pleasure und The Wedding in: Six Caroline Plays, ed. A. S. Knowland, WC (1962) [zusammen mit Dramen von Brome, Davenant und Killigrew]. - A. H. Nason, J. S. (N. Y., 1915); R. Gerber, J. S. (Bern, 1952).

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zur Ehe zu überlisten sucht, wobei die Frau als Gewitztere meist die Oberhand behält, was wie ein Sieg der konventionellen Moral erscheint. Besonders gewandte Beispiele für diese, Wycherley und Farquhar in manchem vorwegnehmenden Lustspiele sind The Witty Fair One (1628), Hyde Park (1632), Changes, or Love in a Maze (1632), The Lady of Pleasure (1635) und The Gamester (1633), das offenbar den besonderen Beifall von König Karl fand, möglicherweise sogar von ihm mitverfaßt wurde. Mehrere Lustspiele variieren das bewährte Muster, indem sie die Handlung an einen fremdländischen Schauplatz verlegen. The Grateful Servant (1629) läßt die übliche Geschichte von der Bekehrung eines Wüstlings durch eine tugendhafte Frau in Italien spielen, das auch der Schauplatz von The Humorous Courtier (1631) und The Bird in a Cage (1633) ist. The Brothers (1641) verlegt den bekannten Vorwurf des tyrannischen Vaters und der Nebenbuhlerschaft zweier Brüder nach Madrid. Von den Tragikomödien, die meist eine höchst verwickelte Handlung in völlig unerwarteter, novellistischer Weise lösen, sind The Young Admiral (1633) und The Royal Master (1637) wohl die gelungensten. Den recht typischen Verlauf dieser Stücke gibt schon The Wedding (1626) an, mit der Geschichte der bevorstehenden Heirat Beaufords und Gratianas, die durch Marwoods Behauptung, er habe die Braut bereits besessen, aufgeschoben wird. Eine tragische Wendung bahnt sich an durch einen Zweikampf, in dem der Verleumder schwer verwundet wird, worauf Beauford als Mörder vor Gericht gestellt wird. Dann aber löst sich die Verwicklung, da der Totgeglaubte plötzlich erscheint und seine Verleumdung als Irrtum erklärt wird. Ähnlich verschlungene Verwicklungen und plötzliche Lösungen haben The Duke's Mistress (1636), The Imposture (1640) und die auf Verwechslung und Vertauschung beruhenden Handlungen von The Coronation (1635), The Gentleman of Venice (1639) und The Court Secret (1642). Shirleys Tragödien verharren in der durch Webster, Tourneur, Massinger und Ford vertraut gemachten Welt ungewöhnlicher Verbrechen, in der Lust, Rache, Gift und Inzest zu den schon erwarteten Motiven gehören. In The Maid's Revenge (1626) führt die Eifersucht zweier Schwestern, die denselben Mann lieben, zu Mord und Selbstmord, in Love's Cruelty (1631) reißt Clarianas zügellose Sinnlichkeit Verführer und Gatten mit ins Verderben, und den zum eigenen Untergang führenden Ehrgeiz zeigt The Traitor (1631) in italienischer und The Politician (ca. 1639) in norwegischer Umwelt. Maßlose Herrschsucht ist auch der Vorwurf der wohl letzten Tragödie Shirleys, The Cardinal (1641), zweifellos inspiriert durch die Karriere Richelieus, aber auch durch das Drama Websters: der Titelheld will die Herzogin in seine Macht bekommen, indem er sie mit seinem Neffen verheiratet, und als das fehlschlägt, sie vergewaltigen und vergiften will, wodurch er selbst fällt. Gerade die zahlreichen Anleihen bei der elisabethanischen und jakobäischen Tragödie machen freilich deutlich, daß der eigentliche tragische Impetus und die provozierende Dynamik der Auseinandersetzung mit dem Bösen verlorengegangen sind und oft nur mehr bewährte Konventionen routiniert weitergesponnen werden.

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Die Beliebtheit der Schreckenstragödien blieb weiterhin groß. Die oft aus der antiken Geschichte geholten, mehr oder weniger bekannten Stoffe wie yVm>16 (anonym, 1624) oder Thomas Mays Julia Agrippina, Empress of Rome17 (1628) wurden durch immer fremdartigere ersetzt. Der Höfling Sir John Suckling18 (1609-42) wählte Persien (Aglaura, 1637) und Polen (Brennoralt, or The Discontented Colonel, 1639-41) als Schauplatz, und Sir William Davenant19 (1606-68) griff zur wenig bekannten Geschichte der Langobarden für seine Tragödien Albovine, King of the Lombards (1626-29) und The Unfortunate Lovers (1638), in denen bereits der Übergang zur heroischen Tragödie der Restaurationszeit vorbereitet ist. Ähnlich sichtbar ist die Verbindung zum Restaurationstheater in der Komödie, wie etwa in den Stücken von Lodowick Carlell (1602-75), The Deserving Favourite20 (1622-29), Robert Davenport21, The City Nightcap (1624), Thomas Killigrew (1612-83), The Parson's Wedding (1640-41), und besonders William Davenant, The Platonic Lovers (1635) und The Wits (1634). All diese Stücke machen deutlich, daß vom Theater keine wirklich intellektuelle und phantasieanregende Kraft mehr ausging und der lebendige Kontakt mit dem volkstümlichen Publikum verlorengegangen war. Nur dadurch wurde auch der Sieg puritanischer Theaterfeindlichkeit möglich, der sich in dem drastischen Parlamentsbeschluß von 1642 manifestierte. Unter Hinweis auf den zerrütteten Zustand des vom Bürgerkrieg bedrohten Landes wurde die Schließung aller Theater und ein Verbot jeglicher öffentlicher Aufführung verfügt. Damit wurde eine in der Geschichte des Welttheaters kaum je erreichte Produktion, die innerhalb eines halben Jahrhunderts weit über tausend Dramen hervorgebracht hatte, brüsk angehalten. Die erstaunliche Fähigkeit des Renaissancedramas zum erregenden Experiment, seine geistige und poetische Potenz, waren freilich bereits früher erschöpft, und es ist fraglich, ob die Schließung der Theater wirklich einen entscheidenden Schaden für die dramatische Literatur bedeutete. Die dramatische Produktion kam zwar nicht völlig zum Erliegen, blieb aber achtzehn Jahre lang auf bescheidenere Anlässe und geschlossene Aufführungen beschränkt, bis 1660 mit der Restauration ein neues Drama vor einem neuen Publikum begann.

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ed. H. P. Hörne, MS (1888). ed. F. E. Schmid, Bangs Materialien, 43 (1914). 18 ed. W. C. Hazlitt, 2 Bde. (1892); ed. A. H. Thomson (1910; repr. 1964); The Plays, ed. A. Beaurline, OET (1971); Poems and Letters, ed. H. Berry (1960). 19 Dramatic Works, edd. J. Maidment and W. H. Logan, 5 Bde. (Edinb., 1872-74; repr. 1964). 20 ed. C. H. Gray (Diss. Chicago, 1905). 21 ed. A H . Bullen (1890). 17

VIERTES BUCH

DIE ZEIT DES BAROCK

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LITERATUR B i b l i o g r a p h i e : Für das frühe 17. Jh. s. die Renaissance-Bibliographie. English Literature 1660-1800, jährl. Übersicht in der Zeitschrift PQ; in Buchform, edd. R. S. Crane et al. (Princeton, 1950ff.). G e s c h i c h t e : G. M. Trevelyan, England under the Stuarts (1904 u. ö.); G. Davies, The Early Stuarts 1603-1660 (Oxf., 21959); G. N. Clark, The Later Stuarts 1660-1714 (Oxf., 2 1956); C. Hill, The Century of Revolution 1603-1714 (Edinb., 1961, 21980); ders., God's Englishman: Oliver Cromwell and the English Revolution (N. Y., 1970); D. Ogg, England in the Reign of Charles II, 2 Bde. (Oxf., 21956); M. P. Ashley, England in the 17th Century (Harmondsworth, 1952 u. ö.) [Pelican History of England, Bd. VI] (Einführung). K u l t u r - und G e i s t e s g e s c h i c h t e : G. N. Clark, The 17th Century (Oxf., 21947); R. W. Hart, English Life in the 17th Century (1970); J. R. Mulder, The Temple of the Mind: Education and Literary Taste in 17th Century England (N. Y., 1969); B. Willey, The 17th Century Background (1934); L. I. Bredvold, The Intellectual Milieu of John Dryden: Studies in Some Aspects of 17th Century Thought (Ann Arbor, 1934). L. B. Wright, The Cultural Life of the American Colonies 1607-1763 (N. Y., 1957); W. Haller, The Rise of Puritanism, or the Way to the New Jerusalem as Set Forth in Pulpit and Press, 1570-1643 (N. Y., 1938; pb. 1960); A. Simpson, Puritanism in Old and New England (Chicago, 1955; pb. 1961); L. Ziff, Puritanism in America: New Culture in a New World (N. Y., 1973); K. B. Murdock, Literature and Theology in Colonial New England (Cambr, Mass., 1949); P. Miller, The New England Mind: The Seventeenth Century (N. Y., 1939); ders., The New England Mind: From Colony to Province (Cambr., Mass., 1953) [beide Bde. als pb., 1961]; D. B. Rutman, American Puritanism: Faith and Practice (Philad., 1970); E. Elliot, Power and the Pulpit in Puritan New England (Princeton, 1975); U. Brumm, Die religiöse Typologie im amerikan. Denken (Leiden, 1963; übers, als American Thought and Religious Typology, New Brunswick, 1970); S. Bercovitch, The Puritan Origins of the American Self (New Haven, 1975). Forschungsbericht von U. Brumm, Puritanismus und Literatur in Amerika (Darmstadt, 1973). L i t e r a t u r g e s c h i c h t e : D. Bush, English Literature in the Earlier 17th Century (Oxf., 21962) [OHEL V]; J. Sutherland, English Literature of the Late 17th Century (Oxf., 1969) [OHEL VI]; English Poetry and Prose 1540-1674, ed. C. Ricks (1970), und English Drama to 1710, ed. ders. (1971) [Sphere History of Literature in the English Language, Bd. 2 u. 3]; From Donne to Marvell, ed. B. Ford, und From Dryden to Johnson, ed. ders. (Harmondsworth, 1956 u. 1957) [Pelican Guide to English Literature, Bd. Ill u. IV]; R. F. Jones et al., The 17th Century: Studies in the History of Thought and Literature from Bacon to Pope (1951); H. J. C. Grierson, Cross Currents in English Literature of the 17th Century (1929). - M. C. Tyler, A History of American Literature 1607-1765 (N. Y., 1878; repr. mit Tylers Randbemerkungen, Ithaca, 1949). A n t h o l o g i e n : The Literature of Renaissance England, edd. J. Hollander and F. Kermode, und The Restoration and the 18th Century, ed. M. Price (N. Y./Lo., 1973) [Oxf. Anthology of Engl. Lit.]; N. Ault, 17th Century Lyrics (21950); 17th Century Verse and Prose, ed. H. C. White (N. Y., 1971); The Later Renaissance in England: Nondramatic Verse and Prose, 1600-1660, ed. H. Baker (Boston, 1975); 17th Century English Prose, ed. D. Novarr (N. Y., 1967); 17th Century Prose: An Anthology, ed. B. Vickers (Harlow, 1969); British Dramatists from Dryden to Sheridan, edd. G. H. Nettleton and A. E. Case, rev. G. W. Stone (Boston, 1969). - The Literature of Early America, edd. B. Bur-

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Literatur

bank and J. B. Moore (Columbus, 1967); Colonial American Writing, ed. R. H. Pearce (N. Y., 21969); H. S. Jantz, The First Century of New England Verse (Worcester, Mass., 1944; repr. N. Y., 1962); 17th Century American Poetry, ed. H. T. Meserole (Garden City, 1968); Colonial American Poetry, ed. K. Silverman (N. Y., 1968).

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DER ZEITGESCHICHTLICHE HINTERGRUND Das 17. Jahrhundert ist eine Zeit des Übergangs. Eine solche Charakterisierung trifft natürlich in gewisser Weise auf jede Zeit zu, laufen doch in jeder Epoche herkömmliche und neue Tendenzen nebeneinander her. Das 17. Jahrhundert ist jedoch eine Übergangszeit in einem prägnanteren Sinne, insofern hier wesentliche Trennungslinien zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit verlaufen. Mit Douglas Bushs Worten: "In 1600 the educated Englishman's mind and world were more than half medieval; by 1660 they were more than half modern." Damit ist zugleich ausgedrückt, daß das 17. Jahrhundert nicht als eine Zeit der Aufspaltung von der „geschlossenen" Zeit der Renaissance geistesgeschichtlich abzusetzen ist; vielmehr vollzieht sich dieser Prozeß der Auflösung alter Ideen vor einem Hintergrund der Kontinuität und des Kompromisses. Politisch ist das 17. Jahrhundert, die Zeit der ersten beiden Stuarts, des Bürgerkrieges und der Puritanerherrschaft, der Restauration der Stuarts und der 'Glorious Revolution', ein Jahrhundert des Kampfes zwischen König und Parlament, der von der Tudor-Autokratie zum verfassungsmäßigen Königtum führt. Jakob I. (1603-1625), der Sohn der Maria Stuart, wurde bei seiner Thronbesteigung von der gesamten englischen Bevölkerung, von den Puritanern bis zu den Katholiken, mit den größten Hoffnungen begrüßt. Doch machte ihm schon bald die Pulververschwörung (1605) einiger katholischer Fanatiker eine tolerante Haltung gegenüber den Katholiken unmöglich, und er verfeindete sich ebenso mit den Puritanern. Der gelehrte Monarch, der starr am göttlichen Recht der Krone und des Episkopats festhielt, verstand nicht, daß sein widerspenstiges Parlament ein der Tudorherrschaft entwachsenes Land vertrat und daß in einer Kirchenkonferenz (von Hampton Court 1604) erzwungene Beschlüsse nicht imstande waren, die weitgreifende puritanische Gärung in seinem Volke zu unterdrücken. Was in Elisabeths Uniformitätsakte von 1564 noch möglich schien - die Zusammenfassung ganz Englands in eine einheitliche Staatskirche -, war jetzt gegenüber den zahlreichen Denominationen kalvinischer Färbung aussichtslos. Dieser Gegensatz verschärfte sich, da die Staatskirche, obwohl der Lehre nach so weit reformiert, daß sie den Gemäßigten unter den Puritanern entsprach, im Ritus den Zusammenhang mit der katholischen Vergangenheit betonte, weil die religiösen Symbole nun auch Zeichen staatlicher Macht darstellten. Das bedeutete aber im 17. Jahrhundert, als die großen gegenreformatorischen Anstrengungen Roms auch in England fühlbar wurden, eine erneute Annäherung an den Katholizismus, um so mehr, als die von Holland eindringende prädestinationsfeindliche Lehre des Arminius ein Überbrücken der Gegensätze zu ermöglichen schien. So betrachtete der auf dieser Grundlage aufbauende Anglokatholizismus, am mächtigsten unter Bischof Laud, die englische Kirche als eigentliche Fortführung der rechtgläubigen athanasianischen Kirche mit ihrem Glanz und ihrer Macht. In dieser Mittelstellung

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Viertes Buch: Die Zeit des Barock

konnte die englische Kirche die in ganz Europa feststellbaren katholisierenden Strömungen auffangen, so auch die Erneuerung der katholischen Mystik, die sich ebenso in Nicholas Ferrars1 protestantisch-klösterlicher Little Gidding-Gemeinde auswirkt wie in Father Richard Whites Celestial Fire2, Father Augustine Bakers Sancta Sophia* (1657) und im Leben der Gertrude More4 (1606-33), der Urenkelin von Thomas More. In dieser Mittelstellung konnte die Kirche auch den Autoritätsanspruch des Staates mit dem ihrigen vereinen. Das widersprach aber den puritanischen Ansichten von der Reformation und ihrer Auffassung der Kirche als einer rein geistigen und vom Staat unabhängigen Gemeinschaft. Jakobs Sohn Karl I. (1625-40 [1649]) fehlte überdies die politisch glückliche Hand, er stützte sich einseitig auf Bischof Laud, der 1633 Erzbischof von Canterbury wurde, und den Staatsmann Thomas Wentworth, Earl of Strafford, während das fünfte der von ihm berufenen Parlamente, das Long Parliament, mit der Grand Remonstrance revolutionäre Forderungen aufstellte. Das Verlangen, die Episkopalverfassung durch die presbyteriale zu ersetzen, wendete sich ebenso gegen die Kirche wie gegen die Krone. Obwohl der König Straf ford fallen ließ - er wurde 1641 hingerichtet -, verschärfte sich der Konflikt, und es kam 1642 zum Bürgerkrieg. Durch ihn wurde das Land weit mehr erschüttert als einst durch die Rosenkriege, da die politische Parteiung in Königstreue und Parlamentsanhänger von der religiösen Spaltung in ein bischöfliches und ein presbyterianisches Lager vielfach überschnitten war. Das Land war in nahezu gleiche Hälften geteilt: Der Norden, Wales und der Südwesten standen zu Karl; London, der Süden und Südosten zum Parlament. Der religiöse Glaubenseifer gab dem Cromwellschen Heer fanatische Kraft. Die Verschärfung des Prädestinationsgedankens und die Umwertung der guten Werke als Zeichen der Erwählung machten die Religion zur Sache des einzelnen und seiner Stellung zu Gott: Der einzelne hat den im Bibelwort mitgeteilten Willen Gottes wie einen Vertrag bis zum letzten zu erfüllen, und das einzige Hoffen seiner Seele gründet sich auf die ihr vielleicht bestimmte, unverdiente Gnade Gottes. Aber diese Gnadenlehre wirkte zugleich weltbejahend, da sie angesichts der von Gott gewollten Tatsachen Mut und sittliche Kraft verlieh. Wer gewahr wird, daß sein Wille mit dem göttlichen übereinstimmt, weiß sich als Werkzeug Gottes. Da auch der Nichterwählte durch Bekämpfung der Gegner Gottes im göttlichen Sinne wirken kann, so konnte die Religion zu einer nationalen Pflicht werden, die - das Recht und die Ratio für sich in Anspruch nehmend - gebot, anglikanische Staatskirche und Stuartkönigtum zu bekämpfen. 1

A. L. Maycock, N. F. of Little Gidding (1938); ders., Chronicles of Little Gidding (1954); B. Blackstone, The Ferrar Papers (Cambr., 1938). 2 ed. E. M. Green (1913). 3 ed. N. Sweeney (1876). - Biographie Bakers von A. Low (N. Y., 1970). 4 The Holy Practices of a Devine Lover, Paris 1657, ed. H. L. Fox (1909). - Biographie von H. Collins (1877).

Der zeitgeschichtliche Hintergrund

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Als die Siege Cromwells bei Marston Moor (1644) und Naseby (1645) des Königs Flucht und den Fall seines Stützpunktes Oxford herbeiführten, hatte sich bereits ein neuer Gegensatz innerhalb der Presbyterianer gebildet, deren linker Flügel durch die von Cromwell geführte Armee die Oberhand gewann (Siege bei Preston und Warrington über die Presbyterianer und Schotten). Die Independenten, die in freiwilligem Zusammenschluß zu örtlichen, sich unabhängig und selbständig verwaltenden Gemeinden die Verfassung der Urkirche anstrebten, gingen auch politisch zum Äußersten; sie betrieben die Verurteilung und Hinrichtung des Königs und gründeten eine Republik. In Briefen und Reden betonte der zum Lord Protector (1653-58) ernannte Cromwell5 die Göttlichkeit seines Auftrags, demzufolge er alle Aufstände mit harter Hand niederhielt, Irland und Schottland besiegte und durch kriegerische Auseinandersetzung mit Holland und Spanien die durch den Königsmord erschütterte Weltgeltung Englands wiederherstellte. Diese außenpolitische Festigung hatte keine innenpolitische Entsprechung. Cromwells militärische und staatsmännische Kraft hatte eine einheitliche Regierung erzwungen. Dem auf Verinnerlichung des religiösen Lebens ausgehenden Puritanismus mit seinem unverwirklichten Milleniumstraum der „Heiligen" unter General Monk war es indessen nicht gelungen, ein der Kalvinischen 'Institutio Christiana' vergleichbares Lehrgebäude zu schaffen. Infolge dieser mangelnden geistigen Einheit brach die Republik mit Cromwells Tod zusammen, und das von der Armee unter Führung von Monk berufene Parlament beschloß die Rückberufung der Stuarts. Die von 1660-1688 andauernde Restaurationsperiode war von den absolutistischen und katholisierenden Neigungen der beiden letzten Stuarts bestimmt. Schon unter Karl II. (1660-1685) wurde der protestantische Dissent durch Gesetze wie den Corporation Act (1661), den Uniformity Act (1662) und den Conventicle Act (1664) zurückgedrängt, und als Antwort auf die königliche Bevorzugung der Katholiken erzwang das Parlament eine Gesetzgebung, welche die Alleinherrschaft der Staatskirche wieder einführte. Um die gleiche Zeit bildeten sich im Parlament erste Anzeichen des Parteiensystems heraus. Von jetzt ab sprach man von Whigs und Tories. Als jedoch ein angeblich jesuitisches Komplott zur Rekatholisierung (der Popish Plot, 1678/9) die Gegensätze so zuspitzte, daß die Whigpartei unter Shaftesbury den katholischen Bruder des Königs von der Thronfolge ausschließen wollte, führte die Furcht vor einem Bürgerkrieg zu einem Umschwung der Stimmung zugunsten der Stuarts. So konnte Jakob II. (1685-1689) widerstandslos zur Regierung kommen, aber seine verfehlte Politik und offene Katholikenbegünstigung entfremdete ihm auch die Torypartei. Als im Juni 1688 Jakob II. ein Sohn geboren wurde (James Edward, später The Old Pretender' genannt), beriefen Tories und Whigs gemeinsam Wilhelm von Oranien, den Gemahl von Jakobs protestantischer Tochter Mary, Statthalter der Niederlan5

Writings and Speeches, edd. W. C. Abbot and C. D. Crane, 4 Bde. (Cambr., Mass., 1937-47).

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Viertes Buch: Die Zeit des Barock

de und Haupt der protestantischen Allianz gegen Ludwig XIV., auf den englischen Thron und ernannten ihn nach der Flucht Jakobs II. an den Hof von St. Germain zum König (1689-1702). Das ist die sog. 'Glorious Revolution' von 1688, die in der 'Declaration of Rights' die königliche Verbriefung erhielt. Damit hatte das Parlament ein ihm verantwortliches Königtum geschaffen und an die Stelle des alten Gottesgnadentums den modernen Verfassungsstaat gesetzt. Die Kunst, die in der Republik zurückstehen mußte, hatte in Karl I. einen verständigen Mäzen gehabt. Unter der katholisierenden Laudschule war die englische Gotik in Oxford neu belebt worden und an vielen Orten waren Profangebäude in der malerischen Außenarchitektur des elisabethanischen Mischstils entstanden. Der Waliser Architekt Inigo Jones (1572-1651) hatte Palladios Bauweise nach England gebracht. Er baute Kirchen (St. Paul's Coventgarden) und Schlösser (Wilton) und entwarf für Karl I. das riesig geplante Whitehallschloß, dessen Bankettsaal Rubens ausmalte. Unter der Regierung Karls II. führte Sir Christopher Wren (1632-1723), dem der Brand Londons im Jahr 1666 eine einzigartige städtebauliche Gelegenheit bot, diese italienischen Anregungen verpflichtete Architektur zum Höhepunkt. Die Vorstellungen des klassischen Tempels und der christlichen Kirche verbindend, schuf er die St. Pauls-Kathedrale (1675-1710) und 25 weitere Londoner Kirchen, sowie zahlreiche weltliche Bauten wie Greenwich und Chelsea Hospital und Kensington Palace. Er entwickelte eine ungeheure Bautätigkeit, die Vanbrugh und Chambers in klassizistischeren Bahnen fortführten. Auch die meist auf ausländische Künstler angewiesene Malerei fand Pflege, und in Henry Purcell (1658-95) erstand der englischen Musik ihr größter Komponist. Aber diese so hoch verehrte Kunst stand nicht mehr mitten im Leben; sie war sonntäglicher Schmuck geworden, getragen von einer Gesellschaft, die sich von der Masse des Volks bewußt absonderte. Das von den Puritanern verabscheute Book of Sports, das Jakob I. verkünden ließ (1618), hatte noch das ganze Volk im Auge mit seiner Empfehlung volkstümlicher und körperstählender Lustbarkeit; die alte Spiele erneuernden Cotswold Games (Annalia Dubrensia, or Celebration of Captain Robert Dover's Cotswold Games, 1636) waren bereits eine Veranstaltung der höfischen Gesellschaft, und die von Karl II. geförderte Nachahmung französischer Sitten wirkte herausfordernd auf das englische Bürgertum. Seit Henrietta Maria französische Mode und Gesellschaftsart an den Hof ihres Gatten Karls I. gebracht hatte, war Frankreich Vorbild geworden. Lucy Hay, die Countess of Carlisle, suchte den Geist des Hotel de Rambouillet zu übernehmen; diplomatische Intrigen wurden gesponnen, und Dichter wie W. Cartwright, Carew, Herrick, Suckling huldigten dem schöngeistigen Kreis. 1647 eröffnete die unter dem Dichternamen der Matchless Orinda bekannte Katharine Fowler einen empfindsame Freundschaft pflegenden bürgerlichen Salon, dem Cotterell, Taylor, H. Lawes und Samuel Cooper angehörten; und in dem Kreis der Margaret Cavendish, der Duchess of Newcastle, huldigte man dem Scudery-Vorbild der gelehrten Frau und trieb einen künstlichen Keuschheitskult. Mit der Restauration er-

Der zeitgeschichtliche Hintergrund

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fuhr dieser französelnde Ton eine Vergröberung zu einer Jagd nach Vergnügen und Genuß. Die Hofleute Karls II. hänselten die puritanischen Bürger und empörten sie durch unverhüllte Ausschweifungen. Aber trotz seines leichtfertigen Lebens war der König beliebt. Erst durch sein Erneuern der alten Ansprüche des Königtums kam es zu Reibungen mit dem Parlament. Ähnlich umwälzend wie die innenpolitische Entwicklung war die Entwicklung des philosophischen Denkens. Instauratio magna nannte FRANCIS BACON6 (1561-1626) sein philosophisches Werk, und in der Tat beginnt mit ihm eine neue Philosophie. Unter Aufgabe der alten Formen des Denkens suchte Bacons Novum Organum (1620) Naturerkenntnis, d. h. Erforschung der Ursachen und Kenntnis der die Körper regierenden Gesetze. Bacon war zwar kein großer Wissenschaftler; bahnbrechende Entdeckungen der Zeit, wie die von Galilei, des Begründers der mathematischen Naturwissenschaft, oder die seines eigenen Leibarztes William Harvey, des Entdeckers des Blutkreislaufs, haben ihn nicht einmal interessiert. Aber es ist Bacons Verdienst, dem Methodenproblem eine eingängige und populäre Prägung gegeben zu haben. Er sah seine wesentliche Aufgabe darin, Raum zu schaffen für eine von der Theologie unabhängige Wissenschaft, und er tat dies mit der spätmittelalterlichen Lehre von der doppelten Wahrheit. Die religiösen Wahrheiten blieben unangetastet, hier galt sogar das 'credo quia absurdum'. Aber Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Erkenntnis mußte die Erfahrung sein, von wo der Weg über die Untersuchung der Einzelfälle unter Vermeidung der „Trugbilder" durch Induktion zu allgemeinen Einsichten bzw. Gesetzen führt. Mit der auf Bacon sich gründenden „empiristischen" Methode der Beobachtung und mathematischen Begründung hat die gleichzeitige Naturwissenschaft Bacons Ziel, das in dem Wahlspruch „Wissen ist Macht" bündigen Ausdruck fand, in großartiger Weise verwirklicht. Man denke an Forscher wie den Mathematiker John Napier, der die Logarithmen erfand, den Chemiker Robert Boyle und vor allem an Isaac Newton (1643-1727) und an die 1660 gegründete naturwissenschaftliche Royal Society.7 Trotz der scheinbar noch orthodoxen Haltung Bacons inauguriert seine Philosophie jedoch bereits jenes Denken, das bald zum Determinismus und Materialismus führen sollte. THOMAS HoßBES8 (1588-1679), der Philosophie geradezu als Körperlehre bezeichnete, wollte auch geistige Tätigkeiten nur aus feinen Körperbewegungen bestehend erklären und stellte durch Hinzunahme der von Bacon vernachlässigten mathematischen Theorie als selbständigem, der Erfahrung gleichgestelltem Mittel der Naturforschung eine dem Galileischen System entsprechende Ordnung des dem Menschen zugänglichen Universums auf. 6

Works, edd. J. Spedding et al., 14 Bde. (1857-74; repr. Stuttgart-Bad Cannstatt, 1961-63); Novum Organum, ed. T. Fowler (Oxf., 1890); Übs., ed. F. H. Anderson (N. Y., 1960). - F. H. Anderson, F. B.: His Career and His Thought ( . ., 1962); J. Stephens, F. B. and the Style of Science (Chicago, 1975). S. auch S. 423, Anm. 34. 7 H. Lyons, The Royal Society 1660-1940 (Cambr., 1944). S. S. 433, Anm. 66. 8 S. S. 403, Anm. 25.

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Viertes Buch: Die Zeit des Barock

Gegen solche „mechanistische Psychologie" und den religiöse Fragen ausscheidenden „Materialismus" erhob die von religiöser Skepsis noch ferne Zeit heftigen Widerspruch. So wurde in der Schule der sogenannten Cambridger Platoniker (s. S. 419) die Einheit von Glauben und Wissen vertreten und der christliche Gott mittels der Plotinischen Emanationslehre wieder als höchste Spitze in diese Verstandeswelt eingeführt. So suchten Benjamin Whichcote (1609-83) und sein Schüler John Smith (1618-52) durch die stoischciceronianische Lehre von den eingeborenen Ideen die Religion als verstandesmäßige Angelegenheit und die geistige Existenz als die wirkliche zu erweisen, und Ralph Cudworth entwarf das True Intellectual System of the Universe9 (1678). Der Versuch, Philosophie und Religion zu einen, nahm mit der geforderten Verlegung des göttlichen Wissens in die menschliche Seele mystische Färbung an, wurde bei Henry Moore, dem nächst Cudworth bedeutendsten der Schule, zu einer Ficinosche Gedanken aufgreifenden Theosophie und bereitete der späteren protestantischen Mystik des von Jakob Böhme beeinflußten William Law (1686-1761) den Weg. Einen mittleren Weg zwischen den streitenden Religionen, Philosophien und Parteien erstrebte auch die Philosophie des Lord HERBERT OF CHERBURY (1583-1648), führte aber zu anderen Zielen. Sein Buch, mit dem für das Wollen der Zeit bezeichnenden Titel De veritate™ (Paris 1624), wurde ihm unter der Hand zu einer neuen Religionstheorie. Gerade weil bei ihm, wie bei den Cambridgern, die Religion im Mittelpunkt des Denkens stand, mußte das Erforschen des von der Vernunft als wahr Erkannten das allen religiösen Bekenntnissen Gemeinsame herausstellen. Indem er nämlich, wie alle Gegner der Erfahrungsphilosophie, angeborene Erkenntnisse annahm, wozu er das Dasein Gottes, die Pflicht seiner Verehrung und den Glauben an ein jenseitiges Leben rechnete, kam er zu der Annahme einer natürlichen Religion, deren wahres Wesen in den geschichtlichen Religionen durch Priestertrug verfälscht worden sei (De religione gentilium, 1645). Damit war Herbert aber vom Christentum der Cambridger Platoniker abgerückt und zum Begründer des sogenannten Deismus geworden, der das herrschende Glaubensbekenntnis der Aufklärungszeit wurde. Der eigentliche Philosoph dieser Zeit, der den Baconschen Empirismus mit der mathematischen Strenge Cartesianischen Denkens vereinte und somit vollendete, war JOHN LOCKE" (1632-1704). Sein mit klassischer Klarheit ge9

ed. J. Harrison, 3 Bde. (1845); Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1678 (StuttgartBad Cannstatt, 1964). 10 ed. G. Gawlick (Stuttgart-Bad Cannstatt, 1966); englische Übersetzung von M. H. Carre (Bristol, 1937). - R. D. Bedford, The Defence of Truth: H. of Cherbury and the 17th Century (Manchester, 1979). S. auch S. 376. "Works, 10 Bde. (1823; repr. Aalen, 1963); Philosophical Works, ed. J. A. St. John (31908); Essay, ed. A. C. Fräser, 2 Bde. (Oxf., 1894); EL; abbr. edn. A. S. PringlePattison (Oxf., 1924); L. on Politics, Religion and Education, ed. P. Laslett (N. Y., 1965). Correspondence, ed. E. S. Beer (Oxf., 1976 ff., i. E.). - M. Cranston, J. L.: A Biography (1957); D. J. O'Connor, J. L. (PB); E. Naert, L. (Paris, 1973); D. J. James, The Light of Reason: Hobbes, Locke, Bolingbroke (1949).

/. Lyrische und satirische Dichtung

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schriebener Essay concerning Human Understanding (1690) machte das Problem wie weit die Erkenntnisfähigkeit des Menschen reiche, zur philosophischen Grundfrage, während Bacon noch eine allumfassende Erkenntnis als möglich voraussetzte. Er löste die Frage durch Einsicht in den Ursprung unserer Vorstellungen, also psychologisch. Die eingeborenen Ideen lehnte er ab, betonte aber neben den äußeren, auf Sinneswahrnehmung beruhenden Erfahrungen ('sensations') die inneren, uns von den Vorstellungs-, Denk- und Willensvorgängen unterrichtenden 'reflections'. Das Zusammenwirken beider stelle die für den Menschen erreichbare Wahrheit dar, die demnach in der logischen Einsicht in die Verhältnisse der Vorstellungen untereinander sich erschöpft. Wir wissen nur von unseren Vorstellungen; ob sie mit den Gegenständen übereinstimmen, wissen wir nicht. Diese Lockesche Erkenntniskritik wie die gleichzeitig damit ausgesprochene und dann in England besonders gepflegte psychologische Lehre, die das Seelenleben als gesetzmäßige Bewegung einfacher Elemente auffaßt, entspricht der Rolle, die bei Newton die mechanistische Naturphilosophie spielt: beides sind Äußerungen der zur Herrschaft gekommenen Vernunft. Politisches Geschehen, religiöses Erleben und philosophisches Denken des 17. Jahrhunderts führten die das Renaissancezeitalter ablösende Neuzeit herauf; dies geschah in kämpf erfüllten und die Menschen bis ins Innerste aufwühlenden Auseinandersetzungen. Diese Erregung, mehr noch als das Nebeneinander des Verschiedenartigen ist kennzeichnend für die Literatur, die damit persönlicher wurde als je zuvor. Sie wurde überdies zum einzigen Sprachrohr der Nation, denn die im 17. Jahrhundert sich herausbildenden Einzelwissenschaften richten sich an ein eigenes, von dem Leserkreis der allgemeinen Literatur verschiedenes Fachpublikum. Newton spaltete die Naturwissenschaft von der Philosophie ab, und die Philosophie selbst, obgleich nun englisch geschrieben und oft in künstlerischer Art dargestellt, löste die im Mittelalter bestehende enge Bindung mit der allgemeinen Literatur. Um so mehr wurde die Dichtung mit philosophischem Stoff belastet.

I. L Y R I S C H E UND S A T I R I S C H E D I C H T U N G 1. Donne und die religiöse metaphysische Dichtung1 Der bereits erwähnte Einbruch des Gedanklichen äußerte sich besonders auffällig in der Dichtung John Donnes und seiner „Schule", die man nach Drydens und Dr. Johnsons Vorgang als 'metaphysical poets' zu bezeichnen und 1

Metaphysical Lyrics and Poems of the 17th Century, ed. H. J. C. Grierson (Oxf., 1921 u. o.);The Metaphysical Poets, ed. H. Gardner (PB). - P. Beer, An Introduction to the Metaphysical Poets (1972); G. Williamson, Six Metaphysical Poets: A Reader's Guide (N. Y., 1967); J. Bennett, Five Metaphysical Poets (Cambr., 1964); A. Esch, Englische religiöse Lyrik des 17. Jhs. (Tübingen, 1955); L. L. Martz, The Poetry of Meditation (New Haven, 21962); E. Miner, The Metaphysical Mode from Donne to

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von Ben Jonson und dem 'tribe of Ben' abzusetzen pflegt. Für die Zeitgenossen hingegen waren diese „Schulhäupter" keineswegs Gegenpole, sondern fügten sich ohne Schwierigkeit unter den gemeinsamen Oberbegriff 'strong lines', lehnten sie doch gleichermaßen den platonisierenden Idealismus und die melodiöse, ornamentale Sprache der Spensertradition ab und erstrebten präzise Gedankenentwicklung und eine harte, der Umgangssprache angenäherte Diktion. Bald wurden jedoch die Unterschiede zwischen den beiden Dichtern als wesentlicher empfunden, und als kennzeichnendes Element der Donneschen Kunst trat ein Merkmal in den Vordergrund, das für Jonsons „klassischen" Stil keine Bedeutung hatte: der 'wit'. Es handelt sich insbesondere um die sog. 'conceits', d. h. um Bilder und Vergleiche, die an zwei offensichtlich unvergleichbaren Gegenständen einen überraschenden Punkt der Gleichheit hervorkehren. Solche Concetti waren auch ein Hauptstilmittel der euphuistischen Literatur, aber während sie dort spielerisch und dekorativ verwendet wurden, bilden sie bei den 'Metaphysicals' - wenn Donne etwa die Zusammengehörigkeit der Liebenden mit dem scholastischen Begriff der nicht trennbaren 'forma' oder die Verbindung getrennter Liebender mit den beiden Schenkeln eines Zirkels vergleicht - ein essentielles Element der Struktur und enthüllen in der scheinbaren Ungleichheit eine unerwartete Gleichheit und Einheit, eine 'discordia concors'. In JOHN DoNNEs 2 (1572-1631) Satiren, Versepisteln und Liebesgedichten spielen die herkömmlichen Schmuckmittel und die mythologischen Bilder der Renaissance kaum eine Rolle und dienen eher der Parodie. An ihre Stelle treten entlegene Begriffe und Vorstellungen aus Philosophie, Theologie, Medizin, Alchimie und Folkloristik sowie, damit kontrastierend, aus dem Erfahrungsbereich des Alltags. Sie blieben, zusammen mit den Entdeckungsfahrten der Zeit und der 'mappa mundi', eine unerschöpfliche Quelle für die verblüffendsten Bilder und Vergleiche. In seinen Songs and Sonnets hat Donne Themen, Motive und Bilder der petrarkistischen Liebesdichtung übernommen, sie aber umgeformt und vor allem ironisiert, wobei die Skala von einer frivolen, witzigen oder zynischen Haltung zur Liebe bis hin zu einer tiefen Liebesmetaphysik reicht. Ein GeCowley (Princeton, 1969); J. H. Summers, The Heirs of Donne and Jonson (N. Y./Lo., 1970); 17th Century English Poetry: Modern Essays in Criticism, ed. W. R. Keast (21971). 2 The Poems of J. D., ed. H. J. C. Grierson, 2 Bde., OET (1912 u. ö.); The Complete Poetry of J. D., ed. J. T. Shawcross (Garden City, 1967); OSA, PB, EL; Complete Poetry and Selected Prose, ed, J. Hayward (21962). Elegies, Songs and Sonnets, ed. H. Gardner, OET (1965); The Songs and Sonets of J. D.: An Editio minor with Introduction and Explanatory Notes by T. Redpath (1956); Satires, Epigrams and Verse Letters, ed. W. Milgate, OET (1967); Epithalamions, Anniversaries, and Epicedes, ed. W. Milgate, OET (1978); Divine Poems, ed. H. Gardner, OET (21978). - R. C. Bald, J. D.: A Life (Oxf., 1970); J. B. Leishman, The Monarch of Wit (rev. edn. 1965); A. J. Smith, J. D.: The Songs and Sonets (1964); N. J. C. Andreasen, J. D.: Conservative Revolutionary (Princeton, 1967); W. Sanders, J. D.'s Poetry (1971); M. Roston, The Soul of Wit: A Study of J. D. (Oxf., 1974). Essential Articles for the Study of J. D.'s Poetry, ed. J. R. Roberts (Hamden, Conn., 1975). - Vgl. auch S. 410, Anm. 4.

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dicht wie The Flea wurde von den Zeitgenossen als ein Musterbeispiel von 'argutezza' geschätzt. In ihm warnt der Dichter die Geliebte, einen Floh, der ihrer beider Blut gesaugt hat und damit gleichsam ihr Hochzeitsbett geworden ist, zu töten, weil sie dann einen dreifachen Mord begehen würde. Sie möge sich vielmehr dem Geliebten hingeben, verliere sie dadurch doch nicht mehr, als ihr der Floh ohnehin genommen habe. Man hatte eine intellektuelle Freude daran, derartig absurde Vorstellungen bis in die letzten Konsequenzen zu verfolgen; man liebte die scharfsinnige, geistreiche Formulierung im Spiel und im Ernst, in der Unterhaltung, im Theater und auf der Kanzel. Viele der verwegen-kecken Liebesgedichte des jungen Donne gefallen sich in einer betont unkonventionellen Pose. In herausforderndem Spott verlacht er in Song: 'Goe, and catche a falling starre' das unwahre Liebesgetändel der Sonettdichter, und in Loves Growth bedenkt er den Renaissanceplatonismus mit der sarkastischen Bemerkung: "Love's not so pure, and abstract, as they use / To say, which have no Mistresse but their Muse." Wie Ovid spielt er mit dem Gedanken der Untreue und würzt Ovids frivole Sinnlichkeit noch durch die Zutat spitzfindiger und paradoxer Formulierungen (Womans Constancy, Confined Love, The Indifferent). Bitterer klingen manche der Elegies (l, 2, 4, 12), brutal Loves Alchymie, The Apparition und The Curse, andere zeigen grübelnde Niedergeschlagenheit (Twicknam Garden) und ein Baudelaire ähnliches Schattenspiel vor metaphysischem Hintergrund (A Nocturnall upon S. Lucies Day). In ihrer höchsten Form aber ist für Donne die Liebe ein Erleben, das Zeit und Raum transzendiert, ein Tor zum Absoluten. In der Liebesvereinigung schließen sich die Partner wie die Hemisphären zum Universum zusammen und werden zu einem sich selbst genügenden Kosmos. Dieses einer Neugeburt gleichkommende Erleben ist das Thema von Gedichten wie The Good-morrow, The Anniversarie und A Valediction: forbidding Mourning. The Extasie schildert den Vorgang einer solchen Vereinigung zweier Seelen zu einer nicht mehr der 'mutability' unterworfenen 'abier soule' und kehrt dabei nachdrücklich die Rolle der Physis hervor: „Loves mysteries in soules doe grow, / But yet the body is his booke." Diese auch in dem feingesponnenen Aire and Angels betonte Bedeutung der geschlechtlichen Beziehungen läßt selbst so kühn unmittelbare Gedichte wie The Sunne Rising oder The Canonization teilhaben an einer vorher ungekannten Weitung des Empfindens, und die einzigartigen Strophen des Dreame fassen selbst die unendlich scheinende Spanne von Liebeslust und Theologie in eins zusammen. Kennzeichnend für alle diese Gedichte ist die enge Verbindung von intensivem Denken und leidenschaftlichem Fühlen, die dramatische Spannung, die häufig mit einer überraschenden oder schockierenden Wendung einsetzende Eröffnung, die subtile und zugleich prosanahe Sprache, die eigenwillige Prosodie, die das Gegen- und Miteinander von natürlichem Sprechrhythmus und metrischem Akzent virtuos zu nutzen versteht. Diese Wesenszüge sind in gleicher Weise für die religiöse Dichtung bestimmend. Doch ebenso unverkennbar wie die Kontinuität zwischen weltlicher und religiöser Lyrik ist ihre Verschiedenheit; denn anders als in der Liebesdichtung, die das Verhältnis

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zweier auf derselben Ebene stehender Partner analysierte, steht hier das lyrische Ich einem wesensverschiedenen Partner und einer vorgegebenen Offenbarungswahrheit gegenüber, und nicht zufällig findet der Dichter zu den strengeren Formen des Sonetts, der Meditation und der Hymne. Donne, der durch Geburt und Erziehung dem katholischen Glauben verbunden war und erst gegen Ende des Jahrhunderts Anglikaner wurde, übernahm nicht ohne heftige Zweifel 1615 eine Pfarrstelle, in der er 1621 zum Dean of St. Paul's aufstieg. Die meisten seiner religiösen Gedichte entstanden bereits in dem Jahrzehnt vor seiner Ordination. Die wahrscheinlich 1607 oder 1608 geschriebenen sieben Sonette des La Corona-Zyk\\is sind der Liturgie und Gebetstradition der Kirche verpflichtete, auf einer dominikanischen Form des kleinen Rosenkranzes basierende Meditationen über die sieben Hauptstadien des Lebens Jesu von der Verkündigung bis zur Himmelfahrt. Die 19 Holy Sonnets, die in ihrer Mehrzahl von dem Menschen in seiner Stellung zwischen Sünde und Erlösung handeln, bestehen (wie erstmals Helen Gardner gezeigt hat) aus einer größeren Folge von zwölf im Jahre 1609 entstandenen Meditationen über Tod, Gericht und die vor dem Gericht bewahrende Liebe; eine kleinere Folge umfaßt vier zwischen 1609 und 1611 verfaßte 'Penitential Sonnets', während die restlichen drei Sonette, darunter das auf seine verstorbene Frau, später entstandene Einzelsonette sind. Donnes Holy Sonnets, unter denen sich so eindrucksvolle Beispiele finden wie Death be not proud, Batter my heart, What if this present were the world's last night, At the round earths imagin'd corners und This is my play es last scene, zeigen den nachhaltigen Einfluß der Meditationstechnik mit der Gliederung in 'composition of place' (der sinnlichen Vergegenwärtigung der Szene), 'analysis' (der Erfassung ihrer geistigen Bedeutung) und 'colloquy' (dem abschließenden Gespräch mit Gott). Es sind die ersten bedeutenden religiösen Sonette der englischen Literatur. Sie erreichen eine Dichte der Aussage, wie sie erst in den 'terrible sonnets' von G. M. Hopkins wieder begegnet. Die dem Gedenken an die frühverstorbene Tochter seines Patrons Sir Robert Drury gewidmeten längeren Meditationen der beiden Anniversaries (1611 und 1612, im heroischen Reimpaar) sind immer wieder als Beleg für die Erschütterung Donnes durch die neue Wissenschaft angeführt worden ('And new Philosophy calls all in doubt'). Aber so beunruhigend die das alte Weltbild in Frage stellenden neuen Entdeckungen auch waren, in der Meditation sind sie nur ein weiterer Beweis der ständig fortschreitenden Depravierung der Welt. Die kopernikanische Wende führte Donne nicht zu Skepsis oder Verzweiflung, sondern verwies ihn in einer Welt, die 'rotten at the heart' ist, umso nachdrücklicher auf die Wahrheit der Religion. Vollendung erreicht Donnes religiöse Lyrik in den drei Hymnen seiner letzten Jahre, vor allem der Hymne to God my God, in my sicknesse (71623), in welcher der vom Tod Gezeichnete gelassen seiner „Südwestpassage" entgegensieht. In dieser 'meditatio mortis' in schwerer Krankheit erscheinen in nuce ein letztes Mal die charakteristischen Kennzeichen der Donneschen Dichtung: die existentielle Betroffenheit, die Suche nach dem Bleibenden im

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Meer der Vergänglichkeit, die dramatische Intensität der Darstellung, die Vorliebe für weithergeholte Metaphern und Analogien, das Interesse an der zeitgenössischen Kosmologie und Geographie, an Reisen und Entdeckungen, an typologischer Bibelexegese und Legende. Aber über diese aus seiner früheren Dichtung bekannten Merkmale hinaus zeugt die Hymne auch, in dieser Reinheit erstmalig, von vertrauensvoller Gewißheit der Erlösung. Donnes religiöse Lyrik ist persönlichste Aussprache eines um Gott ringenden Menschen, und darauf gründet sich der Einfluß, den er auf alle religiösen Dichter seiner Zeit gehabt hat. GEORGE HERBERT3 (1593-1633) nahm die Nachfolge Donnes auf, aber er wandelte das Atonale seiner Versmusik in harmonischere Klänge. Hochmusikalisch, ein Meister der vielseitigen Strophenformen, gab er seinen meist kurzen Gedichten einen geschlossenen Aufbau. Das war möglich, weil er nicht Donnes Erregtheit teilte, sondern, das Gefühl in seiner Gewalt haltend, sich auf einen engeren Empfindungsbereich beschränkte. Er suchte Gott nicht durch spekulative Philosophie zu finden, sondern durch Annahme der Lehrmeinung der Kirche. Zwar hatte auch er eine Donne ähnliche Wandlung durchzumachen, denn dem Familienherkommen entsprechend - er war der jüngere Bruder des Staatsmanns und Philosophen Edward Lord Herbert of Cherbury - hatte er ursprünglich hohe Staatsstellen erstrebt. Aber er faßte bald den später in Jordan I erörterten Entschluß, religiöse Dichtung zu schreiben (die er 1633 in der Sammlung The Church, später The Temple genannt, zusammenfaßte) und ergriff die geistliche Laufbahn (1626), die ihn in die Pfarrei Bemerton bei Salisbury führte (1630). Das Symbol des Tempels bot Raum für die Behandlung der verschiedenartigsten Themen: für Gedichte über die Einrichtungen, Feste und Riten der Kirche, über die Heilige Schrift, die Trinität, den Heiligen Geist ebenso wie für Herberts eigene innere Kämpfe und seine Zwiesprache mit Gott. Die seine seelischen Konflikte schildernden Gedichte bilden den inneren Ring des Temple'. Herbert hatte leidenschaftlicheres Blut als die Lebensbeschreibung seines Freundes Walton wahrhaben will, und der Ausgleich von weltlichem Ehrgeiz und Priesteramt ist ihm nicht leicht geworden (Affliction; The Pearl). Welche Anziehung die versuchende Welt für ihn hatte, zeigt die von Humor berührte, zarte Schwermut des Quip ebenso wie die leidenschaftliche Auseinandersetzung des Collar. Der um die Entsagung geführte Kampf steht folglich im Mittelpunkt seines Dichtens, das so zu einer Psychologie seiner religiösen Erfahrung wurde. Die feine Analyse und den Niederschlag widerspruchsvoller Stimmungen, die Donne in der Liebesdichtung aufgebracht hatte, übertrug er auf die religiöse Lyrik. Und wenn auch der erschüt3

ed. F. E. Hutchinson, OET (21945; repr. 1953); EL, WC; Latin Poetry, edd. and tr. M. McCloskey and P. R. Murphy (Athens, 1965). - A. M. Charles, A Life of G. H. (Ithaca, 1977); R. Tuve, A Reading of G. H. (Chicago, 1952); J. H. Summers, G. H.: His Religion and his Art (1954); A. Stein, G. H.'s Lyrics (Baltimore, 1968); H. Vendler, The Poetry of G. H. (Cambr., Mass., 1975); S. Fish, The Living Temple: G. H. and Catechizing (Berkeley, 1978).

