Feinde, Freunde, Fremde? Deutsche Perspektiven auf die USA 9783848731688, 9783845275369

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Feinde, Freunde, Fremde? Deutsche Perspektiven auf die USA
 9783848731688, 9783845275369

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Tutzinger Studien zur Politik herausgegeben von der Akademie für Politische Bildung, Tutzing

Band 11

Volker Benkert [Hrsg.]

Feinde, Freunde, Fremde? Deutsche Perspektiven auf die USA

2.Auflage

Nomos

© Titelbild: US-Präsident John F. Kennedy und Bundeskanzler Konrad Adenauer auf dem Flughafen Köln/Bonn bei der Empfangszeremonie am 23. Juni 1963 (Quelle: Wikimedia Commons).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.d-nb.de ISBN

978-3-8487-3168-8 (Print) 978-3-8452-7536-9 (ePDF)

British Library Cataloguing-in-Publication Data A catalogue record for this book is available from the British Library. ISBN

978-3-8487-3168-8 (Print) 978-3-8452-7536-9 (ePDF)

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Benkert, Volker Feinde, Freunde, Fremde? Deutsche Perspektiven auf die USA Volker Benkert (ed.) 350 p. Includes bibliographic references. ISBN

978-3-8487-3168-8 (Print) 978-3-8452-7536-9 (ePDF)

1. Auflage 2018 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2018. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. This work is subject to copyright. All rights reserved. No part of this publication may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or any information storage or retrieval system, without prior permission in writing from the publishers. Under § 54 of the German Copyright Law where copies are made for other than private use a fee is payable to “Verwertungsgesellschaft Wort”, Munich. No responsibility for loss caused to any individual or organization acting on or refraining from action as a result of the material in this publication can be accepted by Nomos or the editors.

Inhaltsverzeichnis

Volker Benkert Einleitung  .......................................................................................................  9 I.

Leitlinien deutscher Amerikabilder

Konrad H. Jarausch Rivalen der Moderne. Amerika und Deutschland im 20. Jahrhundert  .....  21 Rolf Steininger Von Kanzlern und Präsidenten. Deutsch-amerikanische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg .......................................................................  39 II. Deutsche Perspektiven auf Native Americans Frank Usbeck »Die Indianer konnten die Einwanderung nicht stoppen«. Nationalismus und Antiamerikanismus in deutschen Indianerbildern vor 1945 und heute  ......................................................................................  67 Alex Alvarez / Stefanie Kunze Indianer, der Holocaust und die Frage des Völkermords in Deutschland und den USA ..........................................................................  83 III. Mittler zwischen USA und Bundesrepublik Axel Fischer Feindbild – Fremdinszenierung. Albert Speer in den Filmen des US-Militärs zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess   ..............  107

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Inhaltsverzeichnis

Marita Krauss Politik-, Kultur- und Wissenschaftstransfers zwischen den USA und Deutschland nach 1945. Perspektiven und Überlegungen  ......................  123 Maren Roth »What an unbelievable unreal adventure!« Melvin J. Lasky als Akteur im kriegszerstörten Deutschland   ................................................  135 Jan Logemann Der Atlantik – eine Einbahnstraße? Wechselseitige Transfers durch Emigranten und Rückkehrer um die Mitte des 20. Jahrhunderts  ...........  159 IV. Ostdeutsche Perspektiven auf die USA Katharina Gerund Angela Davis, Black Power und das »andere Amerika« in beiden deutschen Staaten  .......................................................................................  183 Daniel Kosthorst Feindesland und Sehnsuchtsort. Das USA-Bild in der DDR  .................  199 Volker Benkert »Freedom und Freiheit passen halt nicht zusammen«. Amerikabilder junger Ostdeutscher vor und nach 1990  ..................................................  221 V. Entfremdung? Das deutsch-amerikanische Verhältnis heute Moritz Fink Amerikakritik – Made in USA. Die Repräsentation Amerikas durch die Simpsons   ..............................................................................................  239 Heide Reinhäckel »Krieg umgab ihn wie Unsterblichkeit«. Amerikabilder in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 9/11  ................................................  261 Franz Eder Deutschlands Aufstieg zur Großmacht und die deutschamerikanischen Beziehungen seit 9/11  .....................................................  275

Inhaltsverzeichnis

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Crister S. Garrett The German TTIP-Initiative and German-American Relations. What Can Still Be Saved?  ..........................................................................  295 Moritz Fink Des Präsidenten neue Kleider. Populismus, Propaganda, Protest und das Phänomen Donald J. Trump im digitalen Informationszeitalter  .....  323 Volker Benkert Epilogue: Nation and Class – Who Would Have Thought? Transatlantic Alienation in the Face of New Nationalism and Increased Class Divides   ............................................................................  341 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren  ...............................................  349

Volker Benkert

Einleitung Einleitung Einleitung

Brücke oder Graben? Der Atlantik bietet vielfältige Metaphern zur Beschreibung deutscher Perspektiven auf die USA nach 1945. Gleichgültig waren den Nachkriegsdeutschen die Beziehungen zu Amerika jedenfalls nie. Die USA dienten als Aufhänger verschiedener Feindbilder, sie galten als Inbegriff des wohlwollenden Hegemons und sie wurden als kulturelle Fremdlinge bewundert wie verschmäht. Doch überspannten immer auch politische, wirtschaftliche und kulturelle Brücken den transatlantischen Graben und eine Vielzahl von Mittlern machte aus Feinden schon bald Freunde. Heute mehren sich allerdings die Anzeichen der Entfremdung. Nach TTIP- und NSA-Diskussionen ist durch die Wahl Donald Trumps zum 45. US-Präsidenten der Graben sicherlich nicht kleiner geworden. Deutsche Perspektiven auf die USA waren schon immer ambivalent – leidenschaftslos oder statisch waren sie dagegen nie. Der vorliegende Band bringt Historiker, Amerikanisten sowie Politik- und Literaturwissenschaftler zusammen, um diese Ambivalenzen chronologisch zu betrachten. Dabei sieht sich der Band in der Tradition von transatlantischen Studien und transatlantischen Mittlern, die Kontinuitäten ebenso wie »discontinuities and the strange dialectic of cultural, economic and political engagement of these two societies« betrachtet haben.1 Zwangläufig folgt daraus, dass der Band sich verschiedener Disziplinen bedienen und dabei auch besonders die kulturellen Brücken und Gräben berücksichtigen muss.2 Denn gerade auf diesem Feld zeigen sich die Transfers zwischen den USA und Deutschland – sowohl in die eine wie andere Richtung – besonders deutlich. Die Brückenbauer und Vermitttler überlagerten lange auch den von deutschen und europäischen Intellektuellen oft gehegten Verdacht, dass die USA »culturally different-inferior, or threatening« seien.3 Vom Vietnamkrieg4 1 2 3 4

Trommler 2001: XI. Für einen ähnlichen Ansatz vgl. Pommerin 1995; siehe zudem Berg / Gassert 2004. Judt 2005: 789. Vgl. Kundani 2009: 29.

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Volker Benkert

über die Auseinandersetzungen der Friedensbewegung in den 1980 er-Jahre5 bis zu unilateralen Entscheidungen von George W. Bush und den jüngsten NSA-Überwachungsskandal6 schienen sich diese Mutmaßungen jedoch immer wieder zu bestätigen. Selbst viele Deutsche, die sich die Vereinigten Staaten als »liberalen Hegemon«7 wünschten, wurden von der Zurückhaltung unter Präsident Obama enttäuscht und können mit der »America First«-Rhetorik von Donald Trump noch weniger anfangen. Die oft berechtigte Kritik an den USA hatte mitunter einen faden Beigeschmack, da man auf diese Weise auch bequem innerdeutsche Probleme auf den Einfluss der USA zurückführen konnte. Auch konnte man mühelos davon ablenken, dass Deutschland politisch und militärisch Verantwortung nicht übernehmen konnte oder wollte. Aufgrund seiner politischen und militärischen Zurückhaltung wurde die kulturelle Dimension, seit jeher ein wichtiges Mittel des eigenen Selbstverständnisses, für Deutschland auch zum Bestandteil seiner Außenpolitik.8 Es verwundert daher nicht, dass kulturelle Unterschiede auch in ein unterschiedliches Politikverständnis, etwa mit Blick auf »Soft Power« im Gegensatz zu militärischen Mitteln, mündeten.9 Die Unterschiede zeugen auch von wachsenden Divergenzen der »jeweiligen Versionen einer demokratischen Moderne« in den USA und Deutschland, die angesichts gemeinsamer Herausforderungen Besorgnis hervorrufen, wie Konrad Jarausch im Eröffnungsbeitrag schreibt. Ebenso sind unterschiedliche Auffassungen über die Bedeutung internationaler Kooperation (Franz Eder) und immer wieder verschiedene Konstellationen zwischen Kanzlern und Präsidenten (Rolf Steininger) Ausdruck solch kultureller Ambivalenzen. Wenn Amerika auf diesem Wege oft negativ kodiert wurde, so waren deutsche Perspektiven auf die USA insgesamt allerdings stets von großer Vielfalt geprägt.10 Der vorliegende Band, obwohl weitgehend interdisziplinär, legt daher einen Schwerpunkt auf die kulturelle Dimension, um diese Ambivalenzen zu beschreiben. Die Geschichte deutscher Perspektiven auf die USA seit 1945 ist auch die Geschichte dreier Deutschlands – der Bundesrepublik, der DDR und des vereinten Deutschlands der Berliner Republik. Im Folgenden sollen daher nicht zuletzt auch spezifisch ostdeutsche Blickwinkel miteinbezogen werden. Diese zeigen sich gleichwohl nicht weniger ambivalent als jene im 5 6 7 8 9 10

Vgl. Schmitt 1990: 88. Vgl. Trojanow / Zeh 2015: 273. Rudolf 2006: 8. Vgl. Trommler 2014. Zu amerikanischer Kulturdiplomatie siehe auch Gienow-Hecht 1999. Vgl. Jarausch 2015: 756. Vgl. Weichlein 2017: 23.

Einleitung

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Westen. Vielmehr war Amerika für DDR-Bürger immer zugleich imperialistisches Feindesland wie Sehnsuchtsort eines westlichen Lebensstandards und freiheitlicher Kultur (Daniel Kosthorst).11 In der Ambivalenz deutscher Perspektiven auf die USA schwingen neben dem Einfluss unterschiedlicher deutscher Systeme auch Veränderungen in den USA selbst mit und mitunter konzentriert sich der Blick auch auf sehr unterschiedliche Amerikas, nicht zuletzt in Gestalt seiner Minderheiten. Doch sind und waren auch diese Perspektiven, wie die Beispiele Angela Davis (Katharina Gerund) und Native Americans (Frank Usbeck) zeigen, oftmals sehr selektiv und selbstreferenziell. Mit Blick auf die zunehmende Entfremdung zwischen den USA und Deutschland in jüngerer Zeit zeigt die Analyse von politik- und kulturwissenschaftlichen Beiträgen, dass diese Tendenz immer wieder durch die politische Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den USA, aber auch mit der Gegenüberstellung verschiedener (positiver) Amerikabilder aufgefangen wurde und wird. Selbst ein interdisziplinärer Band, der die Vielfalt deutscher Perspektiven auf ein nicht minder vielfältiges Amerika berücksichtigt, wird sich kaum auf Vollständigkeit berufen können. Die 1970 er- und 1980 er-Jahre etwa hätten noch größere Beachtung finden können, ebenso wie die Arenen diplomatischer und militärischer Zusammenarbeit auf bilateraler oder internationaler Ebene. Auch konnte die Konferenz im Frühjahr 2015, aus welcher dieser Band hervorgeht, weder die Wahl von Donald Trump im November 2016 noch die Krise der Europäische Union nach der Brexit-Entscheidung im Juni 2016 oder die Schwierigkeiten der deutschen Regierungsbildung Ende 2017 vorhersehen. Dennoch versucht der Band, möglichst aktuelle Bezüge einfließen zu lassen. Als Herausgeber danke ich besonders Moritz Fink, der einen weiteren Beitrag zu Protestformen gegen Donald Trump kurzfristig liefern konnte. Dank gebührt auch Crister Garrett, der seinen Beitrag zu den TTIP-Verhandlungen noch einmal umfassend aktualisierte. Der Frage, ob Eliten auf beiden Seiten des Atlantiks angesichts des Erfolges von Donald Trump und der AfD nationale und Klassenidentitäten vernachlässigt haben, versuche ich in einem abschließenden Epilog nachzugehen. Bei aller Unvollständigkeit bemüht sich der vorliegende Band – mit den im Folgenden genauer dargestellten Artikeln – also sowohl um Breite als auch um Aktualität. Mit »Rivalen der Moderne« ist der einführende Beitrag von Konrad Jarausch überschrieben, der die unterschiedlichen Wege der USA und Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert skizziert. Amerika bewunderte Deutschland als ein dynamisches, wenngleich autoritäres Land mit einem großen Kulturangebot. 11 Vgl. Balbier / Rösch 2006.

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Andersherum schätzten nicht nur deutsche Auswanderer die große individuelle Freiheit in Amerika. Im Ersten Weltkrieg mündeten diese Gegensätze in die kriegerische Auseinandersetzung von zwei Systemen der Moderne, dem autoritären Deutschland und dem liberalen Amerika. Nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings spielte sich der Kampf der »Moderne« an einer anderen Front ab: im geteilten Deutschland. Auf der westlichen Seite stand die soziale Marktwirtschaft mit einer amerikanisierten Populär- und Konsumkultur, auf der östlichen die sowjetische Modernisierung unter einer neuen Diktatur. Nach dem Sieg über Faschismus und Kommunismus reagierten die USA und Deutschland auf die zunehmenden Globalisierungstendenzen nach 1990 auf unterschiedliche Weise. Doch Konrad Jarausch, selber ein bedeutender Transatlantiker, wird nicht müde zu betonen, dass beide Länder auch heute voneinander lernen können. Deutschland zum Beispiel stehe für soziale Sicherheit, ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein und gewaltfreie Lösungen in internationalen Konflikten, Amerika dagegen für ein dynamisches Wirtschaftssystem und globale Sicherheitsbemühungen. Der Beitrag von Rolf Steininger hat in vergleichbarer Weise die großen Leitlinien deutscher Amerikabilder im Blick. Er wählt jedoch die Perspektive der hohen Politik im Verhältnis von Kanzlern und Präsidenten. Dass Deutschland sich nach 1945 überhaupt wieder als Alternative zu den USA anbieten konnte, verdankt es vor allem den USA und dem Bekenntnis Konrad Adenauers zum Westen. Gerade Adenauer spielte allerdings auch erfolgreich auf der Klaviatur persönlicher Beziehungen zu seinen amerikanischen Partnern. Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung von Harmonie im Verhältnis der Staatschefs ist die von großer wechselseitiger Sympathie getragene Beziehung von Ronald Reagan und Helmut Kohl. Ganz im Gegensatz dazu war das Verhältnis von Willy Brandt und Richard Nixon von tiefem Misstrauen geprägt. Nixons Anweisung an Henry Kissinger lautete: »Absolut nichts tun, was Brandt hilft«. Während sich die ersten beiden Artikel den großen Leitlinien der deutschamerikanischen Beziehungen widmen, betrachten die nächsten beiden Beiträge die Ambivalenz deutscher Amerikabilder anhand von Vorstellungen über »Native Americans« in den verschiedenen deutschen Systemen. Frank Usbeck beschreibt, wie deutsche Vorstellungen von Indianern immer wieder völkische Identitäten befeuerten, gerade weil man sich wie die Indianer von amerikanischem Imperialismus bedroht sah. Die im Kaiserreich geprägten romantischen Indianerbilder dienten als Vorbilder für die Nationalsozialisten. Diese sympathisierten mit den Ureinwohnern Nordamerikas als angeblich ethnisch homogener Gruppe, um gegen das moderne und pluralistische Amerika zu hetzen, das Indianer und Deutsche von einer »organischen

Einleitung

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Gemeinschaft« in eine künstliche und vor allem pluralistische Gesellschaft zu verwandeln suchte. Die Bundesrepublik knüpfte nach 1945 wieder an romantische Indianerbilder an, ohne sich jedoch mit dem amerikanischen Erbe von Vertreibung und Mord an den Indianern auseinanderzusetzen. Heute bedient sich eine Neue Rechte wieder Bildern einer ethnischen Homogenität von Native Americans aus dem Repertoire der Nationalsozialisten. Frank Usbeck zeigt, wie perfide Internetpropaganda Massenmord an und Vertreibung von Native Americans als Folge von ungebremster Einwanderung von Europäern präsentiert, um so vor Einwanderern nach Deutschland zu warnen. Im Zusammenhang mit Mord und Vertreibung von Native Americans fragen Alex Alvarez und Stefanie Kunze anschließend nach der Berechtigung des Begriffs »Völkermord«. Sie zeigen, dass der genozidale Impuls und die systematische Natur der Verbrechen in Nordamerika einen Vergleich mit dem Holocaust zwar nahelegen könnte, dass aber die fehlende Unterstützung der Zentralregierung in Washington und der Ostküsteneliten einen deutlichen Unterschied zum staatlich orchestrierten und von sämtlichen Eliten geförderten Massenmord im nationalsozialistischen Deutschland markieren. Washington habe sich trotz des genozidalen Klimas in den Territorien oftmals dem Völkermord entgegengestellt, nicht allerdings der systematischen Vertreibung von Native Americans. Eine einfache Rubrizierung mit dem Etikett »Völkermords« sei daher schwierig und eine Relativierung des Holocaust mittels eines solchen Vergleichs ohnehin nicht zulässig.12 Die Verantwortung der USA, sich dem Verbrechen zu stellen, sei allerdings unabdingbar. Das nächste Kapitel widmet sich der Vielzahl von transatlantischen Vermittlern, welche die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland in den Nachkriegsjahren aufgebaut und aus Feinden Freunde gemacht haben. Axel Fischer zeigt, wie gleich nach dem Krieg in den Nürnberger Prozessen versucht wurde, bestimmte deutsche Narrative zu fördern und andere zu marginalisieren. Schon in den von den USA sorgsam inszenierten Filmen über die Nürnberger Prozesse wurde nicht nur die Mitschuld der Deutschen an den Kriegsverbrechen aufgezeigt, sondern auch Exkulpationsstrategien zugelassen. So verweist Alex Fischer auf die große Aufmerksamkeit, die die Dokumentationsfilme der US-Militärbehörde insbesondere Albert Speer und dem von ihm behaupteten Widerstand gegen Hitler in den letzten Kriegswochen einräumten. Während die USA nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland noch als »gefährlich« wahrgenommen wurden und vielfach vor einer »Amerikanisierung« gewarnt wurde, waren die USA nach dem Zweiten Weltkrieg die 12 Vgl. dazu Rosenbaum 2009, darin insbesondere Katz 2009: 62.

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klare Führungsmacht des Westens und wurden für die junge Generation zum Orientierungsanker. Im Mittelpunkt des intensiven Politik-, Kultur-, und Wissenschaftstransfers standen zu Anfang sehr oft Remigranten. Marita Krauss beschreibt zudem die wichtige Vermittlerrolle, die amerikanische Kulturoffiziere – mit oder ohne deutschen Hintergrund – in der Frühphase übernahmen. Sie prägten den Weg in die junge Demokratie der Deutschen ausgesprochen aktiv mit, meist weit über die Lizenzvergabe an unbelastete Kulturinstanzen (Verlage, Theater, Zeitungen) hinaus. Maren Roth hebt im Zusammenhang mit frühen Transatlantikern Melvin J. Lasky als deutschlandfreundlichen Mittler, anti-stalinistischen und von der CIA finanzierten Publizisten hervor und wertet als Quelle insbesondere das Kriegstagebuch Laskys aus, das als Deutsches Tagebuch 1945 bekannt wurde. Laskys Weg führte ihn von New York über Erfahrungen als Militärhistoriker im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland letztlich nach Berlin, wo er sich ab Ende 1946 als Kulturjournalist niederließ. Für die 1950 er-Jahren zeigt Jan Logemann, dass kulturelle Transfers keine »Einbahnstraße« waren. Emmigranten und Remigranten sorgten für eine rasche Übertragung von Kultur auf beiden Seiten des Atlantik. 13 Neben der »Amerikanisierung« Deutschlands gab es viele Impulse durch deutsche Migranten, die auch die USA stark veränderten. Für die DDR war es weitaus schwieriger, transatlantische Mittler für sich zu gewinnen. Diese fand sie jedoch mit Vorliebe unter »African Americans«, um so den scheinbar gemeinsamen Kampf gegen amerikanischen Kapitalismus und Imperialismus zu betonen. Katharina Gerund widmet sich der Rezeption von Angela Davis und der Black-Power-Bewegung in beiden deutschen Staaten. Das Beispiel der Bürgerrechtlerin zeigt, wie sehr Davis einerseits in Ost und West als Vertreterin eines besseren Amerikas zur »politischen Figur und zur kulturellen Heldin« stilisiert wurde, und wie unterschiedlich diese Projektion andererseits kodiert wurde, um die jeweils eigene Agenda zu bestätigen. Besonders die DDR-Führung sonnte sich im Glanz der charismatischen Bürgerrechtsaktivistin, um die Bundesrepublik in Zeiten der Radikalenerlasse und die USA mit Blick auf die Diskriminierung von Minderheiten zu diskreditieren. Dass Amerika für DDR-Bürger trotz aller Propaganda des Regimes allerdings nicht nur ein verachteter Feind, sondern auch ein bewunderter 13 In einer vielbeachteten Rede am Deutschen Historischen Institut Washington am 21. Mai 2015 sprach Charles Maier sogar von »parallel evolution« in den USA und Deutschland nach 1945, »to overcome past injustices, to open up civic participation and citizenship to those excluded, whether by virtue of race or political conviction, and of belief that liberal democracy is the best framework for achieving that good society.« Maier 2015: 22.

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Freiheitsort war, zeigt der Beitrag von Daniel Kosthorst. Trotz des von der SED gefürchteten »schlechten Einflusses auf die Jugend«, konnte sich die DDR nicht immer der Sehnsucht ihrer Bürger nach westlichen Lebenstilen entgegenstellen. Partiell versuchte die SED eine Bindung zum Westen aufzubauen und typisch amerikanische Produkte durch Ost-Imitate zu ersetzten, blieb dabei aber meist recht erfolglos. Daran anschließend versuche ich in meinem Beitrag zu zeigen, dass aufgrund der großen Breite von Sozialisationstypen in der späten DDR amerikanische Kulturtrends zum einen sehr unterschiedlich und kreativ, zum anderen aber nur durch den Filter westdeutscher Medien aufgenommen wurden. So kam es zu einer kreativen »Selbstamerikanisierung« der DDR-Jugend, beispielsweise in der Rezeption von Rockmusik, Hip-Hop oder »Rollbrettfahren«. Der letzte Abschnitt dieses Bandes widmet sich der Entfremdung zwischen den USA und Deutschland als einem Prozess, der schon in den 1980 er-Jahren eingesetzt, sich aber sicherlich in den 2000 er-Jahren nochmals beschleunigt hat. Dabei wurde diese Entfremdung immer auch vom Ringen der USA mit sich selbst begleitet. Der Beitrag von Moritz Fink thematisiert die höchst erfolgreiche Serie Die Simpsons als Teil einer global rezipierten Populärkultur. Seit fast 30 Jahren gilt die Serie als kulturkritische Stimme Amerikas. Doch stellt sich die Frage, inwieweit die gelben Charaktere als Repräsentaten Amerikas gelten können und welches Amerikabild sie tatsächlich verkörpern. Der »traumatisierende Wendepunkt« des 11. September 2001 war nicht nur eine kulturelle Zäsur, sondern schlug sich in einem »Double Bind« der tatsächlich erlebten und projizierten Realität Amerikas in der deutschen Literatur nieder. Heide Reinhäckel beschreibt die Vielfalt in den literarischen Antworten deutscher Autoren auf die Terrorangriffe des 11. September 2001 in New York. Aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive geht Franz Eder der Frage nach, wie sich die beiden Staaten nach 9/11 so weit voneinander entfernen konnten. Die Zurückhaltung Deutschlands im Irakkrieg war einerseits wahltaktisch begründet, andererseits auch auf die Vergangenheit der Bundesrepublik im 20. Jahrhundert zurückzuführen. Deutschlands Politik sei prinzipiell von einem »Never again« mit Blick auf den Krieg und einem »Never alone« mit Blick auf unilaterales Vorgehen geprägt. Der Artikel von Crister Garrett fragt angesichts der festgefahrenen Diskussion um das transatlantische Handelsabkommen TTIP, was noch zu retten sei bei den deutsch-amerikanischen Beziehungen. Er betont dabei einerseits die unglücklichen Bemühungen der Bundesregierung, TTIP als politisch unausweichliches Integrationsprojekt darzustellen. Andererseits verweist er auch auf die vielen Verkürzungen der Diskussion in Deutschland. Neben

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TTIP belasteten unterschiedliche Haltungen zu China und nicht zuletzt der NSA-Abhörskandal das Verhältnis während der Verhandlungsphasen. Trotz des vorläufigen Scheiterns des TTIP-Abkommen vertrete Deutschland auch mit Blick auf Donald Trump seine Interessen durchaus mit Selbstbewusstsein. Am Ende dieses Bandes kommt noch einmal Moritz Fink zu Wort und widmete sich dem medialen Diskurs rund um die Wahl Donald Trumps. Mit seinem Krieg gegen die Presse und seiner exzessiven Twitter-Praxis beherrscht der amerikanische Präsident seit geraumer Zeit die Schlagzeilen. Doch inwieweit greift Trumps Anhängerschaft dessen Selbststilisierung als Mann des Volkes auf? Und welche Anknüpfungspunkte bietet das Phänomen Trump für kreative Protestformen im Kontext einer vernetzten Mediengesellschaft für die Opposition? In einem Epilog versuche ich abschließend, die Entfremdung zwischen Deutschland und den USA mit Blick auf den Aufstieg von Donald Trump und der AfD zu verbinden, der in beiden Fällen als Kritik an der liberalen und weltoffenen Wertegemeinschaft gelesen werden kann. Liberale Eliten in beiden Ländern werden Antworten auf gemeinsame Herausforderungen wie Migration und Globalisierung finden müssen, wenn sie sich gegen Ausländerfeindlichkeit und Protektionismus durchsetzen wollen. Dies würde auch die transatlantischen Beziehungen wieder stärken, was aus meiner Sicht als Deutscher und Amerikaner überaus wünschenswert wäre. Zum Abschluss möchte ich noch einmal allen Referenten und Autoren für das Gelingen der Tagung und des Bandes, der in der Reihe »Tutzinger Studien zur Politik« erscheint, danken. Thomas Schölderle hat als Publikationsreferent und wissenschaftlicher Redakteur der Akademie wahre Wunder bei der Fertigstellung und Gestaltung des Bandes gewirkt. Auch ihm gebührt ein ganz herzlicher Dank. Ein letzter und besonderer Dank richtet sich an die Akademie für Politische Bildung und ihre Direktorin Ursula Münch, die mich für ein halbes Jahr als Gast aufgenommen und so diese Tagung in der wunderbaren Atmosphäre am Starnberger See sowie den vorliegenden Band überhaupt erst ermöglicht haben.

Literatur Balbier, Uta / Rösch, Christiane (Hg.) (2006): Umworbener Klassenfeind. Das Verhältnis der DDR zu den USA, Berlin. Berg, Manfred / Gassert, Philipp (Hg.) (2004): Deutschland und die USA in der Internationalen Geschichte des 20. Jahrhundert. Festschrift für Detlev Junker, Stuttgart.

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Gienow-Hecht, Jessica C. E. (1999): Transmission Impossible. American Journalism as Cultural Diplomacy in Postwar Germany, 1945 – 1955, Baton Rouge. Jarausch, Konrad H. (2015): Out of Ashes. A New History of Europe in the Twentieth Century, Princeton. Judt, Tony (2005): Postwar. A History of Europe since 1945, New York. Katz, Steven T. (2009): The Uniqueness of the Holocaust. The Historical Dimension, in: Alan S. Rosenbaum (Hg.), Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, 3. Aufl., Boulder, S. 55 – 74. Kundnani, Hans (2009): Utopia or Auschwitz. Germany’s 1968 Generation and the Holocaust, New York. Maier, Charles (2015): History Lived and History Written. Germany and the United States, 1945/1955 – 2015, in: Bulletin of the German Historical Institute 57 (2/2015), S. 7 – 23. Pommerin, Reiner (Hg.) (1995): The American Impact on Postwar Germany, New York. Rosenbaum, Alan S. (Hg.) (2009): Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, 3. Aufl., Boulder. Rudolf, Peter (2006): Amerikapolitik: Konzeptionelle Überlegungen zum Umgang mit dem Hegemon (= SWP Studie 22/2006), Berlin. Schmitt, Rüdiger (1990): Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Ursachen und Bedingungen der Mobilisierung einer neuen sozialen Bewegung, Opladen. Trojanow, Ilja / Zeh, Juli (2015): Attack on Freedom. The Surveillance State, Security Obsession, and the Dismantling of Civil Rights, in: German Studies Review 38 (2/2015), S. 271 – 284. Trommler, Frank (2001): Introduction, in: Frank Trommler / Elliott Shore (Hg.), The German-American Encounter. Conflict and Cooperation between Two Cultures, 1800 – 2000, New York, S. X – XXI. Trommler, Frank (2014): Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln 2014. Weichlein, Siegfried (2017): Representation und Recoding: Interdisciplinary Perspectives on Cold War Culture, in: Konrad H. Jarausch / Christian F. Ostermann / Andreas Etges (Hg.), The Cold War. Historiography, Memory and Representation, Berlin / Boston, S. 19 – 66.

I. Leitlinien deutscher Amerikabilder

Konrad H. Jarausch

Rivalen der Moderne Amerika und Deutschland im 20. Jahrhundert Rivalen der Moderne Rivalen der Moderne. Amerika und Deutschland im 20. Jahrhundert

1. Einleitung Trotz aller Unterschiede, waren die »jungen Nationen« der Vereinigten Staaten und des deutschen Kaiserreichs am Anfang des 20. Jahrhunderts einander verblüffend ähnlich. Beide Staaten hatten sich erst durch Bürger- und Vereinigungskriege in den 1860 er-Jahren (re-)konstituiert und waren daher Neulinge auf dem internationalen Parkett. Durch technische Erfindungen wuchs ihre Wirtschaft in den Jahrzehnten danach vergleichbar schnell, sodass sie begannen, Großbritannien als führende Industriemacht abzulösen. Auch ihre Bevölkerungen vergrößerten sich rapide und eine atemberaubende Urbanisierung brachte multiethnische Großstädte wie Chicago oder Berlin hervor. Jedoch trieb ihr globaler Handel sie in einen flottengestützten Imperialismus, der sie zu weltpolitischen Rivalen machte.1 Kein Wunder, dass ihre Eliten voller Optimismus in die Zukunft blickten und sich als besonders dynamisch verstanden. In den Vereinigten Staaten schuf diese Zuversicht die Rhetorik eines »Exceptionalism«, der die neue Welt für grundsätzlich anders und besser als das alte Europa hielt. Bereits Alexis de Tocqueville hatte die Amerikaner als puritanischer, praktischer und egalitärer als die Bürger ihrer Herkunftsländer beschrieben. Andere Beobachter betonten die größere religiöse Toleranz oder den stärkeren Individualismus der aus britischen Kolonien hervorgegangenen Gesellschaft. In ihrem Selbstverständnis spielten Wettbewerb und Markt eine zentrale Rolle, da der Mythos von »Self-Help« den Aufstieg eines arbeitswilligen Einzelnen in ein besseres Leben versprach. Aus der Revolutionserfahrung ging ebenso eine starke Betonung der politischen Freiheit und der Selbstverwaltung des Volkes hervor. Dieses Selbstbild wurde dann noch mit

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Vgl. Mauch / Patel 2008: 11 – 26; siehe auch Trommler / McVeigh 1985.

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Konrad H. Jarausch

quasi-religiöser Symbolik der Mission eines »auserwählten Volkes« oder der »City on the Hill« überhöht.2 Die Deutschen entwickelten ein vergleichbares Sonderbewusstsein, das die Überlegenheit ihrer tiefschürfenden Kultur gegenüber der flachen westlichen Zivilisation behauptete. Das Land der »Dichter und Denker« hatte schon Madame de Stael fasziniert, weil es seine politische Ohnmacht durch kulturelle Kreativität kompensierte. Beim Kriegsausbruch artikulierten die »Ideen von 1914« die Vorzüge deutscher Bildung, Verwaltung, Militärorganisation und sozialer Unterstützung, die von Thomas Mann als intellektuelle Rechtfertigung im Kampf gegen die Freiheitspropaganda der Entente ins Feld geführt wurden. In ähnlicher Weise stilisierte der Soziologe Werner Sombart den Weltkrieg als Auseinandersetzung zwischen englischen Händlern und deutschen Helden. Erst nach der zweiten Niederlage verkehrte sich dieser Anspruch eines positiven Sonderwegs in eine Kritik solch fataler Irrwege im Kaiserreich und Nationalsozialismus.3 Beide Selbststilisierungen waren rivalisierende Ausprägungen der ungeheuren Dynamik der Moderne, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Welt grundlegend veränderte. Ursprünglich wurde das Adjektiv modern von französischen Künstlern verwendet, um ihren Ausbruch aus dem Korsett der Tradition zu rechtfertigen. Um die Jahrhundertwende tauchte das Hauptwort »Modernität« immer häufiger als Zeitdiagnose auf, während Sozialwissenschaftler versuchten, Modernisierung als Prozess zu analysieren. Mit diesem Begriff beschrieben Zeitgenossen die rasante Veränderung ihrer urbanen Lebenswelt durch Eisenbahn, Wolkenkratzer, Telefon und Flugzeug, die Entfernungen überbrückte und Geschwindigkeiten beschleunigte. Als Bejahung dieses dynamischen Wandels signalisierte das Etikett »modern« einen optimistischen Fortschrittsglauben, ohne jedoch seine konkrete Ausgestaltung inhaltlich festzulegen.4 Innerhalb dieser gemeinsamen Hinwendung zum faszinierenden, aber unbestimmten Ziel der Moderne stellten die USA und das Kaiserreich konkurrierende Alternativen dar. Aufgrund ihrer Erfahrung als postkoloniale Kontinentalmacht entwickelten die Vereinigten Staaten eine liberale Konzeption der Modernisierung als einen durch kapitalistischen Wettbewerb und politische Demokratie bestimmten Prozess. Dagegen setzte das Kaiserreich auf eine eher autoritäre Version der Moderne, die durch staatliche Regulierung und Unterstützung sowie durch Bürokratie und Militär charakteri2 3 4

Vgl. Lipset 1996. Vgl. Faulenbach 1980. Vgl. Gumbrecht 1978: 93 – 131; siehe auch Osterhammel 2014.

Rivalen der Moderne

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siert wurde.5 In ihrem Wettbewerb beobachteten sich beide Gesellschaften gegenseitig, um Lösungen zu übernehmen oder zurückzuweisen. Diese Modernisierungskonkurrenz schuf eine ambivalente Beziehung, die zwischen Konflikt und Kooperation schwankte. Wie gingen beide Länder mit dem Potenzial der Moderne im Laufe des 20. Jahrhunderts um?

2. Alternative Visionen Der amerikanische Glauben an die Unaufhaltbarkeit des Fortschritts war durch die Erfahrung eines positiven Wandels geprägt, der seine evidenten Schattenseiten überstrahlte. Aus der Revolte der Kolonien gegen das englische Mutterland entwickelte sich ein elementarer Freiheitsdrang, der eine demokratische Republik schuf. Die notwendige Selbstständigkeit anhand der »Open Frontier«, die erst 1890 geschlossen wurde, trug zu einem Individualismus bei, der kollektive Schranken ablehnte. Die Möglichkeit der Ausbeutung endlos erscheinender Ressourcen wie Holz oder Öl verstärkte den Glauben an Wettbewerb und Markt als Schlüssel zu Reichtum. Die Eroberung eines ganzen Kontinents im Zeichen der »Manifest Destiny« stärkte das Gefühl, ein Land »unbegrenzter Möglichkeiten« zu sein, das mit Gottes Hilfe weitere Erfolge feiern würde. Rassismus, Sklaverei oder Vernichtung der Ureinwohner fielen dagegen kaum ins Gewicht.6 Trotz erheblicher Gemeinsamkeiten, setzte das deutsche Vertrauen in die segensreiche Wirkung der Moderne etwas andere Akzente. Zwar spielten technische Erfindungen, wirtschaftliche Expansion, individuelle Mobilität oder Rechtssicherheit eine ähnliche Rolle. Aber aufgrund des preußischen Einflusses hatten Staat und Verwaltung einen höheren Stellenwert. Auch zeigte die deutsche Unternehmenskultur stärkere Tendenzen zum »organisierten Kapitalismus« von Kartellen und Monopolen als in den USA. Aufgrund der Mythologisierung der Freiheits- und Vereinigungskriege war ebenso das gesellschaftliche Ansehen des Militärs erheblich höher. Nach Bismarcks Reformen gab es im Kaiserreich auch mehr Ansätze zum Sozialstaat. Schließlich besaß Deutschland das führende Universitätssystem in der Welt. Es handelte sich daher nicht um eine »partielle Modernisierung« sondern um eine alternative Variante der Moderne.7

5 6 7

Vgl. Jarausch 2015. Vgl. Tindall 2010. Vgl. Wehler 1995.

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Sogar amerikanische Beobachter fanden das Kaiserreich um die Jahrhundertwende ziemlich modern, und waren bereit in einigen Bereichen von den Deutschen zu lernen. In ihren Reiseberichten beschrieben prominente Intellektuelle wie der Schriftseller Mark Twain Deutschland als ein dynamisches Land, das in einigen Bereichen die Spitze des Fortschritts definierte. So studierten im gesamten 19. Jahrhundert etwa 10 000 bis 12 000 US-Studenten an deutschen Hochschulen und nahmen die Idee der Forschungsuniversität mit Promotion, Seminar, Monografie und Fußnoten mit nach Hause. Auch waren sie von der öffentlich subventionierten Hochkultur der Konzerte, Opern, Theater und Museen begeistert. Ebenso bewunderten sie die Unbestechlichkeit und Kompetenz der öffentlichen Verwaltung. Besonders angetan waren die »Progressives« von den zahlreichen Sozialreformen, die die Städte lebenswerter machten.8 Trotz manch elitärer Vorbehalte waren einfache Deutsche von den Vereinigten Staaten fasziniert und wie Goethe davon überzeugt: »Amerika, du hast es besser / Als unser Kontinent, das alte«. Gebildete waren oft von der Unkultiviertheit, Formlosigkeit und dem Materialismus der Amerikaner abgestoßen, besonders wenn sie selbst in der neuen Welt keinen Erfolg hatten. Aber die Auswandererbriefe der etwa sechs Millionen Deutschen, deren Nachkommen fast ein Fünftel der Bevölkerung ausmachten, sprachen eine andere Sprache. In ihnen war Amerika ein Hort individueller Freiheit, in dem man sich ohne europäische Fesseln selbst verwirklichen konnte. Vor allem gab es endloses Land für Siedler und ökonomische Chancen für arbeitswillige Handwerker, wie Erfolgsgeschichten von Bierbrauern (Anheuser-Busch) oder Autobauern (Chrysler) bewiesen. Für die Jugend verklärte dieses Wunschbild noch die Indianerromantik eines Karl May.9 In gewisser Weise war der Erste Weltkrieg eine Auseinandersetzung zwischen den liberalen und autoritären Varianten der Moderne, in der sich erstere schließlich doch durchsetzte. Anfangs schien es so, als ob der Autoritarismus der Deutschen besser für die Kriegsführung geeignet sei, weil er militärische Macht und wirtschaftliches Potenzial straffer organisieren konnte. Aber als 1917 die Amerikaner in den Konflikt hineingezogen wurden, erwies sich das liberale Lager des Westens auch nach dem Ausscheiden Russlands als stärker. Dabei war nicht nur die größere Bevölkerungszahl und wirtschaftlichen Ressourcen, sondern auch die effektivere Mobilisierung und überzeugendere Propaganda entscheidend. In Deutschland zerbrach der Burgfrieden, da die Dritte Oberste Heeresleitung zur Quasi-Diktatur mutierte, während 8 9

Vgl. Krause 2016; siehe auch Rodgers 1998. Vgl. Gatzke 1980; siehe auch Penny 2013.

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die Reichstagsmehrheit den Frieden wollte.10 Die Novemberrevolution war daher ein Beweis für die Überlegenheit moderner Demokratie.

3. Liberale Konvergenz Der Sieg der Entente gab dem US-Präsidenten Woodrow Wilson die Chance, eine dauerhafte Friedensordnung im Sinne der liberalen Moderne aufzubauen. Er hatte zu den Vertretern der alten Diplomatie eine gewisse Distanz bewahrt, um seine neuen Ideen durchzusetzen. Erstes, in den 14 Punkten angekündigtes Prinzip, war die interne Demokratisierung der bestehenden oder neu zu gründenden Staaten. Sein zweites Ziel war die nationale Selbstbestimmung der vorher von Imperien unterdrückten Bevölkerungen, um dadurch ethnische Konflikte beizulegen. Und letzter Hauptpunkt war die Schaffung einer neuen Struktur der internationalen Beziehungen durch die Gründung eines Völkerbundes, die weitere Kriege verhindern sollte. Da diese Vorstellungen einen milderen Frieden als die Kriegsziele Englands oder Frankreichs erwarten ließen, waren die unterlegenen Deutschen bereit, Wilsons ausgestreckte Hand zu ergreifen.11 Die glücklose Weimarer Republik war deshalb sozusagen ein Versuch, diese Konzepte einer liberalen Moderne auf deutschem Boden umzusetzen. Im Gegensatz zu dem kommunistischen Verlangen nach einem sowjetischen Rätesystem, war die Mehrheits-SPD zufrieden mit der Schaffung einer parlamentarischen Republik. Diese Neuordnung basierte auf einem doppelten Kompromiss mit den Arbeitgeberorganisationen und der Reichswehr, welche die Demokratie als legitimen Nachfolger des Kaiserreichs anerkennen sollten. Die von sozialen und bürgerlichen Demokraten gestaltete Verfassung war ein fortschrittliches Dokument mit Verhältnis- und Frauenwahlrecht, das vor allem in den sozialen Dimensionen sogar den USA voraus war. Aber die Republik war durch den verlorenen Krieg und den harten Versailler Frieden belastet, die den antidemokratischen Gegnern von rechts und links Gründe zur Ablehnung lieferten.12 In den turbulenten 1920 er-Jahren avancierten die Vereinigten Staaten dadurch zu einem widersprüchlichen Vorbild, das unter dem Schlagwort der »Amerikanisierung« kontrovers diskutiert wurde. Während weder die Kommunisten noch die Konservativen den USA viel abgewinnen konn10 Vgl. Leonhard 2014. 11 Vgl. Schwabe 1985. 12 Vgl. Knapp et al. 1978: 62 – 106.

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ten, orientierten sich die bürgerlichen Demokraten in ihrem Bemühen um populäre Unterstützung an diesem Beispiel. Vor allem fortschrittliche Bosse der Wirtschaft waren von dem technischen Erfindungsreichtum, der tayloristischen Rationalisierung und der fordistischen Massenproduktion am Fließband fasziniert, weil sie sich von ihrer Einführung höhere Renditen versprachen.13 In der Unterhaltungskultur begeisterten Hollywood-Filme und Jazzmusik das Publikum, vor allem wenn sie durch Stars wie Josephine Baker repräsentiert wurden. Diese unterschiedlichen Dynamiken machten Amerika als solches mit der Moderne synonym. Dennoch war auch die »Weimarer Kultur« ein Höhepunkt der »klassischen Moderne«, die durch ihre Vertreibung weltweit stilbildend wurde. Ihre besondere Experimentierfreudigkeit und politische Radikalität trugen zu einer Explosion der Kreativität in verschieden Bereichen bei, die in dieser Intensität nicht mehr wiederholt wurde. Im Film waren es die Streifen der UfA, die expressionistische Formen entwickelten und ein Massenpublikum ansprachen. In der Architektur war es das Bauhaus mit seiner Philosophie von »Form Follows Function«, das einen modernistischen Stil schuf, der in Wolkenkratzern und Einzelhäusern Technik mit Schönheit verband. In der Musik waren es die Dissonanzen von Arnold Schönberg und im Theater die Lehrstücke von Berthold Brecht, die die Zuhörer provozierten. Eine solche Liste ließe sich weit verlängern.14 Wegen ihres tragischen Endes wurde kultureller Modernismus zur Signatur der Weimarer Republik. In der zweiten Hälfte der 1920 er-Jahre konvergierten die USA und Deutschland daher auf das Modell einer liberalen Moderne hin und arbeiteten konstruktiv zusammen. Beide Länder waren Demokratien, auch wenn sich ihre Wahlsysteme und Parteienlandschaften weiter unterschieden. Beide Staaten waren expandierende Marktwirtschaften, obwohl die USA einen enormen Boom erlebten, während Deutschland sich von Kriegsfolgen und Hyperinflation erholen musste. Beide Nationen bemühten sich gleichermaßen um die Stabilisierung der Nachkriegsordnung durch Lösung der schwierigen Reparationsfrage und Unterstützung des Völkerbundes. Aber die USA zogen sich aus ihrer weltpolitischen Verantwortung in einen Isolationismus zurück und in Deutschland riefen der harte Friedensschluss und der kulturelle Modernismus mächtige Feinde auf den Plan.15 Daher blieb der erste Versuch der Kooperation letztlich nur eine Episode.

13 Vgl. Nolan 2010. 14 Vgl. Weitz 2007. 15 Vgl. Tooze 2014.

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4. Ideologischer Hegemonialkrieg Durch ihre elementare Wucht, die weit über eine normale Rezession hinausging, stürzte die »Große Depression« die liberale Moderne in eine Krise, die radikale Alternativen begünstigte. Auslöser war der Börsenkollaps an der Wall Street, der spekulative Gewinne abrupt beendete und zu einem schnellen Rückzug amerikanischer Kredite aus Europa führte. Aufgrund dieser internationalen Finanzturbulenzen brach die Industrieproduktion in beiden Ländern auf fast die Hälfte zusammen und wuchs die Massenarbeitslosigkeit steil auf über ein Viertel der Arbeitnehmer an. Die orthodoxe Antwort auf sinkende Erträge und Steuerausfälle war die rigorose Sparpolitik von Herbert Hoover und Heinrich Brüning, die den Abschwung weiter verschärfte.16 Die Ineffektivität solcher Austeritätsmaßnahmen diskreditierte Kapitalismus und Demokratie, und verschaffte den kommunistischen und nationalsozialistischen Bewegungen enormen Zulauf. In Deutschland war die Wirkung der Weltwirtschaftskrise besonders verheerend, weil der Zusammenbruch der Republik den Nationalsozialismus an die Macht brachte. Wegen eines Disputs über Beiträge zu den Sozialkassen brach die Weimarer Koalition 1930 auseinander. Da trotz Hindenburgs Popularität dem autoritären Folgeregime die populäre Basis fehlte, blieb dem Präsidenten keine Wahl als den Führer der größten Partei im Januar 1933 zum Kanzler zu ernennen. Die nationalsozialistische Bewegung war eine brisante Mischung aus Ressentiments gegen den Liberalismus, Kommunismus, Modernismus usw., die im Judenhass gipfelte. Trotz reaktionärer Agrarrhetorik war der Nationalsozialismus eigentümlich modern, da er nicht nur von Technik fasziniert war, sondern ein Sozialexperiment der Erneuerung der Volksgemeinschaft ansteuerte.17 Wegen seiner Biopolitik könnte man den NS als »organische Moderne« verstehen. In den USA rettete der New Deal jedoch die liberale Moderne, indem er ihre soziale Basis durch Umverteilung ihrer Früchte verbreiterte. Neben spektakulären Gewinnern des Booms hatte der American Dream eine Reihe von Verlierern unter den Einwanderern, Schwarzen und Indianern hervorgebracht. Als die Industrieproduktion und im Dust Bowl auch die Landwirtschaft zusammenbrachen, reichten die karitativen Anstrengungen von Hoover nicht mehr aus. Im Jahre 1932 wählten die enttäuschten Amerikaner daher den New Yorker Gouverneur Franklin D. Roosevelt zum Präsidenten, der sofort eine Reihe von 16 Vgl. James 1986. 17 Vgl. Fritzsche 1998; siehe auch Jarausch 2015: 261 – 286.

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staatlichen Maßnahmen einleitete, um Arbeitslose zu unterstützen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln und das Finanzsystem zu reformieren.18 Trotz scharfer Widerstände gelang es dieser keynesianischen Gegensteuerung, das liberale Modell zu erneuern, indem sie seine Politik in sozialer Hinsicht demokratisierte. Dagegen unternahmen die Nazis ein rassistisch-hegemoniales Großexperiment, um ihre konfuse Vision einer organischen Moderne zu verwirklichen. Hitlers Ziele der Aufrichtung der Nation, der Revanche für die Niederlage und der Eroberung von Lebensraum im Osten wurden von erheblichen Teilen der Bevölkerung unterstützt. Auch die diktatorischen Mittel der Errichtung eines Führerstaates und der Säuberung der Volksgemeinschaft waren populär, solange man nicht zu den verfolgten Linken oder Juden gehörte. Die Opfer des Hungertods russischer Kriegsgefangener und des Massenmords an wehrlosen Juden im Holocaust wurden daher generell ignoriert. Aber gegenüber dem brutalen Vernichtungskrieg wuchs die Skepsis als nach den anfänglichen Siegen das Leiden durch Bombenangriffe auf das eigene Land zurückschlug.19 In ihrer Gewissenlosigkeit, Organisation und Konsequenz war diese Orgie des Tötens daher durchaus modern. Trotz anfänglicher Überlegenheit, wurde die nationalsozialistische Diktatur von ihren demokratischen und kommunistischen Gegnern noch gründlicher als im Ersten Weltkrieg geschlagen. Die neuen Waffen, Methoden des Blitzkriegs und individuelle strategische Entscheidungen brachten der Wehrmacht überraschende Siege auf dem Kontinent in Polen, Norwegen, Frankreich und auf dem Balkan. Aber schon der Luftkrieg gegen England verfehlte sein Ziel und in der Weite und Kälte Russlands war die Kriegsführung der sukzessiven Überwältigung der Gegner wegen der Leidensfähigkeit sowjetischer Soldaten nicht mehr erfolgreich. Mit der unverständlichen Kriegserklärung gegen die USA und fehlenden Koordinierung mit Japan wurde die Niederlage unvermeidlich. Neben der Bevölkerungszahl, Industrieproduktion und Strategie, erwies sich die Attraktion demokratischer und kommunistischer Moderne als entscheidend.20

5. Konfrontation der Systeme Nach der Eliminierung der NS-Alternative signalisierte der Kalte Krieg einen neuen Konflikt der Moderne-Vorstellungen zwischen kommunistischem 18 Vgl. Leuchtenburg 1963. 19 Vgl. Kershaw 2008, Browning 2004. 20 Vgl. Weinberg 2005.

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Egalitarismus und kapitalistischem Liberalismus. Der Osten rekurrierte auf die Tradition des Marxismus-Leninismus, der die Gesellschaft in Richtung Gleichheit revolutionieren und das wirtschaftlich zurückgebliebene Russland industrialisieren wollte. Der Westen berief sich auf die Freiheitswerte im Sinne von Wilson und Roosevelt, die wirtschaftlichen Wettbewerb und bürgerliche Selbstverwaltung stark machten. In der darauffolgenden Blockbildung bauten die Amerikaner trotz mancher Skandale mehr auf Freiwilligkeit, während die Sowjets eher auf Zwang setzten. In dieser ideologischen Auseinandersetzung waren die geteilten Deutschen weniger eigenständige Akteure als umstrittener Zankapfel der beiden Lager und begehrte Hilfstruppen der jeweiligen Vormächte.21 Trotz der gemeinsamen Ziele wie Entmilitarisierung, Entnazifizierung und Entkartellierung folgte der Wiederaufbau Deutschlands den unterschiedlichen Interpretationen der jeweiligen Siegermächte. In der Bundesrepublik fand im Zuge der außenpolitischen Westbindung eine »konservative Modernisierung« statt, in der sich traditionelle Elemente mit fortschrittlichen Initiativen vermischten. Dabei versuchten die Eliten so viel wie möglich von älteren Traditionen zu retten, waren aber auch offen für neue Technologien, Populärkultur und Konsum. Das Grundgesetz war daher eine Mischung von amerikanischen Vorgaben und deutschen Erfahrungen mit föderaler Demokratie und die »soziale Marktwirtschaft« war ein ähnlicher Kompromiss zwischen Wettbewerb und Solidarität. Trotz mancher restaurativer Anklänge wollte die Bonner Republik im politischen Stil, Populärkultur und Konsum durchaus modern sein.22 Die sowjetisch besetzte Zone Mitteldeutschlands versuchte dagegen eine kommunistische Modernisierung nach stalinistischem Muster. Wegen des Verlusts der Ostgebiete und der repressiven Praxis der russischen Besatzungsmacht hatte der Aufbau des Sozialismus in der DDR mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen. Politisch konnte sich der »Arbeiter- und Bauernstaat« nur auf eine Minderheit von Kommunisten und Sozialisten in der SED stützen. Wirtschaftlich wollte er trotz Demontagen und existierender Konsumgüterproduktion eine fehlende Schwerindustrie aufbauen. Sozial nahm die revolutionäre Entbürgerlichung zur Herstellung einer »arbeiterlichen Gesellschaft« bereits bestehende gesellschaftliche Differenzierungen wieder zurück. Das ironische Resultat dieser Umstrukturierungen war trotz

21 Vgl. Gaddis 2006. 22 Vgl. Schild / Sywotteck 1993.

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mancher NS-Relikte eine schrittweise Liberalisierung des Westens und trotz anti-faschistischer Rhetorik eine neue Diktatur im Osten.23 Die Schlagworte der Amerikanisierung und Sowjetisierung hatten daher einen ganz verschiedenen Beigeschmack. Aufgrund der Gleichsetzung von Amerika mit Moderne wurden viele Veränderungen wie die Ausbreitung von Populärkultur in Film, Musik und Konsum als Amerikanisierung tituliert, obwohl sie nur in amerikanischer Form auftraten. Dahinter stand ein breiterer Prozess der Westernisierung, der auch Einflüsse von Frankreich und England aufnahm und eine Orientierung an demokratischen Werten bezeichnete. Dagegen war Sowjetisierung eher ein Kampfbegriff des Kalten Krieges, der die gewaltsame Umstrukturierung der DDR meinte. Aufgrund der schlimmen Erfahrungen beim Einmarsch der Roten Armee vollzog er sich weniger freiwillig als unter massivem Druck der SED.24 Trotz mancher Ressentiments gegen Washington war daher der Antiamerikanismus weniger verbreitet als ein dezidierter Antikommunismus. Die ideologischen Waffen der konkurrierenden Modernisierungskonzepte waren die Theorien des Totalitarismus und des Antifaschismus. Deutsche Intellektuelle in Amerika wie Hannah Arendt entwickelten den Begriff des Totalitarismus aus der Erfahrung mit nationalsozialistischen und kommunistischen Diktaturen, um deren gemeinsame Repressionsstrukturen zu verdeutlichen. Die Totalitarismustheorie wurde zur westlichen Leitideologie des Kalten Krieges, weil sie den Übergang von dem einen zum anderen Gegner theoretisch rechtfertigte. Dagegen stammte das Konzept des Antifaschismus aus dem Kampf der Volksfront gegen Hitler und Mussolini und aus der Erfahrung des kommunistischen Widerstands. Seine Stärke war die Gleichsetzung von nationalsozialistischem und demokratischem Kapitalismus. Obwohl beide Ideologien auf einem Auge blind waren, setzte sich der Antitotalitarismus als Verteidigung demokratischer Moderne durch.25

6. Wettbewerb des Fortschritts Im Wettbewerb zwischen den Modernisierungszielen von »Freiheit« oder »Sozialismus büßte das amerikanische Vorbild von den 1960 er-Jahren an zunehmend an Glaubwürdigkeit ein. Zwar bescherte der American Way of Life durch Maßnahmen wie die GI-Bill der Bevölkerung einen wachsenden 23 Vgl. Kleßman 2007. 24 Vgl. Jarausch / Siegrist 1997; siehe auch Doering-Manteuffel 1999. 25 Vgl. Müller 2011.

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Wohlstand. Aber der hysterische Antikommunismus von Senator McCarthy hatte die engen Grenzen intellektueller Meinungsfreiheit gezeigt. Danach erhöhten die Kämpfe um die Beendigung der Rassentrennung durch die Civil Rights-Bewegung die inneren Spannungen. Vor allem war es aber das post-koloniale Engagement Washingtons in dem Bürgerkrieg von Vietnam, das die Verteidigung von Freiheitswerten durch Unterstützung von korrupten Militärdiktaturen fragwürdig machte. Intern erwuchsen daraus Selbstzweifel und extern ein Verlust des Ansehens, die allerdings kritisch diskutiert werden konnten.26 Trotz anfänglicher Erfolge entwickelte das sowjetische Modell der Moderne jedoch noch gravierendere Probleme. Durch enormen Arbeitseinsatz schaffte es die kommunistische Führung, das zerstörte Land wiederaufzubauen und den Lebensstandard zu verbessern. Auch die Absorbierung der Eroberungen und die Konsolidierung des Imperiums gelangen durch das Helsinki-Abkommen, sodass die Sowjetunion ein Vorbild für viele Entwicklungsländer wurde. Die Planwirtschaft konnte zwar den Sputnik als ersten Satelliten ins All schießen, scheiterte aber an der Fertigung von attraktiven Konsumgütern. Gleichzeitig erschwerte der Wechsel von Tauwettern und kulturellen Eiszeiten die Entstalinisierung, da Zensur und Geheimpolizei nicht dauerhaft gebändigt wurden. Die gewaltsame Niederschlagung der Aufstände im Ostblock von 1953, 1956, 1968 und 1981 verhinderte letztlich die überfällige Demokratisierung des Sozialismus.27 Im Schatten des Systemwettbewerbs emanzipierte sich die Bundesrepublik langsam vom US-Vorbild und fand einen eigenen Weg in die demokratische Moderne. Das erstaunliche Wachstum des durch die D-Mark symbolisierten Wirtschaftswunders gab den Westdeutschen einen gewissen Stolz zurück. Gleichzeitig schritt der Prozess einer »inneren Demokratisierung« voran, durch den die Werte und Verhaltensweisen der parlamentarischen Demokratie verinnerlicht wurden. Daher war die Bonner Republik stabil genug, um die Generationsrevolte von 1968 mit ihren terroristischen Auswüchsen zu überstehen und neue soziale Bewegungen hervorzubringen. Schließlich leistete die sozialdemokratische Ostpolitik einen großen Beitrag zur Befriedung der Beziehungen zu den östlichen Nachbarn.28 Durch ihre Liberalisierung befreite sich die Bundesrepublik von ihren NS-Belastungen und verwandelte sich in eine moderne westliche Demokratie.

26 Vgl. Kirk 2013, Appy 2015. 27 Vgl. Bispink 2004; siehe auch Zubok 2007. 28 Vgl. Jarausch 2006, Wolfrum 2006.

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Auch durch die Selbstdarstellung als ein »besseres Deutschland« des Antifaschismus, gelang es der DDR nicht dauerhaft, ihre Bürger von der Überlegenheit des »realen Sozialismus« zu überzeugen. Der Mauerbau im August 1961 bewies, dass das SED-Regime nur von einer Minderheit getragen wurde und sich lediglich durch Gewaltanwendung halten konnte. Zwar verbesserten Ulbrichts Fünfjahrespläne den Lebensstandard etwas, und Honeckers »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik« schuf einen bescheidenen Konsumkommunismus. Aber im Wettbewerb mit der dynamischeren sozialen Marktwirtschaft fiel die DDR immer weiter zurück, sodass sie nur von westdeutschen Zahlungen wie den Milliardenkrediten von Strauß aufrechterhalten wurde. Obwohl die DDR sportliche Erfolge feierte und Frauen erhebliche Vorteile anbot, kam sie insgesamt nie über den Status eines sowjetischen Klienten und armen Verwandten hinaus.29 Der Sieg der westlichen Moderne im Systemwettbewerb kam zwar zeitlich überraschend, besaß aber dennoch eine gewisse Logik. Mikhail Gorbatschows Einsicht in die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Sowjetunion war ein Eingeständnis der Überlegenheit des liberalen Modells, dessen technologischen und organisatorischen Vorsprung die Politik der Perestroika und Glasnost aufholen sollte. Die ostmitteleuropäische Bürgerbewegung nutzte den durch seine Rücknahme der Breschnew-Doktrin entstandenen Freiraum konsequent aus, um wie Solidarnosc in Polen eine Demokratisierung des Systems zu verlangen. Die Flutwelle von Massenflucht, Demonstrationen und Maueröffnung stürzte dann die SED-Diktatur und zertrümmerte den Eckstein des russischen Imperiums.30 Die folgende Vereinigung Deutschlands und die Überwindung der Teilung Europas bewiesen eindeutig die Magnetkraft des moderneren Westens.

7. Globale Herausforderungen Die Demokratien konnten ihren Triumph kaum auskosten, denn sie wurden sofort mit neuen Herausforderungen der Globalisierung konfrontiert. Seit den Ölschocks der 1970 er-Jahre hatten Welthandel, internationale Finanzströme und anglophone Populärkultur rasant zugenommen. Im Westen hatte die Intensivierung der Konkurrenz Japans und der asiatischen Tigerstaaten zum Verlust fordistischer Produktion von Textil, Stahl, Schiffsbau usw., also zu einer Entindustrialisierung ganzer Regionen und zur Entstehung 29 Vgl. Wolle 1998. 30 Vgl. Maier 1997; siehe auch Kenney 2002.

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von Sockelarbeitslosigkeit geführt. Zwar boten die neuen Informationstechnologien auch Arbeitsplätze für gut ausgebildete Angestellte, aber die Deregulierung der Märkte schuf eine Serie von Krisen wie die »Savings and Loan Crisis«, den »IT-Bubble« oder die »Great Recession«.31 Soziologen interpretierten diese Probleme als das Ende der klassischen Moderne und den Übergang zur post-industriellen Gesellschaft. Als Urheber postmoderner Dynamik schienen die USA gut für den globalen Wettbewerb gerüstet zu sein – bis die Angriffe auf das World Trade Center ihr Selbstbewusstsein fundamental erschütterten. Die meisten IT-Technologien von den Mainframe-Computern bis zu den Laptops wurden im kalifornischen Silicon Valley entwickelt, auch wenn sie oft in Asien produziert wurden. Ebenso wurde die Deregulierung der Finanzmärkte vom Neo-Liberalismus Ronald Reagans vorangetrieben, um globale Finanztransaktionen zu erleichtern. Jedoch war die neo-konservative Illusion des außenpolitischen Unilateralismus als einzig verbliebene Großmacht wegen des islamistischen Terrorismus nur von kurzer Dauer. Die Kriege im Irak und in Afghanistan konnten zwar konventionell gewonnen werden, aber der Frieden blieb eine Mirage. Gleichzeitig wurde die soziale Ungleichheit immer stärker, was das Land in verfeindete Lager spaltete.32 Dagegen war das neue Deutschland eher mit der Überwindung der Vereinigungskrise beschäftigt, deren Auswirkung sich als gravierender denn erwartet herausstellte. Zwar ging der Transfer der politischen Institutionen und des Rechtsstaates relativ glatt über die Bühne. Aber der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft durch den doppelten Übergang von Plan zu Markt und von Protektionismus zu globalem Wettbewerb verlangte riesige finanzielle Transfers zur Abfederung. Ebenso hatten die neuen Bundesbürger große Schwierigkeiten in der Umorientierung vom gewohnten Kollektivismus des Ostens auf den aggressiven Individualismus des Westens. Auch entbrannte in der Kultur eine Richtungsdiskussion zwischen Antitotalitarismus und Antifaschismus als Leitideologie. Schließlich tat sich die Berliner Republik außenpolitisch schwer mit der Aufnahme neuer Verantwortung als »Reluctant Hegemon« in Europa.33 Trotz gemeinsamer Grundwerte wie Freiheit, Menschenwürde und Wettbewerb haben die transatlantischen Differenzen in ihrer Auslegung während der letzten Jahrzehnte zugenommen. Während die US-Öffentlichkeit weiterhin Krieg als legitimes Mittel der Politik ansieht, ist Deutschland pazifistischer 31 Vgl. Wirsching 2012. 32 Vgl. Winkler 2015. 33 Vgl. Jarausch 2014.

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geworden und hat sich aus den Irak-Kriegen herausgehalten. Während die Wall Street gegen jede Begrenzung des freien Spiels des Markts polemisiert, ist das deutsche Publikum für eine Regulierung der Finanztransaktionen, um ihre zerstörerische Kraft einzudämmen. Während Washington die Rolle des Staates möglichst minimieren will, ist Berlin weiterhin von der Notwendigkeit sozialer Solidarität überzeugt. Dazu kamen noch Unterschiede in Bezug auf Umwelt, Religion, Waffenbesitz, Nahverkehr oder andere Bereiche. 34 Die jeweiligen Versionen einer demokratischen Moderne divergieren daher immer weiter. Diese Differenzen sind deswegen gefährlich, weil westliche Auffassungen von Freiheit und Humanität von wachsenden Teilen der Welt abgelehnt werden. Islamistische Terroristen, religiöse Fundamentalisten und postkommunistische Diktatoren weisen Wünsche nach selbstbestimmtem, säkularem und konsumorientiertem Leben grundsätzlich zurück. Aber auch post-koloniale Selbstzweifel sowie die berechtigte Kritik von Minderheiten an der Umsetzung der Grundwerte des Westens bestreiten ihre Allgemeingültigkeit von innen heraus. In diesem neuen Kulturkampf ist es umso wichtiger dass Amerikaner und Deutsche die Verbindlichkeit von Menschenrechten als die zentrale Lehre aus der Gewalt des 20. Jahrhunderts gemeinsam verteidigen.35 Auch wenn der Westen oft den eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird und seine Utopie der Moderne ambivalente Folgen hat, birgt sie dennoch die Möglichkeit einer Selbstkorrektur.

8. Zähmung der Moderne Dieser knappe Überblick über die kontrastierende Modernisierung der USA und Deutschlands zeigt, dass ihre Dynamik unbedingt gezähmt werden muss, um ihr positives Potenzial zu verwirklichen. In den letzten zwei Jahrhunderten haben technische Erfindungen, die Kräfte des Marktes, die Energien des Individualismus und die Sicherheit des Rechtsstaates das Leben vieler Menschen grundlegend verbessert. Der Zuwachs an Wissen, Wohlstand, Unabhängigkeit und Planbarkeit ist überall unübersehbar. Aber gleichzeitig sind die negativen Folgen der von Nationalismus, Militarismus, Bürokratismus und Bellizismus verursachten Diktaturen und Massenmorde erschreckend groß gewesen. Nicht umsonst sind die Soldatenfriedhöfe und KZ-Gedenkstätten eine ebenso sichtbare Spur der Modernisierung. Nur 34 Vgl. Sheehan 2008, Jarausch 2006. 35 Vgl. Moyn 2010; siehe auch Hoffman 2011.

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wenn die fortschreitenden Veränderungen human kontrolliert werden, können sich ihre positiven Wirkungen voll entfalten.36 Die von dem American Dream vertretene liberale Version der Moderne bleibt weiterhin ziemlich attraktiv, weil sie den Menschen ein besseres Leben verspricht. Sie beindruckt durch ihre Innovativität, Jugendlichkeit und Dynamik, da sie den Einzelnen für sein Schicksal verantwortlich macht. Dennoch sind ihre Schattenseiten von Rassismus, Imperialismus, Verschwendung und Ausbeutung sowie sozialer Ungleichheit nicht zu übersehen. Gerade wegen des neoliberalen Glaubens an ungezügeltes Wachstum gerät das Land immer wieder in Wirtschaftskrisen, die demokratische Präsidenten von Roosevelt bis Obama durch Ausweitung der sozialen Basis bekämpft haben. Aber solche Reformversuche rufen ebenso rechtspopulistische und religiöse Gegenbewegungen hervor, die wie die Trump-Adimistration wesentliche Aspekte der Moderne ablehnen. Trotz ihres beeindruckenden Potenzials bleiben die USA daher ein problematisches Vorbild.37 Der deutsche Versuch der alternativen Modernisierung landete zunächst in der Sackgasse, bevor er auf eine modifizierte Variante der Demokratie einschwenkte. Dem autoritären Sonderbewusstsein des Kaiserreichs fehlte eine nationsübergreifende Idee, die über Mitteleuropa hinaus wirken konnte. Und die Wahnvorstellungen einer organischen Moderne der Nazis lösten ein Blutbad aus, das mit dem Bösen schlechthin identisch geworden ist. Obwohl der antifaschistische Versuch der DDR ebenso diktatorisch endete, gelang es der Bundesrepublik, die Fehler Weimars zu vermeiden und durch Wirtschaftswunder, Westbindung und Ostpolitik eine demokratische Moderne fest zu etablieren. Trotz mancher Probleme wie Überalterung, Risikoscheue und Xenophobie, hat das vereinigte Deutschland seine historischen Lektionen gelernt und ist friedliebend, umweltfreundlich, solidarisch und europäisch geworden.38 Nach dem Sieg über die Erzrivalen des Faschismus und Kommunismus ist die liberale Version der Moderne dabei, sich in konkurrierende Modelle auszudifferenzieren. Um die Jahrtausendwende glaubten die amerikanischen Neokonservativen, dass ihre Version allein die Hegemonie aufgrund ihrer Wirtschaftsleistung und Militärmacht erringen würde. Aber der Aufstand des islamistischen Terrorismus und der Aufstieg der chinesischen Wirtschaft haben Prognosen von einem »Ende der Geschichte« mittlerweile als Illusionen entlarvt. Stattdessen hat der alte, oft schon abgeschriebene Kontinent 36 Vgl. Jarausch 2015: 773 – 788. 37 Vgl. Nolte 2014. 38 Vgl. Conze 2009.

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selbst einen »European Dream« entwickelt, der auf wirtschaftliche Integration, internationale Friedfertigkeit und interne Wohlfahrtstaatlichkeit setzt.39 Nur in Asien ist die Auseinandersetzung zwischen demokratischen und autoritären Modellen noch nicht entschieden. Die Zukunft wird daher von der Konkurrenz dieser verschiedenen Versionen bestimmt. In diesem Wettbewerb um Modernität sind Amerika und Deutschland trotz ihrer unterschiedlichen Größe und Macht auch künftig aufeinander angewiesen. In vieler Hinsicht sind ihre Aufgaben komplementär, da die USA als Global Player eine weltweite Verantwortung haben, während die Deutschen trotz des globalen Handels sich eher auf Europa konzentrieren. Jedoch machen sich beide Länder auch wirtschaftliche und ideologische Konkurrenz, sodass ihre Interessen immer wieder miteinander kollidieren. Dabei könnten sie viel voneinander lernen. Die USA stehen für wirtschaftliche Dynamik, militärische Stärke und individuelle Initiative während die Europäer eher auf soziale Sicherheit, Umweltverträglichkeit und Friedfertigkeit setzen.40 Gerade weil keiner der beiden Partner allein den Stein des Weisen besitzt, brauchen sie einen neuen transatlantischen Dialog über einen humanen Weg in die Zukunft.

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Von Kanzlern und Präsidenten Deutsch-amerikanische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg

Von Kanzlern und Präsidenten Von Kanzlern und Präsidenten. Deutsch-amerikanische Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg

1. Einleitung »Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat. Das Hauptziel der Alliierten ist es, Deutschland daran zu hindern, je wieder eine Bedrohung des Weltfriedens zu werden.«1 So lauteten die Kernsätze in der berühmten »Direktive 1067« der amerikanischen Staatschefs vom April 1945. Was der Oberbefehlshaber der anglo-amerikanischen Truppen, General Dwight D. Eisenhower, nach dem Besuch des Konzentrationslagers Ohrdruf am 12. April damals sagte, galt für viele andere auch: Er werde niemals wieder einem Deutschen die Hand geben, geschweige denn mit ihm sprechen. Seiner Frau schrieb er: »Ich habe mir nicht in meinen Träumen vorstellen können, dass es solche Grausamkeit, Bestialität und Brutalität tatsächlich gibt in dieser Welt! Es war furchtbar.« Und zum Stabschef der Armee, George Marshall, meinte er: »Das, was ich gesehen habe, spottet jeder Beschreibung.« Und schon vorher: »Mein Gott, ich hasse die Deutschen.«2 Wer damals Deutsch sprach, hatte schlicht und einfach schlechte Karten. Das deutsche Volk war geächtet. Das wird in dem wohl bekanntesten Film der US Army deutlich: Your Job in Germany, 1945.3 In den ersten Wochen 1 2

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Zitiert nach Steininger 2002 a: 47. Zitiert nach Ambrose 1983: 400; siehe Steininger 2014: 826. Der Besuch Eisenhowers wurde von der amerikanischen Wochenschau Universal in Schwarz-Weiß in den USA verbreitet. Die US-Army hat damals auch in Farbe gedreht. Diese Filme haben Heribert Schwan und ich 1978 in den USA entdeckt und eine 45 Minuten-Dokumentation produziert: »Ihr habt es gewusst!« Die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau nach der Befreiung. Sie wurde in mehreren Ländern ausgestrahlt, zuletzt 1995 vom WDR-Fernsehen, und mehrfach international preisgekrönt. Eine Kopie befindet sich als Dauerleihgabe im Holocaust Museum Yad Vashem in Jerusalem. Zum Titel der Dokumentation: US-General George Patton befahl damals 2 000 Bürgern von Weimar, sich das Elend von Buchenwald anzusehen. Beim Rundgang riefen einige: »Das haben wir nicht gewusst.« Die befreiten Häftlinge schrien zurück: »Ihr habt es gewusst!« Siehe den YouTube-Channel der National Archives (online unter: www.youtube.com/ watch?v=821R0lGUL6A – letzter Zugriff: 01.12.1017).