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ternde Zweifel Donnes fehlt, weil nicht das Ziel, sondern nur der irdische Geltungswert des Menschen schwankend und fragwürdig erscheint, so kannte er doch das Sündenbewußtsein und die Furcht der Unwürdigkeit (Reprisall; Churchlock and Key). Aber sowohl die Zwiesprache mit Gott in Dialogue wie mit der göttlichen Liebe in Love III enden mit völliger Befriedung; denn Gott ist ihm nicht furchtbar, sondern gütig (Discipline; Sighs and Grones). So kannte er den Frieden, aber mußte ihn immer wieder erringen, wie Aaron, eines seiner schönsten und bezeichnendsten Gedichte, zeigt. Die menschliche Unrast ist von Gott gewollt ( The Pulley), und in dem Ausdruck dieses steten Ringens um den inneren Frieden liegt der menschliche Reiz seines Dichtens. Dabei entgeht er der Gefahr einer nur das eigene Ich behandelnden Lyrik, weil der von Donne gelernte logische Grundriß seiner Gedichte allgemeineres Interesse beansprucht, und das Loskommen-wollen von den irdischen Dingen eine allgemeine religiöse Grundhaltung darstellt. So folgt auch der Herberts Person ferner Stehende seinem geistigen Ringen und erlebt den bei jedem Sieg erneuten Ausdruck der Freude (The Flower; Vertue; Life), der gelegentlich so himmlisch strahlend ausbricht wie bei Vaughan (Easter; Antiphon; Church Mustek). Kaum ein anderer Dichter der Gruppe hatte ein so schlicht persönliches Verhältnis zu Gott, den er wie einen menschlichen Freund oder eine Geliebte anredete (Unkindnesse; Dulnesse), daß er selbst dem Humor in die religiöse Dichtung Eingang gewähren konnte (Gratefulnesse) und einen einfach natürlichen Stil gerade in den allegorischen Gedichten anwandte (The Church-floore; Redemption; The World; Peace; Pilgrimage). Er spricht von den heiligen Dingen mit den vertrautesten Vergleichen, die der Geistliche den Pfarrkindern gegenüber gebraucht, und die unerwartete Alltäglichkeit seiner Bilder - er nennt den Frühling eine Schachtel, in der Parfüms verpackt sind, die tugendhafte Seele getrocknetes Bauholz und das Abendmahl einen Schmaus - ersetzt die gelehrte Seltsamkeit des Donneschen metaphysischen Stils. Der große Einfluß, den Herbert ausübte, erhellt daraus, daß RICHARD CRASHAw4 (1613-49), der am stärksten katholische der Gruppe, der als einziger auch den Übertritt zum römischen Katholizismus vollzog, seinen gesammelten Gedichten den Titel Steps to the Temple gab (1646 und, vermehrt, 1648).5 Auch Crashaw war Schüler Donnes, aber in der Gefühlshaltung ist er dessen Gegenbild. Die weltlichen Dichtungen, etwa Love's Horoscope und Wishes to his (supposed) Mistresse, breiteten über die conceits des metaphysischen Stils einen zartglitzernden Schleier; aus ihnen spricht nicht Leidenschaft, sondern das Bewußtwerden einer noch unbestimmten Gefühlsstimmung, die Wunsch4

Poems, English, Latin, and Greek, ed. L. C. Martin, OET (21957); The Complete Poetry, ed. G. W. Williams (Garden City, N. Y., 1970). - A. Warren, R. C.: A Study in Baroque Sensibility (Baton Rouge, 1939; repr. Ann Arbor, 1957); R. C. Wallerstein, R. C.: A Study in Style and Poetic Development (Madison, 1935; repr. 1959); R. T. Peterson, The Art of Ecstasy: Teresa, Bernini and C. (N. ., 1970). 5 Der postum edierte Bd. 'Carmen Deo Nostro' (1652) enthält nur die geistl. Gedichte (ebenfalls vermehrt).

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gedanken um eine bloß gedachte Frau spinnt und sinnlich empfundene Bilder in vollendete lyrische Musik auflöst. Ebenso spielerisch sind die aus der Cambridger Universitätszeit stammenden Epigrammata Sacra (1634). Sie erschöpfen sich im Suchen nach spitzfindigen Schlußwendungen und zeigen eine südlich anmutende Bildlichkeit - vgl. das Dornenkronenmotiv in Accipe (an agnoscis?) und das berühmte Kanahochzeit-Epigramm Unde rubor veslris -, wie sie in der Crashaw stark anregenden lateinischen Jesuitendichtung üblich war (vgl. 'Parnassus S. J.', Frankfurt 1654). Erst der 1643 in Cambridge wütende puritanische Bildersturm, der ihn seiner fellowship beraubte und in Ferrars Little Gidding Zuflucht suchen ließ, machte ihn seiner religiösen Veranlagung bewußt, um so mehr, als der früh Waise gewordene Dichter im Sehnen nach mütterlicher Güte bei Mary Collet, der „Mutter" von Little Gidding, wie später bei der Mutter Teresa, bei der heiligen Mutter der katholischen Kirche und bei der Gottesmutter beschützende Liebe fand. Diese von vornherein nicht grüblerisch zergliedernde, sondern kindlich hingebende und das Ich vergessen wollende religiöse Haltung fand in dem Magdalenengedicht The Weeper einen spätere Zeit befremdenden Ausdruck. Aber damals war die Zuflucht zum conceit das Natürliche; und im Bestreben, die wunderbarsten und überraschendsten Dinge über Magdalenas Tränen zu sagen, fügte Crashaw, von allen ihm entgegenkommenden Bildern verführt, einen förmlichen Rosenkranz von Epigrammen zu einer beliebig fortsetzbaren Kette zusammen. Solchen stets neu anhebenden Ansätzen mangelt die Achse, um die das Gedicht sich bewegen kann. Anstelle des logischen, das Ganze im Auge behaltenden Baus bei Donne ist hier die einzelne Strophe zur Einheit geworden, mit dem Ergebnis, daß oft blasse Strophen neben eindrucksvollen stehen und eine fortschreitende Entwicklung fehlt. Aber Crashaw wollte nicht nach Gedanken, sondern nach Empfindungsabsätzen gliedern. Ihm, dem Dichtung 'a sweet inebriated ecstasy' war, bedeutete das barock gehäufte Rankenwerk ein Mittel, den für den grenzenlosen religiösen Gehalt nötigen Grad der Aufnahmefähigkeit zu erzeugen. Ein nicht endenwollendes Gefühl läßt sich nicht in eine Form pressen, und die Übertreibungen, die hier von einem Meer der Tränen und in On the bleeding Wounds of our Lord nicht von Tropfen, sondern von Bächen, Strömen, Fluten Bluts sprechen, sollen das Rauschhafte des religiösen Gefühlssturms ausdrücken, wozu auch die üppige Rubenssche Farbigkeit diente mit den Lieblingsworten rot, purpur, Flamme (Our Lord in his Circumcision; Hymn in adoration of the Blessed Sacrament; Hope). Häufiger als diese heldisch brausende Bewegung findet sich die Murillowelt der Kinderheiligen, ein weiches Verwischen der Umrisse, eine ans Süßliche grenzende Anmut (Lieblingsworte 'sweet' und 'dear'), wofür die Madrigale der Hirten in der Hymne In the Holy Nativity ein Beispiel sind, oder, mit erotischer Beimischung, die Immaculatahymne On the Assumption (Hark, she is called. ..). Das Sinnliche bleibt auch bei den unter dem Einfluß spanischer Mystik geschriebenen Teresagedichten, so daß der Vergleich mit dem wollüstigen Hingegossensein des Berninischen Bildwerks naheliegt. Aber wie

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Crashaws Sospetto d'Herode-Übersetzung beseelter und vertiefter ist als das Marinosche Urbild, so erhebt die Zartheit und Innigkeit der Darstellung von Teresas Kinderwunsch, im Lande der Mauren zu sterben (Hymn to Saint Teresa), über irdischen Zwiespalt, und in der Aufzählung der Verzückungen entsteht der überwältigende Ausdruck vergeistigter Liebe, der in dem schwindelnden, flammenzitternden Aufsteigen der Bilder zum Schluß des Flaming Heart (ab Z. 93) eine noch gesteigerte Wiederholung findet. Diese für englische Dichtung neue Mystik bedingte eine neue Form. Religiöse Lyrik soll nicht mehr, wie Herbert es wollte, deuten, sondern verzücken; man vergleiche die Herbertsche Übersetzung des 23. Psalms (The God of Love.. .), die trotz volkstümlicher Schlichtheit die sinnspruchartige Strenge der Vorlage behält, mit der Crashaws (Happy me! O happy sheep!), die als musikalisch empfundene Festlichkeit ein Vorspiel zu Drydens Alexanderfest darstellt. Während Crashaw die Vorlage übersetzen will, zerfließt sie ihm und wird eigenes Erleben. Wie um einen cantus firmus kreisen die in Gedanken und Bilder umgesetzten Empfindungen des Dichters in den lateinischen Hymnenübersetzungen und oft lösen sie sich zu selbstständigem Flug von dem Urbild ab. So verläßt das nach einem lateinischen Gedicht von Strada geschriebene Musicks Duell die Vorlage zu einem eigenen Phantasieaufstieg (Zeile 54-104), der die Grenze zur Tonkunst überschreitet, ähnlich wie das lateinische Gedicht Bulla in den Bereich der Malerei übergreift. Solch rauschhafte Kunst, die in des Jesuiten ROBERT SOUTHWELL6 (1561-95) Gedichtsammlungen Maeoniae (mit dem von Ben Jonson geschätzten Burning Babe) und A Fourefold Meditation eine Vorstufe hat, gibt Crashaw eine Sonderstellung unter den metaphysischen Dichtern. Seine mystische Grundhaltung rückt ihn indessen nahe an HENRY VAUGHAN ? (1622-95). Auch hier hat Herbert als Erwecker gewirkt, denn Vaughans frühe Lyrik (gesammelt in den Bändchen Poems, 1646, und Olor Iscanus, 1647, erschienen 1651) ist, wie der gezierte Titel „Schwan vom (walisischen Flusse) Usk" verrät, ein Spiel mit überkommenem Dichtgut. Nur ab und zu bei Naturbeschreibungen fühlt man sich an den persönlichen Stil Donnes gemahnt (vgl. die beiden AmoretGedichte und die Rhapsodie). Der dritte Band aber, der zu Recht „Das aus dem Stein (= Herz) geschlagene Feuer" benannt ist (Silex Scintillans, 1650, II. Teil 1655), zeigt eine Dichtung anderer Art. Unter dem beherrschenden Einfluß Herberts und mit Übernahme von dessen Themen, Bildern, Metren und Inhalten ersteht trotzdem eine eigene religiöse Dichtung, denn sie ist Ausdruck eines neuen Erlebens, dessen äußere Gründe Krankheit, Bürgerkrieg und der Tod seines Bruders William gewesen sein mögen (vgl. Silence and stealth of days ...). Auf dem mühsamen Wege der Selbstvervollkomm6 7

Vgl. S. 391.

Works, ed. L. C. Martin, 2 Bde., OET (21957); Poetry and Selected Prose, ed. L. C. Martin, OSA (1963).- F.E. Hutchinson, H. V.: A Life and Interpretation (Oxf., 1947); E. C. Fettet, Of Paradise and Light: A Study of V.'s Silex Scintillans (Cambr., I960); R. A. Durr, The Mystical Poetry of H. V. (Cambr., Mass., 1962); K. Friedenreich, H. V., TEAS (Boston, 1978).

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nung, nicht rauschhaft wie Crashaw, erkämpfte er sich seinen Zugang zu Gott (vgl. die beiden Andachtsbände: Mount of Olives, 1652, und Flores Solitudinis, 1654). Wenn auch die Erfüllungserlebnisse Crashaws bei Vaughan Wunsch, Bitte und Flehen blieben und das Leben eine Pilgerfahrt, so hatte er doch, Herbert ähnlich, in der Beziehung zwischen Gott und Einzelseele das Grundthema für seine Dichtung gefunden. Strahlen göttlicher Liebe durchbrechen den Schleier zwischen Mensch und Himmelsheimat, und unter dem immer wiederkehrenden Sinnbild des Lichts erhellen strahlende Jubellieder sein nächtlich brütendes Sinnen (The Morning Watch; The Dawning; The Revival). Diese aus irdischem Dunkel aufgesandten Hymnen sind Antworten auf Botschaften aus der Lichtheimat, denn Vaughan, der sich in stetiger Betrachtung mühte wie ein Donne (vgl. As Time one day ...) oder Juan de la Cruz (vgl. The Night), ward eine metaphysische Erleuchtung zuteil. Sein stets der Natur aufgeschlossenes Gefühl gewahrte plötzlich die Entsprechungen der natürlichen Erscheinungen mit dem Leben der Seele. Diese mit der Wucht einer religiösen Erfahrung auf ihn einstürmende Erkenntnis (Regeneration) wurde der Leitgedanke seiner nunmehr wirklich metaphysischen Dichtung. Er sieht den Fall des Wassers und erlebt dieselbe Empfindung wie beim Sterben der Menschen. In bewußtem Weiterverfolgen dieser Entsprechungen wird der Kreislauf des Wassers Ausgang und Heimgang der Seelen zum Göttlichen, und die Reinheit des Wassers Sinnbild des Geistes, der das Ziel ist (The Waterfall). Er sieht das Abendlicht auf dem Hügel und erlebt den letzten Schein der jenseitigen Lichtheimat im Inneren des Einsamen, dem folglich der Tod das im Dunkel der Erde leuchtende Juwel der Verklärung wird (They are all gone into the world of light). Überall sieht er die Occult resemblances': in der Verpuppung der Raupen (Resurrection), der Fortdauer pflanzlichen Lebens im Winter (Hidden Flower) und dem Kreislauf allen Seins (Affliction). So wurde ihm die Natur ein Buch göttlicher Hieroglyphen (Rules and Lessons; The Tempest; The Constellation), und wie später Wordsworth wendete er den platonischen Gedanken eines der Geburt vorausgehenden Lebens zum sehnsüchtigen Erinnerungsbild seiner Kindheit (The Retreat; Childe-hood). Darüber hinaus erträumte er die Kindheit der Erde und des Christentums als eines Gott nahen goldenen Zeitalters, da Engel unter den Menschen wandelten und Himmel und Erde sich berührten (Corruption; Religion; The Dwelling Place; Isaacs Marriage). So wird es Aufgabe des Menschen, bewußt diese Gottverbundenheit mit der belebten und unbelebten Schöpfung anzustreben (Christ's Nativity; And do they so?. . .; Man); denn die Zeit ist flüchtig und das Leben eine von Gott geküßte Quickness. Dieser Gehalt ließ sich nicht in schulgerechte Formen bringen, und so entbehrt Vaughans Lyrik der Herbertschen meisterhaften Ordnung; und da er auf den Geist, nicht wie Crashaw auf das leidenschaftliche Fühlen baute, entbehrt seine Lyrik der gleichmäßig hochgespannten Eingebung, so daß oft einzelne leuchtende Strophen oder Zeilen in formlos zerdehnter Dichtung stehen. Wenn er aber das Göttliche fühlte, gelangen ihm unvergleichliche Bilder, wie die Anrufung der Ewigkeit als 'ring of pure and endless light' (The World).

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Der Mystik zugewandt war auch THOMAS TRAHERNE S (1636-74), der sich mit Vaughans Kindheitsgedichten berührt, aber außer dieser in seiner Kindheit erlebten Schau von Gott und Welt war weiterhin nur das diese Erfahrung bestätigende Bibelerlebnis für ihn bestimmend. Die meisten seiner Poems of Felicity und das dritte Buch der in Prosa abgefaßten Centuries of Meditation befassen sich mit dem Adam im Paradies gleichgesetzten, von der Sünde noch nicht gebrochenen Zustand der frühen Kindheit, die noch in mystischem Zusammenhang steht mit der göttlichen Welt. Dies dem Kind eigene Glückseligkeitserlebnis setzte er der höchsten Idee Platos gleich (Zyklus Infancy and Thoughts), und, berauscht von neuplatonischem Erleben, spricht er den Sinnendingen die Wirklichkeit ab. Die Preisgesänge auf die Glieder des menschlichen Körpers haben also sinnbildliche Bedeutung; diese sind Diener Gottes, gemäß der christlichen Vorstellung, die den Leib als Tempel des Heiligen Geistes ansieht. Aus der beherrschenden Stellung des Kindheitserlebnisses in Trahernes Weltanschauung ergibt sich die ethische Forderung, diesen Zustand durch frühes Bekanntwerden mit der göttlichen Welt zu pflegen, während das Sich-Zurechtfinden in der Wirklichkeit nebensächlich ist. Wenn das Licht der Kindheit durch den Umgang mit den Menschen erloschen ist, offenbart die Bibel dem Vereinsamten den Sinn der Welt (Centuries II). Der Zyklus der biblisch-kirchlichen Gedichte zeigt, daß die anlehnungsbedürftige Natur des Dichters der Kirche als Mittlerin bedurfte, deren Lehren er sich unterwarf. Mystisch ist nur das Dämmerlicht, in dem der Zyklus der romantisch phantastischen Gedichte das Kindheitserlebnis mit neuplatonischen Gedanken verflicht, aber es fehlt die innere Spannung eines Donne oder das Erlösungsbedürfnis Herberts. So haben seine Bilder- und Gleichnisketten wenig Glut und inneren Gehalt; die eintönigen Verse erinnern an das Lehrgedicht und sind künstlerisch unbedeutender als die in freien Rhythmen empfundene Prosa, die in Bewegtheit und leichtem Fluß einen Nachklang der Sprachkunst Jeremy Taylors darstellt (vgl. Centuries III, 3). Der letzte große Dichter dieses Stils ist ANDREW MARVELL9 (1621-1678), ein Mann der Mitte, der den gemäßigten Royalisten ebenso verbunden war wie den gemäßigten Puritanern. Er begann wie Donne mit Liebesgedichten, die meist in London vor 1650 entstanden, und hier enthüllt sich schon seine 8

Centuries, Poems, and Thanksgivings, ed. H. M. Margoliouth, 2 Bde., OET (1958); Christian Ethics, edd. G. R. Guffey and C. L. Marks (Ithaca, 1968); Poems, Centuries, and Three Thanksgivings, ed. A. Ridler (1965). - K. W. Salter, T. T: Mystic and Poet (1964); A. L. Clements, The Mystical Poetry of T. T. (Cambr., Mass., 1969); S. Stewart, The Expanded Voice: The Art of T. T. (San Marino, 1970). 'Poems and Letters, ed. H. M. Margoliouth, rev. P. Legouis, 2 Bde., OET (31971); Latin Poetry, transl. W. A. McQueen and K. A. Rockwell (Chapel Hill, N. C., 1964); The Rehearsal Transpos'd, ed. D. I. B. Smith (Oxf., 1971); The Complete Poems, ed. E. S. Donno (PB); Selected Poetry, ed. F. Kermode (1967). - P. Legouis, A. M.: Poet, Puritan, Patriot (Oxf., 21968); J. B. Leishman, The Art of M.'s Poetry (1966); A. E. Berthoff, The Resolved Soul: A Study of M.'s Major Poems (Princeton, 1970); R. Colie, My Ecchoing Song: A. M.'s Poetry of Criticism (Princeton, 1970); J. D. Hunt, A. M.: His Life and Writings (1978).

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starke Persönlichkeit. Fast tändelnd, zugleich aber ländlich frisch sind Gedichte wie The Gallerte und The Picture of little T[heophila] C[ornewall] in a Prospect of Flowers, das erste eine phantasievolle Steigerung des Gemeinplatzes, daß das Herz des Liebhabers das Bild der Geliebten berge, das andere eine Träumerei, die im Kinde bereits die Frau ahnt und mit leis sinnlicher Wehmut umspielt. Starke Leidenschaft dagegen spricht aus The Definition of Love und To his Coy Mistress. Die ganz in Donneschem Stil geschriebene und Donne ebenbürtige 'Definition' läßt das Herz mit den Worten des Hirnes reden, sein und der Geliebten Entferntsein den Himmelspolen vergleichen, die nur zu einer 'planisphere' zusammenstürzend zum Genuß ihrer Liebe kämen, oder den Parallelen, die nach mathematischen Gesetzen niemals zusammenlaufen. Das ist der metaphysische Stil, der Gefühl und Geist zusammenzwingt im wehmut- und humorberührten Bild, dessen unerwartete Seltsamkeit dem Alltäglichen einen geheimnisvollen Hintergrund schafft. Den Unterschied Donne gegenüber zeigt die Coy Mistress, eine Neuwendung des carpe diem-Themas mit den als Höhepunkt der metaphysischen Liebesdichtung anzusprechenden Zeilen über die fliehende Zeit; denn aller Gewalt der Sinne hingegeben, weiß der Dichter doch, daß schließlich die Kraft seines Geistes ihrer Herr wird. Ein gesundes Gleichmaß zeigt sich auch in der Form. Das Horazvorbild mildert die Härte der Donneschen Verse; Marvell glättet Donnes gewagte metrische Versuche und begrenzt dessen Strophenvielheit auf eine kleine Zahl, mit dem Achtsilbler, paarweise oder in vierzeilige Strophen geordnet, als Lieblingsversmaß. Sprache und Satzbau sind, wenn man von dem hohen Flug der Metaphern absieht, von ungezwungener Natürlichkeit. Mit diesen Mitteln konnte Marvell, der einzige Kalvinist unter den metaphysischen Lyrikern, eine seiner Haltung entsprechende religiöse Dichtung geben, deren enger Themenkreis sich in dem Gedichttitel ausspricht A Dialogue between the Resolved Soul and Created Pleasure. Vom Versmaßwechsel unterstützt, entwickelt sich die Wechselrede, die der Seele unwandelbare Entschlossenheit ebenso zum Ausdruck bringt wie die verführerische Anziehung der versuchenden Mächte. Selbst der mehr im Sinne mittelalterlicher Allegorik gehaltene Dialogue between the Soul and Body kennt die auch Donnes zweiten Anniversary durchziehende Beunruhigung der Erkenntnis durch die Sinnlichkeit. Aber die Strenge seines Puritanertums spricht sich wie Donne so Herbert gegenüber aus, wenn er in The Coronet allen weltlichen Schmuck, auch wenn er Gott dargebracht ist, so entschieden ablehnt, daß er im Grunde sein eigenes Dichten mit verurteilt. Seine starke Lebenskraft ließ ihn diese Folgerichtigkeit meiden, er hat sogar in viel sinnlicherer Weise als Vaughan die Natur als neuen Vorwurf in den Bereich der metaphysischen Dichtung gezogen. In den zwei Jahren 165052, die er als Hauslehrer in Nun Appleton, dem Landsitz des Lord Fairfax, verbrachte, schrieb er eine Reihe von Naturgedichten, die nicht wie John Denhams 'Cooper's Hill' (s. S. 383) die beschriebene Örtlichkeit zum Ausgangspunkt für Betrachtungen machen, sondern die Schönheiten der Natur

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selbst sprechen lassen (Upon the Hill and Grove at Billborow; Upon Appleton House}. Da ist die wirklich gesehene und bis zu den Einzelheiten der Bäume und Vogelstimmen genau beobachtete englische Hügellandschaft, die als idyllischer Zufluchtsort zum Sammeln der Gedanken, zu innerer Einkehr und Kontemplation einlädt, zugleich aber in ihrer saftigen Üppigkeit mit allen Sinnen erfühlt ist (The Garden). Mit den Mitteln des metaphysischen Stils weiß er die widersprechendsten Empfindungen zusammenzubringen und die Kluft zwischen Ernst und Lachen, zwischen Erhaben und Alltäglich zu überbrücken. Die zuerst verwirrende Eigentümlichkeit seiner Metaphern zeigt On a Drop of Dew, das in je 18 Zeilen die natürliche Erscheinung des von der Sonne zum Himmel gezogenen Taus und die übernatürliche der von Gott emporgehobenen Seele nebeneinanderstellt, dabei aber - die beiden Welten vertauschend - der Seele sinnliche und dem Tautropfen begriffliche Beiwörter leiht. Auch das Hirtengedicht der Witherschen Art erhält durch seine Natureinfühlung neuen Wert (Ametas and Testylis; Damon the Mower), und in Bermudas verknüpfte er das Bild der Natur mit puritanischem Freiheitsverlangen : Die vor der Gewaltherrschaft der Stuarts Geflohenen besingen die tropische Insel als das wiedergefundene Paradies. Diese politische Note bekommt die Oberhand in den Cromwellgedichten, von denen die von hoher Warte geschriebene Horatian Ode upon Cromwel's Return from Ireland (1650) in Stil und geistiger Haltung dem klassischen Vorbild ebenbürtig zur Seite steht, großartig auch im Ausblick, daß der vom Schicksal bestimmte Mann, solange er das Schwert führt, verdammt ist, es nie zur Ruhe zu legen (vgl. auch den First Anniversary, 1655, und die beste der Cromwell-Elegien, A Poem upon the Death of the Lord Protector). Nach 1667 schrieb Marvell außer der durch Reichtum und Farbigkeit des Wortschatzes auffälligen Prosa satirische Verse gegen den Hof, die handschriftlich umliefen. Diese nach dem Vorbild des Kavaliers Cleveland (s. S. 378) verfaßten Satiren sind nicht als Dichtung gemeint. Von der Gerechtigkeit seiner Sache überzeugt, suchte er ohne Abstufung jedes Reimpaar zu einem Angriff zuzuspitzen, am liebsten in vernichtender Nachahmung des Angegriffenen. Als Waller die Instructions to a Painter (1665) in ein Lob der Herrscherfamilie ausmünden ließ, wofür er bereits von Denham verspottet worden war, schrieb Marvell unter demselben Titel eine höhnende Satire. Alle diese gegen die Person und Politik des Königs gerichteten Satiren (Britannia and Raleigh; An Historical Poem; Dialogue between two Horses usw.) zeigen wenig vom Denken Marvells, sie beschränken sich auf Sittenzeichnung und wachsen sich gelegentlich zum Zeitbericht aus. Glühende Entrüstung, nackte Wirklichkeitsschilderung und lebendige Sprache gaben diesen Satiren trotz der angestrebten Geschlossenheit des Reimpaars eine grobe Wucht, der gegenüber die nur wenige Jahre später geschriebenen Satiren von John Oldham (1653-83) in blasse, klassische Welt entrückt scheinen (Satyrs upon the Jesuits, 1681, und, ganz literarisch, A Satyr upon a Woman; A Satyr concerning Poetry).

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In nur loser Verbindung können der Puritaner Wither und der königstreue Anglikaner Quarles hier angeschlossen werden. GEORGE WITHER ID (15881667) begann mit gegen den Hof Jakobs I. gerichteten Satiren Abuses stripl and whipt (1613), die, obwohl sie völlig unpersönlich gehalten waren, den Verfasser ins Gefängnis brachten. In der Haft verfaßte er fünf Hirtengedichte (The Shepherd's Hunting 1615), in denen er unter dem Namen Philarete Gespräche führt mit William Browne, dem Verfasser von 'Britannia's Pastorals', dessen Naturempfinden er teilt. Auch die anderen Jugendgedichte, die Pastoralelegie Fidelia und die Liebeslieder (1615 und 1619), haben trotz der herkömmlichen Einkleidung manch frischen Zug, besonders wenn er sich gegen das Liebesgeseufze der Sonettisten wendet (Shall I, wasting in despair ...). Solch gesunde Natürlichkeit und ihre Abwehrhaltung gegen alle Verkrampfung und Verkünstelung des Empfindens sind auch die Hauptvorzüge seines episch redseligen Hauptwerks Faire-Vertue, the Mistress of Phil' Arete (1622), worin trotz der Namengebung Tugendlieb und Tugendschön die Geliebte mit nicht endenwollender Körperbeschreibung in eine irdische Welt hineingestellt wird. Der nicht geringen Dichtbegabung Withers fehlte Kürze, Dichte, Formung. Diese Mängel ließen ihn die Unterschiede zwischen Satire und Predigt mißachten, und Wither's Motto: Nee habeo, nee careo, nee euro (1612), das den Verfasser erneut ins Gefängnis brachte, ihm aber eine große Leserschaft sicherte, leitet bereits über in die nun folgende, undichterische Zeit der puritanischen Streitschriften und frommen Gesänge. Sowohl die Gewissenspredigt seiner Erlebnisse während der Pestzeit (Britain's Remembrancer, 1628) wie die Hymnes and Songs of the Church (1623) und das geschwätzige Haleluiah (1641) zeigen eine allen Schmuckes beraubte, zur Prosa eingeebnete Sprache, die durch den Vers nur gehemmt erscheint. Da seine Andachtslyrik keinen Anklang fand und der Versuch einer Einverleibung in das öffentliche Gebetbuch fehlschlug, suchte er mit seinen Emblemes (1635) den Erfolg des Quarlesschen Modebuchs auszunutzen. Diesem FRANCIS QUARLES" (1592-1644), der bereits Bibeldichtungen (s. S. 390) mit den bezeichnenden Titeln A Feast for Wormes (1620), Hadassa (1621), Job Militant (1624) und Andachtslyrik in holpriger Metrik herausgebracht hatte (Sions Elegies, 1624, und Sions Sonets, 1625), war mit den Emblemes (1635) der größte Bucherfolg seiner Zeit zuteil geworden. An der Mode der nach dem Muster von Andrea Alciatis 'Emblematum über' (1531) verfaßten Emblembücher im 17. Jahrhundert hatte die niederländische Holzschnittkunst starken Anteil. So wurde die erste englische Sammlung A Choice of Emblemes von Geoffrey Whitney 1586 in Leyden gedruckt, und auch späterhin benutzte man häufig festländische Druckstöcke. Die Bilder waren 10

Poetry, ed. F. Sidgwick, 2 Bde. (1902); fast alle Werke repr. Spenser Society (1871-83); A Collection of Emblems (1635), ed. J. Horden, Scolar Press (repr. 1969). 11 Complete Works, ed. A. B. Grosart, 3 Bde., Chertsey Worthies' Libr. (Edinb., 1880 bis 81).- K.J. Höltgen, F. Q.: Meditativer Dichter, Emblematiker, Royalist. Eine biographische und kritische Studie (Tübingen, 1978). Vgl. R. Freeman, English Emblem Books (1948; repr. 1967).

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ebenso wichtig wie der darunterstehende Text; sie bedurften auch nicht einer ins einzelne gehenden Deutung. Dieser ursprüngliche Typus ist in England repräsentiert durch das genannte Buch von Whitney, durch Andrew Willets schulmeisterliche Sacrorum Emblematum Centuria Una (1592) und Henry Peachams thematisch vielseitige Minerva Britanna (1612). Eigentlich gehört auch Withers Sammlung noch zu diesem älteren Typus. Quarles brachte einen neuen, das Emblem mit devotionaler Dichtung verbindenden Typus nach England, für den die Hauptquellen zwei niederländische jesuitische Emblembücher waren (Pia Desideria [1624] von Hugo Herman und Typus Mundi [1627]). Quarles liebte, wie der Name seiner zweiten Sammlung Hieroglyphikes of the Life of Man (1638) andeutet, komplexe bildliche Darstellungen, die Anlaß zu allegorischer Ausdeutung boten. Seine Embleme setzten sich zusammen aus einem Motto (z. B. servire duobus), einem dies Motto verdeutlichenden Bild (Jäger mit Hund, der zwei Hasen fangen will) und daran angeknüpften Begleitversen, die in metapherngehäufter Sprache den über das Bild hinausgehenden Sinn und die Lehre des Emblems dem Leser einprägen. In der Nachfolge von Quarles steht CHRISTOPHER HARVEY12 (1597-1663), dessen erstes und bedeutendstes Buch The Synagogue (1640) sich im Untertitel mit Recht auf Herberts Temple' bezieht, mit dem es von Anfang an häufig zusammengebunden wurde. 1647 veröffentlichte er anonym die Emblematasammlung Schola Cordis, die recht eng der gleichnamigen Vorlage des niederländischen Jesuiten van Haeften folgt. In der amerikanischen Literatur der Zeit ist der bedeutendste Lyriker der 1668 nach Massachusetts ausgewanderte Geistliche und Arzt EDWARD TAYLOR '3 (ca. 1642-1729), dessen nicht zur Veröffentlichung bestimmte Gedichte erst Ende der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts entdeckt wurden. Stilistisch im durchgehenden Gebrauch von conceits, in der artistischen Verwendung rhetorischer Stilmittel und in der Verdeutlichung theologischer Begriffe durch Alltagsmetaphern - ist Taylors religiöse Dichtung ein später Nachklang der metaphysischen Schule, vor allem des auch bei Puritanern beliebten George Herbert. Sein ganzes Sinnen gilt der ungeheuren Kluft zwischen Gott und Mensch und der sie überbrückenden Liebe Christi. Der symphonisch angelegte Gedichtzyklus God's Determinations Touching His Elect ist eine eigenständige Variation des Themas von der Gnadenwahl und Pilgrim's Progress; das Kernstück ist eine lyrisch-dramatische Dialogfolge in der Art eines Morality Play, meisterhaft in der psychologisch-theologischen Kasuistik, abwechslungsreich in den metrischen und strophischen Formen, puritanisch in der Mischung volkstümlicher und biblischer Redewendungen und Bilder, und eindrucksvoll, wo er versucht, die Auftretenden - vor allem Christus und Satan - durch ihren Sprechton zu charakterisieren (Peace, peace, my Honey...). Von den kurzen Gedichten sind diejenigen am stärksten und ge12 13

Poems, ed. A. B. Grosart, Fuller Worthies' Libr. (1874). Poems, ed. D. E. Stanford (New Haven, 1960); E. T.'s Christographia, ed. N. S. Grabo (New Haven, 1962).- N. S. Grabo, E. T. (N. Y., 1961); W. J. Scheick, The Will and the Word: The Poetry of E. T. (Athens, 1974).

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schlossensten, in denen der Dichter sich auf die detaillierte Ausführung einer einzigen Metapher beschränkt (Huswifery; The Ebb and Flow). In einer anderen Tradition stehen die Preparatory Meditations, gedrängte, stilistisch hartgefügte Meditationen über Bibelstellen, vor allem aus dem Hohenlied Salomos, die der Vorbereitung Taylors auf seine Abendmahlspredigten dienten. In diesen Betrachtungen, die alle von dem Wunder der Vereinigung Gottes mit dem Menschen handeln, bewirkt die Leidenschaftlichkeit demütiger Hingabe an Christus eine unlösliche gegenseitige Durchdringung von theologischer Substanz und dichterischer Phantasie. Emblematik und Typologie verbinden die Meditationen mit den Metaphysicals, aber in bezeichnender Abwandlung der europäischen Vorbilder sind Taylors Metaphern und Concetti vorwiegend dem harten Alltag des Kolonistenlebens entnommen und dokumentieren die Eigenständigkeit des amerikanischen Barockdichters. Die bekannteste Dichterin vor der Entdeckung Taylors war die ebenfalls in England geborene ANNE BRADSTREET14 (ca. 1612-1672), die ISjährig mit ihrem Gatten Simon Bradstreet und ihrem Vater Thomas Dudley, dem Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, nach Amerika kam. Ihre Gedichtsammlung The Tenth Muse Lately Sprung Up In America (1650 in London veröffentlicht) spiegelt mit ihren didaktischen Reflexionen über Leben, Vergänglichkeit und Tod den Einfluß zeitgenössischer Vorbilder, insbesondere von Du Bartas. Eine zweite erweiterte Ausgabe erschien postum 1678 in Boston. In ihr finden sich die heute bevorzugten kurzen, persönlicheren Gedichte, in denen die Wirklichkeit des kolonialen Lebens und die Liebe der Dichterin zu ihrer Familie in schlichter, gewinnender Sprache Ausdruck gefunden haben.

2. Jonson, Herrick und die weltliche Dichtung Das Zurücktreten des metaphysischen Stils in der weltlichen Dichtung beruht auf dem Donne entgegenwirkenden formalen Einfluß BEN JoNSONs15 (1573-1637). Seine als Epigrams (1616) und Underwoods (1640) gesammelten Gedichte halten sich vorzugsweise an die festgefügten antiken Gattungen des inschriftartigen Sinngedichts und Epitaphiums sowie der Epistel und Ode. Klar im Ausdruck, gedrängt im Stil, erstrebte er das schöne Ebenmaß, das die Teile dem Ganzen unterordnet und der allzu dünnen Vergeistigung die klassische Diesseitswelt von Anakreon, Catull und Horaz entgegenstellt. Sein männlicher, mehr Kraft als Geschmeidigkeit besitzender Stil widerstrebte 14

The Works of A. B., ed. J. Hensley (Cambr., Mass., 1967). - J. K. Piercy, A. B. (N. Y., 1965); E. W. White, A. B., The Tenth Muse (N. Y., 1967); A. Stanford, A. B. (N. Y., 1976). 15 Works, s. S. 322, Anm. 2; Complete Poetry, ed. W. B. Hunter (N. Y., 1963); Complete Poems, ed. G. Parfitt (PB). B. J.'s Literary Criticism, ed. J. D. Redwine (Lincoln, 1970). - G. B. Johnston, B. J.: Poet (N. Y., 1945); W. Trimpi, B. J.'s Poems: A Study of the Plain Style (Stanford, 1962); J. G. Nichols, The Poetry of B. J. (1969).

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dem italienischen Einfluß der gekünstelten Sonette; er hatte wenig übrig für die elisabethanischen lyrischen Formen, und anstelle der kunstvollen Maße und Reimverschlingungen verwandte er die einfachen Metra der Reimpaare und Vierzeiler und zeigte den Weg zu den lyrischen Gattungen der Antike. Selbst in den Masken, die doch wesentlich auf Tanz und Musik gegründet waren, haben seine Lieder einen bemerkenswert festen Umriß (vgl. Slow, slow, fresh fount... und Queene and huntresse ... aus Cynthia's Revels); und die Liebeslyrik, die im CAam-Zyklus noch so prunkvolle Stücke wie See the Chariot ... zur Schau stellte, suchte mehr und mehr nach einem konkreten Inhalt, so daß man seiner Behauptung eines voraufgehenden Prosaentwurfs Glauben schenken darf. Berühmte Stücke wie Drink to me only ... und Still to be neat... sind Umsetzungen oder Übersetzungen einer Vorlage. So mußte sich Ben Jonson zum Epigramm hingezogen fühlen, dessen ursprüngliche Bedeutung als inschriftartiges Sinngedicht er gegenüber der Entartung zur spitzigen Erzählung verteidigte. Seine satirische Veranlagung neigte dabei Martial zu, dessen Sittenkritik er gröber, anständiger und weniger witzig auf seine Zeit übertrug, dessen Grabinschriften er gelegentlich sogar übertraf (Wouldst thou hear... und besonders Weep with me ...) und damit die im 17. Jahrhundert blühende Gattung der Epitaphien (Browne, Herrick) einleitete. Im allgemeinen brauchte seine etwas ungefüge Kraft mehr Raum als der Rahmen einer Inschrift ihm bot, und so weitete er sie aus zur Epistel, die er meisterhaft handhabte. Hier, wo unter der Huldigung in schönen Worten ein leichter Spott liegen darf, fand er auch den Frauen gegenüber den rechten Ton, wie die glänzenden Versbriefe an die Gräfinnen von Bedford ( This morning, timely ...) und Rutland (Whil'st that, for which ...) beweisen, und gab sich den Freunden gegenüber mit unbefangener Aufrichtigkeit (vgl. die Episteln an Seiden, auf Penshurst, an Wroth und an Drayton). Es ist bezeichnend für ihn, daß sein Epistelton das feine Lächeln der Horazischen Philosophie weniger gut nachbildete als die stoische Haltung; er mußte etwas Gewichtiges zu sagen haben. Ruhm, der über den Tod siegt, ist ein Thema für ihn, und nur durch gedankliche Belastung erreichen seine Elegien, allen voran die auf Shakespeare, würdige Größe (vgl. im guten wie im schlechten Sinne auch Though beauty be the mark ... und False world, good night...). Über das Geheimnis des Todes wußte er nichts zu sagen, auch die Ode To the Immortal Memorie of L. Cary and H. Morison, die das Todesthema auf das der Freundschaft verlagert, hat trotz der berühmten Strophen 'It is not growing like a tree' eine vornehmlich formgeschichtliche Bedeutung, denn hier ist erstmals das Pindarvorbild, wenn auch weitgehend das Dithyrambische durch das Gedankliche ersetzend, mit Strophe, Gegenstrophe und Epode (er nennt sie turn, counterturn und stand) nachgeformt und der Weg eröffnet, auf dem dann Cowley und Dryden weitergingen. Ist Ben Jonsons Dichten mehr formal von Einfluß gewesen, so ist die lyrische Dichtung ROBERT HERRiCKs 16 (1591-1674) auch in der inneren Hal16

ed. L. C. Martin, OET (1956); WC. - F. Delattre, R. H. (Paris, 1912); G. W. Scott, R. H. (1974); R. H. Deming, R. H.'s Poetry (The Hague, 1974); A. L. Deneef, This Poetick Liturgie: R. H.'s Ceremonial Mode (Durham, N. C., 1974).

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tung den antiken Mustern nahe. Er plünderte Horaz und Martial, doch fehlte ihm dazu das Jonsonsche Gewicht, und eine große Zahl seiner 1400 Gedichte umfassenden Sammlung Hesperides (1648) ist Spreu. Als Städter und leichter Genießer verwaltete er seine Pfarre in Devonshire wie ein heidnischer Priester. Er schrieb Hymnen an die Laren und To the Genius of the House und wußte von Gott nicht mehr als ein Kind. Niemals berührte ihn ein Hauch des Ewigen, kein Sündenbewußtsein quälte ihn, sein Glaubensbekenntnis hat die vertrauende Sicherheit des Kindes, das den Katechismus aufsagt (His Creed; Thanksgiving to God for his House). Kirchenlehre und -brauche nahm er unbesehen hin, und wenn je Niedergeschlagenheit eine persönliche Aussprache hervorrief, so klingt sie wie aus dem Munde eines heidnischen Flamen (His Letanie, to the Holy Spirit). So empfand er selbst seine religiöse Dichtung als sein eigentliches Leben nicht berührend und sonderte sie als 'Noble Numbers' von seiner übrigen Dichtung ab, die in ihrem absichtlichen Durcheinander die Vielfältigkeit der Lebensreize spiegelt. The Argument of his Book umreißt seine Themen, er ist der Sänger der menschlichen Freude, der Festlichkeiten und Genüsse und der schönen Außenseite der Dinge. Das Zurückgehen der metaphysischen Dichter auf die tieferen Gründe des Herzens und Geistes blieb ihm fremd, und sein 'carpe diem' zeigt schon im Titel den Abstand von Donne und Marvell (To the Virgins, to make much of Time). Dafür gelang es ihm, den Reiz des Augenblicks in kleine, flüchtig zarte Strophen zu bannen (To the Western Wind; To Electro), und mit kristallklaren Worten den feinsten Stimmungshauch in leicht klingenden Versen wiederzugeben. Auch im 17. Jahrhundert ist solche metrische Sicherheit im Verschlingen steigenden und fallenden Ganges und langer und kurzer Zeilen ungewöhnlich, und Stücke wie To Musique, to becalme his Fever; The Night-piece, to Julia; To Blossoms; To Daffodils usf. haben eine vollkommene Musik. Drei Gattungen pflegte er besonders: Epigramme, Trink- und Liebeslieder, ländliche Gedichte. Die Epigramme sind am schwächsten. Als gegensätzliche Zwischenstücke der ländlichen Dichtung gedacht, sind diese Bauerngeschichten in anstößiger Zuspitzung ein herabzerrendes Ausschreiben Martials, oft ohne Witz und ohne das breite Lachen eines Rabelais. Höher zu werten sind allerdings etwa 30 meist an Dichter - Fletcher, Hall, Denham, Seiden u. a. - gerichtete Freundschaftsstücke, die im Horaz-Ben Jonsonschen Stile den Dichterruhm betonen, und einige rührend zarte Grabschriften (Upon a Child that dyed). Dieselbe Weite des lyrischen Bereichs zeigen die Trinklieder, die vom derben Ton des Tinker's Song bis zum festlich-rauschenden Gesang in His farewell to Sack reichen, und die Liebesgedichte, die vom weit ausholenden Hochzeitslied (An Epithalamie to Sir Thomas Southwell) sich spannen zu den ganz kurzen Liedern, die das Eigentlichste und Beste der Herrickschen Kunst darstellen. Gelassen in der Haltung und der Leidenschaft fern, wertete er die Liebe, die ihn nur in den Finger stach (Love's play at push-pin), als ein anakreontisches Tändeln (To Oenone; To Diamene), das auch da, wo man weitere Möglichkeiten ahnt, einer verstandesmäßigen Führung nicht entgleitet (To Anthea; The mad Maid's Song). Mäd-

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chen sind ihm ein lyrischer Reiz wie ein Duft, eine Farbe (Love perfumes all parts); und wie er Blumen zu Frauen machte, die Hochzeit von Lilie und Rose besang oder The funeral Rites of the Rose beschrieb, so wand er die Geliebten zum Strauß (A Meditation for his Mistress) und malte aus Wirklichkeit und Einbildungskraft ein duftzartes Bild (The Parliament of Roses to Julia; The Weeping Cherry). Durchweg liegt mehr Erlebnis zugrunde, als Herrick wahrhaben will, und der Vorwurf der Künstlichkeit, der seiner Liebes- und seiner ländlichen Dichtung gegenüber erhoben wurde, gilt nur bedingt. Weil er von der idyllischen Landschaft ausgeht und als Städter den Reiz des Landes schildert, sah er in Devon nicht mehr als in den Gärten Londons. Ihn sprach nur das Schmuckhafte und Heitere an; dies ist jedoch wirklich empfunden. Er machte das ländliche Jahr zu einem Festreigen ( To Phyllis to Love and Live with him); im Aufputzen ländlicher Feste konnte er beredt werden, es gelangen ihm auch längere Gedichte (Corinna's going -Maying; The Hock-cart). Freischöpferisch ist seine Phantasie in den einzigartigen Märchenstücken, die Sommernachtstraum-Elfen in menschlichen Spielen zeigen (Oberon's Feast; Oberon's Palace). Derartiges lag außerhalb der Möglichkeiten Ben Jonsons, und man muß Herrick als dem selbständigsten der „Söhne Bens" eine Sonderstellung einräumen. Zu seiner Zeit aber war sein Werk wenig bekannt und trotz mancherlei Berührung mit der Kavalierslyrik ohne unmittelbaren Einfluß. Die Jonsonschule, wie sie sich bei den ernsten Kavalieren zeigt, ging andere Bahnen. Der Abstand den Elisabethanern gegenüber ist jedoch gleich groß; der geblümte Stil war abgetan, und an seine Stelle war eine Sprache getreten, die man den „neutralen" Stil genannt hat, weil er sich für Dichtung und Prosa gleich gut eignet. Bewußt oder unbewußt richtet man sich schon nach Regeln, die später die klassizistische Dichtung einengen sollten, man gab dem Begrifflichen mehr Raum, und auch im Versmaß verdrängte ein Streben zur Regelmäßigkeit und Glätte die frühere kühne Willkür. Unter diesen Gesichtspunkten kann Sir HENRY WorroN17 (1568-1639), dessen Leben Walton erzählte, der Schule eingereiht werden; denn seine Verse, deren bekannteste On his Mistress the Queen of Bohemia und Character of a Happy Life sind, zeigen den Übergang von der euphuistischen Dichtung zu der klassischen Gedrängtheit und geschliffenen Form, wie sie Jonson predigte. Nächst ihm ist als Übergang, diesmal aber von der Donneschule her, EDWARD, LORD HERBERT OF CHERBURY IS (1583-1648) zu nennen, mit dessen Dichtung der metaphysische Stil die naheliegende Wendung zur philosophischen Dichtung machte (vgl. S. 358). Den Beifall Jonsons hätten die heroischen Klänge der Grabschriften auf Sidney, Vere und Mrs. Boulstred gefunden, der glatte Fluß kurzer Gedichte von der Art der Tears flow no more ... und allenfalls auch die inhaltlich kühne Reimpaarsatire Elegy for the Prince; aber die Lord 17 18

Poems, ed. J. Hannah (1845). - L. P. Smith, Life and Letters, 2 Bde. (Oxf., 1907). Poems, ed. G. C. Moore Smith (Oxf., 1923); auch in Minor Poets of the 17th Century (zs. mit Suckling, Lovelace, Carew), EL.- M. M. Rossi, La vita, le opere, i tempi di E. H. de Cherbury, 3 Bde. (Firenze, 1947).

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Herbert ganz eigenen Dichtungen The first Meeting; Love's End und die Ode upon a Question wären ihm zu sehr im Geist und Stil der Donneschule gewesen. Spätere Kritik müßte eher das allzu Begriffliche bemängeln und das Fehlen der Leidenschaft eines Donne. Wenn er in der Ode upon a Question übrigens der ersten wirkungsvollen Verwendung der später von Tennyson gepflegten In memoriam-Strophe - eine auf den Ewigkeitswert der Liebe sich gründende Unsterblichkeitsforderung aufstellt oder in der Elegy over a Tomb den Gedanken der Vergänglichkeit mit den Fragen nach dem Sinn der Schönheit verwebt, so bleibt diese platonische Meditation, an dem hohen lyrischen Stand eines Spenser wie des 17. Jahrhunderts gemessen, als Philosophie kenntlich. Und doch bewegt Lord Herbert sich mühelos in der Mischwelt von Gedanken und Empfindungen. Er handhabt sicher die Kette logischer Schlußfolgerungen und die elliptische Ausdrucksweise, in der schneller Stimmungswechsel und das Spiel der Gegensätze sich begegnen. Was Donne geschaffen und später Browning wieder verwendete, hat er mit dichterischem Können gepflegt. Dieser Glanz fehlt der philosophischen Dichtung von Lucius GARY LORD FALKLAND19 (1610-43), von der nur die eine oder andere Grabschrift (z. B. auf die Countess of Huntingdon) lebendig geblieben ist. Er war mehr Denker und Politiker und fand volle Aussprache in dem 'convivium theologicum', das so bedeutende Männer wie den Juristen John Seiden, die Diplomaten Sandys und Digby und den Dichter Godolphin in seinem Landhaus in Great Tew (Oxfordshire) vereinigte. SIDNEY GoooLPHiN20 (1610-43), der wie sein Freund Falkland für die Sache des Königs sein Leben ließ, war das Dichtertum nur als eine Möglichkeit gegeben. Gelegentlich findet sich in seinem ungleichen und spärlichen Schaffen ein grüblerisch-frommes Gedicht (Lord when the wise men came from far), das, wie Herbert, aber ohne dessen Inbrunst, das Kinderland der einfachen Seelen sucht, oder ein Liebeslied, das wahres Empfinden platonisch umspielt (Noe more unto my thoughts appeare; Chris, it is not thy disdains). Aber die von der unruhigen Zeit abgerückte Stille seines ernsten, innerlichen Wesens fand keinen reinen dichterischen Ausdruck. Die meisten der Kavaliere waren nur nebenbei Dichter. Wenn James Graham, Marquis of Montrose21 (1612-50), in der Excellent New Ballad das Rittertum verherrlicht oder AURELIAN TowNSHEND22 (15837-1651?) in Love's Victory und Upon kinde and true Love alten Themen eine persönlich klingende Neuwendung gibt, so sind das Gelegenheitsdichtungen in den Pausen eines kriegerisch beschäftigten Lebens. Die Dichtung ist, wie später in der Restauration, als höfische Galanterie gewertet. Aber Townshend hat in seinen räsonierenden Versen, die elisabethanische Liedtradition mit metaphysischem Stil verbinden, einen eigenen, packenden Ton. 19

Poems, ed. A. B. Grosart (Miscellanies of The Fuller Worthies' Libr., Ill, 1871). - K. Weber, L. C, Second Viscount Falkland (Columbia Univ. Studies, N. Y., 1940); K. B. Murdock, The Sun at Noon (1939). 20 Poems, ed. W. Dighton (Oxf., 1931). 21 Poems, ed. J. L. Weir (1938). 22 Poems and Masques, ed. E. K. Chambers (Oxf., 1912).

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Gelegenheitsdichtung anderer Art, Waffe im politischen Kampf, sind die Satiren. Die Gattung geht zurück auf Bischof JOSEPH HALL23 (1574-1656), der einst in Virgidemiarum (1597/98) in Nachahmung Juvenals und Martials den Kleideraufwand, die gezierte Sprache und den falschen literarischen Geschmack der Gesellschaft seiner Zeit gegeißelt hatte. Hall war Lehrer und Prediger gewesen, und sein Gegner John Marston (The Scourge of Villanie, 1598) hatte in nicht viel anderer, wenn auch heftigerer Art alle und alles angegriffen und damit nur Eintönigkeit erreicht. JOHN CLEVELAND24 (1613-58) verschärfte den Ton durch leidenschaftlichen Parteigeist. Er schrieb politische Satiren (The Hue and Cry after Sir John Presbyter; The Rebel Scot); er benutzte zugkräftige, wenn auch heute nicht ohne weiteres verständliche Anspielungen, den überraschenden Witz des metaphysischen Stils und das zugespitzte, geschlossene Reimpaar zur Steigerung der Wirkung und rückte seine Person aus der zuschauenden Predigerstellung in den Parteikampf hinein. Diese persönlichen Züge haben die Spannung bis heute bewahrt, etwa in den humorvollen Sad Suit in a Petitionary Poem ... und The poor Cavalier in Memory of his old Suit, während sonst nur die unpolitische Dichtung Clevelands lebendig blieb. Alle diese Dichter standen auf der Seite des Königs und sahen im Hof ihren Mittelpunkt. Von dort ging auch die häufig schon an die Dichter der Restauration anklingende Liebeslyrik der Kavaliere25 aus, die THOMAS CAREW26 (1594/5-1640) einleitete. Er steht in der von Ben Jonson herkommenden klassischen Linie und berührt sich in Themen und Kunst mit Herrick. Die lateinischen Lyriker zum Vorbild nehmend (vgl. die horazischen Wendungen in Persuasions to Love}, verlieh er seinen gern mit klassischer Mythologie spielenden Liebesgedichten durch Auswägen der Teile und des Ganzen und logische Durchführung des Gedankens eine vollkommene Form {He that loves. ..; Ask me no more. . .; Know Celia since . . .; Sweetly breezing vernal air etc.). Diese den Geist der Kavaliere einführenden kleinen Gesellschaftsgedichte mit ihrer Waller vordeutenden sprachlichen Glätte, mit ihrer gelassenen Anmut und Eleganz spiegeln den Geschmack am Hof Karls L, auf dessen Anregung Carew auch die kunstreiche Maske Coelum Britannicum (s. S. 329) schrieb, sie bedingen aber auch ein Zurücktreten der Persönlichkeit und ermangeln des menschlichen Reizes der Selbstenthüllung. Vorwürfen wie On a Damask Rose sticking upon a Lady's Breast; The Toothache cured by a Kiss; A Mole in Celia 's Bosom geht nicht nur das Gewicht Jonsonschen Ernstes ab, sie verengen auch die Herricksche Lebenskraft zum ausschließlich gesellschaftlichen Liebesspiel. Die kunstvolle Ausmeißelung der Form bedingte 23

Collected Poems, ed. A. Davenport (Liverpool, 1949). - F. L. Huntley, Bishop J. H.: A Biographical and Critical Study (Cambr., 1979). 24 Poems, edd. B. Morris and E. Withington, OET (1966); Minor Poets of the Caroline Period, ed. G. Saintsbury, Bd. Ill (1921). - L. A. Jacobus, J. C, TEAS (Boston, 1975). 25 The Cavalier Poets, ed. R. Skelton (1970). 26 ed. R. Dunlap (Oxf., 1949); ed. A. Vincent (Muses' Libr., 1899). - E. I. Selig, The Flourishing Wreath: A Study of T. C.'s Poetry (New Haven, 1958).

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überdies eine gewisse Kälte, die nur gelegentlich durch sinnliche Leidenschaft aufgehoben wird (vgl. Now you have freely given. . .; I was foretold. . .; When ihou, poor Excommunicate}. Ein einziges Mal wagte er, ganz er selbst zu sein, in dem unverhüllt sinnlichen Gedicht The Rapture, das, wie der Song of Dalliance seines Zeitgenossen William Cartwright,27 mit der herausfordernden Kühnheit der Donneschen Elegien wetteifert. Dieser Vergleich hat seine innere Berechtigung, denn Carew, der eine Elegy upon the Death of Dr. Donne schrieb, gab sich darin als Bewunderer von dessen Eigenart zu erkennen und erstrebte eine Vereinigung von Donnes und Jonsons Stil. Die Episteln, von denen die an den Ovidübersetzer und Erneuerer des Reimpaars George Sandys hervorgehoben werden möge, haben nicht die gedankliche Kraft des Meisters Ben Jonson. Trotzdem steht Carew wegen der durchgehenden Formvollendung seines Werkes an der Spitze der Kavaliersdichtung, abgerückt von SIR JOHN SUCKLiNG 28 (1609-42), den Ben Jonsons klassische Sorgfalt wenig ansprach und der über die Mühe, mit der Carew seine Verse glättete, nur lachte. Seine meist liedhafte und von Henry Lawes vertonte Lyrik, in einem von Lustbarkeit und Kriegsdienst gehetzten Leben sorglos hingeschrieben, ist ungleich, aber oft von mitreißendem Schwung. Von Donne, den er verehrte, übernahm er Eigenschaften des Stils, aber ohne den metaphysischen Hintergrund, wofür die sogenannten Sonette das beste Beispiel sind (vgl. Oh, for some honest Lover's ghost... oder Of thee kind boy ...). Er wetteiferte auch erfolgreich mit der über Weiberlaunen und Untreue unbekümmert spottenden Art des 'Go and catch a falling star' in witzigen, frechen und lustigen Gedichten (Dost see how unregarded; Out upon it. ..; Why so pale and wan .. .; 'Tis now since I sat down). Der leichtlebige Frohsinn, das Tempo und der Klang machen diese Lieder, die meist Nichtigkeiten behandeln, blutvoller als die Carews. Der vorherrschend witzige Ton schloß besinnlichere Gedichte nicht aus (When dearest, I but think of thee), und zuweilen versuchte er sich auch mit Glück in getragener Tonart (Oh, that I were all soul), aber diese Seite seines Wesens, aus der sich Falklands Freundschaft erklärt, fand besseren Ausdruck in Abhandlungen wie dem Letter to Mr. Jermyn, dem Account of Religion by Reason und den mehr ritterliche Gesinnung als dramatische Kunst beweisenden Tragödien (s. S. 347) und Komödien (The Goblins, 1638). Für die Dichtung zählt nur der sorglose Lebensgenießer Suckling, das beweisen auch die witzig satirische Dichterversammlung A Session of the Poets (1637), in der er seine Brüder in Apoll durchhechelt, und die Herrick nahestehende Ballad of a Wedding, dieses einzigartige Epithalamium, das die große Hochzeit des Lord Broghill 1641 von einem Bauern erzählen läßt. Diese Kraft und Natürlichkeit, aber auch Carews formale Kunst fehlte dem als Musterbild des Kavaliers gefeierten RICHARD LovELACE29 (1618 bis 27

Plays and Poems, ed. G. B. Evans (Madison, 1951). The Works of Sir J. S.: The Non-Dramatic Works, ed. T. Clayton OET (1971). S. auch S. 347, Anm. 18. 29 Poems, ed. C. H. Wilkinson, OET (1930; repr. 1953). - M. Weidhorn, R. L. (N. Y., 1971). 28

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56/57), dessen wenige wirklich guten Gedichte in allen Blütenlesen wiederkehren (To Allheafrom Prison, und die zwei an Lucasta: Going to the Warres und Going beyond the Seas}. Hier spiegelt sich der Kavalier, der Liebe und Ehre in mannhafter Haltung zu einen wußte. Aber außer diesen ist wenig Wertvolles da; seine mühsamen Liebesgedichte an Lucasta (1649) mit ihren Carew nachgeahmten klassischen Anspielungen sind kalte Redekunst, und die Nachahmungen Donnes, wie schon der 'lux casta' bedeutende Titel andeutet, übernahmen nur das äußere Kleid des metaphysischen Stils (Ellinda's Glove; Lucasta's Muff; A Loose Saraband). Sein Werk als Ganzes kann sich nicht mit dem der anderen Kavaliere messen; am nächsten steht er WILLIAM HABINGTON30 (1605-64), der in seiner Sammlung Castara (1634) keusche, aber meist dünn geratene Gegenstücke zur herrschenden Liebesdichtung gab (To Roses in the Bosome of Castara) und in den vier Teilen: die Geliebte, die Gattin, der Freund, der Heilige auch in dichterischer Kraft ein Aufsteigen zum Religiösen andeutet, das ihm mehr lag (When I survey the bright...}. Die Donne und Jonson vereinigende Art der Kavaliere findet sich auch bei einer Reihe kleinerer Dichter, deren gelehrte Lebenshaltung die discordia concors des metaphysischen Stils mehr zur Sache des Worts als des Gefühls zu machen neigt. Zur ersten Generation dieser Lyriker gehören der Jurist John Hoskyns31 (1566-1638), der gelehrte Epiker Sir Francis Kynaston32 (1587-1642) und Bischof HENRY KING" (1592-1669), der mit Donne befreundet war, in Gedichten wie The Legacy; Silence; The Dirge des Meisters Art bewahrte und in der bedeutenden Elegie The Exequy, mehr als sonst bei der Donneschule üblich, das zugrundeliegende Erlebnis greifbar werden läßt. Die zweite Generation gruppierte sich um Lovelaces Vetter THOMAS STANLEY34 (1625-78), dessen King gegenüber vielseitigere, aber auch flachere Dichtung in kurzen Liebesliedern gipfelt, deren abgegriffene Themen (The Kiss; To Celia; The Repulse; La Belle Confidente} er poetisch zu wenden wußte mit einer Kunst, die der klassische Gelehrte bereits an der Übersetzung Theokrits, der 'Basia' und des 'Pervigilium Veneris' erprobt hatte. Diese Sicherheit der Form fehlte seinem Vetter Sir Edward Sherburne35 (1616-1702), dessen kleines Dichtwerk gleichfalls im Liebeslied die stärkste Seite hat (Chloris on thine eyes.. .; Love once, love ever), während John Hall36 (1627-56), der seine Gedichte Stanley widmete, außer weltlichen Stücken (The Call; An Epicurean Ode) auch religiöse von einiger Bedeutung schrieb (A Pastorall Hymne; Ode: 'Descend oh Lord'}. 30

Poems, ed. K. Allott (Liverpool, 1948). Life, Letters, and Writings, ed. L. B. Osborn (New Haven, 1937). 32 Minor Poets of the Caroline Period, ed. G. Saintsbury, Bd. II (1906). 33 ed. M. Crum (Oxf., 1965); Minor Poets of the Caroline Period, ed. G. Saintsbury, Bd. Ill (1921). - R. Berman, H. K. and the 17th Century (1964). 34 Poems and Translations, ed. G. M. Crump (Oxf., 1962). 35 Poems and Translations, ed. J. F. van Beeck (Assen, 1961). 36 Minor Poets of the Caroline Period, ed. G. Saintsbury, Bd. II (1906). 31

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3. Vorspiel des Klassizismus ABRAHAM COWLEY" (1618-67), dessen frühreife Dichterbegabung (Poetical Blossoms, 1633, und Sylva, 1636) durch Überwiegen des Verstandesmäßigen und formale Geschicklichkeit gekennzeichnet ist, veräußerlichte mit der Verengung des Erlebnisbereichs den metaphysischen Stil zur rhetorischen Mode. Seiner lyrischen und epischen Dichtung, der er sich nach einigen dramatischen Versuchen - einer lateinischen Komödie Naufragium joculare (1638) und zwei englischen, dem Pastoralspiel Love's Riddle (1638) und dem puritanerfeindlichen, 1663 als The Cutter of Coleman Street umgearbeiteten Guardian (1641) - ausschließlich zuwandte, wurde ein großer, aber schon zu Popes Zeit abflauender Erfolg zuteil. Man warf ihr bald Äußerlichkeit vor. In The Mistress (1647), einer Liebesgeschichte im Stil der Sonettfolgen, verwendete Cowley die herkömmliche entsagende Stimmung und platonische Philosophie nur als Stoff für geistreiche Erörterungen, und sein zergliederndes, auf psychologische Verallgemeinerungen ausgehendes Denken machte die gefeierte Dame nahezu körperlos. In ähnlicher Weise gibt das Gedicht Platonick Love nur einen schulmeisterlich abgezogenen Gedankengang der Donneschen Extasie; und Against Hope forderte durch die rein begriffliche Fassung Crashaws Answer for Hope heraus mit der gefühlsmäßigen Betonung der christlichen Hoffnung. Auch in den auf philosophische Einkleidung verzichtenden Liebesgedichten (z. B. The Spring) ist das Gefühl verkümmert und der Stil alles. Die conceits sind zur Verstandessprache abgeblaßt; der gedankliche Stoff wird in stetem Gegensatzspiel bis in seine kleinsten Verzweigungen zerlegt, aber es bleibt Rhetorik, die kaum zur Verdeutlichung beiträgt (The Change; Ode: Of Wit). Die geistige Beweglichkeit, die in unerwarteter Zusammenstellung geläufiger Bilder einen naturwissenschaftlichen Spürsinn verrät, und die Entschiedenheit, mit der die ganze Schöpfung nur in ihrer Beziehung zum Menschen gesehen ist, lassen Cowley als Sprecher der zukunftsreichen empirischen Philosophie erscheinen, als welcher er auch ein Huldigungsgedicht To the Royal Society schrieb. Als Dichter enthüllte er sich in den Elegien, namentlich in denen auf den Tod William Herveys und Crashaws, denn hier tritt zu der klaren, im Hin- und Herwenden der Begriffe funkelnden Sprache ein wahres, und im Zusammenklang seiner zwei großen Lebensideale Dichtung und Freundschaft leidenschaftliches Empfinden. Durchdrungen von der antiken, dem Dichter eine göttliche Aufgabe zuerkennenden Auffassung, suchte er nun die herkömmlichen Bahnen zu verlassen und veröffentlichte in den letzten beiden Sammlungen Miscellaneous Poems (1656) und Verses upon several Occasions (1663) ein Davidepos (s. S. 394) und eine Folge Pindaric Odes. Diese für die Odendichtung der Folgezeit38 bestimmenden "English Writings, ed. A. R. Waller, 2 Bde. (Cambr., 1905-6); Selected Poetry and Prose, ed. J. G. Taaffe ( . ., 1970); Essays, ed. A. B. Gough (Oxf., 1915), ed. J. R. Lumby, rev. A. Tilley (Cambr., 1923). - J. Loiseau, A. C.: sä vie, son oeuvre (Paris, 1931); A. H. Nethercot, A. C.: The Muse's Hannibal (N. ., 1967); R. B. Hinman, A. C.'s World of Order (Cambr., Mass., 1960); D. Trotter, The Poetry of A. C. (1979). 38 R. Shafer, The English Ode to 1660 (Princeton, 1918); G. N. Shuster, The English Ode from Milton to Keats (N. ., 1940).

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Oden bedeuten Jonson gegenüber einen Rückschritt; denn wie die Gelehrten der Renaissance mißverstand Cowley Horazens Beschreibung der Pindarischen Dithyramben als 'numeris lege solutis' und ahmte diese Regellosigkeit durch künstliche Unregelmäßigkeiten in Zeilenlänge und Reimverteilung nach. Die in The Praise of Pindar noch gemäßigte Formgebung steigerte sich zur Unübersichtlichkeit (etwa in To Dr. Scarborough) und wird ungenießbar, wenn sie sich mit den conceits verbindet, wie in der Ode Christ's Passion. Aber Cowley sah das Neue weniger in der Versform als in Stil und Ton; er wollte, wie er es in der Davideis mit dem Vergilischen Epos getan, auch die Pindarische Ode durch Anpassung an christliche Zwecke erneuern und ihren Geist in englischer Dichtung heimisch machen. Er erreichte das durch eine an Pindar anklingende, schwungvolle Rhetorik, deren Bilderflut die Phantasie ersetzte, die aber ihrem inneren Aufbau nach die logische Gliederung der lateinischen Vorbilder hat (vgl. Destinie; Resurrection). Im Grunde waren seine Oden eine letzte Auflehnung gegen die kommende klassizistische Richtung, sie standen auch Cowleys einer 'aurea mediocritas' zuneigenden Veranlagung entgegen, und die späteren, in die Essays (s. S. 433) Of Liberty und The Garden eingefügten Oden milderten den Sturm zu einer Art freier Rhythmen, die in unregelmäßigen Strophen das vier- und fünfhebige Grundmaß nur leise umspielen. Stärker als Cowley wurde EDMUND WALLER39 (1606-87) als Vorläufer des Klassizismus empfunden. Es mag sein, daß die französische Verbannung, die Waller wie die meisten dieser durchweg königlich gesinnten Dichter durchmachte, ihm stärkere Anregungen gab; er war mit St. Evremond befreundet und verkehrte viel in Pariser literarischen Kreisen. Sein Stil vertritt das neue Ideal der Angemessenheit und eines „vernünftigen" Geschmacks, demzufolge der Phantasie zugunsten des Begrenzten und verstandesmäßig Überschaubaren die Flügel beschnitten sind. Seine Dichtungen (Poems 1645, deren zweiter Teil nach seinem Tode erschien [1690]) sind zum kleineren Teil Lieder in einfachen Strophen, wie sie Carew liebte, aber ohne dessen Geziertheit (z. B. Go lovely Rose; On a Girdle; The Bud), überwiegend jedoch Gedichte in heroischen Reimpaaren. Sie erstreben in Aneignung des glatten Flusses der Fairfaxschen Tassoübersetzung stärker als zuvor die Zusammendrängung der Sätze oder Satzabschnitte auf jeweils ein Reimpaar (sogenannte 'end-stopped couplets'). Die sprachliche Fügung ist hier wie dort im Gegensatz zur Renaissance und metaphysischen Schule von bewußter Einfachheit, so wie es dem Umgangston in feiner Gesellschaft entsprach. Auch die Vorwürfe sind, wie in der Gesellschaftsdichtung der Kavaliere, höfischer Lebensart angepaßt, um den auf das Gefallen des Lesers ausgehenden Gelegenheitscharakter der Dichtungen zu betonen. Selbst die Wallers Liebesroman besingenden Sacharissagedichte, die 1635 handschriftlich umliefen und allgemeine Bewunderung fanden, sind völlig unpersönlich, und alles Gefühl ist unter der würdevollen 39

Poems, ed. G. Thorn-Drury, 2 Bde. (1905). - W. L. Chernaik, The Poetry of Limitation: A Study of E. W. (New Haven, 1968); A. W. Allison, Toward an Augustan Poetic: E. W.'s 'Reform' of English Poetry (Lexington, 1962).

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Vornehmheit des Verfassers verborgen. Da Waller auch bei den zahlreichen Huldigungen an hochstehende Personen nur selten ein großes Thema wählte etwa A Panegyric to my Lord Protector oder To the King, on his Navy -, so ergeben sich als etwas geschwätzige Vorstufen zu Drydens 'Annus Mirabilis' zeitungsartige Versberichte, wie es schon die Überschriften andeuten: Of his Majesty's receiving the news of the Duke of Buckingham's death; On St. James' Park, as lately improved by his Majesty; Upon his Majesty's Repairing of St. Paul's; Of the Danger his Majesty escaped in the Road at St. Andere. Hatte schon Waller die Vielzahl der metrischen Formen durch die Vorherrschaft des heroischen Reimpaars beschränkt und dabei die Lyrik durch episches Erzählen ersetzt, so brachte sein Schüler Sir JOHN DENHAM40 (1615-69) mit der Reimpaardichtung Cooper's Hill (1642) eine einflußreiche, noch für Popes 'Windsor Forest' tonangebende, halbepische Zwischengattung auf, die, von der Örtlichkeitsbeschreibung ausgehend, belehrende, geschichtliche, politische und moralische Betrachtungen einflicht, so wie sie anscheinend natürlich von den gesehenen Dingen hervorgerufen wurden. Dabei ist das etwas Weitschweifige der glatten Wallerschen Verse in so enge Grenzen zurückgeführt, daß jedes müßige Wort ausgeschlossen wurde, was, zusammengehend mit der geschickten Gruppierung der Gedanken um ein Hauptthema, das klassizistische Lob der „Kraft und des Urteils" im Denhamschen Dichten erklärt. Denham hat sein „Urteil" auch auf die kritische Bewertung der zeitgenössischen Literatur ausgedehnt. Wie Sir John Beaumont (1583-1627) mit seiner Schrift Concerning the True Form of English Poetry,4^ an die er auch metrisch anknüpfte, gab Denham eine förmliche Kunstlehre und Kritik in Versen. Seine Epistle to Sir Richard Fanshawe, den Übersetzer des Pastor Fido, enthält eine ars poetica des Übersetzens in so zugespitzten Reimpaaren, daß Pope sie ohne Änderung übernahm; und die in Achtsilblern abgefaßte Elegie On Mr. A. Cowley's Death ist im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit der englischen Dichtung, an deren Spitze Cowley wegen seiner klassischen Erneuerungsversuche gestellt wird.

4. Die Dichtung der Restaurationszeit42 Die in der Restaurationszeit zunehmende und dann in Popes Essay on Criticism gipfelnde Vorliebe für geschichtliche und kritische Auseinandersetzung mit der Dichtung43 bedeutete die Überwindung der Renaissancekritik. Da40

Poetical Works, ed. T. H. Banks (Hamden, Conn., 21969); B. O Hehir, Expans'd Hieroglyphics: A Study of Sir J. D.'s Coopers Hill with a Critical Edition of the Poem (Berkeley, 1969). - . Hehir, Harmony from Discords: A Life of Sir J. D. (Berkeley, 1968). 41 The Poems of Sir J. B., ed. A. B. Grosart (1869). 42 Restoration Carnival: Five Courtier Poets, ed. V. de S. Pinto (1954); The Penguin Book of Restoration Verse, ed. H. Love (Harmondsworth, 1968).- J. H. Wilson, The Court Wits of the Restoration: An Introduction (Princeton, 1948). 43 Die kritischen Abhandlungen in: Seventeenth Century Critical Essays, ed. J. E. Spingarn, 3 Bde. (Oxf., 1908-9; repr. Bloomington, 1957).

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mals hatte man in Form von Verteidigungen der Dichtung von moralischen Gesichtspunkten aus eine allgemeine oder philosophische Dichtlehre aufgestellt (was noch in Draytons Epistle of Poets and Poesy, 1619, und in Edmund Boltons Hypercritica, ca. 1621 [gedr. 1722], nachklingt), und nur als Beispiel Dichter und Dichtwerke besprochen, so wie es Francis Meres in seiner antike, italienische und englische Dichter vergleichenden Palladis Tatnia: Wits Treasury44 1598 tat. Jetzt trat die von Bacon im zweiten Buch des Advancement of Learning 1605 aufgestellte Forderung der geschichtlichen Betrachtung und einer zunächst noch philosophisch umkleideten künstlerischen Wertung in den Vordergrund. Damit war das Ziel von theoretischer zu angewandter Kritik verschoben, was die Hinwendung zu Horaz bedeutete. Aus geplanten Anmerkungen zur Ars Poetica entstanden die wegweisenden Gedanken Ben Jonsons (Timber, or Discoveries, 1640); auch Sir William Alexanders Anacrisis (1634) zeigt, trotz aller Verehrung Sidneys, Spuren des neuen Geschmacks. Die Grundlagen der neuen Dichtung erörterte Hobbes (s. S. 403) in seiner Vorrede zu Davenants Gondibert, auf die Davenant antwortete. Diese den Gehalt der Dichtung behandelnden Ausführungen ergänzten die Versbriefe Wallers an Jonson, Fletcher, Sandys, Suckling nach der handwerklichen Seite hin. Auch die Anmerkungen Cowleys zu seiner Davideis sowie die Vorrede zu den Poems (1656) bringen Erläuterungen dichtungstheoretischer Art. Dryden setzte das fort und schuf erste Muster wirklicher Literaturkritik. Der deutlich fühlbare Einfluß fanzösischer Vorbilder erreichte seinen Höhepunkt mit dem Erscheinen von Boileaus L'Art Poetique (1674), in dessen Nachfolge kritische Ausführungen in Versform üblich wurden. Dazu gehören die erwähnten Werke Denhams und die „Essays" On Satire (1680) und Upon Poetry (1682) von John Sheffield, Earl of Mulgrave45 (1648-1721). Wentworth Dillon, Earl of Roscommon46 (1633-85), der wie Denham einen Essay on Translated Verse schrieb (1684), veröffentlichte 1680 eine mit Anmerkungen versehene Blankversübersetzung der Horazischen Ars Poetica. Damit war Horaz als Wegweiser des richtigen Geschmacks aufgestellt; das Einfache, Klare, Verständliche wurde im Gegensatz zur geblümten Redeweise als stilistisches Ziel erklärt, Deutlichkeit wurde eine grundlegende Forderung, Beziehung der Glieder aufeinander und auf das Ganze eine künstlerische Notwendigkeit, und das Verstandesmäßige wurde zum Gesetz aller Dichtung erhoben. Aber die englischen Verskritiken der Restauration bewegten sich frei in diesen Regeln, denn vorerst war nicht die Aufstellung Boileau-Popescher Lehrsätze das Ziel, sondern ein lebendig geschautes Bild der Zeitgenossen. Wie Suckling in seiner Dichterversammlung (s. S. 379) plauderte Rochester in den Achtsilblern seines Trial of the Poets (1677) über dichtende Zeitgenossen, und die Allusion to the Tenth Satire of the First Book of Horace übertrug in glücklichster Weise das klassische Vorbild auf die zeitgenössischen Verhältnisse. 44

ed. D. C. Allen (N. Y., 1938). In Johnson-Chalmers, The English Poets, Bd. X. 46 ibid. Bd. VIII, Spingarn Bd. II.

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Die verstandesmäßige Bewertung der Dichtung, die auf der einen Seite eine Straffung der Form bewirkte, verdrängte anderseits echtes Gefühl zugunsten eines galanten Spiels. Schon die Titel der zahlreichen Liedersammlungen von An Antidote against Melancholy (1661) bis zu THOMAS D'URFEYs47 Pills to Purge Melancholy (1719/20) kennzeichnen die zierliche, mit sinnlichen Reizen spielende Rokokolyrik mit dem stets wiederholten Thema einer philosophisch aufgeputzten oder unverblümten Überredung zur Liebe. Es war guter Ton der Höflinge, sich darin zu versuchen; so fand ihre sittenlose Lebenshaltung in der Liebesdichtung ungehemmten Ausdruck. Viele derartige Gedichte, meist ungenannter Verfasser, sind später den Werken der drei bekanntesten Hofdichter Sackville, Sedley, Wilmot zugefügt worden und haben das Ansehen dieser höfischen Dichtschule im Urteil der Nachwelt herabgesetzt. Gewiß ist der Ton leichtfertiger, als es in der einst von Tottel (s. 248) zusammengestellten ersten Hofschule der Fall war, aber die Farbigkeit, Leidenschaft und Musik der Renaissance war der naturwissenschaftlichen Denkart der Restaurationszeit nicht mehr gemäß. Die Dichter hatten selbst das Bewußtsein, daß das wirkliche Leben den von ihnen weitergepflegten alten Ausdrucksformen nicht mehr entsprach, und CHARLES SACKVILLE, LORD BucKHURST,48 Earl of Dorset (1638-1706), betonte diesen Widerspruch in der gewagten Gattung der satirischen Lyrik (vgl. die gegen Lady Dorchester gerichteten Dorinda 's sparkling Wit, and Eyes ... und Tell me Dorinda, why so gay ...). Andererseits erschien das als künstliches Pastoral gestellte Gesellschaftsspiel der Liebe mit den als Amintas, Thirsis und Celia, Phillis verkleideten Höflingen und Ehrendamen der Restaurationszeit noch nicht einfältig und fade, und unter dieser Voraussetzung ist die Lieddichtung der höfischen Schule als vollkommene Kleinkunst anzusprechen. Manche der Sackvilleschen Lieder (To all you Ladies now at Land; Phillis for shame ...; May the ambitious ever find etc.) erinnern an das Beste von Suckling und Carew, wie auch der feingebildete, modische und unerschrockene Verfasser an den früheren Kavaliersgeist erinnert. Dieselbe Gabe, in der Selbstverständlichkeit des Gesprächstons sich epigrammatisch auszudrücken, vereinte Sir CHARLES SEDLEY49 (1639-1701) mit einer nur von Rochester geteilten Fähigkeit, den Liedton zu treffen. In der überzeugenden Schlichtheit eines Liedes wie Not, Celia, that I juster am fanden die Jonsonschen Bestrebungen schönste Erfüllung, und die metrische Erfindungskraft von Phillis is my only joy ... ließ die Musik eines Campion nochmals erklingen. Doch ist es keine bloße Wiederholung. Wenn der herkömmliche Schäfer mit seiner Schäferin Themen der Liebe, Ehre und Standhaftigkeit in zierlichen lyrischen Versen erörtert (Women can with pleasure feign ...), so erinnert diese verspielte Rokokokunst an Meißener Porzellan. An die Stelle der Renaissancefreude ist erlesene Künstlichkeit getreten, an die 47

The Songs, ed. C. L. Day (Cambr., Mass., 1933). In Johnson-Chalmers, The English Poets, Bd. VIII. - B. Harris, C. S. (Urbana, 1940). 49 The Poetical and Dramatic Works, ed. V. de S. Pinto, 2 Bde. (1928). - Ders., Sir C. S. (1927). 48

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Stelle lebhafter Kraft pastellartige Zartheit, lebensfern und rein schmückend. Diese Rokokokunst liebt den Reiz des nicht ganz Erlaubten und ist nie ganz ernsthaft. Deshalb gelingt die längere Vergilsche Ekloge nicht recht, und ein mit einem großen Bilde anhebendes Lied (Love still has somthing of the Sea) gleitet bald wieder zur Niedlichkeit ab. Aus diesem Halbernst entwickelte Sedley in spielerischer Verwendung der alten Formen, die später bei Prior und Gay als 'vers de societe' bezeichnete Gattung, wofür das Lied Phillis, this mighty Zeal asswage ... und der berühmte Knotting Song (The God of Love ...) kennzeichnende Beispiele sind. Bei dieser nach unten abgestimmten Dichtung ist die prosaische Grenze nahe; viele der Sedleyschen Lieder sind fade, von den dramatischen Versuchen zählen nur zwei Komödien (The Mulberry Garden, 1668, und Bellamira, 1687), und die lange Reimpaardichtung über die (unglückliche) Ehe, The Happy Pair, erhebt sich nur durch das Lady Winchilsea vordeutende Lob des ländlichen Lebens über den prosaischen Geist der Zeit. Künstlerisch gewichtiger und von einer stärkeren Persönlichkeit getragen ist das Dichten von JOHN WILMOT, EARL OF ROCHESTER50 (1647-80). Lieder wie As Chloris full of harmless Thoughts sind Watteauschen Bildern vergleichbar, denn der bunte Reigen ist von höherer Warte gesehen und zuweilen belächelt (Phillis be gentler, I advise ...). Oft decken die zarten Farben ein leidenschaftliches Empfinden (My dear Mistress has a Heart...), vergebliche Sehnsucht nach Gefühlserfüllung (Absent from thee, I languish still) und geben dem 'carpe diem' einen verzweifelten Unterton (All my past Life is mine no more). Der berüchtigte Sinnentaumel seines Lebens war nicht nur gedankenloses Mitmachen in ausschweifender Hofgesellschaft, sondern bewußter Versuch, die allgemeine Erschütterung der sittlichen Werte durch ein nur auf Lust gestelltes Leben brutal bloßzulegen. So kam weniger der feingebildete und unerschrockene Edelmann zu Wort als der unbekümmerte Genießer (etwa in dem Trinklied Vulcan contrive me such a Cup...). Aber der Genuß hat die elisabethanische Unschuld verloren, das kalte Licht der Hobbesschen Philosophie hat die früheren hochklingenden Ideale als „Namen des Nichts" enthüllt. Auch das Königsideal gilt nicht mehr. So entstehen die beißenden, im Stile Clevelands gehaltenen Satiren Rochesters gegen den König (Chaste, pious, prudent Charles the Second); aber des Satirikers Standpunkt ist nicht mehr fest, das ganze Treiben sieht er als gespenstigen Mummenschanz nach mathematischen Gesetzen sich bewegender Atomverbindungen, und in Vergottung des Nichts schreibt er die letzte metaphysische Satire Nothing! thou elder Brother ev'n to Shade! Die satirische Darstellung der nackten Wirklichkeit wurde so seine Aufgabe ( The Maim 'd Debauchee}, und diese Kehrseite des künstlichen Pastorais bot er gelassen dar. Wie eine Komödienszene läßt der Letter from Artemisia in the Town to Cloe in the Coun50

Collected Works, ed. J. Hay ward (1926); Poems, ed. V. de S. Pinto (21964); ed. D. M. Vieth (New Haven, 1968). Letters, ed. J. Treglown (Oxf., 1980). - V. de S. Pinto, Enthusiast in Wit: A Portrait of R. (21962); A. Righter, J. W., Earl of R. (1967); D. H. Griffin, Satires against Man: The Poems of R. (Berkeley, 1973).

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try den Eitelkeitsjahrmarkt sich selbst offenbaren. Schließlich zeigt sich die durch Sinnenrausch und Kunst nicht überdeckbare Enttäuschung seines Lebens in der großen Satyr against Mankind, dem deutlichsten Zeugnis der verlorenen Einheit von Leben und Kunst. So bahnte sich die Wendung an, die in den philosophisch-religiösen Gesprächen mit dem latitudinarischen Geistlichen Gilbert Burnet entschieden wurde und zur Bekehrung im Angesicht des Todes führte.51 Trotz aller Einwände, die von Zeitgenossen und Späteren gegen die höfische Schule erhoben wurden, sprach sie die Zeitstimmung echter und lebensvoller aus als die gleichzeitige, weniger anstößige Bürgerdichtung. Thomas Flatman52 (1637-88), dessen Poems and Songs (1674) nicht ganz erfolgreich einen zu den ernsten Todesgedanken passenden Stil suchen, und Nahum Täte (1652-1715), der in Poems on Several Occasions (1677) und Psalms in Metre (1696) schwermütigen Stimmungen nachhängt, bedeuten eine Dämpfung des lyrischen Tons und sind nur als moralisches Widerspiel der Adelsdichtung bedeutsam. Ihre Themen weisen allerdings in die Zukunft, in Richtung auf die tugendhaft-empfindsame Dichtung des 18. Jahrhunderts und die „Nachtgedanken" Youngs. Der eigentlich bürgerliche Vertreter seiner Zeit war SAMUEL BuTLER53 (1612-80), dessen komisch-satirisches Heldengedicht Hudibras (Teil I 1663, Teil II 1664, Teil III 1678) trotz äußerlich epischer Form ein planloses und nur durch die einheitliche Puritanerverhöhnung zusammengehaltenes Knüttelversgeplauder darstellt. Der presbyterianische Sir Hudibras reitet mit seinem independenten Knappen Ralpho von Abenteuer zu Abenteuer, und aus ihren fortwährenden Streitgesprächen und gegenseitigen Predigten ersteht ein die Kehrseite des „Reiches der Heiligen" enthüllendes Gesellschaftsbild, beißend, witzig, derb und durch die sprichwortknappen Prägungen der Reimpaare mit ihren hämmernden, unverschämten Reimen von aufreizender Wirkung. Dem philosophisch zerlegenden Geist der Zeit gemäß geht die Kritik über das unmittelbare Angriffsziel hinaus, und die mit scharfer psychologischer Analyse gesehenen Hauptpersonen werden ein Zerrspiegel der Menschheit. Am Hofe Karls II., wo man den Hudibras mehr als politische Flugschrift denn als Dichtung wertete, wurde er ein Lieblingsbuch; aber schon der Klassizismus stand ihm fremd gegenüber, und für eine spätere Zeit konnte dies zeitbedingte Werk nur als kulturgeschichtliches Bild Bedeutung haben.