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vor und nach dem 8. Mai 1945 wurden von den amerikanischen Soldatensendern Radiospots ausgestrahlt, die sich so anhörten: »Jeder freundliche deutsche Zivilist ist ein getarnter Soldat des Hasses, bewaffnet mit der inneren Überzeugung, daß die Deutschen noch immer überlegen sind, daß es eines Tages ihre Bestimmung sein wird, dich zu vernichten. Ihr Haß und ihr Zorn und ihre Überzeugung stecken ihnen tief im Blut. Ein Lächeln ist ihre Waffe, um dich zu entwaffnen. Fraternisiere nicht! – Im Herzen, mit Leib und Seele ist jeder Deutsche Hitler. Hitler ist der Mann, der den Glauben der Deutschen verkörpert. Schließ keine Freundschaft mit Hitler! Fraternisiere nicht!«4

General Lucius D. Clay, 1945 bis 1947 stellvertretender Militärgouverneur und dann bis 1949 Militärgouverneur in Deutschland, schrieb am 16. Juni 1945 an den stellvertretenden Kriegsminister John J. McCloy: »Der kommende Winter wird schlimm werden für die Deutschen. Sie werden hungern und frieren. Einiges davon muß sein, damit sie am eigenen Leib die Folgen des von ihnen ausgelösten Krieges erfahren.«

Dann folgten allerdings zwei bezeichnende weitere Sätze: »Zwischen dem für diesen Zweck notwendigen Hungern und Frieren und dem Hungern und Frieren, das zu menschlicher Verzweiflung führt, ist es ein weites Feld. Möglicherweise können wir die Verzweiflung nicht verhindern, aber es ist mit Sicherheit unsere Pflicht, es zu versuchen.«5

Die Amerikaner versuchten es bekanntlich und reichten den Deutschen schon bald die Hand. Helmut Schmidt, der nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft seine ersten brauchbaren Stiefel von amerikanischen Quäkern geschenkt bekam, erinnerte sich noch 1987: »Ich werde das nicht vergessen.«6 So wie ihm ging es damals vielen Deutschen. Konrad Adenauer wies in seiner ersten Regierungserklärung am 20. September 1949 darauf hin, als er meinte, er glaube nicht, »daß jemals in der Geschichte ein siegreiches Land versucht hat, dem besiegten Land in der Weise zu helfen und zu seinem Wiederaufbau und zu seiner Erholung beizutragen, wie das die Vereinigten Staaten gegenüber Deutschland getan haben und tun«. Unzählige Amerikaner hätten den Deutschen in ihrer schweren Not geholfen; das deutsche Volk »wird das dem amerikanischen Volk niemals vergessen dürfen, und wird das auch nicht vergessen«.7 4 5 6 7

Zitiert nach Henke 1974: 174. Smith 1974: 24. Schmidt 1987: 339. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Berichte, Bd. 1, 1949: 22 – 30 (zitiert nach Schröder 1997: 103). Beim Kennedy-Besuch 1963 in Bonn äußerte sich Adenauer wie 1949 (vgl. Steininger 2014: 279).

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Der Ausbruch des Kalten Krieg wurde dabei für die Westdeutschen zu einem Glücksfall – allerdings mit der Konsequenz der Teilung des Landes. Was sich bereits 1945 abzeichnete, machte US-Präsident Harry S. Truman am 5. Januar 1946 intern und unmissverständlich klar: »Wenn man mit Rußland nicht eine deutliche Sprache spricht und ihm nicht mit eiserner Faust entgegentritt, ist der nächste Krieg in Sicht. Es gibt nur eine Sprache, die die Russen verstehen, nämlich: Wie viele Divisionen habt ihr?« Er sprach sich gegen weitere Kompromisse aus und betonte: »Ich habe es satt, die Sowjets weiter zu hätscheln« (»I am tired of babying the Soviets«).8 Das war der Beginn eines Jahres, dessen Ende auch das Ende jeder Kooperation mit der Sowjetunion bedeutete. Von nun an ging es beinahe Schlag auf Schlag.9 Am 9. Februar 1946 hielt Stalin in Moskau eine Rede, in der er erneut die marxistische These vertrat, dass das kapitalistische System in sich selbst die Elemente einer allgemeinen Krise und militärischer Zusammenstöße enthalte, mit anderen Worten: Die von Stalin erwartete Wirtschaftskrise in den kapitalistischen Staaten würde nahezu gesetzmäßig zur Aufrüstung und schließlich zum Krieg führen. Das State Department und Marineminister James Forrestal betrachteten diese Rede als einen direkten Angriff auf die USA; und für William O. Douglas, einen Richter am Obersten Bundesgericht, war dies gar eine »Kriegserklärung, die Erklärung zum Dritten Weltkrieg« Das State Department bat den stellvertretenden Chef der amerikanischen Mission in Moskau George Kennan um eine Einschätzung dieser Rede. Die kam am 22. Februar in Form jenes berühmten »langen Telegramms«. Es waren zwar nicht jene »8 000 Worte«, wie Kennan in seinen Erinnerungen schrieb, sondern nur 5 000, aber immer noch das längste Telegramm in der Geschichte des State Department. Für den Russlandexperten Kennan war die sowjetische Außenpolitik militant, aggressiv und expansionistisch, kompromisslos, negativ und destruktiv. Winston Churchill sprach auf seiner berühmten Rede in Fulton (Missouri) im Beisein von Präsident Truman öffentlich vom Eisernen Vorhang und bedauerte, dass »Uncle Joe« – Stalin – ihm daraufhin wohl keinen Kaviar mehr schicken würde. Im britischen Kabinett sprach man schon im Mai 1946 von Westdeutschland als einem Bollwerk gegen den Kommunismus. Was sich 1946 abzeichnete, trat im Laufe des Jahres 1947 in aller Schärfe auch öffentlich zutage. Das Jahr stand im Zeichen wachsender Ost-West-Spannungen, der Kalte Krieg brach nun offen aus. Stichworte sind hier Truman-Doktrin und Marshall-Plan. Die Rede von US-Außenminister George Marshall vom Juni 8 9

Truman 1955: 299 ff. Vgl. Steininger 2014: 53 – 73.

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1947 und die dann anlaufende Hilfe machten einen tiefen Eindruck auf die Westdeutschen und ihre politischen Repräsentanten. Die Auswirkungen des Plans in wirtschaftlicher, politischer und auch in psychologischer Hinsicht auf sie waren gravierend. Für viele ging es damals schlicht ums Überleben, und so nahm man die amerikanische Hilfe dankbar an. Die Dankesworte der Politiker waren nicht nur politisches Kalkül, sondern entsprangen einer ehrlichen Dankbarkeit. Die Vereinigten Staaten wurden zunehmend als Garant der Freiheit gesehen, was bei der nächsten großen Krise, der Berlin-Blockade 1948/49, noch deutlicher wurde. Wer im Sommer 1948 in Westdeutschland noch Zweifel an der Richtigkeit dieses Kurses hatte – mit der Gründung des Weststaates und der damit verbundenen Teilung Deutschlands als Konsequenz –, dem wurden diese jetzt durch die Brutalität der Blockade genommen. Bei der Abwehr der sowjetischen Erpressung fühlten sich Westdeutsche, Westberliner und Westalliierte zum ersten Mal seit 1945 als Verbündete. Es ging um die Abwehr der sowjetischen Bedrohung und um die Integration der Bundesrepublik in den Westen. Im Sommer 1949 bezeichnete US-Außenminister Dean Acheson das als »wichtigstes Ziel der amerikanischen Politik«.10 Es ging dabei um die vielzitierte »doppelte Eindämmung«: einmal die der Sowjets, dann der Deutschen – bei gleichzeitiger Nutzung des westdeutschen Potenzials. Die Kontrolle sollte dabei durch Integration und Aufnahme in den westlichen Club stattfinden. Die Konsequenz drückte ein britischer Diplomat treffend so aus: Man müsse sich dann damit wohl abfinden, den deutschen Partner vor dem Kamin im Wohnzimmer eine dicke Zigarre rauchen zu sehen.11

2. Adenauer, Eisenhower und Kennedy Der erste deutsche Partner war Bundeskanzler Adenauer. Der rauchte zwar nicht, erwies sich aber dennoch schon bald als der richtige Mann für diese Politik. Gegenüber dem amerikanischen Hochkommissar McCloy formulierte er im Dezember 1950 seine zwei Grundprinzipien, nämlich: 10 Foreign Relations of the United States [im Folgenden FRUS] 1949: 480, 490. Zur Entwicklung 1944 – 1949 siehe auch die zweiteilige Fernsehdokumentation Besiegt – Besetzt – Geteilt. Deutschland 1944 – 1949 von Heribert Schwan und Rolf Steininger (ARD 1979 und 1989). 11 So William Mallet, Leiter der Deutschlandabteilung im Foreign Office, in einem Memorandum, 16. November 1950: »We must make her a full member of the club and reconcile ourselves to seeing her smoking a large cigar in a big chair in front of the fire in the smoking room.« (Documents on British Policy Overseas, Series II / Vol. 3, Doc. 105: 266 ff.).

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»1) Es ist besser, daß die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands verzögert wird, als daß ein vereinigtes Deutschland unter bolschewistische Herrschaft gerät. 2) Die Bundesregierung [und das hieß Adenauer, R. S.] ist der Auffassung, daß man das Verhältnis zu Frankreich unter allen Umständen auf eine gesunde Basis der gegenseitigen Verständigung stellen muss, daß man alles tun muss, um das Verhältnis Deutschlands zu England möglichst wirksam zu gestalten; das Entscheidende aber ist eine enge Kooperation mit den Vereinigten Staaten; denn ohne diese Kooperation ist Westeuropa und damit auch Westdeutschland gegenüber der Gefahr aus dem Osten nicht zu bewahren.«12

Auf diesem Weg spielten der Schuman-Plan und die daraus entstehende Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl als erster Schritt zur europäischen Integration eine wichtige Rolle. Der Plan, den Frankreichs Außenminister Robert Schuman im Mai 1950 ankündigte, wies den Weg zu einer deutsch-französischen Annäherung, die wiederum Grundvoraussetzung für eine mögliche Integration Europas unter Einschluss der Bundesrepublik war, ganz im Sinne von Achesons Überzeugung, dass »ein Europa ohne Deutschland wie ein Körper ohne Herz« sei.13 David Bruce, US-Botschafter in Paris, meinte im Februar 1951: »Nach der allgemein herrschenden Stimmung steht und fällt die Bereitschaft Amerikas zu Hilfeleistungen an Deutschland mit Annahme des Schuman-Planes durch die Bundesrepublik. Nichtannahme wird dazu führen, daß Amerika in allen anderen Fragen jedes Interesse an Deutschland verlieren wird. Der Schuman-Plan hat selbst für diejenigen Amerikaner, die die Einzelheiten nicht kennen, symbolische Bedeutung erlangt und ist für die öffentliche Meinung Amerikas zum Prüfstein für die gesamte künftige politische Haltung Deutschlands geworden.«14

Im Gespräch mit Adenauer bestätigte McCloy diese Auffassung im Juli 1951. Demnach spielte der Schuman-Plan in den Überlegungen der führenden amerikanischen Persönlichkeiten »[…] eine entscheidende Rolle. Immer wieder wurde die Frage gestellt, wie kann man einen neuen deutschen Militarismus vermeiden und darf man überhaupt heute schon den Deutschen wieder Waffen in die Hand geben. Im allgemeinen wird der Schuman-Plan als eine ›herrliche Sache‹ angesehen. Kein Mensch wisse, was er wirklich bedeute, aber es genügten die mit ihm verknüpften allgemeinen Vorstellungen über eine Zusammenfassung

12 Gespräch Adenauer – McCloy, 16. Dezember 1950, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland [im Folgenden AAPD] 1949/50, Dok. 168. 13 Zitiert nach Beisner / Acheson 2006: 135. 14 Gespräch Bruce – von Marchtaler, 27. Februar 1951 (AAPD 1951, Dok. 37, Anm. 2).

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Rolf Steininger von Deutschland und Frankreich, die für alle Zeiten kriegerische Konflikte ausschlösse. Die Überzeugung sei im Wachsen, daß man Deutschland wieder trauen könne.«15

Und offensichtlich auch wieder Waffen geben konnte, was im Zusammenhang mit dem im Juni 1950 ausgebrochenen Koreakrieg zwingend wurde.16 Adenauer wurde schon bald der »beste Kanzler, den wir bekommen konnten«, wie der Leiter der Deutschlandabteilung im Foreign Office, William Mallet, am 29. November 1950 die Meinung des britischen Hohen Kommissars in der Bundesrepublik, Ivone Kirkpatrick, über Adenauer in einem Memorandum für Außenminister Ernest Bevin zusammenfasste.17 Und dieser Kanzler hielt unbeirrt Kurs und widerstand allen Neutralitätsversuchungen Stalins – Stichwort Stalin-Note vom März 1952 – und dies sogar, obwohl die Amerikaner bereit waren, mit den Sowjets darüber zu verhandeln.18 Adenauer wurde jetzt so etwas wie der »Turm in der Schlacht«19 bei möglichen neuen sowjetischen Angeboten. Die amerikanische Politik lautete Anfang 1953 denn auch, um beinahe jeden Preis den Wahlsieg Adenauers zu sichern. Im April 1953 folgte der Kanzler gerne einer Einladung nach Washington, wo er den Amerikanern zum wiederholten Male versicherte, dass er zum Westen stehe: »Wir in Deutschland bejahen – mehr als bejahen – die amerikanische Politik. Wir sind ein treuer und zuverlässiger Partner. […] Die amerikanischen Staatsmänner brauchen nicht zu befürchten, daß wir in Deutschland weich werden. Die Deutschen kennen die Russen und die totalitäre Denkweise besser als die meisten anderen Völker«.

Eisenhower hatte zuvor betont, Adenauer »könne sich hier ganz wie unter Freunden fühlen, denen das Wohl eines freien Deutschlands am Herzen liege. Die beiden Länder müßten ihre Probleme gemeinsam lösen.«20 Im Sommer 1953 war Adenauers Prestige in den USA, wie ein deutscher Dipolmat aus Washington berichtete, »nahezu schrankenlos und in gewisser Beziehung fast

15 Gespräch Adenauer – McCloy, 5. Juli 1951 (AAPD 1951, Dok. 119). Siehe auch Steininger 2014: 106. 16 Siehe hierzu die ARD-Fernsehdokumentation Drei Jahre, die die Welt bewegten. Koreakrieg und deutsche Wiederbewaffnung von Heribert Schwan und Rolf Steininger (1983 und 2003) sowie Steininger 2006. Zur Eindämmung vgl. Steininger et al. 1993. 17 The National Archives, London [im Folgenden TNA], FO 371/85032/C 7372. 18 Zur Stalin-Note vgl. Steininger 1986, Steininger 2014: 146 – 160 (mit entsprechenden Literaturhinweisen) und Steininger 2002 b: 175 – 215. 19 Albrecht von Kessel (Washington), 5. Juli 1953 an das Auswärtige Amt (AAPD 1953, Dok. 228, Anm. 10). 20 Gespräch Eisenhower – Adenauer, 7. April 1953 (AAPD 1953, Dok. 113). Siehe dazu auch Dok. 114, 115 und Abbildungen Nr. 26 – 28 bei Steininger 2014: 840 f.

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beängstigend. Denn man erwartet von ihm nicht nur Ratschläge und eine Konzeption, sondern geradezu ein Wunder.«21 Das ging damals ziemlich weit. US-Außenminister Dulles meinte im Dezember 1953 zu Adenauer, Eisenhower und andere in Washington hielten ihn für einen großen europäischen Staatsmann, der bedeutende historische Leistungen hervorbringen werde. Dulles wörtlich: »Wir fühlen, daß der Bundeskanzler uns besonders nahe ist. Wenn ich dem Präsidenten Eisenhower Vortrag halte, so ist seine erste Frage stets: ›Was denkt Bundeskanzler Adenauer?‹« Adenauer hat darauf laut Protokoll nicht geantwortet.22 Die militärische Integration Westdeutschlands im Rahmen der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) scheiterte zwar im Herbst 1954 an Frankreich, aber mit der »Ersatzlösung« – Beitritt zur NATO – wurde die Bundesrepublik im Mai 1955 dann auch militärisch fest im westlichen Lager verankert.23 Mit dem Tod von Dulles 1959 und dem neuen Präsidenten John F. Kennedy seit 1961 änderte sich nicht nur für Adenauer – fast – alles. Kennedy, Jahrgang 1917, hat Deutschland insgesamt fünfmal besucht (1937, 1939 zweimal, 1945 und als Präsident 1963, wobei die ersten vier Besuche jahrzehntelang in Deutschland gar nicht bekannt waren). Kennedy war dabei aber kein Freund der Deutschen geworden: Er hatte Nazi-Deutschland kennengelernt – »die Deutschen sind arrogant und übelriechend«, hatte er 1937 in sein Tagebuch geschrieben; sein Freund hatte notiert: »Die Deutschen sind arrogant; die ganze Rasse ist arrogant, sie fühlen sich allen überlegen und zeigen das auch; sie sind unerträglich.« Da hatten auch zwei Messen im Kölner Dom nichts geholfen. In dem von Deutschland entfesselten Krieg war Kennedys Bruder ums Leben gekommen, was Kennedy nicht vergessen und den Deutschen nicht vergeben konnte. Als Präsident nervten ihn die Deutschen – allen voran Adenauer – mit ihrem ständigen Misstrauen mit Blick auf die Bündnistreue der USA.24 Kennedy wollte daher nichts von einer Wiedervereinigung wissen. Gleich nach seinem Amtsantritt wurde im Weißen Haus entschieden, den Begriff »deutsche Wiedervereinigung« nicht länger in Papieren für ihn zu erwähnen; stattdessen hieß es jetzt Selbstbestimmung.25 Kennedy ging es auch nicht mehr um ganz Berlin, sondern nur noch um den Westteil der Stadt. Die Mauer beeinträchtigte denn auch keine Interes21 »Reiseeindrücke aus Amerika«, Albrecht von Kessel an das Auswärtige Amt, 24. Juli 1953 (AAPD 1953, Dok. 228). 22 Gespräch Adenauer – Dulles, 13. Dezember 1953 (AAPD 1953, Dok. 361). 23 Vgl. Steininger 1986: 3 – 18, Steininger 1990: 79 – 108. 24 Steininger 2014: 247 – 250. 25 So übermittelt von Frank Cash vom State Department (zitiert nach Cadudal 1980: 61).

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sen der Westmächte und war in jedem Fall besser als Krieg, wie Kennedy gesagt haben soll. Westdeutsche Hoffnungen auf eine scharfe amerikanische Reaktion waren jedenfalls wenig realistisch. Bei den Amerikanern wollte niemand die Stacheldrahtverhaue niederreißen, im Gegenteil: Washington wollte, genauso wie die Briten, mit den Sowjets verhandeln! Und das konnte nur auf Kosten der Westdeutschen gehen. Die, so hatte US-Außenminister Dean Rusk schon vor dem Mauerbau zu seinem britischen Kollegen gesagt, »werden viele Dinge schlucken müssen, die sie bis jetzt für unmöglich gehalten haben«.26 Genauso sollte es auch kommen. Im November 1961 wurde der Bundesregierung klargemacht, dass es nun an der Zeit sei, sich mit den Realitäten abzufinden. »Im Interesse des Ost-West-Friedens« sollte Bonn Angebote machen. Dabei gehe es »um die Oder-Neiße-Linie als Grenze, entmilitarisierte Zonen, mindestens um die de facto-Anerkennung der DDR«.27 Daraufhin der Kommentar des Vorsitzenden der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone: »Unmöglich! Wir können niemals ja zu diesen Forderungen sagen.«28 Für Krone war angesichts der Reaktion des Westens »die Stunde der großen Desillusion« gekommen. Am Jahresende 1961 zog er eine bittere Bilanz: »An der Mauer entlang ist Deutschland getrennt, verläuft die Grenze des kommunistischen Ostens gegen die freie Welt. Und – was wir immer nicht glauben wollten – die amerikanische Politik nimmt diese Grenze zur Kenntnis. Was später einmal ist, daß die Westmächte uns in Verträgen versprochen haben, daß sie nicht rasten würden, bis Deutschland wieder ein Volk und ein Land ist, das alles hat im Augenblick keine aktive Bedeutung.«29

Die Amerikaner wollten Adenauer im Frühjahr 1962 sogar so weit bringen, dabei mitzuhelfen, ihre bisherige Deutschland- und Berlinpolitik zu Grabe zu tragen: »Put his hand upon the coffin and help to carry it«, wie Kennedy das in seiner ihm eigenen Art gegenüber dem britischen Botschafter in Washington formulierte. Kennedy äußerte sich auch sonst in nicht zu überbietender Arroganz über deutsche Politiker; sie sollten – so Kennedy wörtlich – »ihre Schnauzen ruhig in den Schweinetrog Berlin stecken«, wenn sie wollten (und möglicherweise selbst mit den Sowjets verhandeln).30 Kennedy war sogar bereit, in einer internationalen Autobahnbehörde Vertreter der DDR miteinzubeziehen und genauso viele Autobahnkilometer in der Bundesrepublik 26 27 28 29 30

Zitiert nach Steininger 2009: 23. Zitiert nach Steininger 2002 c: 66. Zitiert nach Steininger 2009: 288 ff. Zitiert nach Steininger 2009: 290. Zitiert nach Steininger 2009: 23.

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wie in der DDR kontrollieren zu lassen – zum Entsetzen Adenauers, der daraufhin im Frühjahr 1962 die schwerste Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen provozierte. Der junge Kennedy, 43 Jahre, und der alte Adenauer, 81 Jahre alt, kamen nicht wirklich gut miteinander aus. Zu Botschafter Hans Kroll meinte der Kanzler: »Trauen Sie den Amerikanern nicht; die bringen es fertig, sich auf unserem Rücken mit den Russen zu verständigen.«31 Adenauer wandte sich daher von Kennedy ab und Charles de Gaulle zu: Am 21. Januar 1963 wurde der deutsch-französische Vertrag unterzeichnet, für Acheson »einer der schwärzesten Tage der Nachkriegszeit.«32 Washington fürchtete, dass man die Bundesrepublik, in die man soviel investiert hatte, durch das Tête-à-tête zweier alter Männer verlieren würde. Auch in den eigenen Reihen in Bonn gab es Kritik am Vertrag, die sich dann letztlich auf die Ratifizierung auswirkte. Der Bundestag stellte dem Vertrag nämlich am 16. Mai 1963 eine Präambel voran, die in direktem Gegensatz zu den Intentionen de Gaulles stand. Darin wurde festgelegt, dass die Bundesrepublik den Vertrag so anwenden werde, dass er der Erhaltung der atlantischen Partnerschaft und der NATO-Integration sowie der Einigung Europas unter Einbeziehung Großbritanniens diene. Genau das hatte de Gaulle zuvor öffentlich abgelehnt. Wenige Monate später sprach Kennedy in Berlin jenen unvergesslichen Satz: »Ich bin ein Berliner!« Das hatte zum einen hohe Symbolkraft für die deutsch-amerikanische Freundschaft und die damit verbundene Entschlossenheit der USA, die Freiheit West-Berlins zu sichern. Zum anderen war für jeden sichtbar geworden, was Außenminister Dean Rusk gegenüber seinem sowjetischen Kollegen Andrej Gromyko wenig später in New York unmissverständlich so formulierte: Berlin sei »Staatsinteresse der USA«. Und das wiederum bedeutete, es würde keine Berlinkrise mehr geben.33

31 Zitiert nach Morsey / Repgen 1974: 165. 32 Botschafter Karl Heinrich Knappstein (Washington) an Bundesminister Gerhard Schröder, 30. Januar 1963 (AAPD 1963, Dok. 65). Zum deutsch-französischen Vertrag vgl. Steininger 1996: 87 – 118.; siehe auch Steininger 2014: 264 – 274. 33 Zu Kennedys Deutschland- und Berlinbesuch im Juni 1963 vgl. Steininger 2014: 274 – 281, 292 sowie Abbildungen Nr. 34 – 40: 846 – 852; siehe auch Steininger 2013: 19.

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3. Erhard, Kiesinger und Johnson Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson war ein vollkommen anderer Typ.34 Es gibt viele Anekdoten über ihn. Wo auch immer er im Ausland war, versuchte er zum Beispiel, Souvenirs zu erwerben. In Berlin wollte er im August 1961 sofort hellblaues Porzellan kaufen. Das Geschäft der Staatlichen Porzellanmanufaktur war aber längst geschlossen, weil Sonntag war, worauf der Regierende Bürgermeister Willy Brandt höflich hinwies. Für Johnson war das nicht nachvollziehbar, wie seine unvergessliche Antwort deutlich machte: »Was taugen Sie eigentlich als Bürgermeister dieser Stadt, wenn Sie nicht für den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten einen Laden öffnen lassen können!« Daraufhin wurde tatsächlich geöffnet, und nach der Stadtrundfahrt ging es zur Königlichen Porzellanmanufaktur, wo sich Johnson ein ganzes Service als Geschenk der Stadt Berlin aussuchte. Auch seine »Schuhforderung« ist unvergessen. Johnson beauftragte ein Mitglied seines Stabes, ihm die gleichen Schuhe zu besorgen, die er an Willy Brandt bewundert hatte. Daraufhin schickte die Firma Leiser ein ganzes Sortiment in die Berliner Residenz des amerikanischen Botschafters, wo Johnson übernachtete, und er traf dort in aller Ruhe seine Wahl. Eine ähnliche Geschichte wird aus dem Jahre 1967 erzählt, als er anlässlich der Beerdigung von Konrad Adenauer drei Tage in Bonn war (der einzige Besuch als Präsident). Dort wollte er für seine Freunde in Texas echte deutsche Kunst mitbringen. Die Botschaftsangehörigen fanden auch etwas, aber das war nicht nach Johnsons Geschmack. Er wollte Bilder haben, auf denen Bauern mit Pfeifen abgebildet wurden, Leute in Lederhosen und Frauen in Trachtenanzügen. »Echter Schrott«, wie ein Botschaftsangehöriger später erzählte. Johnson wollte aber auch noch, dass auf der Rückseite Kurzbiografien der Künstler standen. Die wurden dann von den Botschaftsangehörigen erfunden und Johnson war »glücklich wie noch nie.«35 Der damalige Botschafter in Bonn, George McGhee, und sein Stellvertreter Martin Hillenbrand erzählen folgende Geschichte: Während der Tage in Bonn 1967 logierte Johnson im Haus Hillenbrands. Ein Mitglied des »Vorauskommandos« setzte durch, dass »während der ganzen Zeit des Präsidentenbesuchs das Badezimmer von Wand zu Wand mit Teppichen ausgelegt und alle Bücherregale mit Vorhängen versehen waren«. Begründung: »Der Präsident hasse es, Bücher um sich zu sehen.«36 Johnson war eine dominie34 Steininger 2014: 293 – 296. 35 Zitiert nach Schwartz 2003: 4. 36 McGhee 1989: 332, Hillenbrand 1998: 241 f.

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rende Persönlichkeit, ein Workaholic, der immer die Nummer 1 sein musste. Und er war jemand, was oft vergessen wird, der in den ersten Jahren seiner Amtszeit höchstes Ansehen in der amerikanischen Bevölkerung genoss – im Durchschnitt 56 Prozent Zustimmung. 1965 hatte er eine Zustimmungsrate von 73 Prozent, Anfang 1968 war er der beliebteste amerikanische Präsident nach Eisenhower. Das war offensichtlich das Ergebnis seiner Innenpolitik, die er grundlegend veränderte. Sein Ziel war die sogenannte »Great Society«: sein Kampf gegen Armut und für Bürgerrechte. Johnson war kein großer Außenpolitiker, und vor allen Dingen kein großer Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Dies hatte er selbst sehr früh eingesehen und sich – anders als Kennedy – in die Abhängigkeit seiner Militärs begeben – mit gravierenden Konsequenzen. Über Johnson liegt der Schatten von Vietnam. Die »Hure Vietnamkrieg«, wie er den Krieg nannte, zerstörte seine Präsidentschaft, ein Krieg, der, wie er intern gesagt hatte, nicht das Leben eines einzigen amerikanischen Soldaten wert war. In den Umfragen stürzte er nach seiner Präsidentschaft gnadenlos ab. 1988 hielten ihn nur noch sechs Prozent der Befragten für einen großen innenpolitischen Führer. Bei der Kategorie Glaubwürdigkeit (»Greatest Moral Leader«) erhielt er sogar nur ein Prozent, während selbst Nixon immerhin noch zwei Prozent erreichte. Durch die ständigen Hinweise auf den bevorstehenden Sieg in Vietnam hatte er das Vertrauen der Bevölkerung und seine Glaubwürdigkeit vollkommen verloren. Johnson starb am 22. Januar 1973 auf seiner Ranch in Texas. Er war nur 63 Jahre alt geworden. Am nächsten Tag paraphierten Henry Kissinger, der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Nixon, und sein nordvietnamesischer Gegenüber Le Duc Tho in Paris das sogenannte Friedensabkommen, der das Ende des amerikanischen Engagements in Vietnam bedeutete.37 Johnson war dennoch in vielfacher Hinsicht Realpolitiker – und so sah er auch sein Verhältnis zu den Deutschen. Seine Großmutter war die Tochter deutscher Einwanderer, und er pflegte daher zu sagen: »Ich kenne meine Deutschen.«38 Er bewunderte sie als ein fleißiges, talentiertes Volk mit gefährlichen Neigungen. Als er sich einmal an einen deutschstämmigen Farmer erinnerte, der sich in seiner Scheune erhängt hatte, meinte er zu seinem Sicherheitsberater Walt Rostow: »Falls man die Deutschen sich selbst überläßt, machen sie etwas Verrücktes.« Von daher war Johnson entschlossen, wie er meinte, »die Deutschen an meiner Seite zu halten, wo ich mich auf sie verlassen und wo ich sie im Auge behalten kann«. Mit Blick auf die wechselvolle deutsche 37 Vgl. Steininger 2011: 56. 38 Zitiert nach Steininger 2014: 293.

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Geschichte stellte er klar: »Das alles Entscheidende für mich ist sicherzustellen, daß uns die Deutschen nicht in einen Dritten Weltkrieg hineinzerren.« Das war unter anderem der Sinn der westlichen Allianz. Genauso hatten es auch sein Vorgänger, Dwight. D. Eisenhower, und der amtierende britische Außenminister, Lord Salisbury, schon 1953 gesehen.39 Sollte diese Politik scheitern, dann, so befürchtete Johnson, würde es möglicherweise einen neuen Hitler geben. Andererseits war Deutschland die entscheidende Macht in Westeuropa und der Zusammenhalt der Allianz entscheidend für die USA als Weltmacht. In einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates im Dezember 1966 machte Vizepräsident Hubert H. Humphrey deutlich, was ein Zerfall der Allianz für die USA bedeuten würde: »Dann würden wir alle Karten in der Auseinandersetzung mit den Russen verlieren«.40 Für Johnson waren die Deutschen gleichzeitig nützlich und gefährlich. Den britischen Premierminister Harold Wilson erinnerte er an einer Stelle daran, dass die Deutschen Raketen gebaut hätten, was beweise, »sie haben Verstand«; und sie hätten den Briten Kredite gewährt, was beweise, »sie haben Geld«. Alles, was sie jetzt noch brauchten, um Atomwaffen zu bauen oder sich vom Westen loszusagen, sei der entsprechende Wille dazu, »und das ist es, was wir verhindern müssen«.41 Da war die Rede vom »incipient appetite for the nuclear« bei den Deutschen. Die Sieger – alle vier – waren sich allerdings darin einig, diesen »Hunger« nicht zu stillen.42 In privater Runde hatte Johnson einmal gesagt, wie man die Deutschen behandeln müsse, nämlich: »Man muß sie ständig auf den Kopf tätscheln und ab und zu in die E… treten.«43 Den Kanzlern, mit denen er es in seiner Amtszeit zu tun hatte – Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger –, wurde er dagegen nicht müde, immer wieder zu versichern, »Deutsche und Amerikaner sind wie Brüder«, wobei allerdings auch klar war, wer der ältere Bruder war und wer das Sagen hatte – und dass Brüder manchmal miteinander streiten. Dabei ist es fast schon tragisch, dass dies der wohl amerikafreundlichste Kanzler, nämlich Ludwig Erhard, am eigenen Leibe erfahren musste. Die 39 Die Integration solle so durchgeführt werden, dass die Deutschen »could not break loose and would never be in a position from which they could blackmail the other powers and say meet my terms or else.« (FRUS 1952 – 1954, II: 1783). Für den amtierenden britischen Außenminister Lord Salisbury lag der Hauptzweck der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft darin, »to prevent, so far as humanly possible, a Soviet-German alignment«. Salisbury an Premierminister Churchill, 17. August 1953 (TNA, FO 37/109291/C 1071/644). 40 Zitiert nach Steininger 2014: 29; zu Erhard und Johnson siehe auch die Abbildungen Nr. 41 – 47: 853 – 859. 41 Zitiert nach Schwartz 2003: 4. 42 Personal. Minute MacMillan für Außenminister Home, 12. April 1963 (TNA, PREM 11/4221). 43 So Johnson zu seinem Redenschreiber Richard Goodwin (zitiert nach Schwartz 2003: 89).

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von Johnson unerbittlich eingeforderten Devisenausgleichszahlungen trugen letztlich zum Sturz Erhards bei.44 Erhards Nachfolger, Kiesinger, war da vorsichtiger. Beim Treffen mit Johnson machte er in Anspielung auf Erhard klar: »Ich kann nicht nach Deutschland zurückkehren und den Eindruck entstehen lassen, der Präsident ist hart gewesen und deshalb habe ich nachgegeben«.45

4. Brandt und Nixon Die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition führte dann zu schweren Verwerfungen im deutsch-amerikanischen Verhältnis. Nixon und Kissinger hatten massive Vorbehalte gegen Brandt (und Egon Bahr). Für Kissinger war das Ergebnis der Bundestagswahl 1969 »die schlimmste Tragödie gewesen, ein Desaster«; die Ostpolitik insgesamt ein »Desaster«; beim weiteren Vorgehen dürfe man »die Dummheit der Deutschen nicht unterschätzen«, Brandt sei »faul und trinkt«, ein gefährlicher Mensch; Bahr »absolut unzuverlässig«, eine »Schlange«; Außenminister Walter Scheel ein »Trottel«. Nixon meinte, Brandt sei »dumm und anmaßend dahergekommen«, ein »Hurensohn«, »jede nicht-sozialistische Regierung wäre besser« als die sozialliberale. Seine Anweisung an Kissinger war eindeutig: »Absolut nichts tun, was Brandt hilft«.46 Persönliche Eitelkeit und das Bewusstsein, Vertreter einer Weltmacht zu sein, spielten sowohl bei Nixon wie auch bei Kissinger eine herausragende Rolle. Die vom sehr intelligenten Kissinger in seinen Erinnerungen wortgewaltig gegebene Begründung der angeblichen Gefährlichkeit der Ostpolitik lässt sich daher vielleicht auf einen Satz Kissingers zu Staatssekretär Paul Frank Anfang 1970 reduzieren: »Eines will ich Ihnen sagen, wenn schon Entspannungspolitik mit der Sowjetunion gemacht werden soll, dann machen wir sie!«47 Kissinger war clever genug, um Ostpolitik, Berlin-Abkommen und SALT I (Begrenzung der strategischen Waffen) und Vietnamkrieg erfolgreich miteinander zu verknüpfen.48 Das war nur möglich, weil Moskau unbedingt die Ostverträge haben wollte. 44 Vgl. Steininger 2014: 353 – 359. 45 Gespräch Kiesinger – Johnson, 16. August 1967 (AAPD 1967, Dok. 303); siehe auch Steininger 2014: 863. 46 Zitiert nach Steininger 2014: 448, 452, 458, 463, 474, 488; siehe auch FRUS 1969 – 1976, XL, Dok. 100. 47 Frank 1989: 287. 48 Vgl. hierzu Steininger 2014: 475 – 518.

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5. Schmidt, Ford, Carter und Reagan Nixons Nachfolger Gerald Ford war vollkommen anders als Nixon. Ford war ein Mann, der in sich ruhte. Sein sozialer und politischer Aufstieg entsprach dem »American Dream«, an den viele Amerikaner nach wie vor glaubten. Ford besaß Mut und Führungsqualitäten. Sein Arbeitsstil unterschied sich vollkommen von dem Nixons. Er war ein Mann, der die Freundschaft Helmut Schmidts gewann. Und das hieß etwas.49 In die Ford-Schmidt-Zeit fällt die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1. August 1975 in Helsinki (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). Die Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa beriefen sich später auf dieses Dokument. Unabhängig davon hatte das Verhältnis der Großmächte zueinander eine Reflexwirkung auf den KSZE-Prozess, nicht umgekehrt. Im Auswärtigen Amt wurde das als »Großmacht-Bilaterismus« bezeichnet. Das wurde besonders deutlich seit 1985 mit Gorbatschow. Erst mit ihm konnten wichtige Punkte der Schlussakte umgesetzt werden.50 Der neue Präsident hieß Jimmy Carter. Und Carter war, wie der deutsche Botschafter in Washington, Berndt von Staden, formulierte »ein Mann des langen Gedächtnisses« mit dem »icy flash in his eyes«.51 Und Schmidt hatte im Präsidentschaftswahlkampf 1976 offen für die Wahl von Ford Stellung genommen, was man im Wochenmagazin Newsweek nachlesen konnte. Das vergaß Carter nicht. Und so stand die Beziehung zwischen den beiden von Anfang unter keinem glücklichen Stern. Dabei kam einiges zusammen. Als erstes die Verhinderung eines bundesdeutschen Atomgeschäfts mit Brasilien mit einem Auftragsvolumen von rund 20 Milliarden D-Mark52 Dann die Neutronenbombe, deren Wirkung auf der Freisetzung einer tödlichen Neutronenstrahlung beruhte, während die Zerstörung durch Hitze und Druckwellen minimiert wurde und deren Produktion Carter ankündigte. In der Bundesrepublik begann daraufhin eine heftige Debatte über die neue Waffe. Angestoßen wurde sie durch einen Artikel von Egon Bahr in der SPD-Zeitung Vorwärts am 21. Juli 1977, in dem er von der neuen Bombe als einer »Perversion des Denkens« schrieb.53

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Vgl. Steininger 2014: 549 – 556. Vgl. hierzu Steininger: 2013: 111 – 126. Zitiert nach Steininger 2014: 560. Vgl. Steininger 2014: 563 – 578. Vgl. Steininger 2014: 578 – 606

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Anfang 1978 entschied der Bundessicherheitsrat für die Einführung der Waffe. Darüber kam es fast zum Bruch in der SPD-Führung. Nachdem Schmidt Willy Brandt und Herbert Wehner über die Entscheidung unterrichtet hatte, seien diese, so Schmidt zum amerikanischen Botschafter Stoessel, »grußlos in die Osterferien abgereist«.54 Und dann widerrief Carter seine Entscheidung – zum Entsetzten von Schmidt. Am 4. April 1978 meinte er zu Botschafter Stoessel, in der 29-jährigen Geschichte der Bundesrepublik habe es wohl kaum eine Zeit gegeben, »in der so viele Irritationen aufgetreten seien wie in den letzten 15 Monaten«, das heißt seit Carter Präsident war.55 Das war wohl so. Schmidt vermisste die Führung der Allianz durch die USA. Führung, so Schmidt zum britischen Premierminister James Callaghan im April 1978, »wird von Kontinuität und Voraussehbarkeit« bestimmt. Und gemessen an diesen Anforderungen »gibt es gegenwärtig Probleme«. Um dann nachzulegen: »Ich will mir nicht von Persönlichkeiten, die erst vor zwölf Monaten neue Ämter angetreten haben, sagen lassen, daß alles, was bisher geschehen ist, nicht richtig und völlig unzureichend war«.56 Immerhin überzeugte Schmidt Carter von der Notwendigkeit der westlichen Nachrüstung. Was im Übrigen nicht ganz einfach war. Am 12. Dezember 1979 beschlossen die Außen- und Verteidigungsminister der NATO in Brüssel den aus zwei Teilen bestehenden, inzwischen berühmten NATO-Doppelbeschluss. Im ersten Teil Modernisierung der Mittelstreckenwaffen des Bündnisses in Europa – Stationierung von 108 Pershing II-Raketen und 464 bodengestützte Marschflugkörper (Cruise Missiles) – und im zweiten Teil das damit verbundene Rüstungskontrollangebot an die Sowjetunion.57 Am 10. Januar 1980 meinte Schmidt zum amerikanischen Botschafter Stoessel mit Blick auf den Beschluss vom Dezember, da hätten die Europäer »großen Mut« gezeigt. Das sei so, »als wenn man die Minuteman-Raketen zwischen Boston und Philadelphia stationiere«. Der Botschafter drückte Schmidt gegenüber seine Bewunderung für die Art und Weise aus, in der der Kanzler diesen Beschluss innerhalb seiner Partei durchgesetzt habe.58 1979 kam es im November zur islamischen Revolution im Iran mit der bekannten Geiselnahme von 52 Angehörigen der US-Botschaft; dann im Dezember zum »Einfall« (so Schmidt) der Sowjetunion in Afghanistan. 54 55 56 57 58

Gespräch Schmidt – Stoessel, 4. April 1978 (AAPD 1978, Dok. 94). Gespräch Schmidt – Stoessel, 4. April 1978 (AAPD 1978, Dok. 94). Gespräch Schmidt – Callaghan , 24. April 1978 (AAPD 1978, Dok. 121). Vgl. hierzu Steininger 2014: 610 – 623. Aufzeichnung Berndt von Staden, Auswärtiges Amt, 11. Januar 1980 (AAPD 1980, Dok. 10).

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»Der Westen«, so die Reaktion von Bonns Botschafter Rolf Pauls in der NATO-Sitzung am 1. Januar 1980 auf diese Aktion der Sowjets, »muss jetzt eine Linie ziehen, die nicht mehr überschritten werden darf.« In einer »Hausbesprechung« bei Hans-Dietrich Genscher gab der Außenminister die Marschlinie aus: »Wir sollten uns hier keinem Vorschlag verschließen, aber auch nicht antreiben« – während Schmidt die Notwendigkeit sah, »die Sowjetunion mit Erfolg einzudämmen«, was allerdings nicht durch eine »Politik der Nadelstiche« erreicht werden könne. Pauls beschwor die Gefahr, dass das gesamte nahöstliche Öl, »einschließlich des saudischen«, unter sowjetische Kontrolle geraten und die Sowjetunion dann »Europa lahmlegen« könne. Schmidt teilte Carter im April 1980 die Bonner Entscheidungen mit Blick auf den Iran und die Sowjetunion mit: Beteiligung an Iran-Sanktionen, wobei er bezweifelte, ob die »wirklich den Geiseln helfen«. Er äußerte gleichzeitig seine »tiefe Sorge« über mögliche amerikanische Militäraktionen im Iran (Carter: »Ich verstehe, was Sie sagen.«). Keine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Moskau (Carter: »Eine gute Nachricht.«), aber kein Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion, wobei Schmidt betonte, »dass er als Deutscher, der in der Hitlerzeit aufgewachsen sei, eine besondere Verpflichtung fühle, keine Verträge zu brechen«. Im Auswärtigen Ausschuss nannte er die simple Wahrheit: »Unsere Sicherheit liegt in der Partnerschaft und Zusammenarbeit mit EG, NATO und USA.«59 Für Schmidt lagen die Fehler, Versäumnisse und Wankelmütigkeit der amerikanischen Politik zum Teil direkt bei Carter, der für ihn ein Moralist war. Dessen Ausrüstung, so schrieb er später, habe »aus einem großen Vorrat an gutem Willen, einer beträchtlichen Intelligenz und einem unverkennbaren persönlichen Sendungsbewusstsein bestanden«.60 Sowohl Carter wie auch dessen Sicherheitsberater Brzezinski hätten in »gleicher Weise die Gestaltbarkeit der Welt durch bloße Entscheidungen im Weißen Haus überschätzt«, kombiniert mit der Neigung Brzezinskis, sich als Vertreter der Weltmacht ohne viel Aufhebens über die Interessen der deutschen Verbündeten hinwegsetzen zu können: »Etwas Vergleichbares hat es im Verhältnis zwischen Washington und Bonn seit Johnsons Umgang mit Erhard nicht mehr gegeben.« Wie tief das bei Schmidt ging, wird in folgendem Satz deutlich: »Später gewann ich den deprimierenden Eindruck, daß [Kremlchef, R. S.] Leonid Breschnew meine Besorgnisse besser verstehen konnte als Jimmy Carter.«61

59 Vgl. Steininger 2014: 623 – 634. 60 Schmidt 1987: 222, 229; siehe dazu auch Steininger 2014: 607 ff. 61 Schmidt 1987: 228 f.

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Nach vier Jahren Carter-Administration notierte Verteidigungsminister Hans Apel nach der letzten NATO-Ratstagung im Dezember 1980: »Es wird Zeit, daß diese US-Administration verschwindet. Sie handelt chaotisch und dumm.«62 Schmidt abschließend: »Carter hatte tatsächlich über keine Gesamtstrategie verfügt.«63 Der neue Präsident hieß Ronald Reagan – und er verfügte über eine Gesamtstrategie: Er wollte den Kalten Krieg gewinnen. Und er hegte große Sympathien für die Deutschen.64 Als Schmidt ihn zum ersten Mal im Mai 1981 in Washington traf, erwähnte Reagan als erstes die Mauer, die er bei seinem ersten Deutschlandbesuch 1978 gesehen hatte. Die USA, so Reagan, hätten eine große Chance versäumt, als sie gebaut wurde: »Man hätte sie niederreißen müssen.« Das Sprichwort sage, dass eine Demütigung, die nicht beantwortet werde, zur Ursache vieler weiterer werde. Dann betonte er erneut, dass er den Wunsch habe, mit der Sowjetunion über Rüstungsverminderungen zu sprechen. Er sei an Abrüstung interessiert. Schmidt erwiderte, dass ihn diese Erklärung »sehr befriedige«. Er sprach dann eine Einladung an Reagan aus, die Bundesrepublik zu besuchen. Reagan erinnerte an seinen Besuch in Deutschland 1978, der bei ihm nur positive Eindrücke hinterlassen habe, »bis auf das Erlebnis der Mauer. Diesen Schock habe er nicht vergessen.«65 In seinen Erinnerungen schreibt Schmidt: »Reagan und ich verstanden uns persönlich gut.« Und am Ende des Besuches meinte er: »Ich mag diesen Mann.« Er war davon überzeugt, »dass wir es nach vier Jahren der Unsicherheit nun wieder mit einem stetigen und deshalb kalkulierbaren amerikanischen Präsidenten zu tun haben«,66 zumal dieser Präsident Schmidt mehr Konsultationen und weniger Überraschungen zugesagt hatte. Dem war allerdings nicht ganz so, wie Schmidt sich das vorgestellt hatte und schon bald merken sollte. Es begann mit den von Reagan verkündeten Sanktionen gegen die Sowjetunion nach Ausrufung des Kriegszustands in Polen.67 Bonn hatte sechs Stunden Zeit, um nachzuziehen. Schmidt war außer sich. Die Reagan-Administration müsse noch lernen, »die Allianz zu verstehen«, sie »benehme sich so, als ob die deutschen Verbündeten ein abhängiger 62 Apel 1990: 143. 63 Schmidt 1987: 264, 287; zu Schmidt und Carter siehe auch die Abbildungen Nr. 63 – 68 bei Steininger 2014: 873 – 876. 64 Vgl. Steininger 2014: 647 – 651; zu Schmidt und Reagan siehe auch die Abbildungen Nr. 69 – 72 bei Steininger 2014: 877 – 880. 65 Berndt von Staden (z. Zt. Washington) an Bundesminister Genscher, 22. Mai 1981 (AAPD 1981, Dok. 151). 66 Schmidt 1987: 293. 67 Vgl. Steininger 2014: 662 – 676.

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Staat seien«. Von seiner Kritik nahm er Reagan allerdings ausdrücklich aus; der sei »eine verlässliche, auch liebenswürdige Persönlichkeit«, die sehr hochzuschätzen sei; ein Mann, in den man Vertrauen setzten könne und der nicht unkontrolliert und leichtfertig aufrüsten wolle. Aber es gebe andere in den USA. Den amerikanischen Senatoren unterstellte Schmidt Ignoranz: »Sie kennen Europa nicht. Kaum einer ist auch nur fünfmal in Europa gewesen.« Die USA seien eine Führungsmacht, »die nicht weiß, wie man führt«.68 Man brauche eventuell härtere Methoden, um das Weiße Haus zum Nachdenken zu bringen. Als er im Juli 1982 zu seiner 52. [!] USA-Reise aufbrach, gab ihm der amerikanische Botschafter in Bonn, Arthur Burns, daher den eher ungewöhnlichen Rat mit auf den Weg, er solle in seinen öffentlichen Reden »vorsichtig sein«.69 Ungeachtet dessen ging Schmidts »US-Bashing« weiter. Er sah jetzt auch Schwächen in der amerikanischen Nahostpolitik und in der Falkland-Krise. Zum britischen Botschafter John Taylor meinte er, die USA hätten da »keine überzeugende Politik« geführt. Carter habe ihn davon überzeugt »und Reagan hat es bestätigt, daß wir mit keiner kontinuierlichen Politik rechnen können. Wir können mit großer Vitalität rechnen, aber nicht mit Kontinuität, weder in der Innen- noch in der Außenpolitik.« Und dann kam das erstaunliche Bekenntnis: Diese Erfahrung habe ihn »unerwartet in die Fußstapfen Adenauers gebracht, was das Verhältnis zu Frankreich anbelangt«.70 In »undiplomatischer, daher umso ernster zu nehmender Offenheit« resümierte damals Richard Barkley, Botschaftsrat an der amerikanischen Botschaft in Bonn, gegenüber einem Beamten des Auswärtigen Amts den Stand der deutsch-amerikanischen Beziehungen als »durchschnittliche Erfahrungen hochrangiger amerikanischer Besucher« in Bonn folgendermaßen: Im Auswärtigen Amt – bei Genscher – begegne man ihnen in der Regel mit Zweckoptimismus. Das Leugnen von Problemen sei dort typisch. Im Bundeskanzleramt – bei Schmidt – überschütte man die Besucher routinemäßig mit Vorwürfen. Die dortige »Message« sei, dass man sich »das deutsche Verhalten und die deutsche Sicht in jeder Hinsicht zum Vorbild nehmen solle«. Im Verteidigungsministerium – bei Apel – gehe man am geschicktesten vor, indem man existierende Probleme einräume und ungeschminkt diskutiere. Ein Beamter im Auswärtigen Amt notierte dazu, man dürfe wohl nicht außer Acht lassen, dass Barkley kein objektiver Überbringer solcher »Erfahrungen« sei: »Trotzdem gibt seine Darstellung zu denken.« Außenminister Genscher 68 Schmidt, 8. Juli 1982 (AAPD 1982, Dok. 199). 69 Gespräch Schmidt – Burns, 13. Juli 1982 (AAPD 1982, Dok. 207). 70 Gespräch Schmidt – Taylor, 14. Juli 1982 (AAPD 1982, Dok. 211).

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meinte, es müsse »alles getan werden, um eine weitere Entfremdung zu den USA zu vermeiden.«71 Schmidt hielt im Juli 1982 mehrere Vorträge in Kalifornien. Die hätten, so der deutsche Generalkonsul, »wesentlich dazu beigetragen, daß der Bundeskanzler bei Weitem der bestbekannteste ausländische Staatsmann im Westen der USA geworden ist«. Botschafter Peter Hermes erzählt folgende Anekdote: »Bei seinem letzten offiziellen Amerikabesuch machte ihm in San Francisco die Oberbürgermeisterin Dianne Feinstein einen Besuch in seinem Hotel. Als ich sie fragte, ob sie etwas Besonderes besprechen wolle, war die Antwort: ›Nein, nichts Besonderes, ich wollte nur Ihren berühmten Bundeskanzler einmal sprechen.‹«72

Feinstein wurde später zur führenden Demokratin in Washington. Als Helmut Schmidt 90 Jahre alt war (2007), konnte Henry Kissinger ein Treffen mit einigen hochgestellten Persönlichkeiten und führenden Politikern in New York mit dem Altkanzler organisieren. Kissinger erzählt: »Jeder war versessen darauf, ihn zu sehen, und alle begrüßten ihn wie einen verloren geglaubten Freund, obwohl er in 90 Prozent der Zeit, in der man sich mit ihm unterhält, die Politik der Vereinigten Staaten kritisiert, aber dennoch wird er eher als liebevoller Onkel und nicht als ewiger Kritiker wahrgenommen.«73

Im November 1978 gab es eine Begegnung der besonderen Art in Bonn. 1976 hatte der ehemalige Gouverneur von Kalifornien und Schauspieler in B-Movies, der bereits erwähnte Ronald Reagan, im Kampf um die Nominierung der Republikanischen Partei für die Präsidentschaft gegen Gerald Ford den Kürzeren gezogen. Für 1980 versuchte er es erneut. Zu diesem Zweck machte er (wie üblich bei möglichen Präsidentschaftskandidaten) eine Europareise, um damit außenpolitisches Profil zu gewinnen. Vom 29. November bis 1. Dezember 1978 war Reagan in der Bundesrepublik, am 2. Dezember besuchte er West-Berlin. Für viele in Bonn war Reagan noch schlimmer als Carter. Eine Mischung aus intellektueller Überheblichkeit und kolossaler Fehleinschätzung führte dazu, dass man Reagan schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen als völlige Fehlbesetzung betrachtete. Verantwortlich dafür war Bonns Botschafter in Washington, Berndt von Staden. Der hatte im September mit Blick auf die Präsidentschaftswahl 1980 nach Bonn gemeldet, Carter würde wohl 71 Aufzeichnung Hofmann, 14. Juli 1982 (AAPD 1982, Dok. 212). 72 Zitiert nach Steininger 2014: 714. 73 Zitiert nach Steininger 2014: 695.

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nicht mehr als Kandidat der Demokraten aufgestellt werden, »wenn es den Republikanern gelingen sollte, einen wirklich überzeugenden Kandidaten aufzustellen, und dazu müßte Reagan als frontrunner schleunigst abgelöst werden«.74 Eine erstaunliche Fehleinschätzung, aber von dem Moment an war Reagan in Regierungskreisen in Bonn bereits erledigt. In Bonn bekam er nur einen Fototermin beim Kanzler. Schmidt war nicht der Meinung, dass Reagan eine Figur sei, für die sich ein allzu großer Zeitaufwand lohne. Ähnlich auch Genscher. Der amerikanische Botschafter suchte beinahe verzweifelt nach Gesprächspartnern – und fand schließlich einen willigen und cleveren: Oppositionsführer Helmut Kohl, der sich viel Zeit für seinen Gast nahm.

6. Kohl, Reagan, Bush und Clinton Damals kam es zu einer erstaunlichen Begegnung zwischen diesen beiden Männern: Nachdem man sich lange unterhalten hatte und Reagan gehen wollte, fragte ihn Kohl, ob er schon etwas gegessen habe. Als Reagan verneinte, meinte Kohl, sie sollten doch gemeinsam in seinem Büro essen, er würde etwas ganz Einfaches bestellen. Es wurden Bratkartoffel mit Spiegeleiern bestellt. Danach ging man in einer ausgesprochen freundschaftlichen Stimmung auseinander – für beide ein unvergessliches Erlebnis. Hier wurde der Grundstein für eine außergewöhnliche persönliche Beziehung gelegt. Zwei Jahre später wurde der viel belächelte Ronald Reagan der 40. Präsident der Vereinigten Staaten und am 1. Oktober 1982 Helmut Kohl Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland.75 Die deutsch-amerikanischen Beziehungen waren für Kohl ein, wenn nicht der Grundpfeiler seiner Politik. Das hatte er im Gespräch mit Reagan im November 1978 deutlich gemacht,76 das machte er auch bei seinem ersten Besuch in den USA im Oktober 1981 deutlich, als Reagan bereits Präsident war. Das Gespräch im Weißen Haus dauerte etwa 40 Minuten, in denen Kohl die moralischen Traditionen und Kräfte Amerikas beschwor und feststellte, dass er mit seinen politischen Freunden an der Seite der Vereinigten Staaten stehe. Das sei »Sache des Verstandes, aber noch mehr Sache des Herzens«.

74 Botschafter von Staden an Bundesminister Genscher, 5. September 1978 (AAPD 1978, Dok. 254). 75 Vgl. Steininger 2014: 695 f. 76 Vgl. Schwan / Steininger 2010: 101.

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Er, Kohl, werde sein Äußerstes tun, »um die öffentliche Meinung für die Freundschaft mit Amerika zu mobilisieren«.77 Bei seinem Antrittsbesuch als Kanzler ein Jahr später im November 1982 bestätigte er das. Reagan notierte in sein Tagebuch: »He is entirely different than his predecessor [Schmidt] – very warm and outgoing.«78 In den deutschamerikanischen Beziehungen begann eine krisenfreie Zeit. Reagan war ein Mann mit Handschlagqualität, sein einmal gegebenes Wort galt. Später meinte Helmut Kohl, die deutsch-amerikanischen Beziehungen seien das »wichtigste Verhältnis«. Ohne die Hilfe der Amerikaner und speziell Reagans, »[…] der eisern zu uns stand ohne Wenn und Aber, und der nicht nur darüber redete, sondern das auch sehr konkret so verstand, wären wir niemals in die spätere historische Entwicklung geraten. Wenn wir in der Frage des NATO-Doppelbeschlusses die Amerikaner und die Amerikaner uns verraten hätten – so muss man das formulieren –, wären die folgenden Jahre und Jahrzehnte bis hin zur Deutschen Einheit und auch zur europäischen Einigung nicht möglich gewesen. […] Die Entscheidung für den NATO-Doppelbeschluss stand dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland fest und unverbrüchlich an der Seite ihrer westlichen Freunde mit den Amerikanern an der Spitze stand. Ohne den NATO-Doppelbeschluss wäre die Entwicklung ganz anders gekommen.«79

Helmut Schmidt hatte 1982 zu Frankreichs Präsident Mitterrand gesagt, die Wiedervereinigung sei »in diesem Jahrhundert nicht möglich«, sie sei um »Lichtjahre entfernt, also völlig unrealistisch«.80 Das war selbst Außenminister Genscher etwas zu weit gegangen. Er hatte an dieser Stelle am Rand des Protokolls ein Ausrufezeichen gemacht und notiert: »Na, na.«81 Ronald Reagan war wohl der einzige amerikanische Präsident, der die Teilung Deutschlands als etwas Unnatürliches empfand. Während sich andere Präsidenten – etwa John F. Kennedy – längst mit der Teilung abgefunden hatten, sah Reagan die Dinge vollkommen anders. Er glaubte und hoffte auf die Wiedervereinigung. Das ging ziemlich weit. Er sagte das nämlich auch Leuten, denen das nicht gefiel – etwa den Sowjets. 1984 warnte der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko im Gespräch mit seinem amerikanischen

77 Gespräch Kohl – Reagan; Botschafter Peter Hermes an Bundesminister Genscher, 16. Oktober 1981 (AAPD 1981, Dok. 302). Zu Kohl und Reagan siehe auch die Abbildungen Nr. 73 – 82 bei Steininger 2014: 881 – 888. 78 Zitiert nach Brinkley 2007: 113. 79 Zitiert nach Schwan / Steininger 2010: 303, 308. 80 Gespräch Schmidt – Mitterrand, 13. Januar 1982 (AAPD 1982, Dok. 20). 81 Gespräch Schmidt – Mitterrand, 24. Februar 1982 (AAPD 1982, Dok. 63).

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Kollegen George Shultz die USA denn auch davor, die Wiedervereinigung als reale Möglichkeit zu betrachten, denn »sie werde nie stattfinden«.82 Am 12. Juni 1987 war Reagan wieder in Berlin, wo er die wohl bekannteste Rede seiner Amtszeit hielt – mit den zwei Sätzen: »Mr. Gorbachev, open this gate. […] Mr. Gorbachev, tear down this wall!« (»Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor. Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!«)83 Zwei Jahre später war es bekanntlich so weit. In den Wochen und Monaten nach dem Mauerfall kam es dann zu einer ganz und gar erstaunlichen deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit. Präsident Bush senior unterstützte von Anfang an Kohls Wiedervereinigungspolitik eindeutig und entschlossen und wurde zum »Glücksfall für Europa und die Deutschen«, wie es Kohl später formulierte. Ohne die vorbehaltlose Unterstützung der USA hätte es die Wiedervereinigung, so wie sie dann vollzogen wurde, mit ziemlicher Sicherheit nicht gegeben. Nach Bush kam Clinton. In seinen Erinnerungen schreibt Kohl: »Trotz der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft war eine erstaunlich enge Beziehung zwischen Bill Clinton und mir entstanden. In den bisher zwölf Jahren meiner Kanzlerschaft hatte ich mit keinem amerikanischen Präsidenten ein so vertrautes Verhältnis gepflegt, selbst nicht mit George Bush. Vor allem schätzte ich bei Clinton, wie unverkrampft und vorurteilsfrei er Deutschland sah. Er war der erste US-Präsident, dessen Deutschlandbild nicht durch die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg geprägt war. Ich schätzte Clintons Pragmatismus und seine positive Grundeinstellung.«84

Ein hoher Beamter der US-Administration bestätigte damals: »Unter Clinton sind die Deutschen die unumstrittene Nummer eins unter unseren europäischen Partnern. An zweiter Stelle kommt Frankreich.«85 Es kam noch ein anderer Punkt hinzu, auf den die Presse damals hinwies. Die republikanischen Präsidenten Reagan und Bush hatten zu Kohl ein gutes bis sogar herzliches Verhältnis. In der jeweiligen Administration, die zu großen Teilen noch von der Kriegsgeneration beherrscht wurde, gab es dagegen ein latentes Misstrauen den Deutschen gegenüber. Dort vertraute man den Briten. Das änderte sich mit dem Amtsantritt Clintons grundlegend. Die vielen jungen Leute der neuen Generation waren ausgesprochen deutschfreundlich und problemlos.86 82 Botschafter Friedrich Ruth an Auswärtiges Amt, 29. September 1984 (AAPD 1984, Dok. 259). 83 Zitiert nach Steininger 2014: 708 ff. 84 Kohl 2007: 654 f. Zu Kohl und Clinton siehe auch die Abbildungen Nr. 92 – 96 bei Steininger 2014: 895 – 899. 85 Vgl. Die Welt, 2. Februar 1994. 86 Vgl. Die Welt, 2. Februar 1994. – Zum Thema dieses Beitrages (bis zum Ende der Ära Kohl) siehe auch die sechsteilige Fernsehdokumentation Die Bonner Republik von Dieter Weiss und Rolf Steininger; ausgestrahlt in der ARD im Jahre 2009, mit Wiederholung in Phönix

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7. Schröder, Merkel, Bush und Obama Der nächste Höhepunkt in den deutsch-amerikanischen Beziehungen war 9/11, als Kanzler Gerhard Schröder den USA »uneingeschränkte Solidarität« zusicherte. Die große Zustimmung der Bevölkerung zu den Solidaritätsbekundungen der Bundesregierung wurde deutlich, als sich beim Schweigemarsch in Berlin mehr als 200 000 Personen vor dem Brandenburger Tor versammelten. Es war dies die erste große proamerikanische Demonstration seit dem Kennedy-Besuch 1963.87 Schröders Antikriegspolitik beim Irakkrieg führte dann allerdings zu einem Tiefpunkt in der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Er und George W. Bush hatten sich in der Folge nichts mehr zu sagen, die Eiszeit dauerte bis zur Abwahl Schröders im Jahre 2005. Fünf Jahre später erschienen unter dem Titel Decision Points die Memoiren von Bush, aus denen deutlich wird, warum das so war. Bush kritisierte Schröder scharf und warf ihm Täuschung und Beleidigung vor. Schröder war für ihn »einer der am schwierigsten zu durchschauenden Staatsmänner« gewesen, mit denen er es zu tun gehabt hatte.88 Für Schröders Nachfolgerin im Kanzleramt, Angela Merkel, war George W. Bush dagegen voll des Lobes. Er bezeichnete sie als »vertrauenswürdig und warmherzig. […] Sie wurde schnell zu einem meiner besten Freunde auf der Weltbühne.«89 Ähnlich äußerte sich dann auch Barack Obama.90

Fazit Was bleibt als Fazit von mehr als 70 Jahren deutsch-amerikanischer Beziehungen? Ein Satz: Ohne die USA wäre Deutschland heute nicht da, wo es steht. Aber viele fragen sich heute auch, wieviel die historische Erinnerung noch für das deutsch-amerikanische Verhältnis in Gegenwart und Zukunft bedeutet, zumal es einiges gibt, was irritiert und Verdruss stiftet. Diese Partnerschaft, die auf ihre Weise auch eine besondere ist, ist nüchterner geworden, kühler, realistischer, weniger sentimental. Ist sie belastbar geblieben? Wird die

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im gleichen Jahr (siehe online: www.rolfsteininger.at/bonner_republik.html – letzter Zugriff: 01.12.2017). Vgl. Steininger 2014: 757 – 760. Bush 2010: 233. Bush 2010: 412. Vgl. Steininger 2014: 766 ff.

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enge Verbundenheit zwischen den USA und Deutschland beziehungsweise Europa auch im 21. Jahrhundert Bestand haben? In zentralen Sachthemen liegen die Vorstellungen weit auseinander. Bleibt Deutschland, bleibt Europa der »natürliche« Verbündete, oder wenden sich die USA anderen Regionen und Ländern zu? Insbesondere Asien? Das waren Fragen am Ende der Präsidentschaft von Barack Obama, die mit einiger Zuversicht wohl hätten beantwortet werden können, denn: Obama war berechenbar. Das hat sich mit dem 45. Präsidenten der USA, Donald Trump, dramatisch geändert. Schon unmittelbar nach der Wahl konnte man in den Glückwunschschreiben diverser europäischer Politiker an Trump die Angst vor einer neuen Epoche der Instabilität in den amerikanischen-europäischen Beziehungen herauslesen. Besonders in Europa fürchtete man um die Stabilität der transatlantischen Beziehungen, um das Fundament einer Partnerschaft, die die Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geprägt hat. In Berlin hatte Außenminister Frank-Walter Steinmeier Trump zuvor noch einen »Hassprediger« genannt; nun sah man die Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik in Gefahr. Als Mahnerin trat Angela Merkel auf und erinnerte Trump indirekt an die Einhaltung demokratischer Grundwerte. Der wiederum verglich sie mit dem russischen Präsidenten Putin und verweigerte bei ihrem Antrittsbesuch in Washington den üblichen Handschlag. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker gab sich nach der Wahl zweckoptimistisch und meinte: »Wir bleiben Partner, weil die Welt den engen Schulterschluss zwischen den USA und Europa braucht. Es geht um gemeinsame Werte.«91 Er wie auch alle anderen wurden seit dem Amtsantritt von Trump eines Besseren belehrt. »America First« lautet Trumps Parole, an der er unbeirrt festhält. Der Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen, seine Kritik an der mangelnden Verteidigungslast der meisten europäischen Nato-Partner, die Drohung mit Strafzöllen. Das sind nur drei Beispiele für eine fortwährende Gefahr für die transatlantischen Beziehungen und Europas Sicherheit. Merkel formulierte ihre Antwort öffentlich (in einem Bierzelt): »Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen.«92 Trump ist eben Trump: unberechenbar, frei von Werten und moralischer Bürde. Kein Wunder, dass er die transatlantischen Bande nicht respektiert – stützen sie sich doch auf gemeinsame Werte und gemeinsame Verantwortung: Wer keine hat, kann keine teilen. Blickt man auf die vergangenen 70 Jahren deutsch-amerikanischer Beziehungen zurück, so kann man nur mit Entsetzen registrieren, was in Was91 Juncker 2016. 92 Merkel 2017.

Von Kanzlern und Präsidenten

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hington seit Trump geschieht. Er spaltet vom Weißen Haus aus die Nation, die unter seinem Wahlkampf schon auseinanderzubrechen drohte. Wer ihm widerspricht, wird beleidigt, unliebsame Medienberichte sind für ihn Fake News. Sein ganzes Streben wird bestimmt von einer Anti-Obama-Haltung: Mit etwa 30 Executive Orders (präsidiale Dekrete) hat er viele von dessen Anordnungen »rückgewickelt«, auch wenn ihm bei dessen Krankenversicherung bislang nichts gelungen ist. Aber er hat auch Erfolge aufzuweisen, zuletzt bei der Steuerreform. Tatsache bleibt: Die Welt hat sich durch Trump radikal verändert. Aber: die USA haben noch immer Gewicht. Ein Weg der Europäer gegen Amerika ist auch unter Trump kein guter Weg.

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II. Deutsche Perspektiven auf Native Americans

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»Die Indianer konnten die Einwanderung nicht stoppen« Nationalismus und Antiamerikanismus in deutschen Indianerbildern vor 1945 und heute Nationalismus und Antiamerikanismus in deutschen Indianerbildern »Die Indianer konnten die Einwanderung nicht stoppen«. Nationalismus und Antiamerikanismus in deutschen Indianerbildern vor 1945 und heute

1. Einleitung Das deutsche Interesse für »Native Americans«1 hat eine lange Tradition, die bis zu den ersten Berichten europäischer »Entdecker« der Amerikas zurückreicht. Seit etwa 1800 entwickelten sich im deutschen Sprachraum Ideen, Vorstellungen und kulturelle Praktiken bezüglich Native Americans, die um 1900 eine teilweise bis heute anhaltende Massenbegeisterung auslösten. Diese Vorstellungen wurden von Berichten und bildlichen Darstellungen deutschsprachiger und amerikanischer Forscher, Reisender und Künstler wie Balduin Möllhausen, Maximilian zu Wied-Neuwied, Carl Bodmer, James Fenimore Cooper und George Catlin im frühen 19. Jahrhundert geprägt. Um 1900 war dieses Phänomen bereits ein integraler Bestandteil der frühen deutschen Populärkultur: Ethnografische Völkerschauen, Wildwest-Shows wie Buffalo Bill’s Wild West, die Vorbild für viele deutsche Schausteller wurde, Wildwest-Groschenhefte und besonders die Erzählungen Karl Mays begeisterten ein Massenpublikum.2 Diese Einflüsse beförderten die Gründung zahlreicher Hobby-Vereine und luden dazu ein, sich als Indianer zu verkleiden und exotische Fantasien auszuleben.3 Solche kulturellen Praktiken haben 1

2 3

In der Forschung finden seit den 1970 er-Jahren teils hitzige Debatten über die korrekte Bezeichnung der indigenen Bevölkerung Nordamerikas statt, wobei Political Correctness, aber auch Fragen von Inklusion und ethnografischer Präzision eine Rolle spielen. Dieser Aufsatz wird dem Beispiel Robert Berkhofers folgen und den englischen Begriff »Native Americans« verwenden, wenn die Menschen gemeint sind; mit »Indianer« dagegen die (meist stereotypen) Vorstellungen bzw. das Image bezeichnen (vgl. Berkhofer 1979: xvii). Vgl. Hollein / Kort 2006, Feest 1999, Calloway / Gemünden / Zantop 2002. Vgl. Hollein / Kort 2006: 214, 221; auch Kreis 2002 sowie Usbeck 2015: 22 – 34. Tatsächlich finden sich Quellen zur Indianerbegeisterung in Deutschland bereits Jahre vor Buffalo Bills und Karl Mays großen Erfolgen. Dies wird am Beispiel des Tübinger »Indianerstegs« deutlich – einer Fußgängerbrücke über den Neckar, deren Name auf den dortigen Treffpunkt lokaler Kinder zum Indianerspiel in den frühen 1870 er-Jahren zurück geht (vgl. den Eintrag

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ein »Repertoire von Symbolen und Erinnerungen« hervorgebracht, das »über mehrere Generationen, politischen Regime, soziokulturellen Brüche und Trends seit 1800 hinweg« wirkt.4 Sie passten sich dem Zeitgeist und der politischen Lage entsprechend flexibel an und trugen so zur Langlebigkeit des Phänomens über mehr als 200 Jahre bei. Die derart auf Symbole und Erinnerungen gegründete Begeisterung lässt sich aber nur im Kontext deutscher Selbstreflexionen erklären: In der Affinität für und der populären Repräsentation von Native Americans haben Deutsche fortwährend ihr eigenes Verhältnis zur modernen Welt verhandelt. 5 Die Vorstellung vom Indianer ist dabei immer Teil des deutschen Referenzrahmens zu »Amerika« – dem Staat USA, aber auch der Idee von einer »neuen«, freien Welt – gewesen. Indianer symbolisierten die Freiheit und Unberührtheit des Kontinents, ihr Schicksal wird bis heute aber auch immer wieder als Beispiel für antiamerikanische Ressentiments herangezogen, wobei je nach Anlass Kolonialismus und Imperialismus, die vermeintliche Unkultur der Amerikaner, Landraub, Heuchelei oder Umweltzerstörung im Fokus standen. Berichte und Fiktionen wurden, oft ohne zu unterscheiden, mit der eigenen Geschichte kontextualisiert. Deutsche Texte in Literatur, Kunst und politischer Öffentlichkeit sind bis heute von Vergleichen zwischen Native Americans, germanischen Stämmen und zeitgenössischen Deutschen durchzogen. Der Indianer ist damit seit Jahrhunderten eine Projektionsfläche für deutsche Fantasien, Sehnsüchte und Ängste, die mit der Konstruktion einer eigenen Gruppenidentität in Deutschland eng verwoben sind. Dieser Aufsatz wird im Folgenden aus dem breiten Spektrum gesellschaftlicher Projektionen selektiv die Kontinuität solcher traditionellen Ideen und Referenzen hervorheben, die bis heute immer wieder als Quelle für nationalistische und völkische Argumentationsmuster in Deutschland dienen.