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G. Burnet, Some Passages of the Life and Death of R. (1680). ed. G. Saintsbury, Minor Poets of the Caroline Period, Bd. Ill (1921). "Collected Works, edd. A. R. Waller and R. Lamar, 3 Bde. (Cambr., 1905-28); Hudibras, ed. J. Wilders, OET (1967); Prose Observations, ed. H. de Quehen, OET (1979); Characters, ed. C. W. Daves (Cleveland, 1970); Hudibras Parts I and II and Selected Other Writings, edd. J. Wilders and H. de Quehen (Oxf., 1973, pb.). - G. R. Wassermann, S. B., TEAS (Boston, 1976); E. A. Richards, Hudibras in the Burlesque Tradition (N. Y., 1937). 52

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II. DIE EPISCHE D I C H T U N G UND J O H N MILTON 1. Das religiöse Epos Die Renaissanceanschauungen über den Dichter und den Sinn der Dichtung blieben auch im 17. Jahrhundert gültig; da aber die früher allgemein verbindlichen politischen und religiösen Anschauungen durch eine fragende Wahrheitssuche abgelöst wurden, so mußte sich die hohe lebensdeutende Dichtung, insbesondere das Epos, mit diesen neuen Wahrheitsforderungen auseinandersetzen. Einer Zeit, die mit Henry Reynolds die Philosophen als die wahren Dichter erklärte und dichterische Wahrheit durch philosophische ersetzte, mußte auch Spensers Feenkönigin als lügenhaft erscheinen. Und eine das dichterische Bild nur als wesenlosen Schmuck des Gedankens wertende Sprachreform, wie sie später die Royal Society durch ihren Geschichtsschreiber Bischof Thomas Sprat1 verkünden ließ, machte auch die Ausdrucksform der Dichtung fragwürdig. So suchte man zur neuen Rechtfertigung der Dichtung „wahre" Stoffe, denen eigentlich prosaische Behandlung gemäßer wäre; man reimte Geschichte (Daniels Civil Wars und Draytons Battle of Agincourt),2 Topographie (Draytons Polyolbion), ja Anatomie (Phineas Fletchers Purple Island); und je begrifflicher der Stoff wurde, um so bildlicher wurde notgedrungen der Ausdruck, so daß die gereimte platonische Philosophie in Henry Mores Psychozoia und anderen seiner Philosophical Poems3 (1647) Spenserscher Sprachgebung noch gerade so nahe ist wie das mit größerem Recht und stärkerer dichterischer Kraft in Sir JOHN DAVIES' (1569-1626) Gedicht von der Unsterblichkeit der Seele (Nosce Teipsum,4 1599) der Fall war und auch in John Davies of Here fords5 (15657-1618) wenig späteren philosophischen und theologischen Dichtungen. Neue Wege wurden damit nicht eröffnet; das geschah durch das religiöse Epos, das schon deshalb in den Vordergrund treten mußte, weil der biblische Stoff für den der Ratio folgenden Philosophen ebenso gültig war wie für den gleichfalls der „Lügendichtung" feindlichen Puritaner und den der bildlichen Ausdrucksweise bedürfenden Dichter. Aber das religiöse Epos barg eine eigene Problematik, denn der religiöse Stoff widersprach der kriegerischen Haltung des antiken heroischen Gedichts, und der christliche Himmel konnte nicht wie der Olymp in die Handlung einbezogen werden. Da überdies die klassischen Stilmittel dem 1

S. S. 433, Anm. 66. S. S. 263 f. 3 Philosophical Poems, ed. G. Bullough (Manchester, 1931). S. auch S. 419, Anm. 26. 4 Works, ed. A. B. Grosart, 3 Bde. (1869-76); The Poems of Sir J. D., ed. R. Krueger (Oxf., 1975); Some Longer Elizabethan Poems, ed. A. H. Bullen, An English Garner (1903; repr. N. Y., 1964); Nosce teipsum auch in Silver Poets of the Sixteenth Century (EL). - J. L. Sanderson, Sir J. D., TEAS (Boston, 1975). 5 ed. A. B. Grosart, 2 Bde. (1878). 2

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religiösen Gehalt unangemessen waren, verdeckte die blendende Redewendung, daß man den erhabensten Stoff in der ehrwürdigsten aller Dichtformen darstelle, nur die hoffnungslose Lage des zwischen der begrifflichen und künstlerischen Welt stehenden Dichters des 17. Jahrhunderts. Aber die ungeheuren Anstrengungen, mit denen drei Generationen um das christliche Epos rangen, zeitigten bei einem Ausschöpfen aller Möglichkeiten neuartige und noch im Versagen großartige Versuche. Vereinfachend kann man drei Gruppen unterscheiden, deren erste noch stark rückwärts, der Renaissance zu, gerichtet ist, deren zweite die eigentlichen Barockepiker des 17. Jahrhunderts zusammenfaßt, und deren letzte bereits nach dem Klassizismus hingewendet erscheint. Die erste Gruppe zeigt wenig von der erwähnten Problematik und erscheint besonders in ihrem lateinischen Zweige altmodisch. Hier herrscht noch die große einheitliche Weltschau des katholischen Mittelalters, wenn sie auch belebt ist durch die sinnenfrohe Darstellungsart der Renaissance und den ihr eigenen rhetorischen Glanz der Sprache. So zeigt, wenn man von der leidenschaftlicheren gegenreformatorischen Spannung absieht, die Christiade6 (1652 bzw. 1670) des englischen Jesuiten ROBERT CLARKE ("f 1675) noch dieselben Züge wie das 1535 geschriebene Christusepos des Italieners Hieronymus Vida. Hier wie dort ist das Erlöserthema die epische Grundidee; Christus ist als Mittelfigur zwischen zwei übersinnliche Welten gestellt, die Hölle mit dem ganzen mythologischen Hofstaat der Antike und das Reich Gottes mit seiner ähnlich anthropomorph gezeichneten Hierarchie der Tugenden. Aus dem in den Vordergrund gestellten Kampf dieser Mächte entwickelt sich das Geschehen um Christus auf Erden. Noch als der Erlöser sein Haupt zum Sterben neigt, Clementia die Schuldurkunde ans Kreuz heftet, und der Tod, besiegt, den Pfeil gegen die eigene Brust richtet, ist das Geschehen auf übermenschlicher Ebene. Anderseits werden, wo immer möglich, die natürlichen Züge mit Bedacht ausgebaut, sei es bei der weitgehenden Kleinschilderung, die etwa den knappen biblischen Satz von der Flucht nach Ägypten zum großen Gemälde ausweitet, sei es bei der Zeichnung des Helden, dessen Eindruck auf Freund und Feind breit geschildert wird und der immer wieder im Licht eines menschlichen Führers erscheint. Der Erfolg von Sannazaros De partu virginis (1527) bezeugt die Beliebtheit dieser Epen, und doch fehlt ihnen die innere Beziehung zu einer Gegenwart, deren religiöses Empfinden kein Gleichmaß kannte, sondern leidenschaftlich begründete und belehrte und insbrünstig, fast möchte man sagen gewaltsam, glaubte. Dies wird auch an der von Du Bartas bestimmten landessprachigen Epik der Protestanten deutlich. Die Übersetzung, die JOSHUA SYLVESTER' (1563-1618) 1592 von der 1578 erschienenen Premiere Semaine vorlegte,8 un6

Übersetzt von A. Walthierer (Ingolstadt, 1853). Complete Works, ed. A. B. Grosart, 2 Bde. (1880); das französische Original: Works of Du Bartas, edd. U. T. Holmes et al., 3 Bde (Chapel Hill, 1935-40). 8 Sylvesters erste Gesamtausgabe erschien 1605 als 'Bartas His Devine Weekes and Workes.' 7

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terstrich zwar die puritanischen Züge und ersetzte farblose Wendungen durch theologisch festgelegte Begriffe, brachte aber damit eine Zwiespältigkeit in das Werk. Denn dieses „Epos", dessen göttlicher Held nicht hervortritt und dessen Handlung sich in die Beschreibung der Schöpfungstat auflöst, benutzte den Rahmen des göttlichen Sieben-Tage-Werks, um alle mathematischen, naturwissenschaftlichen und geographischen Kenntnisse bei der Beschreibung des Himmels und der Gestirne, des Meeres und seiner Bewohner und der festen Länder anzubringen. Es ist ein Hymnus auf die mit allen Sinnen aufgenommene Schönheit der Welt, und in der Darlegung ihrer Zweckmäßigkeit ein Preis der Weisheit des Schöpfers. Dieser auf den Menschen ausgerichteten Haltung entspricht die Renaissancevorliebe für anschauliche, wenn auch verkleinernde irdische Bilder, sinnliche Vergleiche und anthropomorphe Mythologie. Wenn nun Sylvester die mythologischen Namen weitgehend strich, volkstümliche Erklärungen hinzufügte und fremdländische Beispiele durch englische ersetzte, so schwächte er nur die dichterische Wirkung, änderte aber nichts an der renaissancemäßigen Grundhaltung. Diese ist verlassen in der Nachahmung, die WILLIAM ALEXANDER' (1577?1640), der durch Senecatragödien und eine Sonettfolge dichterisch bekannte Staatsmann, unter dem Titel Doomsday (1614) vorlegte; denn diese Beschreibung der zwölf Stunden des Gerichtstages ist rein auf das Gericht hin angelegt. Hier klingt kein Loblied auf die Schönheit, sondern die Stimme eines dogmatischen Calvinisten, dem die moralpredigende Absicht über allen künstlerischen Gesichtspunkten der Spannung und des Aufbaus steht. So übernahm Alexander unbesehen die herkömmliche Ottavastrophe und den im Antithesenspiel glänzenden euphuistischen Stil, wodurch sein Werk wie Du Bartas' Semaine den Kunstformen der Renaissance sich angleicht unter Einengung ihrer Sinnenfreudigkeit durch die Theologie. Wohin dieser Weg führte, zeigen die Divine Poems (1633) von FRANCIS QUARLES (s. S. 371), die im heroischen Reimpaar die biblischen Geschichten von Jona, Esther, Hiob und Simson poetisch erzählen. Das Ziel dieser Dichtungen ist ein praktisches: Quartes wollte seinen Lesern durch Erläuterung und Belehrung die Bibel näherbringen und ihnen devotionale Hilfen geben. Diesem Bestreben gemäß wurden die Geschichten zerschnitten in den Bibeltext paraphrasierende 'Sections', die, dem Zug der Zeit entsprechend, häufig einen leicht vernünftelnden Ton annehmen, und in 'Meditations', deren Predigerrhetorik und platte Alltäglichkeit allerdings oft die Größe des Bibelworts beeinträchtigen. Wenn Quarles spannende Zwiegespräche einfügt oder Selbstgespräche weitet und so das seelische Bild Jonas und Simsons menschlich nahebringt, wirkt er ähnlich wie Bunyan, der die eigenen Gewissenskämpfe ins äußere Geschehen verlegte. Auch Quarles bleibt bei seinen allegorischen Versinnlichungen im Bereich des Selbsterlebten und braucht die mit Bibelmetaphorik durchsetzte Alltagssprache der Puritaner und deren pak9

In Johnson-Chalmers, The English Poets, Bd. V; Poetical Works, edd. L. E. Kastner and H. B. Charlton, 2 Bde., STS (1922).

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kend anschauliche Alltagsgleichnisse. Aber Bunyan erzählte Alltagsgeschichten, Quarles biblische, und was in der neuen Form des Bunyanschen Prosaepos zu Recht steht, bedeutet in der dichterischen Epik ein Herabzerren. Wenn die Vertreter dieser ersten Gruppe vom epischen Ziel um so weiter abkamen, je mehr sie sich von der Renaissance entfernten, deren Ausdrucksformen sie ihre dichterische Wirkung verdankten, so drängte die irdisch gebundene Phantasie der Puritaner eher zu prosaischer als zu dichterischer epischer Gestaltung. Folglich versuchte die zweite Gruppe, die in dem als Lyriker bekannten Jesuiten ROBERT SOUTHWELL™ (s. S. 366) einen Vorläufer hat, neue, der Renaissance absagende Wege. Das lange Gedicht St. Peters Complaint (erschienen 1595), das sich gegen die weltliche Dichtung in der Art von Shakespeares Venus und Adonis richtete und mit denselben Stilmitteln und derselben Strophenform einen religiösen Stoff bearbeitete, ist weniger ein Epos als eine Meditation. Die Handlung ist auf einen einzigen Punkt reduziert, auf die Augenblicke der Verleugnung, die der trauernde Apostel rückschauend noch einmal erlebt. Alles andere ist Betrachtung, die, wo sie auch anknüpft, stets zur eigenen niedergebeugten Seele zurückkehrt. Der Mittelpunkt der Dichtung ist also nicht die Sünde oder Reue, sondern die durch sie bewirkte zerrissene Seelenstimmung des Menschen nach der Tat. Das ist nicht mehr die Haltung des mittelalterlichen Katholizismus, sondern der Gegenreformation; nicht von Gott her ist die Sünde gesehen, sondern vom Menschen aus und in ihrer Bedeutung für den Menschen, wie es die Betonung des Ehrgefühls und der Sinnlosigkeit von Petri Sünde bezeugt. Durch das stete Zurückkehren zum Thema „des schärfsten Kummers, den ein Mensch empfand", fehlt der Dichtung fester Aufbau und Gliederung, ihr Höhepunkt liegt überall und nirgendwo, und anstelle eines Fortschreitens oder überhaupt einer logischen Gliederung herrscht ein assoziatives Kreisen um den Kummer. Das ist für diese im engeren Sinne barock zu nennende Kunst kennzeichnend. Dem entsprechen auch die Stilmittel, insbesondere die Metaphorik und die Antithesen, die bei ihrer Übertragung vom weltlichen auf den religiösen Stoff eine steigernde Neuwertung erfuhren. Denn das Bemühen, das Übersinnliche deutlich zu machen, konnte nicht im Bild Genüge finden, ohne den religiösen Gehalt zu verendlichen. Folglich werden die abstrakten Begriffe nicht veranschaulicht, sondern durch reihenweise Häufung von Attributen und Titeln verdeutlicht (wenn etwa der Schlaf die Titel: Verbündeter des Todes, Vergessen der Tränen, Schweigen der Leidenschaften, Balsam des Leids usf. erhält). Je mehr dabei unter Ausnutzung des Beziehungsreichtums der Worte die Hilfe des Denkens beansprucht wird, um so mehr wird die euphuistische Wortantithetik zur metaphysischen Begriffsantithetik, denn diese Antithesen sollen das Überbegriffliche und verstandesmäßig Paradoxe des Christlichen ausdrücken. 10

The Complete Poems, ed. A. B. Grosart (1872, repr. 1979); edd. J. H. MacDonald and N. P. Brown (Oxf., 1967); vgl. die Sammlung Recusant Poets, ed. L. I. Guiney (1939). - C. Devlin, The Life of R. S.: Poet and Martyr (1956); P. Janelle, R. S., the Writer (Clermont-Ferrand, 1935).

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Viertes Buch: Die Zeit des Barock

Der große Erfolg und die vielen Nachahmungen (u. a. Nicholas Breton:11 Blessed Weeper; Thomas Lodge:12 Tears of Marie, Mother of God) bezeugen das Aufblühen dieser mit der gegenreformatorischen Geisteshaltung eng verbundenen Barockkunst, deren englische Höhepunkte in der Lyrik Crashaws und der Epik GILES FLETCHERS13 (1585/6-1623) zu erblicken sind. Fletcher schrieb 1610 in vier kurzen, dramatischen Akten ähnlichen Gesängen eine epische Darstellung der im Himmel beginnenden und endenden Heilsgeschichte unter dem Titel Christs Victorie and Triumph. Der erste Gesang schildert als Vorspiel den vor Gottes Thron ausgefochtenen Streit zwischen Gerechtigkeit und Gnade (als Attribut Christi) um das Schicksal der sündig gewordenen Menschen; das ist Christi Sieg im Himmel. Darauf folgt im zweiten Gesang der Sieg des Mensch gewordenen Christus über den teuflischen Versucher auf Erden und im dritten, als Höhepunkt, der Sieg über den Tod durch Christi Kreuzigung. Der Freudenhymnus des vierten Gesangs beschließt das Werk mit dem Einzug des Siegers im Himmel. Innerhalb dieser großen gliedernden Gruppen ist, wie bei Southwell, kein architektonischer oder logischer Aufbau, und der wie bei den Christiaden im Mittelpunkt stehende Heiland behält trotz alles heldisch-kriegerischen Glanzes etwas Starres, da er nur als Werkzeug Gottes auftritt. Diese Bewegungslosigkeit suchte der Dichter durch erregende, auf den Leser unmittelbar einwirkende Sprachgebung auszugleichen, wodurch die Spannung auf den Gegensatz zwischen dem unwürdigen menschlichen Ich und der unendlichen Erhabenheit des Göttlichen verschoben wird und die Idee der Erlösung, als den Leser direkt angehend, in den Mittelpunkt rückt. Da die religiöse „Wahrheit" für den begrenzten menschlichen Verstand widersinnig erscheint, ist die Aufgabe der Dichtung weniger, das Übersinnliche anschaulich zu machen, als vom Unbegreiflichen einen Eindruck zu vermitteln und es erlebbar zu machen. Dazu reichten die dem Spenservorbild entnommenen rhetorischen Stilmittel nicht aus; ähnlich wie die Spenserstrophe infolge Streichens der 7. Zeile durch ein den Reimklang einhämmerndes Triplet gesteigert wurde (ababbccc), werden die Epitheta, Antithesen, Vergleiche, Wiederholungen und Anaphern in reihenweiser Häufung „gesteigert". Das hat, wie bei Southwell, nichts mit der elisabethanischen, wohlgeordneten, dichterischen Aufzählung zu tun, auch nichts mit der auf den treffenden Ausdruck dringenden Häufung der die Kreise enger ziehenden Wendungen im Predigtstil, sondern die erregte Gefühlshaltung des Barockdichters häuft enge, weite, sich überschneidende Wendungen, um sich Ausdruck zu verschaffen. Er will nicht Anschauung, sondern - ähnlich unmittelbar wie die Musik oder das perspektivisch nicht ab11

Works in Verse and Prose, ed. A. B. Grosart, 2 Bde., Chertsey Worthies' Libr. (1879); Poems, ed. J. Robertson (Liverpool, 1952). 12 Complete Works, ed. E. Gosse, 4 Bde., Hunterian Club (Glasgow, 1883). 13 The Poetical Works of Giles and Phineas Fletcher, ed. F. S. Boas (Cambr., 1908-9; repr. Lo., 1970); Christs Victorie and Triumph auch in: Elizabethan Narrative Verse, ed. N. Alexander (1967). - F. S. Kastor, G. and P. F., TEAS (Boston, 1978). Vgl. J. Grundy, The Spenserian Poets (1969).

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lesbare Raumgefühl barocker Kirchen - den Menschen durch überströmend aufquellende Metaphernhaufen überreden und überwältigen. Die Metaphern sind im Unterschied zu den Elisabethanern entweder unanschaulich, um das Unaussprechbare nicht zu verendlichen, oder sie verwischen sich gegenseitig durch die Häufung, die oft den Vergleich nochmals vergleicht. Diese dem barocken Epos eigene, unanschauliche Bildlichkeit, die fortwährend und unvermittelt von einem Ansprechen der Sinne zu einem Ansprechen des Verstandes umspringt, die Gegensätze wie „eisiges Feuer", „dunkle Flammen" zusammenkoppelt, Dinge der Physis und des Begriffs wie „Wellen der Unsterblichkeit" nebeneinanderstellt und damit fortwährend unerwartete gedankliche Ausblicke und Beziehungen eröffnet, ist Ausdruck der widerspruchsvollen Lage des denkenden Menschen im 17. Jahrhundert. Da die religiöse Epik den Widerspruch der trügerischen Sinnenwelt und der wahren göttlichen Welt zu deutender Vergegenwärtigung bringen konnte, mußte sie im Vordergrunde des poetischen Schaffens stehen. Da aber das damalige religiöse Gefühl die naturwissenschaftlichen Wahrheiten einzubeziehen strebte, so ergaben sich spätere Zeiten seltsam anmutende Themen. Giles' Bruder PHINEAS FLETCHER14 (1582-1650), der schon mit einem Fischerspiel für Cambridger Studenten (Sicelides, 1631) und religiösen Fischereklogen (Piscatorie Eclogs, 1633) hervorgetreten war, unternahm nach Du Bartas' Vorbild in der zum Epos ausgeweiteten Ekloge The Purple Island (1633) eine detaillierte Beschreibung des Menschen, Gottes vorzüglichster Schöpfung. Mit dem Schäfer Thirsil als Sprecher machen wir eine physiologische Reise durch die „Purpurinsel", den menschlichen Körper, dessen Adern blaue Kanäle sind, dessen Magen der Marktplatz ist (Gesänge 1-6), und dessen Wille und Verstand Anlaß geben zu einem allegorischen Tugendund Lasteraufzug (Gesänge 6-12). Der Vorwurf wie seine dichterische Ausführung ist Spenser verpflichtet, in dessen Stil sich Phineas so eingelebt hatte, daß eine mythologische Erzählung, Brittain's Ida, bis in neuere Zeit als Werk des Meisters angesehen wurde. Während aber Spensers Schloß der Seele (F. Q. II. ix-xi) selbstgenügsame Dichtung war, bedurfte Phineas' breite Ausmalung medizinischer Fußnoten, um verständlich zu sein. Die Zeit liebte diese äußerlich barocke Art und feierte den Dichter als neuen Spenser. Das gleiche Thema vom Menschen als vorbildlichem Meisterwerk der Schöpfung wandelte EDWARD BENLOWES IS (1602-76) psychologisch-theologisch ab, indem er in seiner Seelendichtung Theophila (1652) die einzelnen mystischen Stufen beschrieb von der ersten demütigen Hingabe als liebeskranke Seele bis zur unaussprechbaren Schau der Dreieinigkeit. Da Theophila mit Welt und Hölle kämpft, erhebt das Werk Anspruch auf den Titel eines heroischen Gedichts, aber anstelle epischen Fortgangs findet sich ein wiederholendes Kreisen, das, wie die unschöne, denselben Reim dreimal brin14

S. die voraufgehende Anm.; Venus and Anchises (Brittain's Ida), ed. E. Seaton (Oxf., 1926). - A. B. Langdale, P. F.: Man of Letters, Science, and Divinity (N. Y., 1937). 15 Minor Poets of the Caroline Period, ed. G. Saintsbury, Bd. I (1905). - H. Jenkins, E. B. (1952).

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gende Strophe (aus 10-, 8- und 12silbiger Zeile) und der seltsame, durch lateinische Wiederholung früherer Gesänge unterbrochene, äußere Bau, etwas Erregtes und flackernd Unruhiges hat. Darin spiegelt sich die zwiespältige psychologische Lage des Dichters, der auch in dieser Gefühlsdichtung die Ratio nicht aufgeben konnte: Wie er in der Vorrede durch Darlegung der astronomischen Mathematik des Weltalls die Wißbegierde des Lesers anlockte, so möchte er auch in der Dichtung durch mathematische Zahlen Schauer der Größe erwecken und durch naturwissenschaftliche Gleichnisse den Wahrheitsgehalt betonen. Mit dem Geständnis, daß diese Verstandeswahrheiten die nach göttlicher Wahrheit dürstende Seele nicht befriedigen, wiederholt sich Giles Fletchers Verzweifeln am begrifflichen Ausdruck und folglich der Gebrauch seiner Stilmittel; da aber Benlowes ein kleinerer Dichter war, wurde sein Mühen, das Unsagbare auszusprechen, oft zu ohnmächtigem Stammeln oder zu einem Schreien in eintönigen Ausrufen. Hier wird die zuckend erregte, barocke Ausdruckskunst deutlich, die auch in epigrammatischer Wortballung den Sinn durch alle Fugen quellen läßt und in gewagter, nicht Anschauung, sondern Verstandesvorstellung erweckender Wortneuschöpfung oft an Dichter wie G. M. Hopkins und T. S. Eliot anklingt. Der barocke Stil dieser Gruppe zeitigte eine Epopöe, deren heroische Note sich in brausender Affektdarstellung äußert. Die dritte dem Klassizismus zugewendete Gruppe wird angeführt von ABRAHAM COWLEY (s. S. 381), der nach seinem äußeren Stil noch zu den barocken 'Metaphysicals' gehört, nicht aber nach seiner geistigen Haltung. Seine Davideis, a sacred Poem of the Troubles of David (1643) vertritt bereits die zum moralphilosophischen Gedicht hinführende, im heroischen Reimpaar geschriebene Epengruppe. Das sich flüssig lesende Werk mutet epischer an als die vorher besprochenen Dichtungen: ein Held steht im Mittelpunkt, David, mit einem Gegenspieler, Saul. Allerdings erscheinen beide als Werkzeuge der durch sie handelnden, nur unvollkommen persönlich gezeichneten Gegenmächte Gott und Satan. Die dadurch geschwächte Erzählspannung wird weiter beeinträchtigt durch lange Reden und Berichte, in denen die Vorgeschichte Davids, Sauls und Jonathans nachgeholt wird, und muß aufrechterhalten werden durch Episoden, wie etwa Satans Entsendung der Furie Envy, um Saul zu reizen, und Gottes entsprechende Entsendung des Engels an David. Aber das Versagen der Dichtung (von den geplanten 12 Büchern wurden nur 4 ausgeführt) beruht auf Cowleys Absicht, den biblischen Stoff in antiker Form abzuwandeln, was natürlich keine bloße Formfrage blieb. Die Auffassung von Schicksal, Gott und Held zeigt eine Unausgeglichenheit der im Dichter ruhenden humanistischen und theologischen Welt - ein Zwiespalt, den die weniger hochfliegende Davideis16 (1712) des Quäkers Thomas Ellwood gar nicht kennt. Cowleys religiöses Epos wurde vollends problematisch durch des Dichters Absicht „zu lehren, daß Wahrheit wahrhaftigste Dichtung ist". Das dabei Davenant erteilte Lob, daß er mit seinem Gondibert das Epos 16

ed. W. Fischer (Heidelberg, 1926).

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aus dem Feenland auf die Erde zurückgeholt und statt eingebildeter Götter den Menschen und die Wahrheit als Vorwurf gewählt habe, verneinte eigentlich alles, was bisher in religiöser Dichtung angestrebt wurde und redete, wenn auch unbewußt, einem aufklärerischen Standpunkt das Wort. Von daher erklären sich die moralphilosophische Gelehrsamkeit zeigenden Exkurse über religiöse oder allgemeinmenschliche Leitsätze und Themen, die durch ihre Zahl und ihre Ausdehnung nahezu zur Hauptsache werden. Das entspricht schon einer Zeit, die der Idee des religiösen Epos ferner rückt und sich in EDMUND WALLERS (s.S. 382) Kleinepos Of Divine Love (1685) voll ausspricht. Denn hier suchte der Dichter trotz aller Hymnik mit den Mitteln der Ratio und entsprechend verstandesmäßiger Sprache einen Beweis zu erbringen für das Dasein Gottes, indem er immer neue Seiten des Grundthemas der göttlichen Liebe herausstellt. So entstand ein Lehrgedicht klassizistischer Haltung, ähnlich der Religio Laid Drydens, ein Vorläufer des moralphilosophischen Gedichts, das in Popes Essay on Man eine selbständige und von der religiösen Epik gesonderte Gattung wurde.

2. Das weltliche Epos Diese Gattung wurde auch von der weltlichen Epik vorbereitet. Zwar sind die vielen nachahmenden epischen Dichtungen des 17. Jahrhunderts von James Shirleys17 Narcissus (1618) über Shakerley Marmions 18 Legend of Cupid and Psyche (1637) und Francis Kynastons18 Leoline and Sydanis (1642) bis zu John Chalkhills18 pastoraler Liebesgeschichte Thealma and Clearchus (1683) und Richard Blackmores19 endlosen Epen über Arthur (1695) und Alfred (1723), eine Epigoniad, wie der Titel eines noch im 18. Jahrhundert nachhinkenden Gedichtes lautet (1757 von William Wilkie); aber zwei sind wenigstens literarhistorisch bedeutsam geblieben: Gondibert und Pharonnida. Trotz des weltlichen Vorwurfs einer um Verona spielenden langobardischen Kriegs- und Liebesgeschichte geht Sir WILLIAM DAVENANTS (1606-68) Gondiberl20 (1651) weitgehend mit Cowleys Davideis zusammen; denn das Ziel, das in der Vorrede an Hobbes noch deutlicher ausgedrückt ist als in der Dichtung selbst, ist des Dichters Bemühen, den Menschen die Wahrheit zu vermitteln, indem er die Natur, d. h. die Wirklichkeit darstellt, die ihrerseits die beste Offenbarung Gottes bedeute. Der so als Moralist wirkende Dichter will wie einst Spenser den Thron stützen, aber mit einem philosophischeren, mehr auf das Allgemeingültige gerichteten Gedicht. Er will durch sein LeidenschaftZahmen dem Geistlichen, durch sein Mut-Anfeuern dem Heerführer, sein Vernunft-Lehren den Staatsleuten und Gesetzeswaltern von Nutzen sein. So 17

The Poems of J. S., ed. R. L. Armstrong (N. Y., 1941). In: Minor Poets of the Caroline Period, ed. G. Saintsbury, Bd. II (1906); Marmion, ed. A. J. Nearing (Philad., 1944). 19 Johnson-Chalmers, The English Poets, Bd X. 20 ed. D. F. Gladish (Oxf., 1971). - S. S. 440, Anm. 4. 18

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finden sich wie in der Davideis die moralphilosophischen Abhandlungen über Rache, Furcht, Ehre, Ethik usw., die Hinweise auf die Allgemeinverbindlichkeit der christlichen Religion und die vorbildliche Bedeutung ihrer Vertreter und die genaue Beschreibung der naturwissenschaftlichen Akademie des weisen Astragon. Die Sachkenntnis, mit der Sitten und Gebräuche des Orients, Kriegswesen, Baukunst und antike Geschichte abgehandelt werden, gibt der Dichtung einen wissenschaftlichen Anstrich, und das geschichtlich anmutende Geschehen betont das Zurückholen des Epos aus den Bereichen des Wunderbaren auf die Erde. Soweit ist der Gondibert eine Ergänzung der Davideis, der er künstlerisch unterlegen ist durch eine von fortwährenden Parenthesen, erklärenden Zwischensätzen und Deutungen unterbrochene Erzählweise und durch einen begrifflich verblaßten „metaphysischen" Stil, der jedem Abstraktum eine Verstandeswertung beigibt („Macht, Wein des Stolzes", „Hoffnung, erste Liebeskost", „Zeit, Richter des Ruhms"), in naturwissenschaftlichen Gleichnissen schwelgt und die nicht mehr antithetischem Lebensgefühl entstammenden Antithesen als witzigen Sprachschmuck verwendet. Darüber hinaus wird das Epos Vorstufe zu der in der heroischen Tragödie der Drydenzeit vollzogenen Wendung zum höfischen Barock. Den Akten eines Dramas entsprechend, wollte der Dichter fünf Gesänge schaffen; die Handlung sollte sich ausschließlich um Liebe und Ehrgeiz drehen und der Held ein Muster von Tugend und Ehre sein. So ergeben sich Drydensche Liebes- und Ehrekonflikte, die aber zu wenig Handlung liefern, so daß das Epos, trotz vielfältiger Nebenhandlungen, spannungslos bleibt. Das Pharonnida-Epos™ (1659) von WILLIAM CHAMBERLAYNE (1619-89) ist anderer Art. Zwar lesen sich die sechseinhalbtausend, von der verworrenen und innerlich aufgelösten Syntax zersprengten Reimpaare ebenso schwer wie die begrifflich vollgepackten Vierzeiler Davenants, aber der figuren- und handlungsreiche Liebesroman von Pharonnida und Argalia hat genügend Erzählspannung, um die Länge und auch die an Keats Endymion gemahnende Überfülle poetischer Schönheiten erträglich zu machen. Die an Heliodors Aethiopica erinnernde Handlung ist ihres sakralen Charakters entkleidet und durch Ablösung der himmlischen durch eine gesellschaftliche Ordnung, der des absolutistischen Hofes, auf den Menschen ausgerichtet. Die Liebe herrscht als die allen Gefahren und Anfechtungen trotzende Macht, sie ist das Stetige und Unveränderliche im wildbewegten politisch-kriegerischen Geschehen, woraus sich ein Erzählrhythmus ergibt, in dem Ruhe und Bewegung abwechseln. Derselbe Rhythmus schwingt in den unter der Spannung zwischen 'reason' und 'passion' leidenden Menschen, deren heroische Bewährung sich nicht in einer Kraftprobe zeigt, sondern im stoischen Bewahren einer ausgeglichenen Mitte. Dieser Idealsetzung einer heroisierenden, vernunftgeregelten Wesenssteigerung gemäß ist der Charakter Argalias ins würdevoll Erhabene stilisiert, der heftigsten Leidenschaft unterworfen, aber immer wieder das Gleichmaß findend und durch die unbeherrschten Gegen21

In: Minor Poets of the Caroline Period, ed. G. Saintsbury, Bd I (1905).

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spieler, den König und Almanzor, hell beleuchtet. Auch die stark empfindende Pharonnida ist wie die der barocken Spannung weitgehend entrückte Lady im Comus von den ethischen Begriffen der gravitas, dignitas, magnitudo animi geleitet und gehört bereits zur neuen Welt des heroischen und höfischen Barocks Miltons und Drydens.

3. Miltons frühe Dichtungen Das epische Schaffen des 17. Jahrhunderts findet seinen Höhepunkt in JOHN MiLTON22 (1608-74), der als einziger puritanischer Dichter zugleich zu den größten Englands zählt und als einziger das von ihm noch gefühlte sinnliche Schönheitsideal der Renaissance mit der beherrschend gewordenen religiösen Welt verschmolz. Sein dichterisches Schaffen, auf das er sich von früher Jugend an planmäßig vorbereitete, begann in den Cambridger Studentenjahren mit lateinischen Elegien und Epigrammen, die er 1645 herausgab, sowie mit einzelnen englischen Gelegenheitsstücken (On the Death of a fair Infant; At a Vacation Exercise; und On Shakespeare, das bereits die spätere Meisterschaft ahnen läßt) und einigen italienischen und englischen Sonetten. Das Hauptwerk dieser Zeit war die zum Ausdruck der feierlichen Würde und Erhabenheit „Ode" genannte Weihnachtsdichtung On the Morning of Christ's Nativity (1629), die trotz zahlreicher Spensernachklänge und „metaphysischer" conceits schon Miltons persönlichen Stil zeigte, wie sie auch 22

B i b l i o g r a p h i e : D. H. Stevens, Reference Guide to M. from 1800 to the Present Day (Chicago, 1930); C. Huckabay, J. M.: An Annotated Bibliography 1929-1968 (Pittsburgh, 1969); W. C. Johnson, M. Criticism: A Subject Index (Folkestone, 1978).- W e r k e : Complete Works (Columbia Edn.), edd. F. A. Patterson et al., 20 Bde. ( . ., 1931-40); The Student's Milton, ed. F. A. Patterson ( . ., 1933); Complete Poems and Major Prose, ed. M. Y. Hughes ( . ., 1957). Poetical Works, ed. H. Darbishire, 2 Bde., OET (Oxf., 1952-55); edd. J. Carey and A. Fowler, AEP (1968); OSA, WC, EL u. a.; Complete Prose Works edd. D. M. Wolfe et al„ 8 Bde. (New Haven, 1953ff.); Prosaauswahl: PB, WC, EL. - Nützliche Kommentare in den Ausgaben von J. Broadbent, The Cambridge Milton for Schools and Colleges; M. H. Nicolson, J. M.: A reader's guide to his poetry (1964); J. H. Hanford, A. M. Handbook, rev. J. G. Taaffe (N. Y. 51970); A Variorum Commentary on the Poems of J. M., edd. M. Y. Hughes et al., 6 Bde. (N. Y., 1970ff.). - B i o g r a p h i e und K r i t i k : Life Records, ed. J. M. French, 5 Bde. (New Brunswick, 1949-58); W. R. Parker, M.: A Biography, 2 Bde. (Oxf., 1968). - E. M. W. Tillyard, M. (1930; rev. edn. Harmondsworth, 1968); D. Bush, J. M.: A Sketch of his Life and Writings (1955) [gute Einführung]; J. Carey, M. (1969); C. A. Patrides, M. and the Christian Tradition (Oxf., 1966); D. M. Wolfe, M. and His England (Princeton, 1971). - C. S. Lewis, A Preface to Paradise Lost (1942); H. Blamires, M.'s Creation: A Guide through P. L. (1971); J. B. Broadbent, Some Graver Subject: An Essay on P. L. (1960); C. Ricks, M.'s Grand Style (Oxf., 1963); T. Wheeler, P. L. and the Modern Reader (Athens, 1974). E. M. Pope, P. R.: The Tradition and the Poem (Baltimore, 1947); B. K. Lewalski, M.'s Brief Epic: The Genre, Meaning, and Art of P. R. (Providence, R. I., 1966). W. R. Parker, M.'s Debt to Greek Tragedy in Samson Agonistes (Baltimore, 1937); F. M. Krouse, M.'s Samson Agonistes and the Christian Tradition (Princeton, 1949).

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erstmals in der den Inhalt heraushebenden, sicheren Handhabung der hallenden Strophe mit wechselnder Zeilenlänge den großen Metriker bewies. Das Thema ist angeschlagen mit der das „Verlorene Paradies" schon vordeutenden Ausführung, daß die Natur zusammen mit den Religionen der Antike und des Orients sündig sei, daß sie eine gefallene Welt darstelle, die von Christus, dem mächtigen Pan, erlöst werden soll. Hier schon herrscht der Reichtum klassischer Anspielungen, klangvoller Namen, inschriftartig gedrängter Wendungen und die gebändigte Kraft des von seiner Aufgabe seherisch begeisterten Dichters. Die das erschauernde Schweigen der Welt malenden Strophen 4-7 und das große Gemälde der durch Christi Kommen verjagten heidnischen Religionen des Morgen- und Abendlandes (19-25) zeigen in Vorwurf und Form die dann im Epos aufgenommene heroische Dichtung, auf die er sich in den stillen, im Vaterhaus in Horton verbrachten Jahren 1632-38 durch anders geartete Dichtungen vorbereitete. Zwei sich entsprechende Gedichte, L'Allegro und II Penseroso (wahrscheinlich 1632-34), schildern als Gegenstücke die Vergnügungen und Stimmungen eines heiteren Tages und einer besinnlichen Nacht in flüssigen, sieben- und achtsilbigen Versen, die durch Taktumstellungen und Pausen oder schwere Silben und Eigennamen der freudig bewegten oder ernst getragenen Stimmung sich anpassen. In strahlendem Licht zeigt die von Aurora und Zephir, also täglich neugeborene Heiterkeit die den Menschen erfreuende, reine Sinnenschönheit der Gegenwart: Lerchenjubel und Jagdhorn, das erwachende Dorf, die sonnige Frühlingslandschaft und die Feldarbeit, und abends Geschichten am Herd und in der nahen Stadt Feste, Musik und Komödienaufführungen. Demgegenüber zeigt die schon vertrauter empfundene, von Vesta und Saturn, also gleichsam von Urbeginn her stammende Melancholie dem beschaulichen Menschen die ewigen Werte, die er in stoischer Gefaßtheit gegenüber aller vergänglichen Gegenwart behauptet: Friede, Ruhe und einfach zurückgezogenes Leben, das Nachtigallensang dem Einsamen versüßt, wenn er weitab von Stadt und Fest und Theater bei stiller Lampe Bücher klassischer Denker und Dichter liest bis zum Dämmern eines regentrüben Morgens. Kein heller Tag soll stören, Waldesschatten möge Melodien des Traumes verleihen und der orgelerfüllte Dom auf den erhofften himmlischen Frieden hinweisen. Diese beiden Milton zugänglichen Stimmungswelten faßt das Maskenspiel Comus (1634) zusammen und trifft die Entscheidung zugunsten der ernsten Seite. Abseits von dem Schauprunk, zu dem Ben Jonsons zierliche Musikspiele entartet waren, lebte die alte Gattung noch bei Familienfesten fort. In Arcades (1632) hatte Milton bereits für die Gräfin von Derby Lieder geschrieben, in denen die Hirten und der Genius des Waldes ihr Huldigungen darbringen. Anspruchsvoller als dieser auf der Schloßwiese stattfindende Aufzug und Tanz ist die in Ludlow zu Ehren des zum Lord President von Wales ernannten Grafen von Bridgewater aufgeführte Maske Comus, die darstellt, wie die Tochter des Grafen auf dem Weg zum Schloß sich verirrt und, während ihre Brüder sie suchen, von dem Zauberer Comus zu seinem Palast irregeleitet wird, wo er vergeblich ihre Tugend versucht. Die herbeikommen-

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den Brüder verjagen Comus und sein Gefolge, aber erst die Göttin des Severnflusses kann sie aus der lähmenden Verzauberung lösen. Geleitet vom Schutzgeist, der in Gestalt des Bauern Thyrsis zur Rettung verhalf, gelangen die Kinder zum Schloß, und nach einem mahnenden Epilog entschwebt der Geist zum Himmel. Das Stück, das sich in allem Äußeren der Maskenüberlieferung einfügt, hat drei Verwandlungen (Wald, Palast, Schloß Ludlow), eine Antimaske des tierköpf igen Comusgefolges und einen Hirtentanz; es kennt Wunder, Zauber und übernatürliche Erscheinungen und enthält mehrere von Henry Lawes komponierte Liedeinlagen. Seinem Text nach ist Comus kein Hofballett mehr - auch die eigentlichen Masquers fehlen - sondern ein seinen Sinn in sich tragendes lyrisches Drama und seinem Gehalte nach eine das herkömmliche Maskengeglitzer auslöschende ethisch-philosophische Dichtung. Trotz des hier noch beschwingten Schreitens der Blankverse, des unerreichten lyrischen Schmelzes im Lied der Sabrina und der entsprechend kampflosen dramatischen Knüpfung und Lösung ist der Inhalt eine ununterbrochene Versuchung und eine in fast hochmütigem Beispiel gegebene Lehre zu ihrer Abwehr. Comus ist die Verkörperung der sich schlangenhaft einschleichenden Verführerstimme, die mit der beredten Philosophie des leichten Lebensgenusses die Vernunft einschläfert, mit üppigen Bildern schönheitstrunkener Welten die Sinne bestrickt und so die zum Göttlichen bestimmte Seele zum Körperlichen erniedrigt. Ihm gegenüber steht die platonische Idee, die Spenser als vergeistigte Liebe und Schönheit zu fassen suchte, und die Milton zur Keuschheitstugend verengt. Sie ist sich selbst genügend, kaum der himmlischen Hilfe bedürfend und läßt die Lady in kühler Unberührtheit allen Anfechtungen widerstehen. Der Lehrgehalt dieses dramatischen Spiels ist in eine Rede des älteren Bruders zusammengedrängt (Z. 418-475), die das Lob der mit Tugend gleichgesetzten Keuschheit durch Belege aus Volksglauben und klassischer Philosophie erhärtet, sie als Schutzengel zur göttlichen Mittlerin erhebt und in Auswertung platonischer Gedanken ihr eine vergeistigende Kraft zuerkennt. Die Penserosostimmung hat ihre philosophische Begründung erhalten: Nur die in der Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaft zum Ausdruck kommende Tugend gewährleistet die innere Freiheit des Menschen. Von welch leidenschaftlichem Wollen diese ernste Lebensauffassung getragen ist, zeigen trotz ihres herkömmlichen Pastoralkleides die den Abschluß der Jugendgedichte bildenden Totenklagen um seine Freunde Edward King und Charles Diodati. In anspruchsvollerer Odenform als die Nativityhymne, anklingend an die Chöre der griechischen Tragödien und erstmals erprobt in den vollendeten Versen At a solemn Musick (1632/3), sucht die dem Andenken Kings gewidmete Lycidaselegie (1637) die äußere Form ganz der Empfindungsbewegung des Sprechers anzupassen. In Zeilen ungleicher Länge, ohne strophische Absätze und nur gegliedert durch einzelne, fragend wirkende, reimlose Verse, baut sich die Dichtung als geschlossene Einheit mit symphonischer Wirkung auf und klingt aus in den Akkorden der Ottava des Epilogs. Das Thema Trauer und Trost, das vom Erinnern an gemeinsame

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Jugend und gleichgerichteten Dichterehrgeiz zu dem groß geschauten mythologischen Trauerzug und der Verklärung des Toten überleitet, ist in machtvollen Wortklängen und reichen Phantasiebildern gemeistert. Alles überkommene Pastoralgut und auch der Blumenkatalog leuchten in neuen Farben. Doch ist der Tod Kings vor allem Anlaß zur Aussprache seiner eigenen Dichterberufung. Quälend drängt sich die Frage auf, welchen Sinn alle hingebungsvolle Arbeit und asketische Vorbereitung auf den Dichterberuf hat, wenn die „blinde Furie" (eine kühne Miltonsche Koppelung der an sich scharfäugigen Rachegöttin mit der Schicksalsgöttin Atropos) plötzlich den Lebensfaden durchschneidet, bevor die Früchte der Arbeit gereift sind und Dichterruhm errungen ist. Wenn Phoebus Apollo einwirft, daß wahrer Ruhm nur von Gott zugemessen werden kann, so entkräftet diese Antwort noch nicht die Zweifel an Gottes Handeln, der dem Leben dieses versprechenden jungen Geistlichen ein Ende setzte, während schlechte anglikanische Priester die Kirche weiter ruinieren. Die Aussöhnung mit dem menschlichen Schicksal erfolgt im letzten Teil der Elegie: Wenn auch der Leichnam Kings irgendwo auf dem Meer treibt, er ist eingegangen in die Unsterblichkeit. Diese Gewißheit beantwortet auch die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens. In der ruhigen Coda der Elegie kehrt der Dichter zu sich selber zurück mit dem Entschluß, sich den neuen Aufgaben zuzuwenden, die der kommende Tag bringen wird. Trotz engeren Anschlusses an die klassische Überlieferung der künstlichen Pastoralwelt ist das Epitaphium Damonis (1639), das bedeutendste von Miltons lateinischen Gedichten, wärmer und persönlicher empfunden. In der traditionellen Form der bukolischen Hexameter (mit der Zäsur nach dem vierten Fuß), die durch siebzehnmalige Wiederkehr die Zeile 'Ite domum impasti; domino jam non vacat, agni' zu Gruppen gegliedert sind, spricht Milton sein menschliches und dichterisches Anliegen aus. Das ist einmal die menschliche wehe Trauer, deren Überwindung ein Reifen bedingt, zum anderen (ab Z, 160) der Entschluß, von der kleineren Dichtung, den 'silvae', zu Größerem überzugehen. Er verläßt die Welt des Idylls (jetzt setzen die epischen Hexameter ein mit der Bindung des 4. und 5. Fußes) und teilt dem toten Freunde, in ein Dutzend Eigennamen zusammengedrängt, seine epischen Pläne von Brennus, Arviragus, Arthur und biblischen Helden mit. Das auf seiner Italienreise erhaltene Geschenk des Manso ist Zeichen heroischen Strebens und Lohnes. So deutet er es Diodati, der ja nun auch jenseits der Pastoralwelt weilt, bei den Himmlischen im Olymp - ein erstes kühnes Zusammenbiegen der in ihm liegenden heidnischen und christlichen Welt und ein Vorklang des Paradise Lost.