2. Seelenpartner und gemeinsame Feinde: Hauptmotive des Indianerbildes seit 1800 Im Versuch, eine nationale Identität über Konfessionen, Regionalinteressen und dynastische Loyalitäten hinweg zu entwickeln, suchten Vertreter der nationalen Bewegung um 1800 in den deutschen Staaten nach umfassenden

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auf Tüpedia, Stadtwiki Tübingen, online unter: www.tuepedia.de/index.php/Indianersteg – letzter Zugriff: 24.11.2017). Penny 2013: xii. – Soweit nicht anders gekennzeichnet, sind alle Übersetzungen aus dem englischen Original meine eigenen. Penny 2013: xii.

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Narrativen und Gründungsmythen, auf die sich alle Mitglieder der Nation positiv beziehen konnten. Neben der Popularisierung des Nibelungenlieds waren dies vor allem Referenzen auf die germanischen Stämme, auf die Schlacht im Teutoburger Wald, und auf Tacitus’ Germania. Da neben Tacitus’ ethnografischer Schrift kaum historische Quellen über die germanischen Stämme existierten, dienten zunehmend Berichte über andere indigene Stammesvölker, insbesondere zeitgenössische Native Americans dazu, mittels eines evolutionistischen Weltbildes Rückschlüsse über die eigene Vorgeschichte zu ziehen. So entwickelte sich ein Dreiecksverhältnis aus Referenzen, historischen Vergleichen und projizierten Vorstellungen zwischen zeitgenössischen Deutschen, den germanischen Stämmen und Native Americans, mittels derer alle drei Kategorien betrachtet und kontextualisiert wurden. Hierbei schälten sich zwei Hauptmotive heraus: zum einen die essenzialistische Vorstellung, dass Native Americans, germanische Stämme und moderne Deutsche gemeinsame inhärente – also erbliche – Charaktereigenschaften, kulturelle Interessen und soziale Strukturen besäßen (das Fellow-Tribesmen-Motiv), und zum anderen die Vorstellung gemeinsamer historischer Unterdrückungs- und Widerstandserfahrungen (das Common-Enemy-Motiv).6 Im Fellow-Tribesmen-Motiv wird zunächst eine Verwandtschaft über ähnliche Kulturmerkmale behauptet. Zeitgenössische Deutsche verglichen hierbei Native Americans und Germanen als Stammesgesellschaften. Sie bezogen sich zudem auf die föderale Tradition, besonders das deutsche Kleinstaatenwesen vor 1871, um sich selbst als Nachkommen eines dezentralen Naturvolkes zu präsentieren.7 Dieses Motiv wird maßgeblich von der Figur des »Edlen Wilden« bestimmt, die seit der Aufklärung den vermeintlich primitiven Stammesgesellschaften Eigenschaften zuwies, die man selbst durch Zivilisation und komplexe Sozialstrukturen verloren zu haben glaubte. Sowohl Tacitus als auch die Philosophen Rousseau und Montaigne schrieben den Subjekten ihrer Beobachtung unter anderem Naturverbundenheit, Freiheitsdrang, Kampfesmut, Gastfreundschaft, Loyalität und organischen Gemeinschaftssinn zu. Diese Eigenschaften beanspruchten zeitgenössische national argumentierende Deutsche zunehmend für sich selbst, während sie sie anderen – etwa dem französischen »Erbfeind« – absprachen.8 Solche Kollektiveigenschaften wurden häufig als entweder genetisch oder umweltbedingt und ausschließlich der jeweiligen Gruppe zugehörig interpretiert. 6 7 8

Vgl. Usbeck 2015: 3 f. Vgl. Penny 2013: xi, 15 f.; Usbeck 2015: 3 f. Vgl. Lutz 1985: 134 – 36, 262; Berkhofer 1979: 80 – 85.

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Hier war der Bezug auf Natur und Heimat, gerade das romantisierende Verhältnis der Deutschen zum Wald, besonders relevant. Dieses Konstrukt einer spirituellen Naturbeziehung der Deutschen wurde oft im Widerspruch zu problematischen Aspekten der Moderne, wie etwa Urbanisierung, Industrialisierung, Massengesellschaft und Zerfall traditioneller Sozialstrukturen gesehen.9 Der Vergleich zwischen germanischen und amerikanischen »Naturvölkern«, gepaart mit der Selbstdarstellung als Nachfahren eines Naturvolks half nationalkonservativen Deutschen also, eine essenzialistische Vorstellung von deutscher Kultur, Geschichte und deutschem Nationalcharakter zu konstruieren, die auf der Idee einer Jahrtausende währenden Verwurzelung in einer sakral aufgeladenen heimatlichen Natur fußte, und somit auch das Fundament für spätere Blut-und-Boden-Ideologien bildete.10 Die gedankliche Gleichsetzung von amerikanischen und germanischen Naturvölkern führte schließlich dazu, dass zeitgenössische Deutsche sich immer wieder als Seelenverwandte der Indianer verstanden.11 Diese Idee war allerdings nicht allein für Nationalkonservative und völkische Gruppen attraktiv, sondern fand sich Ende des 19. Jahrhunderts in abgewandelten Formen auch in anderen Gesellschaftsschichten wieder, etwa großen Teilen der Jugendbewegung, der Lebensreform, sowie unter Künstlern und Schriftstellern. Obwohl also Deutschland um 1900 zur führenden Wirtschaftsmacht und zum wissenschaftlichen Zentrum in Europa heranwuchs, gediehen in großen Teilen der Bevölkerung Vorstellungen von Native Americans, die auf die Konstruktion des Selbst als traditionellem Naturvolk zurück gingen und ein zumindest ambivalentes Verhältnis zur Moderne widerspiegelten. Aus diesen Vorstellungen speiste sich seit dem späten 19. Jahrhundert auch die Idee einer deutsch-indianischen Schicksalsgemeinschaft: Im Common-Enemy-Motiv finden sich immer wieder Anspielungen, die Parallelen zwischen den Konflikten an der amerikanischen Siedlungsgrenze und der US-Indianerpolitik, dem Vordringen des Römischen Reiches auf germanisches Stammesgebiet, und der neueren deutschen Geschichte betonen. Hierbei spielen Szenarien von Invasion und militärischem Widerstand, von Kolonialisierung und »westlichem« Kulturimperialismus, von gebrochenen Verträgen und vom Kampf einer kleinen, umzingelten Minderheit gegen eine Übermacht eine Rolle. Hier ist besonders wichtig, dass die Hauptkolonialmächte in Nordamerika, mit denen sich Native Americans konfron9 Vgl. Lutz 2002, See 1994, Usbeck 2015: 36 – 77. 10 Vgl. Lutz 2002: 168, 179. 11 Vgl. Usbeck 2015: 91 – 99.

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tiert sahen – Großbritannien, Frankreich und besonders die USA – auch die westlichen Gegner Deutschlands in den beiden Weltkriegen waren. Militärische Eroberung, gebrochene Verträge, Landraub und Zwangsumsiedlung, Assimilationsdruck und der Verlust kultureller, sozialer und ökonomischer Traditionen der Native Americans dienten somit wiederholt als abschreckendes Beispiel in Propagandatexten, die Deutschland als das Opfer alliierter Aggression darstellten.12 Die Verflechtung beider Motive förderte binäre Gedankenkonstrukte, innerhalb derer sich viele deutsche Texte sowohl mit Indianern wie auch mit den germanischen Stämmen identifizierten und je nach Anlass gegen historische und aktuelle Feinde wie die Westalliierten, das antike Rom, das Christentum schlechthin, aber auch die Juden abgrenzten. Dabei wurden Dichotomien wie etwa die Gegensätze zwischen Natur / Kultur und (»westlicher«) Zivilisation, zwischen organischer Gemeinschaft und künstlicher Gesellschaft, zwischen Opfer- und Angreiferrollen, sowie zwischen Widerstand und Unterdrückung konstruiert. Selbst wenn in Texten kein expliziter Bezug auf Native Americans unternommen wurde, schwangen in solchen Selbst- und Fremdzuweisungen vielfach politisch und emotional aufgeladene Begriffe wie »Heimatboden«, »Stamm«, »Ratsfeuer«, »Krieger« oder »Ältestenrat« mit, die typische populäre Indianerfantasien heraufbeschworen.13

3. Deutsche »Stammeskultur« und Antiamerikanismus vor 1945 Die Lesart genetisch und durch die Umwelt bedingter organischer Kultur im Gegensatz zu einer als künstlich und degeneriert verstandenen Zivilisation förderte antiamerikanische Vorstellungen im von Kulturpessimismus und militantem Nationalismus geprägten Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts. Demnach waren sowohl Native Americans als auch Deutsche dem zerstörerischen Einfluss amerikanischer »Unkultur« ausgesetzt worden und hatten ähnliche historische Erfahrungen machen müssen. Die Nazis setzten diese Vorstellungen gezielt für Propaganda ein. Hitler bezog sich auf gebrochene Indianerverträge, wenn er den Versailler Vertrag in seinen Reden angriff. Dabei ist hervorzuheben, dass viele Deutsche geglaubt hatten, 12 Vgl. Usbeck 2015: 100 – 102. 13 Ferdinand Tönnies’ Klassiker der Soziologie Gemeinschaft und Gesellschaft (vgl. Tönnies 1935) ist ein Beispiel dafür. Tönnies verwahrte sich zwar gegen die politische Vereinnahmung seiner Theorie, aber seine extensive Verwendung der oben genannten Schlagworte bediente völkische Ressentiments durch die Konstruktion eines traditionsbewussten, organischen deutschen Naturvolks und wurde entsprechend politisch interpretiert.

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den Waffenstillstand im Ersten Weltkrieg nach Präsident Wilsons 14-Punkte-Programm, das einen ehrenhaften Verhandlungsfrieden ermöglichen sollte, geschlossen zu haben. Die letztlich harten Bedingungen des Versailler Vertrages wurden demnach als Vertrauensbruch und Verrat Wilsons gesehen.14 Daraus, sowie aus dem Verlust der Kolonien, Elsass-Lothringens, und von östlichen Gebieten an Polen und die Tschechoslowakei, zogen Vertragsgegner Material für historische Vergleiche mit den Indianerverträgen. Hitler kommentierte den diplomatischen Druck auf die deutschen Unterhändler in Versailles während seines »Rededuells« mit Franklin D. Roosevelt im April 1939 mit der Bemerkung, man habe die Deutschen nicht wie respektable Krieger, sondern »entehrender behandelt, als dies früher bei den Siouxhäuptlingen der Fall sein konnte«.15 In den 1930 er-Jahren wurden, trotz einiger Richtungskämpfe unter den für Kultur und Erziehung zuständigen Stellen, Indianerromane gezielt von der NS-Führung gefördert. Der bekannteste Autor dieser Abenteuerbelletristik ist Erhard Wittek, der unter dem Pseudonym Fritz Steuben zahlreiche Romane veröffentlichte und diese gegen Verfechter einer reinen Lehre, die nur »arische« Helden als Vorbilder für die deutsche Jugend zulassen wollte, vertrat.16 Viele seiner Romane thematisierten die pan-indianische Widerstandsbewegung um den Shawnee-Häuptling Tecumseh (etwa 1805 – 1813) und die Vertreibung der östlichen Stämme über den Mississippi als Folge der Indian Removal-Politik (1820 er- und 1830 er-Jahre). Tecumseh wird dabei sowohl mit dem Cherusker Arminius als auch mit Adolf Hitler gleichgesetzt: ein charismatischer Führer einigt ein zerstrittenes Volk angesichts einer feindlichen Übermacht, organisiert den Widerstand und führt eine religiöse Erweckungsbewegung an, welche die materielle Kultur und die dekadenten »Unsitten« der Fremden ablehnt und eine Rückkehr zu den eigenen kulturellen Wurzeln propagiert.17 Zudem zieht Wittek den Vergleich über das Common-Enemy-Motiv, wobei der Versailler Vertrag auf eine Stufe mit der Vertreibung und Vernichtung indianischer Stämme durch die Amerikaner im sogenannten Trail of Tears gestellt wird: »[Die Amerikaner, F. U.] sind nach dem uralten Rezept verfahren, den Ausgeplünderten, Geschändeten, Ermordeten zu beschimpfen, zu verleumden, ihm Greuel anzudichten, um ihn dann erst recht ausrotten zu können, und wir haben keinen Grund, die Partei der Mörder zu nehmen wider die, die hundertmal besser waren als ihre weißen 14 15 16 17

Vgl. Gassert 1997: 34 – 36, 45. Domarus 1988, Bd. 3: 1171. Vgl. Haible 1998, Wittek 1940. Vgl. Haible 1998: 68 – 70, 148 – 187.

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Vernichter. Wir Deutschen haben am wenigsten Grund dazu, denn wir haben diese Art, Geschichte zu machen, allzu bitter am eigenen Leib erfahren.«18

Nach den Novemberpogromen von 1938, besonders aber bei Kriegseintritt der USA Ende 1941 setzte eine Propagandawelle in deutschen Medien ein. Die Nazis machten den USA nun offensiv ihre ungelösten ethnischen Konflikte zum Vorwurf, um vom eigenen Rassismus und von deutschen Kriegsverbrechen abzulenken. Hier boten Berichte und populärhistorische Abrisse über die US-Indianerpolitik Angriffsfläche, um die Amerikaner als brutal, raffgierig und verschlagen zu brandmarken. Leitartikel wie »Amerika kehre vor deiner eigenen Tür!« zeigten die propagandistische Marschrichtung an.19 Obwohl diese antiamerikanischen Ideen und Stereotype bereits im 19. Jahrhundert in deutschen Medien und Literatur kursierten, wurden sie nun gezielt für staatliche Propaganda eingesetzt. So schrieb im November 1938 die Berliner Börsenzeitung nach einer Direktive des Propagandaministeriums über die US-Indianerverträge: »Die Welt sieht heute in den Amerikanern mit vollem Recht die auserwählte Rasse der Heuchler.«20 Ab 1942 detaillierten Leitartikel lange Listen von amerikanischen Angriffskriegen – viele mit Bezug auf die Indianerkriege – um die USA als »Schurkenstaat« zu brandmarken, dessen Bewohnern das »Rowdytum« als nationale Charaktereigenschaft innewohne.21 Indem sie den Zweiten Weltkrieg als Verteidigungskampf der »indigenen« Deutschen um ihre Heimaterde und Kultur gegen einen Ring aus kulturfremden Invasoren propagierten, bedienten die Nazis beide Hauptmotive des »Indianthusiasm« – sie stellten sich selbst als heroisch kämpfendes, verwurzeltes »Naturvolk« in einer Opferrolle dar und verteufelten die Alliierten, denen sie in historischen Vergleichen eine aggressive Tradition unterstellten.

4. »Indianer« und Immigranten: Nationalismus und »Multi-Kulti« im 21. Jahrhundert Nationalistische und völkische Positionen, die – verbunden mit Antiamerikanismus – Referenzen auf Native Americans bedienen, sind nach 1945 nicht von der Bildfläche verschwunden. Unter Neonazis und sogenannten »Neuen 18 Steuben 1938: 37. 19 Vgl. Johann 1941. 20 Berliner Börsenzeitung 1938; vgl. Bohrmann / Toepser-Ziegert 1984, Bd. 6/III: 1109 (Nr. 3351, ZSg 110/10/154). 21 Vgl. Berliner Börsenzeitung 1943, Schönemann 1943.

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Rechten« sind diese traditionellen Projektionen auch heute beliebte Argumente. Das Common-Enemy-Motiv verbindet zum Beispiel die Geschichte des Zweiten Weltkrieges mit der Eroberung des nordamerikanischen Kontinents: In Internetforen von Neonazis wird wiederholt die Bombardierung deutscher Städte durch die Amerikaner mit Massakern an Native Americans und der Ausrottung der Bisons auf eine Stufe gestellt.22 Aber auch die völkischen Ideen essenzieller Gruppeneigenschaften in diesen Kreisen generieren weiterhin Indianerbilder, in denen CommonEnemy-Motiv und Fellow-Tribesmen-Motiv eng miteinander verwoben sind. Sie bieten nach wie vor Stoff, mit Bezug auf das Schicksal der Native Americans eine deutsche Indigenität zu behaupten und Fremdenfeindlichkeit als notwendige Maßnahme zum Schutz des völkischen Daseins zu propagieren. In aktuellen Fällen vergleichen Neurechte und Neonazis das deutsche Volk mit Indianern und behaupten, beide seien durch ungehemmte Zuwanderung und durch das angeblich staatlich verordnete Paradigma des Multikulturalismus in ihrer kulturellen Identität, der Souveränität über ihr Land, sogar selbst in ihrer physischen Integrität bedroht. Das Schicksal von Native Americans dient als mahnendes Beispiel: die Deutschen werden zu europäischen »Indianern« stilisiert, wogegen Migranten und Flüchtlinge in Deutschland mit den amerikanischen Siedlern als Landräuber und Kulturzerstörer identifiziert werden. In diesen Debatten hat sich in den letzten Jahren dabei der Modebegriff des bevorstehenden »Volkstodes«23 herausgebildet. Die Behauptung, »Multi-Kulti« sei gescheitert, entspringt zum Großteil also dieser traditionell völkischen und essenzialistischen Lesart, die bis ins 19. Jahrhundert zurückgeht. In politischen Debatten ist in diesem Zusammenhang eine bestimmte Parole immer wieder in die Öffentlichkeit gekommen. Sie kursiert in verschiedenen Versionen (häufig mit Sitting Bull als Bildmotiv), gepaart mit dem Schriftzug »Die Indianer konnten die Einwanderung nicht stoppen. Heute leben sie in Reservaten.« Obwohl dieser Spruch nicht explizit antiamerikanisch ist, nutzt er den Bezug auf die Kolonisierung des nordamerikanischen Kontinents und auf die US-Indianerpolitik, um – in Verflechtung beider Hauptmotive – das Selbst als »indigenes« Opfer einer fremden Invasion darzustellen, die darauf abzielt, sich das Land der »Eingeborenen« anzueignen und deren Kultur gezielt zu unterwandern. Dieses Problem ist jedoch kein rein deutsches: Die Parole diente 2008 im Wahlkampf der Schweizer Regionalpartei Lega dei Ticinesi und der italienischen neofaschistischen Partei Lega Nord; auch der 22 Vgl. Altermedia 2009. 23 Vgl. NPD Niedersachsen 2015.

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österreichische Ring Freiheitlicher Jugend (Jugendorganisation der FPÖ) verwendet ihn seit dem auf Plakaten und Aufklebern, und die Schweizer SVP polemisierte damit im Referendum über die Zuwanderungsinitiative 2014.24 Die Verbreitung dieses Konzepts und des Indianer-Vergleichs dokumentiert eindringlich die gemeinsame Stoßrichtung rechter Gruppierungen in Europa unter der völkisch aufbereiteten Dach-Idee eines »Europa der Vaterländer«.25 In Deutschland wurde eine Kontroverse ausgelöst, als sich 2006 der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) in seiner Landesparteitagsrede einer Paraphrase dieses Spruchs bediente. Im Juni 2014 erregte ein Tweet des AfD-Landesverbandes Rhein-Sieg mit dieser Parole in Verbindung mit einem Foto Sitting Bulls öffentliche Kritik.26 In den folgenden Debatten wurde jeweils darauf hingewiesen, dass auch die sächsische NPD in ihrem Wahlprogramm schon konstatiert hatte: »Die indianischen Völker konnten die Zuwanderer nicht stoppen. Jetzt leben sie in Reservaten. Weil wir unseren Kindern das ersparen wollen, wehren wir uns, bevor es zu spät ist«.27 Ähnliche Aussagen finden sich auch auf Webseiten der NPD und auf ihren Facebook-Profilen. In einigen Texten wird hierbei der offensichtliche Widerspruch zwischen militärischer Eroberung und Migration relativiert und die demografische Entwicklung und Bildungspolitik der Bundesrepublik in das Konstrukt des Volkstodes eingebunden: »Und wenn eine Deutsche doch einmal Mutter wird, soll sie ihr Kind schnell in eine Kita abschieben, um ganz schnell wieder arbeiten zu gehen; schließlich braucht der Staat ja mehr Steueraufkommen für EU und Scheinasylanten. Ein dramatischer Austausch der Bevölkerung findet statt, sozusagen ein ›sanfter Völkermord auf Raten ohne Blutvergießen‹. Die Vorgänge erinnern an die Verdrängung und nahezu vollständige Ausrottung der Indianer und Aborigines in Nordamerika und Australien im 19. Jahrhundert.«28

Im Versuch, der NPD eine intellektuelle Plattform zu geben, die sich über tradierte völkische Argumente von akademisch-philosophischen Perspektiven auf die jüngere deutsche Geschichte (besonders der Frankfurter Schule) absetzen soll, hat der NPD-Funktionär und Historiker Jürgen Gansel die Idee des Multikulturalismus als schädlich für die Integrität des deutschen Volkes angegriffen:

24 25 26 27 28

Vgl. Birrer 2014. Vgl. Conze 2013. Vgl. Wittrock 2006, Focus Online 2014. Zitiert nach Wittrock 2006; vgl. auch NPD 2012. NPD Niedersachsen 2015.

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Frank Usbeck »Die Ideologen des Multikulturalismus fördern mit allen ihr [sic] zur Verfügung stehenden Mitteln die massive Landnahme durch kultur- und rassefremde Menschen, die die Deutschen zu den Indianern des 21. Jahrhunderts machen wird.«29

Obwohl der Begriff »Volkstod« im Text nicht auftaucht, wird auch hier über den Vorwurf der »nationalen Selbstverachtung« gegen Frankfurter Schule und demokratische Intellektuelle dieses Schreckensbild inszeniert. Demnach forciert die Demokratie durch ihre Förderung des Multikulturalismus, das heißt, durch die staatlich gelenkte Vermischung von wesensfremden »Rassen« und Kulturen, also den Volkstod.30 Abermals wird das Schicksal von Native Americans unter Missachtung historischer Zusammenhänge für die völkische Ideenwelt eingespannt. Diesem Tenor folgen im Internet auch viele Filmclips, die historische Anspielungen auf die Kolonialisierung Amerikas für die Ausbeutung populärer Indianerbilder und fremdenfeindliche Polemik nutzen. Auf zwei dieser Filme soll hier beispielhaft näher eingegangen werden. Der Erste ist ein Wahlwerbespot der NPD für die Bremer Bürgerschaftswahl 2011.31 In einem Animationsfilm wird die Geschichte der Kolonialisation, beginnend mit der Reise der Mayflower nach New England, nacherzählt. Es wird gezeigt, wie die neuen Siedler anfangs Not und Hunger leiden und wie die gastfreundlichen Indianer sie bereitwillig versorgen. Später kommen die Einwanderer in Scharen über das Meer und gestalten mit Planwagen und Baumaschinen das Land der Indianer rücksichtslos nach ihren Interessen um. Eine Karte Nordamerikas zeigt nun, wie von einer ursprünglich einheitlichen »roten« Fläche schließlich nur noch ein paar rote Punkte – die Reservationen – übrig bleiben. Die Indianer sind auf einem kleinen Stück Land, an dessen Grenze ein Schild mit der Aufschrift »Bitte nicht füttern!« steht, zusammengedrängt und kommen zu dem Schluss: »Wir hätten eine nationale Indianerpartei gründen sollen!«32 Der Film schwenkt daraufhin zur Betrachtung Deutschlands, das von einer Flut von Einwanderern aus Afrika, der Türkei und Südasien buchstäblich überschwemmt wird, wobei die »eingeborenen« Deutschen an den Rand gedrängt werden. Diesen Deutschen erscheint nun eine indianische Familie, die ihnen auf einer Litfaßsäule ein NPD-Wahlplakat mit der Forderung »Multikulti-Wahn beenden! Bremen bleibt in deutschen Händen!« zeigt und kommentiert: »Ja, damit es Euch nicht so wie uns geht.« Wie in vielen ähnlichen Texten dieser Machart werden 29 30 31 32

Gansel 2005. Gansel 2005. Vgl. Rumfruggel 2011. Die Selbstdarstellung der NPD als der »nationalen Indianerpartei« hat unter kritischen Beobachtern in den sozialen Medien folgerichtig für viel Häme gesorgt.

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die Indianer als unvoreingenommen, gutmütig und naiv gegenüber den fremden Neuankömmlingen dargestellt, was ihnen schließlich zum Verhängnis wird. Ohne, dass dieser Film den verächtlichen Begriff »Gutmenschen« verwendet, wird doch deutlich, dass die demokratische Zivilgesellschaft, die sich für ein Miteinander von Deutschen und Migranten einsetzt, als ebenso naiv und somit als gefährlich für den Fortbestand des deutschen Volkes angesehen wird.33 Damit ist die politische Stoßrichtung des Films schon impliziert – es wird suggeriert, dass zur Abwehr dieser vermeintlichen Gefahr auch harte Maßnahmen und entschlossener »Widerstand« notwendig seien. Rassismus und militante Fremdenfeindlichkeit werden also eindeutig als Selbstschutz propagiert. Dies wird im zweiten Beispiel noch offensichtlicher. Auch hier wird mit Animationstechnik gearbeitet, was die Produktion des YouTube-Clips wenig aufwendig gestaltet. Der Film dreht sich um ein fiktives Gespräch zwischen Claudia Roth (Bündnis 90 / Die Grünen) und einer Cherokee-Austauschschülerin auf dem Berliner Alexanderplatz, untermalt von orientalischer Musik.34 Der Fokus auf die bekanntermaßen ethnisch stark diversifizierte Demografie Berlins symbolisiert im Einklang mit der Hintergrundmusik das Problem der vermeintlichen »Überfremdung« Deutschlands bereits von Beginn an. Roth erfährt von der Herkunft der Schülerin und bietet ihr umgehend einen deutschen Pass an. Dies brandmarkt die Grünen als Vorreiter einer als volksfeindlich verstandenen Offenheit gegenüber Ausländern, sogar als zielgerichtete Zersetzung des deutschen Volkes von innen. Roth ist erstaunt, zu erfahren, dass die Cherokee lieber zurück nach Hause möchte, um unter ihresgleichen zu sein. Sie bittet die Schülerin, ihr von ihrer Erfahrung als »ethnische Minderheit« in den USA zu berichten – Roth will mit ihr »mitfühlen«, denn »fühlen ist gut für mich, gerade bei unserer Vergangenheit«. Ähnlich wie in Gansels Pamphlet wird hier suggeriert, dass die permanente Referenz auf die Verbrechen der Nationalsozialisten in der Öffentlichkeit einen Akt »nationaler Selbstverachtung« darstellt.35 Daraufhin entspinnt sich der übliche geschichtliche Abriss der amerikanischen Besiedlungsgeschichte im Film, gespickt mit regionalen Unstimmigkeiten und Stereotypen. Die ersten Siedler werden demnach von Cherokee-Führern (auch hier wieder – unsinnigerweise – der Lakota Sitting Bull) mit dem Argument »ein bisschen Multi-Kulti wird unser Leben bestimmt interessanter machen« willkommen geheißen. Als immer mehr »fremde Menschen« kommen und die 33 Vgl. Wiener 2015. 34 Vgl. Die Clown Union 2011. 35 Gansel 2005.

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Einheimischen bedrängen, sagen die Führer: »Jetzt sind wir ein Einwanderungsland, da müssen wir uns schon ein bisschen anpassen«. Während junge Krieger die zunehmende Aggressivität der Fremden mit Gewalt beantworten wollen, werden sie von ihren Führern hingehalten, da man »einfach nicht nett genug« zu den Einwanderern gewesen sei, weswegen diese jetzt »schlecht integriert« seien. Als die jungen Krieger schließlich doch aufbegehren, ist es »zum Kämpfen schon zu spät« und die Indianer werden massakriert. Die Überlebenden »sind auf unserem Kontinent jetzt nur noch geduldet«. Bis zu diesem Punkt deckt sich die Geschichte mit vielen ähnlichen, die zum Teil auch schon als antiamerikanische Propaganda in deutschen Zeitungen während des Zweiten Weltkrieges erzählt wurden. Es wird hier aber schon deutlicher als im ersten Filmbeispiel darauf hingewiesen, dass die Indianer (und, implizit, die Deutschen) schon viel früher mit Gewalt gegen die Fremden, wie auch gegen ihre eigenen beschwichtigenden – und damit im Rückschluss verräterischen – Anführer hätten vorgehen müssen. Zudem werden in auffälliger, ironisierender Weise Versatzstücke und Kernbegriffe aus aktuellen Debatten um Zuwanderung und Integration in Deutschland auf die kolonialen Konflikte in Nordamerika übertragen. Im letzten Drittel des Films vollzieht sich eine Wende, die die ohnehin aggressive Polemik weiter zuspitzt. Die Cherokee-Schülerin sagt aus, dass die Überlebenden auf den kleinen Reservationen wenigstens unter ihresgleichen sind und auch bleiben wollen. Sie fährt fort, dass man erst kürzlich »eine Reihe Schwarzer« aus dem Stamm ausgeschlossen habe, um die Zukunft des eigenen Volkes und seiner Kultur zu sichern.36 An dieser Stelle wird sie von Roth unterbrochen, die Klärung verlangt, und die Schülerin wiederholt: »Ja, wir haben sie ausgeschlossen, weil wir unter uns sein wollen«. Die Betonung dieses Unter-uns-sein-Wollens trägt offen die hier vertretene essenzialistische, völkische Gedankenwelt zur Schau, nach der Kulturen / Rassen inhärente Charaktereigenschaften generieren, die nicht übertragen und »erlernt« werden können und die, wenn sie in Kontakt mit dem »Fremden« kommen, automatisch Konflikte hervorrufen müssen. Austausch und Zusammenleben zwischen Kulturen wären demnach auf friedliche Weise nicht möglich. Aus dieser Perspektive erscheint auch der Ausschluss der »Cherokee Freedmen« aus dem Stammesregister als eine 36 Hierbei geht es um die Kontroverse über die »Cherokee Freedmen«, Nachfahren afroamerikanischer Sklaven, die per Vertrag mit den USA nach dem Bürgerkrieg im Jahre 1866 volle Bürgerrechte im Stamm erhalten hatten. Seit den 1980 er-Jahren versuchen Kräfte innerhalb der Stammesregierung, die Bürgerrechte qua Abstammung neu zu regeln und so die Nachkommen der »Freedmen« (etwa 25 000 Personen wären betroffen) von den an die Stammesmitgliedschaft gebundenen Privilegien auszuschließen. Vgl. Monet 2014.

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logische Reaktion: Rassismus und Fremdenfeindlichkeit werden abermals als »arterhaltende« notwendige Schutzgesten präsentiert, die Gewalt gegen alles »Fremde« rechtfertigen. Nach dieser Aussage der Cherokee-Schülerin ruft Roth die »AntifaSchutz-Staffel« herbei und ein schwarz gekleideter, vermummter Autonomer erscheint. Er verprügelt die Cherokee, als Roth erklärt: »Das ist eine Rassistin« und ihm aufträgt, »[h]ilf ihr mal, Mitgefühl, Empathie und Toleranz für andere Kulturen zu erlangen«. Die Gewalt kommentiert Roth mit den Worten »Wir Antifaschisten sind die tolerantesten Menschen überhaupt. Aber wenn jemand eine andere Meinung hat als wir, dann hört der Spaß auf«. Mit dieser Wendung präsentiert sich die völkische Perspektive abermals in der Opferrolle und verbindet das Fellow-Tribesmen-Motiv mit dem CommonEnemy-Motiv: Die Cherokee steht für das traditionelle, generische Bild vom indianisch-germanisch-deutschen Eingeborenen, der, um seine Eigenart, seine Kultur und sein Land zu schützen, notwendigerweise das »Fremde«, das »Andere«, das von außen Hereindringende abwehren muss. Dabei werden die inneren Feinde, also alle, die nach dieser Lesart das Fremde einladen und damit das Selbst in seiner Grundstruktur gefährden – hier repräsentiert durch die Grüne Claudia Roth und ihren autonomen Helfershelfer – als »Volksverräter« gebrandmarkt. Die eigene Opferrolle wird umso deutlicher, da die Cherokee als – positiv konnotierte – Rassistin repräsentiert ist, deren Fremdenfeindlichkeit zur Selbstverteidigung dient, während Roth und der Autonome versuchen, ihr Meinungsmonopol im Namen der »Toleranz« mit Gewalt durchzusetzen.37 Roth und der Autonome erscheinen also nicht nur als Aggressoren, sondern zudem noch als Heuchler.

5. Zusammenfassung Darstellungen von Native Americans haben in Deutschland eine jahrhundertelange Tradition. Sie lösten im 19. Jahrhundert eine Massenbegeisterung aus, die unter anderem deshalb solch eine enorme Strahlkraft hatte, weil die Idee vom Indianer immer wieder auch das Selbstbild und das Verhältnis der Deutschen zu anderen Nationen und Ethnien verhandeln half. Dies trifft insbesondere auf das Verhältnis zu den USA und das Bild von »Amerika« 37 Besonders in Zusammenhang mit dem Verweis auf die »Antifa-Schutz-Staffel« werden Antifaschisten somit als »die wahren Nazis« dargestellt, eine Argumentationslinie, die derzeit unter Neurechten und Rechtsradikalen sehr populär ist (siehe: www.facebook.com/pages/ Gegen-Links-Extremismus-wie-Antifa-Schwarzer-Block-etc/1753720091520745 – letzter Zugriff: 23.08.2016).

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zu, das in wechselnden Intervallen und quer durch alle gesellschaftlichen Schichten in deutschsprachigen Ländern wahlweise als Sehnsuchtsraum oder als Bedrohung wahrgenommen wurde. Mit der romantisierten Vorstellung vom Indianer wurden seit dem 19. Jahrhundert deutsche Selbstbilder konstruiert, die oftmals essenzialistische Gruppenidentitäten kolportierten. Dies wiederum lieferte Stoff für völkische und nationalistische Ideen und Argumente, die sich mit traditionellen antiamerikanischen Ressentiments verflochten. In diesem Sinne hat die Vorstellung von Deutschen als den »Seelenpartnern« und »Schicksalsgenossen« der Indianer, die beide unter dem Einfluss US-amerikanischer Gewalt, Gier und Heuchelei zu leiden hatten, in der Tat sowohl das soziopolitische Spektrum in Deutschland, als auch verschiedene politische Regime im Lauf der Zeit überspannt. Innerhalb dieser Vorstellungswelt findet sich das Thema vom Deutschen als »Indianer Europas«, das heißt als Opfer fremder kultureller, sozialer und gar militärischer Aggression, sowohl in völkisch rechten Kreisen um 1900, in der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie der 1920 er- bis 1940 er-Jahre, wie auch in Pamphleten und Internet-Auftritten heutiger Neonazis und neurechter Gruppierungen. Obwohl die Indianerbegeisterung kein solches Massenphänomen mehr ist wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bieten ihre traditionellen Ideen, Vorstellungen und kulturellen Praktiken also nach wie vor Gelegenheit für politische Akteure, das Verhältnis zu Amerika zu polemisieren und das eigene Selbstbild gegenüber dem »Anderen« abzugrenzen und zu überhöhen.

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Indianer, der Holocaust und die Frage des Völkermords in Deutschland und den USA

Indianer, der Holocaust und die Frage des Völkermords Indianer, der Holocaust und die Frage des Völkermords in Deutschland und den USA

1. Einleitung Die Faszination der Deutschen für Indianer ist etwas, das schon seit Langem bemerkt und erörtert wird. Die Tatsache, dass schätzungsweise 40 000 Deutsche mehr als 400 verschiedenen Clubs angehören, die oft Gastgeber für »Pow Wows« sind, an denen Mitglieder in vollständiger Indianerkleidung teilnehmen, in Tipis schlafen und sich selbst als Rothäute bezeichnen, ist ein Hinweis auf ein tiefes und langjähriges Interesse vieler Deutscher an der Geschichte und Kultur der Ureinwohner Amerikas.1 Dieser Fokus auf die Geschichte der Indianer hat in den letzten Jahren vor allem mit der Verbreitung des Wortes Völkermord (oder Genozid) im populären und wissenschaftlichen Diskurs zugenommen. Die Diskussion über die Geschichte Amerikas dreht sich daher sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland zunehmend um den Begriff des Völkermordes und ob Indianer die Opfer eines solchen wurden. Aufgrund des Nationalsozialismus und des Holocausts ist dies in Deutschland ein besonders brisantes Thema. Die Vertreibung und Verwüstung, die den Indianern widerfuhr, wurde oft von den nationalsozialistischen Ideologen genutzt, um ihre Pläne der kolonialen Besiedlung von Polen und der Ukraine zu rechtfertigen. 1941 behauptete Adolf Hitler, dass sich »hier im Osten ein ähnlicher Prozess zum zweiten Mal wiederhole, wie bei der Eroberung Amerikas. Eine überlegene Siedlerbevölkerung würde eine ›minderwertige‹ einheimische Bevölkerung verdrängen.«2 Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Schaffung des Begriffs Völkermord und dessen letztendliche Kodifizierung in das Völkerrecht weitgehend durch den Holocaust in Gang gesetzt wurde. Die Frage des Völkermordes in Bezug auf Indianer ist deshalb für das deutsche wie das amerikanische Publikum besonders wichtig. Im Folgenden möchten 1 2

Vgl. Haircrow 2013. Tooze 2006: 469 f.

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wir daher einen Fall von Völkermord an den amerikanischen Ureinwohnern genauer beschreiben.

2. Das Sand-Creek-Massaker Der Winter auf der amerikanischen Hochebene kann bitter kalt sein. Aufgrund ihrer Höhe und geringen Luftfeuchtigkeit bestehen oft extreme Witterungsverhältnisse. Die kalten Winter sind das genaue Gegenteil zu den heißen Sommern. Im Winter kriechen die Temperaturen in die Knochen und Schneestürme tauchen wie aus dem Nichts auf. Der Winter 1864/1865 war da keine Ausnahme. Es war ein eiskalter Morgen am 29. November 1864, als eine Truppe der Colorado-Kavallerie ihre Pferde auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf ein trockenes Bachbett zügelten. Auf dem Flussbett eingebettet von kahlen Pappeln und Weiden standen etwa 115 Tipis einer Gruppe von Cheyenne, geführt von Black Kettle, sowie eine kleinere Anzahl Tipis der Arapahoe.3 Sie waren der auf der Hochebene tobenden Kämpfe müde und auch über den kommenden Winter besorgt. Aus diesem Grunde waren sie zum nahe gelegenen Fort Lyon, Colorado gezogen, um sich dem Militär zu ergeben. Jedoch ohne ausreichend Nahrung, um die Indianer versorgen zu können, und ohne eine offizielle Erlaubnis, um sie als Gefangene zu akzeptieren, verwiesen die Kommandanten des Forts die sich ergebenden Indianer auf das etwa 40 Meilen entfernte Ufer des Sand Creeks. Dort sollten sie auch weiterhin in ihrem Lager bleiben, um sich durch die Jagd selbst zu ernähren.4 Sand Creek ist ein weites, trockenes Flussbett im Osten Colorados, das seit Langem ein Überwinterungsgebiet für die Cheyenne war. Die Klippen auf beiden Seiten des breiten und gut mit Bäumen bewachsenen Flusstals schützten das Lager vor den starken Winden der nördlichen Prärie. Es war in der Nähe einer Reihe von Quellen, die auch im Winter Frischwasser zur Verfügung stellten. In dem Glauben, unter dem Schutz des Militärs zu stehen, ließen sich die Cheyenne und Arapahoe für den Winter nieder, nichtsahnend, welche Gewalt bald über sie hereinbrechen sollte. Die Männer, die an diesem längst vergangenen Morgen ihre Pferde sattelten, waren Mitglieder des Dritten Regiments. Es war eine berittene Truppe Freiwilliger, die von dem ehemaligen Methodistenprediger John M. Chivington angeführt wurde. Er war unter dem Spitznamen »Fighting Parson«

3 4

Vgl. Hoig 1961. Vgl. Utley 1984: 92.

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(»Kämpfender Pfarrer«) bekannt.5 Chivington hatte zunächst überlegt, seine Truppen weiter nach Norden und Osten an den Republican River zu führen, wo weitere Schlachten gegen viele andere Stämme stattfanden. Er beschloss aber, sie stattdessen zum Sand-Creek-Lager von Black Kettle zu leiten, wobei er sich bewusst war, dass dieser sich bereits ergeben hatte. Es war aber näher und sicherer. Seiner Ansicht nach waren alle Indianer Freiwild, egal ob sie feindlich waren oder nicht. Chivington ist berüchtigt für seine Befürwortung der Ermordung aller Indianer, Säuglinge eingeschlossen, mit der Begründung, dass »nits make lice.«6 Sowohl in den Zeitungen Colorados, als auch in der öffentlichen Meinung, war man scharf mit Chivington und seinen Soldaten umgegangen, weil sie im Kampf gegen die Indianer nicht aktiv genug gewesen seien. Die lokale Presse in Denver hatte seine Soldaten die »Bloodless Third« genannt, eine Beleidigung, die bei Chivington und seinen Männern sicherlich nicht gut ankam. Das beeinflusste ohne Zweifel seine Entscheidung das Lager anzugreifen.7 Nicht alle seiner Männer waren jedoch mit seiner Entscheidung einverstanden. Ein paar seiner Offiziere argumentierten, dass ein Angriff auf die Black Kettle-Gruppe gegen das ihnen gegebene Schutzversprechen verstieße. Daher sei der Angriff Mord. Chivington geriet in Rage und schrie: »Damn any man who sympathizes with Indians! I have come to kill Indians, and believe it is right and honorable to use any means under God’s heaven to kill Indians.«8 Als an diesem kalten Novembertag der Morgen graute, entsandte Chivington seine 700 Männer. Manche schnitten den Weg zwischen Pferdeherde und Dorf ab, andere bewegten sich entlang des Sand Creek zu den Tipis. Außer einigen Frühaufstehern, hauptsächlich Frauen, die auf dem Weg zu den Quellen waren und den Lärm hörten, war für die meisten das Stampfen der Hufe und das Feuern der Gewehre die erste Warnung. Die Truppe fegte schnell in einer breiten Linie in Richtung Lager und feuerte wahllos auf jeden, den sie sahen. Viele Cheyenne und Arapahoe hatten keine Chance. Als sie aufwachten und aus ihren Tipis kletterten, um zu sehen was los war, wurden sie erschossen. Einigen gelang die Flucht entlang des Baches, doch auch hier wurden noch viele erschossen. Nachfolgende Berichte beschrieben, wie einige Soldaten sich einen perversen Spaß daraus machten, weglaufende

5 6 7 8

Vgl. Utley 1984: 88 Vgl. Brown 1970: 89 (Übersetzung: »aus Nissen werden Läuse«). Vgl. Utley 1984: 92. Zitiert nach Brown 1970: 85 (Übersetzung: »Verdammt sei jeder Mann, der mit den Indianern sympathisiert! Ich bin gekommen, um Indianer zu töten und halte es für richtig und ehrenhaft, alle Mittel unter Gottes Himmel zu nutzen, um Indianer zu töten.«).

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Kinder zu erschießen.9 Die Opfer waren vor allem Frauen und Kinder, da die meisten Männer auf Büffeljagd waren. Von den etwa 500 Menschen im Lager waren nur etwa 60 Krieger oder alte Männer. Der Rest waren Frauen, Kinder und Säuglinge. Ein Augenzeuge beschrieb wie Häuptling Black Kettle als der Angriff begann, eine amerikanische Flagge schwenkte und seinen Leuten sagte, keine Angst zu haben, da das Lager unter dem Schutz der US-Regierung stünde. Einigen Berichten nach wurde auch eine weiße Flagge während des Angriffs gezeigt. Aber nichts half. Nachdem viele seiner Dorfbewohner erschossen worden waren, floh Black Kettle und überlebte das Massaker. Ein anderer prominenter Cheyenne-Anführer, White Antelope, ging mit erhobenen Händen auf die Truppen zu und blieb in der Mitte des Baches mit seinen Armen vor der Brust verschränkt stehen, um zu zeigen, dass sein Volk nicht kämpfen wolle. Diese Geste, so tapfer sie auch war, war vergebens und auch er wurde erschossen. Es beteiligten sich nicht alle der Soldaten an der Schießerei. Captain Silas Soule, der sich zuvor gegen den Angriff ausgesprochen hatte und dafür von Chivington bedroht wurde, befahl seinen Männern das Feuer nicht zu eröffnen. Entsetzt standen seine Männer und er als passive Beobachter einfach da. Es war schnell vorbei. Obwohl viele Berichte voneinander abweichen, scheint es, dass etwa 150 Cheyenne und Arapahoe getötet wurden. Nachdem der Angriff vorüber war, begannen die Soldaten die Tipis zu plündern, die Verwundeten zu töten, Frauen zu vergewaltigen, die Leichen zu skalpieren und verstümmeln.10 Spätere Zeugenaussagen ergaben, dass vielen der Leichen Finger und Ohren abgeschnitten worden waren, so wie auch die Hodensäcke einiger der männlichen Opfer, um daraus Tabakbeutel zu machen. Die Geschlechtsteile von Frauen wurden rausgeschnitten und auf Sattelhörnern und Stöcken zur Schau gestellt. Captain Soule schilderte die Gräueltaten im Detail in einem Brief an seinen ehemaligen Kommandeur. Dort heißt es: »You would think it impossible for white men to butcher and mutilate human beings as they did there, but every word I have told you is the truth, which they do not deny.«11 Die »Bloodless Third« war nicht mehr blutlos. Noch auf dem Schlachtfeld begann Chivington, Nachrichten an seinen Kommandeur und die Zeitungen zu senden, in denen er das Massaker als einen großen Kampf und Sieg hervorhob. Captain Soule und eine Reihe andere Offiziere

9 Vgl. Congress of the United Staates 1865: 27. 10 Vgl. Hatch 2004. 11 Roberts / Halaas 2001: 327 (Übersetzung: »Man würde es bei weißen Männer für unmöglich halten, Menschen so abzuschlachten und zu verstümmeln, wie es hier getan wurde. Aber jedes Wort, das ich hier geschrieben habe, ist die Wahrheit, die auch jene nicht leugnen.«).

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befürworteten stattdessen eine andere Ansichtsweise und plädierten für die Strafverfolgung von Chivington.12 Die Reaktionen auf dieses Massaker ließen nicht lange auf sich warten. Obwohl die lokale Presse und viele der Menschen in Colorado den Angriff für gerechtfertigt hielten, waren die Ansichten auf nationaler Ebene anders. Als Nachrichten über das Massaker bekannt wurden, wurden zwei Untersuchungsausschüsse in der Armee und einer im Kongress gebildet. Insbesondere der Bericht des Kongressausschusses war vernichtend. Wörter wie Mord, Barbarei und abartige Grausamkeit wurden verwendet, um die Vorgänge zu beschreiben. Der Ausschuss schrieb auch: »It is difficult to believe that beings in the form of men, and disgracing the uniform of United States soldiers and officers, could commit or countenance the commission of such acts of cruelty and barbarity as are detailed in the testimony«.13

In Bezug auf Chivington folgerte der Ausschuss: »As to Colonel Chivington, your committee can hardly find fitting terms to describe his conduct. Wearing the uniform of the United States, which should be the emblem of justice and humanity; holding the important position of commander of a military district, and therefore having the honor of the government to that extent in his keeping, he deliberately planned and executed a foul and dastardly massacre«.14

Wie kann man das sogenannte Sand-Creek-Massaker definieren? Das Massaker ist zum Sinnbild für die Behauptung geworden, Indianer seien Opfern eines Völkermords geworden.

3. Der Begriff des Völkermordes Vor einer Beurteilung des Sand-Creek-Massakers sollte man einen Überblick zum Begriff des Völkermords gewinnen. Das Wort wurde erstmals 1944 in 12 Vgl. Kelman 2013. 13 Congress of the United Staates 1865: iv (Übersetzung: »Es schwer zu glauben, dass Wesen in Form von Männern, die Uniform der Soldaten und Offiziere der Vereinigten Staaten schändend, in der Lage sind, solche Grausamkeit und Barbarei, wie in dem Bericht beschrieben wurde, zu begehen oder zu dulden.«). 14 Congress of the United Staates 1865: v. (Übersetzung: »Hinsichtlich Oberst Chivington kann Ihr Ausschuss kaum passende Worte für sein Verhalten finden. Er trug die Uniform der Vereinigten Staaten, die das Emblem für Gerechtigkeit und Menschlichkeit sein sollte; und in der wichtigen Stellung des Kommandeurs eines Militärbezirks, durch die er die Ehre der Regierung repräsentierte, hat er absichtlich ein bösartiges und heimtückisches Massaker geplant und durchgeführt.«).

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der Veröffentlichung Axis Rule in Occupied Europe des polnischen Anwaltes Raphael Lemkin geprägt.15 Lemkin war es auch, der die neugegründeten Vereinten Nationen davon überzeugte, den abstrakten Begriff des Völkermords in das Völkerrecht aufzunehmen. Im Dezember 1948, nach jahrelangen Debatten und Ausschussarbeit, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen Völkermord als ein Verbrechen unter dem Völkerrecht.16 Nach Jahren der Nichtbeachtung hat sich Völkermord somit von einem unzureichend definierten und nur von einer Handvoll Wissenschaftler benutztem Wort zu einem weitverbreiteten Begriff entwickelt, der von vielen Menschen und nicht nur Akademikern verstanden und verwendet wird. Aus diesem Grund wird das Etikett Völkermord immer häufiger von Personen und Gruppen genutzt, die Aufmerksamkeit für das Schicksal und die Erfahrungen der Indianer einwerben möchten. Dies ist hauptsächlich vom Kampf um Anerkennung motiviert, der durch die weite Verbreitung des Wortes Völkermord und dessen Rolle in zeitgenössischer Identitätspolitik verstärkt wurde. Die Darstellung der Geschichte der Ureinwohner Nordamerikas als Genozid wurde oft von großem Widerstand begleitet. Warum ruft der Begriff Völkermord so starke Reaktionen hervor? Ein Teil der Antwort beruht auf den fortlaufenden Bemühungen vieler indianischer Gruppen ein historisches Trauma zu überwinden, ihre Kulturen wiederzubeleben, ihre Identität geltend zu machen und von der modernen amerikanischen Gesellschaft ihre Stammesautonomie zurückzufordern.17 Ein Teil der Antwort ist auch der Tatsache geschuldet, dass seit seiner Begriffsschöpfung im Jahr 1944, Völkermord in den Köpfen vieler Menschen das abscheulichste aller Verbrechen darstellt. Diese Wahrnehmung beruht auf der Vergleichsperspektive zum Holocaust, wohl eines der am besten erforschten und meistdiskutierten Ereignisse der Weltgeschichte. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind Konzentrationslager und der Holocaust zum Sinnbild für Völkermord schechthin geworden. Totenkopf-Insignien und Gaskammern stehen allgegenwärtig und synonym für das ungezügelte Böse. Durch die Assoziation mit dem Holocaust wurde Völkermord zur ultimativen Menschenrechtskatastrophe, ja zum Maß aller Katastrophen. Neuere Beispiele des Völkermords an Orten wie Bosnien, Ruanda und Darfur haben diesen Begriff zurück ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins gebracht. Völkermord ist ein ikonisches Wort geworden, das für die grausamsten Verhaltensweisen von Menschen gegenüber Menschen steht. 15 Vgl. Lemkin 2005; siehe dazu auch Power 2002. 16 Vgl. LeBlanc 1991: 1. 17 Vgl. Nielsen / Robyn 2009.

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Raphael Lemkin prägte das Wort Völkermord in der Überzeugung, dass die existierende Terminologie nicht das volle Ausmaß und die Art der von den Nazis begangenen Verbrechen erfassen konnte.18 Begriffe wie Massenmord und Kriegsverbrechen umfassten demnach nicht das breite Spektrum der Taktiken, der Systematik oder der Mordabsichten im Holocaust. Der Begriff Völkermord wurde konzipiert, um eine vermeintliche Lücke in der Sprache für bestimmte Arten von Straftaten zu füllen. Welche anderen Worte gibt es schon, die das gleiche Ausmaß an Abscheulichkeit oder den gleichen Umfang moralischer Verdammung bedeuten? Deshalb scheint es für einige Personen und Gruppen so wichtig, das Wort Völkermord auch nachträglich auf das Leiden einer Opfergruppe in der Vergangenheit anzuwenden. Nur das Wort Völkermord scheint ausreichend, um das Leiden einer Bevölkerungsgruppe zu beschreiben, zumal dann, wenn es sich um die eigene Gruppe handelt und die Folgen immer noch sichtbar und anhaltend sind. Daher neigen manche Gruppen auch zur Annahme, ihre Geschichte und ihr Leid würden vernachlässigt, wenn die Viktimisierung ihrer Gruppe nicht die Definitionskriterien für Völkermord erfüllt. Wenn das Wort Völkermord das schlimmste Schicksal ist, das einer Gruppe widerfahren kann, das eigene Leid sich aber nicht als Völkermord herausstellt, dann wird die Viktimisierung dieser Menschen auf eine Art als geringer wahrgenommen. Im schlimmsten Fall führt dies dazu, dass das Leiden der einen Opfergruppe dem einer ähnlich verfolgten, anderen Gruppe übergeordnet wird. Es scheint, als gäbe es eine perverse Art der Opferhierarchie, in der manche mehr als andere gelitten hätten. Diese leicht nachvollziehbaren Gefühle offenbaren, warum die Definition und Anwendung des Völkermordbegriffs solch ein angespanntes und politisiertes Thema ist. Und dies trifft sowohl für Akademiker als auch für Aktivisten und andere zu, sei es in Deutschland, den USA oder anderswo. In den USA, wo die Beziehungen zwischen Indianern und Angloamerikanern immer noch von der Vergangenheit belastet sind, ist dies besonders virulent relevant. Kaum weniger brisant ist die Diskussion aber auch in Deutschland, wo sich die Faszination für Indianer oft um das Studium der Kultur und Geschichte verschiedener Stämme dreht, aber auch um den Vergleich mit dem selbst verübten Genozid. Da Lemkin sein Konzept mit Blick auf den Holocaust entwickelte, um diese Form der Massengewalt zu kriminalisieren und sie fest im internationalen Rechtssystem zum Zwecke der Abschreckung und Strafverfolgung zu verankern, ist die Anwendung auf die Indianer in den USA komplizierter als man denken mag. In vielerlei Hinsicht stellt sie sich als fehlerhafte 18 Vgl. Alvarez 2001.

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Definition heraus, die umstrittene Bedeutungen ermöglicht hat. Um als Rechtsinstrument wirksam zu sein, verlangt zum Beispiel die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords einen gewissen Grad an Absicht, der oft auch als »gezielte Absicht«, »spezielle Absicht (dolus specialis)« oder sogar »Völkermordabsicht« bezeichnet wird.19 Um als Völkermord bezeichnet werden zu können, müssen die mörderischen Handlungen die Zerstörung einer bestimmten Gruppe zur Absicht haben. Umgekehrt ist die Zerstörung einer Gruppe ohne diese spezielle Absicht nicht als Völkermord qualifizierbar. Zudem muss – um als Völkermord anerkannt zu werden – etwas nicht nur vorsätzlich begangen werden, sondern auch dem ausdrücklichen Ziel des Mordes einer Bevölkerungsgruppe dienen. Dieses Element der gezielten Beseitigung ist bei genauerer Untersuchung der verschiedenen Ereignisse, die den ersten Begegnungen folgten, und den Erfahrungen verschiedener Indianergruppen nicht immer vorhanden. Die überwiegende Zahl der Indianer wurde durch Krankheiten getötet. Die große Mehrheit der durch Krankheiten verursachten Todesfälle war unbeabsichtigt, und es gibt keine Beweise für eine weitreichende und gewollte Verbreitung von Infektionen durch die Europäer. Dies macht die Todesfälle nicht weniger tragisch, aber wenn man sich auf die Definition von Völkermord beruft, die auf dem Begriff der Absicht beruht, dann sind die auf Krankheiten zurückzuführenden Tode nicht automatisch Völkermord. Auch wenn die US-Regierung manchmal Ziele verfolgte, die vorsätzlich zerstörend auf die einheimische Bevölkerung wirkten, so wurden andere Male Richtlinien für Zugeständnisse und ein Nebeneinander eingeführt. Die Regierung verfolgte somit unterschiedliche Ziele zu verschiedenen Zeitpunkten und Orten und mit verschiedenen Stämmen, die nicht alle in ihrer Ausrichtung oder ihrem Endergebnis zerstörerisch waren. Wie lässt sich das in unser Verständnis von Genozid einbeziehen? Des Weiteren zeigt sich, dass nicht alle Gewalt vom Staat orchestriert wurde. Die meisten Auffassungen von Völkermord gehen davon aus, dass Genozid weitgehend von Regierungen als Teil einer offiziellen oder inoffiziellen Strategie verübt wird. Häufig waren jedoch Milizen und Bürgerwehren, LynchMobs und andere Organisationen an der Gewalt gegen die Indianer beteiligt. Wenn auch diese Aktionen viele oder alle Merkmale des Völkermords erfüllen, so passte dies nicht unbedingt in die staatliche Politik. Was bedeutet es, dass die Regierung manchmal versucht hat, die Ureinwohner vor den völkermör19 Vgl. Schabas 2009: 260 – 264; siehe auch: The International Criminal Tribunal for Rwanda: »Proseuctor v. Jean-Paul Akayesu«, Case no. ICTR-964-T (2. Dezember 1998).

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derischen Aktionen der lokalen Gruppen zu schützen, oder aber, wie im oben beschriebenen Fall von Sand Creek, den Mord an Indianern verurteilte? Zu berücksichtigen ist außerdem, dass über mehrere hundert Jahre des Kontakts die formelle und informelle Politik der spanischen Regierung nie mit den französischen, britischen, niederländischen oder amerikanischen Regierungen koordiniert wurde. Die Franzosen waren beispielsweise nicht daran interessiert, große Mengen von Siedlern in die Kolonien zu schicken. Sie waren mehr am Pelzhandel als an Land und Besiedlung interessiert und kultivierten profitable Beziehungen zu den einheimischen Stämmen. Diese Beziehungen waren daher in der Regel weit weniger konfrontativ und feindselig als die der Briten, die weit mehr an Landerwerb und einer Besiedlung durch britische Bürger interessiert waren. Zudem variierte die Politik von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort und einzelne Regierungen verfolgten manchmal gleichzeitig widersprüchliche Linien. Die Spanier kämpften zum Beispiel häufig mit zwiespältigen Impulsen der brutalen Eroberung durch komplette Vernichtung und friedlicher Bekehrung zum Christentum – ein Widerspruch zwischen Eroberung und Bekehrung oder zwischen Gold und Gott. Die Jesuiten und Dominikaner waren hauptsächlich an der Bekehrung der Indianer zum Christentum interessiert, die Unternehmer an der Ausbeutung der Arbeitskraft der Einheimischen und die politischen und militärischen Führer waren daran interessiert, Territorium zu gewinnen, zu konsolidieren und zu schützen. Jedes dieser Ziele führte oft zu Spannungen und Widersprüchen in der spanischen Politik und seiner Ausführung. Es gab nie eine einheitliche und konsequente Politik der Ausrottung. Das soll nicht heißen, dass die Bekehrungspolitik harmlos war, sondern vielmehr, dass sie ein konkurrierendes Ziel zur physischen Vernichtung darstellte. Wenn koloniale Politik über Jahre widersprüchlichen Zielen diente, so veränderten sich auch mitunter einzelne Personen im Laufe der Zeit. Der junge Thomas Jefferson romantisierte beispielsweise die edlen und heldenhaften Wilden, während der ältere Jefferson die Eingeborenen für ein Hindernis westlicher Expansion hielt und Pläne schmiedete, sie von ihrem Land zu vertreiben. Wie ist es möglich, angesichts dieser Tatsachen von einem Völkermord zu sprechen? Der Punkt ist wiederum, dass, wenn es um Völkermord und Urbevölkerungen geht, die Realität viel komplizierter und differenzierter ist als sie vielleicht zunächst erkennen lässt. Der Zweck dieser Diskussion ist nicht Haarspalterei, sondern vielmehr, darauf hinzuweisen, dass Vorsicht angebracht ist, wenn man die Indianer Amerikas als Opfer eines Völkermords bezeichnen will. Dies bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Anspruch des Völkermords hinsichtlich der indianischen Bevölkerung ungültig ist, aber es verlangt mit Sicherheit, dass solche Behauptungen genauer bewertet werden

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müssen. Der verstorbene Soziologe und Völkermordforscher Irving Louis Horowitz fasste diese Ansicht zusammen und schrieb: »It may seem terribly harsh to make surgical distinctions between varieties of death and the varieties of cruelty. But that is precisely the challenge that social science research must confront in the study of genocide. Such careful distinctions are made not for the purpose of choosing between forms of evil but in order to evaluate what consequences these evils bring about.«20

Horowitz deutete damit an, dass wir behutsam sein müssen, den Begriff des Völkermordes auf jede Gräueltat anzuwenden. Wenn der Begriff Völkermord allumfassend wird, verliert er an Bedeutung.

4. Das Sand-Creek-Massaker und die Frage des Völkermordes Um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren, kann man fragen, ob das Massaker von Sand Creek Teil eines größeren Vernichtungsplans war, der als Völkermord definiert werden kann. Es stimmt zwar, dass keine Anzeige gegen den kommandierenden Offizier erstattet wurde, aber es ist auch wahr, dass Chivington zum Rücktritt gezwungen wurde und seine Karriere ruiniert war. Wäre das Massaker Teil eines Plans der Regierung zum Völkermord gewesen, dann wäre wohl kaum zu erwarten, dass die Armee oder der Kongress die oben erwähnten Ermittlungen angestellt hätten. Angesichts der damaligen Stimmungslage kann man auch nicht davon ausgehen, dass diese Ermittlungen ein zynisches Manöver waren, um die wahre Politik und Absichten der Regierung zu verschleiern. Stattdessen bekommt man beim Lesen der verschiedenen Berichte das Gefühl, dass zumindest auf nationaler Ebene echte Empörung über das Massaker herrschte. Es ist offensichtlich, dass Chivingtons Gesinnung und Handlungen zu Recht als Genozid verstanden werden können und dass er dabei von einer großen Anzahl Männer und Frauen aus dem Colorado-Territorium unterstützt wurde. Allerdings muss beachtet werden, dass Colorado zu diesem Zeitpunkt die Siedlungsgrenze (»Frontier«) war, wo viele Siedler sich von den ansässigen Stämmen bedroht fühlten. Im Frühling und Sommer 1864 gab es auch Berichte über Massaker und Angriffe von Indianern auf Weiße und eine 20 Horowitz 1997: 39 (Übersetzung: »Es mag furchtbar harsch erscheinen, zwischen den Arten des Todes und den Arten der Grausamkeit chirurgische Unterschiede zu machen. Genau das ist aber die Herausforderung, mit der die sozialwissenschaftliche Forschung die Völkermordstudien konfrontieren muss. Solche sorgfältigen Unterscheidungen dienen nicht dem Zweck der Wahl zwischen den Arten des Bösen, sondern um einzuschätzen, welche Folgen dieses Übel trägt.«).

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Reihe gut publizierter Morde an Siedlern.21 Beispielsweise wurde im Juni 1864 die Familie Hungate auf eine Art und Weise getötet, die ein Gefühl der Panik unter den Menschen im Colorado-Territorium verbreitete. Augenzeugen berichteten in einem Schreiben: »The party from the mill and himself, upon reaching the place, had found it in ruins and the house burned to the ground. About 100 yards from the desolated ranch they discovered the body of the murdered woman and her two dead children, one of which was a little girl of four years and the other an infant. The woman had been stabbed in several places and scalped, and the body bore evidences of having been violated. The two children had their throats cut, their heads being nearly severed from their bodies. Up to this time the body of the man had not been found, but upon our return down the creek, on the opposite side, we found the body. It was horribly mutilated and the scalp torn off.«22

In den Monaten vor dem Massaker gab es Geschichten wie diese im Überfluss und sie dienten dazu, ein Gefühl der Hysterie und Panik unter den Bürgern Colorados zu erzeugen. Es ist aufschlussreich, dass zu Beginn des Massakers Chivington seinen Männer angeblich mehrere Male sagte, »remember the murdered women and children on the Platte.«23 Im Laufe der Ermittlungen und bis ans Ende seiner Tage verteidigte Chivington seine Taten am Sand Creek mit Verweisen auf indianische Grausamkeiten. In einer Rede im Jahr 1883 erklärte er zum Beispiel: »What of that Indian blanket that was captured, fringed with white women’s scalps? What says the sleeping dust of the two hundred and eight men, women, and children, emigrants, herders, and soldiers who lost their lives at the hands of these Indians? I say here, as I said in a speech one night last week – I stand by Sand Creek.«24 21 Vgl. Kelman 2013; siehe auch Svaldi 1989. 22 Abgedruckt in: The War of the Rebellion 1891: 354 f. (Übersetzung: »Er selbst und die Truppe von der Mühle erreichten die Stätte und fanden sie in Ruinen und das Haus niedergebrannt. Etwa 100 Meter von der verwüsteten Ranch entfernt, entdeckten sie die Leiche der ermordeten Frau und ihrer beiden toten Kinder, eines war ein kleines Mädchen von vier Jahren, das andere ein Säugling. Die Frau war skalpiert worden und zeigte Stichwunden an mehreren Stellen und der Körper zeigte Zeichen der Vergewaltigung. Die Kehlen der beiden Kinder waren durchschnitten, ihre Köpfe fast von ihren Körpern getrennt. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Körper des Mannes nicht gefunden worden, aber auf unserem Rückweg am Bach entlang fanden wir den Körper auf der anderen Seite. Er war schrecklich verstümmeltet und der Skalp abgerissen.«). 23 Zitiert nach Hoig 1961: 147 (Übersetzung: »denkt an die ermordeten Frauen und Kinder am Platte«). Platte ist der amerikanische Name eines Flusses in Colorado. 24 Zitiert nach Hoig 1961: 176 (Übersetzung: »Was ist mit der beschlagnahmten indianischen Decke die mit den Skalps weißer Frauen gesäumt war? Was sagt der ruhende Staub der 208 Männer, Frauen und Kinder, Emigranten, Hirten, und Soldaten, die ihr Leben durch die Hand dieser Indianer verloren? Ich sage hier, was ich schon in einer Rede an einem Abend letzte Woche sagte – ich stehe zu Sand Creek.«).

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Es spielte keine Rolle, dass Berichten zufolge am Sand Creek nur ein weißer Skalp gefunden wurde. Die Rhetorik übertrumpfte die Realität. Rassistische und menschenverachtende Einstellungen gegenüber den Eingeborenen auf Seiten der Weißen waren in Colorado an der Tagesordnung und führten viele zu dem Schluss, dass Vernichtung die Antwort auf das Problem sei. Ein prominenter Redakteur einer Zeitung in Colorado schrieb: »If there be one idea that should become an axiom in American politics, it is That the Red Man Should be Destroyed.«25 Ein Pfarrer, der im Jahr 1864 Colorado besuchte, berichtete ähnlich: »There is but one sentiment in regard to the final disposition which shall be made of the Indians: ›Let them be exterminated men, women and children together.‹ They are regarded as a race accursed, like the ancient Canaanites, and like them, devoted of the almighty to utter destruction.«26

In ähnlicher Weise schrieb ein Missionar an seine Frau: »There is no sentimentality here on the frontier respecting Indians. […] Indians are all the same, a treacherous and villainous set. I would rejoice, as would every man in Colorado to see them exterminated.«27 Wenn dies die allgemeine Meinung der weißen Bevölkerung in Colorado war, sollte man da überrascht sein, wenn die meisten Rekruten des Dritten Regiments diese Art des genozidalen Hasses teilten? Jahre nach dem Massaker am Sand Creek schrieb ein Teilnehmer: »At the time the 3rd Colorado regiment was raised, the idea was very general that a war of extermination should be waged; that neither sex nor age should be spared; and women held these views in common with men […] and one often heard the expression that ›nits make lice, make a clean thing of it.‹«28

25 Zitiert nach Svaldi 1989: 117 (Übersetzung: »Wenn es eine Ansicht gibt, die ein Grundsatz in der amerikanischen Politik werden sollte, dann ist es, dass der rote Mann zerstört werden sollte.«). 26 Zitiert nach Svaldi 1989: 120 (Übersetzung: »Es gibt nur eine Meinung in Bezug auf den endgültigen Verbleib der Indianer: ›Lasst sie ausrotten, Männer, Frauen und Kinder gemeinsam.‹ Sie sind als eine verfluchte Rasse zu betrachten, wie die alten Kanaaniter, und wie sie, der Zerstörung des Allmächtigen ergeben.«). 27 Zitiert nach Svaldi 1989: 120 (Übersetzung: »Hier im Grenzgebiet gibt es keinerlei Mitgefühl, das die Indianer respektiert. […] Indianer sind alle gleich, eine heimtückische und abgefeimte Gruppe. Ich würde mich, wie jeder Mann in Colorado, freuen, sie ausgerottet zu sehen.«). 28 Zitiert nach Svaldi 1989: 118 (Übersetzung: »Zu dem Zeitpunkt als das Dritte Regiment in Colorado bereitgestellt wurde, war die Meinung weit verbreitet, dass ein Vernichtungskrieg geführt werden sollte; dass kein Geschlecht oder Alter verschont werden sollte; und Frauen vertraten die gleichen Ansichten wie Männer […] und man hörte häufig den Ausdruck ›Nissen machen Läuse, macht eine saubere Angelegenheit daraus.‹«).

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Daher gab es einen tiefen Graben im Denken und Handeln zwischen den Menschen in Colorado, den Regierungsvertretern in Washington und der breiten Öffentlichkeit an der Ostküste. Chivington und seine Männer waren die Produkte einer Grenzkultur, die aus Angst und Rassismus Indianer hasste und sie auszurotten versuchte, während diejenigen, die weiter vom unmittelbaren Grenzleben entfernt waren etwas humanere Einstellungen und Ansichten gegenüber den nordamerikanischen Indianern hatten. Während Chivington Völkermord beging, der der Logik der meisten Menschen in Colorado entsprach und somit systemisch war, widersprach nicht nur die Regierung der Vereinigten Staaten, sondern auch der allergrößte Teil der amerikanischen Öffentlichkeit, der diese genozidale Logik nicht teilte.

5. Der Völkermord an Indianern in Kalifornien Weniger bekannt als die oben diskutierten Beispiele, aber vielleicht deutlicher in ihrer genozidalen Art sind die Massaker an den Indianern in Kalifornien. Als die Spanier im Jahre 1769 zum ersten Mal im heutigen Kalifornien ankamen, wurde die Zahl der dort lebenden Indianer auf 310 000 bis 340 000 geschätzt.29 Am Ende der spanischen Herrschaft in Kalifornien im Jahr 1821 hatte sich diese Zahl um rund ein Drittel auf 200 000 reduziert. Nach der Entdeckung von Gold im Jahre 1848 wurde der Bevölkerungsrückgang noch drastischer, bis am Ende der 1850 er-Jahre die indigene Bevölkerung nur noch etwa 30 000 betrug.30 Dieser dramatische Rückgang war weitgehend das Ergebnis hemmungsloser Gewalt und Brutalität gegenüber den kalifornischen Indianern während des Goldrauschs. Vor dem ersten Kontakt gehörten die Indianer von Kalifornien vielen kleinen Stämmen und Klans an und bewohnten geografisch und klimatisch äußerst unterschiedliche Gegenden. Diesen Gruppen gehörten die Pomo, Miwok, Tolowa, Chumash, Cupeño, Yana, Maidu und Salinan an, um nur einige zu nennen. Einigen Meinungen nach war Kalifornien aufgrund der Vielfalt des Landes und des milden Klimas die am dichtesten besiedelte Region Nordamerikas.31 Das Leben dieser Stämme war über Generationen relativ unverändert geblieben, aber das alles begann sich zu ändern, als die Spanier im Jahr 1769 im heutigen San Diego begannen, ihre erste Mission zu erbauen. Die Ankunft der Spanier läutete ein Zeitalter der Ausbeutung 29 Champagne 1994: 301. 30 Cook 1976: 59 f. 31 Vgl. Anderson / Barbour 1998: 12 – 47; siehe auch Champagne 1994.