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4. Miltons Streitschriften Von dem, wie das Epitaphium lehrt, auf der Italienreise der Jahre 1638/9 gereiften Epenplan mußte sich Milton losreißen, als er 1641 eine zwanzigjährige publizistische Tätigkeit begann23. Sein Kampf für die politischen und religiösen Ideale bedeutete kein Aufgeben seines Lebensziels, sein Volk moralische Größe zu lehren. Das erhoffte Nationalgedicht formte sich zu Streitschriften, deren gewaltigste, die 'Defensio secunda', er selbst als heroisches Gedicht bezeichnet. Der Glaube an seine prophetische Sendung ließ ihn maßlos gegen jeden werden, der seine Ansichten nicht teilte; er war absprechend auch den größten Geistern seiner Zeit gegenüber und herrisch in eigener Sache, da er sie stets vom Grundsätzlichen her sah und in den Bereich allgemeiner politischer und religiöser Anschauungen erhob. Zuerst kämpfte er den Tyrannen Leidenschaft in seinem Inneren nieder und errang so die innere, dem göttlichen Gesetz entsprechende Freiheit, die nun gegen jede politische Gewaltherrschaft aufbegehren muß. Ihm ging es um ein neues Menschenideal, und die englische Revolution, in der er dessen Verwirklichung erhoffte, wird so zum Freiheitskampf der menschlichen Seele. Der Erfolg in diesem Ringen wird entsprechend der religiösen Grundlage dieses Freiheitsverlangens als Zeichen göttlicher Erwählung ausgelegt, wodurch das englische Volk zum Volke Gottes wird, sein Verteidiger Milton zum Verteidiger der Sache der Menschheit. So wurden die fünf in den Jahren 1641-42 geschriebenen religiösen Streitschriften zum besten Ausdruck der hochgespannten, ein Gottesreich auf Erden erträumenden Erwartungen der puritanischen Sekten. Der Glaube an den Anbruch eines neuen Zeitalters, zu dessen Durchführung das englische Volk berufen sei, mußte verständnislos sein gegenüber geschichtlich gewordenen Zuständen, insbesondere der Verflechtung von Kirche und Staat. Die Streitschriften sind zum Teil lateinisch geschrieben, zum Teil in einer an die Humanistenzeit erinnernden englischen Prosa. Die langen, syntaktisch verwickelten Perioden ahmen Ciceros drängende, häufende Gerichts- und Senatsreden nach. Es ist eine mehr lateinisch als englisch klingende Eloquenz, die jedoch von Begeisterung oder Zorn zu gewaltsamer Beredsamkeit gehoben wird, ohne Besinnlichkeit, Gelassenheit und Grazie, aber dithyrambisch und ethisch mitreißend. Die erste Streitschrift Of Reformation in England (1641) wandte sich allgemein gegen die Bischöfe und suchte, wie auch die folgende Schrift Of Prelatical Episcopacy, Beweis und Gegenbeweis in historischer Methode abzuwägen. Dagegen steigerte sich der Ton zu wildem Spott in den Animadversions upon the Remonstrant's Defence against Smectymnuus (1641), einem Streitgespräch zwischen dem Remonstranten (Bischof Hall) und dem Antwortenden. Ebenso persönlich im Ton, aber mit philosophischen Beweisgrün23

Vgl. A. E. Barker, Milton and the Puritan Dilemma, 1641-1660 (Toronto, 1942; repr. 1956).

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den arbeitend, ist The Reason of Church Government urg'd against Prelaty (1641), worin die Angegriffenen, Bischof Andrewes und der Primas von Armagh, namentlich angeführt sind. Ein gegen Miltons Person gerichteter Angriff zeitigte die letzte religiöse Streitschrift An Apology against a Pamphlet, called: A Modest Confutation of the Animadversions of a Remonstrant against Smectymnuus (1641), die sich von leichtem Spott zu bittersten Angriffen auf Hall steigert, wobei zu seiner eigenen Rechtfertigung die bekannten autobiographischen Stellen eingefügt sind. Die Darstellung bleibt auch in der nachgelassenen lateinischen Abhandlung De Doctrina Christiana (ca. 1655-60) leidenschaftlich, obwohl diese abschließende „Bibelkompilation" dem Kampfplatz der Streitschriften entrückt ist. Die Freiheitsforderung, die sich in diesen Schriften gegen eine zur Rechtssache erstarrte Kirche wandte, gleichviel ob sie sich bischöflich oder presbyterianisch nannte, wandte sich in den Ehescheidungsschriften in Verallgemeinerung seines eigenen Falles gegen ein Gesetz, das die Freiheit unterdrückte. Nach The Doctrine and Discipline of Divorce (1643) und The Judgment of Martin Bucer concerning Divorce (1644), in denen er die Bibel zu seiner Rechtfertigung ins Feld führte, steigerte Milton, durch die Ablehnung gereizt, den Ton zur reinen Kampfschrift, wofür Tetrachordon und Colasterion (beide 1645) Beispiele sind. Diese Fähigkeit, den Gegner unter Herbeiholung aller erdenklichen Beweisgründe mit maßloser Sprache niederzureden, sowie der Mut und die rücksichtslose Begeisterung, mit der er seine umwälzenden Ansichten vertrat, machten Milton zum wirkungsvollsten politischen Pamphletisten. Die Gruppe der politischen Streitschriften wurde eingeleitet durch das eine Vereinigung von Schule und Universität befürwortende Sendschreiben On Education (1644) an seinen von Comenius beeinflußten Freund Hartlib. Im selben Jahr verfaßte Milton die Rede für die Freiheit der Presse, Areopagitica (1644), in der er die Anklage gegen ihn wegen unberechtigter Veröffentlichung der ersten Ehescheidungsschrift mit der Forderung unbehinderter Denk- und Gewissensfreiheit beantwortete. Als er seine Geschichtsstudien, die zu der imponierenden History of Britain (1647/8) geführt hatten, in seiner ersten rein politischen Streitschrift The Tenure of Kings and Magistrates (1649) zur beredten Verkündigung des Selbstbestimmungsrechts der Nation verwertete, wurde er zum lateinischen Sekretär des Auswärtigen Amtes ernannt mit der besonderen Aufgabe, die Aburteilung und Hinrichtung des Königs vor der Welt zu rechtfertigen. Seine erste Arbeit war die im Eikonoklastes (1649) Seite für Seite und Kapitel für Kapitel durchgeführte Widerlegung des weit verbreiteten Buches Eikon Basilike, in dem John Gauden in einfacher, zu Herzen gehender Sprache ein etwas verschöntes, aber dramatisch lebendiges Bild König Karls I. gegeben hatte. Milton vermochte das Ansehen dieses Buches nicht zu erschüttern, wie er überhaupt mit seinen englischen Streitschriften wenig Erfolg hatte. Erfolg hatten die lateinischen Schriften, deren Publikum die ganze gebildete Welt war: die Salmasius antwortende Pro Populo Anglicano Defensio (1651) und die Du Moulin entgegnende Defensio

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Secunda (1654), deren autobiographische Stellen die Pro se Defensio (1655) fortsetzte. Miltons Verteidigungen weiten den besonderen Fall Englands zum allgemeinen: England hat den Tyrannen Karl bestraft, es ist damit zum Befreier der Menschheit geworden, denn fortan wird kein Gewaltherrscher wagen, die Bürgerfreiheit seiner Untertanen anzutasten. Noch 1659, als er, an der politischen Einsicht seiner Landsleute verzweifelnd, eine Art Idealstaat entwarf (The Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth), verfocht er unter dem Namen der Gesetzesherrschaft den Gedanken der Volkssouveränität, die er aus dem göttlichen Gesetz, dem Naturrecht, den staatlichen Einrichtungen des Altertums und der Lehre vom Gesellschaftsvertrag fordert. Die in der Defensio Secunda noch grundsätzlich anerkannte Monarchie wird jetzt unter der Enttäuschung des Protektorats abgelehnt. Doch wagt er die Errichtung einer altrömischer Größe entsprechenden Republik bei der „mißleiteten und mißbrauchten Menge" nicht zu erhoffen. Immerhin schlägt er Schulungskurse vor, die der sachlichen Unkenntnis neuernannter Politiker abhelfen sollen, und ein ewiges Parlament, das die den parlamentarischen Regierungen oft fehlende Stetigkeit gewährleisten würde. Diese über das unmittelbare Kampfziel hinausgehenden Vorschläge sind Miltons Anteil an der Erörterung der besten Staatsform und der wissenschaftlichen Begründung des Rechts, die im Anschluß an Machiavellis Lehre vom Nationalstaat das 17. Jahrhundert beherrschte. Die alte Monarchie, die Sir Robert Filmer (ca. 1588-1653) in dem mehr als 2V2 Jahrzehnte nach seinem Tode erschienenen Palriarcha, or the Natural Power of Kings24 (1680) als göttliche Ordnung verteidigte, wurde vom Philosophen THOMAS HoBBES25 (1588-1679; De Cive, 1642; Leviathan, 1651) durch einen aufgeklärten Absolutismus ersetzt. Er faßte den Herrscher, sei es ein einzelner oder eine Versammlung, als das vernünftige Gesamtbewußtsein der Nation, und die Forderung, daß der Herrscher der höchste Seelsorger seines Volkes sein müsse, allen anderen Seelsorgern übergeordnet, bedingte einen von der Kirche losgelösten, weltlichen Staat. Hobbes' scheinbar die Stuartsche Gewaltherrschaft stützende Ausdrucksweise ließ ihn in Widerspruch erscheinen zu den Lehren der antiken Demokratien, die immer stärker hervortraten. Vom römischen Staatsrecht ausgehend, hatte der große Rechtslehrer Hugo Grotius das auf geschichtlichen Satzungen beruhende und aus politischen Bewegungen hervorgegangene ius civile grundsätzlich geschieden von dem im Wesen der menschlichen Natur begründeten ius naturale, das, wenn auch zeitweilig unterdrückt, nie aufgehoben werden könne (De jure belli et pads, 1625). Wenn auch John Seiden die Ausführungen von Grotius bekämpfte, so teilt er doch die fast göttliche Verehrung des nicht weiter ableitbaren Gesetzes, das als 24 25

Patriarcha and Other Political Works of Sir R. F., ed. P. Laslett (Oxf., 1949). Latin Works, 5 Bde., English Works, 11 Bde., ed. W. Molesworth (1839-45; repr. Aalen 1961-62); De Cive, ed. S. P. Lamprecht (N. Y., 1949); Leviathan, ed. M. Oakeshott (Oxf., 1946; repr. 1957); EL, PB. - R. Peters, H. (1956); D. P. Gauthier, The Logic of Leviathan: The Moral and Political Theory of T. H. (Oxf., 1969); C. D. Thorpe, The Aesthetic Theory of T. H. (1940).

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Grundlage aller Freiheit auch die Grundlage des freiwilligen Zusammenschlusses der Bürger im Staate sein müsse. Zu einem förmlichen Verfassungsentwurf in dünner utopischer Verschleierung gestaltete sich JAMES HARRINGTONS Oceana26 (1656), worin Cromwells Protektorat als Übergang von der Monarchie zur Republik dargestellt wird. Durch den Grundsatz der 'Balance of Property' (der angemessenen Verteilung des Landbesitzes unter der regierenden Klasse) und der 'Rotation of Government' (des durch geheime indirekte Wahl getätigten regelmäßigen Wechsels) soll die Verfassung Dauer erhalten. Die näheren Ausführungen über das Zweikammersystem und das von sozialer Stellung und Verantwortung abhängig gemachte passive Wahlrecht sind direkt aus der römischen Konsularverfassung entwickelt. Harringtons Vorschläge, die von Gegnern (u. a. M. Nedham in Mercurius Politicus und M. Wren in Considerations) und Anhängern (besonders im 1659 gegründeten Rota Club) erörtert wurden, fanden ein Echo bei Hume und praktische Auswirkung in der amerikanischen Verfassung (Penn) und der französischen Revolution (Sieyes). Die zeitliche Wirkung war getragen von dem Weltherrschaftsgedanken hegenden Nationalbewußtsein, das wie bei Milton in allen diesen Staatsschriften durchklingt. Oceana ist England, the Lady of the Sea, von der Camden sprach; und Seiden forderte das märe clausum gegen des Grotius mare liberum. Die Cromwell feiernden Dichtungen (Marvells Horatian Ode und Wallers Panegyric) stellten ihn als cäsarischen Weltherrscher dar, wie ihn auch Milton, allerdings mit starker Kritik und Mahnung, in dem Sonett To the Lord General Cromwell und in der Defensio Secunda als idealen Herrscher schilderte.

5. Miltons Epen und Samson Agonistes Solange Milton Sprecher für eine öffentliche Sache war, ruhte die Dichtung. Nur eine Reihe Sonette21 entstanden, die völlig anders geartet sind als die elisabethanischen Vorbilder. In der äußeren Form wahren sie die strengen italienischen Regeln, aber die innere Form kennt im Widerspruch dazu keine Teilung des Gedankens, sondern baut einen großartig sich steigernden Satz, dessen Spannung erst die letzte Zeile löst. Von den alten Sonettspielarten sind nur die Freundschaftssonette beibehalten, deren beste an die Mitstreiter im Freiheitskampf sich wenden (an Cromwell, Fairfax, Vane) und das Persönliche ins Heldisch-Vorbildliche steigern. Gewaltig ist das gegen das Piemonteser Blutbad gerichtete Avenge, O Lord, und selbst die Streitsonette gegen die kirchenpolitischen Widersacher haben nichts kleinlich Zänkisches. Den Menschen Milton zeigen die ergreifend hoheitsvollen Sonette auf seine Blindheit und seine verstorbene Frau. Mit der Rückkehr der Stuarts mußte sich Miltons Verkündersehnsucht nach innen richten; so ward diese letzte Zeit seines 26 27

ed. S. B. Liljegren (Heidelberg, 1924). ed. J. S. Smart (Glasgow, 1921; Oxf. pb., 1966); ed. E. A. J. Honigman (1966).

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Schaffens die dichterisch größte. Als Vermächtnis eines in der Welt der Tat Gescheiterten und widerwillig auf das Wort Beschränkten schrieb er die beiden Epen vom verlorenen und wiedergewonnenen Paradies und das Drama von Simson dem Kämpfer. Das nach langem Schwanken zwischen epischer und dramatischer Form und zwischen einem historischen und biblischen Vorwurf wahrscheinlich in den Jahren 1658-63 geschriebene Paradise Lost (1671) ordnet sich, Anregungen von überall her verwertend, der europäischen Wiedergeburt religiöser Dichtung ein. Du Bartas, Grotius, Andreini, Vondel sowie die englischen Dichter weit überflügelnd, faßte Milton die bisher im Kampf liegenden Welten des religiösen Gefühls, der rationalistischen Weltdeutung und der künstlerischen Gestaltung zusammen. Dies war möglich durch das im Gegensatz zum katholisch-barocken stehende puritanisch-religiöse Gefühl, das in der Miltonschen Wertung die Einbeziehung der Ratio ebenso erlaubte wie die der sinnlichen antiken Formensprache. Denn Milton, der die historischen Tatsachen des Dogmas glaubte, sah dahinter noch einen tieferen Sinn, demgemäß das große Thema des Sündenfalls und der Erlösung, das sich einmal in der Geschichte abspielte, sich auch jetzt noch zu jeder Zeit und in jedem Menschen abspielt. Durch den Sieg der Vernunft muß der Mensch die innere Freiheit erringen, die in der Harmonie von Leidenschaft und Ratio besteht. So war die Forderung des großen Themas vereint mit den rationalen Forderungen, denen sich kein Mensch des 17. Jahrhunderts entziehen konnte. Der gedankliche Gehalt erhielt den mitreißenden Schwung, weil Milton das dergestalt in die Gegenwart hereingezogene Thema nicht mit historischer Abgerücktheit und mit dem Abstand von Mensch zu Gott berichtete, sondern als Bekenntnis eines um seine Stellung zum Dogma ringenden Menschen erlebte und gestaltete. Damit ist auch die Forderung des auf die Erde zurückzuholenden Epos erfüllt: Der heroische Kampf zwischen Satan und seinem Gegenspieler Christus spielt sich gleichzeitig im Menschen ab, und damit ist, wie in keinem der früheren Epen, der heroische Mensch zum Mittelpunkt der Dichtung gemacht. Was bei den anderen Puritanern ein Herabziehen des Göttlichen in den menschlichen Alltag war, ist hier ein Erheben des Menschen in die heroische Welt des Ideals. Christus, weitgehend mit Vernunft, und Satan, weitgehend mit Leidenschaft gleichgesetzt, tragen beide Züge des heroischen Menschen, dessen Ideal auch dem vom äußeren Schicksal Gebeugten Kraft verleiht. Die Darstellung dieses heroischen Gehaltes erfolgte in Anlehnung an die antike heroische Form. Den Hexameter ersetzte Milton durch einen würdevollen Blankvers, der feierlich wirkt durch seltene Worte und Wortzusammensetzungen, klangvoll durch die Ketten vokalreicher Eigennamen, weithinrollend durch eine die Zeilenreihen zusammenfassende stilistische Spannung und bei aller Gemessenheit biegsam durch eingefügte dreisilbige Füße, wechselnde Pausen und vielfaches Enjambement. Und wie der Vers ist die dichterische Vorstellungswelt der Antike verpflichtet: Die ganze Mythologie zieht auf, die, weitgehend ihrer klassischen Namen entkleidet und gleichsam aus der antiken Gegebenheit in die christliche Vorstellungs-

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weit gehoben, dennoch die versinnlichende Kraft bewahrt und die Begriffswelt verlebendigt. Gewiß ist die klassische Form ebenso wie der religiöse Gehalt von der mächtigen Hand Miltons eigenwillig zusammengebogen, aber es ist das unbestreitbar größte Kunstwerk, das aus dem Ringen um das unlösbare Problem des religiösen Epos hervorging. Das Epos beginnt nach klassischem Brauch 'mediis in rebus' und ermöglicht so, beide Themen gleichzeitig im Auge zu behalten, den Fall der Engel und den Fall des Menschen, die der Verführungsplan Satans ursächlich verknüpft. Wir sehen zuerst Satan nach seinem Höllensturz. Er weckt die Legionen der gestürzten Engel, flößt ihnen neuen Mut ein und geht gleich ans Werk mit dem Bau des Pandämoniums (Buch I). Im großen Höllenrat findet eine souverän von Satan beherrschte parlamentarische Debatte statt, an deren Ende in „demokratischer" Abstimmung die Wiedergewinnung des Himmels durch den Angriff auf die neugeschaffene Erde beschlossen wird. Satan selbst übernimmt die gefahrvolle Aufgabe, die Lage dieser Welt auszukundschaften. Die Reise Satans aus der Hölle durch das von Sünde und Tod bewachte Tor in das Chaosreich, über dem gleich einem Tropfen die Welt an goldener Kette vom Himmel hängt, beschreibt den Schauplatz des Epos (Buch II). Aufsteigend zum Zenit der Weltkugel, wo die Engelsleiter zum Himmel anhebt und der einzige Eingang in die Welt sich befindet, erblickt Satan die in ptolemäischer Ordnung geschilderte Welt (während Raphael später das galileische System dem lauschenden Adam erklärt) und stürzt sich hinein. Der Allmächtige, der vom Himmel Satans Erdenflug erblickt, weist den Sohn auf die bevorstehende Sünde und Strafe hin, und mit Christi Übernahme des Erlösungswerks enthüllt sich der Plan der Schöpfung. Denn in der ersten ist mit weisem Vorbedacht eine zweite Schöpfung eingeschlossen, die sich in jedem der Erwählten vollzieht, deren Gesamtheit den mystischen Körper Christi ausmacht. Damit ist die philosophische und theologische Grundlage der Dichtung gegeben (Buch III). Inzwischen ist Satan in Eden eingedrungen, wo er Adams und Evas Gespräch über das Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, belauscht und darauf seinen Verführungsplan baut. Er wird zwar von Gabriel verjagt (Buch IV); da aber der Mensch gleichzeitig Vernunft und Leidenschaft in sich trägt, den freien Willen zur Wahl hat und also die Verantwortung für sein Handeln trägt, schickt Gott Raphael, damit er Adam und Eva warne und ihnen die Wege Gottes erkläre (Buch V). So folgt das große Lehrgespräch, das in der Erzählung von Satans Aufruhr und Höllensturz wiederum die Verflechtung der beiden Themen bringt und im Schöpfungsbericht das Weltbild entfaltet, das Milton in dem unveröffentlichten Werk De Doclrina Christiana dogmatisch niedergelegt hatte. Danach schuf Gott, der ewig, unwandelbar und dem Absoluten gleichgesetzt, sich nicht verendlichen kann, die Welt durch seinen Sohn, den zeitlich sich kundtuenden Logos. Alle Schöpfung geht durch ihn, der somit, Schöpfer und Schöpfung zugleich, die Offenbarung von Gottes Geist im Kosmos darstellt. Daß es zur Schöpfung kam, erklärt Milton nach der neuplatonischen Emanationslehre durch eine Zurückziehung von Gottes Willen von einem Teil

II. Die epische Dichtung und John Milton

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des Alls, seines Selbst. Daraus folgt, daß die Materie göttlichen Wesens ist und Körper und Geist ineinander übergehen, wie es schon der Comus lehrte. Für den Menschen bedeutet das Willensfreiheit und Verantwortung; und da infolge der Zurückziehung des göttlichen Willens die Leidenschaften nicht mehr durch Gottes Vernunftwillen beherrscht sind, so ist die Möglichkeit der Sünde gegeben (Buch VI und VII). Sinnlichkeit und Trieb sind zwar gut und gelten auch im Himmel, jedoch nur, solange der Mensch durch die Vorherrschaft der Vernunft seine Freiheit bewahrt. Als Adam bekennt, daß er gegenüber dem Reiz weiblicher Schönheit nicht unempfindlich ist, bemerkt der Engel sofort die Gefahr, und er schärft Adam die Überlegenheit des Willens und die Notwendigkeit der Selbstbeherrschung ein. Da Milton Eva weitgehend dem Trieb gleichsetzt und Adam der Vernunft, so ergibt sich des letzteren Herrschaftsanspruch (Buch VIII). Also ist Adam schon mitverantwortlich, wenn er nach Raphaels Weggang dem Wunsche Evas, allein an anderer Stelle zu arbeiten, nachgibt. Es folgt die Versuchung durch den erneut ins Paradies eingedrungenen Satan. Es ist derselbe Kampf auf Erden wie einst im Himmel, wenn auch der Ausgang verschieden scheint: Eva ißt von der Frucht und verleitet Adam, ein Gleiches zu tun. Dabei handelt Adam gegen sein besseres Wissen, aber er ist 'fondly overcome with female charm' (Buch IX). Während Gottes Sohn zum Urteilsspruch nach Eden herabsteigt, eilen Sünde und Tod ihrem Herrn, dem Satan, entgegen, um die ihnen verfallene Welt in Besitz zu nehmen. Was einst gut war, ist durch die erniedrigende Macht der Sünde zum Bösen gewendet (Buch X). Gott sendet Michael, daß er die Verbannung verkünde, aber auf Fürsprache des Sohnes, des Siegers im himmlischen Kampf, der nun Verbündeter und Retter des besiegten Menschen wird, kann er gleichzeitig die Erlösung verheißen. Denn die Gnade Gottes wird durch Christus den Sieg der Vernunft über die Leidenschaft, d. i. die Freiheit, gewähren. Von einem Berge zeigt Michael Adam die Gottes Wege offenbarende Weltgeschichte bis zur Sintflut (Buch XI) und dann die Geschichte Israels, das verheißene Heilswerk Christi und die Zukunft der Christenheit. Damit weitet sich das Einzelschicksal zum Völkerschicksal. Auch ganze Völker können von der Vernunft abfallen und ihre Freiheit verlieren, aber auch sie können wiedererweckt werden. Mögen sie also wie Adam und Eva mit dem Flammenschwert des Cherubs aus dem Paradiesestor getrieben werden, sie fühlen doch den Sieg von Satans Gegenspieler im Bewußtsein eines in ihrem Inneren wiedereringbaren Paradieses (Buch XII). Da bereits im Verlorenen Paradies die Erlösung eingeschlossen ist, stellt das zwischen 1667 und 1670 entstandene Kurzepos Paradise Regained (1671) nicht eine Fortsetzung dar, sondern eine Neuwendung desselben Gedankens. Das ganze Geschehen ist der biblische Bericht der Versuchung Christi in der Wüste, deren tieferer Sinn des Menschen geistige Wiederherstellung ist. Denn die Erlösung, die sich für den Christen am Kreuz vollzog, vollzog sich für Milton in der Wüste. Entscheidend ist nicht das Geheimnis der Liebe, sondern der Triumph der Vernunft über die Leidenschaft, und Christus ist nicht der Sohn Gottes, der sich der göttlichen Gerechtigkeit opfert, sondern der

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Mensch, der der Versuchung widersteht. Auf diesen einen Gedanken ist das Epos aufgebaut, und er wird ausgeführt in einem durchgehenden Streitgespräch, in dem die Beweisführung des „größeren Menschen" Christus über den Versucher siegt. Allerdings ist dieser Versucher nicht mehr der stolze Empörer, der Eva verführte, er ist der gesunkene, eifersüchtige Geist des Gemeinen, der mit spitzer Heuchelrede die erhabene Gesinnung durch Lockbilder der Sinnlichkeit, des Ehrgeizes und der Macht zu stürzen sucht. Da diese Lockbilder die ganze antike Kultur ins Feld führen, ist ihr Versagen eine Absage an die Welt des Schauens, der Sinne und der Schönheit. Der überlegene puritanische Gottesbegriff, den Milton als Sproß des auserwählten Volkes teilt, erhebt Anspruch auf Alleinherrschaft. Das zusammen mit Paradise Regained 1671 veröffentlichte Drama Samson Agonistes, das traditionell als Miltons letztes Werk gilt, ist eine weitere Rechtfertigung der Wege Gottes. Simson, einst als Retter des israelitischen Volkes gepriesen, klagt über das Schicksal seiner Erniedrigung, deren Schuld er sich selbst zuschreiben muß, weil er das von Gott empfangene Geheimnis von der Kraft seiner Locken seinem verräterischen Philisterweibe preisgab. Der Chor der Freunde nimmt die Klage auf und weitet sie durch die Deutung menschlicher Mißgeschicke als Auswirkung des gerechten Willen Gottes (1-325). Als der ihn besuchende Vater Manoah an der Gerechtigkeit Gottes zweifelt, verteidigt Simson Gottes Handeln, bezichtigt sich als alleinigen Urheber seines Leidens und verwirft Manoahs Plan, ihn von den Philistern freizukaufen (326-709). Ist mit der Anerkennung der Schuld der erste Schritt zur Wiederannahme durch Gott getan, so befreit ihn die Zurückweisung Dalilas, der Ursache seines Falls, aus seiner Lethargie (710-1060). In dem nachfolgenden Streit mit dem feigen Großsprecher Harapha tritt der neue Kampfesmut zutage; im vollen Besitz seiner Kraft und in der Gewißheit der Wiedererlangung der göttlichen Erwählung geht er am Ende freiwillig zum Götzenfest der Philister (1061-1440). Wie in allen griechischen Tragödien erfolgt die Schilderung der Klimax durch einen Boten, der Manoah den Hergang berichtet, und der Chor preist das Schicksal des Gottesstreiters. Durch das geduldig ertragene Leid, die Anerkennung der Schuld und die neue Bewährung hat der erniedrigte Nasiräer Simson seine Erwählung zurückgewonnen und die ihm von Gott gestellte Aufgabe vollendet (1441-1758). Miltons Drama verzichtet auf äußere Akt- und Szeneneinteilung, ist jedoch deutlich in fünf Episoden gegliedert. Im Anschluß an das klassische Drama wahrt Milton die Einheiten und gruppiert typisch gezeichnete Nebenfiguren um den Haupthelden. Der kraftvolle Stil, der selbst in der Rede episch bleibende Blankvers und die lyrische Größe der odenartigen Chorlieder machen auch dieses Werk einzigartig. Seine Schlußworte, 'And calm of mind, all passion spent', sind zugleich der Ausklang des dichterischen Streiters Milton.

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I I I . D I E PROSA 1 1. Die anglokatholische Predigt Die Prosa des 17. Jahrhunderts ist nicht auf dem Gebiete weltlicher Erzählliteratur zu suchen, in der die geistigen Erschütterungen der Zeit keinen Ausdruck finden konnten, sondern in dem wöchentlichen Ereignis der Predigt,2 die den Hof und die Aristokratie ebenso anging wie die breite Masse des Volkes und die als Erbauung wie als literarisches Kunstwerk gewertet wurde. Das Predigtideal ist von jeher ein rhetorisches gewesen: Ziel der Predigt wie der antiken Oratio' war, ein großes Thema in dauernder 'expositio', d. h. mit allen eindringlich machenden Rede- und Stilfiguren wirksam darzulegen. Die englische Renaissancepredigt eines Hooker hatte dies alte Streben in vorbildlichem Beispiel erneuert. Im 17. Jahrhundert wird der Ton weniger gelassen, sei es, daß der Redner selber bewegter wird, oder daß er schrillere Töne anschlägt, um das Ohr der Gemeinde zu fesseln. Beispiel dafür ist LANCELOT ANDREWES3 (1555-1626), der Bischof von Winchester, dessen Predigt bei aller klaren und logisch durchgeführten Darlegung ein durchgehendes Antithesenspiel zeigt, dessen seltsam gekünstelte und witzig-geistreiche Wortgebung den modernen Leser befremdet. Das ergibt sich aus der religiösen Stellung der anglokatholischen Theologen, die zur Rechtfertigung ihrer religiösen Haltung die Kirchenväter studierten, in denen sie die Vorläufer und Lehrer ihrer Kirche sahen. Anders als den Puritanern, die Waffen gegen Rom suchten, lag ihnen an der ausführlichen Erklärung der Lehre und deren wirkungsvoller Darstellung. Durch Benutzung der insbesondere von den östlichen Vätern gebotenen Vorbilder bekam die Predigt eine neue bildliche Schönheit, sie wurde aber oft zu einem Mosaik patristischer Erinnerungen, scholastischer Anspielungen und dogmatischer Konzilsbeschlüsse. Die eingefügten weithergeholten Metaphern und ungewöhnlichen Vergleiche ('concetti predicabili') gaben dem Gefühl des Gemeinsamen im Gegensätzlichen Ausdruck. Sie entsprachen besonders dem Prediger, der alle Dinge im Lichte des Ewigen zu sehen hatte und von dieser Warte aus in der Nebeneinanderstellung des anscheinend Nichtzusammenpassenden die dem 'credo quia absurdum' entsprechende höchste Wahrheit zum Ausdruck brachte. Dieser „metaphysische" Stil war eine Zeiterscheinung (s. S. 359f.) und nicht auf die Predigt oder 1

F. P. Wilson, Seventeenth Century Prose (Cambr., 1960); R. Adolph, The Rise of Modern Prose Style (Cambr., Mass., 1968). 2 The English Sermon, edd. M. Seymour-Smith et al., 3 Bde. (Manchester, 1977); In God's Name: Examples of Preaching in England 1534-1662, ed. J. Chandos (1971); Selected Sermons, ed. H. H. Henson (1939). - W. F. Mitchell, English Pulpit Oratory from Andrewes to Tillotson (1932). 3 Works, edd. J. P. Wilson and J. Bliss, 11 Bde. (1841-54); Sermons (Auswahl), ed. G. M. Story (Oxf., 1967); The Private Devotions of L. A.: Preces Privatae, ed. F. E. Brightman (N. Y., 1961). - Vgl. T. S. Eliot, For L. A. (1928).

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gar Andrewes beschränkt, er fand aber bei diesem besonders auffallende Anwendung, weil sein abgerissener, sprunghafter Stil die 'conceits' stark hervorkehrte. Diese für Andrewes bezeichnende, zu Hooker gegensätzliche Satzmelodie, die innerer Erregung entspringt, ist in den vielfachen, oft prädikatlos nebeneinander gestellten Kurzsätzen (z. B.: „Dies unsere Schuld. Soweit der Sohn. Deshalb Gott.") ebenso vorhanden wie in lang ausgeführten Sätzen, die sein lehrhaft deutender, jedes einzelne Wort unterstreichender Stil in lauter Teile zerlegt: Wie auf einer Säulenreihe ruht der Satz auf einzelnen Worten ohne Herausheben des Hauptsächlichen, womit allerdings die Gefahr des Nicht-Loskommens von einem Wort oder Bild gegeben war. Aus der Schule Andrewes', die durch William Laud (1573-1645), Richard Corbet (1582-1635), Henry King (1592-1669) u.a. vertreten ist, ragt an literarischer Bedeutung JOHN DoNNE 4 (s. S. 360) hervor. Donne sah die anglokatholische Aufgabe nicht im Nachweis der den reformatorischen Bruch überdauernden katholischen Tradition - es war ihm eine Selbstverständlichkeit, sich als katholisch zu betrachten -, er sah seine weltanschauliche Aufgabe vielmehr darin, sich mit der Forderung auszusöhnen, die nationale Kirche als einen Zweig der einen wahren katholischen Kirche zu begreifen. Während die anderen Prediger zur Auslegung des biblischen Worts in verstandesmäßiger Beweisführung kunstvolle Lehrgebäude errichteten, trägt sein an Augustin erinnerndes Begründen den Stempel einer soeben erst selbst errungenen und letzte Zweifel noch überredenden Überzeugung, was Aufbau, Art und Wortgebung seiner Predigten beeinflußte. Seine Bilder und Vergleiche sind ebenso verblüffend wie die der anderen Prediger: Zirkel, Landkarten, Entdeckungen in Westindien, scholastische Lehren vom Wesen der Engel werden herangezogen, das Predigen vergleicht er dem Harpunieren von Walfischen, und das Bild des gerechten Mannes sieht er als Radierung. Aber er ist niemals witzig im gewöhnlichen Sinne. Man fühlt, hier steht ein leidenschaftlich aufrichtiger Mann, der aus dem Schatz des Wissens Gründe holt, um sich wie seine Zuhörer von den Heilswahrheiten zu überzeugen. Seine auf der eigenen religiösen Erfahrung aufgebaute Predigt mußte die Stimme der menschlichen Seele, ihre Sündenqual und Reue, ihre Angst vor Versuchung und ihr Hoffen auf Erlösung deutlicher vernehmen lassen als die Predigt der übrigen Anglokatholiken. Was bei den anderen nur verhalten durchklang, schrie seine in grellen und düsteren Flammen flackernde Rhetorik hinaus. Tod und Sünde sind ihm unausschöpfbare Themen, die Körperverwesung malte er bis zum Irrsinn aus. Das konnte nicht in breit fließenden Satzperio4

Sermons, edd. G. R. Potter and E. M. Simpson, 10 Bde. (Berkeley, 1953-62); Auswahl: ed. T. A. Gill (N. Y., 1958); Sermons: Selected Passages, ed. L. P. Smith (Oxf., 1919); Paradoxes and Problems, ed. H. Peters (Oxf., 1980); Ignatius His Conclave, ed. T. S. Healy (Oxf., 1969); Essays in Divinity, ed. E. M. Simpson (Oxf., 1952); Devotions upon Emergent Occasions, ed. J. W. Sparrow (1923); ed. A. Raspa (Montreal, 1975); Selected Prose, edd. H. Gardner and T. S. Healy (Oxf., 1967). - E. M. Simpson, A Study of the Prose Works of J. D. (Oxf., 21948); W. R. Mueller, J. D. Preacher (Princeton, 1962); J. Webber, Contrary Music: The Prose Style of J. D. (Madison, 1963). S. auch S. 360, Anm. 2.

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den Ausdruck finden, sondern verlangte einen knappen Stil. Mögen seine Sätze äußerlich seitenlang sein, ihrem inneren Bau nach sind sie kurz, denn es sind Satzhäufungen in hinzufügender Verknüpfung, etwa einem vielmal wiederholten 'and' oder 'that'. Dadurch bekommt sein Stil etwas Drängendes und Überwältigendes; die ungestüme, unwiderstehliche Kraft seiner Rede läßt seine Schwächen und Ungleichheiten völlig zurücktreten. Die Prosakunst der Donneschen Predigt ist die Schlußstufe einer in ausgedehnten Prosaschriften gewonnenen Schulung. Er begann mit den Juvenilia or Paradoxes and Problems (erst 1633 gedruckt), rhetorischen Schulübungen, die Themen wie That women ought to paint', That by discord things increase' in sophistischer Art entwickelten. Auch sein zweites Werk Biathanatos (1608?) ist eine solche scharfsinnig durchgeführte Dialektikübung, die in gewissen, nicht durch allgemeine Regeln entscheidbaren Fällen den Selbstmord als zulässig und geboten erweist. Er verwertete diese Dialektik für die religiöse Streitliteratur und folgerte im Pseudo-Martyr (1610), die frühere Wertung umkehrend, daß die wegen Gehorsamsverweigerung bestraften Katholiken nicht als Märtyrer zu erachten seien, wie es die Jesuiten hinstellten, sondern als Selbstmörder. Die Stufe dieser Versuche ist in der zusammen mit dem Pseudo-Martyr veröffentlichen Jesuitensatire Ignatius his Conclave überwunden. In einem lebendig dargestellten Wortgefecht in der Hölle weist der Jesuitengeneral alle Gesuchsteller zurück, die nicht seinem Orden angehören, streitet mit Machiavelli, Aretino, Columbus, Neri und wird so mächtig, daß der Teufel ihn loswerden möchte, was schließlich zu einem großen Höllenaufruhr führt. Mit diesem Werk hatte sich Donne seine eigene Prosa geschaffen, die er in den geistlichen Schriften Essays in Divinity (1614/5?) und Devotions upon Emergent Occasions (1623) weiterentwickelte. Die Essays sind ein gelehrtes Werk und gehören zur theologischen Literatur im engeren Sinne, die Devotions aber sind im Gegensatz zu den die eigene Persönlichkeit förmlich auslöschenden, allgemeingültige Erbauung bezweckenden Private Devotions von Andrewes ein Buch religiöser Psychologie. In schwerer Krankheit niedergeschrieben, nimmt es die einzelnen Krankheitsstufen zum Anlaß fortlaufender Betrachtungen, die als geschlossene Reihe das Bild des Menschseins unter dem Schatten des Todes entwerfen. Die Überschriften der einzelnen Stufen: Der Arzt kommt, der Arzt fürchtet, der Arzt wünscht Zuziehung anderer Ärzte usf. steigern den persönlichen Eindruck dieser Predigten bis zum körperlichen Gefühl des Am-Krankenbett-Stehens und erweisen die metaphysischen Vergleiche als angemessenen Ausdruck seines ruhelosen Inneren und der Friedenssehnsucht seiner selbstquälerischen Seele.

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2. Die anglikanische Predigt Weniger inneren Zusammenhalt als die anglokatholische hat die anglikanische Gruppe. Ihre Vertreter waren bestrebt, einen Mittelweg zwischen Anglokatholiken und Puritanern einzuhalten und verfochten nicht leidenschaftlich bestimmte Lehren, sondern mühten sich eher, auf beiden Seiten das Gute zu sehen. Auch ihre künstlerische Haltung ist anders; obwohl alle dazu beitrugen, die Predigt der eigentlichen Literatur zu nähern, waren doch nur wenige große Künstler des Worts. Der Gelehrteste von allen, JAMES USSHER (1581-1656), schrieb eine seiner geistigen Haltung entsprechende mittlere Prosa, die das Empfinden nicht erregen will, und leitet mit Sanderson und anderen von der kunstvollen Rhetorik des frühen zu der einfachen Gemessenheit des späten 17. Jahrhunderts über. Aber für Ussher hieß Begründung eine Häufung von Autoritäten, und solche Sammlung von Belegstellen kommt einem Verzicht auf alle stilistischen Ansprüche gleich. Auch die Berühmtheit ROBERT SANDERSONS (1587-1663) ist eine theologische und auf seine Zeit beschränkt. Seine 36 Predigten sind gewichtige theologische Verlautbarungen, und ihr Stil, der in der Vorrede zum Prayer Book (It hath been the wisdom of the Church) eindrucksvoll ist, paßt nicht zum gesprochenen Wort; aber die reichliche Einstreuung klassischer Zitate weist auf ein Streben zur Sachlichkeit. Geradezu schlicht endlich ist die Prosa des Dichters GEORGE HERBERT (s. S. 363), dessen Predigtstil aus dem Country Parson zu erschließen ist, einer Abhandlung über Leben, Charakter, Lehre und Seelsorge des guten Pfarrers. Aber diese Ansätze zu schlichtem Stil sind Ausnahmen, die Mehrzahl der Anglikaner erstrebte eine der anglokatholischen gleichkommende große Prosa, die weitgehend den metaphysischen Stil durch eine Latinisierung ersetzt. In solchen Zusammenhang gehört auch die eigenwillige Prosa des königlichen Kaplans THOMAS FULLERS (1608-61), der allerdings nicht nur als Prediger bedeutsam ist. Er schrieb auch eine Kreuzzugsgeschichte, The History of the Holy War (1639), der eine Erdkunde Palästinas unter dem Titel A Pishgah-Sight (1650) folgte (Pisga ist der Gipfel des Berges Nebo, von dem Moses das verheißene Land sah). 1642 veröffentlichte er ein Buch über christliche Lebensführung, The Holy State and the Profane State, das eigentlich eine Charaktersammlung in der damals üblichen Art war (der gute Vater, der gute Soldat, der gute Schulmeister usw.). Sein gefeiertstes Werk, die Church History of Britain, erschien 1656, und schließlich hinterließ er die 1662 veröffentlichte History of the Worthies of England, eine Bestandsaufnahme der Grafschaftenzimmer, in die das große Haus England eingeteilt ist, mit Beschreibung der an den Wänden hängenden Bilder ihrer großen Männer. Ful5

Collected Sermons, edd. J. E. Bailey and W. E. A. Axon, 2 Bde. (1891); The Holy State and the Profane State, ed. M. G. Walten, 2 Bde. (N. Y., 1938); Church History, ed. J. S. Brewer, 6 Bde. (1845-48); The History of the Worthies of England, ed. P. A. Nuttal, 3 Bde. (1840; repr. N. Y., 1965); abr. edn. J. Freeman (1952); Anthologie von E. K. Broadus (Oxf., 1928). - D. B. Lyman, The Great T. F. (Berkeley, 1935); W. E. Houghton, The Formation of T. F.'s Holy and Profane States (Cambr., Mass., 1938).

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ler ist als Historiker unzuverlässig, als Theologe nicht allzu bedeutend; der Wert seiner Schriften liegt im Stil, den man witzig genannt hat. Aber nicht das Weithergeholte kommt in den Gleichsetzungen zum Ausdruck, sondern das Vertraute, wie er auch seine Rede lieber mit Sprichwortweisheit als klassischen Zitaten verbrämte. Füller wollte nicht glänzen, er wollte einfach predigen, was bei seiner guten Menschenbeobachtung und Einsicht in ihre Beweggründe zu einer ununterbrochenen Folge kluger, gütiger und unerwartet lebendiger Vergleiche führte. Da seine treffenden Wendungen aber eine Neigung zur Vereinzelung haben, und Füller eine umfassendere Struktur nicht kannte, ist seine Prosa zum leichten Stil zu rechnen, wie ihn die Verfasser der Charaktersammlungen und Memoirenbücher schrieben. Einen ganz anderen Rang nimmt JEREMY TAYLOR6 (1613-67) ein, der zu den größten Prosakünstlern des Jahrhunderts gehört. Kirchenpolitisch vertrat Taylor eine vermittelnde Richtung, die ihm schon durch seine Herbert und Ferrar ähnliche Veranlagung vorgeschrieben war, und die eigentlichen Streitschriften schrieb er mit innerer Qual. Er verteidigte den Episkopat in Of the Sacred Order and Offices of Episcopacie (1642), veröffentlichte dann sein bekanntestes Werk dieser Gruppe A Discourse of the Liberty of Prophesying (1648), worin er dem Wahrheitssucher weite Freiheit zugestand, und ließ kleinere Schriften folgen: Clerus Domini (1651) gegen die Puritaner, The Real Presence (1654) gegen die Transsubstantiationslehre der Katholiken. Die Schrift Unum Necessarium (1655), in der er mehr Eigenes gab, brachte ihn wegen seiner freien Ansichten über die Erbsünde mit der Geistlichkeit in Streit, worauf er sich in Deus lustificatus (1656) verteidigte. Mehr im orthodoxen Fahrwasser bewegte sich schließlich seine letzte Streitschrift, die zweiteilige Dissuasive from Popery (1664 und 1667). Dieser Gruppe ist auch der Ductor Dubitantium (1660) anzuschließen, ein Riesenwerk in zwei gewaltigen Foliobänden, das er als sein Meisterwerk ansah. Taylor war kein großer kirchlicher Denker, und diese ganze Streitschriftliteratur, deren Themen uns heute fremd sind, ist vergessen. Ähnlich umfänglich ist die Gruppe der erbaulichen Werke. 1649 schrieb er unter dem Titel The Great Exemplar ein völlig unkritisches Leben Jesu, dann ein Gebetshandbuch The Golden Grove (1655) - nach dem walisischen Adelssitz des Earl of Carbery betitelt, wo Taylor während der Revolution Zuflucht fand -, dann, als Ersatz für die verbotene Liturgie der Church of England, eine Collection of Off ices (1658) und für Lady Carbery die in Methode und Inhalt sich mit Franz von Sales 'Introduction ä la vie devote' berührenden und meistgelesenen Erbauungstraktate Holy Living (1650) und Holy Dying (1651). Das letzte Buch dieser Gruppe ist The Worthy Communicant (1660), eine Belehrung über das Wesen des Abendmahls und die vorbereitenden Gebete. 6

Works, ed. R. Heber, rev. C. P. Eden, 10 Bde. (l847-52); The Golden Grove: Selected Passages, ed. L. P. Smith (Oxf., 1930).- C. J. Stranks, The Life and Writings of J. T. (1952); F. L. Huntley, J. T. and the Great Rebellion: A Story of His Mind and Temper in Controversy (Ann Arbor, 1970).