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und Kolonialisierung ein.32 Im Namen der Bekehrung und der Zivilisation erschufen die Spanier eine Reihe von Missionen entlang der Westküste. Neben der Ausbreitung des Christentums dürfte dabei jedoch auch der Hintergedanke der Schaffung einer fügsamen und gehorsamen Arbeiterschaft eine wichtige Rolle gespielt haben. Der Mexikanisch-Amerikanische Krieg von 1846 bis 1848, in dem Mexiko die Hoheitsgewalt über Kalifornien verlor, beendete offiziell die spanische Herrschaft. In der Tat stellten sich viele der Indianer auf die Seite der Amerikaner, um dabei zu helfen, die verhassten Unterdrücker loszuwerden. Leider wurde nur ein Unterdrücker durch einen anderen ausgetauscht. In 1848 entdeckten Arbeiter von Sutters Sägewerk am American River Gold und lösten damit einen Ansturm aus, der tragische Folgen für die einheimische Bevölkerung Kaliforniens haben sollte. Nachdem der Fund bekannt wurde, strömten Hunderttausende potenzieller Glückssucher aus der ganzen Welt nach Kalifornien. Manche kamen über Land, während andere, vor allem aus dem Ausland, auf dem Seeweg eintrafen. Nach dem Andocken in San Francisco waren viele Schiffe nicht in der Lage wieder Segel zu setzen, da ihre Besatzungen oft verschwanden, um dem Goldrausch zu folgen. Die Zahlen beschreiben die Ausmaße des Zustroms. Im Jahre 1845 lebten nur etwa 7 000 Einwanderer in Kalifornien. Binnen sechs Monaten nach der Entdeckung des Goldes sprang diese Zahl auf 60 000 und 1850 war die Bevölkerung bereits auf mehr als 150 000 angestiegen.33 Die Spanier hatten sich fast ausschließlich auf einem dünnen Streifen entlang der südlichen Küste niedergelassen, diese Neuankömmlinge aber durchstreiften das ganze Land, das heute als Kalifornien bekannt ist, auf der Suche nach Gold und etablierten Minenlager, Siedlungen und Landansprüche. Zwangsläufig führte das zu vielen gewalttätigen Auseinandersetzungen, die wiederum zu mehr Gewalt führten. Die »49er«, wie man die Goldsucher nannte, verschmutzten Bäche, stöberten Wild auf, fällten Bäume und eigneten sich das Land der Indianer an. Die Auswirkungen dieser Neuankömmlinge auf das traditionelle Leben der kalifornischen Indianer und deren Möglichkeiten, sich selbst zu ernähren, waren schwerwiegend und schädlich. Manchmal griffen Indianer Goldsucher, Einwanderer, und / oder Siedler an. Andere Male wurden sie des Stehlens beschuldigt, aber unabhängig vom vordergründigen Anlass war die Rache üblicherweise rasch, übertrieben und willkürlich. Jeder beliebige Indianer oder Stamm musste herhalten. Ganze Dörfer und Stämme wurden 32 Vgl. Sandos 1998: 196 – 229. 33 Vgl. Stanley 1997: 62.

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sowohl für wahre als auch vermeintliche Zwischenfälle, mit denen sie oft nichts zu tun hatten, ausgerottet. Bei Betrachtung dieser Zeit erkennt man verschiedene Gruppen in Kalifornien, die viele große und kleine Massaker verübten. Eines der Massaker veranschaulicht den Ablauf. Dieses Massaker geschah im Jahre 1849, nachdem zwei weiße Viehzüchter eine Ranch in der Nähe von Clear Lake, ein wenig nördlich von San Francisco und der Bay Area, gründeten. Sie nötigten und beuteten die ansässigen Pomo-Indianer aus und zwangen sie, für sie zu arbeiten. Berichten zufolge vergewaltigten sie auch etliche Frauen. Das Maß war irgendwann voll und die Pomo töteten die beiden Männer. Als Reaktion darauf traf im Mai 1850 die US-Armee ein, umzingelte das Dorf und tötete jedermann. Ein Teilnehmer beschrieb es als »a perfect slaughter pen.«34 In diesem einen Massaker wurden 135 Männer, Frauen und Kinder getötet. Ein anderer Teilnehmer sagte, dass die Opfer fielen »as grass before the sweep of the scythe.«35 Das Clear Lake-Massaker war kaum einzigartig und wiederholte sich an vielen Orten in ganz Kalifornien. Im Jahre 1853 wurden 450 Tolowa am Smith River getötet und den Säuglingen, die das Gemetzel überlebten, band man Gewichte an und warf sie anschließend in den Fluss.36 Im Februar 1860, in einem anderen bekannten Massaker, ruderten die Weißen zu einer Insel in der Humboldt Bay und töteten 188 Wiyot-Männer, -Frauen und -Kinder.37 Diese wenigen schrecklichen Beispiele beschreiben eine Auswahl dessen, was in jeder Hinsicht Völkermord an den kalifornischen Indianern war. Dieser Prozess des Tötens beschleunigte sich während der 1850 er- und 1860 er-Jahre. Zudem wurde er systematischer und bürokratischer. Städte begannen, Belohnungen für den Beweis eines getöteten Indianers zu zahlen. Als Beweis konnte man verschiedene Körperteile wie Skalps, Arme oder Hände vorzeigen. Die Stadt Shasta zum Beispiel zahlte fünf Dollar für jeden Kopf während die Stadt Honey Lake 25 Cent pro Skalp zahlte.38 Örtlich ansässige Gemeinden bildeten manchmal Milizen, dessen einzige Funktion es war, alle ihnen über den Weg laufenden Indianer zu jagen und zu töten. Viele dieser Gruppen reichten regelmäßig Forderungen für die Rückerstattung von Ausgaben bei der Regierung des Staates Kalifornien ein, die auch bezahlt wurden. Allein in den Jahren 1851 und 1852 wurde eine Milion Dollar für 34 Zitiert nach Trafzer / Hyer 1999: 18; siehe auch Heizer 1974 (Übersetzung: »ein perfektes Schlachtfeld«). 35 Zitiert nach Stanley 1997: 67; siehe auch Heizer 1974 (Übersetzung: »wie Gras vor dem Schwung der Sense«). 36 Vgl. Stanley 1997: 68. 37 Vgl. Stanley 1997: 68 f. 38 Vgl. Trafzer / Hyer 1999.

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solche Erstattungen ausgezahlt. Die kalifornische Regierung unterstützte eindeutig diese Ausrottungspolitik, und die freiwilligen Milizen fungierten praktisch als inoffizielle und informelle Agenten der staatlichen Politik. Mehrere kalifornische Gouverneure befürworteten ausdrücklich die Ausrottung der Indianer, insbesondere John McDougall und Peter Burnett. Gouverneur Burnett sagte vor dem California State Legislature 1851: »A war of extermination will continue to be waged between the races until the Indian race becomes extinct.«39 Diese Art Einstellung wurde oft von vielen kalifornischen Zeitungen reflektiert, die auf ähnliche Weise die Völkermordrhetorik befürworteten. So schrieb beispielsweise die Sacramento Placer Times: »it is now that the cry of extermination is raised.«40 Die Sprache der Vernichtung wurde auch von anderen aufgegriffen. So tönte die San Francisco Daily Alta California: »there will be safety then, only in a war of extermination«41, während der Marysville Herald schrieb: »the northern settlers [will visit] their savage enemies with a thorough and merciless war of extermination.«42 Der Shasta Herald schrieb: »the initial steps have been taken, and it is safe to assert that the extinction of the tribes who have been to settlers such a cause of dread and loss, will be the result.«43 Die Humboldt-Times druckte die Schlagzeile »Good Haul of Diggers – Band Exterminated« und ließ eine andere folgen: »Good Haul of Diggers – Thirty-Eight Bucks Killed, Forty Squaws and Children Taken.«44 Andere Zeitungen beschrieben das Töten als »Weißen Kreuzzug« und offenbarten eine Denkweise, welche die Gewalt gegen Indianer mit einem heiligen religiösen Kampf gleichgesetzte. Das wahllose Massentöten wurde durch das gängige Bild der kalifornischen Indianer erleichtert, welches diese als weniger menschlich darstellte. Es ist kein Zufall, dass die Sprache der Vernichtung so oft von den weißen 39 Peter Burnett, Message to the California State Legislature, 7. Januar 1851 (in: California State Senate Journal 1851: 15). (Übersetzung: »Ein Vernichtungskrieg wird weiter zwischen den Rassen geführt werden bis die indianische Rasse ausstirbt.«). 40 Zitiert nach Secrest 2003: xiv (Übersetzung: »Es ist jetzt, dass der Schrei der Vernichtung erschallt.«). 41 Zitiert nach Secrest 2003: xiv (Übersetzung: »Es wird nur durch einen Vernichtungskrieg Sicherheit geben können.«). 42 Zitiert nach Secrest 2003: xiv (Übersetzung: »Die nördlichen Siedler werden ihre wilden Feinde mit einem gründlichen und gnadenlosen Vernichtungskrieg [aufsuchen].«). 43 Zitiert nach Heizer 1974: 268 f. (Übersetzung: »Die ersten Schritte sind getan, und man kann behaupten, dass das Aussterben der Stämme, die für Siedler solch ein Grund für Furcht und Verluste waren, das Ergebnis sein wird.«). 44 Zitiert nach Stanley 1997: 67 (Übersetzung: »Gute Digger-Ausbeute – Stamm ausgerottet« und »Gute Digger-Ausbeute – 38 Bucks getötet, 40 Squaws und Kinder gefangen genommen«). Digger ist ein abwertender Ausdruck für Indianer, der auf das Ausgraben von Wurzeln beruht.

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Siedlern genutzt wurde, um die Verwüstung, unter der die Indianer leiden mussten, zu beschreiben. Vernichtung und Ausrottung sind Begriffe, die sich auf die Beseitigung von Insekten und Schädlingen beziehen. Ihre Nutzung zeigt, dass für viele Siedler die kalifornischen Indianer keine Menschen waren. Daher rief das Töten nicht die gleiche Reaktion hervor, wie das Töten eines Mitmenschen. Um es mit den Worten der Soziologin und Genozidforscherin Helen Fein auszudrücken: Die Indianer wurden als außerhalb des »universe of human obligation«45 angesehen, oder wie ein zeitgenössischer Kommentator die Situation zusammenfasste: »in all the frontier settlements of California, there are many men who value the life of an Indian just as they do that of a coyote, or a wolf, and embrace every occasion to shoot them down.«46 Dabei muss man bedenken, dass viele der Neuankömmlinge in einer Gesellschaft aufgewachsen waren, die mit Bildern und Geschichten über die Verwüstungen durch die »roten Wilden« übersättigt war. Ihre Geschichten waren nicht die romantisierten Vorstellungen von James Fenimore Cooper oder Karl May. Die kalifornischen Zeitungen fütterten auch das Feuer der Engstirnigkeit und Intoleranz durch das Abdrucken schrecklicher Geschichten über die Gewalttaten und Grausamkeiten, die Weißen angeblich von Indianern zugefügt worden waren. Zudem beschrieben die Zeitungen die Entschmenschlichung der Indianer mit Beschreibungen, dass sie »grazed in the fields like beasts and ate roots, snakes, and grasses like cattle, like pigs, like dogs […] and like hungry wolves.«47 Die Assoziation von wilden und gefährlichen Tieren mit Indianern als Rechtfertigung für deren Ermordung wird im folgenden Zitat auf die Spitze getrieben. »We can never rest in security until the red skins are treated like the other wild beasts of the forests.«48 Jedoch nicht jeder billigte diese negative Einstellung. Einige Weiße waren von der Gewalt angewidert, während andere ihre Meinung erst im Verlauf der Zeit änderten. Ein vormaliger Teilnehmer der Gewalttaten bereute zum Beispiel seine Taten ein wenig und schrieb: 45 Fein 1993: 36 (Übersetzung: »Universum menschlicher Verpflichtung«). 46 Zitiert nach Stanley 1997: 68 (Übersetzung: »In all den Grenzgebieten Kaliforniens gibt es viele Menschen, die das Leben eines Indianers genauso viel wertschätzen, wie das eines Kojoten oder eines Wolfs, und jede Gelegenheit ergreifen um sie abzuschießen.«). Das Zitat stammt von einem Indianeragenten names Redick McKee. 47 Zitiert nach Stanley 1997: 66 (Übersetzung: »Sie grasten in den Feldern wie Tiere und frassen Wurzeln, Schlangen, und Gräser, wie Rinder, wie Schweine, wie Hunde und wie hungrige Wölfe.«). Das Zitat stammt aus dem San Francisco Chronicle. 48 Zitiert nach Stanley 1997: 66. Das Zitat stammt aus der lokalen Humboldt County-Zeitung (Übersetzung: »Wir können niemals in Sicherheit ruhen, bis die Rothäute wie die anderen wilden Tiere des Waldes behandelt werden.«).

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Alex Alvarez / Stefanie Kunze »To say the truth, I was not entirely satisfied with myself […] We invade a land that is not our own, we arrogate a right through pretense of superior intelligence and the wants of civilization, and if the aborigines dispute our title, we destroy them.«49

Immerhin zeigt dieses späte Reuegefühl ein Bewusstsein für die Ungerechtigkeit der Situation. Dieses unterdrückte Bewusstsein von Ungerechtigkeit führte bei manchen zu der Überzeugung, dass zu ihrer eigenen Sicherheit, Indianer vom Kontakt mit Weißen ferngehalten werden sollten. Tatsächlich wurde das System der Reservate als Alternative zur Vernichtung ursprünglich in Kalifornien begründet. Das Ergebnis dieser Zeit der hemmungslosen Gewalt gegen Indianer war, dass in Kalifornien zur Jahrhundertwende nur noch rund 20 000 Indianer am Leben waren. Das Schicksal der Kalifornien-Indianer stellt eines der deutlichsten Beispiele für Völkermord in Nordamerika dar. Die Beweislage scheint recht klar: Viele, wenn nicht die meisten der Anglo-Amerikaner wollten die Indianer im US-Bundesstaat Kalifornien eliminieren. Völkermord war die Absicht. Die Massaker waren nicht isolierte Vorfälle, sondern Teil eines viel größeren und systematischen Schemas der Bedrohung, Gewalt und vollständigen Vernichtung. Dieses Beispiel unterscheidet sich jedoch von neueren Beispielen des Völkermords wie dem Holocaust dadurch, dass der Völkermord in Kalifornien nicht als das Ergebnis einer einheitlichen und abgestimmtem Politik erscheint, die von der Regierung, insbesondere nicht von der nationalen Regierung, initiiert und umgesetzt wurde. Im Gegenteil, es scheint eine Art der dezentralisierten Gewalt an der Basis zu zeigen, die auf extrem rassistische und verleumderische Ansichten über die kalifornischen Indianer basierte und dann nachträglich von der Regierung Kaliforniens, nicht jedoch der nationalen Regierung unterstützt wurde.

6. Schlussbemerkung Die oben beschriebenen Beispiele verkomplizieren einfache Antworten. Beide stehen für eliminatorische Absichten der Täter und der Frontier-Gesellschaften. Zumindest die Morde während des kalifornischen Goldrauschs waren zudem systematisch und nachträglich von der Regierung des Staates Kalifornien unterstützt. Weder in Sand Creek noch in Kalifornien billigte 49 Zitiert nach Secrest 2003: xiv (Übersetzung: »Um die Wahrheit zu sagen, war ich mit mir selbst nicht ganz zufrieden […]. Wir dringen in ein Land ein, das nicht unser eigenes ist, fordern durch Vortäuschung überlegener Intelligenz und den Bedürfnissen der Zivilisation ein Vorrecht ein, und wenn die Ureinwohner unseren Titel bestreiten, dann zerstören wir sie.«).

Indianer, der Holocaust und die Frage des Völkermords

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Washington oder die nationale Öffentlichkeit an der Ostküste diese Taten oder teilte die genozidale Absicht der Täter. Die Frage des Völkermords in Amerika ist daher eine viel kompliziertere Angelegenheit als oft angenommen. Zum Teil liegt das an der langen Zeitspanne und der Vielzahl von Stämmen und Erfahrungen sowie der unterschiedlichen Politik der verschiedenen Kolonisatoren. Auf Seiten der Europäer gab es zumindest am Anfang viele verschiedene Regierungen, die eine unterschiedliche Politik und eine Vielzahl von Beziehungen zu den Indianern entwickelten. Zudem waren die Politik und die Beziehungen nicht statisch, sondern veränderten sich im Laufe der Zeit, auch wenn sie sich zumeist für das Leben und die Kultur der indigenen Bevölkerung zerstörend auswirkten. Auch wenn viele Gräueltaten, insbesondere die hier geschilderten, als Völkermord definiert werden können, so kann das kaum auf den gesamten Prozess der gewaltsamen Landnahme der Weißen angewandt werden. Aufseiten der Indianer in Amerika gab es beispielsweise eine große Vielfalt von Stämmen und Stammesführern, die sich widersetzten, verhandelten, entgegenkamen, und ansonsten damit kämpften, die neuen Begebenheiten zu bewältigen und sich anzupassen. In der Bewertung der Frage des Völkermords ist es Tatsache, dass der Begriff, der das Leiden und / oder die Viktimisierung eines Volkes beschreibt, irrelevant für ihre Lebenserfahrung als menschliche Wesen ist. Während diese definitorischen Debatten wichtig sind, um dabei zu helfen, Vergangenheit und Gegenwart begrifflich zu fassen und zu verstehen, wird die Realitätserfahrung der Beteiligten von dieser Entscheidungen nicht verändert. Die Bedeutung und die Geltung von Ereignissen ist für diejenigen, die sie tatsächlich erlebt haben, immer eine andere, als für diejenigen, die sie aus intellektueller Ferne beurteilen. Die Tatsache, dass Akademiker, Wissenschaftler und Aktivisten über Definitionsfragen im Zusammenhang mit Völkermord streiten, vermindert nicht die Leidenserfahrungen oder Erinnerungen derjenigen, die sie durchlebt haben.

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III. Mittler zwischen USA und Bundesrepublik

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Feindbild – Fremdinszenierung Albert Speer in den Filmen des US-Militärs zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess *

Albert Speer in den Filmen des US-Militärs Feindbild – Fremdinszenierung. Albert Speer in den Filmen des US-Militärs zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess

1. Einleitung Aus den Filmen der US-Militärbehörden zum Nürnberger Prozess tritt dem Zuschauer ein Albert Speer entgegen, der für Verwunderung sorgen müsste. Der Speer der zeitgenössischen Wochenschau- und Dokumentarfilmberichterstattung scheint weder mit den Absichten der Anklage vereinbar noch entspricht er dem aktuellen Wissensstand zu seiner Person.1 Er tritt als Widerständiger, als skeptischer Zeuge aus dem Innersten des »Dritten Reichs«, als einer der wenigen Vernünftigen und als Kronzeuge für die Gefahren der Diktatur auf. Die folgenden Ausführungen nehmen diese Beobachtung zum Anlass, die Darstellung des Nazifunktionärs in den offiziellen Filmen der amerikanischen Militärbehörden vorzustellen und einen Erklärungsvorschlag zu unterbreiten.

2. Das US-Filmprojekt zum IMT: Hintergründe und Absichten Spätestens mit dem Angriff der Japaner auf US-Gebiet war die Zurückhaltung der USA bezüglich ihres Engagements im Krieg hinfällig geworden. Angesichts der zu erwartenden menschlichen, wirtschaftlichen sowie finanziellen Opfer *

1

Die folgende Darstellung beruht auf Ergebnissen eines DFG-geförderten Forschungsprojekts an der Philipps-Universität Marburg (»Das US-amerikanische Filmprojekt zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess: Ein Beitrag zur politischen Kultur Nachkriegsdeutschlands«). Die Ergebnisse beruhen unter anderem auf der Auswertung von Akten der US-Militärbehörden. In der Folge werden Quellenangaben nur dann gemacht, wenn es sich um ein konkretes Schriftstück oder einen überschaubaren Bestand (Archivkarton oder Akte) handelt. Die Aktenrecherche richtete sich vor allem auf den OMGUS-Bestand (Office of Military Government for Germany, United States) im Bundesarchiv Koblenz (BAK) und Bestände der in die Militärverwaltung für Deutschland und das Filmprojekt involvierten Behörden aus dem US-Nationalarchiv. Projekthomepage: www.uni-marburg.de/icwc/forschung/2weltkrieg/nuernberg/axel-fischer-filmprojekt-nuernberger-hauptkriegsverbrecherprozesse-politische-kultur-nachkriegsdeutschland – letzter Zugriff: 27.11.2017. Schmidt 1982, Sereny 1995, Van der Vat 1997.

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festigte sich die Absicht innerhalb der US-Regierung, dieses erzwungene Engagement mit modifizierten Außenpolitikzielen zu koordinieren. In den neuen Szenarien sollte Europa in ein verlässliches und kooperierendes Staatenensemble sowie einen für die USA lukrativen Partner verwandelt werden.2 Als Voraussetzungen dafür wurden die Demokratisierung nach US-Vorbild und die nachhaltige Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen angesehen. Ein funktionierendes Völkerrecht wurde ebenso wie die Etablierung von Rechtsstaatlichkeit in einem zu besetzenden Deutschland als unverzichtbar erachtet, um Stabilität zu garantieren. Im Rahmen dieses Szenarios nahm der Internationale Militärgerichtshof (International Military Tribunal – IMT) in Nürnberg eine wichtige Position ein – als völkerstrafrechtlicher Auftakt sowie als Lehrstück in Sachen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.3 Das völkerstrafrechtliche Ereignis sollte durch eine breite Öffentlichkeitswirkung ausstrahlen. Ein umfangreiches Public Relation-Programm der US-Militärbehörden schloss auch ein Filmprojekt mit ein. Die außen- und justizpolitischen Horizonte bildeten den Rahmen für das Filmprojekt zum IMT. Dieses brachte einen Kurzfilm (That Justice Be Done, USA 1945), zwei Beweisfilme (Nazi Concentration and Prison Camps und The Nazi Plan, beide 1945), die Wochenschau-Berichterstattung in der US- und in der britischen Besatzungszone (24 Berichte in Welt im Film, 1945 – 1946) sowie einen abendfüllenden Dokumentarfilm (Nürnberg und seine Lehre, 1948) hervor. Außerdem wurden während des Prozesses rund 35 Stunden Filmmitschnitte angefertigt, die für die Wochenschauen und den Dokumentarfilm eingesetzt, aber bei Weitem nicht ausgeschöpft wurden. Die Filmkampagne lief im Frühjahr 1945 an und erstreckte sich bis zur Aufführungsphase von Nürnberg und seine Lehre im Frühjahr 1949 über einen Zeitraum, in dem die weltpolitische Situation gravierenden Änderungen unterworfen war. Dies wirkte sich auf die Filmkampagne aus, die als sehr fokussierter politischer Kommunikationsakt angelegt war; der »Fokus« wurde mehrmals justiert – je nach Zielgruppe und weltgeschichtlicher Lage. Zunächst sollte der amerikanische Wähler und Steuerzahler durch den Kurzfilm einbezogen und für den Mammutprozess gewonnen werden; 2

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Trotz einer gewissen isolationistischen Grundhaltung haben die USA spätestens ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine offensive Außenpolitik verfolgt. Diese setzte durchaus auch militärische Mittel ein, zielte aber schwerpunktmäßig darauf, für den wirtschaftlichen Austausch – sicherlich zugunsten der US-Wirtschaft – stabile Verhältnisse zu erzeugen. Ein Hauptaugenmerk galt der Erzeugung von Gleichgewicht und Stabilität in Europa – ein Ziel, das sich mit den Pariser Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg als bedeutender Aspekt der US-Außenpolitik etablierte. Vgl. Lafeber 1989: 148 – 433. Vor diesem Gericht fand der Prozess gegen 24 Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 statt. Zur Einführung siehe Weinke 2006.

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weiter wurden durch die Filmkampagne Beiträge zur Führung des Prozesses (Überzeugung des Gerichts durch die Beweisfilme) wie zu seiner Wahrnehmung (Gestaltung der Außenwirkung des Verfahrens durch die Beweisfilme) angestrebt, wozu auch eine weitgehend kontrollierte Bildproduktion (35 Stunden Filmmitschnitte) zu dem Verfahren genutzt wurde; und schließlich sollten die Deutschen von der Rechtmäßigkeit des Verfahrens sowie von der Richtigkeit seiner Befunde und der Angemessenheit der Urteile überzeugt werden (Wochenschau-Berichte, Nürnberg und seine Lehre). In der Folge wird ausschließlich der letzte Aspekt verfolgt: der Teil der Filmkampagne, der für die deutschen Kinobesucher produziert wurde. Diese Teilkampagne fügte sich in die US-Informationspolitik ein, in deren Rahmen der Hauptkriegsverbrecherprozess in allen Medien und in möglichst vielen Organen repräsentiert sowie die Berichterstattung in eine favorisierte Richtung gelenkt werden sollte. Der Prozess stellte das bedeutendste Einzelberichtsthema der Nachkriegszeit in Deutschland dar.4 Die filmische Umsetzung konnte fragmentarisch und selektiv verfahren, da sie durch die Berichterstattung in den anderen Medien ergänzt wurde. Die Medienpolitik der US-Militärregierung für Deutschland stand im Dienst der Besatzungsaufgaben und sollte vorrangig die Zerstörung der organisatorischen sowie geistigen Grundlagen des Nazismus und die Bekämpfung des Militarismus beziehungsweise die Ausschaltung des militärischen Potenzials unterstützen. Der Großteil der Medienaktivitäten diente deshalb zunächst der Organisation des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Ordnung.5 Die Reeducation (und auch Unterhaltung) war dem vorerst noch nachgeordnet, gewann aber nach einer knapp viermonatigen Phase deutlich an Relevanz.6 Abgeleitet aus den politischen Zielsetzungen des IMT ergaben sich Vermittlungsschwerpunkte des Filmprojekts, die im Vorfeld ausgearbeitet und während der Produktionsprozesse der jeweiligen Einzelprojekte verfeinert wurden. Der Teilbereich der Kampagne, der für das deutsche Publikum 4

5

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Mit der Aufführungsphase von Nürnberg und seine Lehre von Herbst 1948 bis Sommer 1949 fiel die Kampagne zum IMT teilweise schon in eien Zeit, in der die Berichterstattung über Berlinblockade und Luftbrücke die Nachrichtenpublizistik beherrschte. Vgl. JCS 1067, Directive to Commander in Chief of United States Forces of Occupation Regarding the Military Government of Germany, April 1945 (abgedruckt in: Department of State 1950: 23). Als »tactical« oder »emergency phase« wurde die in der US-Besatzungszone unmittelbar auf die Kapitulation folgende Phase bezeichnet, die August 1945 von den US-Militärbehörden als abgeschlossen betrachtet wurde. (vgl. Military Government Weekly Information Bulletin Nr. 1, S. 6 und Nr. 5, S. 17.) In dieser Phase schalteten die Besatzungsbehörden sämtliche, das öffentliche und politische Leben sowie die Exekutive betreffenden deutschen Stellen aus und nahmen deren Aufgaben wahr. Von dieser »Nullstellung« aus wurde ein kontrollierter Neuanfang unternommen.

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entworfen wurde, verwirklichte neben den allgemeinen besondere Darstellungsabsichten, die sich aus der US-Besatzungspolitik ableiteten. Wie die Auswertung von Akten aus der Phase von Frühjahr bis Herbst 1945 ergibt7, war es den US-Behörden, vor allem der Anklagebehörde, wichtig, folgende Punkte durch die Pressepolitik zu realisieren: 1. 2. 3. 4. 5.

Vermittlung von Systematik und Ausmaß der Naziverbrechen. Verdeutlichung des amerikanischen Beitrags und der Haltung der USA. Demonstration der Fairness und Rechtsstaatlichkeit des Prozesses. Nachweis der individuellen Schuld jedes Angeklagten. Aufzeigen der differenzierten Beurteilung jedes Angeklagten durch Anklage und Gericht.

Die Punkte (1.) und (2.) waren durch den von den USA vertretenen Anklagepunkt »The Common Plan or Conspiracy« verbunden, in dem es – vereinfacht – darum ging, nachzuweisen, dass die Verbrechen Nazideutschlands das Ergebnis eines gemeinsamen, verschwörerischen Vorgehens einer Gruppe von Haupttätern waren (»Conspiracy«). Dieser Gruppe konnten sich dann, für lokal und zeitlich begrenzte Verbrechen, weitere Täter unterschiedlicher Hierarchieebenen angeschlossen haben (»Common Plan«). Dieses Schema, das auch die Briten ihrem Ahndungsprogramm zugrunde legten, sollte es ermöglichen, die Teilhabe an der verbrecherischen Kriegsführung und an Humanitätsverbrechen juristisch einfacher fassen zu können. Letztlich ging es auch darum, so ein wirkungsvolleres und leichter handhabbares völkerstrafrechtliches Instrumentarium zu schaffen, das den außenpolitischen Zielsetzungen dienen würde.8 Außerdem war den USA daran gelegen, ebenfalls vor allem im Hinblick auf ihre künftige weltpolitische Rolle und die Ausrichtung ihrer Außenpolitik, sich positiv von der sowjetischen Position abzusetzen. Die Punkte (3.), (4.) und (5.) dienten vor allem dazu, das Verfahren als ein rechtsstaatliches Fanal zu verankern. Auf dieser grundsätzlichen Vermittlungsstrategie aufbauend wurden Regeln für die Filmarbeiten fest7 8

Hier vor allem die Planungen Gordon Deans (vgl. National Archives and Records Administration RG 238 entry PI-21 51/26 und 27). Der IMT folgte dem ausschließlich im Hinblick auf die Führung eines Angriffskriegs. Bei den nationalen britischen und US-Prozessen bewährten sich jedoch »Common Design« beziehungsweise »Common Plan« für die Humanitätsverbrechen. Eingeführt wurde die Rechtsfigur bereits bei Verfahren gegen Personal der Konzentrationslager Bergen-Belsen und Dachau. Angeklagte sollten einfacher verurteilen werden können, wenn sie nachweislich zum KZ-Personal gehörten und durch ihre Mitwirkung gewissermaßen automatisch den Zielsetzungen der Einrichtung zustimmten, über diese auch informiert gewesen sein mussten sowie zu diesen durch ihre faktische Mittäterschaft beitrugen. Vgl. Lessing 1993 und Cramer 2011. Zur Unterscheidung zwischen »Common Plan« und »Conspiracy« vgl. Bryant 2007: 119.

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gelegt, die die Dreharbeiten während der Prozesse und die Postproduktion, sprich die Fertigstellung der Wochenschauen und des Dokumentarfilms betrafen.9 Durch die Konstellation Militärgeheimdienst /Anklagebehörde und den bevorstehenden IMT waren diese Überlegungen vor allem auf ein deutsches Publikum gerichtet. Hier wurden sowohl technische als auch formale, inhaltliche sowie ästhetische Aspekte berücksichtigt: – Vor allem im Hinblick auf die als ungenügend empfundene filmische Dokumentation des Charkow-Prozesses10 durch die Sowjets sollte für ausreichend Beleuchtung, Tonaufnahmemöglichkeiten sowie fest installierte und mobile Kameras gesorgt werden. – Die Filmaufnahmen sollten insbesondere die Angeklagten berücksichtigen und deren emotionale Reaktionen einfangen. Auch war es das Ziel, Eingeständnisse und Selbstbezichtigungen sowie Negativurteile über den Nationalsozialismus zu dokumentieren. – Als eines der wichtigsten Anliegen sollten die Filmarbeiten Würde sowie Integrität der Gerichte vermitteln und hierbei besonders das Auftreten der Ankläger sowie Richter berücksichtigen; dazu gehörte auch, die militärische Stärke und die Souveränität der gerichthaltenden Nation, vor allem der USA, zu vermitteln. – Angedacht war bereits das erzähltechnische Verfahren (das bei Nürnberg und seine Lehre umgesetzt wurde), die Angeklagten im Rahmen der Schilderung der Anklage visuell mit ihren Taten in Form zwischengeschnittener Aufnahmen aus KZ oder anderer Tatorte zu charakterisieren; nicht zuletzt auch, um die Berichterstattung visuell beeindruckender zu gestalten. – Verhöre beziehungsweise Zeugeneinvernahmen sollten durch den Einsatz mehrerer Kameras und durch Schuss-Gegenschuss-Schnitte visuell ansprechend und die Dramatik steigernd umgesetzt werden. – Die zu erwartende Mehrsprachigkeit der Prozesse wurde als retardierendes und somit problematisches Element erkannt, das in der filmischen Erzählung geglättet werden sollte. Hierzu wurden zusammenfassende Voice Over-Kommentare und Zwischenschnitte empfohlen. 9

Mit konkreten Vorbereitungen zu Dreharbeiten beim IMT und anderen Kriegsverbrecherprozessen war der Militärgeheimdienst OSS (Office of Strategic Services) betraut, der in Absprache mit der Anklagebehörde erheblich zum Filmprojekt beitrug (vgl. bes. National Archives and Records Administration, RG 226 entry UD 90/12 & 15). 10 Der im Dezember 1943 abgehaltene Prozess gegen Mitglieder eines Einsatzkommandos bildete den Auftakt alliierter Kriegsverbrecherprozesse (vgl. einführend: Überschär 2008). Genau wie die dieses Prozesses, so diente auch die filmische Inszenierung des Prozesses gegen die Verschwörer des »20. Juli« als Orientierungspunkt, um eigene filmische Darstellungsstrategien innerhalb der US-Administration zu entwickeln.

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Ausfälligkeiten von Verteidigern, Angeklagten oder Zuschauern sollten unbedingt gefilmt werden, um die Dramatik der Prozesse einzufangen. – Die Darstellung der Beachtung der Prozesse durch die internationale Presse wurde als Mittel erkannt, um deren Bedeutung zu inszenieren. – Wichtige Prozessereignisse wie der Einzug der Richter, Plädoyers oder die Urteilsverkündungen waren besonders sorgfältig zu inszenieren, um, mit entsprechenden Kameraoperationen (Großaufnahmen, Schwenks, Gegenschnitten), die Dramaturgie voran zu treiben. – Schließlich sollten diese regierungsseitig hergestellten Filme auch als ausführliche historische Dokumente belegen, wie rechtsstaatlich, würdevoll und fair mit den Kriegsverbrechern umgegangen wurde – gewissermaßen als Selbstvergewisserung.11 Einige dieser Richtlinien waren sicher überambitioniert. Die Praxis sah oft wesentlich einfacher aus. Dies gilt vor allem für die Dachau Trials.12 Aber selbst die Filmaufnahmen vom Hauptkriegsverbrecherprozess und den zwölf Nachfolgeprozessen, für die erheblicher Aufwand betrieben wurde,13 blieben in einigen Punkten hinter den Empfehlungen zurück. So konnten beispielsweise aufwendige Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen nur in Ausnahmen realisiert werden. Die meisten Punkte aber dienten tatsächlich als Arbeitsgrundlage und erweisen sich als hilfreiche Hinweise bei der nachträglichen Aufschlüsselung der filmischen Darstellung des Prozesses und der erklärungsbedürftigen Inszenierung eines seiner Protagonisten.

3. Speers Darstellung Albert Speer war seit seiner Freilassung aus der Spandauer Haft eine prominente Persönlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und publizistisch erfolgreich wie sonst kein anderer lebender hochrangiger Nazi. Neben eigenen trugen auch die Publikationen anderer14 zu einem Bild von ihm bei, das 11 Diese Punkte sind fast vollständig in einem recht frühen Memorandum angelegt, das aufgrund seiner Lage in den Akten auf Juni 1945 datiert werden kann. Vgl. »A Note on the Film Record of the War Criminal Trials« (National Archives and Records Administration, RG 226 entry UD 90/12 folder 126). 12 Zu dieser Prozesskategorie vgl. einführend: Stiepani 2008. Vor allem vom sogenannten »Malmedyprozess« gibt es eine recht umfangreiche filmische Überlieferung. 13 Der Gerichtssaal in Nürnberg wurde mit erheblichem Aufwand umgebaut, um ästhetischen wie auch medientechnischen Anforderungen für die fotorealistische Reproduktion der Ge richtsverhandlung genügen zu können. Vgl. Fischer 2014: 633 – 635. 14 Zu denken wäre beispielsweise an die Biografie Fests (vgl. Fest 1999). Aber bei wissenschaftlichen Abhandlungen wie der Janssens kooperierte Speer (vgl. Janssen 1968).

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mit dem Begriff »geschönt« nur zurückhaltend beurteilt ist. Lange Zeit wurde von dem Architekten und Reichsminister für Bewaffnung und Munition (1942 – 1945) in populären Medienorganen15 ein Bild entworfen, das seinen Anteil an den Naziverbrechen nicht im Ansatz fasst. Es ist erstaunlich, aber die verharmlosenden Darstellungen des Nazifunktionärs konnten sich bis zu einem gewissen Maß auf die Filme des US-Militärs über den IMT stützen.

3.1 Bestandsaufnahme: Das filmische Material von Speer Albert Speers Präsenz in den von den US-Behörden hergestellten Filmen für und über den IMT ist zunächst vergleichsweise gering. In That Justice Be Done taucht er nur namentlich erwähnt auf der Liste der Angeklagten auf. Auch in The Nazi Plan, der die Verbrechensgeschichte Nazideutschlands chronologisch mit konfisziertem Filmmaterial aus deutscher Provenienz nacherzählt16 und dabei die Hauptschuldigen hervorhebt, nimmt Speer keine tragende Rolle ein. Bei den Dreharbeiten im Gerichtssaal wird ihm nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt, gerade einmal in 36 von über 400 Sequenzen des Rohmaterials17 ist er, meist im Hintergrund, zu sehen. Die Dauer seiner Auftritte im Zeugenstand (in dem Rohmaterial) beschränkt sich auf etwas über zwölf Minuten bei fünf Sequenzen.18 Zum Vergleich: Göring tritt in 23 Sequenzen mit einer Laufzeit von über zwei Stunden auf und selbst der Angeklagte Schacht kommt in vier Sequenzen auf eine Präsenz von fast einer halben Stunde. Speer dürfte also für die Filmemacher zunächst von untergeordnetem Wert gewesen sein. Zunächst, denn in der Wochenschau und dem Dokumentarfilm nimmt er verhältnismäßig viel Raum ein. Auch die ihm zuteil werdende Inszenierung und Positionierung kompensiert die anfängliche geringe Beachtung. Die Wochenschau-Folge 58 widmet sich in 15 Speer brachte nicht nur selbst mehrere autobiografische Bücher heraus, in denen er sich entsprechend positiv inszenierte, er kooperierte auch mit Zeitungen, Zeitschriften, Wissenschaftlern und Filmemachern, die dem selten wirklich Kritisches entgegenzusetzen hatten. Zusammenfassend vgl. Van der Vat 1997: 514 ff. 16 Vgl. näher Fischer 2014: 638 f.. 17 Zur Erklärung: Als Rohmaterial wird in der Folge dasjenige Filmmaterial bezeichnet, das von Kamerateams der US-Armee während der 13 Nürnberger Prozesse aufgenommen wurde. Es sind ungeschnittene, unveröffentlichte Filmmitschnitte, wie sie aus den Kameras kamen. Aus den Aufnahmen wurden zeitgenössisch die Wochenschau-Berichterstattung und zum Teil Nürnberg und seine Lehre montiert. Verwahrt werden die Aufnahmen unter der Signatur 111 ADC in den National Archives and Records Administration in College Park, MD in den USA. 18 Allerdings lässt die Auswertung der Wochenschau-Aufnahmen die Möglichkeit erkennen, dass es noch eine weitere Sequenz gegeben haben könnte. Speer bliebe aber selbst dann noch hinter einem so wenig prominenten Angeklagten wie Schacht zurück.

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ihrem Bericht über den Prozess (»Papen und Speer sagen aus. Anklagen und Enthüllungen«) zunächst dem Angeklagten von Papen (Laufzeit: 0:11:12 bis 0:11:39 = 0:00:27) und anschließend wesentlich ausführlicher sowie positiver (siehe unten) Speer (0:11:40 bis 0:13:22 = 0:01:42). Abgesehen von dem kurzen Auftritt bei der Urteilsverkündung im Film, die bei jedem verurteilten Angeklagten den ungefähr gleichen Zeitraum einnimmt, räumt Nürnberg und seine Lehre Speer zwei weitere Sequenzen ein (0:56:13 bis 0:57:05 und 0:59:45 bis 1:00:33 = 0:01:40). Speer tritt in deutlich über drei Minuten der Filme auf, die sich an die deutsche Bevölkerung richten. Wichtiger aber als die reine Dauer sind die Feststellungen, erstens, dass damit seine verhältnismäßig geringe Präsenz aus dem Ausgangsmaterial in überproportionaler Weise in die Veröffentlichungen einfließt und sich somit ein Hinweis auf die positive Einschätzung seines Auftritts vor Gericht für die Zwecke des Filmprojekts ergibt; sowie zweitens, dass die Inszenierung der Filmemacher seine eigene durchaus stützt, indem sie sie bestätigend aufgreift. Sowohl im Dokumentarfilm als auch in der Wochenschau-Berichterstattung werden seine Einlassungen als wichtig ins Bild gesetzt und als positive Beiträge gewertet.

3.2 Analyse der Speer-Auftritte Noch in einem der frühesten Drehbuchentwürfe zu Nürnberg und seine Lehre spielt Speer, abgesehen von seiner Erwähnung beim Urteil, keine Rolle.19 Ähnlich wie auch bei den Dreharbeiten im Gerichtssaal scheint seine Person vor allem dann an Relevanz gewonnen zu haben, als es an die konkreten Produktionsprozesse – die Sichtung des Filmmaterials und seine Montierung – gegangen ist. 3.2.1 Welt im Film-Ausgabe 58: »Papen und Speer sagen aus. Anklagen und Enthüllungen« Die Darstellung Speers in dem Wochenschau-Bericht ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich. Zum einen inszeniert sie Speer in einer bestimmten Weise, die sich von der Inszenierung anderer Angeklagter in den Wochenschauen abhebt. Zum anderen steht sie in deutlichem Kontrast zu der des Mitangeklagten von Papen, der im gleichen Bericht vorkommt. Die deutliche Abweichung der Inszenierung besteht dabei nicht nur in der unterschiedlichen 19 Vgl. »Nuremburg Trial Documentary Film – First Rough Draft Treatment« (National Archives and Records Administration, RG 153 entry A1 135/95 folder L-527).

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zeitlichen Präsenz, sondern erstreckt sich besonders auf inhaltlich-sprachliche und stilistisch-formale Verfahren. Wie die zeitlichen Angaben vermuten lassen, ist die Darstellung von Papens recht knapp; sie ist noch dazu auch recht pointiert und dies zum Nachteil des Angeklagten. Der wird ohne nähere Begründung als Opportunist (»seiner an Irrungen und Wirrungen reichen Karriere […] diente vielen Herren«) und verantwortungslos (»[…] versucht er sich nun entschieden zu distanzieren«) geschildert. Seinen vor Gericht vorgebrachten Argumenten wird kein Platz geboten. Der immerhin vor dem IMT Freigesprochene erfährt eine Fremdinszenierung, die seiner Darstellung keinen Raum gewährt. Der Angeklagte wird nicht im Originalton wiedergegeben. Der eingesprochene Voice-Over-Kommentar fällt ein äußerst negatives moralisches Urteil. Im Gegensatz dazu wird der Auftritt Speers (der sich zunächst im Zeugenstand einrichtet) bereits mit den Worten »Viel sensationeller verlief die Vernehmung des Angeklagten Speer« eingeleitet, wodurch bereits eine deutlich positiv konnotierte Präsentationsform gewählt wird. Schon die Titelgebung bezieht sich auf den durch den Voice-Over-Kommentar festgestellten Aussagegehalt Speers, wodurch die Wichtigkeit der Zeugenaussage hervorgehoben wird. Durch ein angedeutetes Schuss-Gegenschuss-Verfahren (Angeklagter – Anwalt) visualisiert, sowie durch einen Voice-Over-Kommentar sprachlich ausgeführt, wird die Einstellung Hitlers zum deutschen Volk in der Endphase des »Dritten Reichs« so übernommen, wie sie Speer wahrgenommen haben wollte. Musikalisch unterlegt ist diese Passage mit sich steigernden Streicherelementen. Der Voice-Over-Kommentar legt dann nahe, dass diese Einstellung und die daraus erwachsenden, zerstörerischen Befehle Hitlers es gewesen seien, die den Angeklagten dazu bewegt hätten, ein Giftgasattentat gegen den »Führer« zu verüben, dessen Planung er im Gerichtssaal »enthüllt« habe. Besonderes Gewicht erhalten diese »Enthüllungen« zusätzlich dadurch, dass sie in einer knappen, aber aussagekräftigen Passage im Originalton wiedergegeben werden: »Es blieb meiner Ansicht nach kein anderer Ausweg. In meiner Verzweiflung wollte ich diesen Schritt gehen, denn es war mir am Anfang Februar klar geworden, dass Hitler mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf das eigene Volk, den Krieg fortsetzen wollte. Es war mir klar, dass er bei einem Verlust des Krieges sein Schicksal mit dem des deutschen Volkes verwechselte und dass er in seinem Ende auch das Ende des deutschen Volkes sah. Es war außerdem klar, dass der Krieg so vollständig verloren war, dass auch die bedingungslose Kapitulation angenommen werden musste.«20

Aus der Passage wird auch klar, worin die im Titel erwähnten Anklagen bestehen; nämlich in solchen gegen Hitler. Der Kommentar fasst die weitere 20 Welt im Film, Ausgabe 58 (Timecode: 0:12:16 – 0:13:00).

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Aussage dann dahingehend zusammen, dass aufgrund einer baulichen Maßnahme am »Führerbunker« das Attentat vereitelt wurde. Der Kommentar schließt, die Musik wird lauter, dramatischer und endet mit einem furiosen Finale. Einbettung in den Berichtsverlauf sowie in den berichtsinternen Referenzrahmen (auch in Abgrenzung zu von Papen), Originalton und sprachliche Komponenten ergänzen sich zu einer Inszenierung Speers, die ihn in zweierlei Hinsicht auf positive Weise ins Licht setzt. Erstens zeigt sie ihn als einen, der die Gefahr Hitler erkannt habe; zweitens als einen, der zum Äußersten entschlossen gewesen zu sein schien, um weiteres Unglück von der deutschen Bevölkerung abzuwenden. Dass die Filmemacher sich dazu entschieden, hierfür auch einen Originalton zu nutzen, bewirkt, dass sich Speer direkt an die Zuschauer wenden und sich für sie aufopfernd stilisieren kann. Dies erzeugt in Ergänzung mit dem bestätigenden Kommentar nicht nur eine unangefochtene Selbstinszenierung, sondern darüber hinaus eine regelrechte Bestätigung durch die Fremdinszenierung in der Wochenschau. Angesichts der Produktionshintergründe erscheint diese Form der Inszenierung als stark erklärungsbedürftig. 3.2.2 Nürnberg und seine Lehre Der Dokumentarfilm zeigt Speer, abgesehen von der Urteilsverkündung, in zwei weiteren Situationen: während eines Kreuzverhörs mit dem US-Chefankläger Jackson und während seines vermeintlichen Schlussworts. Anders als in der Wochenschau wird Speer in der ersten Situation von einem Ankläger befragt. Das heißt, seine Befragung – im Sinn der Verfahrensordnung des IMT ein Kreuzverhör – erfolgt mit dem Ziel, die vorher von der Verteidigung gemachten Angaben im Sinn der Anklage zu modifizieren beziehungsweise zu hinterfragen. Während im Fall der Wochenschau der Verteidiger selbstverständlich bemüht war, seinem Mandanten Gelegenheit zu geben, sich möglichst positiv zu präsentieren, ist es hier der Ankläger, der fragt. Aber der befragt Speer zu einem konkreten Vorfall (am 23. April 1945 – also ebenfalls in der Endphase des »Dritten Reichs«), der im Zusammenhang mit dem Angeklagten Göring steht und der Speer abermals die Gelegenheit bietet, seine negativen Ansichten über Hitler zu äußern und sich von ihm zu distanzieren; übrigens nicht ohne die Gelegenheit zu nutzen, Hitlers Einschätzung über den Mitangeklagten Göring (Versager, korrupt, Morphinist) zu kolportieren. So wird Speer in den Filmen an die deutsche Öffentlichkeit ein zweites Mal dargestellt, wie er sich von nationalsozialistischen Führungspersönlichkeiten distanziert. Bemerkenswert ist auch, dass Speer in dem Film bereits als Insider und Zeuge aus dem innersten Führungskreis in Erscheinung tritt. Eine Rolle, die

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er nach seiner Haftentlassung 1966 besonders im Hinblick auf seine Zusammenarbeit mit Zeitschriften und Zeitungen aber auch in der eigenen publizistischen Tätigkeit immer wieder einnehmen wird, um seinen Marktwert zu erhalten.21 Der Ausschnitt mit Speer ist in eine Sequenz eingebettet, in der die Aussagen mehrerer Angeklagten (stark gekürzt) wiedergegeben werden. Der Film behandelt in diesem Abschnitt den »Fall der Verteidigung« der im Verfahrensrecht des IMT auf die Anklage folgte und der der Verteidigung die Möglichkeit bot, auf die Anklage zu reagieren sowie ihre Sicht vorzutragen. Wie die der anderen Angeklagten, die in der Sequenz auftreten, wird auch Speers Aussage im Originalton wiedergegeben, wobei einerseits der Angeklagte, andererseits Impressionen aus dem Gerichtssaal zu sehen sind. Jedoch: Während die anderen Angeklagten vor allem mit Filmmitschnitten von Aussagen repräsentiert werden, in denen sie sich meist wenig glaubwürdig von der eigenen Schuld zu befreien suchen, ist der Ausschnitt der Aussage Speers einer, in dem es nicht um ihn oder seine Taten geht. Er ist in der kurzen Sequenz vielmehr als intimer Kenner und Zeuge der Verhältnisse in der Endphase des »Dritten Reichs« gefragt und soll auf die Aufforderung Jacksons hin die Delegation möglicher Kapitulationsverhandlungen an Göring schildern. Hinzuzufügen wäre, dass Speer eine Erscheinung an den Tag legte, die sich positiv von der der meisten anderen Angeklagten unterschied. Die weitere Inszenierung weist wenig Bemerkenswertes auf. Bemerkenswert hingegen ist die Auswahl dieser Szene. Die Filmemacher richten den Fokus wieder nicht auf die Verbrechen Speers. Vielmehr setzen sie ihn als einen produktiven und erhellenden Mitwirkenden in Szene. Dem Angeklagten wird auch in dieser Szene ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit bei der Distanzierung zum »Führer« zugebilligt. Diese Distanz zum »Führer« und zum »Dritten Reich« ist es auch, die seinen nächsten Auftritt im Film thematisch prägt und bei dem die Aussage sogar noch weiter geht. Es handelt sich um einen Ausschnitt, der Speers Schlusswort darstellen soll, tatsächlich aber während seines Kreuzverhörs gefilmt wurde: »Die ungeheure Gefahr, die in diesem autoritären System liegt, wurde eigentlich erst richtig klar, in dem Moment, indem es dem Ende entgegen ging. In diesem Moment konnte man sehen, was das Prinzip bedeutete, dass jeder Befehl ohne Kritik durchzuführen sei. Alles das, was hier im Prozess vorkam an Befehlen, die ohne jede Rücksicht durchgeführt wurden, hat sich letzten Endes als ein Fehler erwiesen. Darum muss dieser Prozess ein Beitrag sein, um in der Zukunft entartete Kriege zu verhindern und die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens festzulegen.«22

21 Speer war zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt worden. Vgl. Weinke 2006: 55 f. 22 Nürnberg und seine Lehre (Timecode: 0:59:47 – 1:00:33). .

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Speer sitzt, wie einige andere Angeklagte auch, bei dieser Aussage nicht in der Anklagebank, sondern im Zeugenstand. Die Filmemacher übernehmen die appellartige Aussage, um das Schlusswort zu inszenieren,23 das eine positive Aussicht eröffnet, indem es aus der Perspektive eines vermeintlich geläuterten Angeklagten die Einsicht in die Sinnhaftigkeit des Prozesses erkennen lässt. Speer tritt als Angeklagter auf, der durch sein Insiderwissen und gewonnene Erkenntnisse zu einem revidierten und das bedeutet vernichtenden Urteil über Hitlerdeutschland, seine Verfassung und seine Verbrechen kommt. Er formuliert aber eben auch ein vorwärtsgerichtetes Programm.

3.3 Interpretation Speers Auftritte werden in den Filmen mit großzügigem Entgegenkommen inszeniert. Worin aber bestanden die tatsächlichen oder empfundenen Notwendigkeiten dies zu tun? Eine Annäherung an die Tätigkeit der Filmemacher sollte zunächst die praktische Dimension berücksichtigen. Sie mussten mit dem ihnen von den US Army-Kamerateams der zur Verfügung gestellten Material zurechtkommen. Das Material war wegen Ressourcenknappheit und der Auflage des Gerichts, nur während der Dauer von 25 Stunden24 bei der mündlichen Verhandlung zu filmen, limitiert. Die Filmmitschnitte stellen eine deutliche Reduzierung des Geschehens dar. Daraus wählten die Wochenschau-Macher Material aus, das aktuell war, relevante Prozessentwicklungen widerspiegelte und vor allem aus technischen beziehungsweise handwerklichen Kriterien heraus als tauglich bewertet werden konnte.25 Die Macher von Nürnberg und seine Lehre hatten die Schwierigkeit, dass ihre Art den Prozess zu resümieren, darauf hinaus laufen sollte, mit relevantem Filmmaterial eine sowohl einigermaßen chronologische wie auch den »Geist« der Anklage und die für erwiesen befundenen verbrecherischen Vorgänge adäquat repräsentierende 23 Auch bei anderen Angeklagten bedienen sich die Filmemacher bei der Inszenierung des Schlussworts verschiedener Zeugenaussagen im Zeugenstand, zum Beispiel Schacht, Frank und Schirach. Zur Einordnung der Sequenz: Die gezeigte Aussage wurde von Speer am 21. Juni 1946, also deutlich vor den tatsächlichen Schlussworten, gegenüber Jackson im Kreuzverhör gemacht. Vgl. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1948: 583. 24 Vgl. Fischer 2014: 651. 25 Oftmals war dies nicht der Fall. Ab Frühjahr 1946 nimmt die Wochenschau-Berichterstattung über den IMT merklich ab. In den Akten ist hierzu zu finden, dass laut der Informationsabteilung bei OMGUS (Information Control Division) die Verwertbarkeit der Aufnahmen abgenommen hätte. Vgl. Schreiben von Robert McClure vom 5. Mai 1946 (Bundesarchiv Koblenz 260/10/11-2/5).

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Filmerzählung zu kompilieren. Auch im Produktionsprozess zu diesem Film wurde auf den Mangel an brauchbaren Aufnahmen aus dem Gerichtssaal hingewiesen.26 Die knappe Ausgangslage des zur Verfügung stehenden Filmmaterials muss entsprechend berücksichtigt werden. Die behördlicherseits entwickelten und fixierten Zielsetzungen zur Filmkampagne tragen vor allem zum Verständnis bei. Zu den Konferenzen der Wochenschau-Redaktion sind keine Überlieferungen erhalten. Und auch im Schriftgut zur Produktion von Nürnberg und seine Lehre ist eine so konkrete Entscheidung, wie die über die Darstellung Speers, nicht nachweisbar. Welche Hinweise aber liefern die grundsätzlichen Darstellungsabsichten? Oben wurde darauf hingewiesen, dass die individuelle Beurteilung der Angeklagten deutlich gemacht werden sollte und dass Eingeständnisse beziehungsweise Meinungsänderungen der Angeklagten als positiv für das Filmprojekt eingeschätzt wurden. Die individuelle Beurteilung schloss auch die individuelle Schuldeinsicht beziehungsweise die Fähigkeit zu einer solchen Einsicht ein. Aus den demoskopischen Umfragen27 wird zudem ersichtlich, dass die US-Behörden den IMT als einen Lernprozess einschätzten und auch als einen solchen verankern wollten.28 Dieser Lernprozess kann durchaus auch auf einen Angeklagten übertragbar sein. Zudem war der Prozess als ein Auftakt einer sowohl sicheren wie auch demokratischen und rechtsstaatlichen Zukunft gedacht. Er sollte demnach weniger als eine rückwärtsorientierte Abrechnung, sondern vielmehr als eine vorwärtsgerichtete Aufarbeitung wahrgenommen werden.29 Dieser vorwärtsgerichtete, konstruktive Aspekt war aber angesichts des Verhaltens und der Glaubwürdigkeit der Mehrheit der Angeklagten kaum durch diese vermittelbar. Die Auswertung der Wochenschau-Ausgaben, die sich dem Prozess widmen,30 ergibt hinsichtlich ihrer Themenzusammenstellung, dass solche Ausgaben (1.) wenige innenpolitisch orientierte Berichte aufweisen; (2.) häufig mit Berichten gestaltet sind, die eher ins Boulevardeske gehen und (3.) in der Regel auch über Wiederaufbauleistungen berichten. Die Einbettung der Prozessberichterstattung tendiert in eine entsprechend konstruktive Richtung, wenn sie erkennbar darauf ausgerichtet ist, über die 26 Vgl. Weekly Report, 15. Mai 1947 (Bundesarchiv Koblenz 260/10/14-1/1). 27 Es handelt sich um sog. Public Opinion Surveys, die von der Militärregierung durchgeführt wurden, um die Besatzungspolitik abzustimmen. Sie bilden den Auftakt der Meinungsforschung in Westdeutschland. Vgl. Merritt 1995; zu den Umfragen selbst: Merritt 1980. 28 Vgl. Merritt 1980: Rollen 2, 3. 29 Die Eröffnungssequenz von Nürnberg und seine Lehre inszeniert den Prozess als in gewisser Weise erlösend – auch für ein deutsches Publikum –, weil er die Phase der Ungewissheit, wie ein solches Weltunglück geschehen konnte, beenden würde. 30 Es sind dies die Ausgaben: Welt im Film Nr. 17, 24, 26, 27, 29, 30, 31, 36, 38, 40, 41, 43, 44, 45, 46, 49, 50, 51, 58, 60, 63, 67, 71, 82.

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inhaltliche Zusammenstellung der Ausgaben die Prozessberichte positiv zu konnotieren. Die inszenierten Auftritte Speers mögen – vielleicht als Ausweg – eine der wenigen Möglichkeiten dargestellt haben, ein Mitglied aus dem Täterkreis zum glaubhaften sowie die Anklage stützenden Kronzeugen zu machen. Speers Rolle in den Filmen kann also auch als eine des stellvertretend Geläuterten verstanden werden, der seinen Landsleuten als Insider die Augen über die Abgründe des überwundenen Systems zu öffnen vermag. So verwunderlich die Speer-Inszenierung auch aus heutiger Perspektive ist, es lassen sich zumindest Hinweise finden und Deutungsansätze herausarbeiten, die das sehr freundliche Feindbild in der Fremdinszenierung zu plausibilisieren vermögen. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass der Speer, den die Filmemacher des US-Militärs erschaffen haben, kaum das Potenzial aufweist, zur Aufklärung über den Nationalsozialismus und eines seiner Haupttäter beizutragen. Vielmehr wäre zu fragen, ob die US-Filmemacher nicht tatsächlich dazu beitrugen, die Exkulpationsstrategie einer hoch rangigen NS-Persönlichkeit durch ihre Tätigkeit zu stützen. Und mehr noch. Wenn selbst ein solcher Insider sich glaubwürdig als Verführter gerieren konnte, der erst im letzten Stadium des Nationalsozialismus dessen»wahres Gesicht« erkannt haben wollte, wie hätten dann die meisten Volksgenossen ohne die Kenntnisse Speers das System entlarven können. Haben also die Filmemacher der US Army befördernd dabei gewirkt, eine der populären Entlastungsnarrative der Nachkriegszeit zu schaffen?

Literatur Bryant, Michael (2007): Dachau Trials – Die rechtlichen und historischen Grundlagen der US-amerikanischen Kriegsverbrecherprozesse, 1942 – 1947, in: Wolfgang Form et al. (Hg.), Historische Dimensionen von Kriegsverbrecherprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, Baden-Baden, S. 111 – 122. Cramer, John (2011): Belsen Trial 1945. Der Lüneburger Prozess gegen Wachpersonal der Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen, Göttingen. Department of State, United States of America (Hg.) (1950): Germany 1947 – 1949. The Story in Documents, Washington D.C. Fest, Joachim (1999): Speer. Eine Biographie, Berlin. Fischer, Axel (2014): Promoting International Criminal Law: The Nuremberg Trial Film Project and US Information Policy After the Second World War, in: Morten Bergsmo et al. (Hg.), Historical Origins of International Criminal Law, Brüssel, S. 623 – 653.

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Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (1948): Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Bd. 16, Nürnberg. Janssen, Gregor (1968): Das Ministerium Speer – Deutschlands Rüstung im Krieg, Berlin. Lafeber, Walter (1989) The American Age. United States Foreign Policy at Home and Abroad Since 1750, New York. Lessing, Holger (1993): Der erste Dachau Prozess (1945/46), Baden Baden. Merritt, Richard (1980) (Hg.): Merritt Collection on Public Opinion in Germany, Urbana (Mikrofilmedition). Merritt, Richard (1995): Democracy Imposed. U.S. Occupation Policy and the German Public, 1945 – 1949, New Haven / London. Persico, Joseph (1995): Nuremberg. Infamy on Trial, New York u. a. Schmidt, Matthias (1982): Das Ende eines Mythos. Speers wahre Rolle im Dritten Reich, Bern. Sereny, Gitta (1995): Das Ringen mit der Wahrheit. Albert Speer und das deutsche Trauma, Frankfurt / Wien. Stiepani, Ute (2008): Die Dachauer Prozesse und ihre Bedeutung im Rahmen der alliierten Strafverfolgung von NS-Verbrechen, in: Gerd Ueberschär (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943 – 1952, Frankfurt/M., S. 227 – 239. Ueberschär, Gerd: Die sowjetischen Prozesse gegen deutsche Kriegsgefangene 1943 – 1952, in: ders. (Hg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943 – 1952, Frankfurt/M., S. 240 – 261. Van der Vat, Dan (1997): Der gute Nazi. Albert Speers Leben und Lügen, Berlin. Weinke, Annette (2006): Die Nürnberger Prozesse, München.

Archivquellen Bundesarchiv Koblenz: OMGUS Bestand – RG 260: Records of U.S. Occupation Headquarters, World War II National Archive and Records Administration College Park, MD – RG111: Records of the Office of the Chief Signal Officer – RG 153: Records of the Office of the Judge Advocate General – RG 226: Records of the Office of Strategic Services – RG 238: National Archives Collection of World War II War Crimes Records

Marita Krauss

Politik-, Kultur- und Wissenschaftstransfers zwischen den USA und Deutschland nach 1945 Perspektiven und Überlegungen

Politik-, Kultur- und Wissenschaftstransfers zwischen den USA und Deutschland Politik-, Kultur- und Wissenschaftstransfers zwischen den USA und Deutschland nach 1945. Perspektiven und Überlegungen

1. Einleitung Deutsche Perspektiven sind in den transatlantischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht immer leicht von amerikanischen zu trennen: Vielfach wirkten nach 1933 deutsche Emigranten auf amerikanischer Seite an den deutsch-amerikanischen Beziehungen mit. Es handelt sich daher eher um eine Verflechtungsgeschichte:1 Wechselseitige Transfers spielten vielfach eine zentrale Rolle. Was ist genau unter Transfer zu verstehen. Reicht dafür schon ein Angebot oder muss man durch genaue Output-Analysen sicherstellen, dass die neuen Ideen und Methoden auch angewendet wurden? Will man den Prozess beschreiben und analysieren, welche Faktoren den Transfer möglich machten? Oder geht es um die Rezeption von Ergebnissen? Und liegen Politik-, Kulturund Wissenschaftstransfer auf der gleichen Ebene? Hierüber ließe sich viel diskutieren. In jedem Falle muss ein Transfer eingeleitet werden, es findet ein Prozess des Transfers statt und bestenfalls eine Integration des Neuen. Und auch in asymmetrischen Verhältnissen kann Transfer stattfinden. Dies ist wichtig mit Blick auf das Untersuchungsfeld. Drei Themenbereiche begleiten meine bisherigen Forschungen zum Fragenkomplex: Das ist der regionalgeschichtliche Blick auf München und Bayern unter amerikanischer Besatzung nach Kriegsende;2 das ist der umfängliche Bereich Emigration und Remigration3 sowie, damit in Verbindung, die Thematik des Wirkens von Gastprofessoren aus Emigrantenkreisen in Deutschland nach 1945.4 Aus diesen drei Forschungsfeldern werde ich im Folgenden einige Perspektiven entwickeln.

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Vgl. Werner / Zimmermann 2002. Vgl. Krauss 2007, Krauss 2005, Krauss 2004 a, Krauss 1993, Krauss 1985. Vgl. Krauss 2001, Krauss 2004 b. Vgl. Krauss 2008, Krauss 2006 a; dort auch jeweils umfängliche Literatur.

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2. Politik- und Kulturtransfers Die Diskussion über die Bedeutung der Nachkriegszeit unter amerikanischer Besatzung ist wieder in Bewegung gekommen. Die Interpretationen reichen von der Vorstellung, in dieser Phase der »Zusammenbruchsgesellschaft« habe das Chaos geherrscht5 über die zaghafte Vermutung, es habe doch eine »Umkehr« stattgefunden6 bis zur Interpretation dieser Jahre als Aufbruchszeit, als Inkubationszeit des Neuen, als Beginn der stabilen westdeutschen Nachkriegsdemokratie7. Auch etliche derjenigen, die nicht der »›Chaostheorie« anhängen, neigen vielfach dazu, die Phase der Besatzung zwischen Kriegsende und 1947 als »punitiv«, als Phase »karthagischer« Bestrafung der Deutschen zu interpretieren.8 Dies ist sicherlich auf die Außenwirkung der amerikanischen Direktive JCS 1067 zurückzuführen, die unter anderem das »Unconditional Surrender« festschrieb. Sie ist in mancher Hinsicht aber auch durch die Wahrnehmung der Besetzten bestimmt, die sich in den deutschen Archivalien abbildet und damit die Sichtweise der forschenden Historikerinnen und Historiker prägt.9 Das Selbstverständnis der deutschen Beamten, das sich in den Akten spiegelt, war trotz oder vielleicht sogar wegen der NS-Zeit kaum gebrochen. Sie sahen sich als die entscheidenden Akteure im politischen Feld und betrachteten misstrauisch die amerikanischen Anweisungen. In altbewährter Tradition versuchten sie auch, Unerwünschtes einfach auszusitzen oder zu unterlaufen; vielfach lässt sich ihre Haltung mit »Die haben doch keine Ahnung!« zusammenfassen. Der Blick auf die amerikanische Überlieferung macht jedoch deutlich, wie sehr die deutschen Verwaltungen von amerikanischen Weisungen und amerikanischer Hilfe abhängig waren und wie viel die Besatzer wussten.10 Die absolute Handlungsmacht der Besatzer war im Falle der deutschen Nachkriegssituation eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Transfer neuer politischer Ideen und Konzepte. Eine wichtige Rolle spielten dabei die deutschen Emigranten in amerikanischer Uniform, die als Initiatoren, als Vermittler oder als Kontrolleure tätig wurden. Zu Vermittlern wurden oft amerikanische Kulturoffiziere mit oder ohne deutschen Hintergrund, deren Rolle ich mir etwas genauer angesehen 5 6 7 8 9 10

Vgl. Wehler 2003. Vgl. Jarausch 2004; siehe auch Bauerkämper / Jarausch / Payk 2005. Vgl. Gerhardt 2005, Gerhardt 2007; siehe auch Prinz 1984. Vgl. Latzin 2005. Darauf lässt die Sicht etlicher Regionalstudien schließen, als Beispiel: Eckart 1988. Vgl. Krauss 2007.

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habe.11 Sie begleiteten sehr genau die Schritte in die Demokratie: Zunächst suchten sie unbelastete Lizenzträger für Theater, Zeitungen oder Verlage. Dann übertrugen sie ihnen die Verantwortung für Personal und Programm, behielten sich aber vor, die Ergebnisse vor dem Hintergrund demokratischer Spielregeln zu kontrollieren und zu kommentieren. Sie bemühten ich wie Walter Behr oder Gerard van Loon um Lizenzen für Theaterstücke und um Glühbirnen für die Straßenbahn, damit die Theaterbesucher überhaupt kommen konnten, sie vermittelten zwischen allzu frechen Kabarettisten und ihren oft humorlosen militärischen Vorgesetzten und sie schufen Lernräume der Demokratie wie Hans Habe mit der Neuen Zeitung in München.12 Die FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher, die dort seit 1947 als Journalistin arbeitete, berichtete: »Das war eine Denkschule, es war ein täglicher neuer Erfahrungszuwachs […] Und auch der Umgang mit uns war demokratisch und offen, und von daher gesehen habe ich eigentlich nach drei Jahren einen Vorsprung gehabt, wie ihn dann vielleicht die andern 20 Jahre später gehabt haben, die noch ganz autoritär und obrigkeitsstaatlich-hierarchisch gedacht haben.«13

Field Horine, der erste amerikanische Intendant von Radio München sagte am 31. Mai 1946: »Wir Amerikaner haben uns bemüht, nachdem deutsche Kräfte für den Betrieb des Senders gefunden waren, diese in jeder Weise zu unterstützen. Wir sahen und sehen unsere Aufgabe nicht darin, die deutschen Mitarbeiter zu bevormunden, sondern ihnen den Weg zu ebnen, und sie damit zu befähigen, einmal selbstverantwortlich den Sender München zu übernehmen. […] Er soll weder direkt noch indirekt das Werkzeug einer Regierung noch die Schachfigur einer einzelnen Gruppe oder Persönlichkeit werden, sondern frei, furchtlos und offen dem ganzen Volke dienen und damit einzig und allein die Bedingungen der Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit verfechten.«14

Der Transfer solcher Ideen funktionierte, weil man sich über die gemeinsame fachliche Ebene verständigen konnte; weil die deutschen Kulturschaffenden das Engagement der anderen Seite wahrnahmen und anerkannten; und weil man an einer gemeinsamen Sache arbeitete, dem demokratischen Wiederaufbau des Kulturlebens. Ehemalige Funktionseliten der NS-Zeit saßen zu dieser Zeit noch in Internierungslagern und konnten daher diese Prozesse nicht stören. 11 12 13 14

Vgl. Krauss 2005, Krauss 1993. Vgl. Krauss 2005: 142 – 151. Interview mit Hildegard Hamm-Brücher, in: Krauss 2002. Originalton Field Horine, in: Krauss 2006 b.

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Ein anderes Beispiel sind die Kommunalwahlen, die Lucius D. Clay, bis 1947 stellvertretender, dann leitender Chef der amerikanischen Militärregierung in Deutschland (OMGUS), schon für Januar 1946 ansetzte. Viele Kollegen hatten prophezeit, die Leute würden nicht wählen gehen. Clay erinnert sich: »Selbst Dr. Pollock, der beredtste Anwalt frühzeitiger Wahlen, teilte die Befürchtungen. Ich entsinne mich, dass ich ihm sagte, man müsse ins Wasser gehen, um schwimmen zu lernen; ich habe ihn wohl auch ein wenig aufgezogen: ein liberaler Professor der Staatswissenschaften versuche da, einem abgebrühten Soldaten, der das Militärregierungsgeschäft betreibt, in den Arm zu fallen, wenn dieser einem Volk, das seiner Stimme beraubt wurde, das Wahlrecht schnell zurückgeben wolle.«15

Clay behielt Recht: 86 Prozent der Wahlberechtigten gingen zu den Wahlurnen. In den USA, so bemerkte er, sei man bei Gemeindewahlen schon mit der Hälfte durchaus zufrieden. Durch kaum etwas anderes als durch Wahlen konnten die Besatzer besser demonstrieren, dass sie es mit der Demokratisierung ernst meinten und dass die ehemaligen »Feinde« eben nicht, wie von Goebbels immer wieder prophezeit, die Deutschen vernichten und versklaven wollten. Die Demokratie wurde so immer mehr zur greifbaren Alternative. Dies versuchte Clay auch im Verfassungsgebungsprozess des Jahres 1946 umzusetzen: Eine oktroyierte Verfassung sei das Papier nicht wert, auf dem sie stehe, eine Verfassung müsse vom Volk ausgehen, so die Überzeugung dieses großartigen Militärregierungsmannes. Wie die Arbeit von Barbara Fait zur amerikanischen Beteiligung an der bayerischen Verfassungsgebung von 1946 zeigt, verstanden es die von Clay geschickten Supervisoren sehr gut, die ganze Klaviatur von Ratschlägen und von »Suggestions« über inoffizielle Hinweise bis zu deutlichen Missfallensäußerungen zu spielen.16 Sie boten den Deutschen damit Kontrolle und Orientierung auf dem Weg des Neuanfangs. Über die Verfassung stimmte aber dann Anfang Dezember das bayerische Volk ab – es ist damit die bisher einzige bayerische Verfassung, die demokratisch bestätigt wurde. Neben der großen Demokratie wurde nach US-Tradition auch die kleine und lokale installiert: Das waren zum Beispiel die Bezirksausschüsse in den großen Städten, die eine Mitwirkung der Bürger in ihrem unmittelbaren Umfeld bis heute ermöglichen. Wir sehen hier Demokratisierung auf unterschiedlichen Ebenen und damit den Transfer als einen erfolgreichen Prozess. Aber auch die Kontrolle gehörte dazu. Ein Beispiel: Der aus München stammende Emigrant und amerikanische Militärregierungsoffizier First 15 Clay 1950: 107. 16 Vgl. Fait 1998.

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Lieutenant Frederick Wallach17, der als Entnazifizierungs- und »Labor«Offizier in Mindelheim tätig war, schickte am 15. September 1945 an mehrere Freunde in der Militärregierung ein Memorandum, in dem er mit substanziellen Belegen Zustände innerhalb der bayerischen Regierung unter amerikanischer Verwaltung kritisierte. Dazu gehörten die Einrichtung einer Art Berufungsinstanz für beamtete »Opfer« der amerikanischen Entnazifizierung durch den bayerischen Ministerpräsidenten und einer »Betreuungsstelle« für diese entlassenen Beamten; die ungebrochene Macht deutscher Autoritäten, die weiterhin Beamte einstellen konnten; das Wiedererstarken des bayerischen Partikularismus; das Beamten-Qualifikationssystem als Waffe gegen die Wirksamkeit der Entnazifizierung; die Aufweichung des Kriegsziels »Dezentralisierung« am Beispiel der Polizei; Behinderungen bei der Einstellung unbelasteten Personals. Wallachs Schlussfolgerung: Es sei zu überlegen, ob die Zulassung deutscher Autoritäten nicht zu früh gekommen sei. Wallachs Kritik schlug große Wellen: Am 28. September wurde der bayerische Ministerpräsident Schäffer entlassen, ebenso Teile seines Kabinetts und der ebenfalls kritisierte Chef des Landesarbeitsamtes von Schwaben.18 Nicht ohne Charme ist vor diesem Hintergrund die Bitte des Münchner Oberbürgermeisters Karl Scharnagl an die Militärregierung, doch in Bayern vor allem aus Bayern stammende Emigranten einzusetzen und nicht norddeutsche, die mit der Mentalität der Bayern nicht zurecht kämen.19 Der ehemalige Münchner Wallach, der vor seiner Emigration in die USA nach der Pogromnacht 1938 einige Monate im KZ Dachau verbracht hatte, sah Missstände sehr genau und benannte sie. Seine Kritik war jedoch auch die konsequente Weiterführung der amerikanischen »Mission« in Deutschland, der Konzepte der Umkehr und Reeducation, mit denen die Besatzer einen Kulturwandel in Deutschland herbeiführen wollten. Wallach wurde als Kontrolleur des Transferprozesses aktiv.

17 Ausführlich dargelegt in Krauss 2007. Laut Memorandum vom 29. Oktober des »Commanding Officer« des Regierungsbezirks (Detachment) Schwaben, der durch Ausbildung und frühere Tätigkeit, unter anderem in Köln, hervorragend qualifizierte Lieutenant Colonel Raymond L. Hiles, war Wallach in München geboren worden und lebte bis 1938 in Deutschland. Er verbrachte einige Monate im Konzentrationslager Dachau, bevor er über Freunde in England seine Entlassung erreichen konnte. Er ging unmittelbar in die Vereinigten Staaten, wurde eingebürgert, zur Armee eingezogen und nahm am OCS (Officer Candidate School) teil. Er wurde befördert und diente während des Krieges als Mitglied eines Kriegsgefangenen-Befragungsteams. Nach dem Krieg wurde er als Leiter der »Special Branch« in Mindelheim mit einer Militärregierungsaufgabe betraut. 18 Vgl. Gelberg 2003: 673 f. 19 Vgl. Klagen des Münchner Oberbürgermeisters Karl Scharnagl an die Militärregierung vom 20. November1946 (Stadtarchiv München, Bürgermeister und Rat 1876).

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Ganz ohne Friktionen konnte ja der Übergang in die neue Zeit nicht vor sich gehen. Auch die Research & Analysis Branch in der German Country Unit, in der etliche deutsche Emigranten an der Formulierung der amerikanischen Nachkriegspolitik im Rahmen des Handbook for Military Government of Germany20 mitwirkten, ging davon aus, dass »disorder and pain« im Zuge des Umwandlungsprozesses eintreten werde.21 Konstruktive Deutschlandpolitik implizierte also nicht automatisch, dass nicht auch ein gewisses Maß an »disorder and pain« dazu nötig sein würde. Für die Frage, wann denn nun der zweifellos erfolgte und erfolgreiche demokratische Neubeginn Westdeutschlands – und damit gewissermaßen der Output der Transferprozesse – seinen Anfang nahm, wird meist die Bedeutung der Jahre bis 1947 gering eingeschätzt, und erst die Phase der »Reorientation« ab 1947 als Beginn konstruktiver amerikanischer Politik angesehen.22 Doch der Bruch mit dem Nationalsozialismus, die äußere und vielleicht auch innere Entmilitarisierung, die Sehnsucht nach einem Weg aus dem Desaster, dies alles prägte schon die erste Phase der Besetzung, in der die neuen Konzepte von außen und die Traditionen von innen am härtesten aufeinander trafen. Das Leben stand nicht still in dieser »langen Stunde Null« bis zum Herbst 1945, während Tausende von Fragebögen geprüft wurden.23 Bereits in den ersten Monaten der Besatzungszeit, als es vorerst nur um das Nachkriegselend zu gehen schien, begann die Transformation, die letztlich in die Nachkriegsdemokratie mündete. Sie war sichtbar auf der Ebene der Richtlinien und des Handbook, auf der Ebene des Personals und auf der Ebene der alltäglichen und außeralltäglichen Umwandlung durch Läuterung und Supervision. Dieses Besatzungsprinzip setzte sich nach der Bewältigung der ärgsten Not immer mehr durch und war einer der Wege, Demokratie zu lehren, die sich ja nicht oktroyieren ließ. Dies geschah durch die zunehmende Übertragung von Verantwortung, beginnend mit der weisungsgebundenen Arbeit des Anfangs über die Mitwirkung in Advisory Councils bis hin zu freien Wahlen, die nicht durch Gängelung der Besatzer entwertet werden sollten. Die Supervision bot in dieser Phase die Möglichkeit, den Besetzten eine Plattform für Demokratie zur Verfügung zu stellen, zu beobachten, 20 Vgl. Handbook for Military Government of Germany. US Army Civil Affairs Division, Washington D.C., Dezember 1944. – Zur Geschichte und Vorgeschichte der verschiedenen Versionen und Konzepte dieses Handbuchs siehe Gerhardt 2007: 71 – 77, Marquardt-Bigman 1995: bes. 119 – 145. 21 Denkschrift Purpose, Objectives and Functions of a Military Government Program for Germany von 1944 (zitiert nach Marquardt-Bigman 1995: 124). 22 Vgl. zum Beispiel Latzin 2005. 23 Die Literatur dazu ist umfänglich und kontrovers (vgl. Niethammer 1982, Vollnhals 1991, Schuster 1999).

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dann sorgfältige Analysen zu erstellen und Verbesserungen unüberhörbar einzufordern.

3. Wissenschaftstransfers Die US-Besatzungspolitik in Deutschland ist damit ein wichtiges Beispiel für ganz unterschiedliche Transferprozesse. Ein weiteres Themenfeld solcher Transferprozesse wurde dann die Tätigkeit von Gastprofessoren aus Emigrantenkreisen, die aus den USA zwischen 1945 und 1982 wieder nach Deutschland kamen, um dort für ein oder für mehrere Semester zu lehren. Diese Gastwissenschaftler waren, so die These, Träger und Vermittler von Ideen aus Deutschland in die USA und dann auch wieder, in verwandelter Form, zurück nach Deutschland. Diese ehemaligen Deutschen und manchmal schon ihre Kinder brachten neue Inhalte sowie einen anderen Lehrstil an die deutschen Universitäten. Die meisten dieser Wissenschaftler hatten sich in den USA etabliert und brachten Elemente einer neuen Wissenschaftskultur nach Deutschland mit.24 Zunächst zur Vorgeschichte: Bereits seit den 1920 er-Jahren hatten die USA eine große Anziehungskraft auf Wissenschaftler aus Europa entwickelt. Nach 1933 beschleunigte sich dieser Prozess durch die Immigration von den Nationalsozialisten verfolgter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen: Rund ein Drittel des Gesamtpersonals wurde an deutschsprachigen Universitäten entlassen; 2 000 von 3 000 Wissenschaftlern emigrierten allein aus dem Deutschen Reich. Etwa 1 300 emigrierte Wissenschaftler fanden direkt oder nach Umwegen in den USA eine neue Heimat.25 Für manche junge und noch nicht arrivierte Immigranten, aber auch für etliche Wissenschaftler, begann dort eine Karriere, die in dem hierarchisch strukturierten Hochschulmilieu der Ausgangsgesellschaft nicht denkbar gewesen wäre. Doch für die meisten bedeutete die Emigration erst einmal einen Schock durch Statusverlust und ein Wegbrechen der sozialen Absicherung. Viele mussten sich in ihren Projekten und Forschungsrichtungen umorientieren und neue Wege einschlagen. Daher ist es verfehlt, eine Verlust- und Gewinnrechnung aufzustellen, ist es doch in keiner Weise sicher, dass die Forscher in der alten Heimat dieselben Projekte betrieben hätten und zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen wären; dafür gibt es überzeugende Beispiele, so nicht zuletzt das Manhattan-Projekt, also der Bau der Atombombe, an dem emigrierte europäische 24 Vgl. Krauss 2008, Krauss 2006 a. 25 Vgl. Krauss 2008: 38 f.

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Physiker wie Enrico Fermi, Hans Bethe, Edward Teller, Felix Bloch und andere federführend mitwirkten. Als sich ihnen nach 1945 beziehnungsweise in den folgenden Jahren die Frage nach einer Rückkehr stellte, blieb der weit überwiegende Teil in den Emigrationsländern. Doch dies bedeutete nicht, dass sie nicht nach Deutschland als Gastwissenschaftler kamen. Interessanterweise ist bei diesen Gastwissenschaftlern, untersucht auf der Basis des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration26, der Anteil der Naturwissenschaftler deutlich höher als bei den Remigranten auf Dauer. Dazu nun einige Thesen: Etliche emigrierte Wissenschaftler wurden durch die Prozesse der Exilierung, der Immigration und Integration in eine neue Wissenschaftskultur vor allem in den USA zu einer transnational fühlenden und handelnden Elite; daraus bezog und bezieht die Internationalisierung der Wissenschaft ihre eigentliche Kraft.27 »Transnational« bedeutet eine gefühlte Zugehörigkeit zu mehreren Kollektiven. Der transnationale Wissenschaftler steht in zwei oder mehreren Wissenschaftskulturen. Wissenschaft wurde außerhalb Deutschlands nach 1933 zunehmend von Individuen unterschiedlicher Herkunft betrieben, die ihre Erfahrungen aus der Wissenschaftskultur der Heimatländer in einen neuen gemeinsamen Prozess einbrachten. Es entstand eine »hybride« Wissenschaftskultur. »Wissenstransfer« ist für diese Prozesse nur dann das richtige Wort, wenn es sich auf dieses polyphone Gebilde bezieht: Die Ankommenden bringen Erfahrungen mit, die sie in neue Zusammenhänge stellen und dort überprüfen müssen. Dabei entsteht durch die Interaktion mit anderen etwas Neues, das nur in eben dieser speziellen Konstellation denkbar und nicht mehr auf seine ursprünglichen Bestandteile zurückzuführen ist. Wissenstransfer ist nicht linear, sondern vielstimmig, keine »Entwicklung«, sondern ein Konglomerat. Nach 1945 ging es dann etlichen dieser Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen darum, ihren ehemaligen Kollegen, deutschen Nachwuchsforschern und Studierenden den Zugang zu dieser anderen Art von Wissenschaftsproduktion zu ermöglichen. Eben auf dieser Erfahrung basierte der Wissenstransfer aus dem Exil nach Kriegsende. Ein Weg dazu, so eine weitere These, war der Wissenschaftler- und Studierendenaustausch zwischen alter und neuer Heimat.28 Der Austausch dehnte jenen transnationalen Raum nun auch auf die alte Heimat aus, den die betreffenden Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen selbst erfahren hatten. Es waren häufig Erkenntnisse und Forschungsergebnisse, deren Anfänge in 26 Vgl. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1980 ff., Bd. 1, 2/1, 2/2. 27 Vgl. Krauss 2008: 41 f. 28 Vgl. Glazer 1987.

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der alten Heimat in den 1920 er- und frühen 1930 er-Jahren lagen, die mit den Wissenschaftlern ins Exil gegangen waren, sich dort verändert hatten und nun mit ihren Trägern zurückkehrten. Hinzu kam die Erfahrung eines neuen Lehrstils, neuer Formen der Zusammenarbeit, einer anderen Art von Hierarchie. So wird in Berichten über Begegnungen mit Wissenschaftlern aus den USA neben neuen Inhalten und transatlantischen Kontakten der ganz andere Lehrstil gelobt. Zu Waldemar Gurian heißt es: »Allein schon begeistert, daß Gurian nicht nach einem Manuskript stur doziert oder hinter dem Katheder sich verschanzt, daß er frei spricht, sehr freimütig, breite Zitate aus den Schriften und Reden von Historikern und Politikern auswendig vorbringt, daß er bei allem verhaltenen Ernst sich doch der Ironie in entgiftender Weise bedient«.29

Auch etliche der Gastprofessoren-Mathematiker, die ich als Gruppe genauer betrachtet habe, sprachen frei. Inwiefern solche Vorträge Nachahmer unter den deutschen Professoren fanden, ist nicht berichtet. Insofern stellt sich die Frage der Wissenschaftsremigration neu. »Remigrierte Wissenschaftler« sind in den meisten Studien die, die auf ihre alten Lehrstühle oder in feste Professuren zurückkehrten. Diejenigen, die nicht mehr an der ursprünglichen Heimatuniversität, sondern an anderen Universitäten lehrten, die sich für Austauschprogramme einsetzten, als Gastprofessoren verschiedene deutsche und europäische Universitäten kennenlernten oder sich in ihrer neuen Heimat für deutsche Kollegen verwendeten, bleiben weitgehend im Dunkeln. Zu dieser Gruppe gehört auch die zweite Generation, die oft durch das Raster der Forschung fällt, da ihre Mitglieder nicht als Wissenschaftler sondern oft noch als Kinder vertrieben wurden. Für die Geschichtswissenschaft sind hier exemplarisch Namen wie Peter Gay, Fritz Stern, Peter Paret, George Mosse zu nennen. Wissenstransfer geht keineswegs immer nur geordnete Wege. Wissen wird häufig dort wiederentdeckt, wo es den eigenen Vorstellungen entgegenkommt, wo es zu bestimmten Zwecken instrumentalisierbar ist und der Zeitstimmung entspricht. Das rezipierte Wissen wird dann meist keineswegs im historisch-kritisch edierten Originalzustand eingesetzt, es wird verwandelt, auch missverstanden, umgedacht, neu zusammengesetzt. Dies gilt auch für das Wissen, das Gastdozenten in Deutschland nach 1945 anboten; das gilt für wissenschaftliche Netzwerke und Freundschaften, die zu Einladungen an bestimmte Universitäten führten; Gastprofessuren stellten für Emigranten 29 Zu einer Vorlesung Gurians, 9. Juli 1949 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, MK 72673),

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auch einen bezahlten und honorigen Weg dar, die alte Heimat wieder zu besuchen. Zunehmend band sich Westdeutschland wieder in die Zirkulation von Wissen und Wissenschaft ein. Die Bedeutung der ehemaligen Deutschen für diesen Prozess, als Gastprofessoren oder als Gastgeber an den amerikanischen und englischen Universitäten, ist sicherlich nicht gering einzuschätzen.

4. Resümee Feinde, Freunde, Fremde? In einer Welt der Wissenszirkulation, der engen transnationalen Verflechtung von Politik, Kultur und Wissenschaft, stellen sich diese Fragen anders. Nach dem Ersten Weltkrieg galten die siegreichen USA in Deutschland als »gefährlich« und nationale Kultur-Kassandras warnten vor der »Amerikanisierung«. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich das Blatt gewendet: Nun waren die USA ganz zweifellos die Führungsmacht des Westens und wurden in vielen Bereichen für die junge Generation zum Orientierungspunkt. Dass sie in der Zeit des Vietnamkriegs diese Position wieder einbüßten, steht auf einem anderen Blatt.

Literatur Bauerkämper, Arnd / Jarausch, Konrad H. / Payk, Marcus M. (Hg.) (2005): Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945 – 1970, Göttingen. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration (1980 ff.): Institut für Zeitgeschichte München / Research Foundation for Jewish Immigration Inc. New York (Hg.), unter der Leitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss, 3 Bände, München et al. Clay, Lucius D. (1950): Entscheidung in Deutschland, Frankfurt/M. Eckart, Wolfgang (1988): Amerikanische Reformpolitik und deutsche Tradition. Nürnberg 1945 – 1949. Nachkriegspolitik im Spannungsfeld zwischen Neuordnungsvorstellungen, Notlage und pragmatischer Krisenbewältigung, Nürnberg. Fait, Barbara (1998): Demokratische Erneuerung unter dem Sternenbanner. Amerikanische Kontrolle und Verfassungsgebung in Bayern 1946, Düsseldorf. Gelberg, Karl-Ulrich (2003): Unter amerikanischer Besatzung (1945 – 1949), in: Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 4/1, 2. Aufl., München, S. 646 – 802. Gerhardt, Uta (2007): Nichts Punitives. Der Morgenthau-Plan, die Direktive JCS 1067 und das »Wirtschaftswunder«, in: Hans Braun / Uta Gerhardt / Everhard Holtmann (Hg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden, S.29 – 58.

Politik-, Kultur- und Wissenschaftstransfers zwischen den USA und Deutschland 133 Gerhardt, Uta (2005): Soziologie der Stunde Null. Zur Gesellschaftskonzeption des amerikanischen Besatzungsregimes 1944 – 1945 / 1946, Frankfurt/M. Glazer, Nathan (Hg.) (1987): The Fulbright Experience and Academic Exchanges, Newbury Park et al. Handbook for Military Government of Germany (1944): US Army Civil Affairs Division, Washington D.C., Dezember 1944. Jarausch, Konrad H. (2004): Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945 – 1995, München. Krauss, Marita (1985): Nachkriegskultur in München. Münchner städtische Kulturpolitik 1945 – 1954, München. Krauss, Marita (1993): Eroberer oder Rückkehrer? Deutsche Emigranten in der amerikanischen Armee, in: Exil 13 (1/1993), S.70 – 85. Krauss, Marita (2001): Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München. Krauss, Marita (2002): Hans Habe – ungarischer Jude, amerikanischer Presseoffizier, deutscher Erfolgsautor (Bayern 2), Hörfunksendung vom 13. Oktober 2002. Krauss, Marita (2004 a): Emigration aus Bayern in die Vereinigten Staaten von Amerika in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Margot Hamm / Michael Henker / Evamaria Brockhoff (Hg.), Good Bye Bayern – Grüß Gott America. Auswanderung aus Bayern nach America seit 1683, Augsburg, S. 47 –52. Krauss, Marita (2004 b): Jewish Remigration: An Overview of an Emerging Discipline, in: Leo Baeck Institute Year Book, Bd. 49 (2004), London, S. 107 – 119. Krauss, Marita (2005): Deutsch-amerikanische Presse- und Kulturoffiziere als Teil der Besatzungsbehörden, in: Arnd Bauerkämper / Konrad H. Jarausch / Markus M. Payk (Hg.), Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945 – 1970, Göttingen, S. 129 – 155. Krauss, Marita (2006 a): »Gedankenaustausch über Probleme und Methoden der Forschung«. Transatlantische Gastprofessoren nach 1945, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 29 (3/2006), S. 243 – 259. Krauss, Marita (2006 b): »Bringing Democracy to Bavaria«. Bayerische Nachkriegspolitik und amerikanische Besatzungskultur (Bayern 2), Hörfunksendung vom 9./10. November 2006. Krauss, Marita (2007): Amerikanische Besatzungskultur und »konstruktive« Transformation im Jahr 1945. Das Beispiel Bayern, in: Hans Braun / Uta Gerhardt / Everhard Holtmann (Hg.), Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden, S. 59 – 90. Krauss, Marita (2008): Exilerfahrung und Wissenstransfer. Gastprofessoren nach 1945, in: Dittmar Dahlmann / Reinhold Reith (Hg.), Elitenwanderung und Wissenstransfer im 19. und 20. Jahrhundert, Essen, S. 35 – 54. Latzin, Ellen (2005): Lernen von Amerika? Das US-Kulturaustauschprogramm für Bayern und seine Absolventen, Stuttgart. Marquardt-Bigman, Petra (1995): Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942 – 1949, München. Niethammer, Lutz (1982): Die Mitläuferfabrik. Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin.

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»What an unbelievable unreal adventure!« Melvin J. Lasky als Akteur im kriegszerstörten Deutschland *

elvin J. Lasky als Akteur im kriegszerstörten Deutschland »What an unbelievable unreal adventure!« Melvin J. Lasky als Akteur im kriegszerstörten Deutschland M

1. Einleitung Als Oberleutnant Melvin J. Lasky im Oktober 1945 einen Brief an Hannah Arendt aufsetzte und beginnend mit dem Ausruf »What an unbelievable unreal adventure!« ausführlich über seine Erlebnisse im zerstörten Deutschland berichtete, hatte er bereits fast ein Jahr auf europäischem Boden und fern seiner amerikanischen Heimat verbracht.1 Laskys Briefe an seine Familie, Freunde und Bekannte in New York offenbaren eine starke emotionale Aufgewühltheit ebenso wie eine unglaubliche Faszination in Anbetracht des Gesehenen und Durchlebten. Sie zeigen zusammen mit den Aufzeichnungen in seinem Kriegstagebuch deutlich, in welchem Ausmaß der Kriegseinsatz zu einer wichtigen Zäsur in Laskys Leben wurde und letztlich auch seine spätere Karriere entscheidend prägte. Als Sohn polnischer Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Łódź in die USA eingewandert waren, wuchs Lasky in New York in der wirtschaftlich schweren Zeit der Großen Depression auf. Während seiner Studienzeit am renommierten und unter den Söhnen jüdischer Einwanderer beliebten »City College of New York« kam er Ende der 1930 er-Jahre in engen Kontakt mit dem Milieu der überwiegend jüdischen antistalinistischen »New York Intellectuals« und begann in dieser Zeit auch erste Artikel und Rezensionen zu verfassen. Bekannt wurde er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für seine Tätigkeit im Kontext des »kulturellen Kalten Krieges« und zwar als Herausgeber des von ihm 1948 in Berlin gegründeten intellektuellen Kulturmagazins Der Monat und als Mitbegründer des im Sommer 1950 gleichfalls in Berlin organisierten »Congress for Cultural Freedom« (CCF) sowie ab * 1

Für die Unterstützung meiner Arbeiten an diesem Projekt möchte ich mich bei der GerdaHenkel-Stiftung bedanken. Brief von Melvin Lasky an Hannah Arendt vom 30. Oktober 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 225 (Nachlass Lasky, New York, Box 1).

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1958 als Herausgeber der Londoner Schwesterzeitschrift des Monat, des Encounter. Während es der amerikanischen Regierung nach 1945 im besiegten Deutschland zunächst um das Vermitteln demokratischer Spielregeln durch Reeducation ging, galt es im Zuge des »War of Ideas« schon bald, in allen Ländern Westeuropas Maßnahmen zur Förderung antikommunistischer Gesinnung zu ergreifen und diese Staaten damit ideologisch und kulturell im eigenen Lager zu verankern. Das ambitionierte Unterfangen eines kulturellen und ideellen Transfers, der als Grundvoraussetzung für die Entstehung dieser sowohl demokratischen als auch antikommunistischen Überzeugungen notwendig erschien, war in hohem Maße auf das Engagement und die Mittlerfunktion einzelner Personen angewiesen. Diese Personen waren, häufig zunächst in ihrer Funktion als Besatzungsoffiziere, ein wichtiges Bindeglied zwischen den Zielen und Ansprüchen der amerikanischen Seite und den Erwartungen der Rezipienten beziehungsweise deren Bereitschaft, sich auf das Neue und Andere einzulassen. Lasky wurde aufgrund seiner Sozialisation in New York sowie seiner intellektuellen und charakterlichen Prägung, aber auch infolge schicksalhafter und zufälliger Ereignisse zu einem der bedeutendsten dieser transatlantischen Mittler.2 Durch seine ständigen Reisen zwischen Europa und den USA und aufgrund seiner zahlreichen Kontakte auf beiden Seiten des Atlantiks führte er ein durch und durch transatlantisches Leben. In einem seiner letzten Bücher sagte er über dieses Leben zwischen New York, Berlin und London: »[M]y autobiography is a pieced-together patchwork, a tale of three cities.«3 Seine enge und auch sehr emotionale Verbundenheit mit Europa und speziell mit Deutschland zeigte sich auch in einem Zeitungsinterview, in dem er in Anbetracht seines Lebensweges ironisch den Schluss zog, »dass er in seinem Vorleben Europäer gewesen sein muss.«4 Lasky war aber auch eine durchaus umstrittene und kontroverse Persönlichkeit. Als überaus missionarischer und vehementer »kultureller Kalter Krieger«, der er zeitlebens war, geriet er spätestens ab Mitte der 1960 er-Jahre in die Kritik, als die Finanzierung des CCF und somit auch der vom CCF unterstützten Zeitschriften wie Der Monat und Encounter durch den amerikanischen Geheimdienst, die Central Intelligence Agency (CIA), aufgedeckt wurde. 2 3 4

Auf die große Bedeutung dieser Mittler haben unter anderem Jessica Gienow-Hecht und Volker Berghahn hingewiesen (siehe Gienow-Hecht 1999, Berghahn 2001). Lasky 2002: xviii. Binder 1992.

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Es ist genau dieser Skandal um die CIA-Finanzierung des CCF und die Frage, ob und inwieweit Lasky davon wusste und welche Verbindung er tatsächlich zur CIA gehabt hat, die die Bewertung Laskys als Akteur im kulturellen Kalten Krieg in der Literatur immer wieder dominiert. In vielen Darstellungen wird jedoch gleichermaßen seine Bedeutung als transatlantischer Mittler und hier insbesondere als Herausgeber zweier der renommiertesten intellektuellen Kulturmagazine der Nachkriegszeit hervorgehoben. Worauf bei all diesen Publikation jedoch nur in Ansätzen eingegangen wird beziehungsweise was mitunter auch gänzlich fehlt, sind Informationen über sein Elternhaus, seine Ausbildung, seine berufliche Tätigkeit, insgesamt also über seine gesamte persönliche und intellektuelle Entwicklung vor seiner Verschiffung nach Europa Anfang 1945 und vor seiner Etablierung 1947/48 in Berlin. Zum besseren Verständnis seiner Person und seines späteren Wirkens, ist es jedoch unbedingt erforderlich, genau diese bislang kaum erforschte Periode eingehender zu betrachten. Dies ist vor allem deshalb möglich, weil Laskys Nachlass im Jahr 2008 von seiner Witwe dem Amerika-Institut der Universität München geschenkt wurde und sich bei der Sortierung und Verzeichnung herausstellte, dass dieser unerwartet viele Materialien aus seinen frühen Jahren enthält. Gestützt primär auf das im Nachlass entdeckte und kürzlich erstmals publizierte Kriegstagebuch rückt im Folgenden Lasky als Akteur und Beobachter während und kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Mittelpunkt.5 Damit aber unter anderem sein Blickwinkel auf und seine Einstellungen zu Deutschland in diesem beeindruckenden Dokument besser eingeordnet werden können, ist zunächst ein kurzer Blick zurück auf das New York seiner Jugend nötig.

2. Kindheit und Jugend in New York 2.1 Elternhaus Melvin Jonah Lasky wurde am 15. Januar 1920 als Matthes Jonah Chernilowski geboren. Seine Eltern Samuel und Esther besaßen in Manhattan einen kleinen Textilbetrieb.6 Die Familie, zu der noch die jüngeren Schwestern Floria und Joyce sowie die nur Jiddisch sprechenden Eltern der Mutter

5 6

Vgl. Lasky 2014. Vgl. E-Mail von Joyce Lasky Reed an Autorin vom 29. Juni 2009, Interview mit Joyce Lasky Reed vom 19. März 2009 in Chevy Chase, Maryland.

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Abbildung 1: Melvin, Esther, Floria und Samuel Lasky in New York, circa 1929

Quelle: Lasky Center for Transatlantic Studies.

gehörten, wohnte, wie zahlreiche jüdische Familien aus Osteuropa auch, im New Yorker Stadtteil Bronx. Laskys Kindheit und Jugend war geprägt von mehreren Konstanten des Familienlebens, die nachhaltigen Einfluss auf seine weitere Entwicklung hatten: Erstens spielte die Lektüre von Büchern sowie die mehrerer Tageszeitungen eine zentrale Rolle im Alltagsleben der Familie. Die politisch links orientierte Familie nahm, zweitens, regen Anteil am politischen Geschehen. Die Großfamilie führte mitunter heftige Diskussionen, deren Thema immer wieder die politischen Entwicklungen in Europa und speziell in Deutschland nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahre 1933 waren. Die dritte Konstante seiner familiären Sozialisation war die grundsätzliche Wertschätzung der deutschen Kultur und Sprache, die, wie sich Laskys Schwester Joyce erinnerte, in erster Linie vom Vater ausging: »My father was a great lover of German culture […] [The] cultural orientation

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was very German, father was one of the rare Jews that never held Nazism against German culture.«7 So standen in der elterlichen Bibliothek nicht nur wie selbstverständlich Werke deutscher Autoren im Original; Laskys Vater war zudem mit den Dramen Schillers und Goethes ebenso vertraut wie mit den Opern Richard Wagners. Schließlich war es, drittens, Bildung an sich, die in der Familie Lasky einen sehr hohen Stellenwert innehatte. Diese frühe Prägung und intellektuelle Stimulation sowie die Bedeutung, die die Eltern der Bildung und damit auch dem sozialen Aufstieg ihrer Kinder beimaßen, ergänzten sich in idealer Weise mit dem Charakter und den Interessen des jungen Lasky. Schon früh neugierig, wissbegierig und ehrgeizig, faszinierten ihn Bücher ebenso wie Menschen, interessierten ihn zahlreiche Themengebiete, von Geschichte und Politik über Literatur und Theater bis hin zu Kino und Sport. Nach seinen Tagebüchern zu urteilen, las er sich quer durch die amerikanische, europäische und vor allem die deutsche Literatur. Abgesehen von Büchern las er einige Tageszeitungen, hier mitunter eine deutsche Zeitung, sowie intellektuelle und literarische Zeitschriften wie zum Beispiel die linke Zeitschrift Partisan Review, das publizistische Organ und Sprachrohr der antistalinistischen »New York Intellectuals«. Was seine Persönlichkeit und seinen Charakter betrifft, so zeichnen die Tagebücher sowie Gespräche mit Zeitzeugen ein durchaus ambivalentes Bild: Auf der einen Seite war er fleißig, intelligent, belesen, diskussionsfreudig, sozial sehr aktiv und – vor allem was die Beziehung zu seiner Familie angeht – liebevoll. Auf der anderen Seite verhielt er sich mitunter etwas altklug, eigensinnig und dominierend, in seinem Auftreten wirkte er sehr selbstsicher und zum Teil auch recht forsch.

2.2 Studium Lasky immatrikulierte sich im Juni 1935 am renommierten und unter den Söhnen jüdischer Einwanderer beliebten »City College of New York«. Während seines Studiums der Sozialwissenschaften setzte Lasky den Deutschunterricht fort, den er in der Schule begonnen hatte und belegte zudem auch Kurse zur deutschen Literatur. Des Weiteren beteiligte er sich intensiv an den politischen Diskussionen, die am City College in und zwischen den berühmten Alcoves 1 und 2, den kleinen Nischen in der Cafeteria der Universität, stattfanden. Während sich in Alcove 2 die Stalinisten trafen, versammelten sich in Alcove 1 die Anhänger antistalinistischer Gruppen wie zum Beispiel der Trotzkisten, 7

Interview mit Joyce Lasky Reed vom 18. März 2009 in Chevy Chase, Maryland.

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mit denen Lasky in dieser Zeit stark sympathisierte. In dieser Atmosphäre ideologischer Diskussion und Konfrontation war es wenig verwunderlich, dass Lasky mit seinen antistalinistischen Ansichten in engen Kontakt mit den »New York Intellectuals« kam und ab Ende 1938 auch erste Rezensionen und Artikel für Partisan Review schrieb. Wie bedeutend die Anerkennung durch diese Gruppe an renommierten Literaten und Intellektuellen und damit ein gewisses Gefühl der Dazugehörigkeit für ihn war, zeigt der Umstand, dass er genau am Tag des Erscheinens seines ersten größeren Artikels in Partisan Review überhaupt erst begann, Tagebuch zu führen. Auf Vorträgen und Veranstaltungen, aber auch auf zahlreichen Partys seiner Freunde und Kommilitonen sowie bei regelmäßigen Treffen mit den Mitarbeitern und dem Kreis um Partisan Review, begann Lasky sich ein Netzwerk an Kontakten zu schaffen, das er im Laufe der Zeit wesentlich ausbaute. Gerade in seiner frühen Zeit in Berlin direkt nach dem Krieg griff er immer wieder auf dieses Netzwerk zurück. Im September 1939 begann Lasky sein Studium der Amerikanischen Geschichte an der University of Michigan in Ann Arbor und verließ somit New York das erste Mal in seinem Leben für längere Zeit. Er war weiterhin politisch sehr engagiert, diskutierte auf studentischen Veranstaltungen und legte dabei einen gewissen missionarischen Eifer an den Tag in seinem Bestreben, stalinistische »fellow traveller« unter seinen Kommilitonen »umzudrehen« und ins trotzkistische Lager herüberzuziehen.8 Mit einem abgeschlossenen Geschichtsstudium kehrte Lasky Ende 1940 nach New York zurück und stürzte sich erneut in ein äußerst dynamisches soziales und intellektuelles Leben. Er schrieb sich an der Columbia University zur Promotion ein und dachte wohl – mit der Aussicht auf eine Stelle am City College – an eine Universitätskarriere. Aus finanziellen Gründen absolvierte er jedoch eine Aufnahmeprüfung für den öffentlichen Dienst und arbeitete für ein Jahr als »Junior Historical Aide« in der Funktion eines Fremdenführers an der Freiheitsstatue. Da ihn die festen Arbeitszeiten aber davon abhielten, weiter zu lesen und zu schreiben, kam ihm das Angebot von Daniel Bell, ab Herbst 1942 als Redakteur bei der sozialdemokratischen und antikommunistischen Wochenzeitung The New Leader zu arbeiten, sehr gelegen. In diese Zeit fiel auch Laskys Bruch mt dem Trotzkismus, eine Entwicklung, die sich gut sowohl anhand seiner zeitgenössischen als auch seiner späteren autobiographischen Aufzeichnungen verfolgen lässt. Der Krieg in Europa, dessen Entwicklung er intensiv verfolgte, hatte einen wesentlichen Einfluss 8

Brief von Melvin Lasky an seine Eltern, undatiert [Dezember 1939?] (Nachlass Lasky, Korrespondenz vor 1945, Samuel und Esther Lasky, Mappe 2).

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auf sein politisches Denken und seine Überzeugungen. Die dramatischen Ereignisse in Europa und hier vor allem das Schicksal der Juden führten dann aber letztlich dazu, dass er seine radikalen Ansichten und somit auch die Opposition gegen den Kriegseintritt der USA aufgab.

2.3 Als Armeehistoriker über den Atlantik nach Europa Im November 1943 wurde er einberufen und in verschiedenen Camps innerhalb der USA auf seinen Kriegseinsatz in Europa vorbereitet. Fern von seiner gewohnten Umgebung litt er sehr unter dem Armeealltag. Der in seinen Augen »endless, unutterable, incomprehensible stupidity«, der Entmenschlichung und der fehlenden Intellektualität in der Armee versuchte er zu entfliehen, indem er in jeder freien Minute las sowie literarische Skizzen seiner Vorgesetzten und Kameraden anfertigte.9 Er besuchte die Offiziersanwärterschule und wurde dank zahlreicher Empfehlungsschreiben seiner Professoren in die G-2 Historical Section des Kriegsministeriums versetzt und kam so zu seinem Posten als »Combat Historian« in der ResearchAbteilung der Historical Section der 7. US-Armee. Im Januar 1945 wurde er nach Europa verschifft und marschierte im Rang eines Oberleutnants in Frankreich und Deutschland ein. Als Armeehistoriker, der mit der Dokumentation von Kämpfen betraut war und zu diesem Zweck amerikanische Soldaten und die Zivilbevölkerung befragen musste, konnte er sich relativ frei bewegen. Seine Erlebnisse und Eindrücke beschrieb er in seinem hier erstmals ausgewerteten Kriegstagebuch.

3. Das Kriegstagebuch von Oberleutnant Melvin J. Lasky 3.1 Aufbau und Struktur Das Führen eines Tagebuchs war für Lasky an sich nichts Neues. Er hatte, wie erwähnt, bereits im Mai 1939 damit begonnen und wenn nicht täglich, so doch sehr regelmäßig seinen Alltag, seine Gedanken und Gefühle handschriftlich und eher stichwortartig in kleinen Notizheften festgehalten. Wie ein Brief an seinen Doktorvater Merle Curti vom 31. Oktober 1944 zeigt, hatte er sich schon vor seiner Verschiffung vorgenommen, seine Erlebnisse als 9

Lasky New York Tagebuch III (30. November 1943 bis 13./14. Mai 1944), S. 44 (Nachlass Lasky, New York, Box 1, Mappe 1).

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Soldat zu dokumentieren: »I feel that I must, out of a slowly growing inner need, write something about the Life of a Conscript some day.«10 Äußerst hilfreich und quasi Voraussetzung dafür, dass er sein Kriegstagebuch überhaupt in der vorliegenden Form führen konnte, war die Tatsache, dass er für seine Tätigkeit als »Combat Historian« mit einer tragbaren Schreibmaschine und einer Leica ausgestattet worden war. Das Tagebuch mit dem Titel »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript« behandelt den Zeitraum von kurz vor seiner Verschiffung am 1. Februar 1945 bis zum 21. November 1946 und umfasst ungefähr 350 getippte Seiten.11 Von einem Tagebuch im engeren Sinn mit datierten regelmäßigen Einträgen, zwischen denen immer mal wieder auch Entwürfe oder Kopien von Briefen an seine Familie, Freunde und Bekannte einsortiert sind, kann man bis zu dem Eintrag vom 16. Dezember 1945 sprechen. Nach diesen 250 Seiten »echten« Tagebuchs folgen weitere Beobachtungen und Kommentare Laskys zur Besatzungszeit in Deutschland, die jedoch eher ungeordnet in Form von Briefen, Notizen, Interviewmitschriften und Entwürfen für Artikel vorliegen. Die Einträge folgen den Bewegungen seiner Einheit beziehungsweise nach dem Ende des Krieges seinen im Rahmen seiner Aufgaben notwendigen Ortswechseln. Die von ihm besuchten Städte beziehungsweise Gegenden notierte er auf dem Deckblatt des Tagebuchs in dieser Reihenfolge: Paris, Luneville, Elsass, Straßburg, Nancy, Kaiserslautern, Darmstadt, Frankfurt, Heidelberg, München, Salzburg, Innsbruck, Konstanz, Bern, Genf, Zürich, Wien, Rom, Kopenhagen, Stockholm, Berlin und London. Seine offizielle Aufgabe war das Verfassen von Berichten zunächst für die Geschichte der 7. US-Armee, die im Mai 1946 dann in drei Bänden unter dem Titel The Seventh Army in France and Germany 1944 – 1945. Report of Operations erschien.12 In der Besatzungszeit arbeitete er dann von Frankfurt aus als »Historical Officer« in der »United States Forces European Theater Historical Division« mit an einer History of the Occupation. Im Gegensatz zu dieser offiziellen Tätigkeit, der er – wie er immer wieder klagt – mit wenig Enthusiasmus und äußerst kritisch nachging, steckte er viel Arbeit und Energie in seine privaten Aufzeichnungen. Seinem Freund und Mentor Dwight Macdonald, einem prominenten Mitglied der »New York Intellectuals«, erklärte er in einem Brief vom 8. April 1945 den Inhalt seines Tagebuchs sowie seine Vorgehensweise:

10 Brief von Melvin Lasky an Merle Curti vom 31. Oktober 1944 (Merle E. Curti Papers, Wisconsin Historical Society). 11 Vgl. Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945« (Nachlass Lasky, New York, Box 1). 12 Vgl. US Army 1946.

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»I have tried to keep a daily journal, and for the last period I’ve been quite happy about it. It has no ›tone‹, or ›style‹ or ›theme‹ or anything of that character, has nothing in fact except a fantastic variety of impressions and information – everything from American brothels, to battlefield scenes, to university libraries and ancient cathedrals and castles, to a number of rather ›delicate‹ military-political situations, which unfortunately will remain censorable for a long time to come. At any rate the journal is my substitute for correspondence«.13

3.2 Inhalt Die detailreichen Aufzeichnungen geben einen guten Einblick in Laskys Arbeit und Alltag als Soldat und umfassen in der Tat eine unglaubliche Bandbreite an Themen. Er berichtet über seine Arbeit, seine Kameraden und Vorgesetzten und immer wieder auch sehr kritisch über das Vorgehen der amerikanischen Armee. Er beschreibt die Städte, durch die er kommt, die Ruinen und die Menschen und nimmt immer wieder Kontakt zur Zivilbevölkerung auf, um deren Meinungen und Stimmungen einzufangen. In den zerstörten Stadtzentren sucht er zielstrebig nach den historischen Sehenswürdigkeiten ebenso wie nach Bibliotheken und Buchhandlungen. Seine Eindrücke hielt er auch mit seiner Kamera fest und schuf damit quasi Illustrationsmaterial zu den im Stil von Reportagen geschriebenen Berichten. Diese Aufzeichnungen, denen man Laskys Erfahrung mit dem journalistischen Schreiben deutlich anmerkt, offenbaren viel über seine Einstellung zu den Ereignissen während des Krieges und der direkten Nachkriegszeit. Ebenso viel verraten sie über seine jeweilige Gemütslage und vor allem auch über seine Gefühle, die er, wie er schreibt, manchmal in Anbetracht des Erlebten und der Frage, wie sich diese Kriegserfahrung auf seine persönliche Entwicklung auswirken würde, kaum in Worte zu fassen vermag. Da eine intensive Analyse des Kriegstagebuchs hier nicht möglich ist, sollen drei Themenbereiche herausgegriffen werden. Erstens ist dies Laskys Bewertung der amerikanischen Armee und Militärregierung, zweitens sein Interesse an und seine Sicht auf Deutschland und die Deutschen und, drittens, seine Bemühungen um Kontakte zu bedeutenden deutschen Intellektuellen und Persönlichkeiten. Diese Themenbereiche werden zum einen im Tagebuch mit großer Regelmäßigkeit behandelt und gehören somit zu den zentralen Inhalten; zum anderen handelt es sich um Themen, die eine interessante und gewissermaßen logische Verbindung zwischen dem familiären Hintergrund 13 Brief von Melvin Lasky an Dwight Macdonald vom 8. April 1945 (Nachlass Macdonald, Yale University, MS 730, Box 27, Mappe 706).

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und der New Yorker Prägung Laskys und seiner späteren Tätigkeit in Berlin herstellen und auch seine Interessen und sein Handeln im Kontext des kulturellen Kalten Krieges verständlicher werden lassen. Laskys Kritik am Vorgehen der Armee während des Krieges sowie an der frühen amerikanischen Besatzungspolitik zieht sich wie ein roter Faden durch das Tagebuch. Er hinterfragt Vorgaben und Entscheidungen auf der Ebene seiner eigenen Einheit und somit seines direkten militärischen Alltags. Fast noch kritischer kommentiert er aber die militärische Strategie und tatsächliche Vorgehensweise der gesamten amerikanischen Streitkräfte. So berichtet er seinem New Yorker Freund Charles A. Pearce am 11. November 1945 beispielsweise aufgebracht und voller Zynismus von seinem Besuch im durch massive amerikanische Luftangriffe zerstörten Wiesbaden. »So a few hundred planes came over and knocked [Wiesbaden, M.R.] half-way to hell. […] Oh, no doubt, the mission was very successful! But I wonder who believes it. None of us did last night or for months now, and we have been over the ruins of Germany. We don’t believe in the mission, formulate it as you will. It was hypocrisy, duplicity, stupidity, and most of all barbarism. The war, or maybe it is really the post-war, has taught us that lesson: the barbarism is our brother.«14

Kaum weniger drastisch hatte er sich einige Monate zuvor in einem Brief an den Kunsthistoriker und »New York Intellectual« Meyer Shapiro ausgedrückt, als er ihm auf dessen Bitte hin von der Lage der Münchner Universität berichtete und sich über die in seinen Augen wenig durchdachte Entnazifizierungspolitik der amerikanischen Militärregierung beschwerte: »There is so much foolishness, so much simple ignorance in AMG [American Military Government] circles it is hard for me to reclassify the American state policy in some more impersonal way. On the university matter what they have done is to check thru the Fragebogen, and made an automatic elimination of all party members. Which leaves practically no faculty. Naturally if they want to be purists on the Party issue all well and good; it has virtues as well as obvious shortcomings. But in dozens of other activities they leave Party members and Nazis (well-known fanatics) in office on the grounds that they are for the time being necessary, their services are expedient. In the ›minor‹ cultural matters they reserve for themselves to exercise complete anti-Nazi indignation.«15

In seinen Aufzeichnungen geht es, neben seinem Blick auf und seine Einstellung zu Deutschland im historischen und politischen Kontext, ständig auch um seine Erlebnisse im deutschen Nachkriegsalltag. Auffallend ist seine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber der deutschen Bevölkerung. 14 Brief von Melvin Lasky an Charles A. Pearce vom 11. November 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 228 (Nachlass Lasky, New York, Box 1). 15 Brief von Melvin Lasky an Meyer Shapiro vom 19. Juli 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 179 (Nachlass Lasky, New York, Box 1).

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Trotz des in dieser Zeit herrschenden Fraternisierungsverbots führte er – ganz Journalist – lange Gespräche mit Deutschen aller Altersklassen und befragte sie zu deren Schicksal während des Krieges und ihrer aktuellen Situation. Wie sehr ihn diese Gespräche berührten, aber auch wie hoffnungsvoll und optimistisch er im Grunde der Zukunft Deutschlands gegenüberstand, dokumentiert ein Brief an Dwight Macdonald kurz vor Kriegsende eindrücklich: »There was a doctor in Frankfurt who helped me find the old museum at Goethe’s birthplace […]; for an hour on the rubble we talked, and his earnestness and passion (and broken heart) touched me more than perhaps anything I have ever known. But then he was something of a political or developed person. There were two simple fellows in Darmstadt who understood little beyond the outline and substance of the events which had rained in on them; but the events themselves had been instructive and tragic enough. Even they, non-Nazi and petty-bourgeois, left me full of hope – not perhaps for a new Germany or a healthier European order, but for something much more practical and even immediate: a returning sense of the dignity of people, of the independence and honesty and character of a human being.«16

Neben der Besichtigung des Goethehauses, die er auch mit einem Foto seines Gesprächspartners vor den Trümmern dokumentierte, besuchte er – fast Abbildung 2: »Goethe Museum Frankfurt am Main September 1945« (Laskys eigene Bildbeschriftung)

Quelle: Lasky Center for Transatlantic Studies. 16 Brief von Melvin Lasky an Dwight Macdonald vom 20. April 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945« (Nachlass Lasky, New York, Box 1).

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schon in der Art einer »Grand Tour« – zahlreiche kulturelle und historische Stätten wie Schloss Linderhof und das Mozarthaus in Salzburg. Zielgerichtet versuchte er außerdem, mit deutschen Schriftstellern, Intellektuellen und bekannten Persönlichkeiten, deren Werke er in New York zum Teil bereits gelesen hatte, in Kontakt zu kommen und sie persönlich kennenzulernen.17 Diese Besuche belegen Laskys Drang, weitere Kontakte zu knüpfen, sein Netzwerk an Intellektuellen auszubauen und somit von den USA nach Europa zu spannen. In Heidelberg suchte er zum Beispiel wiederholt den Philosoph Karl Jaspers auf. Ihn und seine Frau versorgte er nicht nur selbst mit Lebensmitteln, sondern überbrachte ihnen auch Lebensmittelpakete von Hannah Arendt, Jaspers’ ehemaliger Doktorandin, die Lasky noch in New York Anfang der 1940 er-Jahre im Kreis der »New York Intellectuals« kennengelernt hatte. Die Schilderung seines Besuches am 30. Juli 1945 beginnt wie folgt: »The professor: went armed as usual to the Jaspers, carrying magazines, clippings, letters, and canned goods, cigarettes (soup, noodles, salmon and coffee). Marianne Weber was there, just leaving, and we were introduced and she consented to remain a while and talk with me.«18

Marianne Weber erzählte von den Schwierigkeiten, die sie unter den Nationalsozialisten mit der ‹Publikation der Schriften ihres Mannes, des Soziologen Max Webers, hatte. Erst einige Tage zuvor, am 25. Juli, hatte Lasky sich auch mit Jaspers in einem ihrer langen Gespräche über die »scholary situation« in den USA, Großbritannien und im Nachkriegsdeutschland über dieses Thema unterhalten: »The Professor and I retired to his study, a fine book-lined room, and we talked for an hour. The difficulties of the last dozen years. His manuscripts – because since 37 – 38, publication of his works very difficult.«19

Laskys intensive Beobachtungen von lokalen Stimmungen zeigen sich auch in dem bereits angesprochenen Brief an Meyer Shapiro über die Situation in München. Dort war er zuvor schon einige Male gewesen, unter anderem am 14. Mai 1945 als er für seine Studie zu »Revolutionary Uprisings« Rupprecht Gerngross, den Anführer der »Freiheitsaktion Bayern« befragte, einer Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialisten, die im April 1945 versucht 17 Vgl. Jaesrich 1985: 17. 18 Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 186 (Nachlass Lasky, New York, Box 1). 19 Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 183 (Nachlass Lasky, New York, Box 1).

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Abbildung 3: Feldherrenhalle München

Quelle: Lasky Center for Transatlantic Studies.

hatte, München kampflos den Amerikanern zu übergeben.20 Zufällig traf er an diesem Tag auch Klaus Mann, den er bereits in New York kennengelernt und dessen Vater Thomas Mann er schon als Student als den »größte[n] der zeitgenössischen Romanschreiber« bewundert hatte.21 Seinen Bericht an Shapiro eröffnete Lasky mit einer Beschreibung der desolaten Lage:

20 Brief von Melvin Lasky an Meyer Shapiro vom 19. Juli 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 141 ff. (Nachlass Lasky, New York, Box 1). 21 Vgl. Lasky New York Tagebuch II (10. Oktober 1941 bis Oktober 1943) (Nachlass Lasky, New York, Box 1, Mappe 1), S. 94; Aufsatz »Thomas Mann – ›Mario and the Magician‹«, Sommersemester 1937 (Nachlass Lasky, New York, Box 2, Mappe 1).

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Maren Roth »The University here, as you must know from other sources, is quite a wreck. The Ludwigskirche across the street is one of the few churches in the city intact. Everything else has been horribly destroyed. The Frauenkirche actually looks sickly; the two towers barely extend themselves upward, and with a kind of tubercular enfeeblement.«22

Anschließend kommentierte er die geplante Wiedereröffnung der Universität und, wie zitiert, äußerst kritisch die Entnazifizierungspolitik der Militärregierung, um dann detailliert auf das Schicksal verschiedener Professoren und Personen einzugehen, die er entweder in München besucht oder über die er sich – wie zum Beispiel Professor Kurt Huber und die Geschwister Scholl – informiert hatte. In dem Brief machte er sich auch, wie schon an anderen Stellen im Tagebuch, Gedanken über die Zukunft Deutschlands. So fürchtet er, dass ein Versagen der amerikanischen Militärregierung den Russen zugutekäme, da er in Teilen der deutschen Bevölkerung eine durchaus pro-russische Stimmung zu erkennen meinte. »I have been quite amazed to discover that as deep and obsessive as the fear of the Russians are (for some it is the image of the Mongolian hordes, for others ill-mannered peasants, for a great many others another more terrible totalitarianism which learned from and taught Nazism much), there is a considerable pro-Russian movement – the Russians as the ›Volk der Zukunft‹. The more a failure America makes of its military achievement the more reconciled the German militarism and kleinburgertum to the prospects of finding some opportunities only under an energetic forceful communism.«23

Laskys Kritik richtet sich jedoch nicht nur gegen die amerikanische Militärregierung, sondern regelmäßig auch gegen die sowjetische Politik und die Methoden der sowjetischen Militärregierung in Deutschland. In einem Lagebericht aus Berlin, den er möglicherweise für den New Leader verfasst hat, schrieb er bereits im Oktober 1946, einer Zeit also, in der die westlichen Alliierten noch sehr an einem Auskommen mit der Sowjetunion interessiert waren: »[Y]ou can’t do business with Stalin.«24 Diese Einstellung überrascht vor dem Hintergrund seiner politischen Vergangenheit als Trotzkist und Anti-Stalinist kaum und bildete auch die Grundlage für seine vehement antikommunistische Position im Kontext des kulturellen Kalten Krieges. Es verwundert daher auch wenig, dass er, der sich nach seinem Bruch mit dem

22 Brief von Melvin Lasky an Meyer Shapiro vom 19. Juli 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 179 (Nachlass Lasky, New York, Box 1). 23 Brief von Melvin Lasky an Meyer Shapiro vom 19. Juli 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 180 (Nachlass Lasky, New York, Box 1). 24 Brief von Melvin Lasky an Meyer Shapiro vom 19. Juli 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 322 (Nachlass Lasky, New York, Box 1).

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Trotzkismus als »something of a Social Democrat«25 verstand, nach einem Treffen mit dem SPD-Politiker Kurt Schumacher schrieb: »In an otherwise deteriorating social and political situation, the rise of Social democracy has been the single encouraging development in post-Nazi Germany.«26 Die Einträge im Tagebuch zeigen genauso wie die beigelegten Briefe, dass das Kriegserlebnis Lasky überaus stark geprägt hat. Wie grundlegend diese Erfahrungen für ihn waren, geht ganz klar auch aus dem eingangs angesprochenen Brief an Hannah Arendt hervor, den er während eines längeren Krankenhausaufenthalts in Berlin verfasste: »Lying in a bed day after day I finally got a glimpse of a perspective of my life this last year. What an unbelievable unreal adventure! I wished so hard I could find powers within me some time to come to terms with my own experience, my own past. And I wondered whether changes in me – really: the way I talk and walk and think and read, the tone of one’s ambition, the range of one’s confidence and sensitivity – were as deep, as I sometimes, in a fit of autobiographical terror, suspect.«27

Während die Erfahrung des Krieges eine Zäsur im Leben wohl jedes amerikanischen GIs gewesen sein dürfte, so war Lasky durch seine ständige Suche nach Kontakt mit der lokalen Bevölkerung und sein starkes Interesse an den Schicksalen Einzelner gut informiert und auch über die Maßen emotional involviert. Für ihn als amerikanischen Juden, der schon von New York aus die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten alarmiert beobachtet hatte, der einige Tage nach der Befreiung im Konzentrationslager Dachau war und dem es später gelang, einen polnischen Verwandten in einem Camp zu lokalisieren und ihm bei der Auswanderung in die USA zu helfen, mussten zudem die Erlebnisse in Deutschland, dem Land, dessen Sprache und Kultur in seiner Familie eine so bedeutende Rolle spielten, eine gewisse Zerrissenheit, aber eben auch starke Gefühle auslösen. Schließlich war Lasky, der bis auf ein Studienjahr in Ann Arbor sein gesamtes Leben mit seiner Familie zusammengelebt hatte, seit seiner Einberufung das erste Mal auf sich allein gestellt. Auch dies hatte, wie er seiner engsten Vertrauten, seiner Schwester Floria schrieb, erheblichen Einfluss auf seine Gefühlswelt: »I feel as if I have changed so much, in some ways even profoundly. The ›adventure‹ here has really been the first complete independent exercise of my self, and it has been 25 Brief von Melvin Lasky an Alan Wald vom 2. Dezember 1982 (Nachlass Lasky, Korrespondenz Wald). 26 Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 313 (Nachlass Lasky, New York, Box 1). 27 Brief von Melvin Lasky an Hannah Arendt vom 30. Oktober 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 225 (Nachlass Lasky, New York, Box 1).

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Maren Roth revolutionary. From the smallest details of physical living – to the self-control of deep ambitions and emotions – I have had to find myself, discover what I am really like.«28

Als Teil dieses Selbstfindungsprozesses stellte sich Lasky in dieser Zeit immer wieder ungeduldig die Frage, wie es mit ihm nach dem Ende seiner Dienstzeit weitergehen würde. Nach einer kurzen Phase der Sinnsuche und der Unklarheit über seine Ziele und seine Zukunft orientierte er sich im besetzten Deutschland recht schnell. Er beendete im Juli 1946 seinen Dienst bei der Armee und entschied sich, in Berlin zu bleiben. Lasky war fasziniert von der Stadt, in die er immer wieder von Frankfurt aus gefahren war, und hatte dort zudem im Sommer 1945 Brigitte Newiger, seine zukünftige Frau, kennen gelernt. Abbildung 4: Melvin Lasky vor dem Brandenburger Tor in Berlin, 1945

Quelle: Lasky Center for Transatlantic Studies.

3.3 Einschätzung und Bewertung als Quelle Das Kriegstagebuch von Melvin Lasky ist schon als für sich stehende Quelle ein ungemein faszinierendes Dokument und hat als neu entdecktes Deutsches Tagebuch 1945 eines amerikanischen Soldaten die meisten Rezensenten 28 Brief von Melvin Lasky an Floria Lasky vom 8. August 1945, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 189 (Nachlass Lasky, New York, Box 1).

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beeindruckt.29 Durch die Mischung aus nüchterner Beschreibung und emotionalem Kommentar erfährt der Leser viel aus dem Alltag der GIs beziehungsweise aus dem konkreten Arbeitsalltag der Armeehistoriker der 7. US-Armee. Einiges davon, wie zum Beispiel die Schilderung von Konflikten mit Kameraden und Vorgesetzten oder von diversen Frauengeschichten und Affären mögen durchaus typisch für ein Tagebuch dieser Art sein. Da Lasky aber, auch wenn er an manchen Stellen etwas altklug und oberlehrerhaft klingt, ein belesener, neugieriger, kritischer und vor allem wortgewandter Beobachter war, bietet das Tagebuch darüber hinaus interessante und neue Einblicke in den deutschen Nachkriegsalltag. Seine teils harsche Kritik an der amerikanischen wie an der sowjetischen Militärregierung, die Nacherzählungen seiner Gespräche mit Menschen jeglichen Alters und Hintergrunds und die Schilderungen seiner Treffen mit bedeutenden Persönlichkeiten und Intellektuellen seien hier als Beispiele genannt. Wenn man sich das Tagebuch aber nicht nur als für sich stehendes Zeitdokument, sondern auch im Zusammenhang mit Laskys Vita und seiner Tätigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg ansieht, ergibt sich noch eine weitere Dimension. In dieser Sichtweise erscheint das Tagebuch als eine Art Scharnier, das die Phase des Übergangs zwischen New York und Berlin beschreibt und in gewissem Sinne – zumindest rückblickend – seine Entscheidung für einen transatlantischen Ortswechsel auch erklärt. In seiner Funktion als »Combat Historian« war es Lasky möglich, sein schon lange vor dem Krieg gehegtes Interesse an Geschichte und am Journalismus beziehungsweise am journalistischen Schreiben in idealer Weise zu verbinden. Er hatte nach seinem Studium lange nicht gewusst, ob er später als Historiker an der Universität oder als Journalist einer intellektuellen Zeitschrift tätig sein wollte. Auch wenn er sich letztlich für den Journalismus entschied, war sein grundlegendes Interesse an Geschichte sowie das Interesse am einzelnen Menschen und seiner individuellen Geschichte in seinen Aufzeichnungen und Veröffentlichungen immer spürbar. Das Kriegstagebuch ist daher als viel mehr als ein, wie oben zitiert, »substitute for correspondence« zu sehen, sondern viel eher auch als eine Schreibübung oder die Rohfassung einer Publikation. Zwar gibt es in den Quellen keinen Beleg dafür, dass Lasky das Tagebuch publizieren wollte; die sauber getippten Seiten mit seinen zahlreichen handgeschriebenen Korrekturen könnten aber durchaus auf einen derartigen Plan hindeuten. Durch die relativ große Bewegungsfreiheit, die er für seine dienstlichen 29 Vgl. Martin 2014 a, Sattler 2014, Radlmaier 2014, Martin 2014 b, Rutschky 2014, Winkler 2015.

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Recherchen und Interviews immer hatte, war es ihm möglich, quasi nebenbei auch seinen privaten Interessen nachzugehen. Er konnte seine intellektuelle Neugier befriedigen, indem er – wie er es zuvor in New York schon immer gemacht hatte – unentwegt Kontakte knüpfte, für ihn interessante Personen traf und sich so einen direkten Eindruck von der allgemeinen Stimmungslage und insbesondere von der Kulturszene im Nachkriegsdeutschland machte. Als hilfreich erwies sich hier, dass er über grundlegende Deutschkenntnisse verfügte und sich dank der elterlichen Bibliothek und des Studiums auch gut mit dem deutschen Kultur- und Geistesgeschichte auskannte. Wenn er dann jemandem wie Karl Jaspers im persönlichen Gespräch die aktuelle Lage der Geisteswissenschaften in den USA schilderte und umgekehrt seinen Freunden aus dem Kreis der »New York Intellectuals« in langen Briefen den Zustand der Kultur in Deutschland beschrieb, sorgte er im Kleinen für transatlantischen intellektuellen Austausch und betätigte sich so schon früh als Mittler zwischen beiden Welten.

4. Berlin und die Anfänge des kulturellen Kalten Krieges Der Weg Laskys von New York nach Berlin war geprägt von der großen Bedeutung der familiären Sozialisation, großem Ehrgeiz, der ständigen Suche nach Kontakten zu für ihn interessanten Persönlichkeiten und unermüdlichem Netzwerken, einigen einschneidenden Zäsuren, zahlreichen Zufällen sowie auch, insbesondere nach seinem endgültigen Verbleib in Berlin ab Ende 1946, einer gewissen Eigendynamik. Rückblickend scheinen die Einflüsse seines familiären Hintergrunds, seiner Studienzeit sowie des jüdischen intellektuellen Milieus in New York als ideale Schule und Vorbereitung für sein späteres Wirken in Berlin im Kontext des kulturellen Kalten Krieges gewesen zu sein. Berlin, die Stadt, in der er sich wie ein Fisch im Wasser bewegte, erwies sich für ihn als idealer Ort, um seinen intellektuellen, politischen und persönlichen Interessen nachzugehen. »I think my father,« so die Antwort von Laskys Tochter Vivienne auf die Frage, warum ihr Vater denn nach dem Ende des Krieges nicht in die USA zurückkehrte und stattdessen im kriegszerstörten Berlin blieb,«my father liked to be a big fish in a little pond.«30 Während Lasky selbst in einem Brief an seinen Kameraden Mooney im Juli 1946 von dem »persistent emotional pull towards Berlin«31 spricht, waren für Harold 30 Interview mit Vivienne Freeman Lasky am 13. März 2011 in Providence, Rhode Island. 31 Brief von Melvin Lasky an Ed Mooney vom 16. Juli 1946, in: Melvin J. Lasky, »›First Indorsement‹ Journal of a Conscript. 1945«, S. 265 (Nachlass Lasky, New York, Box 1).

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Hurwitz, einem engen Freund Laskys und später tätig für den Monat, ähnlich wie für Laskys Tochter doch eher andere Beweggründe ausschlaggebend für dessen Entscheidung: Hurwitz: Hier war er im Mittelpunkt. Wo [sonst] sollte er im Mittelpunkt sein? Roth: Am Anfang aber noch nicht. Hurwitz: Aber er schaffte das. Erstens ist es interessant, es ist Europa, es ist [ein] Viermächtestaat, einmalig. Dieses Kulturleben in Berlin mit den Russen, den Franzosen, alles, das war einmalig.32

Beruflich knüpfte er an seine journalistische Arbeit in New York an und berichtete ab Herbst 1946 als Korrespondent für die Partisan Review und den New Leader. Diese Tätigkeit erlaubte ihm nicht nur, seine Kontakte zu deutschen und westeuropäischen Schriftstellern, Intellektuellen und Politikern weiter auszubauen, sondern auch den Kontakt nach New York zu halten und somit nun endgültig seinem intellektuellen Netzwerks eine transatlantische Komponente hinzuzufügen. Als er ein Jahr später den Ersten Deutschen Schriftstellerkongress besuchte, kam es dann – anscheinend war er von Günter Birkenfeld, einem der Vorsitzenden, auf die Rednerliste »geschmuggelt« worden – zu seiner kurzen Rede, in der er sich vehement für die kulturelle Freiheit aussprach.33 Kurz nach diesem vielbeachteten Auftritt berichtete er, nicht ohne Stolz, Dwight Macdonald von dem Wirbel um seine Person, der nach dem Kongress einsetzte: »You know, ever since that matter of the German Writer’s Congress – I suppose you saw the dispatches in the NY papers – my name has suddenly become a war cry and my telephone a national headquarters. At any rate, the NL [New Leader], PR [Partisan Review] and MJL [Melvin J. Lasky] got a measure of notoriety out of the affair. But what has happened since that press controversy – in which Katayev called me a Kriegsbrandstifter, and the other Russians worse than that – is that I have suddenly become the representative of Western culture in these parts – publishers beat a path to my door demanding advice on political, historical, literary, psychological issues of every variety.«34

Unabhängig davon, wie spontan, zufällig oder eventuell doch geplant seine provokante Intervention war, sie machte ihn auf jeden Fall zu dem zentralen Protagonisten einer Veranstaltung, die bezeichnet worden ist als »the first major event in th[e] battle for the hearts and minds that has become known 32 Interview mit Harold Hurwitz vom 1. Mai 2009 in Berlin. 33 Vgl. Reinhold / Schlenstedt / Tanneberger 1997: 49 f. 34 Brief von Melvin Lasky an Dwight Macdonald vom 10. Oktober 1947 (Nachlass Macdonald, Yale University, MS 730, Box 27, Mappe 707).

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as the ›Cultural Cold War‹«.35 Seit Beginn der 1940 er-Jahre und seinem Bruch mit dem Trotzkismus hatte sich Lasky – wie viele seiner intellektuellen Freunde auch – zu dem liberalen Antikommunisten entwickelt, als der er als Gründer des Monat und Mitbegründer des CCF bekannt wurde. Es war vor allem sein Glaube an die Bedeutung von Kultur und sein Einsatz für die kulturelle Freiheit, die seine Arbeit im Nachkriegseuropa prägten und ihn mit einem ähnlich missionarischen Eifer agieren ließen wie zuvor, als es darum gegangen war, stalinistische Kommilitonen »umzudrehen«. »It is apparent that, through the late 1940s, Lasky’s notion of an activist role for culture in the organization of society, fuelled originally by Trotzky’s writings and the inspirational anti-Stalinism of figures such as Sidney Hook and those gathered around Partisan Review, hardened into an ideological crusade aligned with the basic goals of American foreign policy.«36

5. Schlussbemerkung Die Kriegserfahrung war für Lasky ein einschneidendes Erlebnis auf seinem transatlantischen Weg von New York nach Berlin. Das Kriegstagebuch als Dokument des Übergangs war für Lasky, für den das Schreiben an sich beziehungsweise das Führen eines Tagebuchs bereits Gewohnheit war, ein Vehikel, um zum einen seiner intellektuell wenig inspirierenden militärischen Umgebung zumindest in Gedanken zu entgehen und zum anderen, um seine starken Eindrücke und Erlebnisse festzuhalten und auf diese Weise auch emotional zu verarbeiten. Beeindruckt von diesem Dokument der Zeitgeschichte schrieb ein 1931 geborener Zeitzeuge an den Herausgeber der deutschen Übersetzung, Wolfgang Schuller: »Der Menschlichkeitskompaß, mit dem der 25-jährige sich durch Hass und Trümmer, Krieg, Vorprägung und eigene Erfahrung zu finden weiß, ist wahrhaft bewegend und tröstend. Er hatte wohl auch Glück mit seiner Verwendung, aber das weitaus meiste ist seiner inneren Selbstständigkeit und Urteilsfähigkeit zuzuschreiben, dieser erstaunlichen Sensibilität, Noblesse und Gefühlssicherheit, die ihn die Zerstörung Deutschlands so empfinden, überall freundliche Menschen wahrnehmen, die zerfahrene Besatzungspolitik der Sieger beurteilen, Jaspers und Marianne Weber besuchen (man fragt sich, wie nur dieses Bildungsfundament zustande kommen konnte), deutsche Bibliotheken und Buchhandlungen durchstöbern oder auch rasch erkennen lässt, dass es keine Untergrundbewegung gegen die Besatzungsmacht gab.«37 35 Scott-Smith 2000: 264. 36 Scott-Smith 2000: 279. 37 Brief von Dieter Timpe an Wolfgang Schuller vom 23. März 2015. Ich möchte mich bei Dieter Timpe und Wolfgang Schuller für die Erlaubnis zur Verwendung des Briefes bedanken.

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Abbildung 5: Lasky im Redaktionsbüro des Monat im Dezember 1948

Quelle: SLUB Dresden / Deutsche Fotothek, Fritz Eschen.

Es war eben dieses Bildungsfundament, die Bedeutung, die die europäische und gerade auch die deutsche Kultur und Literatur für Lasky schon zuvor in New York gehabt hatte, die ihn zielstrebig Kontakte zur literarischen und intellektuellen Szene im besetzten Deutschland auch während seiner Dienstzeit knüpfen ließ. Als Lasky dann im Dezember 1947 Lucius D. Clay, den Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, in einem Memorandum auf die dringende Notwendigkeit einer »new overt publication, effectively American-oriented, on the cultural front« hinwies, war er mit der kulturellen Szene und den intellektuellen Bedürfnissen vor Ort bereits

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sehr gut vertraut.38 Im März 1948 erhielt er eine Stelle in der Kulturabteilung der Militärregierung und damit genau die erhoffte Aufgabe: die Gründung eines Kulturmagazins. Mit dem Erscheinen der ersten Ausgabe des Monat am 1. Oktober 1948 erfüllte Lasky sich nicht nur seinen seit Studienzeiten gehegten Traum von einem eigenen »little magazine«; er hatte inzwischen auch seine amerikanischen und seine neuen europäischen Kontakte miteinander ins Gespräch gebracht und so die Grundlage für das Netzwerk geschaffen, auf das er immer wieder zurückgriff und das er kontinuierlich weiter ausbaute. Laskys Tätigkeit und Rolle als transatlantischer Mittler im kulturellen Kalten Krieg ist genauso wie sein kontroverses Verhalten im Kontext der Aufdeckung der Finanzierung des CCF durch die CIA nicht unumstritten und muss im Einzelnen kritisch untersucht und hinterfragt werden. Allerdings ist das Wissen um seinen Hintergrund und Prägungen und zwar sowohl in seiner Jugend in New York als auch als Soldat im Zweiten Weltkrieg unabdingbar, um Lasky als Person und damit auch seine spätere Tätigkeit, Einstellungen und Beweggründe zu verstehen und ihn auf diese Weise auch angemessener im Kontext des kulturellen Krieges einordnen zu können als es bislang in Teilen der Literatur geschehen ist.