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Eine dritte Gruppe bilden die in Themen und Art der Ausführung den erbaulichen Werken nahestehenden Predigten, deren Hauptmasse in den Jahren 1643-53 entstand. Auch diese Erbauungsliteratur ist vergessen, denn Taylor war kein großer Kenner des menschlichen Herzens. Seine Bedeutung liegt im Künstlerischen, er war ein Meister der englischen Barockprosa. Die Hauptmasse seines Werks, vor allem die Streitschriftenliteratur ist in ausgewogenem Stil geschrieben, mittwegs zwischen der etwas schwerfälligen elisabethanischen Prosa und der nüchternen Redeweise, die mit Tillotson die Kanzel, mit Dryden die Literatur eroberte und Vorbild des Klassizismus wurde. Die „metaphysische" Rhetorik ist fern, sie ist ersetzt durch eine Zitatenfülle, die im Gegensatz zu den Anglokatholiken Bibel und Kirchenväter weniger heranzog als Homer, Sophokles, Euripides, Vergil, Horaz, Ovid und Catull, wie das im humanistisch-religiösen Kreis um Lord Falkland in Great Tew, dem Taylor zugehörte, üblich war. Aus diesem ciceronianischen Fluß erhebt sich gelegentlich der Stil zu künstlerischem Glanz. Diese 'purple patches', wie Coleridge sie nannte, und als deren Beispiel man das Rosen- und Lerchengleichnis anzuführen pflegt (Holy Dying, S. 10, XXV Sermons, S. 59), zeigen als Eigenart der Taylorschen Wortkunst eine dauernd aufquellende Metaphernschöpfung, die alle Sinne und vornehmlich das Auge teilnehmen läßt am Erahnen des in den Sinnesbeglückungen erlebten Göttlichen. Keble sprach deshalb von einem poetischen Metapherngebrauch im Gegensatz zum oratorischen, denn diese bildschöpferische Kraft überwuchert den moralischen Gedanken, den sie beleuchten sollte; sie verselbständigt das Bild derart, daß der moderne Leser Taylors Werk nicht wegen seines Inhalts liest, sondern wegen der Ketten künstlerischer Bilder. Dabei sind die großartigen Gesichte, wie die Himmelsschau zu Ende des Lerchengleichnisses, seltener als die mit Keatsscher Wärme wiedergegebenen Bilder leuchtender, kleiner, vergänglicher Dinge wie Glühwürmchen, Sternschnuppe, Kerzenflamme, Biene, Mükkentanz, zitternde Kompaßnadel, Vogelnester, Blumen, 'the down of thistles and the softest gossamer'. Diese Bilder, die an sich schon eine 'amplificatio' des Stils darstellen, häuft Taylor derart oder malt sie soweit aus, daß die Predigt Aufnahmegefäß der künstlerischen Empfänglichkeit des Dichters wird und aufhört, Predigt zu sein. Die letzte Folge dieses in Predigten gekleideten Dichtverlangens ist das Sprechen nicht mehr über Bibelverse oder Teile von Versen, sondern über ein einziges Wort.

3.Die puritanische Predigt Auch auf puritanischer Seite finden sich Künstler des Worts, die wie Taylor das dichterische Bild über die Predigt erhöhen, wofür der Platoniker Peter Sterry7 (1613-72) ein Beispiel ist; im allgemeinen aber ist die puritanische Predigt dem barocken Übermaß fern. Das heißt nicht, daß auf Rhetorik ver7

V. de Sola Pinto, P. S. Platonist and Puritan: A Biographical and Critical Study with passages selected from his Writings (Cambr., 1934).

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ziehtet wird, aber schon die ersten, noch innerhalb der anglikanischen Kirche bleibenden Puritaner Henry Smith, Joseph Hall, Thomas Adams pflegen den kalvinischen Brauch, die Hörer persönlicher und unverblümter anzufassen. Die Predigten von HENRY SMITH8 (15507-91) weisen zwar noch eine erhebliche rhetorische Unterstützung auf, aber die lebendige Ausmalung praktischer Beispiele aus dem Alltagsleben erinnert oft an die beschreibende Kraft der Flugschriftliteratur eines Dekker und Nashe. Die bildhaften Darstellungen des Sünders, des Gerechten usw. kommen den Charakteren der Theophrastüberlieferung nahe, die JOSEPH HALL9 (1574-1656) 1608 in England einführte (s. S. 426). Obwohl von den politischen Puritanern bekämpft, muß Hall seiner streng kalvinistischen Haltung wegen den puritanischen Predigern zugerechnet werden. Er hatte wie Donne den Vorteil einer voraufgehenden schriftstellerischen Laufbahn. Als Fellow des Emmanuel College in Cambridge, wo seine Rhetorikvorlesungen großen Zulauf hatten, veröffentlichte er unter dem Titel Virgidemiantm (1597-98) eine Folge poetischer Satiren, die man wegen ihres kleinen Umfangs sowie des an Martial anklingenden Tons Epigramme nennen möchte (s. S. 378). Das durch diese dichterische Tätigkeit geschulte literarische Empfinden, das Gefühl für Maß und die Fähigkeit, durch unerwartete oder witzige Wendungen belebend zu wirken, kam seinen trotz gelegentlicher Geschwätzigkeit sich flüssig lesenden Predigten zugute. Daher erklärt sich auch die starke Heranziehung der römischen Satiriker, wie überhaupt das Einflechten klassischer Zitate ein Merkmal dieser frühen puritanischen Prediger ist. Besonders stark tritt das bei THOMAS ADAMS10 (ca. 1583 - ca. 1655) hervor, der auch Halls Neigung, Charaktere zu zeichnen, teilt und so weit steigert, daß seine meist absonderlich betitelten Predigten (The Soules Sickness; Mystical Bedlam; The Spiritual Navigator) allmählich eine Kette einzelner Charaktere werden. Abgesehen von diesen Eigenschaften, die das Bezeichnende und Neue dieser Predigtart darstellen, ist Adams' Prosa ihrer Vielseitigkeit wegen interessant. Alle Einflüsse sind verwertet: die conceits eines Andrewes und die poetische Art Taylors, der knappe Stil eines Bacon und die leidenschaftliche Intensität Donnes. Und da diese Vielfältigkeit in Adams' Predigt zu packender Wirkung verarbeitet ist, nannte ihn die Zeit einen Shakespeare der Predigt, ein Urteil, das natürlich von dem rhetorischen Gesichtspunkt des 17. Jahrhunderts aus gefällt ist. Puritanisch und von Taylor verschieden ist die spätere Zeiten seltsam anmutende, logische Verästelung der Predigtstruktur, die auf Petrus Ramus zurückgeht, gleichviel ob sie wie bei Adams als Schema der Predigt vorangestellt ist oder wie bei William Perkins11 (1558-1602) aus der Predigt aufdringlich durchklingt. Wie mit Lineal und Zirkel messen diese Prediger das le8

ed. T. Füller, 2 Bde. (repr. 1866-67); A Selection of the Sermons, ed. J. Brown (Cambr., 1908). 9 ed. P. Wynter, 10 Bde. (1863; repr. Hildesheim, 1972); Selections, ed. B. Montagu (1807). 10 ed. J. Angus, 3 Bde. (1861-62); Auswahl, ed. J. Brown (Cambr., 1909). 11 Works, 3 Bde. (Cambr., 1608 u. ö.).

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bendige Wort; bei jedem Wort, Begriff oder Gedanken sehen sie sofort alle möglichen Unterbegriffe und Beziehungen, denen sie Zug um Zug nachgehen. So tritt in der Predigt der Puritaner zergliedernde Logik an die Stelle barocker Rhetorik. Auf der anderen Seite zieht die puritanische Predigt stärker als die anglokatholische Dinge des Alltagslebens zur Erläuterung heran. Ein strenger Calvinist wie John White (1570-1615) bringt in ernster Predigt Trunkenheitsbeispiele und Geschichtchen, die an die volkstümliche Predigt der Bettelmönche erinnern. Das ist kein literarischer Gewinn, und die überwältigende Predigtmasse der späteren Puritaner, der Presbyterianer und Independenten, die den Trennungsstrich zwischen sich und der anglikanischen Staatskirche zogen, ist ohne künstlerische Bedeutung. Prediger wie Cornelius Burges, Jeremiah Burroughs, Edmund Calamy d. Ä., Joseph Caryl, Stephen Marshall, Richard Vines, Jeremiah Whitaker u. a., die Armeen zu begeistern verstanden, sind heute vergessen. Sie waren weniger Theologen, als Parteiprediger, die immer dasselbe in derselben harten Gliederung und mit derselben Anspruchslosigkeit verkündeten. Auch der Ruhm von John Owen (1616-83), der als der größte der puritanischen Theologen gilt, hat seine Zeit nicht überdauert. Nur vier Prediger können auf literarische Würdigung Anspruch erheben: Tuckney, Leighton, Baxter und Bates. ANTHONY TucKNEY12 (1599-1670) wendete sich bewußt ab von der Öde puritanischer Predigtart und bildet einen Übergang zu den Cambridger Platonikern. Seine Predigten sind schwer durch gelehrte Zitate, dabei aber weniger rhetorisch als die von Donne, Taylor und Adams, und durch die ausgesprochen platonische Bildlichkeit von einer eigenen poetischen Schönheit. Die anderen Puritaner, wie z. B. Samuel Rutherford 13 (1600-61), zeichnen sich eher durch krafterfüllte Gegenständlichkeit aus und bringen statt platonischer Bilder die hebräischen der Schrift. Beides hat seine Nachteile, ersteres birgt die Gefahr eines oft geschmacklosen Herabziehens des Erhabenen, letzteres unterbricht den Predigtfluß, so daß Rutherford nach einem solchen biblischen Bild nicht recht weiß, wie er mit seinen Ermahnungen fortfahren soll. Der andere Schotte, ROBERT LEIGHTON14 (1611-84), hatte mit diesen Schwierigkeiten nicht zu kämpfen, denn seine Beredsamkeit strebte einer klassischen Mitte zu und übte nach beiden Seiten hin Zurückhaltung. Allerdings sind die wirklich großen Stellen selten, meist ist die Prosa sorglos gehandhabt und fließt je nach dem Erklärungsbedürfnis des Textes bald uferlos, bald nahezu tröpfelnd. Sein Einfluß beruht auf der von Binning ("f 1653) aufgenommenen Art, die Predigt als Vorwand zu Vorträgen über irgendwelche Gegenstände zu benutzen. Der bedeutendste puritanische Prosaschriftsteller dieser puritanischen Gruppe ist RICHARD BAXTER15 (1615-1691), der vom Predigtamt seelsor12

Forty Sermons (l676). Gleanings from S. R. (1854). 14 ed. W. West, 6 Bde. (1869-75). 15 edd. W. Orme and H. Rogers, 4 Bde. (1868); Reliquiae Baxterianae, abr. edn. J. M. Lloyd Thomas (1925); EL; Chapters from the Christian Directory, ed. J. Tawney (1925); Saints' Everlasting Rest, ed. W. Young (21928); abr. edn. J. T. Wilkinson (1962). - Biographie von F. J. Powicke, 2 Bde. (1924-27); G. F. Nuttal, R. B. (1966). 13

III. Die Prosa

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gerische Betätigung forderte und jegliche künstlerische Absicht als dem praktischen Zweck schadend ablehnte. Gerade diese Forderung, in der den Pfarrkindern verständlichen Sprache zu reden, und zwar so ausführlich und mit so viel Wiederholung, daß der Text wirklich überzeuge, enthält die Rechtfertigung einer gemäßigten Rhetorik, wie sie in etwas anderer Art auch Leighton pflegte, und wie sie der Predigt der Zukunft eigen sein sollte. Baxters Sprache bleibt auch da, wo sie überredend und eindringlich wird, im Grunde einfach, so daß man durch seinen Stil in der von seinem Freund Matthew Sylvester als Reliquiae Baxterianae 1696 herausgegebenen Selbstbiographie den Menschen kennenlernt. Der Leser fühlt sich gewissermaßen ins Vertrauen gezogen, und aus diesem Grund ist Baxters Erbauungsbuch The Saints' Everlasting Rest (1650) ein klassisches Buch geworden. Der Prediger wußte im Zuhörer den Eindruck der persönlichen Anrede zu erwecken, und das dramatische Geschehen, zu dem in seinen Beispielen das Alltagsleben wird, fesselt noch heute. WILLIAM BATES' (1625-99) Harmony of Divine Attributes (1674) hat man elegant genannt, denn seine Sprache hat ein Gleichmaß, das jeden Gedanken an inneren Kampf ausschließt und das Ergebnis einer verstandesmäßigen Aussöhnung mit dem Glaubensbekenntnis darstellt. Mit Bates verliert die puritanische Predigt ihre bezeichnenden Merkmale, sie wird Literatur wie in den Händen Burnets, Stillingfleets und der Latitudinarier. Bei Tillotson vollends wird die Predigt zum Aufsatz, der, wenn auch eindrucksvoll von der Kanzel, erst beim ruhigen Nachlesen im Druck volle Würdigung ermöglicht. Der puritanische Predigtstil kam der Situation in den n o r d a m e r i k a n i schen Kolonien 1 6 entgegen. Dort fehlte das literarisch gebildete Publikum des Hofs, der Universitäten, der Londoner Metropole. Es fehlten die Bibliotheken, die Muße, die Tradition, die Berührung mit Andersgläubigen. Die Puritaner aller Schattierungen waren unter sich und konnten in den Neuenglandstaaten jeweils ihre Sonderart rein entfalten. Das gilt vor allem für die Vertreter des autoritären Kirchenstaats in Massachusetts. JOHN CoiTON17 (1584-1652), der seit 1633 in Boston wirkte, hatte schon im England Lauds als Dean am Emmanuel College, Cambridge, seinen Ruhm als erfolgreicher Prediger im anglikanischen Stil begründet, als er seinen Übertritt zu den Kongregationalisten damit bekundete, daß er zur Enttäuschung seiner akademischen Zuhörer den bewußt schlichten Predigtstil der Puritaner annahm, 'the wisdom of words' vertauschend mit 'the words of wisdom'. Das ist keine Preisgabe der Form. In der Formulierung von William Perkins, unter dessen Einfluß Cottons Konversion erfolgte, soll die Predigt ihre Kunst in der Einfachheit verbergen mit dem Ziele größerer Wirkung. Durch Cotton wurde dieser klare, eindringliche Predigtstil maßgebend in Neuengland. 16

Anthologie: P. Miller and T. H. Johnson, The Puritans (N. ., 1938; mit erw. Bibliographie, 2 Bde., N. Y., 1963); Salvation in New England: Selections from the Sermons of the First Preachers, edd. P. M. and N. R. Jones (Austin, 1977). 17 J. C. on the Churches of New England, ed. L. Ziff (Cambr., Mass., 1968). - L. Ziff, The Career of J. C. (Princeton, 1962); E. H. Emerson, J. C., TUSAS (N. Y., 1965).

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Viertes Buch: Die Zeit des Barock

Unter den anderen großen Predigern und Kirchenpolitikern von Massachusetts ragt die Matherfamilie18 hervor, die durch drei Generationen das kirchliche Regiment in Boston bestimmte: Richard Mather war Mitherausgeber des 'Bay Psalm Book',19, des ersten in Amerika gedruckten Buches, sein Sohn Increase Mather20 wurde nach Cottons Tod der bedeutendste Kanzelredner und Kirchenpolitiker seiner Generation, während sein Enkel COTTON MATHER21 (1663-1728) sich in der Nachwelt vor allem durch seine literarische Tätigkeit einen Namen machte. Die Zugehörigkeit zur Royal Society bezeugt die Weite seiner Interessen, die auch die antiken Autoren einschlössen, die er stets ausgiebig zitierte, und von denen vor allem die moralisierenden Historiker, insbesondere Plutarch, seine Zuneigung fanden. Sein die Memoirenliteratur Neuenglands verarbeitendes, von Thomas Füller beeinflußtes Hauptwerk Magnolia Christi Americana (1702) ist ein in einer Fülle von Material und barocker Gelehrsamkeit steckengebliebenes kultur- und kirchengeschichtliches Epos des puritanischen Neuengland, bestehend aus Predigten, Wunder- und Teufelsgeschichten, Lebensbeschreibungen und historischen Berichten von Indianerkriegen und Hexenprozessen, die alle die besondere Rolle Neuenglands in der Geschichte der Vorsehung dartun sollen. Das Werk ist eine reiche, wenn auch nicht wissenschaftlich zuverlässige Quellensammlung für den historisch Interessierten; literarhistorisch sind vor allem die der englischen Charakterliteratur verpflichteten Lebensbeschreibungen bedeutsam. Die Magnalia sind eine Verherrlichung der Vergangenheit in einer Zeit, als der Puritanismus seinen Halt über die Bevölkerung langsam zu verlieren begann. Die theologische Tendenz, nicht die theologische Anschauung, verband Cotton Mather mit dem wortgewaltigsten Prediger, den Neuengland hervorgebracht hat, JONATHAN EDWARDS22 (1703-58). Er gehört zwar schon ins 18. Jahrhundert, ist aber der letzte Vertreter des alten Puritanertums. Durch einen rigorosen Kalvinismus suchte er die hereinbrechende Aufklärung in vergeblichem Kampf zurückzudrängen. Da Edwards sich mit der aufklärerischen Philosophie in ihrer eigenen Terminologie scharfsinnig auseinandersetzte, wurde er Amerikas erster nennenswerter Philosoph. In der Hoffnung, Neuengland zum apostolischen Zeitalter zurückführen zu können, 18

R. Middlekauff, The Mathers-.Three Generations of Puritan Intellectuals, 1596-1728 ( . ., 1971). 19 Facs. Ausgabe (Chicago, 1956). 20 K. B. Murdock, I. M. (Cambr., Mass., 1925); M. I. Lowance, I. M., TUSAS (N. Y., 1974). . 21 Selections, ed. K. B. Murdock (N. Y., 1926). Selected Letters, ed. K. Silverman (Baton Rouge, 1971).- D. Levin, C. M.: The Young Life of the Lord's Remembrancer 1663-1703 (Cambr., Mass., 1979); B. Wendell, C. M.:The Puritan Priest (N. Y., 1891; pb. 1963); R. P. and L. Boas, C. M. (N. Y., 1928). 22 Works, edd. E. Williams and E. Parsons (Leeds, 1806-11; Neudruck 1847, mit 2 Supplementbänden); edd. P. Ramsay et al. (New Haven, 1957ff., i. E.); Selections, edd. C. H. Faust and T. H. Johnson (N. Y., 1935, 21962). - O. E. Winslow, J. E. 1703-1758: A Biography (N. Y., 1940); W. J. Scheick, The Writings of J. E.: Theme, Motif, and Style (College Station, 1975).

III. Die Prosa

419

verband er sich mit dem Pietismus. Diese inbrünstige religiöse Bewegung, die wie Edwards die Aufklärung bekämpfte, war von dem Methodisten George Whitefield bei seinem Aufenthalt in Amerika (1738-41) eingeführt worden; jetzt wurde Edwards dessen Statthalter. Den Höhepunkt seiner oratorischen Wirksamkeit erreichte er 1741 mit seiner berühmten Predigt Sinners in the Hand of an Angry God. Als die Evangelisationsbewegung verebbte, wandte er sich wieder philosophischer Schriftstellerei zu, deren idealistische Tendenzen vorwärtsweisen auf den amerikanischen Transzendentalismus des 19. Jahrhunderts.

4. Die Restaurationspredigt Als Vorläufer der rationalen Theologen hat John Haies23 (1584-1656) zu gelten, der im Bewußtsein, wie wenig Dogmenstreitigkeiten mit der geistigen Wahrheit zu tun haben, eine Stellung jenseits der Parteien einnahm. Die gedankliche Klarheit führte zu einer schlichten, der gedanklichen Folge sich völlig anpassenden Prosa, wie sie auch für die sog. Cambridger Platoniker24 kennzeichnend ist. JOHN SMITHS" (16167-52) Predigten lesen sich ähnlich denen von Haies, obwohl sie ein diesem fremdes philosophisches und dichterisches Licht tragen. Aber dem Stilistischen ist nie der Vorrang vor dem Gedanklichen gegönnt, vielmehr ist ein durchgehend rationaler Ton angestrebt und alles Leidenschaftliche vermieden. Selbst HENRY MORE26 (1614-1687), der mehr als ein anderer der Cambridger die Erregung kannte und eine Taylor ähnliche Phantasie besaß, ließ sich kaum je vom Rationalen ins Bildhafte verführen. Die höchste Predigtleistung der Cambridger ist RALPH CuowoRTH27 (1617-88) zuzusprechen, der 1647 vor dem House of Commons eine streng logisch gegliederte und in völliger Natürlichkeit von Punkt zu Punkt fortschreitende Predigt hielt. Er bot weniger eine herkömmliche Texterklärung als die Durchführung eines großen Themas, worin er zukunftsweisend war. Die Predigt der drei großen Restaurationsprediger28 South, Barrow, Tillotson ist bereits die moderne Predigt. ROBERT SouTH29 (1634-1716), der jüng23

ed. D. Dalrymple, 3 Bde. (Glasgow, 1765). - J. H. Elson, J. H. of Eton (N. ., 1948). The Cambridge Platonists, ed. E. T. Campagnac (Oxf., 1901); ed. G. R. Cragg (N. Y., 1968); ed. C. A. Patrides (1969). - F. J. Powicke, The Cambridge Platonists (Cambr., Mass., 1926); E. Cassirer, Die platonische Renaissance in England (Lpzg., 1932); W. C. de Pauley, The Candle of the Lord (1937). 25 ed. D. Dalrymple (Edinb., 1756). 26 Opera Omnia, ed. S. Hutin, 3 Bde. (1675-79; repr. Hildesheim 1966); Philosophical Writings, ed. F. I. Mackinnon (N. Y., 1925).- A. Lichtenstein, H. M.: The Rational Theology of a Cambridge Platonist (Cambr., Mass., 1962). S. auch S. 358 u. 388. 27 Sermon preached before the House of Commons, ed. Facsimile Text Society (N. Y., 1930). - I. A. Passmore, R. C.: An Interpretation (Cambr., 1952). 28 Three Restoration Divines: Barrow, South, Tillotson: Selected Sermons, ed. I. Simon, 2 Bde. (Paris, 1967-76). - R. P. Lessenich, Elements of Pulpit Oratory in 18th Century England 1660-1800 (Köln/Wien, 1972). 29 Sermons, 7 Bde. (Oxf., 1823, 1842). 24

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Viertes Buch: Die Zeit des Barock

ste der drei, der die anderen lang überlebte, vertrat eine altmodischere Form. Er griff zurück auf die anglikanische Predigt, lehnte aber deren barocke Formen ab; 'plain, natural and familiar' solle die Predigt sein. Wenn South auch der Vergangenheit stark verpflichtet blieb, so wurde doch unter seiner Hand aus den verschiedenen Prosastilen des Barock ein neuer, allerdings völlig unpersönlicher Stil. Gegensätzlich dazu war ISAAC BARROWS30 (1630-77) Predigt so persönlich wie die Donnes, und da sie von hoher geistiger Warte aus gehalten wurde und mit einer ebenfalls Donne vergleichbaren Phantasie, so ist hier ein dritter, Donne und Taylor nahekommender Höhepunkt der Kanzelberedsamkeit. Daß der äußere Erfolg der literarischen Bedeutsamkeit nicht entsprach, erklärt sich aus der Ausführlichkeit (die Osterpredigt 1671 nimmt im Druck 94 Oktavseiten ein) und aus dem Glanz seiner Beredsamkeit, der auf die Dauer blendete und ermüdete. Barrow bildete seinen Stil, indem er sich die schönsten Stellen aus seinen Lieblingsautoren (besonders Demosthenes und Chrysostomus) abschrieb und diese Muster unter dem Einfluß der von der Royal Society empfohlenen, vereinfachten Prosa zu einem stetigen und ebenmäßig beredten Fluß ausgestaltete, der allerdings eine gewisse Gleichförmigkeit erhielt. JOHN TiLLOTSON31 (1630-94), der als presbyterianischer Puritaner anfing und als Erzbischof von Canterbury endete, kam durch diesen Bildungsgang zu einem Vereinigen der Stilarten. Nach Burnets Urteil vermochte niemand in glücklicherer Weise unter der Einfachheit der Worte die Erhabenheit der Dinge zu bewahren. Seine Sätze waren kurz und klar und das Ganze aus einem Guß, einfach und bestimmt. Er kennt kein Prunken mit Gelehrsamkeit, kein gewaltsames Pressen der biblischen Texte, keine überflüssigen Anführungen. Und doch vermochte Tillotson diesem sachlichen und bereits modernen Stil besonders bei den ausführlich behandelten Fragen sittlicher Lebensführung etwas Persönliches zu verleihen, womit er die Aufmerksamkeit aller Zuhörer errang und die Geister eroberte.

5. Burton und Browne Das weltliche Vorspiel der Barockprosa ist die Anatomy of Melancholy (1621) des Oxforder Geistlichen ROBERT BURTON32 (1577-1640). Das als medizinische Abhandlung begonnene Buch, das alle Formen der in Mürrischkeit, Menschenhaß, Absonderlichkeit, Ironie und Sarkasmus sich äußernden Mo30

ed. A. Napier, 9 Bde. (1859). - P. H. Osmond, I. B.: His Life and Times (1944). ed. T. Birch, 10 Bde. (1820); The Golden Book of T, ed. J. Moffatt (1926). - L. G. Locke, T.: A Study in Seventeenth-Century Literature (Copenhagen, 1954). 32 edd. F. Dell and P. Jordan-Smith, 2 Bde. (N. Y., 1927; in einem Band 1929); ed. H. Jackson (EL); Philosophaster and Minor Writings, ed. P. Jordan-Smith (Palo Alto, 1931). - W. R. Mueller, The Anatomy of B.'s England (Berkeley, 1952); L. Babb, Sanity in Bedlam: A Study of R. B.'s Anatomy of Melancholy (East Lansing, 1959); R. A. Fox, The Tangled Chain: The Structure of Disorder in the Anatomy of Melancholy (Berkeley, 1976). 31

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dekrankheit verzeichnen wollte, wuchs sich aus zu einer Riesensammlung von Auszügen aus der gesamten antiken Literatur und wurde zur Summa über die Torheiten der Menschheit. Aber wenn der Verfasser die ganze Welt voller Torheiten sah und Geschichte und Literatur zum Beweis dieses Satzes durchwühlte, so schloß er seine eigenen Schwächen nicht aus; sein humanistischer Humor läßt sogar durchblicken, daß gelegentlich die Absonderlichkeit ein Versteck des Verstandes sei, und dieser eigentümlichen Geisteshaltung entspricht der Stil. Mit Recht sagt das Motto: Omne meum, nihil meum'; nichts von ihm, da er alle Autoren plünderte, alles von ihm, da sein Temperament das Vielerlei zur Einheit band. Diese dem damaligen Geschmack zusagende krause Gelehrsamkeit umfaßte alle Schulfuchsereien der Renaissance: das Prunken mit den Früchten aus fremden Gärten, das Auskramen entlegensten Wissens, das dauernde Einfügen lateinischer Brocken, die Freude am Übermaß, an Listen und Katalogen - man versteht, daß Sterne die 'Anatomy' im Tristram Shandy ausgiebig plagiiert hat. Der Schwung der Renaissance ist jedoch verloren; wie aus dem mitreißenden Tatmenschen der elisabethanischen Zeit in Burton ein etwas sonderlicher Gelehrter geworden ist, so ist aus den bei aller Verschachtelung großartigen Satzgliedern der Renaissanceprosa ein additives, aber nicht uninteressant zu lesendes Parenthesengebilde geworden. Burtons Prosa erweist eine unter Büchern verstaubende Zeit, durchaus absonderlich und der Natürlichkeit eines Montaigne fern. Während Montaignes Turmzimmer an der geistigen Heerstraße Europas lag, lebte Burton trotz seines Oxforder Wohnorts in einer geistigen Einsiedelei. Hatte Burton gesagt, er sei Theologe aus Beruf und Arzt aus Neigung, und zeigte sein Buch mehr Vorliebe für Beobachtung der Tatsachen als für Fragen nach Ursprung und Sinn des menschlichen Lebens, so war es bei THOMAS BROWNE33 (1605-82) umgekehrt. Seine Themen sind die des Predigers: menschliche Vergänglichkeit, Nichtigkeit des Ruhms und Nähe des Todes. Brownes Werk durchzieht das Hauptproblem des 17. Jahrhunderts, die Frage nach dem Verhältnis von 'ratio' und 'devotio'. Für den Norwicher 'doctor religiosus', den Royalisten und zur Toleranz neigenden Anglikaner, gerieten Religion und Wundergläubigkeit nicht in Widerstreit mit der neuen Wissenschaft; er bewegte sich mühelos zwischen den beiden Bereichen hin und her. Er wendete Bacons Methode auf die Untersuchung der Fauna seiner Heimat an und wollte landläufige Vorurteile richtigstellen; er teilte aber gleichzeitig mit vielen Zeitgenossen den Glauben an Hexen, Astrologie und Alchemic und lehnte das kopernikanische System ab. Bei aller aufgeklärten Skepsis behielt er stets einen Sinn für das Wunderbare und Numinose, das er auch in 33

Works, ed. G. Keynes, 4 Bde. (repr. 1964); Religio Medici and Other Works, ed. L. C. Martin (Oxf., 1964); Urne Buriall and The Garden of Cyrus, ed. J. Carter (Cambr., 1958); The Major Works, ed. C. A. Patrides (PB). - F. L. Huntley, Sir T. B.: A Biographical and Critical Study (Ann Arbor, 1962); J. Bennett, Sir T. B. (Cambr., 1962); E. S. Merton, Science and Imagination in Sir T. B. (N. Y., 1949); L. Nathanson, The Strategy of Truth: A Study of Sir T. B. (Chicago, 1967).

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Viertes Buch: Die Zeit des Barock

der Natur entdeckte, in der sich Gott neben der Bibel als seinem zweiten Buch geoffenbart hatte; und den Anfechtungen der Vernunft und des Teufels begegnete er ohne Schwierigkeit mit Tertullians 'Certum est, quia impossibile est'. Sein erstes Buch, Religio Medici (1643), eine Verteidigung der Ärzte gegen den Vorwurf des Unglaubens, wurde in müßigen Stunden fast plaudernd niedergeschrieben, in stetem Ausgehen vom Ich und oft wie ein Selbstgespräch anmutend. In diesem persönlichen Stil liegt der künstlerische Reiz des Werks, dessen Erfolg jedoch den damals skeptisch, heute herkömmlich anmutenden philosophisch-theologischen Ansichten Brownes zuzuschreiben ist. Browne folgerte: wenn eine früher allgemein angenommene Tatsache oder Meinung experimentell oder durch historische Forschung nachgeprüft werden kann und diese Prüfung sie als unhaltbar erweist, so ist sie aufzugeben. Ist aber eine solche Tatsache oder Meinung nicht nachprüfbar, so kann sie beibehalten werden und die Weisheit derer, die sie aufgeben, ist zweifelhaft. Dieses Helldunkel des Verstandes spiegelt sich in seinem Stil, welcher dem der anglikanischen Predigergruppe nahesteht, barock in der großen Geste und doch nicht so formal, daß über der angestrebten Großartigkeit der vertraute Reiz der persönlichen Aussprache verlorengeht. Allerdings gilt das am wenigsten für das längste, bezeichnendste und mit großer Sorgfalt für die Öffentlichkeit ausgearbeitete Buch Pseudodoxia Epidemien (1646), eine Untersuchung über die Haltbarkeit der Vorstellungen, Vorurteile und abergläubischen Ansichten seiner Zeit. Heute ist nur noch die philosophische Einleitung lesbar, das übrige ist eine formlose und an sich weiter fortsetzbare Zettelsammlung, ein in Einzelheiten belustigender Raritätenladen kurioser Gelehrsamkeit. Die große Prosa zeigt sich in den Parerga, deren erstes, Hydriotaphia or Urne-Buriall (1658 veröffentlicht), durch die Auffindung von Graburnen in Norfolk angeregt war. Browne erstrebt nicht die logische, wohlproportionierte ciceronianische Periode, sondern die sog. „gehackte" Periode des SenecaVorbilds, die kurze Satzglieder unverbunden aneinanderreiht, bzw. die „lose" Periode, die einen Gedanken in lockerer, informeller Fügung weiterspinnt, bis er in einem offenen Schluß endet, so daß der Eindruck einer imaginativbildhaften Entfaltung entsteht. Die bis zur Vollendung gefeilte Sprache enthält selbst in einfach scheinenden Wortzusammenstellungen eine mit feinem Ohr erprobte Folge der Vokalklänge und eine genau ausgewogene rhythmische Bewegung. Hierzu trägt wesentlich bei die beliebte Koppelung mehrsilbiger und seltener lateinischer Wörter mit kurzen, bedeutungsgleichen oder -ähnlichen Wörtern germanischer Herkunft ('this funambulatory Track and narrow Path of Goodness'), wodurch die Sprache zu einem musikalisch-rhythmischen Ausdrucksmittel wird, das einen Bereich jenseits des Verstandes fühlbar macht. Der Höhepunkt solcher Prosa, die zugleich überreich ist an Neuschöpfungen, schroffen Übergängen und unerhörten Kühnheiten, findet sich im Garden of Cyrus (veröffentlicht 1658), worin die 'quincunx' (die Fünfpunktanordnung des Würfels) mit einer verblüffenden Gelehrsamkeit in Kunst- und Naturform, auf Erden und am Himmel, in den körperlichen und

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in den geistigen Dingen aufgedeckt wird. Es ist ein verstandesmäßiges Belagern von rätselhaften Dingen, in denen er eine geheimnisvolle Offenbarung, das Wunder, aufzuspüren hoffte. Ununterbrochen drängten sich ihm solche Rätselfragen auf, und dann suchte er wieder, wie in der nachgelassenen Abhandlung Christian Morals, den ahnenden Flug seiner Phantasie zu hemmen.

6. Wissenschaftliche Prosa, Historiographie, Charakterliteratur Anders gerichtet i s t d i e w i s s e n s c h a f t l i c h e P r o s a , d i e a n FRANCIS BACONM (s. S. 357) anknüpft. Bacons Hauptwerke sind lateinisch, nur die Parerga, denen jedoch die größere literarische Bedeutung zukommt, sind englisch geschrieben. Während Sir Walter Raleighs35 (ca. 1552-1618) großangelegte History of the World (geschrieben 1607-14), von der nur der erste, die jüdische, griechische und römische Geschichte behandelnde Teil vollendet wurde, eine philosophische Wendung der alten Universalgeschichte versuchte, ist Bacons History of the Reign of Henry VII (1622) weniger Ereignisbericht als politische Charakterstudie, weniger Betrachtung des Weltenlaufs als Darlegung der Regierungsgrundsätze. Diese neue Art philosophischer Geschichtsschreibung hatte er in The Advancement of Learning (1605), einer die Wissenschaften auf ihren Lehrwert hin untersuchenden Abhandlung, gefordert; auch die unvollendet hinterlassene Beschreibung eines Idealstaats, New Atlantis (1626/7), die nicht zufällig an Thomas More anklingt, gipfelt in solcher Philosophie: im Bericht über Salomos Haus, das naturwissenschaftliches Museum und Universität in einem ist und Erkenntnis der Gründe der Dinge und Ausdehnung der Grenzen menschlichen Vermögens lehren soll. Der Stil dieser Werke, insbesondere des Advancement, erinnert vielfach an die fließenden, langen Perioden Hookers, aber in den Essays, deren drei, jeweils vermehrte Ausgaben in die Jahre 1597, 1612, 1625 fallen, herrscht ein anderes Prosaideal als das elisabethanische. Die Eigenart dieses Stils zeigt das Gegenbeispiel Montaignes; wo dieser füllig ist, voll vertraulicher Bekenntnisse, von allem gefesselt und geneigt, über alles zu philosophieren, ist Bacon kurz, fast sibyl34

History of Henry VII, ed. J. R. Lumby (Cambr., 1876), ed. R. Lockyer, Folio Society (1971); ed. J. F. Levy (Indianapolis, 1972); Advancement, ed. W. A. Wright (Oxf., 5 1900); EL, WC; New Atlantis, ed. G. C. Moore Smith (Cambr., 1900), ed. A.B. Gough (Oxf., 1915); Essays, ed. R. F. Jones (N. Y., 1937); EL, WC (vgl. hierzu die schon 1600-1601 erschienenen Essayes by Sir William Cornwallis, ed. D. C. Allen, Baltimore, 1946). - F. H. Anderson, F. B.: His Career and His Thought ( . ., 1962); C. D. Bowen, F. B.: The Temper of a Man (Boston, 1963); B. Vickers, F. B. and Renaissance Prose (Cambr., 1968); R. Ahrens, Die Essays von F. B.: Literarische Form und moralistische Aussage (Heidelberg, 1974). 35 Works, 8 Bde. (Oxf., 1829); Selections from Historic of the World, ed. G. E. Hadow (Oxf., 1917); ed. C. A. Patrides (1971). - W. M. Wallace, Sir W. R. (Princeton, 1959); N. L. Williams, Sir W. R. (1962); E. A. Strathman, Sir W. R.: A Study in Elizabethan Skepticism (N. Y., 1951); S. J. Greenblatt, Sir W. R.: The Renaissance Man and His Roles (New Haven, 1973); R. Lacey, Sir W. R. (N. Y., 1974).

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Viertes Buch: Die Zeit des Barock

linisch, unpersönlich. Er fing nie mit „ich" an, wollte überhaupt kein rein beschauliches Denken und begnügte sich, aus Beobachtung und Erfahrung allgemeine Leitsätze zu ziehen. So schrieb er weniger für die wachsende Schicht der Gebildeten als für seinesgleichen. Das Gedankliche und der ihm folgende Ausdruck sollte möglichst dicht und gedrängt sein. So wird die Stilgrundlage der Essays der zusammengepreßte aphoristische Satz, gedanklich geschlossen, aber nicht formal kunstvoll. In Sachlichkeit der Sprache und methodischer Anordnung des Stoffs ist Bacon der modernen Prosa näher als irgendeiner seiner Zeitgenossen, er ist ihr aber fern durch die Sprödigkeit seines Stils. Die zukunftweisende Bedeutung läßt das wissenschaftliche Schrifttum weniger lückenlos ablesen, als es innerhalb der Predigtprosa möglich war. JOHN SELDEN36 (1584-1654), den man The Monarch of Letters' hieß und vor dessen Gelehrsamkeit sich die Zeit beugte, schrieb seine wenigen englischen Werke in hartem und dunklem Stil; die anziehenden Tischgespräche (Table Talk, 1689) sind überdies von seinem Sekretär Richard Milward in einfacherer Sprache aufgezeichnet, als sie Seiden eigen war. So muß THOMAS HOBBES (vgl. S. 403) als Vollender der wissenschaftlichen Prosa erscheinen. Er vermied es, ein Wort zuviel zu sagen, er bemühte sich aber, das richtige Wort zu sagen. Die Struktur ist alles, und das Ziel ist, durch die klare Darlegung zu überzeugen. Das dachte er langsam aus; Aubrey erzählt, daß er auf Spaziergängen sann, stets ein Notizbuch bei sich führte und im Griff seines Spazierstocks Tinte und Feder hatte. Sowie ein Gedanke sich endgültig formte, schrieb er ihn auf. Neben dieser bereits modernen, streng wissenschaftlichen Prosa zeigt die h i s t o r i o g r a p h i s c h e , zumal im 17. Jahrhundert, engere Bindungen mit der eigentlichen Literatur. Hoch war der Stand der Geschichtsschreibung nicht, ihr Stil meist kunstlos. Gelegentlich, wie etwa bei John Hayward37 (1564? bis 1627), zeigt sich ein Versuch, dem Stil eine klassische Wendung zu geben, jedoch ohne die dichterische Phantasie und ohne den machtvollen rhetorischen Schwung, die Raleighs Weltgeschichte zuweilen eigen sind. Die beliebten Geschichtsbücher waren wie zu Shakespeares Zeit die Chroniken. Die den Antiquaries eigene Art des Sammeins und Aufstapeins von Kenntnissen finden wir bei Robert Cotton38 (1571-1631) und Henry Spelman39 (ca. 1561-1641) ebenso wie einst bei Camden, Leland und dem bürgerlichen Speed. Nur die eigentlich eine Übersetzung darstellende Türkengeschichte des Schulmeisters Richard Knolles40 (ca. 1550-1610) zeigt einen Stil, der nach Dr. Johnsons Urteil rein, kraftvoll und klar ist, wenn auch rhetorischer als später üblich. 36

Opera Omnia, ed. D. Wilkins, 3 Bde. (1726); Table Talk, ed. S. H. Reynolds (Oxf., 1892), ed. F. Pollock (1927), EL. 37 Annals of the First Four Years of the Reign of Queen Elizabeth, ed. J. Bruce, Camden Society (1840). 38 History of Henry III (1627). 39 Life of Alfred the Great in: The English Works, ed. E. Gibson (1723). 40 General Historic of the Turkes (1603).

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Der einzige wirklich große Name literarischer Geschichtsschreibung ist EDWARD HYDE, EARL OF CLARENDON41 (1609-74), dessen nicht für die zeitgenössische Öffentlichkeit bestimmten Werke eine Zwischenstellung einnehmen zwischen Historiographie, Autobiographie und Charakterbeschreibung. Sowohl die 1646-48 im Exil in Jersey begonnene History of the Rebellion (teilweise gedruckt 1702-04, vollständig 1759) wie die in der dritten Person abgefaßte Selbstbiographie The Life of Edward Earl of Clarendon (geschrieben 1668-71, publ. 1759) sind Werke eines Soldaten, Verwaltungsbeamten, Politikers, nicht eigentlich eines Gelehrten, die zum Nutzen künftiger Staatsleute eine politische Laufbahn und das Entstehen des großen Kampfes berichten. Deshalb erzählt er in möglichst unpersönlicher Haltung, scharf in der Darlegung auch der eigenen Fehler, seinen Lebenslauf, der ihm unter der Hand zur Geschichte wurde, ihn vom Exil in die höchste Staatsstellung brachte und dann wieder in die Verbannung nach Frankreich zurückführte. Er gab keine philosophische Betrachtung der Gründe einer Revolution, kein Unparteilichkeit anstrebendes Geschichtswerk, sondern eine Verteidigungsrede in eigener Sache, anständig und von hoher Warte. Modern ist der große Plan, die Gabe umfassenden Blickes, mit dem eine politische Gesamtlage, ein Sittenbild, ein Mensch in seiner Umwelt gesehen und wiedergegeben ist - eine Gabe des Historikers. Modern ist auch die Anteilnahme und das Eindringen in die das Einzelleben angehenden Wirkungen des Geschehens, die Streiflichter werfenden kleinen Züge und Anekdoten - eine Gabe des Memoirenverfassers; modern ist endlich der Mut, in einer mit gelehrtem Schmuck überlasteten Zeit einfach zu schreiben und durch die Einfachheit zu überzeugen eine Gabe des Prosaikers. Künstlerisch hervorragend sind die zahlreichen, nahezu alle wichtigen Männer der Zeit vorführenden Bildchen, die, der Theophrastschule und der zeitgenössischen Charakterliteratur verpflichtet, dennoch die oft blutleeren Verallgemeinerungen dieser Literatur weit übertreffen. Ob er eine fein ausgeführte Miniatur gibt, wie die von Sidney Godolphin, oder Bilder größeren Ausmaßes, wie die von Haies und Earle, ob er bitter zeichnet, wie in der Skizze des Erzbischofs Williams, oder Humor hineinspielen läßt, wie in der Zeichnung der beiden Vanes - stets ist seine Linienführung sicher; die verschiedenartigsten Menschen sind unvergeßlich und oft unübertrefflich dargestellt, wie das berühmte Charakterbild Lord Falklands. Der an lateinischen Mustern geschulte Stil vermeidet die schwer überschaubaren Perioden, die Miltons Prosa unenglisch erscheinen lassen, und vermeidet den Anschein bewußter literarischer Prägung mit dem Gewinn, nie eintönig zu werden, allerdings auch dem Mangel, nie an die große Beredsamkeit von Donne, Taylor, Browne heranzureichen. Aber in seinem Stil sieht man ihn selbst, er zeigt die Gefallsucht, die ihn als Parlamentsmitglied und Höfling erfüllte, wie auch die Würde, die ihn in Verleumdung und Unglück auf41

History, ed. W. D. Macray, 6 Bde. (Oxf., 1888); The Life of E., E. of C, 2 Bde. (repr. from the MS., 1857); Auswahl aus History und Life, ed. G. Huehns (WC). - B. H. G. Wormald, Clarendon: History and Religion (Cambr., 1951); A. Bosher, The Making of the Restoration Settlement (1951).