Literatur Berghahn, Volker (2001): America and the Intellectual Cold Wars in Europe, Princeton. Binder, Elisabeth (1992): »In einem Vorleben war ich Europäer«, in: Der Tagesspiegel, 5. Februar 1992. Gienow-Hecht, Jessica (1999): Transmission Impossible. American Journalism as Cultural Diplomacy in Postwar Germany 1945 – 1955, Baton Rouge. Jaesrich, Hellmut (1985): Den Großschriftstellern Paroli geboten. Demokrat aus Überzeugung, Berliner aus Leidenschaft – Melvin J. Lasky wird heute 65 Jahre alt, in: Die Welt, 15. Januar 1985, S. 17. Lasky, Melvin J. (2002): The Language of Journalism. Bd. 1: The Newspaper Culture, New Brunswick. Lasky, Melvin J. (2014): Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945, hrsg. von Wolfgang Schuller, Berlin.

38 Melvin J. Lasky: »Memorandum: On the Need for an New Overt Publication, Effectively American-oriented, on the Cultural Front,« 7. Dezember 1947, Kopie (Nachlass Lasky, Memoiren Box 1).

Melvin J. Lasky als Akteur im kriegszerstörten Deutschland

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Martin, Marko (2014 a): Sprich nicht drüber, in: Jüdische Allgemeine, 20. November 2014 (online unter: www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/20763 – letzter Zugriff: 27.11.2017). Martin, Marko (2014 b): Melvin J. Laskys deutsches Tagebuch 1945: Seelenlandschaft in Trümmern, in: Neue Zürcher Zeitung, 3. Dezember 2014 (online unter: www.nzz. ch/feuilleton/buecher/seelenlandschaft-in-truemmern-1.18436866 – letzter Zugriff: 27.11.2017). Radlmaier, Steffen (2014): Zwei Amerikaner im Land des Bösen. Das deutsche Tagebuch von Melvin J. Lasky und Jack El-Hais »Der Nazi und der Psychiater«, in: Nürnberger Nachrichten, 29. November 2014, S. 10. Reinhold, Ursula / Schlenstedt Dieter / Tanneberger, Horst (Hg.) (1997): Erster Deutscher Schriftstellerkongreß. Protokoll und Dokumente, Berlin. Rutschky, Michael (2014): Bildungsreise durch Trümmerdeutschland. Ein US-Soldat als Meister Eckhart: Melvin Laskys »Deutsches Tagebuch 1945«, in: Die Welt, 27. Dezember 2014 (online unter: www.welt.de/print/die_welt/literatur/article135772274/Bildungsreise-durch-Truemmerdeutschland.html – letzter Zugriff: 15.01.2018). Sattler, Stephan (2014): Begegnungen hinter der Front, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. November 2014. Scott-Smith, Giles (2000): »A Radical Democratic Political Offensive«: Melvin Lasky, Der Monat, and the Congress for Cultural Freedom, in: Journal of Comparative History 35 (2/2000), S. 263 – 280. US Army (1946): The Seventh United States Army in France and Germany 1944 – 1945. Report of Operations, 3 Bde., Heidelberg. Winkler, Willi (2015): Wo war ihr Stolz? Das »Deutsche Tagebuch 1945« des amerikanischen Journalisten Melvin Lasky ist das Zeugnis eines unkriegerischen Siegers, in: Süddeutsche Zeitung, 9. Februar 2015, S. 12.

Jan Logemann

Der Atlantik – eine Einbahnstraße? Wechselseitige Transfers durch Emigranten und Rückkehrer um die Mitte des 20. Jahrhunderts Der Atlantik – eine Einbahnstraße? Der Atlantik – eine Einbahnstraße? Wechselseitige Transfers durch Emigranten und Rückkehrer um die Mitte des 20. Jahrhunderts

1. Einleitung Was ist »amerikanischer« als ein Shopping Center? Die ab den 1950 er-Jahren zunehmend verbreiteten geschlossenen Shopping Malls galten lange als ein prägnantes Symbol sowohl für den Wohlstand der US-amerikanischen Nachkriegskonsumgesellschaft als auch für neue Formen suburbaner Stadtentwicklung. Der amerikanische Architekt Victor Gruen wies mit Projekten in Minneapolis und Detroit den Weg hin zu dieser neuen Form des Einkaufszentrums, die bald auch in Europa Beachtung und ab den 1960 er-Jahren erste Nachahmung fand. Gruen, der unter Konsum- und Architekturhistorikern in den vergangen Jahren große Aufmerksamkeit fand, gilt gemeinhin als der »Vater der Shopping Mall.«1 In den Nachkriegsjahrzehnten waren Gruen und sein Architekturbüro nicht nur in den USA planerisch aktiv, sondern vermittelten ihre Visionen einer »modernen« Konsumgeographie auch in deutschen und anderen europäischen Städten. So passt der Fall Victor Gruen scheinbar sehr gut in etablierte Narrative einer »Amerikanisierung« der Gesellschaft Nachkriegseuropas, die neben politischen und kulturellen Aspekten immer wieder besonders die Ebenen des Massenkonsums und der Stadtentwicklung mit in den Blick nehmen. Hier geht es klassisch um eine »Modernisierung« und »Westernisierung« der Gesellschaften Nachkriegseuropas durch amerikanische Impulse und Einflüsse; und der Blick auf Marschallplan-Projekte oder amerikanische Populärkultur tragen zu einer Wahrnehmung des Atlantiks als »Einbahnstraße« des Transfers von den USA nach Deutschland und (West-)Europa bei.2 Dabei eignet sich jedoch gerade der Fall Victor Gruens sehr gut, um eben diese, sehr glatte Amerikanisierungserzählung ein wenig infrage zu stellen oder 1 2

Zu Gruen vgl. Hardwick 2004, Dagen-Bloom 2005. Zur umfangreichen Literatur zu »Amerikanisierung« vgl. besonders de Grazia 2005 (zur Rolle des Konsums) sowie unter anderem Berghahn 2010 und Stephan 2006.

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wenigstens zu relativieren. Der amerikanische Architekt Gruen war nämlich zugleich ein europäischer Emigrant. Geboren 1903 als Viktor Grünbaum in Wien, war Gruen in Europa zum Architekten ausgebildet worden und hatte seine ersten Erfahrungen als Laden-Designer in Wien gemacht. Nachdem er 1938 ins amerikanische Exil geflüchtet war, entwickelte er hier eine Architekturkarriere weiter, die durchaus auf ihren europäischen Ursprüngen aufbaute. Seine Pläne für die frühen Shopping Malls waren geleitet von dem Gedanken, die Gemeinschaftsfunktion traditioneller europäischer Stadtzentren in den neuen Kontext der entstehenden amerikanischen Vorstädte zu überführen.3 Als sich die erhoffte »Community«-Funktion jedoch nicht einstellte, wurde Gruen ab den späten 1950 er-Jahren zunehmend zu einem Advokaten von Fußgängerzonen nach europäischem Vorbild auch in amerikanischen Städten. Zudem warnte er nun in Europa vor einer Übernahme jenes Modells »amerikanischer« Konsumräume, das er selbst zunächst maßgeblich mitgeprägt hatte.4 Das Beispiel Gruens soll zum einen die Komplexität und Wechselseitig keit von transatlantischen Transfers um die Mitte des 20. Jahrhunderts verdeutlichen. Zwar entstanden auch in europäischen Städten Shopping Center, aber von einer »Amerikanisierung« durch Vorstadt-Malls (die heute auch in den USA zunehmend in die Krise geraten) lässt sich kaum sprechen – die Konvergenz der Konsumgesellschaften hatte in den Nachkriegsjahrzehnten auch klare Grenzen.5 Zum anderen verdeutlicht die Karriere Gruens exemplarisch, welche exponierte Rolle Emigranten als transatlantischen Mittlern in gesellschaftlichen Wandlungsprozessen jener Jahrzehnte zukam.6 Sie formten eine einflussreiche Gruppe von Elitenmigranten, die in transnationalen Netzwerken sowohl auf amerikanische als auch auf europäische Gesellschaften gewirkt haben und dabei häufig als Vermittler und Übersetzer zwischen beiden Gesellschaften fungierten. Diese »Wanderer zwischen den Welten«, wie sie gelegentlich etwas floskelhaft, aber in vieler Hinsicht durchaus zutreffend beschrieben werden, sollen im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Sie waren eine heterogene Gruppe von Experten und »Professionals« aus sehr unterschiedlichen Wissenszusammenhängen und Gesellschaftsbereichen, die sich selbst zum Teil als Amerikaner und zum Teil als Europäer verstanden, sich aber vielfach in den Räumen dazwischen am stärksten heimisch fühlten. Im Rahmen des Nach3 4 5 6

Vgl. Cohen 1996. Vgl. Logemann 2006. Generell zum Vergleich der Nachkriegskonsumgesellschaften vgl. Logemann 2012. Zum Konzept der transatlantischen Mittler vgl. Bauerkämper / Jarausch / Payk 2005.

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wuchsforschungsprojekts Der Transatlantische Blick: Europa in den Augen europäischer Migranten in den Vereinigten Staaten, 1930 – 1980, auf dessen Ergebnissen diese Ausführungen aufbauen, haben wir uns mit einer großen Zahl solcher transatlantischen Karrieren systematisch auseinandergesetzt.7 Dabei lag der Schwerpunkt auf Gruppen wie Sozialwissenschaftlern, Ökonomen, Architekten und Stadtplanern, Managern und Konsumforschern, also auf Gruppen, die sich ebenso wie politische Eliten mit der Planung und dem Aufbau »moderner« Nachkriegsgesellschaften beschäftigten.8 Ihre Beiträge zu transatlantischen Austauschprozessen knüpften an jene wechselseitigen Transfers an, die Daniel Rodgers für die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts beschrieben hat.9 Auch auf dem Höhepunkt des von Henry Luce so betitelten »American Century«, dies konnte das Projekt zeigen, blieb die westliche Welt von multidirektionalen Transferprozessen geprägt.10 Eine Geschichte der durch Emigranten vermittelten Transferprozesse, wie ich sie im Folgenden vorstellen werde, soll somit ein Korrektiv darstellen gegenüber Narrativen hegemonialer »Amerikanisierung«. Sie soll aber auch über die klassische Emigrationsgeschichte, die ja für etliche Gesellschaftsbereiche schon gut erforscht ist, hinausgehen.11 Zunächst gilt es, der neueren Migrationsforschung folgend, dem Begriff des einseitigen »Brain Drains« durch Emigration jenen der »Brain Circulation« entgegenzusetzen.12 Elitenmigration kann dadurch weniger als eine Geschichte von Gewinn und Verlust als ein Wissensaustausch mit einem Mehrwert für Sende- und Empfängergesellschaft gefasst werden. Die Rolle der rückkehrenden Emigranten (oder »Remigranten«) ist von der Forschung schon in dieser Hinsicht beleuchtet worden, jedoch war der Blick dabei stark auf die politische Kultur und Fragen etwa der »Demokratisierung« gerichtet, während der Einfluss auf andere Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft der Nachkriegszeit bisher seltener thematisiert wurde.13 Es fehlt zudem in der Regel die Verknüpfung der Remigration mit der vorhergehenden Emigration, also die Erfahrung des transatlantischen Hin und Her. Schließlich gilt es, die Emigration und ihre Transfers einzubetten in eine längere Geschichte des transatlantischen 7

8 9 10 11 12 13

Zum Projekt »Transatlantic Perspectives« vgl. die Webseite: www.transatlanticperspectives. org, auf der sich Beiträge zu den meisten der hier diskutierten Emigranten finden, sowie Logemann et al. 2011. Zum problematischen Begriff der »Modernisierung« vgl. Engerman / Unger 2009. Vgl. Rodgers 1996. Vgl. Logemann / Nolan 2014. Zur Geschichte der Emigration vgl. etwa Unger 2009. Zur »Brain Circulation« durch Elitenwanderung siehe Dahlmann / Reith 2008. Zur Geschichte der Remigration vgl. Krauss 2011, Krohn / Schildt 2002, Krohn / Mühlen 1997.

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Austauschs von Menschen und Ideen im 20. Jahrhundert und dessen Konjunkturen. Dazu können die Erkenntnisse der transnationalen Geschichte fruchtbar gemacht werden und insbesondere ihr Blick auf zwischenstaatliche Netzwerke und Institutionen, die grenzüberschreitenden Austausch ermöglichten. Der transnationalen Geschichte hingegen bietet der Blick auf die Emigranten eine akteursbezogene Perspektive auf Transfers, die besonders die Übersetzungsleistungen und die Konflikthaftigkeit bei diesen Prozessen hervorhebt.

2. Emigration im Kontext transnationaler Austauschprozesse bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Wenn man wechselseitige transatlantische Transferprozesse durch Emigranten analysiert, so müssen diese zunächst in einen größeren Zusammenhang transnationaler Austauschprozesse bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eingeordnet werden. In der Einwanderungsgesellschaft USA gab es natürlich eine lange Tradition des intellektuellen und technischen Transfers durch Migration in vielen Bereichen der Gesellschaft. Für den Bereich der Wirtschaft und des Unternehmertums untersucht dies zum Beispiel das breit angelegte Forschungsprojekt »Immigrant Entrepreneurship«, das den Karrieren von eingewanderten Unternehmern in den USA und den damit verbundenen Know-How-Transfers seit dem 18. Jahrhundert nachspürt.14 Schon vor der massiven, erzwungenen Elitenmigration der 1930 er-Jahre gibt es also Prozesse der transatlantischen »Brain Circulation« durch Migration. Der transatlantische Austausch intensivierte sich mit Blick auf verschiedene Wissensbereiche und gesellschaftliche Wandlungsprozesse seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert besonders stark und wurde keineswegs nur von Migranten getragen. Vielmehr bildeten sich durch Reisen, Studienaufenthalte, Fachjournale und internationale Kongresse multilaterale Expertennetzwerke heraus, in denen Fragen wie moderner Städtebau, sozialpolitische Neuordnung und andere gemeinsame Herausforderungen industrialisierter Gesellschaften transnational verhandelt wurden.15 Die amerikanische »Progressive Era« nahm dabei vielerlei Impulse aus Europa auf, während Europa seit dem frühen 20. Jahrhundert ebenso immer wieder den Blick auf die USA und deren Gesellschaftsentwicklung, auf moderne Architektur, Massenkon-

14 Vgl. Berghoff / Spiekermann 2010. 15 Vgl. Rodgers 1996.

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sum und »rationalisiertes« Wirtschaften legte.16 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieser Prozess des transatlantischen Wissensaustauschs durch eine wachsende Zahl internationaler Organisationen zunehmend institutionalisiert. Besonders amerikanische Stiftungen wie die »Carnegie Endowment« oder die »Rockefeller Foundation« setzten den Rahmen für eine vermehrte transatlantische Wissenszirkulation, die dann später in die unter anderem von der »Ford Foundation« mitgetragenen transatlantischen Wissensnetzwerke der Nachkriegszeit übergingen.17 Für europäische Wissenschaftler in vielen Disziplinen war in der Zwischenkriegszeit das »Rockefellern«, der von einer Stiftung finanzierte Aufenthalt in den USA, ebenso vertraut wie andere Formen des Austauschs mit Kollegen jenseits des Atlantiks und bildete somit auch einen Erfahrungshorizont für viele spätere Emigranten.18 In den 1930 er-Jahren erhöhte sich die Zahl derer, die aus Gründen politischer Verfolgung in die USA emigrierten, immens. Allein aus dem nationalsozialistischen Deutschland flohen nach 1933 etwa 130 000 Menschen in die USA, die zum Teil zu den funktionalen und gesellschaftlichen Eliten der Weimarer Republik gehört hatten, jetzt aber aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder ihrer politischen Einstellung zur Flucht gezwungen waren.19 Die Forschung hat die Umstände ihrer Flucht und die oft sehr schwierigen Adaptionsprozesse im Aufnahmeland USA in den vergangenen Jahrzehnten eingehend untersucht.20 Gerade die intellektuellen Beiträge der Emigranten zu bestimmten Wissensbereichen in den USA, wie etwa der Physik, der Psychologie oder den Wirtschaftswissenschaften sind gut dokumentiert.21 Während manche Probleme hatten, sich in ihrem jeweiligen Feld im Exil neu zu etablieren oder sich auf die Vereinigten Staaten als neues »Heimatland« einzulassen, konnten andere an schon vor der Emigration bestehende Verbindungen in die USA anknüpfen oder berufliche Karrieren jenseits des Atlantiks weiterführen. Oft spielten Zufälligkeiten eine Rolle, wie etwa bei jenen europäischen Architekten und Künstlern, die für die New Yorker Weltausstellung 1939/40 gearbeitet hatten und dann bei Ausbruch des Krieges in den USA »hängen geblieben« waren.22

16 Für Deutschland vgl. besonders Nolan 1994. 17 Zur transnationalen Rolle der Stiftungen vgl. Krige /Rausch 2012, Gemelli /MacLeod 2003; zur Carnegie Stiftung siehe auch Wegener 2012. 18 Vgl. Fleck 2007. 19 Vgl. Krohn 1998. 20 Vgl. Unger 2009, siehe auch Krohn 2009, Ash / Söllner 1996, Quack 1995. 21 Klassische Studien aus diesem Bereich sind etwa Fermi 1968 und Coser 1984. 22 Zur Weltausstellung vgl. Sponholz 2012.

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Neben solchen Kontingenzen war aber sowohl für die persönliche Karriereentwicklung der Emigranten als auch für die Entwicklung nachhaltiger transatlantischer Austauschprozesse die Ausbildung von Netzwerken und von institutionellen Zentren von großer Bedeutung. Erste Anlaufstation waren dabei vielfach die verschiedenen Hilfsorganisationen gerade für jüdische Flüchtlinge, die sich um eine berufliche Unterbringung der Emigranten (zunächst oft mit dem Ziel der Visumsbeschaffung) kümmerten. Das »Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars« etwa wurde dabei finanziell von der Rockefeller Foundation unterstützt.23 Für politische Migranten waren Exilvereinigungen etwa von Parteien und Gewerkschaften oft eine institutionelle Basis. Die »University in Exile« der New Yorker »New School for Social Research« dagegen stellte ein wichtiges Zentrum für emigrierte Experten aus den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften dar, das durch die Unterstützung von Hilfsorganisationen und amerikanischen Stiftungen zu einem Knotenpunkt für transatlantische Wissenstransfers wurde.24 Auch individuelle Netzwerke bildeten sich in verschiedenen Bereichen zumeist um einflussreiche Persönlichkeiten herum aus. So gelang es etwa dem Architekten Walter Gropius, der sich früh an der Harvard University etablieren konnte, sukzessive ehemalige europäische Kollegen aus dem Umfeld der Bauhaus-Schule in den USA zu platzieren.25 Gropius und seine Verbindungen waren dabei Teil eines weiteren Netzwerkes moderner Architekten und Stadtplaner im Umfeld des Internationalen Kongresses Moderner Architektur (CIAM), das schon in den 1920 er-Jahren eine transatlantische Dimension hatte und dessen Schwerpunkt sich nun durch die Emigration in die USA verschob. Damit verschob sich auch der Schwerpunkt des transnationalen Nachdenkens über Formen der »modernen Stadt« in den 1930 er- und 1940 er-Jahren zunehmend in die Vereinigten Staaten, um dann nach dem Krieg etwa in Form des »International Style« wieder auf Europa zurückzuwirken.26 Ähnliche Netzwerke des Transfers, die zunächst in den USA wirkten, aber nach dem Zweiten Weltkrieg auf den gesamten atlantischen Raum ausstrahlten, finden sich auch in anderen Gesellschaftsbereichen, wie im Folgenden am Beispiel der Konsumforschung gezeigt werden soll.

23 Vgl. zum Beispiel Löhr 2012. 24 Zur New School vgl. Krohn 1988. 25 Zur Rolle des Bauhaus in den Vereinigten Staaten siehe Kentgens-Craig 1999, James 2006, Pearlman 2007. 26 Stadtplanung als transnationale Disziplin diskutieren unter anderem: Domhardt 2011, Wagner 2014, Joch 2014.

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3. Bedeutung von Krise und Krieg: Wirken der Emigranten und die US-(Nach-) Kriegsplanung Der transatlantische Transfer durch Emigranten von Europa in die USA in den 1930 er- und 1940 er-Jahren ist nicht allein als Folge eines plötzlich entstandenen Angebots europäischer Elitemigranten zu verstehen. Zu einem bettete sich der Transfer wie beschrieben in bestehende Muster wechselseitigen Austauschs ein und zum anderen gab es in den USA eine verstärkte Nachfrage nach innovativen Konzepten aus dem europäischen Ausland. Forschungen zur Transferanalyse haben die Bedeutung der Beziehung von Angebot und Nachfrage und damit der aktiven Partizipation von Entsendeund Aufnahmegesellschaft bei Transferprozessen herausgestrichen.27 In den USA der 1930 er-Jahren war diese »Nachfrage« besonders den Erfahrungen der Großen Depression und neuen politischen Ansätzen der Regierung Franklin D. Roosevelts und des New Deal in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, aber auch in Bereichen wie der oben schon angesprochenen Stadtentwicklung geschuldet.28 Hier verortet sich auch die transatlantische Karriere des Wiener Soziologen Paul Lazarsfeld, der sowohl für die empirische Sozialforschung als auch für die amerikanische Markt-, Konsum- und Medienforschung von nachhaltier Bedeutung war.29 Gerade der Massenkonsum war in der Folge der Weltwirtschaftskrise grundlegend erschüttert worden. Nicht nur der amerikanische Staat richtete immer stärker den Blick auf Konsumenten, wie die jüngere Forschung betont, sondern auch amerikanische Unternehmen suchten nach neuen Ansätzen, Konsumenten zu verstehen und zu beeinflussen.30 Amerikanische Marketingexperten propagierten Anfang der 1930 er-Jahre die Bedeutung eines neuen »Consumer Engineering,« eines konsumentenzentrierten Marketingansatzes, für dessen Ausgestaltung sie auf europäische Impulse im Design und in der Kosumpsychologie schauten.31 Einen solchen Impuls brachte Lazarsfeld, der sich in den Jahren vor seiner Emigration zu einem der führenden europäischen Konsumforscher entwickelt hatte. Lazarsfeld hatte in Wien die Wirtschaftspsychologische 27 Zur Transfergeschichte als Methode vgl. Middell 2000. 28 Zur transnationalen Dimension des New Deals vgl. Patel 2003, Schivelbusch 2005: zur Beziehung der Emigranten zum New Deal vgl. Radkau 1971. 29 Zu Lazarsfeld vgl. etwa Langenbucher 2008. 30 Zur wachsenden Bedeutung des Konsums für amerikanische Politik um die Mitte des 20. Jahrhunderts vgl. Cohen 2003, Jacobs 2004. 31 Vgl. Sheldon / Arens 1932.

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Forschungsstelle aufgebaut, die dem psychologischen Institut der Universität zugeordnet war. Gegründet als ein österreichisches Institut zur Erforschung der Motivationen wirtschaftlichen Handelns, nahm Lazarsfelds Einrichtung auch Einflüsse aus der amerikanischen Konjunkturforschung und aus der empirischen Sozialforschung dort auf. Die bekannte Studie zu den Arbeitslosen in Marienthal etwa, knüpfte an die Tradition soziologischer Community Studies wie der von Robert und Helen Lynd zu »Middletown« an.32 Gleichzeitig betrieben Lazarsfeld und seine Mitarbeiter Markt- und Mediennutzungsstudien für Unternehmen und erforschten die Kaufmotive von Konsumenten in Wien und später in ganz Mitteleuropa. Das Institut leistete Pionierarbeit in der empirischen und qualitativen Erforschung von Kaufentscheidungen und finanzierte sich gleichzeitig über Studien für Unternehmen wie den Schuhproduzenten Bally.33 Paul Lazarsfeld ging 1932 »Rockefellern«, als er von der Stiftung ein Forschungsstipendium erhielt, um neuere Entwicklungen der amerikanischen Markt- und Meinungsforschung zu studieren.34 Lazarsfeld entschied sich bald, in den USA zu bleiben, zumal sich die politischen Perspektiven in Europa zunehmend verschlechterten. Er knüpfte erfolgreich Kontakte zu amerikanischen Regierungskreisen und verschiedenen Großunternehmen, die er bei Marktstudien beriet. Mit Hilfe der Rockefeller Foundation und amerikanischer Kollegen gelang es ihm, eine Reihe von Forschungsinstituten in New Jersey und New York aufzubauen, die – dem Wiener Vorbild folgend – zwischen Markt- und Medienforschung einerseits und empirischer Sozialforschung andererseits changierten. Am bekanntesten war sicherlich das sogenannte »Radio Research Projekt« in Kooperation mit der Princeton University und der Rundfunkanstalt CBS, das zu den frühen Anfängen der amerikanischen Mediennutzungsforschung zählt. Im Rahmen dieses Projekts hatte Lazarsfeld über Kontakte mit Max Horkheimer neben anderen, ebenfalls im New Yorker Exil befindlichen Mitgliedern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung auch Theodor Adorno für einige Zeit beschäftigt, der für das Projekt über den Musikkonsum schrieb.35 So vernetzte Lazarsfeld aktiv Emigranten aus verschiedenen europäischen Forschungszusammenhängen. Darüber hinaus gelang es ihm, viele seiner ehemaligen Wiener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den USA unterzubringen und er half ihnen, dort Karrieren aufzubauen. So fertigten unter anderem Ernest Dichter, Herta Herzog 32 Vgl. Fleck 1990. 33 Für eine detailliertere Darstellung dieser Beziehungen siehe Logemann 2013. 34 Vgl. Bewerbungsschreiben Lazarsfelds an die Rockefeller Foundation, Entwurf 1932 (Paul-F.-Lazarsfeld Archiv, Universität Wien, Box »Biography I«) 35 Vgl. die Aufsätze von Adorno 1969 und Lazarsfeld 1969.

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und Hans Zeisel Studien für das von Lazarsfeld mitbegründete »Bureau for Applied Social Research« an der Columbia University in New York an. Sie alle wurden in den 1940 er- bis 1960 er-Jahren Teil einer als »Vienna School of Market Research« zu fassenden Gruppe, die unter anderem den Ansatz der psychologischen Motivforschung im amerikanischen Marketing mitetablierte.36 Der Fall der Wiener Schule der Marktforschung (auf deren inhaltliche Leistungen an dieser Stelle nicht detailliert eingegangen werden kann) steht exemplarisch für einen erfolgreichen Transfer durch Integration in neue akademische, wirtschaftliche und politische Strukturen. Das Angebot neuer qualitativer und quantitativer Ansätze in der Konsumforschung seitens der Emigranten stieß dabei auf ein reges Interesse in der Aufnahmegesellschaft und trug zu einem Gelingen des Adaptionsprozesses bei. Neben solchen Erfolgsgeschichten zeigen die Emigrantenkarrieren jedoch auch immer wieder Fälle, in denen sich die Übersetzung schwierig erweist beziehungsweise der Transfer oder gar die transatlantische Karriere scheiterten. Die europäischen Migranten waren eine heterogene Gruppe und bei etlichen, wie etwa dem erwähnten Theodor Adorno, war die Auseinandersetzung mit amerikanischer Kultur und Gesellschaft stärker konfliktbehaftet als bei der Gruppe um Lazarsfeld.37 Adornos prominente Kritik an der amerikanischen »Kulturindustrie« war nicht unbedingt ein Einzelfall, auch viele der europäischen Designer, deren Arbeiten im amerikanischen Exil sehr nachgefragt waren, blieben den kommerziellen Aspekten der amerikanischen Konsumkultur gegenüber eher verschlossen. Obwohl sie zum Teil mit amerikanischen Unternehmen arbeiteten und nicht ohne Erfolg in den USA blieben, verfolgten solche Künstler wie Laszlo Moholy-Nagy oder Bernard Rudofsky jedoch Vorstellung von Gesellschaftsentwicklung, die nur schwer mit den Interessen amerikanischer Unternehmen in Einklang zu bringen waren. Während »moderne« Formen in der Bauhaus-Tradition immer wichtiger für das amerikanische Konsumdesign wurden, gelang der Transfer der hinter diesen Formen stehenden Konzeptionen nur sehr begrenzt, wie die Rezeption des »New Bauhaus« in Chicago zeigte.38 Neben der wirtschaftlichen Krise der 1930 er-Jahre kam dann dem Zweiten Weltkrieg eine besondere Bedeutung für die Nachfrage nach Transfers durch Emigranten zu. Ihre Expertise war in etlichen Fällen nun gleichsam doppelt gefragt: einerseits als Fachexperten im Design, in der Marktforschung, der 36 Vgl. Zeisel 1988. 37 Zu Adorno in den Vereinigten Staaten vgl. unter anderem Jenemann 2007, Wheatland 2009. 38 Vgl. Logemann 2013.

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Logistik oder anderen Bereichen der Kriegsplanung für das Militär und an der Heimatfront und zum anderen galten sie – dank ihres Migrationshintergrundes – als Experten für Deutschland beziehungsweise Europa. Zahlreiche Emigranten beteiligten sich an den amerikanischen Kriegsanstrengungen. Der emigrierte Bauhauskünstler György Kepes etwa widmete sich dem Camouflage-Design, während sein ehemaliger Bauhauskollege Herbert Bayer Kriegsposter für Regierungsbehörden gestaltete. Etliche der emigrierten Marktforscher wiederum, befassten sich mit der Stimmung und den Bedürfnissen an der Heimatfront. Paul Lazarsfeld war Berater der Forschungsstelle der US-Armee sowie des zivilen »Office of War Information« (OWI). Sein Forschungszentrum in New York erstellte Medienanalysen für Propagandabroschüren und untersuchte die Effektivität von Werbesendungen für Kriegsanleihen. Wie viele Emigranten sah es auch Lazarsfeld als seine professionelle und persönliche Aufgabe, die Kriegsführung der Vereinigten Staaten gegen Deutschland zu unterstützen.39 Als Europaexperten qua Herkunft stellten sich viele der Emigranten in den Dienst des amerikanischen Staates und beteiligten sich dabei auch an den Debatten zur Planung eines Nachkriegseuropas. Exilgruppen versuchten in verschiedener Weise auf die Politik des amerikanischen Staates Einfluss zu nehmen, aber von herausgehobener Bedeutung war die Rolle der Emigranten in Regierungsorganisationen wie dem Nachrichtendienst des Kriegsministeriums, dem »Office of Strategic Services« (OSS). Sozialwissenschaftler wie Franz Neumann und Herbert Marcuse, Historiker wie Felix Gilbert und Hajo Holborn oder Ökonomen wie Wassiliy Leontief arbeiteten als Analysten für die Abteilungen Mitteleuropa und Sowjetunion des Dienstes.40 Ein eindringliches Beispiel für die Rolle von Emigranten in Kriegs- und Nachkriegsplanung liefert der emigrierte italienische Politikwissenschaftler Mario Einaudi, der nicht nur Kontakte zum OSS pflegte, sondern auch das OWI bei der Produktion von Radiosendungen für italienische Hörer beriet und für den »Council on Foreign Relations« und das »State Department« Memoranden zur Lage in Italien verfasste. Nach Ende des Krieges beteiligt sich Einaudi an Debatten über die Rekonstruktion Italiens und seine Arbeit an der Cornell University wurde in dieser Hinsicht in den späten 1940 er- und in den 1950 er-Jahren zunächst durch die Rockefeller und später durch die Ford Foundation gefördert.41 39 Zur Rolle der Emigranten bei der »psychologischen Kriegsführung« an der US-Heimatfront vgl. Logemann 2017. 40 Zur Rolle von Emigranten im OSS siehe unter anderem Mauch 1999 und Söllner et al. 1986. 41 Vgl. Mariuzzo 2013.

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Die amerikanische Europawahrnehmung ebenso wie die amerikanische Europapolitik wurde also während des Krieges und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren durch europäische Emigranten entscheidend mitgeprägt.42 Nicht nur Entwicklungen in der amerikanischen Wissenschaft oder der amerikanischen Konsumgesellschaft wurden, wie oben knapp skizziert, durch europäische Emigranten beeinflusst, sogar der amerikanische Staat der Kriegs- und Nachkriegsjahre wurde von ihnen mitgeformt. Emigranten wie Hans Speyer prägten das sicherheitspolitische Denken im zunehmend mächtigen amerikanischen Staatsapparat basierend auf Erfahrungen des Europas der Zwischenkriegszeit.43 Eine jüngst erschienene ideengeschichtliche Studie des Historiker Udi Greenberg spricht mit Blick auf den Beitrag von Emigranten wie Carl J. Friedrich, Ernst Fraenkel oder Karl Loewenstein zu den ideologischen Grundlagen des Kalten Kriegs und amerikanischen Demokratiekonzeptionen für Nachkriegseuropa sogar vom »Weimar Century«.44 Dieser provozierende Titel überhöht natürlich bewusst die Rolle, die den Emigranten bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung zukam. Jedoch ist es sinnvoll, sich vor Augen zu führen, wie stark jenes Amerika, das nach dem Krieg so tiefgreifend auf Europa wirkte, selber in Politik und Gesellschaft durch transatlantische Transfers geprägt war.

4. Formen der Rückkehr: Emigranten als Remigranten im Nachkriegseuropa In der tiefgreifenden Umgestaltung Europas im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen durch die USA spielten Emigranten in den Nachkriegsjahrzehnten in vielfacher Weise eine zentrale Rolle. Explizit herausgearbeitet hat die Forschung ihre Beteiligung als transatlantische Mittler an der »Westernisierung« politischer Institutionen und der politischen Kultur in der jungen Bundesrepublik, wie auch der Beitrag von Marita Krauss in diesem Band deutlich macht.45 Die neu entstehende deutsche Politikwissenschaft der Nachkriegszeit wurde von Rückkehrern wie Ernst Fraenkel (mit Unterstützung der Ford Foundation) maßgeblich mitaufgebaut.46 Emigranten beeinflussten 42 Vgl. Loewenberg 2006. 43 Zu Speyer und anderen Emigranten im amerikanischen »Security State« vgl. Bessner 2014. 44 Vgl. Greenberg 2014. Zu den intellektuellen Kontinuitäten von der Weimarer Republik zum Kalten Krieg via OSS und Rockefeller Stiftung siehe auch Müller 2010. 45 Siehe auch Bauerkämper / Jarausch / Payk 2005; zum Begriff der »Westernisierung« vgl. Doering-Manteuffel 1999. 46 Siehe zum Beispiel Bauerkämper 2004, Söllner 2002.

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den Wiederaufbau der deutschen Gewerkschaften und ehemalige Exilanten wie der erste Hamburger Nachkriegsbürgermeister Max Brauer setzten sich für eine atlantische Orientierung der SPD ein.47 In Berlin nutzten die amerikanischen Besatzungsbehörden die Verbindungen von Emigranten wie Hans Hirschfeld, um Öffentlichkeit und Regierungsparteien für amerikanische Positionen zu gewinnen.48 Überhaupt nahmen die ehemaligen Flüchtlinge zahlreiche Positionen in jenen transatlantischen Elitennetzwerken ein, die sich um Figuren wie Shephard Stone zwischen amerikanischen Regierungsbehörden, den großen Stiftungen und jungen deutschen Verbänden und Institutionen entspannen.49 Auch im bekannten »Kongress für Kulturelle Freiheit«, der westliche Werte in die Kulturwelt Nachkriegseuropas tragen sollte, waren Stimmen aus der intellektuellen Emigration zahlreich vertreten.50 Die Geschichte des amerikanischen »Cultural Cold War« in Europa kann ohne die Rolle der »Remigranten« kaum geschrieben werden. Über diese engere politische Dimension hinaus kam Emigranten auch in anderen Bereichen gesellschaftlicher »Modernisierung« eine transatlantische Mittlerfunktion zu, wie ich im Folgenden an ein paar Beispielen aus den Bereichen der Konsumforschung und des Designs zeigen möchte. Die Rolle der »Rückkehrer« wird besonders deutlich, wenn wir einen »erweiterten« Remigrationsbegriff zugrunde legen, der auch kurzfristige Formen der Rückkehr miteinschließt. In der Tat kehrte nur ein kleiner Teil der Emigranten dauerhaft in die alte Heimat zurück. Schätzungen sehen den Anteil der »Heimkehrer« aus dem amerikanischen Exil nur bei etwa 10 Prozent und viele der jüdischen Rückkehrer standen der deutschen Nachkriegsgesellschaft ambivalent gegenüber und wurden oftmals auch nicht mit offenen Armen empfangen.51 Eine große Zahl der Emigranten fühlte sich nunmehr in den Vereinigten Staaten zu Hause, sie hatten dort Familien und Karrieren. Jedoch boten sich auch für diese neuen Amerikaner häufig Wege auf die eine oder andere Weise zeitweilig in die alte europäische Heimat »zurückzukehren.« Anknüpfend an die oben geschilderten Beobachtungen zur Kriegszeit bestand eine Rückkehrmöglichkeit für ehemalige Emigranten in der Beschäftigung für die US-Administration etwa im Rahmen der Besatzungsverwaltung in Deutschland oder der Marschallplanhilfe. Analog zur Expertentätigkeit im OSS konnte hier spezifisches Wissen eingebracht werden, denn auch im Kalten 47 Vgl. Angster 1999, Schildt 2002. 48 Vgl. Krause 2015. 49 Vgl. Berghahn 2001. 50 Zum Congress for Cultural Freedom (CCF) vgl. Hochgeschwender 1998, Scott-Smith 2010. 51 Zum erweiterten Begriff der Remigration siehe Schildt 1991. Schildt legt nahe, auch die »kommunikative Remigration« miteinzuschließen.

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Krieg blieben die Grenzen etwa zwischen Staatstätigkeit und verschiedenen Formen sozialwissenschaftlicher Forschung sehr fluide.52 Der Konsumforscher George Katona zum Beispiel kehrte aiuf diese Weise 1950 nach Deutschland zurück, das er in den 1930 er-Jahren verlassen hatte. Katona hatte in der Weimarer Republik eine doppelte Karriere als Wirtschaftsjournalist und als experimenteller Psychologe verfolgt und begann in der Emigration wirtschaftliche Fragestellungen nach Konsumentenerwartungen und -verhalten mit psychologischen Annahmen über den Wandel von Haltungen und Einstellungen zu verknüpfen. Im Krieg waren Konsumentenerwartungen in den USA zunehmend systematisch erfasst worden und Katona untersuchte auf der Grundlage dieser Erfahrungen nun die Verfahrenstechniken und die Potenziale westdeutscher Einrichtungen der Markt- und Meinungsforschung.53 Auch eine Reihe von emigrierten Wirtschaftswissenschaftlern, unter anderem im Dienst der Marschallplanverwaltung, beschäftigte sich wie etwa der Entwicklungsökonom Albert O. Hirschman mit dem wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas als Grundlage für eine langfristige politische Stabilisierung.54 Viele emigrierte Akademiker nutzten die Möglichkeit der temporären Rückkehr als Gastdozenten und ermöglichten auf diese Weise Wissenstransfers.55 Einige, wie Paul Lazarsfeld, bauten dabei weitgreifende Netzwerke und Zentren auf. Lazarsfeld und der wirtschaftswissenschaftliche Emigrant Oskar Morgenstern gründeten 1963 in Wien das »Institute for Advanced Study«, welches mit finanziellen Mitteln der »Ford Foundation« Ansätze der amerikanischen Sozialwissenschaft in Österreich etablieren sollte.56 So half Lazarsfeld jene »amerikanische« empirische Soziologie in Europa zu verbreiten, die er selbst als Emigrant in New York mit entwickelt hatte. Andere halfen beim Wissenstransfer in kleineren Dimensionen, wie der Architekt Ferdinand Kramer, der in den 1950 er-Jahren an deutschen Universitäten und in Amerikahäusern über die Gestaltung amerikanischer Kauf- und Warenhäuser vortrug, mit deren Planung er während seiner Emigration beschäftigt war.57 Ähnlich wie der eingangs erwähnte Victor Gruen waren Lazarsfeld und Kramer somit an multidirektionalen Austauschprozessen beteiligt. 52 Zu den Sozialwissenschaften im Kalten Krieg vgl. Solovey / Cravens 2012. 53 Vgl. George Katona, »Report« vom 9. Oktober 1950 (Nachlass George Katona, Bentley Library, University of Michigan, Folder 17); zu Katona vgl. Horowitz 1998. 54 Zu Hirschman vgl. Sum 2013. 55 Vgl. Krauss 2008. 56 Zum Institute for Advanced Study in Wien vgl. Louis 2012. 57 Zwischen 1955 und 1958 hielt Kramer unter anderem in Darmstadt, Aachen, Basel, Zürich, und Nürnberg Vorträge (siehe Nachlass Ferdinand Kramer, Werkbund Archiv, Museum der Dinge, Berlin, Box 2).

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Die Übersetzungsleistung der Emigranten ging dabei durchaus in beide Richtungen. Der Marktforscher Ernest Dichter, der als Teil der »Wiener Schule« in den USA zu einem Vorreiter der qualitativen Motivforschung geworden war, bot sich Europäern und Amerikanern in gleichem Maße als Vermittler der Konsummoderne an.58 Dichter kehrte als reisender Experte und als Unternehmer nach Europa zurück. Den Europäern gegenüber trat er nun als ein Verkünder der amerikanischen Konsummoderne auf. Er führte ab den 1950 er-Jahren auch für deutsche Firmen Marktstudien durch, die diesen als Grundlage für ein modernes Produktmarketing dienen sollten. Gleichzeitig stellte Dichter auf Fachkongressen die Methodik der Motivforschung mit tiefenpsychologischen Interviews als eine zentrale Innovation der amerikanischen Marktforschung vor.59 In Kolumnen amerikanischer Fachzeitschriften und durch bezahlte Beratertätigkeit wollte er zudem aber auch US-Firmen – also seinem Hauptkundenstamm – helfen, mit ihren Konsumprodukten auf dem europäischen Markt zu reüssieren. Dabei ging es um die Kenntnis sehr unterschiedlicher europäischer Konsumgewohnheiten und das, was man heute als die »Lokalisierung« von Werbung und Produktmarketing, also dessen regionalspezifische Adaption bezeichnen würde. Dichter verwies auf die Strategie, amerikanische Produkte, Designs oder Geschäftsideen nicht als etwas »Fremdes«, sondern als etwas ursprünglich Europäisches und in den Vereinigten Staaten nur »Weiterentwickeltes« zu vermarkten. Dies schmeichele dem nationalen Bewusstsein europäischer Konsumenten und helfe den Europäern dabei, ihre »Marschallplan-Neurose« und ihre Minderwertigkeitsgefühle mit Blick auf Wohlstand und Lebensstandard zu überwinden. Den Emigranten – und insbesondere sich selbst – maß der Geschäftsmann Dichter dabei eine zentrale Rolle zu, da sie durch ihre transatlantischen Karrieren diesen Wechsel von Europa in die USA und dann wieder zurück in die alte Heimat direkt verkörperten. Die Europäer, schrieb Dichter seinen potenziellen amerikanischen Kunden, würden ihn als einen der ihren erkennen und willkommen heißen.60 In diesem Sinne eigneten sich Emigranten in besonderem Maße als »Übersetzer« neuer sozioökonomischer Muster in der Nachkriegszeit. Für die von Dichter propagierte Strategie einer »Amerikanisierung« durch »Reimporte«, also den (oft durch Migranten vermittelten) Transfer von als ursprünglich »europäisch« wahrgenommenen Elementen, finden sich 58 Zu Dichters transatlantischer Karriere siehe unter anderem Gries / Schwarzkopf 2007. 59 Vgl. Dichter 1957/58. 60 Vgl. Ernest Dichter, »Business Abroad Article – (Rough Copy)«, 28. März 1967 (Nachlass Ernest Dichter, Hagley Museum and Library, Box 169).

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eine Reihe weiterer Beispiele. So stellte der Bereich des Produktdesigns und der modernen Gestaltung eine der zentralen Schauplätze eines kulturellen Kalten Krieges dar und amerikanische Designausstellungen, die gleichzeitig einen modernen »westlichen« Lebensstandard projizieren sollten, kam schon im Rahmen des Marschallplans eine große Bedeutung zu.61 Eine Reihe von Ausstellungen, die das State Department für Nachkriegsdeutschland zusammenstellte, wurden dabei von Will Burtin, einem mittlerweile eingebürgerten Emigranten und ehemaligen OSS-Mitarbeiter mit Wurzeln in der Weimarer Avantgarde, zusammengestellt.62 Frühe Designausstellungen entstanden mehrfach in Zusammenarbeit mit dem New Yorker Museum of Modern Art und enthielten nicht nur unzählige Exponate von emigrierten Künstlern und Gestaltern, sondern betonten explizit die Verbindung von amerikanischem Designs zu europäischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit wie dem deutschen Bauhaus.63 So konnte der von europäischen Eliten oft skeptisch betrachtete amerikanische Massenkonsum in die Tradition von »Kulturnationen« eingeordnet werden. »Amerikanisierung« im Sinne eines Einsatzes von kultureller »Soft Power« wurde durch die Rückbindung an (ideologisch unbelastete) europäische Kulturtraditionen legitimiert. Den Emigranten kam in diesem Prozess die zentrale Rolle der Vermittlung zwischen Elitenkulturen beiderseits des Atlantiks zu.

5. Schlussbetrachtung: Geschichte der Emigration als transnationale Geschichte Wenn, wie in diesem Band, nach transatlantischen Beziehungen in der Nachkriegszeit gefragt wird und nach den Transfers, die diese beinhalteten, so sollen die Beispiele der hier angeführten transatlantischen Karrieren zunächst einmal eine längere historische Perspektive eröffnen. Die vielfältigen Einflüsse, die zweifellos nach dem Zweiten Weltkrieg aus den USA nach Deutschland und Europa kamen, standen in einer längeren Tradition wechselseitiger transatlantischer Austauschprozesse. Der landläufige Begriff »Amerikanisierung« greift hier aber auch deshalb zu kurz, da die Transfers häufig nicht nur auf genuin transnationale Ursprünge aufbauten, sondern weil sie zudem lokale Adaptionsprozesse beinhalteten, die auf aktiven Über61 Zur Rolle des Designs im Kalten Krieg vgl. Castillo 2010. 62 Zu Will Burtin vgl. Re 2014. 63 Vgl. die einleitenden Beiträge von William Foster und Edgar Kaufman, in: Landesgewerbemuseum Stuttgart 1951: bes. 1 – 3, 6 – 10.

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setzungsleistungen aufbauten. Hier eröffnet der Blick auf Emigranten als transatlantische Mittler eine Perspektive, die die Akteure von Transferprozessen herausstellt und zugleich die Institutionen und Netzwerke freilegt, die diese Prozesse tragen. Die Emigranten und Remigranten übernahmen die Rolle von kreativen Mittlern in transatlantischen Beziehungen, ihre Karrieren deuten auf die Verflechtungen und transnationalen Zwischenräume – von Stiftungen über Firmen zu informellen Netzwerken – in einem komplexen Institutionengefüge hin. Dabei weichen sich bei der Betrachtung dieser »Wanderer zwischen den Welten« jene binären Gegensätze von »deutsch« und »amerikanisch« oder von »europäisch« und »amerikanisch« merklich auf. Die hier gesammelten Episoden des transatlantischen Hin und Her stellen traditionelle nationalstaatliche Grenzziehungen infrage – dies ist die Stärke transnationaler und migrationshistorischer Perspektiven auf transatlantische Geschichte. Es wäre nun verfehlt, den Befund der »Amerikanisierung« soweit infrage zu stellen, als dass man die profunde Machtverschiebung des Zweiten Weltkriegs und die daraus resultierenden transatlantischen Machtdifferenzen der Nachkriegsjahrzehnte negieren würde. Der Atlantik war keine Einbahnstraße und transatlantische Transfers behielten auch in den Nachkriegsjahrzehnten einen reziproken Charakter. Dennoch hatten die USA nun ein eindeutiges Übergewicht, wenn es darum ging, gesellschaftliche »Modernität« zu definieren. Auch die Emigranten »re-exportierten« vor allem das, was in Amerika Erfolg gehabt hatte. Vieles, wie etwa die von Paul Lazarsfeld und Ernest Dichter weiterentwickelte Markt- und Motivforschung, hätte wohl in dieser Form, außerhalb des amerikanischen Kontexts »modernen« Marketings, nicht reüssieren können. Ihr späterer Erfolg in Europa war dann auch daran geknüpft, dass sie eben als »amerikanisch« und somit als »modern« und »international« wahrgenommen wurden. Jedoch, so will ich abschließend argumentieren, tragen die Karrieren der Emigranten dazu bei, ein wachsendes Bewusstsein in der amerikanischen Geschichtsschreibung zu befördern, dass auch und gerade die Gesellschaft der Vereinigten Staaten um die Mitte des 20. Jahrhunderts transnational geformt wurde.64 Nicht nur der amerikanische Staat des Kalten Krieges, der auch Nachkriegseuropa grundlegend mitgestaltete, war durch europäische Emigranten mitgeprägt worden. Selbst die amerikanische Konsummoderne der Jahrhundertmitte, für viele das Symbol eines exzeptionellen »American Way of Life«, war durch transatlantische Transfers beeinflusst, wie hier anhand von Beispielen aus der Marktforschung und des Produktdesigns exemplarisch 64 Vgl. zum Beispiel Tyrrell 2007.

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gezeigt wurde. Es wäre überzogen, Henry Luces Charakterisierung der Nachkriegsära als »American Century« damit generalisierend in ein von Emigranten geprägtes »Weimar Century« umzumünzen. Mit Blick auf die lange Kontinuität von Transfers und Vernetzungen ist es aber durchaus sinnvoll, mit Mary Nolan von einem »Transatlantic Century« zu sprechen und die anhaltende Wechselseitigkeit von Austauschprozessen zu betonen.65

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65 Vgl. Nolan 2012; siehe auch Logemann / Nolan 2014.

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IV. Ostdeutsche Perspektiven auf die USA

Katharina Gerund

Angela Davis, Black Power und das »andere Amerika« in beiden deutschen Staaten Angela Davis, Black Power und das »andere Amerika« Angela Davis, Black Power und das »andere Amerika« in beiden deutschen Staaten

1. Einleitung Unter dem Label »Vergessene Proteste« behandelt Niels Seibert in seinem Buch gleichen Titels aus dem Jahr 2008 die Solidaritätsbewegung für Angela Davis (und die Black Panthers) in der Bundesrepublik. Tatsächlich wird Davis im gesamtdeutschen kollektiven Gedächtnis nicht zuletzt aufgrund der politischen und ideologischen Nähe oft recht eindeutig mit der DDR assoziiert und weniger mit westdeutschen Protesten, Solidaritätsbekundungen und Demonstrationen. Die ikonisch gewordenen Bilder von Davis mit Erich Honecker oder bei den 10. Weltjugendspielen sowie die Solidaritätsaktion »Eine Million Rosen für Angela Davis« sind im kulturellen Gedächtnis fest verankert. Insgesamt ist Davis durch Dokumentarfilme wie The Black Power Mixtape 1967 – 1975 (Regie: Göran Olsson, 2011) und Free Angela and All Political Prisoners (Regie: Shola Lynch, 2012) wieder stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Dazu beigetragen haben auch neue beziehungsweise neu aufgelegte Publikationen wie Walter Kaufmanns Unterwegs zu Angela Davis1, Klaus Steinigers Angela Davis: Eine Frau schreibt Geschichte2 und der von Willi Baer und Carmen Bitsch zusammengestellten Band Angela Davis3 oder auch die 2013 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main eingerichtete Angela Davis Gastprofessur für internationale Gender und Diversity Studies. Doch selbst in vergleichsweise aktuellen Berichten und Publikationen wird ihre Bedeutung in und für Deutschland oft auf den historischen Moment der frühen 1970 er-Jahre einerseits und die DDR andererseits beschränkt. Die Junge Welt berichtet zum Beispiel am 15. Mai 2015 davon, dass Davis die von Geflüchteten besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin nicht 1 2 3

Vgl. Kaufmann 2005. Vgl. Steiniger 2010. Vgl. Baer / Bitsch 2010.

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Katharina Gerund

besuchen durfte und schreibt in diesem Kontext, dass sie nach wie vor als »Vorzeigefigur des DDR-Regimes« wahrgenommen werde. Der Beitrag zelebriert gleichzeitig die Bedeutung der ›eigenen‹ Solidaritätsaktion mit folgenden Worten: »In der Tat: Es war die – unter dem Motto ›Eine Million Rosen für Angela Davis‹ – von der Jungen Welt mitinitiierte Aktion, die 1972 ihre Freilassung erwirkt hatte. Dies rettete Davis vermutlich vor der Todesstrafe. Das, wie auch die Hilfe durch die DDR, scheinen manche nie verziehen zu haben.«4

Auch wenn die Verbindung zur DDR nicht zuletzt durch mehrere Besuche von Davis – unter anderem im Rahmen einer Dankestour nach ihrer Freilassung im Jahr 1972 – und ihre offene Sympathie für das sozialistische Regime leicht herzustellen ist, bleibt festzuhalten, dass sich auch in Westdeutschland verschiedene Gruppen und Individuen mit Davis solidarisierten. In beiden Kontexten finden sich Diskurse, die sie als Vertreterin oder gar Heldin eines »anderen« Amerika markierten und über die Ikone Angela Davis (kulturelle) Identitäten, politische Forderungen und das transatlantische Verhältnis verhandelten. Während in der DDR Solidarität mit Davis und anderen Vertretern der Black Power Bewegung staatlich sanktioniert, gefördert oder sogar verordnet war, war sie in Westdeutschland allerdings primär gegenkulturell und »widerständig« kodiert. Im Folgenden möchte ich diesen Diskursen in beiden Kontexten nachspüren und vor allem das jeweilige Amerikabild genauer in den Blick nehmen. Ich werde zunächst in einem kurzen Exkurs den Fall »Angela Davis« in groben Zügen skizzieren, um dann auf die Rezeption in beiden deutschen Staaten einzugehen.

2. Der Fall »Angela Davis« Als Jonathan Jackson am 7. August 1970 einen Gerichtssaal in Marin County (San Rafael, Kalifornien) stürmte, um gewaltsam die sogenannten »Soledad Brothers« (George Jackson, Fleeta Drumgo und John W. Clutchette) zu befreien, wurde von den US-amerikanischen Behörden schnell eine Verbindung zu Angela Davis hergestellt. Davis hatte bereits 1969 mediale, politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Sie promovierte und lehrte als Philosophiedozentin an der University of California in Los Angeles und wehrte sich gegen die Entscheidung der Universität, sie aufgrund ihrer offenen Affiliation mit der Kommunistischen Partei zu entlassen. Vor 4

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ihrer Anstellung an der University of California hatte sie unter anderem in Frankfurt am Main studiert – bei Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und anderen Vertretern der Frankfurter Schule, die langfristig ihr Denken prägten. Während ihres Aufenthaltes bereiste Davis zwar die DDR, hatte aber auch enge Kontakte in die westdeutsche Studentenbewegung. 1967 kehrte sie in die USA zurück; nach ihrer Darstellung war der Auslöser dafür ein ikonisches Bild der Black Panthers, das sie in einer deutschen Zeitung sah: »[…] the image of the leather-jacketed, black bereted warriors standing with guns at the entrance to the California legislature. (I saw that image in a German newspaper […].) That image, which would eventually become so problematic for me, called me home«.5

Wenige Jahre später kehrte sie selbst als symbolische Figur und Ikone auf Plakaten, Zeitungen und anderen Publikationen zurück nach Deutschland. Dort figurierte sie dann unter anderem als politische Aktivistin und Gefangene, als Intellektuelle, Heldin und Trendsetterin, als Terroristin und Kommunistin, und nicht zuletzt als Vertreterin eines »anderen« Amerika. Jonathan Jackson hatte für seinen Überfall mit Geiselnahme in San Rafael Waffen verwendet, die auf Angela Davis registriert waren und damit konnte sie für das Verbrechen mitverantwortlich gemacht werden. Zudem hatte sich Davis für die Soledad Brothers engagiert, denen vorgeworfen wurde, einen weißen Gefängniswärter (John V. Mills) getötet zu haben, nachdem dieser vom Vorwurf der Ermordung dreier schwarzer Insassen freigesprochen wurde. Dabei hatte sie ein besonders enges Verhältnis zu Jonathans Bruder George entwickelt, was später unter anderem von der Anklage benutzt wurde, um Liebe und Leidenschaft als Tatmotiv zu konstruieren. Jonathan Jackson, der zuvor auch als Bodyguard für Davis fungiert hatte, wurde bei seiner Befreiungsaktion getötet, ebenso wie mehrere seiner Geiseln. Davis wurde der Beihilfe zu Mord, Entführung und Verschwörung beschuldigt und am 18. August 1970 als dritte Frau überhaupt auf die Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher des FBI gesetzt. Knapp zwei Monate war sie auf der Flucht bevor sie am 13. Oktober 1970 in New York City festgenommen wurde. Der Prozess, der international von den Medien verfolgt wurde, begann erst Anfang 1972 und im Juni desselben Jahres wurde Davis schließlich in allen Anklagepunkten freigesprochen.6 Spätestens ab der Verhaftung durch das FBI generierte die Causa Angela Davis weltweites Medieninteresse sowie internationale Solidaritätsbewegungen – so auch in beiden deutschen Staaten, wo die Rezeption beziehungsweise 5 6

Davis 1998: 290. Bereits 1974 veröffentlichte Angela Davis ihre Autobiografie, in der sie auch ihre Sicht auf den Prozess schilderte (vgl. Davis 1988).

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öffentliche Diskussion ihres Falles sich unterschiedlich gestalteten. Hier wie dort hat die Rezeption und Aneignung des Falls jedoch nicht nur eine hohe Aussagekraft über die Symbolträchtigkeit der Ikone Angela Davis, sondern vielmehr über das Verhältnis zu den USA und die jeweiligen Amerikabildern. Während in der DDR ab 1970 staatlich sanktionierte Solidaritätsprogramme aufgelegt und Davis nach ihrer Freilassung ganz offiziell als »Heldin« gefeiert wurde, war die Unterstützung aus Westdeutschland in erster Linie Teil der Gegenkultur, der Neuen Linken und des politischen Protests jenseits des Mainstream. Es ist ein durchaus aufschlussreiches Detail, dass im westdeutschen Kontext tendenziell verstärkt ihre »Andersheit« als schwarze Amerikanerin betont wurde, während in der DDR eher die ideologischen Gemeinsamkeiten sowie persönliche, strukturelle und politische Verbindungen hervorgehoben wurden und »Racial Difference« demgegenüber in den Hintergrund trat. Auf beiden Seiten der Mauer war jedoch das Interesse an Davis groß und sowohl west- als auch ostdeutsche Medien berichteten ausführlich von dem Prozess. Der DDR gelang es zu diesem Zweck sogar, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch keine bilateralen diplomatischen Beziehungen zu den USA gab (diese wurden erst 1974 aufgenommen), mit Klaus Steiniger einen Sonderkorrespondenten in die USA zu schicken.7 Und in westdeutschen Nachrichtenmagazinen und Zeitungen wurde ebenfalls regelmäßig über den Prozessverlauf berichtet. In den Mainstream-Medien wurde der Fall einerseits zum Lackmustest für das amerikanische Justizsystem erklärt, andererseits wurde er häufig sehr stark personalisiert. So berichtete etwa die Tagesschau vom 5. Juni 1972 vom »Freispruch für Amerika«8 und Heiko Flottau betitelte den Freispruch für Davis einen Tag später in der Süddeutschen Zeitung als »Sieg für die Linke und das Recht« und sah darin den Beweis, dass das amerikanische Justizsystem politischen Verfahren gewachsen sei.9 Auch zuvor hatte die westdeutsche Berichterstattung zwar immer wieder die politische und rassisierte Dimension des Falls markiert, ihn aber häufig auf die Persona Davis zugespitzt, wie sich in persönlichen Porträts10 und ausführlichen Beschreibungen von Davis’ Aussehen, Kleidung und Auftreten zeigt.11 Der Fall wurde sowohl personalisiert12 als auch zu 7 8 9 10

Vgl. Lorenz 2013: 54. Vgl. Angela Davis Solidaritätskomitee 1972: 7. Flottau 1972: 3. Vgl. zum Beispiel: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Oktober 1970 (»Wunderkind, Philosophin, Rebellin«). 11 So etwa bei Lietzmann 1972. 12 So wird Davis beispielsweise als »militante Madonna mit dem Afro-Look« im Spiegel vom 12. Juni 1971 bezeichnet.

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einem amerikanischen Präzedenzfall von (inter)nationaler Bedeutung stilisiert und die Angeklagte somit als repräsentativ für Amerika insgesamt oder zumindest für das »schwarze« Amerika markiert.13

3. Solidarität mit Angela Davis in Westdeutschland Die westdeutsche Solidarität mit Davis konnte sich in bestehende Narrative der Solidarisierung mit der Black-Power-Bewegung einschreiben und sich auf ein etabliertes transatlantisches Netzwerk ebenso stützen wie auf eine vorhandene Infrastruktur zur Protestorganisation. Der Sozialistische Deutsche Stundenbund (SDS) etwa war schon zuvor – seit den Rassenunruhen 1967 in Detroit14 – einer der wichtigsten Akteure in der Solidarisierung mit den Black Panthers, die in Westdeutschland durch Aktionen wie Teach-Ins, Sit-Ins oder Demonstrationen, Spendensammlungen, Informationsbroschüren oder Vorträgen unterstützt wurden. Zahlreiche Aktivisten praktizierten dabei relativ unkritisch »amerikanische« Formen des Protests (zum Beispiel Teach-Ins oder Sit-Ins), um ihrer Kritik am US-amerikanischen Kapitalismus und Imperialismus Ausdruck zu verleihen. Paradoxerweise manifestiert sich also der Widerstand gegen die USA in amerikanischen beziehungsweise amerikanisierten Formen des Protests.15 Diese ambivalente Beziehung zu den USA zeigt sich auch in einer diskursiven Strategie, derer sich in West- und Ostdeutschland gleichermaßen bedient wurde, nämlich die Galionsfiguren der Black-Power-Bewegung als Repräsentanten eines anderen Amerika zu markieren. Durch die Imagination eines »anderen« (sprich: besseren) Amerika und die damit einhergehende strategische Teilung des Amerikabildes wird die widersprüchliche Haltung gegenüber den USA teilweise plausibilisiert. Wenn allerdings das schwarze Amerika als das andere gilt, so geht damit die Gefahr einher, dass die hegemoniale weiße Kultur als »normal« bestärkt und eine rassisierende Dichotomie perpetuiert, statt unterlaufen wird. Die Begeisterung für afroamerikanische Kultur und Politik führte somit nicht unweigerlich zu einer kritischen Reflexion der deutschen Kolonialgeschichte 13 Als »Schwester des amerikanischen Jedermann« wird sie zum Beispiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Februar 1972 bezeichnet. – Vgl. ausführlicher zur westdeutschen Berichterstattung Gerund 2013: 137 – 146. 14 Zu diesem Zeitpunkt solidarisierte sich der SDS offiziell mit der Black-Power-Bewegung und Martin Klimke sieht darin einen entscheidenden Gründungsmoment für die westdeutsche Solidarisierung mit Black Power (vgl. Klimke 2006: 565). Er hat zudem aufgezeigt, wie die Black-Power-Bewegung zu einem zentralen Bezugspunkt und ihre Ideologie zu einem integralen Bestandteil der westdeutschen Studentenbewegung wurde (vgl. Klimke 2010: 118). 15 Vgl. Kraushaar 1999: 257 f.

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oder einer Auseinandersetzung mit Diskriminierung und Rassismus in der Bundesrepublik. Viele Akteure der westdeutschen Solidaritätsbewegung imaginierten zwar Äquivalenzen zwischen ihrer Situation und jener der afroamerikanischen Aktivisten, aber Rassismus blieb oftmals sehr eindeutig markiert als »amerikanisches Problem«. 1970 rief ihr Mentor Herbert Marcuse öffentlich zur Solidarität mit Davis auf und Karl Dietrich Wolff und Daniel Cohn-Bendit gründeten das AngelaDavis-Solidaritätskomitee in Frankfurt am Main. Sie planten eine ganze Reihe von Veranstaltungen, um Aufmerksamkeit für die Causa Angela Davis zu generieren und zur Solidarität aufzurufen.16 Im Rahmen der zahlreichen Aktionen für Davis in der Bundesrepublik bildete der Solidaritätskongress in Frankfurt am Main am 3. und 4. Juni 1972 den Höhepunkt. Viele Redner fühlten sich in dem Kontext genötigt, nicht nur ihre Solidarität zu bekunden, sondern sich im gleichen Atemzug von den Taten der RAF zu distanzieren – schließlich fand der Kongress mit rund 10 000 Teilnehmern kurz nach der sogenannten »Mai Offensive« der RAF statt. Die RAF selbst hat übrigens ebenfalls Ideologeme, kulturelle Symbole und Figuren der Black-Power-Bewegung für ihre Zwecke utilisierte und offen die Solidaritätsbewegung für Davis kritisiert: »Die Leute wollen ›Freiheit für Angela Davis‹ – aber den Kampf mit der Härte führen wie der Vietcong, wie der Schwarze September – das nicht – so verzweifelt über das System, ihrer eigenen Sache so sicher sind sie denn doch nicht, daß ihnen das ’ne Sache aufgeben und Tod wert wäre. Kommt Negt, sagt, braucht ihr auch nicht, wir machen das schon – sind sie erleichtert. Beifall«.17

Die Aktivisten werden hier zu Zuschauern des Protests, die allerdings nicht bereit sind, konsequent und kompromisslos für ihre Überzeugungen einzutreten. Demgegenüber nutzte besonders Oskar Negt seine Rede beim Kongress, um die Taten der RAF zu kritisieren, die den Zielen der Neuen Linken zuwiderliefen, zum Scheitern verurteilt seien und nicht zuletzt auf einer fehlgeleiteten Ideologie beruhten.18 Der Titel des Kongresses deutet bereits an, dass der Fall Angela Davis in diesem Kontext nicht als persönliches Schicksal behandelt wurde, sondern als Fokus verschiedener Diskussionspunkte dienen konnte. Dieser Eindruck wird durch die erste Seite des Programms und das dort abgedruckte Zitat bestärkt: Ein Foto von Davis befindet sich lediglich in der unteren linken 16 Vgl. Höhn 2010: 222. 17 ID-Verlag 1997: 162 f. 18 Vgl. Angela Davis Solidaritätskomitee 1972: 23 – 25.

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Ecke, ansonsten zeigt das Programm Bilder von den Gefängnisaufständen in Attica, den Black Panthers und der Rebellion im Rahway-Gefängnis. Das Zitat von Davis am unteren Rand lautet: »Ich werde erst wirklich frei sein, wenn alle politischen Gefangenen und alle schwarzen Amerikaner befreit sind.«19 Davis dient als Beispiel für die Unterdrückung revolutionärer Kräfte, die Auswirkungen des US-amerikanischen Imperialismus und die Lektionen, welche die westeuropäische Linke von der Situation in den USA lernen konnten. Die vier Arbeitsgruppen des Kongresses behandelten entsprechend die folgenden Themen: »Gewalt in der Geschichte der USA«, »Polizei, Justiz, Gefängnisse in den USA«, »Amerikanischer Kapitalismus, Minoritäten und antikapitalistische Alternative« und »Imperialismus und inneramerikanische Auswirkungen – inneramerikanische Opposition«. Deutlich wird in den Beiträgen bei genauerem Hinsehen nicht nur der Fokus auf die USA, sondern ebenso der Versuch, die westdeutsche Situation immer wieder dazu in Verbindung zu setzen und aus den Entwicklungen in den USA zu lernen. Generell findet man in Westdeutschland Solidaritätsbekundungen mit Davis oft im Kontext antiimperialistischer und antiamerikanischer Rhetorik, des Protests für die Freilassung aller politischen Gefangenen und einer sozialistischen oder kommunistischen Agenda. Aber auch spezifisch westdeutsche Kontexte wurden aufgerufen. In einem Appell verschiedener Gruppen20 etwa wird der Unterstützungsaufruf in außen- wie innenpolitischen Zusammenhängen situiert: »Solidarität für Angela Davis, das ist Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus. Kampf gegen den schmutzigen Krieg in Vietnam. Kampf gegen Rassismus und Unterdrückung. Solidarität mit Angela Davis, das ist Kampf gegen alle volksfeindlichen Regime […]. Solidarität mit Angela Davis, das ist aber auch Kampf für mehr Demokratie im eigenen Land. Das ist Kampf gegen Berufsverbote, gegen Antikommunismus, gegen die Rechtskräfte um [Franz-Josef] Strauß und [Rainer] Barzel«.21

Diese Verbindung von internationalen und nationalen beziehungsweise regionalen Belangen hat einen doppelten Effekt und ist Teil der strategischen Rahmung vieler Solidaritätskampagnen: Sie verleiht hier einerseits der Opposition gegen die Schwesterparteien CDU und CSU und dem Kampf gegen Berufsverbote und Antikommunismus in Westdeutschland eine größere Bedeutung. Andererseits wird so suggeriert, dass jeder Einzelne sich 19 Siehe den Programmflyer »Am Beispiel Angela Davis. Solidaritätskongreß, Frankfurt am Main, 3./4. Juni 1972« (abgedruckt bei Schröder 2009). 20 So zum Beispiel »Initiativ-Ausschuß ›Freiheit für Angela Davis‹«, »Arbeiter-Initiative Ruhr-Westfalen ›Freiheit für Angela Davis‹«, »Solidaritäts-Ausschuß Essen«, »SolidaritätsKomitee Dortmund ›Freiheit für Angela Davis‹« und anderen. 21 Zitiert nach Schröder 2009.

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für Davis engagieren kann, indem er sich politischen Kämpfen im eigenen Land anschließt. Der Slogan »Freiheit für Angela Davis« gewann seine Symbolkraft nicht zuletzt dadurch, dass er in unterschiedliche politische Programme und Proteste eingebunden werden konnte. Professoren, Studierende und (öffentliche) Intellektuelle zum Beispiel bildeten eine Gruppe der Davis-Unterstützer, die sie unter anderem als Kollegin wahrnahmen und für die Fragen nach akademischer Freiheit zentral waren. Viele prominente Persönlichkeiten wie Josef Beuys, Oskar Negt, Günter Wallraff und Hans Magnus Enzensberger unterzeichneten einen Aufruf »Freiheit für Angela Davis«. Noch während ihrer Inhaftierung wurde Davis als Gastprofessorin an die Freie Universität Berlin eingeladen und die Debatte um akademische Freiheit bekam in Deutschland besondere Bedeutung unter dem Eindruck des Radikalenerlass von 1972. Für linke Gruppierungen und Gewerkschaften waren vor allem Davis’ politische Ausrichtungen relevant, aber auch Jugendliche aller Parteien engagierten sich – teils sogar gemeinsam – für ihre Freilassung. Und nicht zuletzt spielte Gender-Solidarität eine Rolle, da sich, wie zum Beispiel bei der Frauen- und Kinderdemonstration in Frankfurt am Main am 13. März 1971, besonders Frauen für Davis stark machten. Als »Revolutionary Diva« (Kimberly N. Brown) entwarf Davis letztlich auch ein neues Bild schwarzer weiblicher Widerständigkeit, das deutlich von den weitgehend maskulin-chauvinistischen Selbstdarstellungen und Rezeptionsstrukturen der Black Panthers und anderer Black Power-Aktivisten divergierte und dadurch medial und kulturell besonderes Interesse hervorrief. Insgesamt wurde Angela Davis in Westdeuschland nicht nur zur Integrationsfigur der Neuen Linken, sondern auch zu einem umkämpften Symbol, das in unterschiedlichen Kontexten utilisiert werden konnte und als Projektionsfläche für verschiedenste Aspirationen, Kritik und Ideen westdeutscher Aktivisten diente. Ihre Persona liefert dabei eine kulturelle und politische Identifikationsfigur für vielfältige Akteure der Studentenbewegung und der Neuen Linken ebenso wie speziell für Jugendliche, Frauen und Intellektuelle.22 Entsprechend wurde sie in unterschiedlichen Kontexten appropriiert und diente dabei immer wieder dazu, ein Amerikabild zu verhandeln, das von Antiamerikanismus ebenso geprägt war, wie der Anerkennung für die Vertreter des »anderen« Amerika.

22 Für eine Analyse der jeweiligen Akteure in der westdeutschen Solidarisierung mit Angela Davis siehe Gerund 2013: 130ff.

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4. Solidarität mit Angela Davis in der DDR Während sich in Westdeutschland die Solidarisierung mit Angela Davis primär im Bereich der Gegenkultur und in Opposition zum politischen Establishment vollzog, trat das SED-Regime der DDR offen, gezielt und strategisch für Davis ein. Durch staatlich organisierte Aktionen wurde die Solidarisierung teilweise regelrecht verordnet. Die Solidaritätskampagne für Davis war, so stellt Sophie Lorenz heraus, »vom SED-Parteiapparat mit Hilfe der Abteilung Propaganda und Agitation unter der Leitung von Werner Lamberz organisiert worden«; sie sollte als »eine Form der ideologischen Propaganda […] der Bevölkerung ein spezifisches Welt-, Feind- und Selbstbild vermitteln und diente letztlich dem Machterhalt des Parteiregimes.«23 Bettina Aptheker beschreibt die Situation in folgenden Worten: »In the Socialist countries solidarity with Angela Davis was the watchword. Letters by the tens of thousands – especially from the people of the German Democratic Republic with their special knowledge of the fascist oppression and resistance to it – flooded the Marin Country jail«.24

Ab dem Winter 1970 wurden in allen Teilen der DDR Solidaritätsaktionen organisiert und Davis wurde, so zeigt Lorenz auf, »zu einem festen Bestandteil der politisch-ideologischen Ikonographie des SED-Regimes.«25 Solidarität war Teil der sozialen und politischen Praxis der SED, seit der Gründung der DDR 1949 ein »politisch-ideologisches Leitmotiv« und kann »als eine Praxis zur Systemerhaltung« verstanden werden.26 Solidarität war Teil der Abgrenzungsbemühungen vom kapitalistischen Westen, einer kollektiven Identität und nicht zuletzt im antifaschistischen Gründungsmythos der DDR verankert. Während die DDR um internationale Anerkennung kämpfte und diplomatische Beziehungen mit den USA 1970 noch ausgeschlossen schienen, wurden afroamerikanische Aktivisten nicht nur als mögliche Verbündete des Regimes gesehen, sondern Rassismus in den USA wurde zum Mittel der Propaganda gegen Kapitalismus und die westlichen Demokratien. Die DDR solidarisierte sich mit afroamerikanischen Aktivis23 Lorenz 2015: 215. Die besondere Bedeutung der Kampagen sieht Lorenz in der Dauer und im Mobilisierungserfolg und argumentiert, dass in diesem Kontext vor allem die Fokussierung auf und Solidarisierung mit eine/r Person (im Unterschied zur Staatensolidarität) signifikant war (vgl. ebd.). 24 Aptheker 1999: 29 (im Original durchgehend hervorgehoben). 25 Lorenz 2013: 39. 26 Lorenz 2015: 218.

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ten als Helden eines anderen und besseren Amerika und versuchte damit gleichzeitig, so argumentiert auch Lorenz, sich als das bessere Deutschland darzustellen – das die Vergangenheit des Nationalsozialismus überwunden hatte und jenseits nationalistischer Bestrebungen Teil einer friedlichen Weltgemeinschaft werden wollte.27 Analog zum westdeutschen Diskurs um die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung und Black Power, wird in der DDR Rassismus weitgehend als US-amerikanisches Problem kodiert. In der Selbstdarstellung figurierte die DDR im Kontrast dazu als rassismusfreie Gesellschaft, die sich mit weltweiten Kämpfen gegen Unterdrückung und Kapitalismus solidarisierte. Davis konnte als Integrationsfigur für innen- und außenpolitische Zwecke herangezogen werden und entsprechend groß war die Unterstützung für sie. Die Solidarisierungsbemühungen von offizieller Seite allein können ihre Popularität in der DDR nicht hinreichend erklären. Das Magazin Time berichtete gar von einem Ausbruch von »Angelamania« in Ostdeutschland.28 In ihrem Vorwort zur Neuauflage von Angela Davis: Eine Frau schreibt Geschichte erinnert sich Davis lebhaft an die Kampagne »Eine Million Rosen für Angela« aus dem Jahr 1971.29 Sie wurde von der FDJ initiiert und führte unter anderem zur Publikation eines Unterstützungsaufrufs für Davis in der Jungen Welt inklusive vorgedruckter Postkarten, welche als Zeichen der Solidarität nach Kalifornien geschickt werden konnten. Das breite Spektrum an Solidaritätsaktivitäten beinhaltet darüber hinaus auch zum Beispiel Gesangs- und Kunstwettbewerbe. Oft wurden die Veranstaltungen für Davis an konkrete Ereignisse gebunden, wie den Weltfrauentag, Davis’ Geburtstag oder die »Demonstration der Werktätigen« am 1. Mai.30 Jenseits herausgehobener Anlässe, wurde die Solidarisierung in verschiedenen »Sphären des Alltags« praktiziert.31 Die Solidarisierung mit Davis ist Teil des Bestrebens seitens des SED-Regimes, sich mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung insgesamt (beziehungsweise vor allem mit solchen Vertretern, die mit einer sozialistisch-kommunistischen Ideologie sympathisierten) zu verbünden. Dabei schien jedoch, wie Anja Werner argumentiert, nicht nur die Unterstützung für die Agenda des »Black Freedom Struggle« und die Solidarisierung mit schwarzen Aktivisten im Vordergrund zu stehen, sondern vielmehr die 27 28 29 30 31

Vgl. Lorenz 2013: 43. Vgl. Barnwell 2003: 119. Vgl. Steiniger 2010: 10. Vgl. Lorenz 2013: 50 f. Lorenz 2013: 60.

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Agitation gegen die USA.32 So war etwa bereits 1958 der Philosoph W. E. B. Du Bois zu Gast in Ostdeutschland, wo ihm unter anderem ein Ehrendoktor seiner Alma Mater, der Humboldt Universität, verliehen wurde.33 Der Schauspieler Paul Robeson, der sich gegen Rassismus und Faschismus engagierte, mit Russland sympathisierte und in den 1950 er- und 1960 er-Jahren in die DDR reiste, wurde ebenfalls zum Helden erklärt und mehrfach geehrt; neben verschiedenen Auszeichnungen wurde für ihn ein Archiv eingerichtet und er wurde 1983 auf einer Briefmarke verewigt.34 Der Bürgerrechtler und baptistische Geistliche Ralph Abernathy hielt in den frühen 1970 er-Jahren mehrere Vorträge und Reden in Ost-Berlin. Im Kontext seines zweitägigen Aufenthaltes 1971 forderte er im Zuge seiner Kritik am Vietnamkrieg und an der ökonomischen Kluft und dem Rassismus in den USA auch den Freispruch von Davis35 – ebenso wie Fania Jordan-Davis, die ebenfalls in Ostdeutschland um Unterstützung für ihre Schwester warb.36 Solche Aktionen und deren mediale Repräsentation wurden vom SEDRegime sorgfältig orchestriert und die DDR scheute keine Mühen, ihren eigenen Korrespondenten zum Prozess nach San José zu schicken. Klaus Steiniger berichtete von dem – wie er es betitelte – »Schauprozess« um Angela Davis.37 Aus Sicht des SED-Regimes war der Hintergrund der Anklage von vornherein eindeutig bestimmt und ein klarer Begründungshorizont gegeben: »Weil ihre Haut schwarz und ihr Herz rot ist«, so proklamierte der Präsident der Nationalen Front, Erich Correns, in seiner Solidaritätsbotschaft »soll sie den Henkern ausgeliefert werden«.38 Werner Lamberz nahm in einer Rede anläßlich einer Protestkundgebung in Berlin, die in einer Informationsbroschüre des Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland und des Friedensrat der Deutschen Demokratischen Republik abgedruckt wurde, unter anderem eine Einordnung von Davis in ein spezifisches Amerikabild und einen historischen Kontext vor:

32 Vgl. Werner 2015: 140. 33 Er wurde im Übrigen auch bereits als Repräsentant eines anderen Amerika betitelt. Vgl. Beck 1998. 34 Zur Rezeption von Robeson in der DDR siehe zum Beispiel Carmody 2014 und Werner 2015. 35 Siehe dazu online: www.aacvr-germany.org/index.php/images-7/ralph-abernathy – letzter Zugriff: 27.11.2017. 36 Vgl. zum Beispiel den Bericht »Rosen für Angelas Schwester« auf der Titelseite des zentralen Publikationsorgans des Zentralkomitees der SED (vgl. Neues Deutschland, 21. Oktober 1970). 37 Vgl. Steiniger 1983. 38 Zitiert nach Lorenz 2013: 49.

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Katharina Gerund »Auf den guten Seiten im Buch der Geschichte werden die Namen derer, die heute noch mächtig sind in den USA, nicht verzeichnet sein. Unter dem Namen Amerikas aber wird verzeichnet sein neben Jefferson, Lincoln, Walt Whitman und Bill Haywood der Name von Angela Davis! In Angelas Herz schlägt das der ganzen gesitteten Menschheit«.39

Hier wird deutlich differenziert zwischen den aktuellen Machthabern der USA und dem anderen beziehungsweise »guten« Amerika, das eine lange Traditionslinie von den US-Präsidenten Thomas Jefferson und Abraham Lincoln über den Dichter Walt Whitman und den Gewerkschaftsführer Bill Haywood bis hin zu Angela Davis aufweist. Diese Genealogie wird zwar dominiert von weißen Männern, soll aber offenkundig die historische Bedeutung der Causa Davis ebenso herausstellen wie die Legitimation der Solidarität als Akt der Menschlichkeit, mit dem die DDR-Bürger auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. In der gleichen Broschüre, die mit vorgefertigten Solidaritätspostkarten und umfangreichen Informationen zum Fall »Davis« aufwartet, wird eine Botschaft von Davis an das »Volk der DDR« abgedruckt, in der sie sich von den Solidaritätsbotschaften aus der DDR – vor allem auch von Schulkindern – besonders beeindruckt zeigte. Weiters bestätigte sie in dem Brief in gewissem Maße das offizielle Selbstbild der DDR: »Es gibt für uns keinen Zweifel, daß das Volk der Deutschen Demokratischen Republik in der Unterstützung unserer Kämpfe fortfahren wird, so wie wir jede imperialistische Attacke auf Euer Land und seine Errungenschaften als einen Angriff auf alle Völker betrachten, die für Sozialismus und Frieden kämpfen«.40

Nach ihrem Freispruch 1972 reiste Davis in die DDR und ihr sorgfältig orchestrierter Besuch machte sie endgültig zum »Communist Superstar«.41 Er war Teil einer Dankestour durch verschiedene Länder. Westdeutschland besuchte sie allerdings nicht. Am Flughafen Berlin-Schönefeld dagegen hießen sie fast 50 000 Personen in der DDR willkommen, viel mehr als die offiziellen Strategen erwartet hatten.42 Offenbar konnte Davis auch jenseits der verordneten Solidarität begeistern. Im Rahmen des offiziellen Programms wurde sie vielfach geehrt. So wurde sie unter anderem in Magdeburg zur Ehrenbürgerin ernannt und erhielt die Ehrendoktorwürde der Karl-Marx-Universität Leip39 Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland / Friedensrat der DDR 1971: 43. 40 Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland / Friedensrat der DDR 1971: 35 – 37. 41 Vgl. Höhn / Klimke 2010: 137. 42 Vgl. Lorenz 2013: 54.

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zig. Im Gegenzug stellte Davis die Bedeutung von Osteuropa und speziell der DDR für ihren Freispruch heraus und beurteilte besonders die DDR-Jugend als frei von rassistischem und faschistischem Gedankengut.43 Mit der US-Delegation für die 10. Weltjugendspiele kam Davis 1973 erneut nach Ost-Berlin und wurde nun als »Ikone des Internationalismus« präsentiert und gefeiert.44 Die Bilder von ihrem Zusammentreffen mit Erich Honecker 1972 und von den Weltjugendspielen 1973 wurden zentral für ihre Ikonografie in der DDR und darüber hinaus. Zu verschiedenen Anlässen besuchte sie die DDR auch in kommenden Jahren und, wie Lorenz aufgezeigt hat, nahmen »sich Davis und das SED-Regime bis in die frühen 1980 er-Jahre als Verbündete in einem transnationalen Handlungsrahmen« wahr.45

5. Schlussbetrachtung: Angela Davis als »kulturelle Heldin« Jenseits der politischen Solidarisierung war die Wirkmächtigkeit des Symbols Angela Davis in West- und Ostdeutschland durch kulturelle Faktoren geprägt. Mit Blick auf die 1960 er- und 1970 er-Jahre in Westdeutschland konstatiert Moritz Ege eine regelrechte »Afro-Amerikanophilie«, die er in verschiedenen kulturellen Felder, etwa der Werbung oder Popmusik, nachweist. Damit bezeichnet er ein amorphes »kulturelles Thema«, »nämlich die wertschätzende Aneignung und Wahrnehmung von »kulturellen Formen«, die »schwarz« codiert sind und zugleich – in durchaus unterschiedlichem Maße das analoge Verhältnis zu schwarzen Menschen oder zumindest ihren Repräsentationen«.46 Zudem waren viele Aktivisten – wie Maria Höhn und Martin Klimke gezeigt haben – geprägt von einer tiefgreifenden Faszination mit dem »Authentischen«, das viele weiße Deutsche in ihren Konzepten von Schwarzsein und schwarzer Kultur repräsentiert sahen. Weißsein galt als Inbegriff von Vernunft und Konformität, während mit Schwarzsein Emotionalität, Freiheit und Empowerment assoziiert wurden.47 In diesem Zusammenhang wurde auch Davis zur Modeikone und zum kulturellen Symbol, wenn nicht gar zum »Culture Hero« (William Van Deburg). Lieder von John Lennon und Yoko Ono (»Angela«), den Rolling Stones (»Sweet Black Angel«), und dem deutschen Singer-Songwriter Franz Josef

43 44 45 46 47

Vgl. Lorenz 2013: 56. Lorenz 2013: 57. Lorenz 2013: 58. Ege 2007: 11 f. Vgl. Höhn / Klimke 2010: 18.

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Degenhardt (»Angela Davis«), alle aus dem Jahr 1972, zeugen von ihrem weitreichendem populärkulturellen Appeal. Für westdeutsche Unterstützer – aber auch im ostdeutschen Kontext – wurde sie zur Integrationsfigur und zur Projektionsfläche für die eigenen Ansprüche und Ambitionen. Ellen Diedrich markiert rückblickend die besondere Bedeutung von Davis für Frauen in der Studentenbewegung: »Wir, die Frauen der 68er Bewegung, hatten: die Schwester Che Guevaras, später die Witwen von Allende, Mao Tse Tung und eine Frau auf den Plakaten, eine schwarze Frau mit großer Afro-Mähne, eine, die ›Black ist beautiful!‹ weltweit bekannt machte – Angela Davis.«48

Die anderen Frauen sind hier lediglich durch ihre Beziehung zu männlichen Helden der 68er-Bewegung identifiziert, aber Davis ist eine eigenständige Ikone. Dennoch wird sie nicht durch ihren politischen Aktivismus definiert, sondern durch ihre äußere Erscheinung – als Inbegriff von »Black is beautiful!« Davis wird als mediale Präsenz – eine Frau auf den Plakaten – und primär durch ihre Frisur, ihren »Afro« charakterisiert, den sie zum Sinnbild eines neuen Schönheitsideals und Symbol des Widerstands machte. Sie wurde so etablierter Teil der Ikonografie einer internationalen antiamerikanischen linken Protestbewegung.49 In der DDR wurde sie Teil der offiziellen Ikonografie des Regimes, evozierte aber auch darüber hinaus Aufmerksamkeit und Begeisterung und wurde damit zur »Projektionsfläche für das Bedürfnis nach einer ›alternativen Linken‹, zumindest für denjenigen Teil der ostdeutschen Jugend, der sich – parallel zum Zeitgeist der westlichen antiautoritären Neuen Linken – nach einer Auflockerung des linienkonformen Sozialismus der Parteifunktionäre sehnte«.50

In beiden Kontexten wurde Davis zur politischen Figur und zur kulturellen Heldin. In den deutschen Aneignungs- und Aushandlungsprozessen ging es dabei immer auch – mehr oder weniger explizit – um das transatlantische Verhältnis und ein durchaus ambivalentes Amerikabild. Zur Vertreterin eines ›anderen‹ Amerika erklärt, konnte die Ikone und Identifikationsfigur Davis somit nicht nur zur Plausibilisierung widersprüchlicher Haltungen gegenüber den USA herangezogen werden, sondern auch zur Verhandlung ost- und westdeutscher kollektiver Identitäten nach außen und nach innen

48 Dietrich 2005. 49 Vgl. Mackert / Meyer-Lenz 2006: 268. 50 Lorenz 2013: 55.

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sowie in gewissem Umfang des deutsch-deutschen Verhältnisses im transatlantischen (und internationalen) Kontext.

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Feindesland und Sehnsuchtsort Das USA-Bild in der DDR

Feindesland und Sehnsuchtsort Feindesland und Sehnsuchtsort. Das USA-Bild in der DDR

1. Einleitung Trotz Mauer und Stacheldraht wiegten sich West- und Ostdeutsche gemeinsam in ihren »amerikanischen Traum«. In Ost- wie West saß man seit den 1960 er-Jahren, wie die Hauptdarsteller in den Filmen aus der amerikanischen »Traumfabrik«, gern auf seiner bunt gemusterten Hollywoodschaukel. In der DDR durfte sie allerdings nicht so heißen. Was etwa der Katalog des Versandhauses Konsument 1973 zum stolzen Preis von 450 Ostmark anbot, nannte sich »Gartenschaukel«. Die zugehörige Abbildung präsentierte einen jungen Mann sowie zwei weibliche Schönheiten mit Cocktailgläsern auf einer Hollywoodschaukel vor einem See und unter Kübel-Palmen: Das Bild illustriert einen »Wohlstandstraum« vieler Ostdeutscher. Wie in Westdeutschland gehörte das Möbel in der DDR zur begehrten Ausstattung von Gartenbesitzern. Selbst Staatschef Walter Ulbricht ließ sich im Sommer 1965 mit seiner Familie auf einer Hollywoodschaukel fotografieren: ein kommunistisches Freizeitidyll, genehmigt von oberster Stelle! Nur wenige Wochen nach diesem Fototermin setzte derselbe Mann auf der 11. Plenartagung des Zentralkomitees der SED eine beispiellose Kampagne gegen jeden »Einfluss der amerikanischen Lebensweise, der amerikanischen Unkultur, des Lebensstils aus Texas« in Gang.1 Lange Haare, kurze Röcke und vor allem Beatmusik galten fortan als Verderber der sozialistischen Jugend.2 Doch die Sehnsucht nach der westlichen Lebensart, die im Kern immer eine amerikanische war, ließ sich bis zum Ende der DDR niemals wirklich unterdrücken. Ausgerechnet die Jugend der DDR, die als erste 1 2

Schlusswort Ulbrichts vom 16. Dezember 1965 (zitiert nach Wicke 2002: 71). Vgl. den Befehl Nr. 11 des Ministers für Staatssicherheit Erich Mielke und die Dienstanweisung Nr. 4 vom 15. Mai 1966 zur Bekämpfung der »Diversion und Untergrundtätigkeit« unter Jugendlichen sowie die 1. Durchführungsbestimmung zum Befehl 11/66 vom 8. August 1969 (BStU MfS-BdL/Dok. Bd. 1080, Bl. 1 – 5 und Bd. 1083, Bl. 1 – 28 bzw. Bd. 1081, Bl. 1 – 5). Siehe auch Ohse 2003.

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ohne kapitalistische Vorerfahrung aufgewachsen war, enttäuschte die in sie gesetzten Erwartungen. Im Juli 1988 sang sie in Gestalt von 160 000 Konzertbesuchern in Ost-Berlin lauthals den Song Born in the U.S.A. mit dem amerikanischen Rockstar Bruce Springsteen und jubelte ihm zu, als er seine vielsagende Hoffnung ins Mikrofon rief, »dass eines Tages alle Barrieren umgerissen werden«. Ein Jahr später verließen die einen zu Zehntausenden das Land in Richtung Westen, während die anderen auf die Straßen gingen, um in der Friedlichen Revolution das SED-Regime von der Macht zu vertreiben. Ein Rückblick auf 40 Jahre DDR offenbart die komplexe Widersprüchlichkeit des USA-Bildes in diesem Land: Abgrenzung und partielle Öffnung, Instrumentalisierung und Kontrollverlust aufseiten der Machthaber – Bewunderung und Vorbehalte aufseiten der Bevölkerung. Die Rückschau lässt aber auch erstaunliche Parallelen zwischen Ost und West erkennen und verweist sogar auf manche Befindlichkeiten in der Gegenwart.

2. Feindesland: Die Position der SED 2.1 Abgrenzung Gemäß der marxistisch-leninistischen Ideologie galten die USA der führenden Partei in der DDR stets als Kernland des Klassenfeinds. Der frühen amerikanischen Einordnung der Sowjetischen Besatzungszone als bloßem »Satellit« der Konkurrenzmacht UdSSR entsprach daher gemäß SED-Doktrin zunächst die vehemente Distanzierung vom vielgeschmähten »US-Imperialismus«. Die Propaganda machte schon vor der Gründung der DDR vor allem die USA für die Spaltung Deutschlands verantwortlich,3 geißelte ihre Führungsrolle bei der Währungsreform in den Westzonen sowie bei der Luftbrücke nach West-Berlin und unterstützte unter dem schlichten Motto »Wir brauchen keinen Marshall-Plan, wir kurbeln selbst die Wirtschaft an!«4 die von der Sowjetunion vorgegebene Ablehnung einer Teilnahme am European Recovery Program. Der Koreakrieg, in den die USA infolge des Angriffs nordkoreanischer Truppen auf Südkorea im Juni 1950 eintraten, gab der antiamerikanischen Propaganda weitere Nahrung. Sie erfand sogar ein Bedrohungsszenario für die DDR, indem sie den USA den gezielten 3 4

Vgl. Neues Deutschland, 17. Dezember 1947 (»Westpläne sprengten London«). Plakat aus dem Jahr 1948 in der Dauerausstellung Unsere Geschichte. Deutschland seit 1945, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, EB-Nr. 1994/04/0307.

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Abwurf von Kartoffelkäfern auf ostdeutsche Landstriche zuschrieb, um von den hausgemachten Schwierigkeiten bei der Lebensmittelversorgung abzulenken.5 Der Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 führte zu einem neuen Höhepunkt der propagandistischen Auseinandersetzung. Obwohl der im Osten als Sprachrohr der Freiheit beliebte Rundfunk im Amerikanischen Sektor (RIAS) in den dramatischen Stunden auf höchste Weisung Zurückhaltung geübt hatte,6 entfaltete das SED-Regime eine breite Kampagne gegen den »Ami-Sender« als Urheber des vermeintlichen »faschistischen Putschs«.7 Diese verstärkte sich noch, als die USA zwischen Juli und Oktober 1953 mit den sogenannten »Eisenhower-Paketen« in West-Berlin Lebensmittelspenden an die Ostdeutschen verteilten. 5,5 Millionen Spendenpakete holten die Bewohner aus Ost-Berlin und der gesamten DDR jenseits der damals noch offenen Sektorengrenze ab!8 Diesem enormen Prestigeverlust konnten die Machthaber nichts weiter als noch schärfere Propaganda entgegensetzen. Sie gipfelte 1955 in einem minutiös vorbereiteten Schauprozess gegen angebliche »RIAS-Spione«: Von den fünf Angeklagten wurde einer – und zwar auf persönlichen Vorschlag von Parteichef Walter Ulbricht – sogar mit dem Tod bestraft.9 Spionage – nicht durch den RIAS, aber durch die regulären Geheimdienste – war allerdings in den 1950 er-Jahren tatsächlich ein wichtiges Thema zwischen Ost und West. Berlin, die offene Vier-Sektoren-Stadt inmitten der DDR, bot als Horchposten vielfältige Möglichkeiten. Hier unterhielten die USA, wie die übrigen Siegermächte, Militärmissionen, die sich im jeweils anderen Teil der Stadt frei bewegen durften.10 1956 nutzte die DDR die Aufdeckung eines aufwendigen Spionagetunnels, mit dem die USA unter anderem die Telefonverbindungen der sowjetischen Streitkräfte angezapft hatten, für einen weiteren Propagandaangriff. Die »Operation Gold« war jedoch nicht durch ostdeutsche Aufklärung, sondern durch den Verrat eines britischen Doppelagenten bekannt geworden.11 Selbst den Mauerbau am 13. August 5

Vgl. Tägliche Rundschau, 6. Juni 1951; siehe auch: Der Augenzeuge (DEFA-Wochenschau), Nr. 25/1950. 6 Vgl. Ostermann 2001 a: 168, Kowalczuk 2003: 117 – 120. 7 Neues Deutschland, 20. Juni 1953 (»So setzten die Faschisten ihren Putsch in Szene«) und Neues Deutschland, 26. Juni 1953 (»USA-Reaktion schürt Kriegsfeuer weiter«). 8 Vgl. Ostermann 2001 a: 169. 9 Vgl. den Plan für einen Schauprozess vom 15. Mai 1955 (MfS, BStU ZA, AU 163/55, EV, Bd. 2, Bl. 73 – 79) sowie Hausmitteilung an Ulbricht vom 14. Juni 1955 (BArch DY 30, IV 2/13/411, Bl. 94 – 96). 10 Vgl. Mußgnug 2001 sowie Behling 2004. 11 Vgl. Stafford 2002.

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1961 suchte die SED als Schutzmaßnahme gegen Spionageangriffe und sogar gegen angebliche Eroberungspläne zu rechtfertigen.12 Ein Jahr darauf machte erstmals die Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam als Schauplatz eines spektakulären Agentenaustauschs internationale Schlagzeilen. Damals kam neben Francis Powers, dem Piloten eines 1960 über der Sowjetunion abgeschossenen US-Spionageflugzeugs, auch ein amerikanischer Student frei, bei dessen Übergabe sich die DDR den USA als Verhandlungspartner neben der UdSSR aufzuzwingen suchte.13

2.2 Instrumentalisierung Nach dem Mauerbau 1961 differenzierte die SED ihre Haltung gegenüber den USA. Einerseits setzte sie die unversöhnliche Propaganda fort, pranger te die amerikanische Politik etwa gegenüber Kuba und Vietnam an, später auch gegenüber Chile, bis hin zur Brandmarkung der Invasion der Karibikinsel Grenada 1983. Auch die amerikanische Innenpolitik, vor allem der Umgang mit den Rassenunruhen und der sozialen Ungleichheit waren Zielscheiben vielfach scharfer Kritik. Doch begann man zugleich, der eigenen Bevölkerung gewisse Konsensangebote durch die offiziell geförderte Solidarität mit der indianischen Urbevölkerung und den benachteiligten Schwarzen zu machen. Mit Büchern, Zeitschriften, Spielzeug und Filmen begeisterten sich auch in der DDR vor allem Kinder für das Leben der Indianer, wenn auch die romantisierenden Werke von Karl May lange verpönt blieben.14 Vor allem aber galt das von vielen Ostdeutschen durchaus ehrlich empfundene Mitgefühl den Opfern der Rassentrennung. Schon 1960 lud die SED den schwarzen Sänger Paul Robeson in die DDR ein,15 1965 durfte der Jazz-Musiker Louis Armstrong eine legendäre Tournee durch das Land machen. 16 Zur wichtigsten Repräsentantin der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung wurde jedoch die schwarze Studentin Angela Davis aufgebaut. Hunderttausende beteiligten sich 1971 an einer Postkartenaktion für ihre Freilassung aus der Haft und jubelten ihr zu bei ihren Besuchen 1972 und noch einmal 1973 anlässlich der Weltjugendfestspiele in Ost-Berlin.17 Vergleichbare Emotionen konnte 12 13 14 15 16 17

Vgl. Rede von Walter Ulbricht, in: Neues Deutschland, 27. Oktober 1961. Vgl. Pötzl 1997: 100 – 123 sowie Donovan 1964: 372 – 382. Erst ab 1983 erschienen im Verlag Neues Leben (Ost-Berlin) die Werke von Karl May. Vgl. Neues Deutschland, 20. Juni 1960 (»Berlin feierte mit dem ›ND‹«). Vgl. Tietz 2015. Vgl. Lorenz 2013.

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die Kampagne für den schwarzen Bürgerrechtler Ben Chavis, der 1981 nach seiner Haftentlassung ebenfalls die DDR besuchte,18 nicht mehr wecken.

2.3 Annäherung 2.3.1 Wirtschaft Die seit dem Mauerbau einsetzende Neujustierung des USA-Bildes versuchte die SED auch für die wirtschaftliche Entwicklung der DDR nutzbar zu machen. Bereits 1966 führte eine inoffizielle Handelsdelegation in den USA erste Gespräche mit amerikanischen Unternehmern.19 Das größte Interesse der DDR galt schon zu dieser Zeit der Computertechnologie. Auf ihr gemeinsam mit der Sowjetunion forciertes Betreiben hatten die im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) zusammengeschlossenen Ostblockstaaten entschieden, das geplante »Einheitliche System der Elektronischen Rechentechnik« (ESER) nach dem von IBM entwickelten amerikanischen Vorbild aufzubauen. Die Hauptargumente dafür waren die Kompatibilität sowohl der unterschiedlichen Hardware-Elemente als auch sämtlicher Software-Versionen. Man rechnete durch die Übernahme des IBM-Standards allein für die DDR mit einer Ersparnis von rund einer Milliarde Ostmark Entwicklungskosten.20 Infolge dieser wegweisenden Festlegung war bis zum Ende der DDR deren Computertechnik tatsächlich sowohl mit der ihrer Nachbarn als auch mit westlichen Produkten kombinierbar. Vielfach wurde die englischsprachige Software einfach unter anderem Namen direkt übernommen beziehungsweise »nacherfunden«: So verbarg sich hinter dem DDR-Textverarbeitungsprogramm TP nichts anderes als das amerikanische Word Star.21 Als sich Parteichef Erich Honecker 1985 stolz einen Schachcomputer aus dem VEB Funkwerk Erfurt überreichen ließ, funktionierte der ganz nach den Vorläufern von Texas Instruments.22 Doch die RGW-Entscheidung warf auch erhebliche Probleme auf. Zwar konnte die DDR 1969 einige westliche Rechneranlagen importieren und erhielt dadurch auch Zugang zur Programmbibliothek, zur Fachkräfteaus-

18 19 20 21 22

Vgl. Berliner Zeitung, 2. Juni 1981 (»Ein Symbol des Kampfes gegen die Kriegsgefahr«). Vgl. Ostermann 2001 b: 279. Vgl. Donig 2009: 95 – 97 sowie Donig 2006: 260. Vgl. Krakat 1990: 24. Vgl. Sächsische Zeitung, 9. März 2012 (»Honeckers Schachcomputer steht jetzt im Landtag«).

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bildung sowie zur Ersatzteilversorgung von IBM.23 Aber das von den USA seit 1949 mit dem Pariser Coordinating Committee on Multilateral Export Controls (CoCom) initiierte Exportembargo militärisch nutzbarer Güter gegenüber dem Ostblock ließ eine kontinuierliche Teilhabe am technologischen Fortschritt des Westens nicht zu. Schon 1970 wurde daher in der für die Auslandstätigkeit zuständigen Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der »Sektor Wissenschaft und Technik« geschaffen, dessen Aufgabengebiet die Wirtschaftsspionage war.24 Hunderte offizielle und inoffizielle Mitarbeiter beschafften über Jahrzehnte systematisch Materialien und Unterlagen der westlichen Hochtechnologie. So verlangte etwa die zentrale Planvorgabe des MfS für 1986 »neue wissenschaftlich-technische Erkenntnisse auf dem Gebiet der Mikro- und Optoelektronik, Verfahren für energieeinsparende Prozesse in allen Zweigen der Volkswirtschaft sowie […] Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für neuartige Werkstoffe und neue Ergebnisse und Lösungen zur Biotechnologie und Gentechnik«.25 Demgegenüber blieben alle Bemühungen der DDR um eine legale Intensivierung des Handelsaustauschs ohne Erfolg. Zwar konnte sie aus den USA vergleichsweise billig Getreide als Viehfutter einführen sowie Druckmaschinen, Autoreifen der Marke Pneumant und sogar für das Pentagon bestimmte Optima-Schreibmaschinen nach Übersee verkaufen.26 Doch das sogenannte »Jackson-Vanik Amendment« zum amerikanischen Handelsgesetz, das seit 1975 von jedem ausländischen Vertragspartner die Gewährung der Freizügigkeit für seine Staatsbürger verlangte,27 und der Export Administration Act von 1985, der die CoCom-Restriktionen nochmals erheblich verschärfte;28 verhinderten den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen. Das letztere Gesetz behinderte sogar zusätzlich den innerdeutschen Handel mit der Bundesrepublik, weil auch diese sich 1986 den Bestimmungen in einem Abkommen mit den USA unterwarf, um der westdeutschen Industrie die Teilnahme an

23 Vgl. Donig 2006: 263. Zu den Verhandlungen mit IBM vgl. auch BArch DY 3032, Büro Mittag, Bd. 582. Zeitgleich beschaffte das MfS auf illegalem Weg rund 150 000 Seiten Informationsmaterial zum IBM-System; vgl. das Schreiben Mielke an Mittag vom 3. September 1969 (BStU MfS – Sekr. des Min., Bd. 986, Bl. 5 – 210). 24 Vgl. Behling 2007: 44, Knabe 1999: 423 – 427. 25 Zentrale Planvorgabe für 1986 und den Zeitraum bis 1990, Bd. I, S. 65 (BStU, ZA, BdL / Dok. 006019; zitiert nach Knabe 1999: 428). 26 Vgl. Gaida 1989: 379 f. sowie Hamilton 1991: 268. 27 Vgl. Jackson-Vanik Amendment (Section 401, Title IV of the Trade Act of 1974, P.L. 93-618) (online unter: www.law.cornell.edu/uscode/text/19/2432 – letzter Zugriff: 15.01.2018). 28 Vgl. Gaida 1989: 350.

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der Strategic Defense Initiative (SDI) zu sichern.29 Gerade im Bereich der Mikroelektronik erhöhte sich daher der technologische Rückstand der DDR gegenüber dem Westen bis 1989 auf rund zehn Jahre.30 2.3.2 Außenpolitik Am 4. September 1974 nahm die DDR mit den USA als letzter der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs diplomatische Beziehungen auf. Schon durch ihre konstruktive Mitwirkung am Viermächte-Abkommen über Berlin hatte sie 1971 einen internationalen Legitimitätszuwachs erzielen31 und diesen 1973 durch ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen noch ausbauen können. In einem Briefwechsel zum Botschafteraustausch kündigten die USA an, die künftigen Beziehungen auf Fragen des Handels und der Entschädigung amerikanischer staatlicher und jüdischer Ansprüche aus der Kriegszeit zu beschränken.32 Dagegen bemühte sich die DDR, ihren Prestigegewinn durch ein möglichst normales zwischenstaatliches Verhältnis und politische Kontakte bis hin zu der erhofften Einladung Erich Honeckers ins Weiße Haus auszubauen. Doch der Erfolg war zunächst sehr gering. Die Begegnung zwischen dem Staatsratsvorsitzenden und US-Präsident Gerald Ford Ende Juli 1975 in Helsinki, am Rande der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), sowie weitere hochrangige Kontakte blieben ohne Substanz.33 Selbst die Verhandlungen über das vergleichsweise unpolitische Konsularabkommen benötigten bis zum Abschluss 1979 allein fünf Jahre wegen der strittigen Frage der deutschen Staatsbürgerschaft.34 Die SED versuchte daher, die Atmosphäre über den Umweg kultureller Events, wissenschaftlicher Zusammenarbeit und sportlicher Erfolge zu verbessern. Anknüpfend an die Konzerttourneen der Brecht-Interpretin Gisela May und des Opernsängers Theo Adam35 unternahm das Leipziger Gewandhausorchester bereits im Sommer 1974 eine fünfwöchige Reise durch die USA.36 1978/79 zeigte die DDR in Washington, New York und San Francisco 29 30 31 32 33

Vgl. Mastanduno 1992: 23, Anm. 54. Vgl. Pieper 2006: 441. Vgl. Scholtyseck 2003: 31. Vgl. Hamilton 1991: 260. Vgl. Große 1999: 37 f. sowie Gespräch des SED-Politbüromitglieds Hermann Axen mit US-Außenminister Henry Kissinger am 30. Juli 1975 in Helsinki (Dokumente zur Deutschlandpolitik VI/4, 1975/76, Dok. 84). 34 Vgl. Ostermann 2001 a: 177. 35 Vgl. Bortfeldt 2012. 36 Vgl. Bortfeldt 2012 sowie Tourneebericht für Kurt Hager vom 13. November 1974 (BArch DY 30/IV B2/9.06, Bd. 127).

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die vielbeachtete Ausstellung The Splendor of Dresden aus den berühmten Beständen der Staatlichen Kunstsammlungen. Die Schwierigkeiten dieser Aktion offenbarten sich allerdings dadurch, dass die immensen Kosten nur durch private amerikanische Sponsoren finanziert werden konnten und die Präsentation den erhofften Propagandaerfolg nur zum Teil erzielte, weil die meisten der 1,5 Millionen Besucher sie als kulturelles Schaufenster der Deutschen und eben nicht der DDR wahrnahmen.37 Auf dem Gebiet der Wissenschaften gelang immerhin 1975 ein Fortschritt zu einem offiziellen Austauschprogramm für zunächst zehn Forscher, das auf ein Abkommen zwischen dem Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen und dem amerikanischen International Research and Exchange Board (IREX) zurückging.38 Im selben Jahr nahm das World Fellowship Center in Conway (New Hampshire) seine regelmäßigen Tagungen über Literatur und Kultur in der DDR auf, an denen seit 1981 auch ostdeutsche Wissenschaftler und Autoren teilnahmen.39 Ab 1979 entstanden zudem Hochschulpartnerschaften, zunächst zwischen den Universitäten Kent (Ohio) und Leipzig sowie Brown (Rhode Island) und Rostock, später auch zwischen North Carolina (Chapel Hill) und Greifswald sowie zuletzt zwischen der John-Hopkins-Universität in Baltimore und der Humboldt-Universität in Berlin, die seit 1982 einen umfangreichen Wissenschaftleraustausch organisierten.40 Allerdings unterlagen die Teilnehmer aus der DDR stets der strengen Auslese und Überwachung durch das Reisekadersystem, das für jede Reisegenehmigung auch die Zustimmung der Staatssicherheit erforderte und eine grundsätzliche Berichtspflicht nach der Rückkehr in die DDR vorsah.41 Die politische Instrumentalisierung des Sports schließlich hatte die DDR von Anbeginn betrieben und versuchte sie nun auch gegenüber den USA einzusetzen. Voller Stolz vermerkte das SED-Politbüro im Februar 1980 nach den Olympischen Spielen in Lake Placid, bei denen die USA im Medaillenspiegel den dritten Platz belegten: »Das hochgesteckte Ziel des USA-Sports, bei diesen Winterspielen unter Ausnutzung des Heimvorteils Rang 1 einzunehmen, wurde durch hervorragenden Kampfgeist und Einsatzbereitschaft der DDR sowie der sowjetischen Olympiamannschaften vereitelt. 37 Vgl. Große 1999: 17, 47, 150 sowie Hamilton 1991: 267. Vgl. als Bilanz das Schreiben von Kulturminister Hoffmann an Honecker vom 10. Juli 1979 (BArch DY 30/IV B2/9.06, Bd. 127). 38 Vgl. Große 1999: 166 – 168 sowie Bortfeldt 2001: 470. 39 Vgl. Große 1999: 158 – 161. Vgl. auch Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Februar 2011 (»Den Klassenfeind hat’s nie gegeben«). 40 Vgl. Gaida 1989: 215. 41 Vgl. Niederhut 2007: 276 und 288 sowie Große 1999: 165 f.

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Dem USA-Imperialismus wurde damit im eigenen Land eine politische und sportliche Niederlage bereitet.«42

Eine Wiederholung dieses Triumphs vier Jahre später bei den Sommerspielen in Los Angeles gelang nicht, da die DDR ihre Teilnahme als Reaktion auf den westlichen Boykott der Spiele in Moskau 1980 absagen musste. Doch weitere vier Jahre darauf kam es im kanadischen Calgary beim Eiskunstlauf der Damen zum »battle of the Carmens«43 zwischen Katarina Witt aus der DDR und Debi Thomas aus den USA, den die »Queen of the East« 44 für sich entscheiden konnte und dafür sogar auf die Titelseite des Time Magazine rückte.45 Als erste Sportlerin der DDR durfte Katarina Witt 1988 bei der Revue Holiday on Ice eine Profikarriere in den USA beginnen.46 Diese Charmeoffensive gehörte in den Zusammenhang einer kurzen Phase intensivierter diplomatischer Kontakte. Wegen der deeskalierenden Haltung Ost-Berlins nach der Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen in Westeuropa 1983 im Zuge der NATO-Nachrüstung und des Abbaus der Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze – infolge des vom CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß »vermittelten« Milliardenkredits der Bundesrepublik – zeigten sich die USA an einer Stärkung der vermeintlichen Eigenständigkeitsbestrebungen der DDR interessiert.47 So kam es, nach verschiedenen Vorkontakten, im Dezember 1985 sowie im März und November 1986 zu bilateralen Gesprächen zwischen Rüstungsexperten,48 im Januar 1986 sogar zum Empfang einer Delegation des amerikanischen Repräsentantenhauses in Ost-Berlin49 und ein Jahr darauf zu einem Besuch des stellvertretenden Außenministers der USA.50 Zur selben Zeit erhielten die Medien in der DDR einen Maulkorb: »Nicht mit USA anlegen«, »keine Breitseiten gegen USA«, »kein Herumbolzen, keine persönlichen Angriffe auf Politiker, keine Störung des Dialogs«, so lauteten die Anweisungen, die Heinz Geggel, Abteilungsleiter Agitation des Zentralkomitees der SED, den 42 43 44 45 46 47 48 49

Politbüro-Vorlage, 5. März 1980 (BArch DY 30/J IV 2/2, Bd. 1827). Sports Illustrated, 7. März 1988 (»To Witt, The Victory«). Sports Illustrated, 23. März 1987 (»Thou Swell, Thou Witt-y«). Vgl. Time Magazine, 15. Februar 1988. Vgl. Große 1999: 190. Vgl. Ostermann 2001 a: 179 Vgl. Ostermann 1997: 247. Vgl. den Bericht über die Gespräche am 10. und 11. Januar 1986 (BStU, MfS ZAIG, Bd. 7152, Bl. 2 – 15). 50 Vgl. die Informationen über die Gespräche von John C. Whitehead mit Außenminister Fischer und Erich Honecker am 10. bzw. 11. November 1987 (BStU, MfS ZAIG, Bd. 6370, Bl. 3 – 6 bzw. Bd. 6369, Bl. 3 – 4).

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allwöchentlich im ZK-Gebäude versammelten Chefredakteuren erteilte.51 Die Satirezeitschrift Eulenspiegel ließ sogar auf einer kritischen Karikatur das Gesicht des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan unkenntlich machen.52 Als entscheidendes Hindernis einer Normalisierung der Beziehungen stellte sich die Frage der amerikanischen Vermögensansprüche und der Entschädigungen für in den USA lebende jüdische Opfer des Nationalsozialismus heraus.53 Die DDR hatte dieses für sie wegen des chronischen Finanz- und Devisenmangels heikle Thema in den Kontakten mit den USA lange zu vertagen gesucht.54 1979 hatte sie einseitig ein Angebot von einer Million Dollar als Entschädigungssumme gemacht, das von der Jewish Claims Conference als nicht ausreichend zurückgewiesen worden war. Honecker persönlich erklärte 1986 gegenüber Kongressabgeordneten, »in Verbindung mit der Entwicklung des Handels zu den USA und im Zusammenhang mit der Bewilligung des Meistbegünstigungsrechts könnte ein bestimmter Prozentsatz des Erlöses für die Regelung humanitärer Probleme für jüdische Organisationen der USA zur Verfügung gestellt werden«.55 Die SED-Führung zielte also auf eine Verknüpfung von Handelserleichterungen mit der Entschädigungsfrage und instrumentalisierte dafür auch ihre Haltung gegenüber den Juden im eigenen Land.56 Sie beschloss den Wiederaufbau der Neuen Synagoge in Ost-Berlin und gestattete der jüdischen Gemeinde, das seit 1965 vakante Rabbineramt mit einem Kandidaten aus den USA zu besetzen.57 Im Juni 1987 empfing Erich Honecker persönlich den Präsidenten der Jewish Claims Conference,58 im Oktober 1988 auch den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses.59

51 Protokolle der sogenannten Donnerstagsargumentationen vom 11. April 1985, 13. Februar und 4. Dezember 1986 (Bürger 1990: 126, 145, 166). 52 Vgl. Eulenspiegel 32 (1985), Nr. 40, S. 8. 53 Vgl. dazu Große 1999: 108 – 134. 54 Vgl. Große 1999: 110 f. sowie die Verhandlungskonzeption vom 18. März.1975 (BArch DY 30-J IV 2/2, Bd. 1552). 55 Vgl. Gesprächsnotiz Honecker mit Abgeordneten des US-Repräsentantenhauses vom 10. Januar 1986 (BStU, MfS ZAIG, Bd. 7152, Bl. 20 – 42, hier 38). 56 Vgl. dazu das Memorandum vom 15. Juni 1987 von Klaus Gysi, Staatssekretär für Kirchenfragen, an Erich Honecker (zitiert nach Meining 2006: 70 f.). 57 Rabbi Isaac Neumann trat das Amt im September 1987 an, gab es jedoch wegen interner Konflikte und der Haltung der DDR-Medien gegenüber Israel im Mai 1988 wieder auf. Vgl. New York Times, 5. Mai 1988 (»East Berlin Journal: In a Tiny Outpost of Judaism, a Rabbi Walks Out«). 58 Vgl. den Vermerk über das Gespräch Axen mit Präsident Miller vom 6. Mai 1988 (BArch DY 30-IV 2/2.035, Bd. 114, Bl. 166). 59 Vgl. Große 1999: 100.

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Doch zu diesem Zeitpunkt waren alle Hoffnungen auf eine Einigung bereits wieder geplatzt. Noch im Mai 1988 hatte Hermann Axen, der im SED-Politbüro für die Außenpolitik zuständige Spitzenfunktionär, bei seinem Besuch in Washington grünes Licht für den gewünschten »Paketplan« erhalten.60 Nur vier Monate später musste DDR-Botschafter Gerhard Herder von einem dramatischen Sinneswandel im amerikanischen Außenministerium berichten: »Die vom State Department seit mehr als 4 Jahren vertretene Linie, die Befriedigung der Eigentumsansprüche und der Ansprüche bei jüdischen Organisationen gegenüber der DDR mit Regelung von Handelsfragen zu verbinden, könne von den USA aus prinzipiellen Gründen nicht akzeptiert werden. Verhandlungen über Handelsfragen bis hin zum Abschluss eines Handelsabkommens zwischen den USA und der DDR seien erst nach Begleichung der US-Ansprüche durch die DDR möglich«.61

Die USA hatten offenkundig, angesichts der durch die Politik des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow veränderten Weltlage, das Interesse an einem verbesserten Verhältnis zu dem dogmatischen Regime in Ost-Berlin verloren. »Die DDR verändern zu wollen, wäre eine Illusion«, erklärte Hermann Axen am 6. Februar 1989 dem neuen US-Botschafter Richard Barkley, »deshalb solle man in den gegenseitigen Beziehungen weiter vorangehen«.62 Dass diese Unbeweglichkeit das Todesurteil für eben diese Beziehungen bedeutete, könnte er geahnt haben. Dass sie zugleich das Todesurteil für den von ihm vertretenen Staat war, konnte er noch nicht wissen.

3. Sehnsuchtsort: Die Perzeption der Ostdeutschen 3.1 Primärerfahrungen nach 1945 Von den geschilderten diplomatischen Entwicklungen ahnte die Bevölkerung natürlich nichts. Viele Ältere hatten jedoch aller Propaganda zum Trotz durchaus noch positive Erinnerungen an die »Amerikaner«, deren Soldaten 1945 weite Teile ihrer Heimat bis zur Elbe erobert hatten. Die Befreiung durch die sowjetische Rote Armee war dagegen, vor allem für viele Frauen, mit dem Trauma gewalttätiger Übergriffe und mit der Eta60 Vermerk über das Gespräch mit US-Handelsminister Verity am 4. Mai 1988 (BArch DY 30-IV 2/2.035, Büro Axen, Bd. 114). Vgl. dort auch die weiteren Gesprächsnotizen und -protokolle. 61 Telegramm über ein Gespräch mit Abteilungsleiterin Ridgeway vom 12. September 1988 (BArch, DY 30-IV 2/2.035, Bd. 113, Bl. 152). 62 Gesprächsvermerk Axen (BArch DY 30/13664, Bl. 8 – 10, hier 9).

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blierung neuer Unfreiheit verknüpft. Die USA behielten daher auch nach ihrem Rückzug Anfang Juli 1945 aus der gemäß den alliierten Beschlüssen von Jalta gebildeten Sowjetischen Besatzungszone vielfach den Ruf der »besseren Besatzungsmacht«. Demgegenüber versuchte die SED-Propaganda Amerikaner und Briten wegen des Luftkriegs gegen deutsche Städte zu diffamieren und griff dafür sogar die schon von den Nationalsozialisten begonnene Instrumentalisierung der Zerstörung Dresdens auf.63 Doch die raschen Fortschritte des westdeutschen Wiederaufbaus unter amerikanischer Führung, die Lebensmittelspenden der Carepakete, die Währungsreform 1948 und die erfolgreiche neue D-Mark, die Marshallplan-Hilfe und natürlich das »Wirtschaftswunder« der 1950 er-Jahre, ließen sich nicht abstreiten. Zahllose Bewohner der DDR und vor allem Ost-Berlins konnten bis zum 13. August 1961 persönlich im Westteil der Stadt das »Schaufenster« westlicher Lebenskultur bestaunen: Dort standen »Ami-Schlitten« vor den Kinos, die Hollywood-Produktionen zeigten, boten die Zeitungsstände Micky-Maus- und Batman-Comics an, tranken Jugendliche in Jeans und Lederjacken Coca-Cola oder tanzten Rock ’n’ Roll. Mehr als drei Millionen Menschen flohen nicht zuletzt auch wegen solcher Freiheiten aus der DDR und suchten ihr Glück in der Bundesrepublik.

3.2 Projektionen nach 1961 Der Bau der Mauer, der die Teilung Deutschlands für Jahrzehnte betonierte, rückte 1961 das »gelobte Land« des Westens in weite Ferne. Nur über den Rundfunk konnten die Ostdeutschen jetzt noch unmittelbar am »Leben der Anderen« teilnehmen, sofern sie das Empfangsverbot westlicher Sender ignorierten und nicht gerade im »Tal der Ahnungslosen« um Dresden wohnten, das von den Sendesignalen aus dem Westen Berlins und Deutschlands nicht erreicht werden konnte. Sie machten davon regen Gebrauch. RIAS, der Sender Freies Berlin (SFB) und der Deutschlandfunk blieben beliebte Quellen für Informationen und Westmusik. Selbst das DDR-Radio brachte westdeutsche und englischsprachige Musik gemäß der seit 1958 geltenden 60 /40-Regel: 60 Prozent der Titel mussten aus ostdeutscher Produktion stammen, nur 40 Prozent durften westlicher Herkunft sein.64 1966 belegten sogar die amerikanischen Jazz-Musiker Ella Fitzgerald und Louis Armstrong 63 Vgl. Widera 2005. 64 Vgl. Anordnung über die Programmgestaltung bei Unterhaltungs- und Tanzmusik vom 2. Januar 1958, in: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Berlin 1958, S. 38.

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mit ihren gerade neu in der DDR erschienenen Langspielplatten die Plätze zwei und drei auf der Hitliste des staatlichen Labels Amiga.65 Der Erfolg des nach amerikanischen Vorbildern gegründeten »Hootenanny-Club«, mit dem im selben Jahr der kanadische Folk-Musiker Perry Friedman in Ost-Berlin die Jugendlichen zu musikalischen Gemeinschaftsaktivitäten animierte, erschien den SED-Funktionären dann aber doch so suspekt, dass sie ihn als »Oktober-Klub« sicherheitshalber unter die Fittiche der Parteijugend FDJ nahmen.66 Dagegen wurde der 1972 aus den USA übergesiedelte Countrysänger Dean Reed wegen seiner offenen Sympathien für den Kommunismus geradezu hofiert und als »Sänger aus dem anderen Amerika«67 gefeiert. Im Kino waren nach dem Mauerbau die USA für die Ostdeutschen nur noch in DDR-Produktionen präsent, die das politisch gewünschte Negativimage vor allem über das Spionage-Genre popularisierten.68 Das Experiment, den US-Western Die glorreichen Sieben in der DDR zu zeigen, wurde 1963 wegen des überwältigenden Erfolgs abgebrochen. Als einziger Film dieser Art kam 1965 der damals schon 13 Jahre alte Streifen Zwölf Uhr mittags in die Kinos. Zur Kompensation verfilmte die volkseigene Deutsche Film AG (DEFA) die Indianerromane von Liselotte Welskopf-Henrich69 und stellte damit den westdeutschen Karl-May-Filmen ein ideologisch unverfängliches Kontrastbild gegenüber. Dem ersten Film Die Söhne der Großen Bärin von 1966 folgten zwölf weitere, die den Schauspieler Gojko Mitić in der DDR als »Winnetou des Ostens« zum Star machten.70 Der Wilde Westen war zwischen 1969 und 1974 auch Schauplatz der Bildgeschichten in der beliebten Comic-Zeitschrift Mosaik, die sich seit 1955 als Alternative zu den verteufelten Westprodukten in der DDR halten konnte. Volle fünf Jahre lang – und ausgerechnet im selben Zeitraum, in dem die USA wegen des Vietnamkriegs propagandistisch unter ständigem Beschuss lagen – bereisten ostdeutsche Kinder und Jugendliche mit ihren Comic-Helden

65 Vgl. Plakat »Spitzenparade«, April 1966, in der Dauerausstellung Unsere Geschichte. Deutschland seit 1945 der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, EB-Nr. 2007/11/0018. 66 Vgl. Mählert / Stephan 1996: 172 f. 67 So der Titel einer Sendung des DDR-Fernsehens. Vgl. Berliner Zeitung, 17. November 1972 (»Für morgen vormerken«). 68 Zu den erfolgreichsten Filmen dieser Art gehört For Eyes Only aus dem Jahr 1963, der in zehn Jahren rund 2,3 Millionen Zuschauer fand. Vgl. Weiß 2006: 160. 69 Der Roman Die Söhne der Großen Bärin erschien in der DDR zuerst 1951, später folgten unter demselben Titel mehrbändige Romanzyklen sowie zwischen 1966 und 1980 die Pentalogie Das Blut des Adlers. Zur Autorin vgl. Lorenz 2010. 70 Vgl. Habel 1997, Engelke / Kopp 2004, Borries / Fischer 2008.

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»Dig, Dag und Digedag« das Land ihrer Abenteuerträume in der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs. Sie hatten damit einen deutlichen Vorsprung gegenüber den Erwachsenen, die auf Möglichkeiten zur Lektüre moderner amerikanischer Belletristik lange warten mussten. Außer William Faulkner und John Steinbeck, die im für internationale Literatur zuständigen Verlag »Volk und Welt« schon in den 1960 er-Jahren mit einigen Bänden herauskamen, erschienen Autoren wie James Baldwin, Truman Capote, Raymond Chandler, Henry Miller oder John Updike in der DDR erst in den 1970 er- und 1980 er-Jahren in kleinen Auflagen. Als 1972 mit Günter Kunert erstmals ein Schriftsteller der DDR die USA bereisen durfte, fasste er unter dem Titel Der andere Planet seine Eindrücke in folgendem Satz zusammen: »Ihr kommt in eine Welt, in der es mehr Dinge gibt, als sich eure sozialistische Schulweisheit träumen lässt«.71 Für seine Leser blieb diese Welt unerreichbar. Selbst Bildbände mit aktuellen Fotos waren äußerst rar,72 weshalb die Stände amerikanischer Verlage, die seit 1975 an den jährlichen Buchmessen in Leipzig teilnahmen, entsprechend umlagert waren.73 Als Projektionsfläche für ihre Träume blieben der breiten Bevölkerung in der DDR nur die Bilder des westdeutschen Fernsehens und deren Repräsentanz in symbolträchtigen Konsumgütern. Ein Beispiel war die eingangs genannte Hollywoodschaukel. Schon zuvor hatte die SED-Führung auch der Nachfrage nach Cola-Getränken nachgegeben. Mit »Vita-Cola« und »ClubCola«, später auch »Quick-Cola«, »Cola-Hit«, »Asco-Cola«, »Cola Gold« oder »Rum-Cola«, wurden in der DDR mehr Cola-Sorten angeboten als in der Bundesrepublik. 1974 schloss man sogar mit PepsiCo einen Vertrag zur »Gestattungsproduktion«, demgemäß der DDR kostenfrei eine Abfüllanlage gestellt wurde. Allerdings verkaufte sich die originale Pepsi-Cola wegen des hohen Preises in der DDR nur schlecht. Dennoch musste der Rostocker Herstellerbetrieb die vereinbarte Grundstoffmenge weiter abnehmen und alsbald die wegen mangelnden Leergut-Rücklaufs fehlenden Originalflaschen teuer nachkaufen. Weil er zudem am flächendeckenden Transport des Produkts in die staatseigenen Verkaufsstellen scheiterte, wurde das Geschäft 1982 beendet74 – ein Paradebeispiel für die Abgründe zentraler Planwirtschaft! Schwierig gestaltete sich auch die Versorgung mit Blue Jeans, die in der DDR noch bis in die 1960 er-Jahre als ideologisch verwerfliche »Niethosen« 71 72 73 74

Kunert 1974: 23. Siehe Holdt 1980, Fischer 1983, Kallay / Fischer 1984. Vgl. Große 1999: 46. Vgl. Information zur Gestattungsproduktion von Pepsi-Cola vom 2. September 1988 (BArch DG 5, Bd. 3944).

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verteufelt worden waren. Spätestens seit 1972 der Held des Jugendromans Die neuen Leiden des jungen W. die Kleidungsstücke als »die edelsten Hosen der Welt« bezeichnet hatte, galt auch für Jugendliche in der DDR das Bekenntnis, dass »Jeans […] eine Einstellung und keine Hose« seien.75 Mit großem Aufwand kaufte die SED westliche Herstellungsanlagen für Jeans, die unter den Markennamen »Wisent«, »Boxer« und »Shanty« vertrieben wurden.76 Wegen Produktionsengpässen ließ sie zu Weihnachten 1978 sogar für neun Millionen Dollar rund eine Million amerikanische Originaljeans einfliegen und durch Sonderverkäufe in staatlichen Betrieben und Einrichtungen anbieten.77 Sie fanden trotz horrender Preise reißenden Absatz, da die volkseigenen Produkte in Farbe und Schnitt niemals wirklich den Modegeschmack der Werktätigen trafen. Als daher die ostdeutsche Wisent-Jeans die Taschennähte der originalen Levis nachahmte, drohte das amerikanische Textilunternehmen Anfang 1980 schriftlich mit juristischen Konsequenzen und setzte nach zähen Verhandlungen eine Änderung durch.78 Der wirkliche Westen blieb für die Ostdeutschen stets Maßstab der Dinge. In der DDR wurden daher sogar die bloßen Verpackungen westlicher Konsumprodukte zu begehrten Statussymbolen, die in Wohn- und Jugendzimmern zur Schau gestellt wurden. Mit Papieren von Wrigleys-KaugummiStreifen, Coca-Cola-Pfandflaschen oder Marlboro-Zigarettenschachteln gehörten selbstverständlich auch amerikanische Warenverpackungen dazu, die über westdeutsche Verwandte oder den kostspieligen D-Mark-Einkauf im »Intershop« erreichbar waren. Am Ende der DDR machte sogar amerikanisches Fast Food bei den Ostdeutschen Karriere. In einigen Imbissstuben der Großstädte aß man »Ketwurst« und »Grilletta«. Doch handelte es sich wieder nur um Imitate von Hotdogs und Hamburgern, denn es fehlte allein schon am Ketchup, um dem Geschmack der Vorbilder wenigstens nahezukommen.

3.3 Fluchtwelten der 1980 er-Jahre In den 1980 er-Jahren verschärfte sich die ökonomische Lage in der DDR. Ihre Produkte waren auf dem Weltmarkt zunehmend nur noch mit Preissubventionen absetzbar, während zugleich die Sowjetunion infolge eigener Wirtschaftsprobleme erhöhte Preise für ihre Energie- und Rohstofflieferungen 75 76 77 78

Plenzdorf 1973: 19 f. Vgl. Menzel 2004. Vgl. Menzel 2004: 160 sowie Gaida 1989: 295. Menzel 2004: 164 f.

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verlangte. Die Industrie der DDR produzierte auf Kosten sowohl der eigenen Substanz als auch der natürlichen Umwelt, deren Schäden nun unübersehbar wurden. Vor den Läden bildeten sich wieder Käuferschlangen, manche Waren und Dienstleistungen waren überhaupt nur noch durch persönliche Kontakte, Tausch oder Zusatzzahlungen zu bekommen. Die kommunistischen Glücksverheißungen verloren endgültig jede Glaubwürdigkeit. Angesichts der tristen Perspektivlosigkeit des »real existierenden Sozialismus« verstärkte sich in der DDR dramatisch die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Was sich am Ende in einer massenhaften Ausreisewelle Bahn brach, deutete sich Jahre zuvor in der verbreiteten Flucht in imaginierte Welten an. Eine Schlüsselrolle spielte dabei zweifellos das westdeutsche Fernsehen, über das die Ostdeutschen ihrem Land allabendlich den Rücken kehrten.79 Großer Beliebtheit erfreuten sich auch in der DDR amerikanische TV-Serien wie Dallas und Denver Clan. »Dallas war interessant. Es war für uns mal was anderes. Eine andere Welt sehen«, bekannte dazu rückblickend ein parteiloser Facharbeiter. Selbst ein SED-Mitglied schwärmte: »Oh, das war Amerika und das war frei«.80 Auch im Kino konnten die Zuschauer in den 1980 er-Jahren für einige Stunden in ferne Welten entkommen. Mit deutlicher Zeitverschiebung waren nun in der DDR »Millionenfilme« genannte amerikanische Blockbuster wie Flammendes Inferno (1981), Fame. Der Weg zum Ruhm (1984) oder auch Star Trek (1986) und E.T. der Außerirdische (1988) zu sehen. Ausschnitte weiterer Filme konnten im April 1988 in Ost-Berlin die rund 100 000 Besucher der von der US-Botschaft organisierten Ausstellung Film in Amerika verfolgen.81 1989 kam sogar ganz regulär der jeder sozialistischen Moral entbehrende Tanzfilm Dirty Dancing auf die Leinwände der DDR! Vor allem die jüngere Generation, die ausschließlich im DDR-Sozialismus aufgewachsen war, suchte neue Perspektiven in den Vorbildern amerikanischer Jugendkulturen. Seit seiner ostdeutschen Erstaufführung 1972 galt der Film Blutige Erdbeeren als Kultfilm, weil er – von den SED-Kulturfunktionären sicher nicht beabsichtigt – mit der Studentenrevolte 1968 in den USA auch eine Anschauung des Protests gegen eine staatliche Übermacht vermittelte. Zu seinem Erfolg trug auch die Filmmusik bei, die unter anderem von Neil Young stammte, denn britische und amerikanische Popmusik war wie im Westen selbstverständlich auch für die Jugendlichen im Osten 79 Vgl. Meyen 2003 a. 80 Angaben aus medienbiografischen Interviews; vgl. dazu Meyen 2003 b. 81 Vgl. dazu den Sprechzettel Axen, Mai 1988 (BArch DY 30-IV 2/2.035, Bd. 144, Bl. 44) sowie die Hinweise zur USA-Ausstellung Film in Amerika (BStU, MfS HA XX, Bd. 16367, Bl. 1 – 3).

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identitätsstiftend.82 Auf Tonbandgeräten und den damals neuartigen Kassettenrekordern fertigten sie Mitschnitte von Radiosendungen an, schrieben unbeholfen englische Songtexte mit, ließen sich Schallplatten aus der Bundesrepublik schenken oder kauften die raren Pressungen des DDR-Labels Amiga. Hier erschienen Elvis Presley, Jimi Hendrix, Janis Joplin, 1984 sogar Michael Jacksons Album Thriller und zwei Jahre später Born in the U.S.A. von Bruce Springsteen.83 Livekonzerte wie etwa die von Springsteen 1988 oder Bob Dylan im Jahr zuvor, welche die Parteijugend FDJ erfolglos zur Imagepflege einzusetzen versuchte, sind für viele Zeitzeugen bis heute biografische Zäsuren! Unter argwöhnischer Beobachtung des MfS84 entfalteten sich unter den Jugendlichen in der DDR schließlich regelrechte Subkulturen nach amerikanischem Muster: Jeans und Parka tragende »Tramper«,85 auf Hip-Hop eingeschworene »Skater«, »Writer« und »Breakdancer«.86 Letztere, die sich gemäß dem von Harry Belafonte produzierten und 1985 in den DDR-Kinos angelaufenen Film Beat Street als Erben der New Yorker Bronx ausgeben konnten, erhielten immerhin staatliche Förderungen und Auszeichnungen. Der Fahrradhersteller Mifa in Sangerhausen hatte seit 1987 ein sogenanntes BMX-Rad, dessen Ursprünge ebenfalls in den USA lagen, im freilich stets ausverkauften Angebot. Im Rahmen der »Konsumgüterproduktion«, die alle Industriebetriebe der DDR zur Kompensation der Mangelwirtschaft betreiben mussten, stellte der VEB Schokoladen-Verarbeitungsmaschinen in Wernigerode sogar ein »Rollbrett« her, das allerdings als Skateboard-Imitation nur ein müdes Lächeln der Eingeweihten hervorrufen konnte. Eine tatsächliche, wenn auch räumlich und zeitlich begrenzte Fluchtmöglichkeit bot den Jugendlichen gegen Ende der DDR die US-Vertretung in Ost-Berlin. Trotz umfassender Überwachung durch die Staatssicherheit nahm ab 1987 der Andrang junger Besucher in der öffentlich zugänglichen Botschaftsbibliothek stark zu, seit dort Videovorführungen angeboten wurden. Präzise protokollierten die Stasi-Spitzel, dass aktuelle Filme wie Alien, Ghostbusters, 1984 nach George Orwell oder auch Star Wars vor Hunderten zumeist jugendlichen Zuschauern gezeigt wurden, ohne dass das zuständige DDR-Außenministerium intervenieren konnte. »Wenn wir danach fragen,

82 Vgl. Rauhut 2002. 83 Wicke 2002: 72. 84 Vgl. Übersicht über Erscheinungsformen neg[ativ]-dek[adenter] Jugendlicher in der DDR (BStU, MfS HA XX, Bd. 6098, Bl. 245). 85 Vgl. Rauhut / Kochan 2004. 86 Vgl. Schmieding 2014.

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legalisieren wir es«, lautete die Formel für das Dilemma.87 Der Besucheransturm war ein Indiz für die wachsende Abkehr vom eigenen Land, wie einer der Gäste im Rückblick offenbarte: »Als DDR-Bürger befand ich mich rein rechtlich auf dem Territorium der USA. […] Innerlich zeigte ich den Stinkefinger und genoss die Situation«.88

4. Ambivalenz: Die USA, die deutsche Wiedervereinigung und die Ostdeutschen Als die Mauer fiel, sah halb Amerika zu. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 berichtete NBC-Anchorman Tom Brokaw zur besten Sendezeit live vom Brandenburger Tor über die Öffnung der Grenzübergänge in Berlin. Die Ereignisse in Deutschland blieben über Wochen das wichtigste außeramerikanische Thema in den Medien, 67 Prozent der Amerikaner traten schon im November 1989 für eine rasche Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein.89 Sie teilten damit die Haltung ihrer Regierung. Bereits Ende Mai 1989 hatte Präsident George Bush bei seinem Besuch in der Bundesrepublik an die Forderung seines Vorgängers Ronald Reagan aus dem Jahr 1987 angeknüpft und erklärt: »Die Mauer steht als Monument für das Scheitern des Kommunismus. Sie muss fallen«.90 Schon am 8. Oktober, noch ehe tags darauf die entscheidende Leipziger Montagsdemonstration der Friedlichen Revolution in der DDR zum Durchbruch verhalf, kündigte Außenminister James Baker in einem NBC-Interview seine Unterstützung für eine Wiedervereinigung Deutschlands an.91 Tatsächlich setzten sich die USA in den folgenden Monaten maßgeblich für die deutsche Vereinigung ein und halfen, zahlreiche Widerstände bei den europäischen Verbündeten und sowjetischen Verhandlungspartnern zu überwinden. Im Juni 1990, kurz vor Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR, erreichte schließlich Ministerpräsident Lothar de Maizière das, was Erich Honecker über 15 Jahre versagt geblieben war: Er wurde im Weißen Haus vom amerikanischen Präsidenten empfangen.

87 Vgl. Information zur Entwicklung des Besucherverkehrs in der Botschaft der USA in der DDR im Monat September 1987 (BStU, MfS HA II, Bd. 30039, Bl. 14). 88 Bertram 2009. 89 Bortfeldt 1993: 61 – 63, 72. 90 Bush 1989. 91 Vgl. Meining 2006: 76.

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Doch bei der Bevölkerung der DDR blieben Reserven. Eine Umfrage des Emnid-Instituts ergab im Sommer 1990, dass zwar 60 Prozent der Ostdeutschen den USA positiv gegenüberstanden, dieser Wert jedoch um 14 Prozent unter dem der Westdeutschen lag. Rund ein Drittel der Ostdeutschen beurteilte die USA ausdrücklich negativ.92 Es liegt nahe, die Ursachen in der jahrzehntelangen SED-Propaganda zu suchen. Möglicherweise wirkt diese zumindest bei den Älteren, die manche früheren Feindbilder im Nachhinein durch die Außen- und Sicherheitspolitik der USA bestätigt glauben, noch heute nach.

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92 Bortfeldt 2012.

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Volker Benkert

»Freedom und Freiheit passen halt nicht zusammen« Amerikabilder junger Ostdeutscher vor und nach 1990

1. Einleitung Für junge Menschen in der DDR der 1980 er-Jahre waren die USA einerseits unerreichbar, andererseits über westdeutsche Medien stets präsent. DDRMedien lieferten ein verzerrtes, aber allgegenwärtiges Bild des sogenannten imperialistischen Klassenfeindes.1 Im Ergebnis führte dies zu einer sehr »asymmetrischen Beziehungsgeschichte« zwischen der DDR und den USA.2 Für die USA war die DDR ein eher wenig beachteter und »bedauerlicher Betriebsunfall der Geschichte.«3 Umgekehrt waren die Vereinigten Staaten aus Sicht der DDR omnipräsent – sowohl in geifernder Propaganda als auch als umworbener, weil mit unabkömmlicher Hochtechnologie ausgestatteter Handelspartner. Die Faszination, die von der amerikanischen (Jugend)kultur, ihrer Produkte und Konsumgüter ausging, war so groß, dass die DDR nicht ohne – freilich politisch gefärbte – kulturelle Gegenangebote und Imitate auskam. Das Amerikabild junger Menschen war in den 1980 er-Jahren von allerlei Sehnsüchten und Ängsten geprägt, wobei Letztere sowohl von den DDR-Medien geschürt wurden als auch auf älteren Vorurteilen beruhten. Die Unerreichbarkeit der USA, die ständige Verzerrung amerikanischer Inhalte durch die DDR und der nicht immer verlässliche Filter westdeutscher Medien schufen eine Vielzahl von Projektionsflächen. Gerade die Widersprüchlichkeit der verfügbaren Informationen über die USA bot viel Spielraum für die kreative Aneignung oder Ablehnung amerikanischer Kultur durch junge DDR-Bürger. Die erste Fragestellung dieses Beitrages bezieht sich daher auf die höchst unterschiedlichen Amerikabilder in der späten DDR, die auf diese Altersgruppe einwirkten.

1 2 3

Vgl. Meyen 2003. Jarausch 2006: 26. Balbier / Rösch 2006: 11.

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Junge DDR-Bürger in den 1980 er-Jahren zeichneten sich ihrerseits durch eine erstaunliche Heterogenität ihrer Sozialisationsmuster aus. Die letzte, in der DDR sozialisierte Altersgruppe, jene um 1970 Geborenen, wurde von mir bereits an anderer Stelle mit Hilfe von 23 lebensgeschichtlichen Interviews beschrieben und in sieben verschiedene Sozialisationstypen unterteilt.4 Im zweiten Teil dieses Beitrags wird es darum gehen, die im ersten Teil skizzierten Amerikabilder zumindest einigen dieser Sozialisationstypen zuzuordnen. Dabei tritt zutage, dass die unterschiedliche Rezeption amerikanischer Jugendkultur durch diese Altersgruppe die Vielfalt von Sozialisationsmustern junger Ostdeutscher in den 1980 er-Jahren widerspiegelt. Schließlich beinhaltete das von mir interviewte Sample auch zwei Personen, die kurz nach 1990 für einige Monate oder sogar ein Jahr in den USA lebten oder diese bereisten. Es handelt sich dabei um Menschen, die sich den amerikanischen Jugendkulturen oder freiheitlichen Diskurse der USA besonders verbunden fühlten. Doch der Vergleich mit dem amerikanischen Original entzauberte tendenziell den Sehnsuchtsort USA und führte in beiden Fällen zu einer Rückbesinnung auf die eigene DDR-Biografie. Diese Erkenntnis bestimmte das titelgebende Zitat, wonach die staatliche Vorstellung von Freiheit vom Kapitalismus in der DDR, die ostdeutsche Freiheitsidee nach 1989 und amerikanische Ideen von »Freedom« kaum miteinander vereinbart werden können.