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recht hielt. Bereits dem klassizistischen Zeitalter gehört die Prosa Gilbert Burnets (1643-1715) an, dessen bekanntestes Werk The History of My Own Time42 ist (publ. 1724-34). Clarendon vereinigte die im 17. Jahrundert blühenden Prosagattungen der Charakterliteratur und der Autobiographie. Erstere hat ein Vorspiel in Ben Jonsons 'humours'-Typen und in Thomas Dekkers Art, die Lebensgewohnheiten und Geziertheiten eines bestimmten Typus, des 'Gull', zu schildern (s. S. 273), wie das dann Swift, Steele und Addison im Zeitalter der Königin Anna taten und wie es sich noch in Thackerays Snobbuch findet. Verfeinernd setzte dann mit Casaubons Ausgabe der Charaktere Theophrasts (1592) die Charakterliteratur43 ein: 1608 veröffentlichte Bischof JOSEPH HALL (15741656) seine Characters of Virtues and Vices44. Hall ist weniger ein distanzierter, satirischer Beobachter als vielmehr ein christlicher Moralist, der durch 'exempla', wie sie in den Predigten begegnen, mahnen und bessern will. Durch die Lebendigkeit der Beobachtung und den ethischen Ernst steht er Theophrast nahe, unterscheidet sich aber von ihm durch die Kommentierung seiner Porträts. Auch der Staatsmann Sir Henry Wotton, dessen Leben Walton beschrieb, hat sich in ähnlicher Art versucht, und Samuel Rowlands verwertete solche Charaktere für die Unterhaltungsliteratur (Hell's Broke Loose, 1606; The Melancholy Knight, 1619). Die Hauptvertreter der Gattung waren Sir Thomas Overbury und John Earle. Die Characters45 (1614) von THOMAS OVERBURY (1581-1613) stammen zum Teil von einigen Freunden, die nach Overburys skandalumwittertem Tod zu der Sammlung beitrugen (wahrscheinlich vor allem Thomas Dekker und der Dramatiker John Webster). Overbury verfolgt nicht mehr wie Hall ein didaktisch-moralisches Ziel, er kehrt in seinen Charakterskizzen den sozialen und politischen Aspekt hervor und steigert den Realismus, die Satire und die geistreich zugespitzte Art der Darstellung, der häufig eine Tendenz zum Frivolen eignet. JOHN EARLE (ca. 16001668) zeichnet sich dagegen durch moralischen Ernst aus, und er vervollkommnet in seiner Micro-Cosmography46 (1628-29) die Lebendigkeit der Beobachtung, den Realismus und die geschliffene Diktion noch durch den Humor des überlegenen Betrachters, so daß seine besten Stücke zu glanzvollen Essays werden. Diese Werke begründeten eine Schule satirischer, ethischer oder dramatischer Bildniskunst, der auch Samuel Butler (Characters in: Genuine Remains, 1754) zugehört, und aus der die Kunst La Bruyeres zu Ende des 17. und die Addisons zu Beginn des 18. Jahrhunderts erwuchs. 42

ed. O. Airy, 2 Bde. (Oxf., 1897-1900); Supplement ed. H. C. Foxcroft (Oxf., 1902); Kürzung in EL. - Biographie von T. E. S. Clarke and H. C. Foxcroft (Cambr., 1907). 43 B. Boyce, The Theophrastan Character in England to 1642 (Cambr., Mass., 1947); Auswahl aus der Charakterliteratur: D. N. Smith, Characters from the Histories and Memoirs of the Seventeenth Century (Oxf., 1918 u. ö.). 44 ed. R. Kirk (New Brunswick, 1948). Vgl. S. 378 und 415. 45 The Overburian Characters, ed. W. J. Paylor (Oxf., 1936). 46 ed. A.S. West (Cambr, 1897; repr. 1951); ed. H. Osborne (1933).

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7. Memoirenliteratur Wichtiger für die Geschichte der Prosa ist die Memoirenliteratur, deren große Verbreitung im 17. Jahrhundert durch die Sitte, den vielen theologischen Werken Lebensbeschreibungen der Verfasser voranzustellen, gefördert wurde. Das weit zurückliegende Vorbild der Heiligenlegende ist hierbei noch erkennbar, und als Muster gelten die Morebiographien. Den abschließenden Höhepunkt bildete das Bändchen Biographien, die IZAAC WALTON47 (1593-1683) meist als Vorreden zu verschiedenen Zeiten seines langen Lebens schrieb. Walton bringt eine einzigartige Schlichtheit des Ausdrucks, ein gepflegtes Englisch und einen behaglich gelassenen, weisen und gereiften Stil. Von den fünf Lebensbeschreibungen ist die seines Freundes Donne die erste (1640) und wegen der Persönlichkeit des Dargestellten die meistgelesene. Sie gibt zugleich den Ton an: Waltons Helden sind fromme und schriftstellerisch tätige Männer, die ihrer Idealisierung widersprechenden Züge werden fortgelassen; die Darstellung, die als Kunstwerk in leicht steigendem Aufbau auf den Schluß hin ausgerichtet ist, beschränkt sich bewußt auf persönliche, das innere Fühlen des Helden zum Ausdruck bringende Handlungen und Ereignisse und ist in einem die Kunst verhüllenden und in solchen Werken ungewohnten, leichten Plauderton gehalten. Das gilt für alle Leben, wenngleich das des Sir Henry Wotton (1651), eines Staatsmannes, notgedrungen weltlicher ist, unterhaltsamer und gelegentlich von einem an die Renaissance erinnernden Glanz der Sprache, das George Herberts (1670) umgekehrt von erbaulicher, wenn auch ganz persönlich gefärbter Eindringlichkeit, in frommer und zartklingender Tonart. Die Kunst, einen Menschen in Beziehung zu seiner Umgebung zu sehen, ist in der Biographie Richard Hookers (1665) am schönsten herausgearbeitet, und das abschließende Stück, das Leben Sandersons (1678), fügt noch einen weiten geschichtlichen Ausblick hinzu. Waltons immer mehr hervortretende Art, plutarchische Abschweifungen und eigene philosophische Betrachtungen einzuflechten, verleiht seinen Schriften Reize, die manchen der ausgeführten Autobiographien fehlen. Dies macht auch den Charme seines Compleat Angler (1653) aus, der, in politisch und religiös bewegter Zeit geschrieben, nostalgisch von den Freuden des Angelsports und einem einfachen, geruhsamen Leben in ländlichem Frieden erzählt. Wie Walton bekennt, ist das Buch 'a picture of my disposition', und diese das Buch durchziehende Liebe zu einem besinnlichen Leben hat es zu einem der populärsten Werke der englischen Literatur gemacht. Die Selbstbiographie48 des Philosophen und Staatsmannes Herbert of Cherbury49 (gedruckt 1764) gibt nur ein Bild seines äußeren Gesellschaftslebens 47

Works, ed. G. Keynes (1929); Lives WC, Angler WC, EL.- F. Costa, L'Oeuvre d'I. W. (Montreal, 1973); D. Novarr, The Making of W's Lives (1958); J. R. Cooper, The Art of the Compleat Angler (Durham, N. C, 1968). 48 D. A. Stauffer, English Biography before 1700 (Cambr., Mass., 1930); P. Delany, British Autobiography in the 17th Century (1969); M. Bottral, Every Man a Phoenix: Studies in Seventeenth-Century Autobiography (1958). 49 ed. S. Lee (21906); ed. C. H. Herford (1928).

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(bis 1624), während man den Menschen sehen möchte, und die ebenso gesellschaftlichen Private Memoirs of Sir Kenelm Digby, Gentleman of the Privy Chamber to King Charles 750 (1628) verkleiden nicht nur das Denken, sondern auch die Namen und die Sprache wie in einem galanten Roman. Mehr über die Zeit besagen die auswärtige und heimische Politik erörternde Autobiography and Correspondence of Sir Simonds D'Ewes5^ (1649) und die sie ergänzenden, etwa gleichzeitigen Denkwürdigkeiten, in denen Sir Henry Slingsby of Scriven52 das Leben eines Landedelmannes erzählt, und die etwas lebhafter geschriebene und auch an religiösen Dingen Anteil nehmende Selbstschilderung von John Rous53 (1643). Die diesen männlichen Autobiographien fehlende seelische Einsicht findet sich in den mehr mit dem Ich befaßten und damit persönlicher und lebenswahrer wirkenden weiblichen Selbstbildnissen. LUCY APSLEY (MRS. CHINSON) schrieb etwa 1664-71 (publ. 1806) The Memoirs of the Life of Colonel Hutchinson, written by his Widow54 und stellte ihnen ein autobiographisches Bruchstück voran: The Life of Mrs. Lucy Hutchinson, written by herself. Die Absicht der Verfasserin, sich zum Trost und den Kindern zum Andenken das Bild des Verstorbenen wachzurufen, mag den als würdig erachteten, aber ungeschickt-rhetorischen Stil verschuldet haben, doch sind genügend Stellen da, an denen tief persönliches und gelegentlich leidenschaftliches Empfinden durchbricht. Historisch fesselnd ist das Leben des Soldaten und Abgeordneten Hutchinson, ein puritanisches Gegenstück zu Clarendon; literarisch wertvoll ist die Liebesgeschichte der Gatten, denn hier ist Lucys Rhetorik zugleich Beredsamkeit des Herzens und den großen Meistern der Zeit nahe. Andersgeartet, weiblicher auch im Stil, ist MARGARET LUCAS, MRS. CAVENDISH (1623-1673), die ebenfalls eine Doppelbiographie schrieb: Life of William Cavendish, Duke of Newcastle5* (1667), und Margaret Cavendish: A true Relation of my Birth, Breeding and Life (1656), wozu die CCXI Sociable Letters (1664) eine Ergänzung bilden. Inhaltlich und auch in dem mit klassizistischer Sicherheit gehandhabten, gelehrt aufgeputzten Stil spiegelt sich das Leben einer Precieuse, arm an bewegten Begebenheiten, scharf in der Beobachtung von Männern und Frauen und in dem entwaffnend ausgesprochenen Egoismus ein Charakterbild der literarischen Salons und der schriftstellernden Damen. Diese Entwicklung zeigen in anderer Spielart auch die Autobiographien der Ladies Fanshawe und Halkett. ANNE HARRISON (1625-80), die 1644 Sir Richard Fanshawe heiratete, einen literarisch interessierten Adligen, der sich als Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen hervortat und eine bewegte Laufbahn hatte, schrieb 1676 ihre Memoirs56 50

Erst 1827 gedruckt, ed. H. N. Nicolas. ed. J. O. Halliwell-Phillipps, 2 Bde. (1845). 52 Diary, ed. D. Parsons (1836). 53 Diary, ed. E. Green, Camden Society (1856). 54 ed. C. H. Firth, 2 Bde. (21906); ed. J. R. Sutherland (Oxf., 1973); EL. 55 ed. C. H. Firth (21906); EL. 56 ed. H. N. Nicolas (1829); ed. from MS. (1907). 51

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(gedruckt 1829). Anschaulich und überzeugend erzählt sie in ihnen ein großes Geschehen, die Hochzeit in Wolvercote Church bei Oxford, die Nöte des Bürgerkriegs, die Reisen des Hofs zu den Scilly Islands und nach Jersey, den Abschied vom König, den Krieg in Irland und das französische Exil. Die zwanglose Erzählung ermöglicht unmittelbares Miterleben, und die Beschränkung auf die Schicksale der zwei Hauptpersonen, welche die Liebesgeschichte zum Angelpunkt der Geschehnisse macht, gibt diesen Denkwürdigkeiten die künstlerische Einheit. Auch die 1678 geschriebene, 1875 veröffentlichte Autobiographie von ANNE, LADY HALKETT57 ist eine Liebesgeschichte, und zwar eine dreifache, die sich an die Namen von Thomas Howard, Colonel Bampfield und Sir James Halkett knüpft. Es ist ein unterhaltsamer, sehr flüssiger Bericht über die Frau selbst, über alles Äußere hinweghuschend und sich in die psychologischen Wurzeln einer Handlung vertiefend, ein Vorausdeuten des Romans, wie er im nächsten Jahrhundert unter den Händen Richardsons entstehen sollte. Eine Sonderstellung haben die Tagebuchaufzeichnungen von Evelyn und Pepys. JOHN EVELYN58 (1620-1706) führte von 1641 bis zu seinem Tode ein Tagebuch, dessen genauer, in Einzelheiten gehender Erzählbericht in einfachem Stil mit der Evelyn eigenen Zurückhaltung und in gedanklich klarer Ordnung ein aufschlußreiches Zeitbild Englands und der von ihm bereisten Länder Frankreich, Italien, Holland entstehen läßt. Scharf gesehen sind die Skizzen zeitgenössischer Personen, aber des Verfassers Neigungen, die aus seinen Veröffentlichungen über Schiffahrt, Gartenbau, Radierungen und Beseitigung des Londoner Rauchs klar hervorgehen, ließen ihn über künstlerische naturwissenschaftliche und technische Dinge ausführlicher sprechen als über Geist und Seele der Menschen. Im Gegensatz dazu ist das gleichfalls nicht für die Veröffentlichung gedachte, sogar in Kurzschrift abgefaßte Tagebuch von SAMUEL PEPYS59 (1633-1703) ein Buch grenzenloser Aufrichtigkeit, das während der Jahre 1660-69 Tag für Tag sein Tun, Denken und Empfinden berichtet und bis in alle sonst von Sitte und Herkommen überdeckten kleinen Schwächen hinein das lebenswahre Bild eines Durchschnittsmenschen der Restaurationszeit enthüllt. Ein fleißiger Beobachter von unermüdlicher Wissensneugier, zeichnete er alles auf, was er über Festtag und Alltag, Hof und Stadt, Theater und Literatur in Gesellschaft und Kaffeehaus sah und erfuhr. Der ganze Klatsch seiner Tage wird lebendig und wirft 57

ed. J. G. Nichols, Camden Society (1875). The Diary of J. E., ed. E. S. de Beer, 6 Bde. (Oxf., 1955), einbändige Ausgabe (Oxf., 1959); Selection, ed. P. Francis (1963); EL. - F. Higham, J. E. Esquire: An Anglican Layman of the Seventeenth Century (1968); B. Saunders, J. E. and His Times (Oxf., 1970); J. K. Welcher, J. E., TEAS (N. Y, 1973). 59 ed. H. B. Wheatley, 10 Bde. (Cambr., 1893-99), 8 Bde. (1946); edd. R. Latham and W. Matthews, 11 Bde. (Berkeley, 1970ff., i. E.); gute Kürzung: Everybody's Pepys, ed. O. F. Morshead (1926); EL; Übs. (Ausw.), ed. H. Winter (Stuttgart, 1980). Correspondence, ed. J. R. Tanner, 3 Bde (1926-29). - A. Bryant, S. P., 3 Bde. (Cambr., 1933-38); P. Hunt, S. P. in the Diary (Pittsburgh, 1958); I. E. Taylor, S. P. (N. Y., 1967); R. Ollard, P.: A Biography (1974). 58

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bezeichnende Streiflichter auf das Treiben der Bürger und Adligen. Das bunte Bild gewinnt greifbare Anschaulichkeit, weil der Betrachter sich so sehr den Meinungen seiner Zeit einordnete, daß sein Ich zu einem „man" wird, ohne dabei unpersönlich zu werden. Die kurze, abgerissene Aufzeichnungsweise mit ihrem Drauflosreden in einer Sprache, die reich an geprägten und oft unbesehen übernommenen Wendungen ist, tut ein übriges, um den Eindruck der Unmittelbarkeit zu erwecken. Zugleich ist sie ein Beweis, daß der alte periodische Satzbau, zumindest im Umgangston und für private Aufzeichnung, seine Gültigkeit verloren hatte.

8. Allegorisch-didaktische Prosa Künstlerisch ebenfalls der Autobiographie zugehörig ist das religiöse Schrifttum JOHN BUNYANS60 (1628-88). Er begann mit einer im Gefängnis niedergeschriebenen Selbstdarstellung, Grace abounding to the Chief of Sinners (1666), worin er seine innere Entwicklung zur Heilsgewißheit erzählte. Es ist neben dem Journal von George Fox61 (1624-1691) die beste der zahlreichen puritanischen Autobiographien; denn das an sich belanglose Leben des kleinen Klempners, der zuerst königlicher Soldat war, heiratete und sich dann bekehrte, die Staatskirche verließ und sich einer Dissentergemeinde anschloß, erhält eine alle angehende Bedeutung, weil die mit augustinischer Offenheit ausgesprochenen Bekenntnisse ursprüngliche Seelen- und Gewissensregungen schildern, die jeden irgendwie treffen. Dieser ungeschminkten Offenheit entspricht eine Prosa von vollendeter Schlichtheit, die innerhalb des Bereichs der Umgangssprache das Gefühlte und Gesehene klar und mit höchster Lebendigkeit zum Ausdruck bringt. Genau wie er nur innere Stimmen hörte, um mit dem Bericht innerer Kämpfe und schlecht beruhigter Zweifel den Gläubigen als tröstendes Beispiel zu dienen, genau so wollte er einen Stil, der auf allen äußeren Schmuck verzichtet. Mögen gelehrte Leser ihn darum tadeln, er könne nicht anders schreiben, denn er habe nichts außer der Bibel gelesen; auch wenn er die Kirchenväter und andere Bücher gelesen hätte, würde er nicht wagen, kunstvoll zu schreiben, damit die ihm verliehene göttliche Gabe nicht durch menschlichen Witz entstellt werde. Die biblische Rhetorik seiner Sprache, wie der puritanischen Umgangssprache überhaupt, entsprang religiöser, nicht künstlerischer Absicht. 60

Collected Works, ed. G. Of for, 3 Bde. (1852), ed. H. Stebbing, 4 Bde. (1859); The Miscellaneous Works of J. B., edd. R. Sharrock et al. (Oxf., 1976ff., i. E.); Grace Abounding, ed. R. Sharrock (Oxf., 1962); EL; Pilgrim's Progress, ed. J. B. Wharey, rev. R. Sharrock (Oxf., 1962); OSA, PB, EL, WC; Mr. Badman, ed. G. B. Harrison (1928); WC, EL; Holy War, ed. J. F. Forrest (Toronto, 1967). - J. Brown, J. B.: His Life, Times and Work, rev. F. M. Harrison (1928); O. L. Winslow, J. B. (N. Y., 1961); H. A. Talon, J. B.: The Man and His Works (1951); R. Sharrock, J. B. (21968); M. Furlong, Puritan's Progress: A Study of J. B. (N. Y., 1975); C. W. Baird, J. B.: A Study in Narrative Technique (Port Washington, 1977). 61 ed. J. L. Nickalls (Cambr., 1952); EL.

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Aus dem ihm selber unbewußten Künstlertum gelang auch die schwierige Aufgabe, den besonderen Fall seines eigenen Lebens auf das Allgemeine zu weiten, wie es der gleichfalls im Gefängnis geschriebene, aber erst 1678 veröffentlichte erste Teil des Pilgrim's Progress erweist. Es ist eine Laienbibel, die das zum Seelenheil Erforderliche in der Form einer Traumallegorie, als Reise einer bekehrten Sünderseele bis zur Aufnahme in den Zustand der Gnade darstellt. Bunyan zögerte mit der Veröffentlichung, weil er den biblischen Vorwurf der „altvettelischen Fabeln" fürchtete, denn seine erbaulichen Zwecke waren immerhin in eine Erzählung eingekleidet. Das zweifellos unter dem Diktat einer religiösen Schau aufgezeichnete dramatische Geschehen, das Formen und Motive der ritterlichen Erzählliteratur und der christlichen 'peregrinatio' verbindet, ist von einer erstaunlich sicheren Handlungsführung. Da der Protagonist sich auf seinem Wege mit anderen Figuren auseinandersetzen und Entscheidungen treffen muß, wird er nie zu einer Marionette in Gottes Hand, und der Leser, der zwar durch die Überschau des Traumerzählers an dem sicheren Ausgang der Pilgerreise nicht zweifeln kann, wird durch diese lebendigen Dialoge immer wieder in die Ungewißheit Christians, in seine Ängste, Anfechtungen und seine Hoffnung hineingezogen. Unmeßbar war der Eindruck dieser Geschichte, die das Hoffen und Fürchten, den Daseinssinn von Hunderttausenden in volkstümlichem Stil zur Darstellung brachte, ungezwungen und künstlerisch abgeklärter als in der unmittelbaren Beichtform der Autobiographie. Den Hauptanteil an dieser künstlerischen Bedeutung hat die von Bunyan als Mittel zur Veranschaulichung gebrauchte Allegorie. Da er notgedrungen Dinge und Menschen seiner Umgebung und nicht begrifflich schattenhafte Versinnlichungen der Tugenden und Laster schilderte, wirkt seine Darstellung wie ein Nachschaffen des wirklichen Lebens. Fiktion und Realität gehen ineinander über: wirkliche Figuren bewegen sich in einer fiktiven Landschaft und solche der Traumwelt in vertrauter Umgebung. Bunyans alltagsnahe Allegorien haben natürlich da ihre Grenze, wo Gott und das himmlische Jerusalem dargestellt werden. Hier greift Bunyan auf die biblische Bildlichkeit zurück, vor allem auf die Johannesapokalypse, und läßt den erlösten Pilger in weißen Kleidern mit goldner Kette und perlenbesetzter Krone mit Gott wandeln. Bei aller Bilderfeindlichkeit der Puritaner blieb selbstverständlich die von Gott selbst inspirierte Bildlichkeit der Bibel unbeanstandet; aber manche der Abstraktes in einem konkreten Bildvorgang erfassenden Embleme wie etwa das Gnadenbild, auf dem Christus, heimlich hinter der Mauer stehend, Öl ins Menschenherz gießt, dessen Flamme Satan auslöschen will, berührt sich so nahe mit den bekämpften katholischen Kirchenbildern, daß die Grenzen puritanischer Religion und puritanischer Kunst überschritten sind. 1684 fügte Bunyan seinem Pilgrim's Progress einen zweiten Teil hinzu, der die Wanderung der einsamen Seele des ersten Teils durch die Pilgerreise einer Gemeinschaft ergänzt, in der es auch schwächere Seelen gibt. Dieses über die gleichen oder ähnliche Stadien führende Werk entbehrt zwar zwangsläufig der Dramatik des ersten Teils, aber es ist anderseits auch weniger lehrhaft und enthält eindrucksvolle Beschreibungen der unteren und mittleren Volksschichten.

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Als Gegenstück zum Pilgrim's Progress stellt The Life and Death of Mr. Badman (1680) den Weg der Gottlosen zur Verdammung dar, und zwar als Dialogbiographie eines Kaufmanns in einem englischen Landstädtchen. Erstaunlich lebenswahr, nur durch belehrende Ausführungen gehemmt, entsteht so ein Bild englischen Alltagslebens. Das letzte Werk, The Holy War (1682), steht künstlerisch nicht auf derselben Höhe. Die gegenüber dem Pilgrim's Progress anspruchsvollere Umsetzung der Heilswahrheiten in allegorische Form, die sich zu einer vollständigen Theologie ausweitet, führte zu einer Vielzahl nicht immer zueinander passender Figuren, zu unglaubhaften Verwicklungen und einer Verunklarung der Allegorie. Didaktisch und allegorisch ist auch der Grundzug der puritanischen Memoirenliteratur Neuenglands.62 In EDWARD JOHNSONS The Wonder-Working Providence ofSions Saviour in New England** (anonym veröffentlicht u. d. T. History of New England', London 1654) wird die Besiedlung von Massachusetts als eine Wiederholung der Geschichte Israels und ein Triumph der Soldaten Christi gegen die Mächte des Satans dargestellt. Das ist keine literarische Allegorie, sondern Ausdruck jenes schlichten starken Glaubens an den göttlichen Auftrag, der den Siedlern ihre große koloniale Leistung auf dem schmalen unwirtlichen Küstenstreifen zwischen Ozean und Wildnis ermöglichte. Im Gegensatz zu Johnson, der aus der Sicht des einfachen Bürgers in einer seine innere Beredsamkeit selten meisternden formlosen Prosa schreibt, stammen die sachlichen, chronikartigen Tagebuchaufzeichnungen JOHN WiNTHROPs64 (1588-1649) von einem Aristokraten, der sich schon während seiner Studienzeit in Cambridge dem Kalvinismus verschrieb und dann als erster Gouverneur von Boston dieser Kolonie die Richtung auf die theokratische Oligarchie gab. Die puritanische Vorliebe für das DidaktischAnekdotische teilt er mit WILLIAM BRADFORD (1590-1657), von dem das inhaltlich und stilistisch wertvollste Dokument puritanischer Historiographie stammt. In einem an der Bibel geformten, kraftvoll gegenständlichen Stil schildert seine History of Plimoth Plantation65 die Erlebnisse der Pilgrim Fathers seit ihrer Flucht aus England, die dem Exodus der Israeliten aus Ägypten verglichen wird, die Überfahrt auf der Mayflower und das Leben der Kolonisten in den Jahren 1520 bis 1646. Beseelt von dem inneren Feuer der Gründerväter, weitherziger als Winthrop, schreibt er mit dem dreifachen Ziele : Zeugnis von Gottes Vorsehung abzulegen, die Erinnerung an die frommen Vorfahren zu erhalten und der Nachwelt eine erbauliche Lehre zu geben. 62

Auszüge in: P. Miller and T. H. Johnson, The Puritans (N. Y., 1938; rev. edn., 2 Bde., 1963).- D.B. Shea, Spiritual Autobiography in Early America (Princeton, 1968); O. C. Watkins, The Puritan Experience: Studies in Spiritual Autobiography (N. ., 1972). 63 ed. J. F. Jameson (N. Y, 1910; repr. 1952). 64 W.'s Journal 'History of New England 1630-1649', ed. J. K. Hosmer, 2 Bde. (N. Y., 1908; repr. 1953); W. Papers, edd. A. B. Forbes et al., 5 Bde., Mass. Hist. Soc. (Boston, 1929-47). - E. S. Morgan, The Puritan Dilemma: The Story of J. W. (Boston, 1958). 65 W. B.: Of Plymouth Plantation, 1620-1647 (N. Y., 1952; new edn. 1959). - P. D. Westbrook, W. B., TUSAS (Boston, 1978).

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9. Die Prosa der Restauration Je mehr das mathematisch-naturwissenschaftliche Denken im Lauf des 17. Jahrhunderts Boden gewann, um so ferner rückte die große Barockprosa eines Donne oder Taylor. Selbst Clarendon, der doch ein klassisch schlichtes Ideal erstrebte, mußte veraltet erscheinen gegenüber den die Sprache nicht als Kunst, sondern als Mitteilung wertenden Reformbestrebungen der Royal Society (Thomas Sprats History of The Royal Society, 1667).66 Was Hobbes, von den schleppenden Relativsätzen abgesehen, in der Wissenschaft durchgeführt hatte, leistete ABRAHAM CowLEY67 auf dem Gebiet der eigentlichen Literatur. Die Vorrede zu den Poems (1656) und auch der Discourse concerning Oliver Cromwell (1661) haben noch schwerfällige Satzverschlingung oder rhetorische Steifheit. Aber die 1668 als Several Discourses by Way of Essays, in Verse and Prose erschienenen Versuche zeigen das endgültige Werden seines Stils. Inhaltlich wurzeln alle in derselben Stimmung, einem träumerischen Sehnen nach Natureinsamkeit; stilistisch teilen sie sich in zwei Gruppen, deren erste (1663-1664 geschrieben: Of Liberty; Of Avance; The Danger of Procrastination; Of Agriculture; The Garden) in Themenankündigung, Stoffteilung, Beleg- und Beweisart, sowie im Erstreben unpersönlicher Haltung das Vorbild Bacons verrät. In der zweiten Gruppe, oft schon im Titel ausgesprochen (Of Obscurity; Of Myself; Dangers of an Honest Man; Of Solitude; Of Greatness; Shortness of Life - alle 1665-1667), wird das Studium Montaignes kenntlich. Das zeigt sich ebenso in dem Hervortreten der Persönlichkeit des Verfassers wie in der Themenabwandlung, dem Einflechten von Zitaten und der anscheinenden Kunstlosigkeit, hinter der sich die vollständige Beherrschung der technischen Mittel verbirgt. So wird das noch bei Burton und Browne vorherrschende Selbstgespräch zu einem vertrauten Meinungsaustausch zwischen Autor und Leser. Da Cowleys Veranlagung von der Montaignes verschieden war, nicht nervös, rasch und unstet, sondern langsam und ruhig, so entwickelte er einen seiner Art gemäßen, weder nachlässigen noch steifen Stil mit sorgfältiger, aber nicht gezierter Wortwahl, zurückhaltend im Gebrauch der Metaphern und mit gut gebauten, aber durchaus nicht nach einem Muster geschnittenen Sätzen. Sir WILLIAM TEMPLE68 (1628-99), der in seinen Mußestunden einige politische Abhandlungen, Denkwürdigkeiten, Briefe und Essays schrieb (gedruckt in den drei Teilen der Miscellanea, 1680, 1690 und 1701), zeigte in seinen Versuchen denselben Einfluß Montaignes, den er in Richtung auf den französischen Gesprächsstil hin verwertete. Diese gefällige und leicht lesbare Schreibweise der inhaltlich oft bedeutungslosen Aufsätze ist bereits auf dem 66

edd. J. I. Cope and H. W. Jones (St. Louis, Mo., 1958). S. S. 381, Anm. 37. 68 Works, 4Bde. (1814); Essays, ed. J.E. Spingarn (Oxf., 1909); Five Miscellaneous Essays, ed. S. H. Monk (Ann Arbor, 1963); Early Essays and Romances, ed. G. C. Moore Smith (Oxf., 1930).- H. E. Woodbridge, W. T.: The Man and His Work (N. Y., 1940); R. C. Steensma, Sir W. T. (N. Y., 1970). 67

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Wege zur Natürlichkeit anstrebenden klassizistischen Prosa, die erstmals von JOHN ÜRYDEN69 (1631-1700) verwirklicht wurde. Dieser erste moderne Kritiker ist auch der erste wirklich moderne englische Prosaiker, der durch Umfang und Erfolg seines Schaffens das Gesetz aufstellte, das in die Formel: gute Prosa ist Gesprächston, zusammengefaßt werden kann. Maß und Regel, Klarheit und Kürze sind ebenso Selbstverständlichkeiten wie das bei Temple noch fehlende inhaltliche Gewicht; und da die Zeit vorbei war, in der man für den Hof oder für eine Gelehrtenversammlung schrieb, so kam dazu die Forderung der leichten Hand, die mit unaufdringlicher Kunst die breite Schicht des gebildeten Publikums zu fesseln und ins Vertrauen zu ziehen wußte. Selbst Dr. Johnson, Drydens Widerspiel, hat die Frische und Männlichkeit, die Leichtigkeit und Abwechslung seiner Sprachgebung anerkannt. Die analytisch gehaltenen und in französischer Art das Wesen, die Grenzen und Themen der einzelnen literarischen Formen untersuchenden kritischen Schriften Drydens vollenden auch inhaltlich die Auseinandersetzung mit dem von Humanismus und Renaissance neu erschlossenen klassischen Gut. Schnell weitete sich die ursprünglich enge Themenstellung: in der Vorrede zu den Rival Ladies (1664) hatte er nach französischem Muster den Reim im Drama befürwortet, wie es die Annus Mirabilis-Vorrede (1667) für das epische Gedicht getan; auf Sir Robert Howards Entgegnung schrieb Dryden dann sein sorgfältigstes kritisches Werk, An Essay of Dramatic Poesy (1668), das in Form eines Gesprächs zwischen Lord Buckhurst, Sir Charles Sedley, Howard und ihm selbst das gesamte Fragengebiet des Dramas behandelte und den damals brennenden Streit der Alten und Modernen bei aller Anerkennung des antiken Vorbilds im Sinne einer die Rechte der Gegenwart betonenden Vereinbarung beantwortete. Wenn er hier gegenüber den überspannten Einheitsforderungen des französischen Dramas dem englischen sein Daseinsrecht zugesteht, was er in der Defence dieses Essays (1668) wiederholte, so ist das die Voraussetzung für die in der Conquest of Granada-Vorrede (Of Heroic Poetry, 1672) erstrebte englische heroische Tragödie. Diese sollte das Gegenstück sein zu einer gleichfalls neuen, von den gesellschaftlichen Gegebenheiten geforderten englischen Komödie, wie sie die Vorrede zu An Evening Love (1671) und die Defence of the Epilogue to the Second Part of the Conquest of Granada (1672) umschrieb. Später, in The Author's Apology for Heroic Poetry (1677), den Vorreden zu All for Love (1678) und Troilus and Cressida (1679) und der Dedication to the third Miscellany (1693) ließ er dem Shakespeareschen Drama noch mehr Gerechtigkeit widerfahren bei gleichzeitiger Untersuchung der kritischen Grundsätze überhaupt. Damit kam allmählich der ganze Bereich der Dichtung zu einer bei aller Leichtigkeit des Tons tiefgreifenden ästhetischen Erörterung. Das heroische Gedicht, bereits anläßlich des Annus Mirabilis besprochen, im Discourse concerning the Original and Progress of Satire (1693) untersucht, wurde in der Widmung zur Aeneis (1697) und der die bildende Kunst heranziehenden Abhandlung über das Heroische 69

S. S. 435, Anm. 1.

IV. John Dry den und das Drama

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(A Parallel of Poetry and Painting, 1695) in größerem Zusammenhang begründet. Dann wurde die Oper diskutiert (Vorrede zu Albion and Albanius, 1685) und schließlich die ihn immer mehr beschäftigenden Übersetzungen, die in den Vorreden zu Ovids Episteln (1680), zum zweiten (1685) und dritten Miscellany (1693) und in dem prosaisch und kritisch meisterhaften Vorwort zu den Fables (1700) grundsätzliche Festlegung erfuhren. Mit diesen Drydenschen Aufsätzen hatte die rationale Zeit die ihr gemäße literarische Prosa gefunden.

IV. J O H N D R Y D E N 1 UND DAS D R A M A 2 1. Das lyrische und epische Werk Drydens Wie in seiner Kritik kam Dryden auch in seinem dichterischen Werk zu der Erkenntnis, daß die Zeit der metaphysischen Dichtung vorüber war, und er versuchte, einer neuen Literatur ihre Richtung zu weisen. Je mehr er als von der Feder lebender Schriftsteller auf das Publikum angewiesen war, um so vielseitiger wurde seine Rolle als Wegweiser. Der erste dichterische Versuch der Hastings-Elegie (1649) ist in Stil und Sprache noch bis zur Geschmack1

B i b l i o g r a p h i e von H. Macdonald (Oxf., 1939); S. H. Monk, J. D.: A. List of Critical Studies publ. from 1895 to 1948 (Minneapolis, 1950); J. A. Zamonski, An Annotated Bibliography of J. D.: Texts and Studies 1949-1973 (N. Y./Lo., 1975). - Werke : ed. W. Scott, rev. G. Saintsbury, 18 Bde. (Edinb., 1882-92); California Edn., edd. H. T. Swedenberg et al., 21 Bde. (Berkeley, 1956ff., i. E.). - P o e m s : ed. J. Kinsley, 4 Bde. (Oxf., 1958); ed. G. R. Noyes (Cambr., Mass., 1950) [beste Studienausgabe]; Poems and Fables, ed. J. Kinsley (OSA); Selected Poems, ed. J. Kinsley (1963); EL; Songs, ed. C. L. Day (Cambr., Mass., 1932); Prologues and Epilogues, ed. W. B. Gardner (N. Y., 1951).- D r a m a t i c W o r k s : ed. M. Summers, 6 Bde. (1931-32; repr. N. Y., 1968); Auswahl, ed. G. Saintsbury, 2 Bde. (MS); Four Comedies sowie Four Tragedies, edd. L. A. Beaurline and F. Bowers (Chicago, 1967); EL, WC, NMS, RRestDS. - Essays: ed. W. P. Ker, 2 Bde. (Oxf., 21926); Of Dramatic Poesy and Other Critical Essays, ed. G. Watson, 2 Bde. (EL); Selected Criticism, edd. J. Kinsley and G. Parfitt (Oxf., 1970).- L e t t e r s : ed. C. E. Ward (Durham, N. C., 1942).B i o g r a p h i e und K r i t i k : C.E. Ward, The Life of J. D. (Chapel Hill, 1961); K. Young, J. D. (1954); A. Roper, D.'s Poetic Kingdoms (1965); E. Miner, D.'s Poetry (Bloomington, 1967); B. King, D.'s Major Plays (Edinb., 1966); AC. Kirsch, D.'s Heroic Drama (Princeton, 1965); A. T. Barbeau, The Intellectual Design of J. D.'s Heroic Plays (New Haven, 1969); F. H. Moore, The Nobler Pleasure: D.'s Comedy in Theory and Practice (Chapel Hill, 1963); R. D. Hume, D.'s Criticism (Ithaca, 1970); Writers and their Background: J. D., ed. E. Miner (1972); Essential Articles for the Study of J. D., ed. H. T. Swedenberg (Hamden, Conn., 1966). 2 J. H. Wilson, A Preface to Restoration Drama (Cambr., Mass., 1968); A. Nicoll, A History of Restoration Drama 1660-1700 (Cambr., 1952); Restoration Theatre, edd. J. R. Brown and B. Harris, Stratford-Upon-Avon Studies (1965); The Revels History of Drama in English, V, 1660-1750 (1976); R. H. Hume, The Development of English Drama in the Late 17th Century (Oxf., 1976).

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losigkeit überladen mit den damals neuzeitlichen naturwissenschaftlichen und metaphysischen Formeln. In der Metrik jedoch, so fehlerhaft sie ist, verrät sich bereits das Streben zum geschlossenen Reimpaar, dessen den Sinn einhämmernde Kraft er später in den Satiren und Dramen vollendet zu verwenden lernte, und dessen Klang er durch eingefügte Alexandriner, Dreireime und reimlose Halbzeilen mannigfacher gestaltete. Dies sichere Ohr für den Vers zeigen erstmals die in Davenants vierzeiliger, kreuzweise gereimter Gondibertstrophe geschriebenen Stanzas on the Death of Cromwell (1659) und die im Blankvers abgefaßten Huldigungen für Karl II., Astraea Redux (1660) und A Panegyric to his Sacred Majesty (1661). Man hat Dryden vorgeworfen, daß er mit demselben feierlichen Ernst Cromwell und Karl II. besungen habe, wie man ihm auch seinen späteren Übertritt zum Katholizismus (1686) als Wankelmütigkeit auslegte. Seine den Grundsatz der Ordnung vertretenden Neigungen gingen zum Königtum und zum Katholizismus, aber die Größe des Regenten Cromwell erkannte er an. Politik berührte ihn nicht sonderlich, ihm war es wichtiger, daß diese in einer Zeit spielerischer Vers-Tändeleien geschriebenen Gedichte die von Davenant betonten heroischen Ansprüche der Dichtung vertraten. Dies ihm zeitlebens vorschwebende Ideal war in der Lyrik nur unvollkommen zu verwirklichen. Die an den Lord Chancellor und die Herzogin von York gerichteten Episteln zeigen nur eine weitere Vervollkommnung der Versbehandlung und Sprache und lassen erkennen, daß die Größe durch einfache Maße und sorgsamste Wortwahl, nicht durch prunkvolle Wendungen erreicht werden sollte. Wie Pope, Gray und Johnson war Dryden der Meinung, daß keine Gedanken oder Empfindungen des Ausdrucks wert seien, die nicht klar und dem Durchschnittsleser verständlich gemacht werden könnten, mochte auch ein tieferer Sinn darunterliegen. Das Schattenhafte und Unbestimmte hatte keinen Platz in dieser Kunst, deren Wirkung darauf beruhte, daß sie sich innerhalb deutlich erkannter inhaltlicher und formaler Grenzen bewegte, wie es das Musterbeispiel der Elegie To the Memory of Mr. Oldham (1683) bezeugt. Bei solchem Streben konnten die Geld einbringenden Prologe und Epiloge und die in den Dramen geforderten Lieder nur Beiwerk sein. Für die Nachwelt aber, die dem Drydenschen heroischen Ehrgeiz zweifelnder gegenübersteht, bedeuten sie mehr: Nirgends sonst verriet Dryden soviel von sich selbst wie in diesen Vor- und Nachreden, die den Zwang der Publikumswünsche mit seinen eigenen Ansichten und Bekenntnissen in lebendigem Sprechton reizvoll verbinden. Nur die Episteln, die gleichfalls plaudern, meist über sein Lieblingsthema der Bücher, haben etwas von derselben Unmittelbarkeit, zuerst noch gehemmt durch das Metrum (an Hoddesdon, 1650), dann es meisternd (an Lady Castlemaine, 1663) und in freier Entfaltung ansteigend zu dem reifen, warmen Ton der Congreve-Epistel (1693/4) und dem horazisch abgeklärten Ausklang To John Driden (1699). Umgekehrt wahrten die gleichfalls auf einen langen Schaffensabschnitt verteilten Lieder die unpersönliche Haltung des herkömmlichen Pastoral-

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tons, aber sie zeigen, daß Dryden nicht der Dichter eines einzigen Versmaßes war. Neben den getragenen Jamben des klagenden Ah fading joy ... stehen die eine bewegtere Bilderwelt begleitenden Daktylen in After the pangs of a desperate Lover... und die hüpfenden Anapäste in Why should a foolish Marriage Vow ... Nur einer großen lyrischen Begabung konnte die feine musikalische Abstimmung von No, no, poor suff ring Heart... gelingen und der Glanz von Celimena, of my heart..., aber das in den Dramen herkömmliche Lied mußte auf dünne Soprantöne beschränkt bleiben, Das einzige lyrische Gebiet, das dem heroischen Streben Raum gewährte, waren die Oden. Sie begannen mit der in Cowleys Spuren gehenden Threnodia Augustalis auf den Tod Karls II. (1685) und der „pindarischen Umschrift" der 29. Ode des 3. Buchs von Horaz. Dann begrenzte Dryden die kunstvolle Unregelmäßigkeit, und von Miltons früher Ode 'At a Solemn Musick' lernend, schrieb er den Song for Saint Cecilia's Day (1687), der gleichfalls die auf musikalischer Harmonie beruhende Weltordnung zum Vorwurf hat. Man mag die kurz voraufgehende Ode zum Gedächtnis an Mrs. Killigrew (Thou Youngest Virgin-Daughter of the Skies, 1686) als Dichtung höher schätzen, denn sie beruht weniger auf bewußter Wortkunst als auf einem tiefen Gefühl und schwingt in großartiger Gedankenphantasie von Apotheose zu Apotheose, aber die beiden Cäcilienoden - neben den 'Song' tritt in Alexander's Feast eine zweite Ode zum Cäcilientage (1697) - sind für die Gattung bedeutsamer. Sie sind ausdrücklich für Musik geschrieben und wurden mehrmals, u. a. von Händel, vertont. Daß es bestellte Arbeit war, hemmte Dryden nicht, es war ihm willkommener Anlaß, in künstlerisch abgestimmten Vokalklängen und dem Zusammenwirken verschiedener Versmaße das ihn ergreifende Thema der Macht der Musik zum Ausdruck zu bringen. Ohne die Vertonung kann das Nachahmen der Instrumentenstimmen zu künstlich scheinen, aber als symphonische Dichtung sind die Oden überwältigend, und Gray, der später die richtige Pindarode einführte, nahm sich die musikalische Gruppenteilung des Alexanderfestes zum Muster. Der Abstand von der rauschenden Beredsamkeit der ersten Killigrewstrophe oder des Schlußchors im Alexanderfest zu dem epischen Jugendwerk Annus Mirabilis (1667) erscheint unermeßlich, doch dies selbstgewählte Thema zeigt den Weg, auf dem Dryden das „Große Gedicht" zu erreichen hoffte. Dieser wie die Cromwellstanzen in der Gondibertstrophe abgefaßte Bericht der Ereignisse des Jahres 1666 (holländischer Krieg und großer Brand Londons) sollte nach Umfang (304 Strophen) wie historischem Thema epische Größe haben: 'high, like Virgil and yet real'. Man könnte Einheit wie Erhabenheit der Dichtung in dem Sich-Behaupten dem Schicksal gegenüber sehen, denn schicksalhaft wird die Gegnerschaft Hollands dargestellt und schicksalhaft der Brand Londons; aber das ist kaum vom Blickpunkt Drydens her gesehen, für den der Nachdruck auf der Schilderung der Ereignisse lag, und der folglich selbst Kritik übte an der äußerlichen Zusammenbindung selbständiger Teile. Der gewählte Stoff entsprach jedoch seinem Können und befriedigte die Forderung, daß das Epos wirkliches Geschehen gestalten müs-

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se, wie seine Phantasie sich auch bei allen „natürlichen" Bildern auf das glücklichste bewährte. Aber es ist eine kalte Phantasie, und wo Dryden der epischen Würde zuliebe den Himmel und die Geister in seine Erzählung einbezog, überschritt er seine Grenzen. Das Übernatürliche paßte nicht in den bestimmten Ton des packenden Tatsachenberichts und lag jenseits seiner Fähigkeiten. Auch der nach dem Annus Mirabilis im heroischen Drama unternommene Versuch, in der Darstellung menschlicher Leidenschaften das große Gedicht zu erreichen, war ein Fehlschlag, aber mit Absalom and Achitophel (1681), der ersten der satirischen und lehrhaften Dichtungen, sollte er dem Ziele nahekommen. Nach Vorwurf und Durchführung „heroisch", leitet diese Dichtung einen neuen satirischen Stil ein. Anstatt wie seine streitsüchtige Zeit von der Satire zorniges oder entrüstetes Dreinschlagen zu fordern in einer Sprache der Superlative und einer entsprechend rauhen Form - was für Cleveland, Denham und Marvell noch durchaus galt -, wollte Dryden würdigen Ernst, wie ihn schon Oldham gezeigt, aber durch Humor erhellt, in einer abwechslungsreichen, aufs feinste abgestuften Sprache und einem mit größter Sorgfalt gehandhabten Vers. An die Stelle des Schlagworts trat der Geist, der auch im Angriff beiden Standpunkten gerecht wird, an die Stelle des Zerrbildes ein Charakter, der bei aller persönlichen Treffsicherheit zugleich eine allgemeinmenschliche Haltung kennzeichnet. So wird die politische Angelegenheit des Thronausschlusses mit den historischen Figuren York, Monmouth, Shaftesbury und Karl zur zeitlosen Geschichte eines jungen Prinzen, der von einem ehrgeizigen Staatsmann verführt wird und die Volksgunst gewinnt, bis schließlich der König die drohende Gefahr bannt. Das war ein Stoff, wie ihn das Annus Mirabilis erstrebte, wirklich, spannend und von nationaler Bedeutung, überdies so einheitlich, daß er in der Szene der großen Versuchungsrede Achitophels (Shaftesburys) zusammenzufassen war, aus der dann die Folgeszenen der Rede Absaloms (Monmouths) an das Volk und Davids (Karls II.) Schlußrede sich ergeben. Und da im Annus Mirabilis die Einbeziehung der übernatürlichen epischen Maschinerie mißlungen war, anderseits Worte wie Kanzler, Kabinett, Bürgermeister unheroisch gewirkt hätten, so wählte Dryden den gleichgerichteten biblischen Fall, der also nicht inhaltliches Versteckspiel, sondern episches Stilmittel ist, im Gegensatz zu dem von Nahum Täte ausgeführten und von Dryden überarbeiteten zweiten Teil von Absalom and Achitophel (1682). Man hat die Fülle der treffenden Bildnisse gelobt, aber das Werk ist als epische Ganzheit zu werten, und es kann bestehen durch die knappe Zusammenziehung der Handlung und die epigrammatische Charakterbeschreibung. Das war Drydens Stärke, während ihm die kunstvolle Geschichtenführung und Charakterdarstellung durch Selbstaussprache nicht lagen. Der große Erfolg brachte einen neuen Auftrag: die Shaftesbury angreifende Satire The Medal (1682), die eine Fülle von Gegenschriften hervorrief. Aber der unpolitische Dryden antwortete lieber auf seinem eigensten Gebiet und griff in MacFlecknoe (1682) den Schriftsteller Thomas Shadwell an, der ihn in The Medal of John Bay es (1681) verspottet

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hatte. Flecknoe, der Dichterling, übergibt Shadwell das Reich der Dummheit, und Shadwells Thronrede ist ein Meisterstück der Kunst, durch Scheinernst lächerlich zu machen. Kürze und ein gutmütiger, von oben angreifender Witz zeichnen dies glänzende Stück auch vor Popes berühmterer Dunciade aus. Dryden war es auch nicht allzu ernst damit, ihm war es ein leichtes Geplänkel. Sein Streben richtete sich auf ein neues großes Thema: das philosophischlehrhafte Gedicht. Im Gegensatz zur früheren Art solcher Dichtung beweist Dryden nichts, erweckt aber durch seine Darstellung einen beweisenden Eindruck. So sucht zwar die Religio Laid (1682) eine das verfassungsmäßige Königtum sichernde religiöse Lösung zu finden, als welche schließlich der Mittelweg der englischen Kirche erscheint; aber wer nur den Sinn sieht, erfaßt nicht die Poesie, die gerade diesem nahezu prosaisch schmucklos geschriebenen Gedicht durch dem Sinn sich anschmiegende Wortwahl, Klangfarbe und Versbehandlung künstlerische Bedeutung verleiht. Man muß sich bewußt werden, daß die Darstellung der verwickelten kirchlichen Lehrsätze von durchsichtiger Klarheit ist, daß an die Stelle trockener Formeln bildliche Verlebendigung tritt und so das Begründen und Schlußfolgern an sich zur Dichtung wird. Auch das längere Gedicht The Hind and the Panther (1687) ist zumindest in seinem ersten Teil nicht einseitig belehrend, obwohl das Thema in Verbindung mit Drydens Übertritt zur katholischen Kirche (1686) diese Haltung nahelegte. Die katholische Kirche wird unter der Allegorie einer Hindin gegenüber den gleichfalls als Tieren dargestellten anderen Bekenntnissen verteidigt. Anklingend an Absalom and Achitophel suchte Dryden den heroischen Ton nochmals aufzugreifen und die satirische Fabel mit der Verstandesbegründung der Religio Laici zu verbinden, wie das lange Gespräch zwischen Hindin und Panther (englische Kirche) über Abendmahlslehre, Konzilien, Testakte und andere kirchliche Streitfragen dartut. Trotz hervorragender Vers- und Sprachgewalt war aus diesem Stoff nicht viel zu machen, und folglich senkte sich die dichterische Kraft von der Erzählung des ersten Teils über das Streitgespräch des zweiten zu einer den dritten Teil ausfüllenden allgemeinen und persönlichen Satire, die zeitgebunden bleibt. Dagegen enthält dieser letzte Teil eine Schwalben- und eine Taubenfabel (Z. 427ff.; 906ff.), die erstmals Freude am Geschichtenerzählen zeigen; und das einzigartige Alterswerk der Fables, Ancient and Modern (1700) hat nicht mehr das heroische Gedicht, sondern die reine Erzählung zum Ziel. Unter den vielen Übersetzungen Drydens, von denen die Stücke aus Juvenal und Teile der Lukrez- und Vergilübertragungen bis heute Gültigkeit behalten haben, sind die Fabeln durch die mehr frei umschreibende Übertragung und die Wahl der Urbilder (hauptsächlich Boccaccio und Chaucer) als Werk rein erzählender Art gekennzeichnet, womit Dryden noch im Alter ein neues Feld eroberte.

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2. Das heroische Drama3 Noch größer war Drydens wegweisende Bedeutung für das Drama. Zwar waren die Theater während der Republik 1642-60 geschlossen, aber gelegentlich wurden Aufführungen privater Art gestattet. Dabei handelte es sich weniger um regelrechte Dramen als um abgekürzte oder aus bekannten Stücken herausgeschnittene einaktige Possen. Diese sogenannten 'Drolls', von denen der Buchhändler Francis Kirkman 1662 eine Sammlung herausgab unter dem Titel The Wits, or, Sport upon Sport, In Select Pieces of Drollery, Digested into Scenes by way of Dialogue, lebten bis ins 18. Jahrhundert fort, wie das 1742 erschienene The Stroler's Pacquet Opened beweist; sie hatten ihre Bedeutung für die zersprengten Schauspielertruppen, kaum für das Theater. Wichtiger hierfür war die Genehmigung, die für eine musikalische Aufführung von Sir WILLIAM DAVENANTs4 (1606-1668) The Siege of Rhodes in Rutland House im Jahre 1656 erteilt wurde; denn diese „heroische Geschichte" von Solyman und lanthe, die den Liebe- und Ehrevorwurf mit musikalischer Umrahmung abwandelte, legte die Hauptrichtung der Restaurationstragödie fest und begründete die englische oder dramatische Oper. Rasch folgten The Cruelty of the Spaniards in Peru (1658) und The History of Sir Francis Drake (1659). Diese Schaustücke mit Musikbegleitung fanden soviel Beifall, daß D'Urfey (Cynthia and Endymion, 1697), Settle (World in the Moon, 1697, die erste komische Oper) und auch Dryden ähnliche Operntexte schrieben (Albion and Albanius, 1685, King Arthur, 1692, sowie die Miltonbearbeitung The State of Innocence, 1673). Aber schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts trat an die Stelle der englischen die auf gesprochenen Dialog verzichtende italienische Oper, die mit dem Auftreten Handels (1712) alleinherrschend wurde, bis der Gegenschlag der frechen Beggar's Opera (1728) von John Gay die neue englische Gattung der Balladenoper einführte. Der Erfolg der Oper, die in steigendem Maße Ausstattung erforderte, wäre ohne die Neueröffnung und Umgestaltung der Theater nicht möglich gewesen. Die mit der Restauration in London zusammenströmenden Schauspieler wurden durch königliches Patent (1660) zu zwei Truppen unter Killigrew und Davenant zusammengeschlossen, so daß anstelle der sechs Vofrevolutionstheater nur zwei Londoner Theater bestanden und nach Killigrews Tod (1683) bis 1695 sogar nur eines. Die Bühne dieser durchweg überdachten Theater war nicht mehr vorspringend; nach französischem Vorbild war ein 3

Ausgewählte Texte in WC, EL, ML, RRestDS. - B. Dobree, Restoration Tragedy (Oxf., 1929; repr. 1950); E. Rothstein, Restoration Tragedy: Form and the Process of Change (Madison, 1967); L. N. Chase, The English Heroic Play (N. Y, 1903); Restoration Drama: Modern Essays in Criticism, ed. J. Loftis (N. Y., 1966). 4 Dramatic Works, edd. J. Maidment and W. H. Logan, 5 Bde. (Edinb., 1872-74); Love and Honour & The Siege of Rhodes, ed. J. W. Tupper (Boston, 1909); The Siege of Rhodes: A Critical Edition, ed. A.-M. Hedbäck (Uppsala, 1973); The Shorter Poems and Songs from the Plays and Masques, ed. A. M. Gibbs (Oxf., 1972). - A. Harbage, Sir W. D.: Poet, Venturer (Philad., 1935); A. H. Nethercot, Sir W. D.: Poet Laureate and Playwright-Manager (Chicago, 1938; rev. N. Y., 1967).

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Proszeniumsbogen zwischen Vorder- und Hinterbühne. Die Einrichtung mit beweglichen Seitenwänden und Deckstücken sowie das Auftreten von Schauspielerinnen in den weiblichen Rollen (seit 1660) entsprach bereits dem modernen Brauch; nur das Kostüm blieb noch bis weit ins 18. Jahrhundert unhistorisch. Gleichzeitig mit der technischen Vervollkommnung verengte sich der Kreis der Zuschauer. Das puritanische Bürgertum hielt sich fern, das Theater wurde eine Gesellschaftsangelegenheit der vornehmen Kreise, deren Geschmack die neue Tragödie bestimmend beeinflußte. Die heute fremd anmutenden, halb historischen Stoffe waren der damaligen Zeit vertraut, seit unter den ersten Stuarts die Übersetzungen von Honore d'Urfes Astree (ab 1611) und John Barclays lateinischer Argenis (ab 1625) die endlosen Schäferund politisch-heroischen Romane eingebürgert hatten.5 Und in den Salons, in denen Henry Peachams platonisierender Compleat Gentleman6 (1622) das Buch des guten Tons war, bildeten die heroischen und empfindsamen Liebesromane La Calprenedes (Cassandre; Cleopätre) und Madeleine de Scuderys {Ibrahim; Artamene ou le Grand Cyrus} - alle ab 1652 übersetzt - den Lieblingslesestoff. Unter Anführung der eintönigen Parlhenissa (1651-69) von Roger Boyle, Earl of Orrery7 (1621-79), entstanden auch englische Nachbildungen (u. a. Sir George Mackenzies Aretina, 1660), die indessen durch die dramatische Gestaltung dieser Stoffwelt zurückgedrängt wurden. Der eigentliche Begründer dieses in der Oper Davenants vorgedeuteten heroischen Dramas war Dryden, denn die z.T. früheren Dramen Roger Boyles (The History of Henry V, 1664; The Tragedy of Mustapha, 1665; The Black Prince, 1667) standen, wie auch das kritische Werk Thomas Rymers8 (1641-1713: The Tragedies of the last Age, 1678; A Short View of Tragedy, 1693) später bestätigte, zu sehr im Banne französischer klassizistischer Lehren. Sie waren zu kühl und leblos, um die englische Bühne für das heroische Drama zu erobern. Das geschah durch Drydens The Indian Queen (1664, in Zusammenarbeit mit Sir Robert Howard) und The Indian Emperor (1665), die eine zwei Jahrzehnte dauernde Mode aufbrachten, die auch durch die witzig spottende Burleske The Rehearsal9 (1671) von George Villiers, Duke of Buckingham, nicht zu erschüttern war. Außer Dryden sind Elkanah Settle10 (1648-1724) mit seinen viel gespielten Stücken Cambyses (1671) und The Empress of Morocco (1673), John Crowne11 ("f 1703?: Destruction of Jerusa5

C. E. Morgan, The Rise of the Novel of Manners (N. Y., 1911); T. P. Haviland, The Roman de Longue Haleine on English Soil (Philad., 1931). 6 ed. G. S. Gordon (Oxf., 1906). 7 Dramatic Works, ed. W. S. Clark, 2 Bde. (Cambr., Mass., 1937); Parthenissa, 6 Bde. (1651, 1654-56, 1669, 'Compleat' 1676). - K. M. Lynch, R. B. (Knoxville, Tenn., 1965). 8 Critical Works, ed. C. A. Zimansky (New Haven, 1956); Auszüge in Spingarn, Bd. II (s. S. 383, Anm. 43). 9 ed. M. Summers (Oxf., 1914), ed. C. Gale (N. Y., 1960). - H. Chapman, Great Villiers (1949). 10 F. C. Brown, E. S.: His Life and Works (Chicago, 1910). 11 The Dramatic Works, edd. J. Maidment and W. H. Logan, 4 Bde. (Edinb., 1873-77). A. F. White, J. C.: His Life and Dramatic Works (Cleveland, 1922).

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lern, 1677), Thomas Otway mit Alcibiades (1675) und besonders mit Don Carlos (1676), sowie Nathaniel Lee12 mit seinen übersteigerten Stücken The Tragedy of Nero (1674), Sophonisba (1675) und Gloriana (1676) als Hauptvertreter des heroischen Dramas zu nennen. Aber keines dieser Stücke erreichte Drydens vorbildliche Werke Tyrannic Love (1669), The Conquest of Granada (in zwei Teilen, 1670-71) und Aureng-Zebe (1675), die als Muster der Gattung gelten müssen. In der Überzeugung, daß das alte Drama erschöpft sei und man neue Wege gehen müße, faßte Dryden das Drama als „heroisches Gedicht im kleinen". Um das epische Ziel der Bewunderung erregenden Größe auf der Bühne zu erreichen, forderte er die Erhöhung über das im Leben übliche Maß. So wie die Sprache vom Alltag abgerückt ist durch den Reimvers, gehobene, bilderreiche Redeweise und eine schlagfertige, den Gedanken hin und her wendende Dialogführung, so sind die Handlung und ihre Träger ins Außergewöhnliche gesteigert. Gleich dem im französischen heroischen Roman der La Calprenede und Scudery unternommenen Erneuerungsversuch des antiken Epos und unter Berufung auf Ariosts Epenthema 'Le donne, i cavalier, l'arme, gli amori' mußte auch für das Drama Liebe und Ehre der angemessene Vorwurf sein. Daraus ergab sich eine Doppelhandlung, eine aufregende, geschichtlich erscheinende Staatshandlung, die vorzugsweise in ferne Länder gelegt wurde, und eine dieser - im Unterschied zu Corneille - übergeordnete Liebeshandlung voller unvorhergesehener Wendungen, Zufälle und Schicksalsschläge. Die Einheit der dem englischen Publikum lieben, vielfältigen Verwicklung sollte durch Beschränkung der früheren Freiheiten des Ortes und der Zeit erreicht werden sowie durch verringerte Zahl der auftretenden Personen, die alle einander kennen und alle miteinander irgend etwas zu tun haben. Die heldische Erhöhung der das Stück tragenden Personen geschieht nicht wie bei Shakespeare durch Steigerung ihres Menschentums, sondern durch Herausstellung bestimmter Eigenschaften, die eine Vereinfachung der Willensrichtungen auf Liebe und Ehre hin ermöglichen: Keuschheit und Beständigkeit, Hochherzigkeit und Großmut zeichnen die Heldin aus, Ritterlichkeit und Mut, Untertanentreue und Freundschaft den Helden. Der Konflikt erwächst aus dem In-Frage-Gestellt-Werden dieser Eigenschaften durch die Leidenschaft der Liebe, die Lösung besteht im Sich-Bewähren. Deshalb kann nicht wie im Shakespearedrama eine Entwicklung dargestellt werden oder eine Erschütterung bis zur Aufhebung der Persönlichkeit. Das Heldische der Drydenschen Gestalten beruht in der Unantastbarkeit ihres Wesens durch äußere Bedrängnis. Damit überwand das heroische Drama die vom Mittelalter ererbte Tragödienauffassung, denn wenn Bewährung das Ziel ist, ist der Tod des Helden nicht notwendig. Es verengte aber die Shakespearesche Auffassung, denn an die Stelle der kosmischen Grundidee trat ein moralisches oder gar höfisches Ideal. Die Nachteile gegenüber dem Renaissancedrama wurden bald sichtbar. Wenn auch die „unpsychologische" Schwarzweißzeichnung 12

S. S. 443, Anm. 14.

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kein dramatischer Fehler sein muß, so führte sie doch dazu, daß Handlung wie Helden sich überall ähnelten und die Nebenpersonen nur verkleinerte Hauptpersonen waren. Die sich ergebende Eintönigkeit wurde durch Prunk und sprunghafte Verwicklung des Geschehens überdeckt. Beides wirkt bei Lee krampfhaft, um so mehr als eine verbürgerlichte Gesellschaft zur höfischen Auffassung des Heroischen keinen Zugang mehr hatte. Selbst Dryden erkannte, daß 'Love and Honour (the mistaken Topicks of Tragedy) were quite worn out' (Vorwort zu Don Sebastian, 1689). So erklärt sich die Rückwendung zum Shakespeareschen Blankversdrama, die Dryden nach dem mehr als Flugschrift gegen Holland zu wertenden Blankversversuch Amboyna (1673) schon 1677 mit seinem bedeutendsten Drama AH for Love endgültig vollzog. Das bedeutet so wenig eine Absage an das heroische Drama, daß man die bei Shakespeare vor einer brennenden Welt abrollende Antonius-Cleopatra-Tragödie hier vor einem klassizistischen Säulenhintergrund gespielt empfindet. Das vielfältige Geschehen ist wie örtlich und zeitlich, so thematisch zusammengefaßt, die Figuren sind zur Einlinigkeit gesteigert und einer einzigen Leidenschaft untergeordnet, der sprachliche Ausdruck ist zur gemessenen Würde gedämpft. Das ist von Shakespeare so verschieden, daß die zu Addisons Cato führende klassizistische Richtung, der es auf Beachtung der Einheiten, Einsträngigkeit der Verwicklung und willensbeherrschten, kühlen Dialog ankam, sich auf Dryden berufen konnte. Anderseits machte das Aufgreifen Shakespearescher Dramenvorwürfe Schule: 1679 folgten Drydens Troilus and Cressida und Otways Romeobearbeitung History and Fall of Caius Marius, und daraus entwickelte sich eine auf erschütternde Gemütsbewegung hinarbeitende Richtung, die u. a. John Banks vertrat. Dryden selbst suchte eine Mittelstellung zu halten. Er schrieb mit Don Sebastian (1689) das zweite bedeutsame Blankversdrama mit freierer, dramatisch wirkungsvoller Charakterzeichnung, und nur der unvollendete schwache Cleomenes (1692) scheint in die streng heroische Empfindungsweise zurückzufallen. Inzwischen hatten aber THOMAS OrwAY13 (l 652-1685) und NATHANIEL LEEH (16497-1692), gleichfalls vom Reim- zum Blankversdrama weitergehend, mit ihren Hauptwerken (The Orphan, 1680, und Venice Preserved, 1682 von Otway; Theodosius, 1680, und Lucius Junius Brutus, 1680 von Lee) eine letzte Erinnerung an die große Renaissancetragödie wachgerufen. Der leidenschaftliche Schwung und das tragische Gefühl für die Unabänderlichkeit des Verhängnisses haben dem „Geretteten Venedig" seinen großen Erfolg verschafft, 13

Works, ed. J. C. Ghosh, 2 Bde. (Oxf., 1932; repr. 1968) [beste Ausgabe]; Complete Works, ed. M. Summers, 3 Bde. (1926); The Orphan and Venice Preserv'd, ed. C. F. McClumpha (Boston, 1909); RRestDS, MS, EL, WC. - R. G. Ham, Otway and Lee (New Haven, 1931); H. Klingler, Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien T. O.'s (Wien, 1971). 14 Works, edd. T. B. Stroup and A. L. Cooke, 2 Bde. (New Brunswick, 1954-55; repr. Metuchen, N.J., 1968); Theodosius, ed. F. Resa (Bln. u. Lpzg., 1904); RRestDS, WC. - R. G. Harn, s. vorauf g. Anm.

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und selbst die unwahrscheinlich errechnete Handlung der „Waisen" überzeugt, weil die drei Hauptfiguren irgendwie in ein geheimnisvolles Schicksal verstrickt sind, und ihr Irren jenseits menschlicher Willkür liegt. Lee allerdings, in dessen Leben und Werk der Irrsinn seine Spuren hinterließ, fehlte die in Otways Stücken deutliche formale Zügelung. Schwulst überdeckte sein großes dramatisches Können, und der Bühnenerfolg seiner ersten Blankverstragödie The Rival Queens (1677) wie des Theodosius beruhte auf den weiblichen Hauptrollen, die später in Rowes Dramen noch mehr in den Vordergrund rückten und der darstellerischen Kunst der Schauspielerinnen verlockende Aufgaben stellten. JOHN BANKS15 (ca. 1650-ca. 1700), der im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts die tragische Bühne beherrschte, machte sich das zunutze, wie es schon aus den sprechenden Titeln seiner durchschnittlichen, aber theaterwirksamen Stücke zu entnehmen ist: Vertue Betrayed; or, Anna Bullen (1682), The Island Queens; or, the Death of Mary Queen of Scotland (gedruckt 1684), The Innocent Usurper; or, the Death of the Lady Jane Gray (gedruckt 1694). Diese Theaterkunst hat nicht mehr viel mit dem heroischen Drama zu tun, das sich schließlich bei THOMAS SOUTHERNS16 (1659-1746) in Tränen und Rührung auflöste (The Fatal Marriage; or, the Innocent Adultery, 1694) oder, zum bürgerlichen Trauerspiel umgebogen, der Folgezeit vererbt wurde (Oroonoko; or, the Royal Slave, 1695, das auf einen Roman von Aphra Behn zurückgeht). Wenn das heroische Drama der Restauration trotz aller guten Leistungen niemals das Höchste erreichte, so lag dies an der weltanschaulichen Haltung der Zeit. Während im Shakespeareschen Drama und dem der Griechen der Mensch in seinem metaphysischen Verhältnis zu übermenschlichen Mächten (Gott, Schicksal) dargestellt wird, befaßte sich die aufgeklärte Zeit Drydens im Grunde nur mit dem moralischen Verhalten gegenüber den Mitmenschen, und die selbstherrlich gewordene Vernunft lehrte, die psychologische Begründung dieses Verhaltens in menschlichen Gegebenheiten und seelischen Eigenschaften zu suchen. So mußte eine psychologisch-moralische Auffassung des Tragischen entstehen, die in der klassischen Tragödie Frankreichs Gestaltung fand. Corneilles tragische Gestalten handeln nicht aus dumpfem Drange, sondern aus klarer Einsicht in das Wesen ihrer Gefühle und Willensakte, die sie in logischen Schlußketten zergliedern. Ihr Tun ist freies Ergebnis dieser Überlegungen, und ihre heldische Größe ersteht aus der Beherrschung des Gefühlslebens durch Vernunft. Da diese Kunst, wie die kluge Kritik Drydens erkannte, dem englischen Publikum kalt, nackt und phantasielos erschien, blieb den englischen Dramatikern nur die Intrige, in der die menschliche Geisteskraft selbstherrlich eine Kausalität für die von ihr gewollten Zwecke erschafft. Das ergab die „Tragödie" eines zwischen menschlichen Tugenden und Lastern entbrannten Kampfes, dessen Ausgang dadurch herbeigeführt wurde, daß die Tugend dem Laster nur äußerlich unterlag oder sich vor ihm 15 16

The Unhappy Favourite; or, The Earl of Essex, ed. T. M. H. Blair (N. Y., 1939). The Works, 2 Bde. (1713); Plays, ed. (with Life) T. Evans, 3 Bde. (1774).- J.W. Dodds, T. S. (New Haven, 1933).

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in die Sicherheit des Todes flüchtete. Um diese von den Restaurationsdramatikern selbst als unzureichend empfundene Tragik eindrucksvoller zu gestalten und die nicht erfaßte Größe der französischen Tragödie durch seelenerschütternde Wirkungen anderer Art zu ersetzen, behielt man die Gewaltszenen der Schreckenstragödie bei oder suchte nach Drydens Beispiel eine erneute Annäherung an Shakespeare. Das ergab aber keine wirkliche Tragödie, sondern nur ein gescheites Spiel mit Menschen und Dingen. Wollte man innerhalb der menschlichen Bezirke bleiben, so war die Komödie das gegebene Feld, und es ist bezeichnend, daß die Dramen Drydens, in die er zum Zwecke der Abwechslung eine komische Handlung einfügte, nicht wirkliche Tragikomödien werden, sondern ein Nebeneinander ernster und komischer-Handlung, und daß die letztere künstlerisch so überwiegt, daß die Stükke als Komödien mit tragischer Belastung erscheinen (The Rival Ladies, 1663, und Secret Love: or, the Maiden Queen, 1667, jeweils mit ernster Handlung im Reimvers und komischer im Blankvers; The Spanish Friar, 1681, und Love Triumphant, 1682, in Blankvers und Prosa).

3. Die Komödie17 Für die komische Bühne bedeutete die Revolutionszeit nur eine Unterbrechung, die alten Meister des Lustspiels wurden weitergespielt und wurden Muster des neuen Schaffens. Man verstand den harten Wirklichkeitsblick, mit dem Ben Jonson menschliche Verkehrtheiten und Schrullen aufgespürt hatte. 'Humours' haben in der Komödie bis ins 18. Jahrhundert ihren Platz behauptet, in Übernahme des Gesamtplans sowohl, wie bei Sir Robert Howard (The Committee™, 1662) und in einigen Stücken Shadwells, wie in der Kürzung oder Vergröberung zu Possen wie bei John Wilson (The Cheats,™ 1662 u. a.), John Lacy20 (The Old Troop, 1665 u. a.) und noch bei Nahum Täte21 (A Duke and No Duke, 1684; Cuckolds-Haven, 1685), Edward Ravenscroft22 (The Citizen tum'd Gentleman, 1672; The London Cuckolds, 1682, u. a.) und Thomas D'Urfey23 (Madam Fickle, 1676). Aus der Verbindung Jonsonscher 17

Anthologien: Restoration Comedy, ed. A. N. Jeffares, 4 Bde. (1974); Restoration Comedies, ed. D. Davidson (1970); Einzelausgaben RRestDS. - B. Dobree, Restoration Comedy 1660-1720 (Oxf., 1924); T. H. Fujimura, The Restoration Comedy of Wit (Princeton, 1952); K. Muir, The Comedy of Manners (1970); B. R. Schneider, The Ethos of Restoration Comedy (Urbana, 1971); D. Bruce, Topics of Restoration Comedy (1974). 18 ed. C. N. Thurber (Urbana, 1921). - H. J. Oliver, Sir R. H.: A Critical Biography (Durham, N. C., 1963). 19 ed. M. C. Nahum (1935). 20 Dramatic Works, edd. J. Maidment and W. H. Logan (Edinb., 1875). 21 In: Ten English Farces, edd. L. Hughes and A. H. Scouten (Austin, Tex., 1948). - L. Hughes, A Century of English Farce (Princeton, 1956). 22 In: Restoration Comedies, ed. M. Summers (1921). 23 R. Forsythe, A Study of the Plays by T. D.'U., 2 Bde. (Cleveland, 1916-17).

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'humours' mit der von Beaumont-Fletcher gelernten Kunst der Intrigenkomödie entwickelten Dryden und Shadwell bühnenwirksame Lustspiele. Sobald man den Akzent von den 'humours' auf die Umweltschilderung verlegte (wie es bereits Fletcher und Middleton getan), ergaben sich aus dem Ineinanderspiel verschiedener sozialer Schichten neue komische Möglichkeiten. Voraussetzung dafür war das Vorhandensein zweier scharf geschiedener Gesellschaftsklassen, wie sie sich als puritanisches Bürgertum und höfische Welt der Kavaliere herausgebildet hatten. Schon in den Komödien von Thomas Killigrew24 (The Parson's Wedding, 1640-41) und Abraham Cowley (s. S. 381) verlachte man die Puritaner, und die von der Unterdrückung befreite Restaurationsgesellschaft schloß in dieses herausfordernde und unbekümmerte Lachen die ganze Bürgerwelt mit ein. Die Bürger sind die Dummen, ihre Anmaßung höfischer Sitten macht sie lächerlich, und der leichtfertige Liebeshandel eines Vornehmen mit dem unerfahrenen Mädchen vom Lande ist Quelle endloser komischer Zwischenfälle. Die nur als Lust gewertete Liebe wird Beweggrund dieser Komödien, deren verstandesmäßig kühles Spiel in bewußtem Verspotten moralischer Bindungen das Drydensche 'Why should a foolish Marriage Vow ...?' zum einzigen Lebensinhalt macht. Aber man hatte von englischen Vorbildern und Moliere handwerkliches Können gelernt, man hatte Witz, und man suchte aus einer leichten Abendunterhaltung ein in sich vollkommenes Kunstwerk zu machen. So spiegeln diese Komödien den Geist und das gesellschaftliche Treiben einer Zeit. Wegbereiter dieser sogenannten Comedy of Manners (was nicht nur Sittenkomödie heißt, sondern auch Komödie der gesellschaftlichen Manieren und der schönen Äußerlichkeiten des Lebens) war wiederum DRYDEN.25 Nur unwillig lieh er seine etwas schwere Hand dem leichten Spiel, aber der Schriftstellerehrgeiz packte ihn bald und nur selten mißlang ein Stück (wie z. B. The Assignation, 1672; Amphitryon, 1690, und Love Triumphant, 1694). Seine Komödien, die mit The Wild Gallant (1663) und der erwähnten Tragikomödie The Rival Ladies (1664) begannen, sich fortsetzten mit Secret Love (Tragikomödie 1667), Sir Martin Mär-all (1667), An Evening's Love (1668) und gipfelten in Marriage a la Mode (Tragikomödie 1671), The Kind Keeper (1678), The Spanish Friar (Tragikomödie 1680), kennzeichnen sich von vornherein als Zusammenfassung der Humours- und Intrigenkomödie. Darüber hinaus sah Dryden (bereits in seinen kritischen Schriften) die Seele der Komödie im schlagfertigen Dialog und im Treffen des gesellschaftlichen Unterhaltungstons. So brachte er als erster das die gesellschaftliche Unmoral umspielende geistreich-witzige Dialoggefecht der Liebespaare, noch ungefüge in den Reden zwischen Constance und Loveby im Wild Gallant, geschmeidiger im Geplänkel Celadons mit Florimel in Secret Love und glänzend in dem Doppelpaar Rodophil-Doralice und Palamede-Melantha in Marriage ä la Mo24

Comedies and Tragedies (1664); The Parson's Wedding in: Restoration Comedies, ed. M. Summers (1921). - A. Harbage, T. K.: Cavalier Dramatist 1612-83 (Philad., 1930). 25 S. S. 435, Anm. 1.

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de. Das verheiratete Paar, das zur Überzeugung kommt, sich eigentlich einmal untreu sein zu müssen, das diesem Wunsch entgegenkommende Brautpaar und die Rückbildung der Kreuzverbindungen zu den ursprünglichen Paaren auf Grund entstehender Eifersucht, das ist ausgesprochener Vorwurf einer Comedy of Manners, so wie sie intellektueller und deshalb weniger anstößig GEORGE ExHEREGE26 (1634-1691) festgelegt hatte in den zwei Komödien She wou'd if she cou'd (1668) und The Man of Mode: or, Sir Fopling Flutter (1676). Vorgedeutet in den komischen Szenen der Tragikomödie The Comical Revenge: or, Love in a Tub (1664), ist der Vorwurf beide Male, daß ein von Schulden und Geliebten bedrängter Herr eine Dame der Gesellschaft trifft, die bereits in ihn verliebt ist, ihr unter Sträuben seine Liebe erklärt, worauf er, gleichfalls unter Verwahrung, eine Zusicherung ihrer Zuneigung erhält. Diese erheiternden Rückwirkungen wirklicher Empfindung auf eine oberflächliche Gesellschaft benutzte Etherege, um mit dem Bild und der Philosophie auch eine Satire der Zeit zu geben, aber sein Lachen ist weniger Tadel als die Lust, sich in der bestmöglichen Gesellschaft zu tummeln. Die glitzernde Oberfläche wird von der Comedy of Manners betont, und darauf beruht ein guter Teil ihrer künstlerischen Wirkung. Obwohl Etherege wie alle diese Komödiendichter ein unnachahmlicher Beobachter war, der den Charakter eines Menschen aus seinen Bewegungen, ja aus seinem Rockschnitt ablesen konnte, kümmerte es ihn weniger, wie diese Damen und Herren wirklich waren, als wie sie unterhaltsam gestaltet werden könnten. Genau wie die zweideutige Unterhaltung der Gesellschaft nur durch die Kunst, mit der sie geführt wurde, Bedeutsamkeit erhielt, sah diese äußerlich wirklichkeitsgetreu schildernde Komödie nur in der intellektuellen Darstellungskunst ihr Ziel. Sie entkörperlichte damit das Leben, das sie schilderte, und erhob sich zum zeitlosen Ausdruck einer allerdings eng begrenzten geistigen Haltung. Diese reinste Form der Comedy of Manners findet sich nur bei Etherege und Congreve. Bei WILLIAM WvcHERLEY27 (1641-1716) verschob sich die abgerückt belustigte Haltung des Verfassers nach der Satire hin. Seine ersten drei Komödien: Love in a Wood (1671); The Gentleman Dancing-Master (1672); The Country Wife (1675) sind zwar in Ethereges Art geschrieben, aber mit kräftiger umrissenen Charakteren, geschickterer Handlungsführung und einem entsprechend derberen Dialog. Es sind ausgezeichnete Komödien von mitreißendem 26

The [Dramatic] Works of Sir G. E., ed. H. F. B. Brett-Smith, 2 Bde. (Oxf., 1927; repr. 1971); RRestDS, FDT, NMS; Poems, ed. J. Thorpe (Princeton, 1963); The Letterbook of Sir G. E., ed. S. Rosenfeld (1928); Letters, ed. F. Bracher (Berkeley, 1974). - D. Underwood, G. E. and the Seventeenth-Century Comedy of Manners (New Haven, 1957). 27 The Complete Works, ed. M. Summers, 4 Bde. (1924); The Complete Plays, ed. G. Weales (Garden City, N. Y., 1966; repr. 1967); The Plays of W. W, ed. A. Friedman (Oxf., 1979); The Country Wife and Plain Dealer, ed. G. B. Churchill (Boston, 1924); RRestDS, RP, NMS. - C. Perromat, W. W.: Sa Vie. Son Oeuvre (Paris, 1921); R. A. Zimbardo, W.'s Drama: A Link in the Development of English Satire (New Haven, 1965); K. M. Rogers, W. W., TEAS (N. Y., 1972).

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Schwung, aber das schmetterlingshafte Darüberhin-Huschen hat sich verloren, und The Plain Dealer (1676) führte vollends aus der begrifflichen Spiegelung in die wirkliche Welt, die einem so nahe auf den Leib rückt, daß das Lachen mit Entrüstung kämpft oder sich ganz verliert. Das Geschlechtliche, dessen komische Behandlung nun einmal die Grundlage der Restaurationskomödie ist, erscheint allzu unverhüllt in dem kalten, bis in alle Heimlichkeiten dringenden Suchlicht, und das Unterfangen, die Beziehungen von Mann und Frau als eine rein verstandesmäßig regelbare Angelegenheit der Sinne zu behandeln, wird nicht mehr spielerisch, sondern mit puritanischer Unverblümtheit dargestellt. Die Zeit liebte Wycherley, ohne sich seine Kritik zu Herzen zu nehmen. Sie fühlte, daß neben der Empörung die Liebe zum Schmutz eine Rolle spielte, und sie genoß die berüchtigte Porzellanszene des Country Wife, das als künstlerische Leistung allerdings unmittelbar neben den so ganz anders gearteten Congreve zu stellen ist. In denselben Jahren sah die englische Bühne auch ein Wiederaufleben der Humours- und Intrigenkomödie. Während nämlich kleinere Talente wie Sir Charles Sedley28 bald die Kunst Ethereges spiegeln (The Mulberry Garden, 1668), bald den bissigen Witz Wycherleys (Bellamira, 1687), versuchte der unabhängige und trotz Drydens tödlichem Spott ihm als Dramatiker vergleichbare THOMAS SHADWELL29 (ca. 1642-92) die vornehme Welt seiner Tage nach Jonsonscher Art zu durchmustern. Die Gattung war nicht gerade neu, aber die bühnengerechte Verbindung der etwas närrischen Gesellschaftstypen mit der Sittenmalerei und den verfänglichen Liebesverwicklungen der Comedy of Manners ergab unterhaltsame Lustspiele mit dem getreusten Abbild der Zeit (u. a. The Sullen Lovers, 1668; The Humorists, 1670; Epsom Wells, 1672; The Virtuoso, 1676; A True Widow, 1678; The Squire of Alsatia, 1688; Bury Fair, 1689). Dies Abbild ist lustig, aber recht gewöhnlich; Shadwells Hand war etwas schwer, sein Dialog hat nicht das Prickelnde Ethereges, und in seiner derben Ausdrucksweise ahnt man bereits die der höfischen folgende bürgerliche Welt. Ein anderer Wesenszug dieser Welt, das Empfindame, findet sich im Werk der Mrs. APHRA BEHN30 (1640-89), und zwar vornehmlich in den Erzählungen, die unter starkem Betonen des Rechtes der Leidenschaft (vgl. die den Lettres Portugaises nachgebildeten Love Letters between a Nobleman and his Sister, 1683, die Inzestgeschichte The Dumb Virgin, gedruckt 1697, und die in der Klosterwelt spielende Fair Jilt, 1688) die rührenden Schicksale getrennter Liebender einer ränkesüchtigen Welt gegenüberstellen (Agnes de Castro, 1688; The Lucky Mistake, 1689) und sogar den edlen Wilden zum Inbegriff wahren Menschentums erheben (im Sklavenroman Oroonoko, 1688). Die 28

S. S. 385, Anm. 49. Complete Works, ed. M. Summers, 5 Bde. (1927); RRestDS, MS. - A. S. Borgman, T. S.: His Life and Comedies (N. Y., 1928); H. W. Alssid, T. S., TEAS (N. Y., 1967); D. R. Kunz, The Drama of T. S. (Salzburg, 1972). 30 Works, ed. M. Summers, 6 Bde. (1915; repr. N. Y., 1967); Rover in RRestDS; Novels, ed. E. A. Baker (1905). - F. M. Link, A. B., TEAS (N. Y., 1968). 29

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bühnennahe Novellentechnik dieser oft unzulässig zusammengedrängten Romane (vgl. The Unfortunate Lady) und die durch angeblichen Augenzeugenbericht erreichte Vergegenwärtigung der Geschehnisse bezeugen die dramatische Begabung der Verfasserin. Doch sind nicht ihre ernsteren Stücke bühnenwirksam gewesen (The Forc'd Marriage, 1670), sondern die reinen Intrigenkomödien The Dutch Lover (1673); The Town Fop: or, Sir Timothy Tawdrey (1676); The Rover: or, The Banish't Cavaliers (I: 1677, II: 1681); Sir Patient Fancy (1678); The City Heiress: or, Sir Timothy Treat-all (1682). Die kunstvolle Verwicklung spielt sich in geschäftiger Lebendigkeit ab, und die Gabe treffender komischer Schilderung entschädigt für das Zurücktreten des Witzes, das bei einem anderen Vertreter dieser neubelebten Intrigenkomödie, John Crowne (Sir Courtly Nice?* 1685), noch deutlicher ist. Da brachte der Theatererfolg von WILLIAM CoNGREVEs32 (1670-1729) The Old Bachelor (1693) die Comedy of Manners erneut in Gunst. Im gleichen Jahr folgte das schwächere Stück The Double Dealer, dann 1695 das unvergleichlich bühnengerechtere Love for Love und, nach einem Versuch in klassizistischer Tragödie (The Mourning Bride, 1697), das Meisterwerk The Way of the World (1700), nach dessen Mißerfolg Congreve im Alter von 30 Jahren seine meteorgleiche literarische Laufbahn abbrach, im Gefühl, dem Geschmack der Zeit nichts bieten zu können. Eine Inhaltsangabe der Stücke Congreves wäre verfehlt; die Handlung ist völlig nebensächlich, die Verwicklung ist dem sprühenden Dialog untergeordnet, die Charaktere sind hirngeborene, zarteste Geschöpfe, die fünf Akte lang das menschliche Puppentheater spielen und mit dem Fallen des Vorhangs wieder in Luft zerfließen. Dementsprechend ist der Stil erlesenste Prosa, ohne ein überflüssiges Wort, jeder Satz von klassischem Bau, jede Wendung mit der Goldwaage geprüft. Das bedeutete, zumal in The Way of the World, eine über Etherege hinausgehende Umsetzung des Lebendigen ins Begriffliche. Die vom durchschnittlichen Theaterpublikum belachten Charaktere schienen Congreve eher des Mitleids wert, denn nicht angeborene, und deshalb unverbesserliche Torheiten (humours) erachtete er für lächerlich, sondern den unberechtigten Wertanspruch einer angemaßten Rolle. Alle Witwoulds erscheinen wahrem Geiste gegenüber komisch, und die sich kreuzenden Anmaßungen des Gefühls und des Verstandes im Liebeszweikampf Mirabells mit Millamant bewirken ein feineres Lächeln als der Bühne angemessen ist. Dieser Kampf des Wunsches, seine Persönlichkeit zu wahren, mit dem widersprechenden Verlangen, von ganzem Herzen zu lieben, überdeckt im zierlich witzigen Tanz der Worte das zugrundeliegende Gefühl der wehmütigen Schönheitssehnsucht, die, wie 31 32

ed. C. B. Hughes (The Hague, 1966); s. S. 441, Anm. 11. Complete Works, ed. M. Summers, 4 Bde. (1923; repr. N. Y., 1964); Complete Plays, ed. H. Davis (Chicago, 1967); ed. B. Dobree (WC); RRestDS, NMS. Incognita, ed. H. F. B. Brett-Smith (Oxf., 1922). Letters and Documents, ed. J. C. Hodges (N. Y., 1964). - J. C. Hodges, W. C. the Man (N. Y., 1941); W. H. Van Voris, The Cultivated Stance: The Designs of C.'s Plays (Dublin, 1965); M. E. Novak, W. C. (N. Y., 1971); H. Love, C. (Oxf., 1974).

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schon der Spott des Romans Incognita (1691) verriet, der letzte Sinn von Congreves Schaffen war. Mit Congreve hatte die Comedy of Manners ihren Höhepunkt erreicht; sie löste sich auf im Werk der Fortsetzer Vanbrugh und Farquhar unter dem Drängen eines bürgerlichen Geschmacks, der sich in JEREMY COLLIERS (1650 bis 1726) großer und wohlbegründeter Flugschrift A Short View of the Immorality and Prof oneness of the English Stage33 (1698) zum Wort gemeldet hatte. Des Architekten Sir JOHN VANBRUGH 34 (1664-1726) erstes Lustspiel The Relapse: or, Virtue in Danger (1696), das in der späteren Bearbeitung Sheridans zum zugkräftigen Bühnenstück A Trip to Scarborough (1777) gekürzt wurde, wollte den fragwürdigen guten Ausgang von Colley Cibbers Love's Last Shift durch die Darstellung eines wahrscheinlicheren Rückfalls ins Laster richtigstellen. Der Vorwurf war also der Gegensatz zwischen Tugend und Leben und nicht mehr zwischen 'manners' und Leben, und die Durchführung in zwei Handlungen, deren eine den Standpunkt Colliers vertritt, die andere den Congreves, zerstörte die künstlerische Einheit. Die zweite Komödie The Provoked Wife (1697) wirkt durch dieses Eindringen der bürgerlichen Gefühlswelt ungeschlacht und anstößig, denn das Geschlechterspiel ist nicht mehr in die leidenschaftslose Welt der 'manners' abgerückt, sondern als ein der Versuchung-Nachgeben in die bürgerliche Moral einbezogen. Nur die immer wieder durchbrechende sprudelnde Laune und überschäumende Lustigkeit, die so köstliche Figuren wie Sir John Brüte und Lady Fanciful erschuf, zwingt zum Mitlachen. Allerdings arbeitete Vanbrugh stark mit Situationskomik. So lenkte er einerseits auf die Empfindsamkeit, anderseits auf die Posse zu, was in seinen Bearbeitungen anderer Stücke (z. B. The False Friend, 1702, und The Country House, 1703) störend hervortritt. Auch die Komödien von GEORGE FARQUHAR35 (1678-1707) Love and a Bottle (1698); The Constant Couple (1699); The Twin Rivals (1702); The Recruiting Officer (1706); The Beaux' Stratagem (1707) leiden am Nebeneinander verschiedener sittlicher Maßstäbe. Auf der einen Seite suchen sie die Figur des liebenswürdigen, alle Moral verlachenden Liebesabenteurers zu erhalten, auf der anderen fühlen sie sich zur Gewissensrechtfertigung gedrängt, daß es nicht ganz so schlecht gemeint sei. Die sich daraus ergebende Mischung von Lüsternheit und Empfindsamkeit ist auch künstlerisch ein Abgleiten. Aber Vanbrugh ähnlich, besaß der Ire Farquhar eine unerschöpflich gute Laune; und eine spitz33

A Short View... with the Several Defences (1730); Nachdruck der 3. Auflage von 1698, Teil I, mit bibliographischem Nachwort von U. Broich (München, 1967). J.W. Krutch, Comedy and Conscience after the Restoration ( . ., 1924); R. Anthony, The J. C. Stage Controversy (Milwaukee, 1937). 34 The Complete Works, edd. B. Dobree and G. Webb, 4 Bde. (1927-28); Best Plays, ed. A. E. H. Swaen (MS); NMS, RRestDS. - L. Whistler, Sir J. V.: Architect and Dramatist (1938). 35 Complete Works, ed. C. A. Stonehill, 2 Bde. (1930; repr. N. Y., 1967); Auswahl, ed. W. Archer (MS); RRestDS, FDT. - W. Connely, Young G. F.: The Restoration Drama at Twilight (1949); E. Rothstein, G. F., TEAS (N. Y., 1967); E. N. James, The Development of G. F. as a Comic Dramatist (The Hague, 1972).

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bübische Geschichte konnte er in lebendiger Handlung und so bühnengerecht entwickeln, daß einige seiner Stücke, wie The Beaux' Stratagem, noch heute gespielt werden. Die 'manners' spielen nur mehr eine untergeordnete Rolle, was das früher undenkbare Abgehen vom Londoner Schauplatz auch äußerlich bezeugt.