2. Amerikabilder in der DDR der 1980 er-Jahre Sehnsuchtsort oder Ausbeuterkapitalismus, US-Imperialismus oder amerikanische Hochtechnologie, staatlicher Anti-Amerikanismus oder Aneignung amerikanischer Kultur mit oder ohne sozialistische Vorzeichen5 – all diese verschiedenen Amerikabilder existierten in der späten DDR der 1980 er-Jahre unvermittelt nebeneinander. Sogar die staatlich gelenkten Medien schienen zwischen diesen Polen hin- und herzuschwanken, wobei gerade Medien für Kinder und Jugendliche einerseits den imperialistischen Klassenfeind an den Pranger stellten, andererseits sich aber auch der kulturellen Strahlkraft amerikanischer Medien nicht entziehen konnten. Natürlich versuchte die DDR ihre befürchtete Destabilisierung durch die kulturelle Ausstrahlung 4 5

Vgl. Benkert 2013: 197 ff., Benkert 2017. Zu Selbstamerikanisierung Jugendlicher in Westdeutschland siehe Maase 1997: 224. Zur Übertragung dieses Konzepts auf die DDR siehe Janssen 2010: 28 ff.

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der USA zu vermeiden. Man wies solche Einflüsse entweder zurück, betonte Beispiele amerikanischer Gegenkultur, die mit dem Sozialismus kompatibel erschien,6 oder versuchte konformere sozialistische Alternativen anzubieten. Nicht zuletzt durch den Entzug des Originals aber wurden die USA zum unerreichbaren »Sehnsuchtsstern« vieler DDR-Bürger, dessen eigentliche Konturen durch die widersprüchlichen Filter der DDR- und der Westmedien mehr und mehr verschwammen. Auch gerade wegen seiner Undeutlichkeit bot dieser unerreichbare Sehnsuchtsort vielfältige Interpretationsmöglichkeiten an, sodass amerikanische Kulturtrends zwar massenweise rezipiert, doch auch oft kreativ verändert wurden.7 Insofern scheint es etwas zu kurz gegriffen, wenn man die letzte DDR-Jugend der 1980 er-Jahre als »entgrenzte Generation« bezeichnet, die die DDR schon lange mental verlassen hatte, ehe sie dies schließlich auch physisch tun konnte.8 Auch der Begriff der »Selbstamerikanierung« trifft zwar den enthusiastischen Zugriff auf amerikanische Kulturstile, bezieht aber nicht DDR-spezifische Verformungen amerikanischer Einflüsse mit ein.9 Denn diese Begriffe bezeichnen zum einen lediglich Teilaspekte dieser Altersgruppe, die man ebenso gut über ihre Erfahrung der Transformation nach 1990 definieren könnte, zum anderen drücken sie zu wenig die höchst unterschiedliche Aneignung amerikanischer Kulturtrends aus. Die Gefahr einer Amerikanisierung der Jugend versuchte die DDR mit ihren eigenen kulturellen Initiativen zu begegnen. So gab es bald DDR-Angebote im Film, in den FDJ-Singekulturen und im Radio (DT64), die sich großer Beliebtheit erfreuten, doch konnten diese nicht das Interesse für die durch westdeutsche Medien verbreiteten amerikanischen Kulturtrends aufwiegen. Entscheidender scheint daher zu sein, dass gerade junge DDR-Bürger bei den 6 7

8 9

Vgl. die Beiträge von Katharina Gerund zu Angela Davis in der DDR und von Frank Usbeck über Indianer sowie Daniel Kosthorst zu Jugendkulturen in diesem Band. Zu Medienrezeption vgl. Große (1999: 339): »mediale Prozesse relativierten das offizielle Feindbild ›USA Imperialismus‹ und schufen so viele verschiedene Amerikabilder.« Nach Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung habe dies in den 1980 er-Jahren dazu geführt, dass Jugendliche die USA deutlich positiver sahen als zu Beginn des Jahrzehnts. Vgl. den ZIJ-Bericht 43/1989 von Ulrich Heublein, Urteile von Schülern über Verhaltensmerkmale Jugendlicher anderer Nationalitäten, S. 14 (zitiert nach Große 1999: 340). Zum Zeitraum nach 1990 siehe Fügener / Skorsetz 1991: 70. Ahbe / Gries 2006: 548; vgl. Lindner 1997: 27. Mit Blick auf die Mediennutzung in der DDR führt Meyen auch an, dass »die Bedeutung, die Menschen Medien zuschreiben, ganz entscheidend von den Erfordernissen abhängt, die sich aus dem Alltag und vor allem aus der sozialen und psychologischen Situation des Einzelnen ergeben.« Der Konsum westlicher Medien oder Kulturtrends ist daher nicht unbedingt eine Absage an entsprechende Angebote in der DDR. Es geht vielmehr darum, dass situativ abhängig verschiedene Angebote ausgewählt wurden. Vgl. Meyen 2003: 222.

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jugendkulturellen Angeboten in der DDR sehr genau zwischen den Zeilen lasen und auch amerikanische Kulturtrends nicht ungefragt übernahmen, sondern eigenständig adaptierten, wie es Sybille im Interview formuliert: »Ich habe schon immer gerade auf amerikanische und englische Musik und so Modestile geschaut, die man im Westfernsehen so sehen konnte. Zu einem gewissen Grad konnte man das ja auch zeigen in der DDR. Aber eben immer nur mit den Mitteln, die man hatte, und was man eben so noch wagen konnte. Auch wollten wir ja unsere eigene Sachen einbringen.«10

Sowohl der schrille Antiamerikanismus, als auch die sozialistischen Gegenangebote vermochten den Erfolg amerikanischer Kulturtrends daher nur einzudämmen. Zudem kollidierte dieser Versuch immer wieder mit dem nicht zu verbergenden Bemühen um amerikanische Investitionen und den Zugang zu Hochtechnologie. Das sowohl die Carter- als auch die Reagan-Administration den direkten Transfer von Hochtechnologie durch die »Commodity Control List« sehr schwer machten und zudem Druck auf die Verbündeten ausübten, ebenfalls keine Technologien zu liefern, befeuerte die Rhetorik der DDR nur zusätzlich, wobei vor allem Ronald Reagan zur beliebtesten Zielscheiben wurde.11 »Die Politik der Reagan-Administration hat die internationale Lage extrem verschärft, und die Völker wollen für die Hegemonialinteressen des USA-Imperialismus nicht den atomaren Tod sterben. […] Das Urteil der Völker wird über ein gesellschaftliches System gesprochen, das aus seinem Wesen heraus das Streben nach Expansion und Gewaltanwendung erzeugt und heute den gefährlichen und abenteuerlichen Versuch unternommen hat, mit dem kalkulierten Risiko eines weltweiten nuklearen Infernos gesellschaftlichen Fortschritt aufzuhalten und das Rad der Geschichte zurückzudrehen.«12

In der Unterstellung eines aggressiven Imperialismus schwangen in der DDR oft Echos des Luftkrieges des Zweiten Weltkrieges mit, die auch nach dem Fall der DDR während des Zweiten Golfkrieges 1991 wieder aufgewärmt wurden.13 Besonders in Ostdeutschland kam es zu Demonstrationen, wobei sich der generelle Protest gegen den Einsatz militärischer Mittel auch mit 10 Interview mit Sibylle: 4. – Alle Interviews sind im Besitz des Autors. Per Einverständniserklärung der Interviewpartner und Internal Review Board Regulations der Arizona State University wurden sämtliche Namen anonymisiert und alle Information entfernt, die auf die Identität der Interviewpartner hindeuten könnten. 11 Vgl. Gaida 1989: 288. 12 Autorenkollektiv 1984: 229. Vgl. Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (1988): 304 sowie Koch 1985: 356. 13 Wierling 2006: 33.

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Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg, mit der Gegnerschaft zum vermeintlichen US-Imperialismus und mit Enttäuschungen über die Einheit vermischt. Die Demonstrationen scheinen sich daher weniger einem tiefsitzenden und von der DDR geschürten Antiamerikanismus zuordnen zu lassen, als vielmehr den schon von der DDR verdrängten Vergangenheitsdiskursen und der sich immer deutlicher abzeichnenden prekären Situation in Ostdeutschland nach der Vereinigung. Eine Interviewpartnerin, Antonia, drückt dies wie folgt aus: »Es wäre jetzt (1990) die Idee aus beidem etwas Ideales zu machen. Das sahen wir als verschenkt an, als dann die Einigung kam. Daher waren wir frustriert, echt frustriert. Dann kam noch mal mit diesem Golfkrieg, das war einfach Nein sagen. Das war die erste wirklich politische Demo. Das war ja auch ganz abstrakt, es ging ja nicht um mich, ich war ja vom Golfkrieg nicht betroffen. Da bin ich zum ersten Mal auf die Straße gegangen um meine Meinung zu sagen. Ich meine, mit der ganzen Schule, das war im Frühjahr 91, muss das gewesen sein.«14

In gleicher Weise scheint Vorsicht geboten, wenn antikapitalistische Einstellungen als Erfolg der DDR-Propaganda, die die USA »als Herrschaft der ›Monopolbourgeoisie‹ gegenüber dem ausgebeuteten amerikanischen Volk (›Zwei-Nationen-Theorie‹) darstellten«, aufgefasst werden. Vielmehr waren die Eindrücke von »Armut, Sozialer Unsicherheit, Drogenkonsum und Kriminalität als die andere Seite der Gesellschaft der Vereinigten Staaten« neben der bewunderten Freiheit wirksam.15 Hinzu kamen die Rassendiskriminierung in den USA, die die DDR durch den Besuch von Angela Davis bei Erich Honecker 1972 publikumswirksm in Szene setzte. Nicht nur die DDR-Propaganda sprach ständig von der Krise des Kapitalismus, auch Erfahrungsberichte aus anderen kapitalistischen Ländern wie der Bundesrepublik, Nachrichten aus dem Westfernsehen über die USA und Erinnerungen an die Erfahrungen aus der Weimarer Republik schienen den Eindruck einer von ungezügeltem Kapitalimus geschafftenen Zweiklassengesellschaft und der damit verbundenen Unfreiheit sozial schwächerer Gruppen zu bestätigen. Oft ging mit der Kapitalismuskritik und der Angst vor sozialem Abstieg nach 1990 auch eine Ablehnung der westlichen Konsumgesellschaft und ihrer Betonung individueller Freiheit einher.

14 Interview mit Antonia, Nachfrageteil: 27. 15 Ettrich 2003: 45 f.

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3. Kohortenmodell der um 1970 Geborenen und seine Verknüpfung mit Amerikabildern Wie die oben beschriebenen Amerikabilder von eigenständiger Adaption zeugen, so waren auch die Sozialisationsmuster der letzten DDR-Jugend von Vielfalt und Selbstbehauptung geprägt. Im Folgenden möchte ich sieben Sozialisationstypen in der DDR skizzieren und mit den oben beschriebenen Amerikabildern in Verbindung bringen.

Typ 1: Bleibendes DDR-Trauma – Verzerrtes Amerikabild Die Interviewpartner des ersten Typs waren zumeist zukünftige Angehörige der DDR-Funktionselite, deren Trauma in ihrer Ablehnung durch den unbeweglichen Staat und in seinem frühen Ableben lag. Die DDR förderte sie und gab ihnen das Gefühl von Sicherheit und Anerkennung im Austausch mit einer deutlich eingeforderten Loyalität und Leistungsbereitschaft. Die wenigen Bemerkungen zu den USA sind bei diesem Typus daher entweder von Indifferenz oder von Propaganda geprägt. Interviewpartner Anders zum Beispiel, ein überzeugter Kommunist, sah die USA vor allem durch die von der Propaganda stets wiederholte Klassen- und Rassendiskriminierung beherrscht. Erste Zweifel an der nur scheinbar klassenlosen und farbenblinden Gesellschaft der DDR kamen in ihm jedoch auf, als ihn in der sechsten Klasse ein Freund wegen seines afrikanischen Vaters als »Nigger« bezeichnete und er in der Schule ausgegrenzt wurde.16 Trotz der Erziehung zur Völkersolidarität gab es auch in der DDR alltäglichen Rassismus, der in diesem Fall durch das Wort »Nigger« sogar amerikanisch konnotiert wurde.17 Diese Episode war nur die erste von vielen weiteren, ähnlich enttäuschenden, die zu immer stärkeren Zweifeln am DDR-Staatssozialismus führten. Später wurde Anders wiederholt in Schule und Armee dazu gezwungen, kritische Aussagen und Gedichte zu widerrufen, bis er schließlich von privilegierten Program16 Interview mit Anders: 2. 17 Ausländische Vertragsarbeiter, wie der mosambikanische Vater des Kindes, wurden in der DDR nahezu kaserniert und ihre rechtliche Lage blieb immer prekär. Die Bevölkerung entwickelte daher keinen »toleranten Umgang mit anderen«. Das vorhandene Konfliktpotenzial, besonders bei Beziehungen männlicher Vertragsarbeiter zu deutschen Frauen, war im öffentlichen Diskurs tabuisiert. Der Vater musste nach der Geburt des Kindes in seine Heimat zurückkehren. Die von Anders beschriebene Episode ist daher ein Beispiel für die in der DDR latent vorhandene Fremdenfeindlichkeit. Vgl. Behrends / Kuck / Poutrus 2003: 301.

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men ausgeschlossen wurde. Bei Zweifeln an der Regimetreue widerrief der DDR-Staat rasch und kompromisslos den Tauschhandel von Sicherheit und Anerkennung gegen Loyalität und Leistung. Das daraus resultierende Trauma verhinderte eine Annäherung an die Bundesrepublik nach 1990 ebenso wie eine Annäherung an die USA. Während zunächst das Bild der DDR und dann der Staat an sich zerbrach, blieb das von Propaganda verzerrte Bild der USA intakt.

Typ 2: DDR-Verweigerung – Kritische Annäherung an die USA Im Gegensatz zum ersten Typ entschieden sich die Angehörigen des zweiten Typs von Anfang an für eine Verweigerungshaltung gegenüber der DDR, die wiederum trotz guter schulischer Leistungen mit Ausschluss von höheren Bildungswegen reagierte. Zumeist entstammten die Vertreter dieses Typs einem bürgerlich-christlichen Haus, in dem nicht nur differenzierte Diskurse über die beiden deutschen Staaten, sondern auch über die USA gepflegt wurden. Zudem fanden die Menschen dieses Typs in den Rüstzeiten der evangelischen Kirche, als Bausoldaten oder als Lehrlinge in den wenigen nicht-staatlichen Betrieben Netzwerke und Wissensspeicher vor, die sie unterstützten und mit anderen Diskursen auch über die USA konfrontierten. Auch wenn die Interviewpartner dieses Typs dem amerikanischen Kapitalismus, der amerikanischen Popkultur und dem von Roland Reagan neu genährten Rüstungswettlauf durchaus kritisch gegenüberstanden, so unterschieden sie doch stark zwischen DDR-Propaganda und ihren oft eher aus Westmedien gespeisten Amerikabildern. So weist zum Beispiel Uwe zwar auf »Mistfilme aus Hollywood« hin und kritisiert die »extreme Werteverschiebung« und die »unglaubliche Gewöhnung an dieses Überangebot« nicht nur als westdeutsch, sondern eben auch als amerikanisch.18 Zugleich brachte Uwe der amerikanische Kultur auch Wertschätzung entgegen und hörte zeitgenössische amerikanische Rockmusiker, wie etwa Bruce Springsteen, der 1988 in der DDR auftreten durfte. So fanden die Angehörigen dieses Typs in den kritischen Stimmen der amerikanischen Vergangenheit und Gegenwart Vorbilder für ihre eigene Verweigerung in der DDR. Amerika was daher einerseits ein Freiheitsort, den die Interviewpartner dieses Typs gerne erkundeten, als dies möglich wurde.19 Andererseits nährte der Golfkrieg 1991 nicht 18 Interview mit Uwe: 2 und 8. 19 »Dann bin ich erstmal nach Amerika gereist mit meinem eigenen Geld. Das war für mich so viel freier und offener, na ja, wenigstens in meinen Vorstellungen.« Interview mit Uwe: 6.

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nur Zweifel an der 1989 errungenen Demokratie, sondern auch an den USA. Dies lässt sich jedoch nicht auf DDR-Propaganda zurückführen, und auch nicht auf eine anti-amerikanische Haltung schließen. Es waren schlicht die eigenen Verweigerungserfahrungen, die diese Haltung begründeten. »Was nützt mir die Freiheit, die ich jetzt habe, wenn ich auf die Straße gehe und es passiert rein gar nichts. Der Krieg endete nicht, die Regierung schaute zu und zahlte (an die USA). Ich war Bausoldat in der DDR, da kann ich doch jetzt keinen Krieg gutheißen.«20

Typ 3: Doppelte Sozialisation – Ablehnung von Amerikanisierung Auch die Personen des dritten Typs waren bürgerlich-christlich geprägt. Im Gegensatz zu den Verweigerern versuchten sie diese Sinngebungsmuster jedoch mit sozialistischen in Einklang zu bringen. Bürgerlich-christliche Werte wie Leistungsbereitschaft, humanistische Bildung, soziale Verantwortung und individuelle Autonomie ließen sich zwar nicht mit dem DDR-typischen Militarismus, der Religionsfeindlichkeit oder der Verteufelung des Westens vereinbaren. Mit den emanzipatorischen, egalitären und solidarischen Idealen des Sozialismus konnten sich die Interviewpartner jedoch identifizieren. Ihre Vorbilder waren daher vor allem die zumeist älteren Mitglieder der Bürgerrechts-, Friedens-, und Umweltbewegungen, die entweder einen dritten Weg, oder aber eine bessere demokratischere DDR wollten. Die Wiedervereinigung galt ihnen daher als vertane Chance für ein sozialeres Deutschland. Nicht überraschend, kritisierten die Angehörigen dieses Typs besonders stark die von ihnen so empfundene Amerikanisierung und den damit verbundenen Kapitalismus und Massenkonsum. Ein Interviewpartner spricht dies besonders für die Zeit nach 1990 aus: »Diesen ganzen amerikanischen Konsum, der ja dann aus der BRD über uns hereinbrach. Ne, das habe ich nicht gern gesehen.«21 Vor allem nach einem Aufenthalt in den USA im Rahmen eines einjährigen Schüleraustauschs bereits 1990 äußerte sich eine andere Interviewpartnerin sehr kritisch: »Und dann im Nachhinein bin ich ja auch eher skeptisch geworden, wie viel wir kopieren und übernehmen, wie in der BRD, und wie sehr wir uns doch an Amerika orientieren.«22 Insbsondere der Vergleich mit dem amerikanischen Original 20 Interview mit Christoph: 8. 21 Interview mit Anders: 14. 22 Interview mit Lena: 21.

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entzauberte den Sehnsuchtsort USA und führte zu einer Rückbesinnung auf die eigene DDR-Biografie und die sozialen und emanzipatorischen Werte, die diese wenigstens augenscheinlich vertrat.

Typ 4: Zwischen Eigensinn und Konformität – Kreative Aneignung amerikanischer Kulturtrends Im Gegensatz zur Affinität des dritten Typs zu den emanzipatorischen und solidarischen Aspekten des Sozialismus, zeigten die Angehörigen des vierten eine eher ritualisierte und den Erwartungen des Staates entsprechende Konformität. Vor allem erfüllten sie die performativen und biografischen Erwartungen des Regimes. Dies beinhaltete die Mitgliedschaft in Massenorganisationen und Partizipation an deren Aktivitäten.23 Hinter vorgehaltener Hand wurde von ihnen jedoch auch Kritik geäußert. Manche lebten unter der Woche eine scheinbar angepasst DDR-Existenz, während sie sich am Wochenende in weniger konformen Subkulturen tummelten. Selbstbewusst verhandelten sie mit dem Staat, um möglichst viel Freiraum und Zugang zu Bildung und Aufstieg im Ausstausch für wenigstens oberflächliche Konformität zu erhalten. Wenn sie die mitunter engen Grenzen der staatlichen Toleranz ausloteten, vertrauten sie doch letztlich darauf, dass der Staat diese Spielregeln akzeptieren und nicht im Nachhinein verändern würde. Ein solches Vertrauen konnten die aufgrund ihrer Religion marginalisierten Angehörigen des dritten Typs nicht aufbringen. Zum Teil bestand dieses Grenzausloten auch in der Aneignung amerikanischer Kulturtrends. Die Eigenständigkeit, die viele dabei an den Tag legten, spiegelte sich auch in einer kreativen Veränderung dieser Trends. Armin zum Beispiel besuchte in Halle alternative Rock- und Punkkonzerte in Hinterhöfen und verschiedenen Kirchen. Die dort gespielte Musik war zwar von den entsprechenden britischen und amerikanischen Szenen inspiriert, die Musiker wandten sich aber immer wieder, zumeist auf Deutsch, ganz lokalen oder DDR-spezifischen Themen zu.24 Armin trennte dabei ganz bewusst die alternative Musik von ihren westlichen Wurzeln und von der Spielstätte in der Kirche. »Punkrock und Gothrock waren ja auch im Westen alternative Szenen, die genauso an den Rand gestellt wurden, deren Themen aber andere waren. Und hier war ich auch der Meinung, dass Kirche und Oppostion nicht zusammenpassen, da auch die Kirche 23 Vgl. Yurchak 2006: 26. 24 Vgl. Rauhut 2002: 126.

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Volker Benkert schon zu lange mit dem Staat verbandelt war. Ich hab dann in Halle auch die ersten Punkkonzerte in der Kirche gehört. Aber ich habe in der Kirche selbst nicht wirklich eine Alternative gesehen.«25

Die Biografien dieser Interviewpartner kontrastieren äußerliche Konformität in der DDR mit eigenständiger Selbstbehauptung ebenso, wie bei ihrer Rezeption westlicher Kulturtrends immer eine eigenständige Note mitschwang.

Typ 5: Normalität in der DDR – Indifferenz gegenüber den USA Die Angehörigen des fünften Typs betonten die Normalität ihres Lebens in der DDR, das sich scheinbar fernab der Diktatur, aber auch der Opposition abspielte. Ihnen ging es nicht darum, Freiräume zu erobern. Sie ignorierten scheinbar sowohl die Präsenz der Indoktrinations- und Überwachungsorgane als auch die Möglichkeit, außerhalb der vorgegebenen Normen zu agieren. Die Interviewpartner erinnerten sich vor allem an eine glückliche Jugend in einem augenscheinlich normalen Land, ohne dabei zu bedenken, dass ihre Konformität diesen Staat auch legitimierte. Der Konsum amerikanischer Popkultur oder ihrer ostdeutschen, politisch akzeptierten Stellvertreter war durchaus Teil dieser Normalität. Dabei entschied allein Geschmack und Mode über ihre Wahl, eine politische Konnotation amerikanischer Popkultur war ihnen nicht wichtig. In gleicher Weise konsumierten sie DDR-spezifische Imitate unabhängig davon, ob diese von staatlich anerkannten Musikern oder von alternativen Kollegen geschaffen wurden.

Typ 6: Pragmatismus – Kein Interesse an den USA Der sechste Typ bot dem Staat eine zynische Fassade von Konformität an. Während der fünfte Typ den Staat scheinbar ignorierte, maskierten die Interviewpartner des sechsten Typs ihr mangelndes Vertrauen in staatliche Diskurse und simulierten bewusst Staatstreue. Ihnen ging es vor allem um die Förderung der eigenen Karriere, sodass sie nach 1990 dem Sozialismus schnell den Rücken kehrten, sobald dies opportun erschien. Die Interviewpartner zeigten kaum erkennbares Interesse an den USA. Sie wiederholten jedoch anti-amerikanische DDR-Parolen, wenn ihnen diese von Nutzen waren. Eine Interviewpartnerin äußerte zum Beispiel, dass sie als Redak25 Interview mit Anders: 16.

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teurin einer Wandzeitung das Drogenproblem amerikanischer Jugendlicher schildern sollte. Obwohl sie im Interview festhielt, vom Thema keine Ahnung gehabt zu haben und sich ihre Recherche vornehmlich auf Artikel des Neuen Deutschland zum Drogenproblem in der Bundesrepublik stützte, bestätigte ihr Beitrag selbstredend die Dringlichkeit des Problems und seine Ursache im Kapitalismus.26

Typ 7: Glaube und Gewalt – Kontinuität autoritärer Strukturen: die USA als Feind Der siebte und letzte Typ war am stärksten durch die autoritären Stukturen der DDR geprägt, da sich diese auch im Elternhaus fortsetzten. Die Angehörigen dieses Typs lernten ein auf Dominanz, Repression und Gewalt ausgerichteten System zu Hause kennen, denn ihre Väter waren Angehörige der bewaffneten Organe der DDR. Sie selbst versuchten später, ebenfalls in Autoritätspositionen zu kommen, was vor allem durch eine frühe Verpflichtung zur Nationalen Volksarmee gelang, wo ihre stramm rote Herkunft und ihre Loyalität für eine Offiziersqualifikation ausreichte. Zwar übten sie dort nicht selbst Druck aus, tolerierten und verniedlichten jedoch die praktizierte Gewalt der »Entlassungskandidaten« gegenüber jüngeren Rekruten. In ihren Erzählungen taucht die USA nur als der anzunehmende Feind auf, wobei sie auch Verachtung für die vermeintlich weniger hohe Einsatzbereitschaft der westdeutschen und amerikanischen Streitkräfte ausdrückten. »Die Amis waren ja drüben der Feind. Aber wir hatten ja ständige Gefechtsbereitschaft, wir hätten die doch glatt überrollt am Wochenende.«27

4. Junge Ostdeutsche nach 1990 in den USA Der Historiker und Amerikanist Peter Schäfer erfuhr bei seiner unerwartet möglich gewordenen Reise in die USA im Herbst 1990 Solidariät von ameri-

26 Interview mit Mandy: 8. Tatsächlich berichtete das Neue Deutschland ausführlich über die Drogenproblematik in der Bundesrepublik und in Amerika. Am 27. Januar 1988 wurde das Thema mit einem Beitrag von Wolfgang Much mit dem Titel »Im vergangenen Jahr über 450 Drogentote in der BRD« auf Seite 1 eröffnet, wobei in derselben Ausgabe noch zwei weitere Artikel zum professionellen Rauschgifthandel und ein Szenebericht zum Drogenkonsum auf Schulöfen erschienen. Vgl. Much 1988. 27 Interview mit Sebastian: 6.

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kanischen Studenten und Kollegen gegenüber einem allzu scharf auftretenden »Kalten Krieger« aus der Botschaft der Bundesrepublik. »Der Herr von der Botschaft (Jg. 1956) vertellte so einen Stuss […]. Ihm wären die Menschen (aus der DDR) fremd, er freue sich darüber, dass der Kalte Krieg mit dem Sieg der BRD über die DDR geendet hätte. Wir platzten! Vater konterte scharf, der Kollege von der Akademie Berlin ebenfalls […], die (amerikanischen) Studenten suchten ihr Deutsch zusammen und gaben sehr bedenkliche Kommentare ab. Alle wandten sich gegen den stolzen Westgermanen.«28

Von ähnlichen Erfahrungen berichteten auch zwei weitaus jüngere Ostdeutsche aus meinem Sample, die sich 1991 und 1992 auf dem Weg in die USA machten. Zumindest Uwe (Typ 2) war gegenüber den USA als Freiheitsort sehr positiv eingestellt. Für Lena (Typ 3) war die Reise allerdings mit einigen Vorbehalten verbunden. Sie erhielt unerwarteter Weise ein Stipendium für einen einjährigen Schüleraustausch, das sie nicht ausschlagen mochte. Anders als die amerikanischen Studenten, die Professor Schäfer kennenlernte, erlebten Uwe und Lena allerdings eher die Unkenntnis ihrer amerikanischen Mitschüler in der Provinz. Lena berichtet etwas enttäuscht: »An meiner Schule waren relativ wenige Leute mal über die Stadtgrenzen herausgekommen. […] Ich wurde dann mit den wildesten Fragen bestürmt. Ich sei ja jetzt frei vom Kommunismus.«29 Besonders negativ stieß ihr auf, dass sie nun zwar viel größere Freiheiten zur Meinungsäußerung besaß; dass aber die Sicherheitsbedenken der Schule und der Gasteltern sowie fehlende öffentliche Verkehrsmittel ihre persönliche Freiheit in einer Art und Weise beschränkten, wies sie dies aus der DDR nicht kannte. »Plötzlich war ich dann (in den USA) eingeschränkt in Dingen, die mir komisch vorkamen. Es gab bestimmte Stadtteile, die ich auf keinen Fall zu betreten hätte, und dass ich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu fahren hätte.«30

Die in der DDR erkämpfte Freiheit, beispielsweise der Religions- und Meinungsfreiheit, führte auch dazu, dass sozialistische Werte im vereinten Deutschland an Bedeutung verloren. In den USA erschien Lena das amerikanische, auf Individualismus fußende Freiheitsideal als inhaltsleer, sodass sie die Erzählung ihrer USA-Reise mit den Worten beschließt: »Aber Freiheit und Freedom passen einfach nicht zusammen. Freiheit habe ich dort nicht erlebt.«31 In den Augen von Uwe und Lena wurde das amerikanische Gefühl 28 29 30 31

Schäfer 2007: 95. Interview mit Lena: 24. Interview mit Lena: 24. Interview mit Lena: 24.

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von Freiheit durch die Konsumrealität deutlich eingeschränkt, da beide über relativ wenig Geldmittel verfügten. Gerade der Anblick der endlosen Regale in den Supermärkten wirkte eher abstoßend auf sie. »Ja, da hat vielleicht der Amerika-Aufenthalt auch als ganz gute Impfe gewirkt. 92 war ich da. Also, ich kam fast noch aus der Mangelwirtschaft und die Art und Weise, wie da konsumiert wurde, hat mich sehr abgestoßen. […]. Das war ja in der DDR sowieso nicht so der Fall, die Auswahl war ja nicht da. […] Ich war ja sowieso schon aus einer anderen Welt.«32

Zum Konsumzwang kam als weitere Ernüchterung der zelebrierte amerikanische Patriotismus, mit dem sie nichts anfangen können. Zu sehr erinnerte er sie an die zahllosen Appelle und eingeforderten Loyalitätsbedungen in der DDR.33 Auch erschien dieser Patriotismus mit Konformitätszwängen einherzugehen, die sie schon in der DDR abgelehnt hatte. »Sehr zeitig spürte ich dann auch, dass mir der Patriotismus da sehr auf die Ketten geht. Am Morgen wurde dann oft die Hymne gesungen. […] Ich bin da natürlich mit aufgestanden, Hände an der Hosennaht und so. Als sich da aber eine andere Schülerin umdrehte und meine Hand auf mein Herz legte, dachte ich so: Moment. Das ist doch nicht mein Land. […] Also, welches ist dann mein Land, wo komme ich denn eigentlich her? […] Und wenn man dann in Amerika auch immer wieder mit dummen Fragen einerseits und andererseits Äußerungen wie Nazi oder in meinem Fall Kommunist, weil ich ja aus dem Osten war, dann konfrontiert wird, dann fängt man auch schnell an, sich auf das zu besinnen, was man eigentlich kennt. […] Ich glaube, ich habe in diesem Jahr, auch ein etwas gesünderes Verhältnis zu meinem Heimatland (der DDR) bekommen, das ich ja vielfach verdammt habe und mit dem ich überhaupt nichts anfangen konnte.«34

Wie Lena es bereits im obigen Zitat andeutet, führten die USA-Erfahrungen zu einer Rückbesinnung auf die eigene DDR-Biografie. Der Aufenthalt junger Ostdeutsche in den USA nach 1990 entzauberte offenbar nicht selten die freiheitlichen und jugendkulturellen Strömungen, die junge DDR-Bürger mit den USA assoziierten. Zwar waren sie sich der fehlenden Freiheit in der DDR nur allzu deutlich bewusst, aber die erlebten Konformitätszwänge in den USA führten ihnen vor Augen, dass ihr Freiheitsbegriff mit dem amerikanischen nicht in Übereinstimmung zu bringen war.

32 Interview mit Uwe: 25. 33 Saunders 2007: 58. 34 Interview mit Lena: 25.

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5. Schluss Aus den oben skizzierten Typen geht hervor, dass die Alterskohorte der um 1970 in der DDR Geborenen sehr unterschiedliche Sozialisationen in einer nur scheinbar gleichförmigen Diktatur erlebten. Es scheint daher unmöglich, dieser Alterskohorte eine generationelle Bezeichnung zuzuordnen, die ohnehin nur einen kleinen Teil der hier beschriebenen Vielfalt abbilden könnte. Zudem schlugen sich die unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen in sehr verschiedenen Amerikabildern nieder. Das durch Progadanga verzerrte Amerikabild des ersten Typs scheint jenem von Typ 6 sehr ähnlich zu sein und ermöglichte nur eine feindlich gesinnte Sicht auf die USA. Die Angehörigen von Typ 2 hingegen sahen die USA auch aufgrund des Amerikabildes westdeutscher Medien trotz aller Kritik an amerikanischen Konsumhaltungen als Freiheitsort an, der mit ihrer eigenen Unfreiheit in der DDR kontrastierte. Dieses Bild wurde allerdings durch den Golfkrieg 1991 einer schweren Prüfung unterzogen, den sie, wie auch die Interviewpartner des dritten Typs, aus ihrem Bemühen um Frieden ablehnten. Darüber hinaus kritisierte der dritte Typ eine zunehmende Amerikanisierung, die auch mit den von ihnen vertretenen sozialistischen Idealen unvereinbar schien. Der vierte Typ eignete sich amerikanische Kulturtrends an und veränderte diese ebenso eigenständig, wie er sich auch gegenüber der DDR zu behaupten wusste. Typ 5 hingegen rezipierte amerikanische Kultur ohne große Reflektion sowohl über die damit geübte Kritik an der DDR als auch deren Aussagen über die USA. Der sechste Typ schließlich schien wenig Interesse an den USA zu haben, da auch ihre eigene Beziehung zur DDR nicht durch Engagement, sondern ausschließlich durch Pragmatismus gekennzeichnet war. In diesen höchst unterschiedlichen Beschreibungen offenbart sich insofern ein sehr differenziertes Bild dieser letzten DDR-Jugend und den von ihr rezipierten und durch die doppelte Linse der DDR-Propaganda und der Westmedien verzerrten Amerikabilder. Für zwei der Interviewpartner, die bald nach der Wiedervereinigung die Möglichkeit hatten, selbst in den USA zu leben, entfiel diese doppelte Verzerrung sehr rasch und ihre auf den Sehnsuchtsort Amerika projizierten Freiheitsbegriffe erwiesen sich als wenig kompatibel mit amerikanischen Ideen von individueller Freiheit, Konsum und Patriotismus.

»Freedom und Freiheit passen halt nicht zusammen«

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V. Entfremdung? Das deutschamerikanische Verhältnis heute

Moritz Fink

Amerikakritik – Made in USA Die Repräsentation Amerikas durch die Simpsons

Amerikakritik – Made in USA Amerikakritik – Made in USA. Die Repräsentation Amerikas durch die Simpsons

What people are likely to see of America and what they are likely to know about America will be filtered through the lens of American popular culture.1 – Lane Crothers, Globalization and American Popular Culture U–S–A! U–S–A! U–S–A! – Homer Simpson

1. Einleitung: Von Micky-Mäusen und gelben Menschenwesen Sie prangen auf T-Shirts, Bettbezügen und Kaffeetassen. Amerikanische Comic- und Zeichentrickfiguren sind weit verbreitete Motive; man kennt sie praktisch auf der ganzen Welt. Der große Walt Disney gilt gemeinhin als Vater dieses Franchising-Prinzips. Er erkannte die Vermarktbarkeit seiner Figuren, sah in ihrer ikonografischen Reproduzierbarkeit einen kapitalistischen Mehrwert. Zu so namhaften Charakteren wie Micky Maus (im Original: Mickey Mouse), Goofy und Donald Duck gesellte sich in den 1990 er-Jahren auch die Familie Simpson. Die gelben Cartoonfiguren aus der gleichnamigen Fernsehserie rund um das trottelige Familienoberhaupt Homer Simpson stammen aus der Feder Matt Groenings, einst ein unbeschriebenes Blatt der amerikanischen Comic-Szene, heute millionenschwerer Schöpfer eines weltweit bekannten Figurenensembles. In der Tat handelt es sich bei den Simpsons um ein amerikanisches Produkt mit globaler Strahlkraft. In mehr als 180 Ländern und in 20 Sprachen wird die Serie ausgestrahlt. Woche für Woche erreichen die Simpsons so rund 190 Millionen Zuschauer.2 Simpsons-Merchandise-Artikel wie Videospiele, T-Shirts oder Spielzeugfiguren erfreuen sich rund um den Globus großer 1 2

Crothers 2013: 2. Vgl. Donnar 2004: 20, Szalai 2014.

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Beliebtheit. Kurzum, Homer & Co sind wie Micky Maus und Donald Duck, Ikonen einer transnationalen, globalen Popkultur.3 Inhaltlich unterscheiden sich die Simpsons jedoch grundlegend von ihren Vorfahren. Waren die Fiktionen Disneys meist darauf ausgelegt, die dominante kapitalistische Kultur westlicher Gesellschaften zu untermauern, so sind Groenings Simpsons in der satirischen Ecke zu verorten – als Karikatur der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen und der amerikanischen im Besonderen. Diese satirische Dimension der Serie sorgt immer wieder für Irritationen. Auf der einen Seite handelt es sich bei den Simpsons um ein international erfolgreiches amerikanisches Produkt und demzufolge einen Repräsentanten Amerikas wie Micky Maus oder Coca-Cola. Auf der anderen Seite werden die Simpsons außerhalb der USA oft als amerikakritische Stimme wahrgenommen. Dieser vermeintliche Widerspruch soll in diesem Beitrag beleuchtet und kritisch hinterfragt werden.

2. Popkultur made in USA: Mediale Amerikanisierung versus diskursiver Raum Populärkultur in Form von Filmen, Musik oder Fernsehproduktionen ist Amerikas führendes Exportgut.4 In diesem Zusammenhang hört man immer wieder den Vorwurf einer »Amerikanisierung« des Planeten; es entstünde eine amerikanisch geprägte Monokultur fürchten Kritiker – Stichwort »Coca-Kolonisierung«.5 Die ablehnende Haltung gegenüber einer »Amerikanisierung von unten«6 hat auch in Deutschland eine ausgeprägte Tradition – in ihrer salonfähigsten Form meist artikuliert als linksintellektuelle Kulturkritik in Rückbesinnung auf Theodor Adorno und die Frankfurter Schule. So warnte der deutsche Filmemacher Wim Wenders in den späten 1980 er-Jahren in einem Beitrag im Spiegel vehement vor einer »Amerikanisierung« durch die amerikanische Medienindustrie und einem damit einhergehenden Kulturverlust in Deutschland und anderswo.7 Mit der globalen Verbreitung von amerikanischen 3 4 5 6 7

Der amerikanische Medienwissenschaftler Henry Jenkins charakterisiert diese globale Popkultur als »pop cosmopolitanism« (Jenkins 2004). Vgl. Crothers 2013: 2. Vgl. zum Beispiel Willett 1989. Im politikwissenschaftlichen Kontext könnte man mit Joseph Nye von Populärkultur als eine Form der »soft power« sprechen (vgl. Nye 2003). Vgl. Maase 1996. Wenders 1987: 235; siehe auch Scholtyseck 2003: 38 f.

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Fast-Food-Restaurants, Soft-Drink-Marken, Musikproduktionen, Filmen oder Fernsehserien stülpe Amerika der Welt ihre »Unkultur« über, so der beständige Vorwurf.8 Weit weniger polemisch bewertete der amerikanische Soziologe Herbert Schiller im Jahre 1969 die wachsende Dominanz der amerikanischen Medienindustrie, wenn er feststellt: »[it] now directly impinges on peoples’ lives everywhere.«9 Entgegen dieser kulturkritischen Perspektive kann amerikanische Populärkultur aber auch als diskursiver Raum verstanden werden: Auf den Schulhöfen oder im Internet wird engagiert über TV-Programme wie die Simpsons diskutiert. Rund um die Welt entstehen soziale Formationen in Gestalt von Fankulturen, für die mediale Produkte wie die Simpsons eine Form von »kulturellem Kapital« (Pierre Bourdieu) darstellen.10 Der internationale Triumph der amerikanischen Popkultur, so legt es Winfried Fluck nahe, hat eben »auch etwas mit ihrer Brauchbarkeit für die Rezipienten zu tun.«11 In diesem Sinne dokumentierte Hamid Naficy, ein aus dem Iran in die USA immigrierter Wissenschaftler, die transkulturelle Bedeutung des Disney-Films Arielle – Die kleine Meerjungfrau (1989; im Original: The Little Mermaid). Zu Beginn seines 1993 erschienenen Buches The Making of Exile Cultures beschreibt Naficy die Begegnung seiner in Amerika sozialisierten und lediglich englischsprechenden Tochter mit deren Cousine aus Deutschland, die kein Englisch spricht. Interessanterweise kennen beide den Film in ihrer jeweiligen Muttersprache. Naficy beobachtet, wie es den Mädchen Freude bereitet, den Film gemeinsam zu sehen, obwohl sie sich sprachlich nicht verstehen. Insbesondere die Lieder des Films fungieren dabei als kommunikative Schnittstellen, als Tochter und Nichte zusammen auf Englisch beziehungsweise Deutsch mitsingen. Ausgehend von seiner Anekdote, kommt Naficy zu dem Schluss: »The globalization of American pop culture does not automatically translate into globalization of American control. This globalized culture provides a shared discursive space where transnationals […] can localize it, make their own uses of it, domesticate and indigenize it. They may think with American cultural products but they do not think American.«12

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Vgl. dazu auch Winter 1995. Bernd Ostendorf argumentiert, dass Rolf Winters Buch Teil eines rechten Populismus ist, der sich einer »allgemeinen antiamerikanischen Stimmung bedient« (Ostendorf 2000: 173). Eine ähnliche Diagnose lässt sich auch auf Vertreter der Pegida-Bewegung anwenden (siehe Schirmer 2016). 9 Schiller 1969: 17. 10 Im Anschluss an Bourdieu spricht John Fiske von »populär kulturellem Kapital« (vgl. Fiske 2001). 11 Fluck 1998: 14. 12 Naficy 1993: 2.

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Die weltweite Präsenz amerikanischer Populärkultur schafft also gemeinsame Anknüpfungspunkte; sie ist nicht gleichbedeutend mit einer unreflektierten Adaption dieser Elemente in den jeweiligen kulturellen Kontexten. Bleiben wir beim Fernsehen. Das vielleicht am umfassendsten untersuchte Programm ist in diesem Zusammenhang die in den 1980 er-Jahren international erfolgreiche US-Serie Dallas. Mit all ihren Intrigen und Wirrungen ist die Familiensaga der texanische Ewing-Öldynastie die Projektion einer patriarchalen, kapitalistischen und kompetitiven amerikanischen Gesellschaft. In einer bekannten Studie verwiesen die israelischen Wissenschaftler Tamar Liebes und Elihu Katz unter anderem auf Zuschauer aus dem arabischen Kulturkreis. Ironischerweise verstanden viele von ihnen Dallas als Demonstration, wie Kapitalismus zur moralischen und gesellschaftlichen Korruption des Westens geführt hat.13 Einige japanische Rezipienten empfanden die Abenteuer der Ewings gar als Abgesang auf die Ära der amerikanischen oligarchischen Oberschicht. Ähnliches belegte die Rezeptionsstudie der niederländisch-stämmigen Wissenschaftlerin Ien Ang. Sie ermittelte Zuschauer in Holland, die Dallas komplett ironisch betrachteten: Sie waren sich also bewusst, dass moralische und politische Missstände die Serie beherrschen, erfreuten sich aber trotzdem an der Geschichte als solche.14 Liebes und Katz zufolge müsste ein Produkt wie die Serie Dallas jedoch drei Kriterien erfüllen, um als kulturimperialistisches Instrument zu fungieren: (1.) Es enthält eine Botschaft, die amerikanische Interessen propagiert. (2.) Die Rezipienten dekodieren diese Botschaft analog zur Enkodierung durch die Produzenten; und (3.) die Rezipienten akzeptieren diese Enkodierung unkritisch, das heißt, die Botschaft kann mehr oder weniger ungefiltert in die fremde Kultur einsickern.15 Sowohl die Studien von Liebes und Katz als auch die Angs zeigen, dass die Reihe Dallas diese Merkmale nicht zwangsläufig erfüllt. Inhaltlich mag Dallas amerikanische Interessen im Sinne einer kapitalistischen Ideologie repräsentieren, doch versperren sich diverse Rezipientengruppen gegenüber diesem Enkodierungsmodus. Mit anderen Worten: Kritische oder ironische Lesarten in Bezug auf Dallas’ Enkodierung relativieren den kulturimperialistischen Effekt des Programms. Kulturelle Hegemonie amerikanischer Produkte ist also nicht gleichzusetzen mit Kulturimperialismus. Popkultur »made in USA« ist nicht deshalb international erfolgreich, weil Amerika sie der Welt aufoktroyiere 13 Vgl. Liebes / Katz 1993. 14 Vgl. Ang 1985. 15 Vgl. Liebes / Katz 1993: 4.

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und ihre Verbreitung damit amerikanischen Interessen entspräche wie es die Kulturimperialismusthese nahelegt. Für Liebes und Katz liegt der Erfolg von Serien wie Dallas vielmehr an ihrer kulturellen Offenheit. Demzufolge sind es weniger Aspekte der Distribution (hier können sich amerikanische Unternehmen natürlich auf bestehende Strukturen stützen) als die stark ausgeprägte Mehrdeutigkeit der Inhalte und Universalität der Themen, die die starke Verbreitung von US-amerikanischer Populärkultur rund um den Globus erklären.16

3. Die Simpsons und Amerika Mit ihrem durchschlagenden internationalen Erfolg sind die Simpsons ein gegenwärtiger Ausdruck der kulturellen Hegemonie Amerikas, vergleichbar mit Dallas in den 1980 er-Jahren. Im Unterschied zu Dallas handelt es sich bei den Simpsons jedoch um eine satirische Form der Fernsehunterhaltung. Humor ist bei Dallas allenfalls eine textimmanente Facette, als satirischer Spott richtet sich Humor bei Simpsons hingegen nach außen, auf unsere realexistierende Welt. Die Simpsons ziehen so ziemlich alles durch den Kakao, was ihnen in die Quere kommt und machen dabei weder vor ihrem Heimatsender Fox noch vor sich selbst Halt. Ganz dezidiert richtet sich ihr Spott aber auf Elemente der amerikanischen Gesellschaft. Der globale Triumph der Serie legt nahe, dass Gesellschaftssatire im Stile der Simpsons nicht amerikaspezifisch, sondern universell funktioniert. Dies führt zu der Frage: Welches Amerikabild beziehungsweise welche Amerikabilder vermitteln die Simpsons innerhalb beziehungsweise außerhalb Amerikas? Um dieser Fragestellung nachzugehen, werde ich zunächst exemplarisch zwei Pressestimmen zur Serie aus den USA und Deutschland sowie zwei wissenschaftliche Interpretationen der Serie gegenüberstellen. Verständnisse des Charakters von Homer Simpson als amerikanischer Antiheld beziehungsweise stereotypischer Amerikaner sollen diese Skizze abrunden.17 Schließlich werde ich die Repräsentation von nationaler Symbolik und ihre Funktion in der Serie analysieren, um zu zeigen, wie die Simpsons als Stimme eines »anderen«, selbstironischen und selbstkritischen Amerikas verstanden werden können. 16 Vgl. Liebes / Katz 1993: 4 f. 17 Diese Analyse ist selbstverständlich nicht repräsentativ; im Sinne einer qualitativen Studie versucht sie vielmehr die »Eigenheit, Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Dynamik« des transnationalen Phänomens der Simpsons herauszuarbeiten (Bergmann 2011: 17).

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3.1 Born in the USA: Die Simpsons als rebellische Patrioten Nachdem die gelben Zeichentrickfiguren bereits durch ihre kurzen Auftritte in der Sketch-Comedy Reihe Tracey Ullman (Fox, 1987 – 1990) die Herzen des US-Publikums eroberten, debütierten die Simpsons in den USA als eigenständige Serie am 17. Dezember 1989 – mit einer bemerkenswerten Resonanz. Eine regelrechte »Simpsonsmania« ereilte die Vereinigten Staaten. Besonders der rebellische Gestus des cleveren Bart Simpson schmeichelte dem größtenteils jungen Publikum. Einige Schulen untersagten sogar das Tragen der damals äußerst populären Bart-Simpson-T-Shirts mit der Aufschrift »Underachiever and proud of it« (in etwa: »Fauler Schüler und stolz darauf«).18 Auch wenn sie heute, fast 30 Jahre später, nicht mehr die Quoten ihrer goldenen Jahre erreichen – die Geschichte der Simpsons ist eine einzige Erfolgsstory: Von Kommentatoren und Kritikern gefeiert, mit 32 Emmy Awards ausgezeichnet und mit einem eigenen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame in Los Angeles geehrt: Die Simpsons sind die bis dato am längsten und erfolgreichsten laufende fiktionale Serie der amerikanischen Fernsehgeschichte und wurden vom Time Magazine sogar als beste Fernsehserie des 20. Jahrhunderts geadelt. Klar, mittlerweile haben neue satirische Formate wie die Daily Show und Colbert Report oder der Simpsons-Nachfolger South Park (ganz zu schweigen von Qualitätsserien wie Big Bang Theory, Breaking Bad oder House of Cards) den Simpsons den Rang abgelaufen; selbst eingefleischte Fans beklagen seit Jahren einen stetigen Qualitätsabfall ihrer Lieblingsserie.19 Für die meisten sind die Simpsons jedoch nach wie vor eine kulturelle Institution – und so etwas wie Pralinen der Fernsehunterhaltung. Die Simpsons, das ist im amerikanischen Kontext wichtig, sind in Bezug zum populären Genre der »Situation Comedy« (Sitcom) konzipiert und meist auch rezipiert worden. So charakterisierte die Los Angeles Times gegen Ende der ersten Simpsons-Staffel im Jahre 1990 die Quintessenz der Serie folgendermaßen: »When The Simpsons first went on the air, viewers and critics alike were surprised that the show had exhumed one of television’s hoariest formulas: a sitcom, albeit animated, about a blue-collar family living in a standard-brand American suburb, and not just any old suburb but a town called Springfield, just like the locale of Father Knows Best, the blithely Utopian sitcom of the 1950s.«20 18 Vgl. Ortved 2009: 121. 19 Vgl. Sweatpants 2012. 20 Morgenstern 1990: o. Pag.

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Die Referenz zur Tradition des Sitcom-Genres in Amerika, und mit Father Knows Best einem ihrer Prototypen, ist bezeichnet für die US-amerikanische Perspektive auf die Simpsons. Auch Jonathan Gray, Medienwissenschaftler an der Universität von Wisconsin-Madison, betont das Verhältnis der Simpsons zur Sitcom. In den Nullerjahren, also zu einem Zeitpunkt, als die Serie längst etabliert und ausdifferenziert war, versteht Gray die Simpsons als Sitcom-Parodie und damit medienbezogene Gesellschaftssatire. In diesem Bezug verortet Gray auch die kritische Haltung gegenüber Amerika, die der Serie innewohnt. »Parodying the traditional family sitcom neighborhood, The Simpsons’ Springfield often satirizes rather than expostulates the American Dream. The show’s depiction of America, the American suburb, and American capitalism are a far cry from flagwavingly chauvinistic, as with its individuals, institutions, and mindsets.«21

Gray beschreibt damit eine grundlegende Eigenschaft der Simpsons: Die Serie bietet einen kritischen Blick auf amerikanische Gesellschaftsmythen wie den American Dream und dekonstruiert diese mit Hilfe des Sitcom-Genres, dessen traditionelle Varianten ja gerade in diesen Mythen schwelgen. Unter diesem Gesichtspunkt mag es nicht verwundern, dass die Simpsons in den Anfangsjahren in Amerika auch schnell politisiert wurden. Konservative Kommentatoren sahen die Serie als Abgesang auf das was in der politischen Kultur Amerikas unter dem Sammelbegriff »Family Values« gefasst wird. In einer legendär gewordenen Wahlkampfrede im Jahre 1992 verkündete der ältere George Bush, er wolle ein Amerika, dass wieder mehr den Waltons ähnelt als den Simpsons.22 Diese Steilvorlage ließen sich die Simpsons-Macher nicht entgehen. Bereits die darauffolgende Episode enthielt einen kurzen, eilig zusammengebastelten Vorspann in dem der genannte Ausschnitt aus der Bush-Rede im Fernseher der Familie Simpson gezeigt wird. Daraufhin ist Bart Simpson zu sehen, wie er sich zum Publikum wendet und sagt, die Simpsons seien doch wie die Waltons, sie beteten schließlich auch für ein Ende der Krise. Damit spielten die Serienmacher nicht nur auf das historische Setting der Familie Walton aus der gleichnamigen Serie an (die Wirtschaftskrise in den USA Ende der 1920 er-Jahre), sondern übten zugleich eine subtile Art der Kritik an der Bush-Regierung. Nach dieser Aktion gerieten die Simpsons in ihrem Heimatland endgültig zwischen die kulturellen Fronten. Simpsons-Fan zu sein, bedeutete implizit 21 Gray 2007: 131. 22 George Bush bei einer Versammlung der »National Religious Broadcasters« im Mai 1992 (vgl. Ortved 2009: 122).

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auch, sich mit einem liberalen Amerika zu identifizieren und sich gegen den konservativen Kurs der Bush-Regierung auszusprechen.23 So weit, so subversiv. Als Teil des Medienkonglomerats Twentieth Century Fox – Kernstück des Imperiums von Rupert Murdoch, seines Zeichens bekennender Unterstützer der Republikanischen Partei – erscheint diese Subversivität mehr als fragwürdig. Und wenn Gray die Simpsons als alles andere als »flagwavingly chauvinistic« beschreibt, dann heißt das auch nicht zwangsläufig, dass die Simpsons in Amerika stets auch als »unpatriotisch« oder gar »unamerikanisch« wahrgenommen wurden.24 In seinem Buch The Simpsons and Society betont der damalige College-Student und Simpsons-Fan Steven Keslowitz diesen Simpson’schen Zeitgeist und dessen Bedeutung für eine neue Generation von Amerikanern. »The Simpsons has actually shaped our very way of life […]. From Bart’s bad boy antics to Homer’s laziness, the series has become a cornerstone of American life […]. Satire in itself has become an American way of life.«25

3.2 Springfield, USA: Amerikabilder im deutschen Kontext Verständlicherweise fehlt die zuvor angesprochene kulturpolitische Komponente in der deutschen Wahrnehmung der Simpsons. Sie waren in Deutschland nie ein Politikum oder Gegenstand einer innenpolitischen Kulturdebatte wie in den USA. Es ist insofern nicht verwunderlich, dass die Simpsons in Deutschland oft als amerikakritisch wahrgenommen wurden, anders als in den USA, wo die Serie vielmehr für ein »anderes« (nämlich linksliberales) Amerika stand. Ein weiterer Unterschied ist der Bezug zum Sitcom-Genre, der in der deutschen Betrachtungsweise der Simpsons oft vollständig unbeachtet bleibt. Das ist insofern nicht verwunderlich, als die Sitcom in Deutschland größtenteils als Importware im Vorabendprogramm platziert wird, wohingegen das Genre im anglosächsischen Sprachraum überwiegend in der Hauptsendezeit (der sogenannten Prime Time) zu Hause ist.

23 Vgl. Gray 2010: 14. Tatsächlich sollten Bush und die Republikanische Partei die Wahl von 1994 nicht gewinnen. Stattdessen wurde der Saxofon spielende Demokrat Bill Clinton ins Weiße Haus gewählt. 24 So kursierten zu Zeiten des ersten Irakkriegs Bootleg-T-Shirts, die Bart Simpson in US-Armee Uniform als Rambo-Verschnitt zeigen, wie er Saddam Hussein in die Gurgel geht, oder nach den Anschlägen vom 11. September Abbildungen auf denen Homer den mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge, Osama bin Laden, in der Mangel hat. Ob »unamerikanisch« oder nicht, die Simpsons gelten in vielen konservativen US-Haushalten jedoch nach wie vor als Tabu. 25 Keslowitz 2005: 10 f.

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Dies gilt umso mehr für animierte Programme. Serien wie Familie Feuerstein (im Original: The Flintstones) werden in Deutschland immer schon mit dem Label »Fernsehen für Kinder« assoziiert, eine Entwicklung, die in den USA erst in den 1980 er-Jahren einsetzte. In ihrer Heimat hingegen wurde Familie Feuerstein in den 1960 er-Jahren ursprünglich als Sendung für die ganze Familie konzipiert. Diese »Umetikettierung« wiederfuhr in Deutschland auch den Simpsons: Als gewöhnliche Zeichentricksendung klassifiziert, wurden sie hierzulande zunächst ausschließlich im Vorabendprogramm (in der Anfangszeit im ZDF sogar schon ab 14:30 Uhr) ausgestrahlt. Der Satz »in den kommenden 35 Wochen werden sich nicht nur die Kinder freitags [am frühen Abend] vor dem Fernseher versammeln« in einem Artikel der Tageszeitung aus dem Jahr 1991, einer der wenigen Besprechungen des deutschen Feuilletons in den Anfangsjahren der Serie, kann damit schon fast als visionär gelten.26 Wurden die Simpsons in den USA in erster Linie als eine satirische Autopsie der eigenen Kultur und Gesellschaft wahr- und auch ernstgenommen, setzte sich in Deutschland konsequenter ein Bild der Serie als karikaturistischer Blick auf die amerikanische Gesellschaft als kulturelles »Anderes« durch. So schrieb beispielsweise die Wochenzeitung Die Zeit unter der Überschrift »Die Simpsons sind Amerika«: »Wo liegt eigentlich Springfield, USA? Überall [in Amerika]. Und auch seine Bewohner sind überall in den Staaten zu finden. Der indische Discounthändler, der 24 Stunden am Tag arbeitet. Der Evangelikale, der glaubt, Darwin sei der Teufel und selbst dem Pfarrer mit seinen Bekenntnissen auf die Nerven geht. Der Milliardär, der für seinen Profit über Leichen stiefelt. […] Und natürlich ist da die Familie Simpson selbst. […] Sie alle leben in dem modellhaften amerikanischen Mikrokosmos Springfield, wo es Denkmäler von Westernhelden gibt, Strip Malls, Duff Bier, gelbe Schulbusse, ein Naturkundemuseum, ein Chinatown, ein Schwulenviertel. In Springfield gehen alle am Sonntag in die Kirche und der Fernseher läuft immer.«27

Das Attribut, einen Querschnitt Amerikas zu repräsentieren, findet man in einer Vielzahl von Stimmen zur Serie. Analog zur Rezension in der Zeit, attestiert Sandra Holze in ihrer Diplomarbeit zur Fankultur der Simpsons in Deutschland respektive der USA: »Springfield ist ›Anytown, USA‹ – es steht stellvertretend für die USA. Es besitzt eine ausgeprägte Infrastruktur: ein Kernkraftwerk, einen internationalen Flughafen, mehrere Freizeitparks […], Fernsehstudios, eine ›Monorail‹, einen ›National Forest‹, usw. Zu den Orten, welche die Familie gemeinsam am Wochenende aufsucht gehören 26 Bröckers 1991: 18 (Hervorhebung von mir, M. F.). Die Simpsons liefen in Deutschland ab Herbst 1991 zunächst im ZDF, ab 1994 auf dem Privatsender Pro 7. Seit dem Jahr 2001 werden sie bei Pro 7 auch im Hauptabendprogramm ausgestrahlt. 27 Schweitzer 2007: o. Pag.

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Moritz Fink die ›First Community Church‹ von Reverend Lovejoy, das ›War Memorial Stadium‹, in dem die ›Springfield Isotopes‹ Baseball spielen, der Freizeitpark ›Itchy & Scratchy Land‹, das Kinocenter ›Googolplex‹ oder der Shopping Mall.«28

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Sonderrolle von Homer Simpson. Der amerikanische Simpsons-Fan und Autor Steven Keslowitz beschreibt ihn als »the contemporary American Man« – den Inbegriff des postmodernen amerikanischen Arbeiters, Vaters, Ehemanns und Philosophen.29 Im Unterschied zu dieser kulturellen Zuschreibung Homers, verstehen viele deutsche Rezipienten Homer vielmehr als soziopolitische Karikatur. Ein deutscher Simpsons-Fan charakterisiert Homer beispielsweise folgendermaßen: »Faulheit, Fettleibigkeit (vielleicht im Kontext zum gedankenlosen Fast-Food-Konsumenten), niedriger Bildungsgrad (Er verbrennt in einer Folge sein High-School-Abschluss-Diplom, etc.). Negative Aspekte des Durchschnittsamerikaners.«30 Für einen weiteren deutschen Fan repräsentiert Homer »beispielhaft und natürlich in seinem handeln überspitzt die amerikanische gesellschaft […], die sich vor allem dadurch auszeichnet, ihren selbsternannten ›American dream‹ und die chancengleichheit im leben mit füßen zu treten.«31 Für diese deutschen Zuschauer fungiert Homer also als satirisches Vehikel um die negativen Aspekte der amerikanischen Gesellschaft und ihre kulturellen Mythen zu entlarven. Für viele Amerikaner hingegen scheint Homer eine Art Antiheld zu sein. Sie sehen ihn weniger als zynischen Abgesang denn als ironischen Toast auf die eigene Kultur.

4. Reflexivität versus Transitivität / Kulturelle Identität versus Universalisierbarkeit Im internationalen Kontext ist zwischen den Simpsons als satirischer Spiegel der eigenen (amerikanischen) Gesellschaft und den Simpsons als satirischer Spiegel der fremden (amerikanischen) Gesellschaft zu unterscheiden. Dies zeigt auch eine Rezeptionsstudie, die Jonathan Gray mit internationalen Studenten an einer Londoner Universität durchführte. Gray kommt zu 28 Holze 2002: 40. 29 Keslowitz 2005: 17. 30 User-Kommentar von maxim_e auf dem Simpsons-Fan-Forum maggied.de am 25. März 2012 (online unter: http://maggied.de/index.php?page=Thread&postID=328741 – letzter Zugriff: 30.11.2017). 31 User-Kommentar von Jarnelie18 auf maggied.de am 31. März 2010; Kleinschreibung im Original (online unter: http://maggied.de/index.php?page=Thread&threadID=5370 – letzter Zugriff: 30.11.2017).

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dem Fazit, dass die Simpsons generell als Karikatur der amerikanischen Gesellschaft, der all-American family und des American Way of Life gelesen werden. Die von Gray interviewten Nichtamerikaner interpretierten die Simpsons demnach nicht als einen Kommentar auf ein gesellschaftliches »uns«, sondern vielmehr auf ein »sie« – die Amerikaner.32 Neben dem rahmenden Setting der Serie – Springfield als provinziell überzeichnete »American Middle-class Suburbia« – manifestiert sich diese als genuin amerikanisch wahrgenommene kulturelle Identität auch in motivischen Details. Im Folgenden, werde ich diesbezüglich zwei Aspekte kurz beleuchten: Topoi der sogenannten »Americana« und die Darstellung von amerikanischem Alltagspatriotismus in den Simpsons.

4.1 Americana-Topoi Mythen und Artefakte aus denen sich die Folklore und das kulturelle Erbe der USA zusammensetzen, werden oft unter dem Sammelbegriff »Americana« gefasst. Wie Jörg Kachel in seinem Aufsatz Topographia Americana beobachtet, kreieren die Simpsons eine »Zeichentrick gewordene Utopie« indem sie sich dieser Americana bedienen, sie variieren, neukodieren und dekonstruieren.33 Durch die Einbettung uramerikanischer Themen – etwa den American Dream, den Mythos der »Frontier«, die Geschichten Mark Twains, die Gemälde Norman Rockwells oder Edward Hoppers – in die kindliche Cartoon-Ästhetik der Serie verwischen die Simpsons die Grenzen zwischen ihrer suggerierten Trivialität und amerikanischer Kunst- und Kulturgeschichte.34 Ein Beispiel hierfür ist die parodistische Adaption von Norman Rockwells berühmtem Bild Freedom of Speech aus dessen bekannter Four FreedomsSerie von 1943.35 In der Simpsons-Folge »Die Geschichte der zwei Springfields« sehen wir Homer, wie er sich bei einem Town Hall Meeting zu Wort meldet.36 Die Kompositionen der Szene ist dabei Rockwells ikonischem Bild 32 33 34 35

Vgl. Gray 2007: 140. Kachel 2002: 177 f. Vgl. Kachel 2002: 178. Bei Rockwells Bilderreihe handelt es sich um sehr bekannte Motive, die nach ihrer Veröffentlichung tausendfach reproduziert und in Schulen und öffentlichen Gebäuden angebracht wurden. 36 Im Original: »A Tale of Two Springfields«, US-Erstausstrahlung: 5. November 2000; deutsche Erstausstrahlung: 24. September 2001. Die Simpsons parodieren Rockwells Bild außerdem in »Das geheime Bekenntnis« (»Lisa the Iconoclast«, US-Erstausstrahlung: 18. Februar 1996; deutsche Erstausstrahlung: 21. November 1996).

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nachempfunden, wobei die zentrale Botschaft des Originals ironisch kommentiert wird – schließlich missversteht Homer das demokratische Prinzip der Redefreiheit, indem er sein Anliegen zunächst weniger rhetorisch als durch das Tragen eines Sprengstoffgürtels untermauert (siehe Abbildung 1 und 2). Abbildung 1: Rockwells Freedom-of-Speech-Bild

Abbildung 2: Homer in parodistischer Anspielung auf Rockwells Freedom of Speech

Quelle: Wikimedia Commons.

Quelle: »Die Geschichte der zwei Springfields«, in: Die Simpsons. Die komplette Season 12, 07:24 Min.

Diese radikale Interpretation ist typisch und ein wesentliches Merkmal der Figur Homer Simpson und dessen Funktion in der Serie. Die Plots der einzelnen Folgen entwickeln sich oft aus Momenten in denen Homer mit seiner Grundhaltung der passiven Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit in der Komfortzone der (amerikanischen) Überflussgesellschaft bricht und sie vorübergehend in einen gelebten und unreflektierten Idealismus umkehrt, ein Prinzip, das Devrim Tuncel und Andreas Rauscher als Homers »penetranten Hang zur Überaffirmation« charakterisieren.37 Diese Überaffirmation orientiert sich meist an stereotypen gesellschaftspolitischen Positionen und wird so zu einem wichtigen Element der Simpson’schen Satire. In der eben 37 Tuncel / Rauscher 2014: 159.

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erwähnten Freedom of Speech-Adaption wird dieses satirische Prinzip jedoch erneut konterkariert, da die Simpsons-Macher mit ihrer Parodie das Prinzip der Rede- und Meinungsfreiheit keinesfalls unterlaufen. So gelingt es Homer letztlich nicht mit Hilfe seines Dynamitgürtels, sondern durch die demokratische und uramerikanische Tugend der öffentlichen Rede, Unterstützer für sein Anliegen zu gewinnen. Durch Gesten dieser Art unterstreichen die Macher der Simpsons ihr Bekenntnis zu den demokratischen Werten Amerikas, Werte durch die sich die Serie als durchaus unbequemes Organ der amerikanischen und globalen Medienlandschaft legitimiert.38 Bei genauerem Hinsehen kann man feststellen, dass die eklektische, von Verweisen durchzogene Ästhetik der Serie, geprägt ist von Anspielungen auf Americana-Motive. Visuelle Einbettungen wie Rockwells Freedom of Speech-Gemälde oder Verweise auf Figuren wie Johnny Appleseed, David Crockett, Mark Twain und Walt Whitman sind keinesfalls leere Signifikanten – als simpsonisierte Reinkarnationen fungieren sie vielmehr als Agenten der kulturellen Verortung von »Amerika«.

4.2 Nationale Symbolik und Alltagspatriotismus Das »typisch Amerikanische« offenbart seinen Ausdruck in der Serie aber nicht nur durch die zuvor genannten Bezüge auf Americana-Topoi. Ein weiteres wichtiges Merkmal sind satirische Kommentare auf amerikaspezifische, »ritualisierte« Formen des Patriotismus. Beinhalten die Americana-Zitate in den Simpsons eine kreative Identifikation der Macher mit der kulturhistorischen Identität Amerikas, werden andere patriotische Gesten, wie die Abbildung der Nationalflagge, explizit zu gesellschaftskritischen Zwecken verwandt. Insbesondere im Kontext des Sitcom-Genres ist es bemerkenswert, welche Rolle Elemente der nationalen Symbolik bei den Simpsons spielen. Vor allem die amerikanische Flagge – in den realexistierenden USA, im öffentlichen wie im privaten Raum, ein mehr oder weniger omnipräsenter Alltagsgegenstand – ist in TV-Serien in der Regel vergleichsweise selten zu sehen.39 Dies stellt 38 So zum Beispiel auch bei ihrer Bekundung »Je suis Charlie« nach dem Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo (vgl. Fink 2015: 9). 39 Dies mag daran liegen, dass US-Serien eben auch für den internationalen Markt produziert werden. Satirische Formate im Stile der Simpsons wie beispielsweise American Dad weichen, wie ihr prominenter Vorreiter, von dieser Konvention ab. Darüber hinaus sind Serien über das Militär, wie M*A*S*H, JAG oder Band of Brothers sowie neuere, politikfokussierte Serien – zum Beispiel Homeland oder House of Cards – als Ausnahmen dieses Prinzips zu nennen.

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Abbildung 3: Gar nicht so weit von der Realität entfernt: Der gesellschaftliche Querschnitt Springfields bei einem fiktionalen Meeting der US-Waffenrechtsorganisation NRA aus »Homer und der Revolver« (»The Cartridge Family«, US-Erstausstrahlung: 2. November 1997; deutsche Erstausstrahlung: 12. Oktober 1998). Die Simpsons zeigen wie Organisationen wie die NRA nationale Symbole für ihre Corporate Identity vereinnahmt, wenn auch nicht ganz so pompös wie in der traurigen Wirklichkeit.

Quelle: »Homer und der Revolver«, in: Die Simpsons. Die komplette Season 9, 10:01 Min.

einen signifikanten Unterschied zu den Simpson dar, wo Abbildungen der US-Flagge bewusst als Bestandteil der Sozialsatire integriert sind. Konsequenterweise wehen vor dem Haus der Familie Simpson keine Stars & Stripes, so wie es im realen Amerika gang und gäbe ist. Die Nationalfarben fungieren vielmehr als Kontrastmittel – zwischen der Repräsentation Springfields als Utopie versus Sozialrealismus – und tauchen zum Beispiel dann auf, wenn in den Simpsons Wahlkämpfe oder andere politische Aktionen dargestellt werden. Auch Szenen in denen wir Bart und Lisa zur Schule begleiten, Homers Kapriolen beim Militär oder in der Waffenrechtsorganisation NRA beiwohnen und über Krusty the »Corporate« Clown und seine Werbekampagnen lachen sind visuell durch die US-Flagge kodiert. Durch

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Abbildung 4: Szene aus »Krustys letzte Versuchung« (»The Last Temptation of Krust«, US-Erstausstahlung: 22. Februar 1998; deutsche Erstausstrahlung: 2. Oktober1999): Krusty bewirbt die SUV-Parodie »Canyonero«. Am Ende der Episode durchfährt und entzündet der Canyonero die US-Flagge nachdem diese mit dem Markennamen »gebrandmarkt« (branded) wurde – eine Anspielung auf die Vermarktung von Autos in den USA, insbesondere auf die mythologische Vermarktung von SUVs als »amerikanisches« Auto, die Konnotationen wie den »Frontier«-Mythos wecken sollen und somit den Kauf eines solchen Wagens als patriotisches Bekenntnis inszenieren.

Quelle: »Krustys letzte Versuchung«, in: Die Simpsons. Die komplette Season 9, 20:58 Min.

diese Ästhetik entlarven die Simpsons gesellschaftliche Bereiche, in denen Patriotismus als zeitgenössische, ritualisierte Form der Identitätsstiftung ge- bzw. missbraucht wird. Als weiteres Beispiel dieses, bei den Simpsons satirisch dargestellten Patriotismus sei abschließend noch der sogenannte »USA-Chant«, also das frenetische Anfeuern der eigenen Nation mittels eines unisono Wiederholens der drei Silben »U–S–A«, genannt. In der Kulturgeschichte Amerikas hat der »USA-Chant« seinen Ursprung in Sportveranstaltungen, findet in einigen Simpsons-Folgen aber dann Verwendung, wenn Figuren ihr persönliches Glück in ganz alltäglichen Situationen zelebrieren. Als satirischer Seiten-

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hieb auf den American Dream wird diese Identifikation mit den Vereinigten Staaten von Amerika somit ad absurdum geführt. Wenn Homer das Zugeständnis seiner Frau Marge, sie werde beim Elternabend der Schule die undankbare Rolle übernehmen und Barts Lehrerin konsultieren, wohingegen Homer mit der Lehrerin seiner hochintelligenten Tochter Lisa sprechen dürfe, lautstark mit dem rhythmischen Rufen der Silben U–S–A kommentiert, feiert er sich im Grunde selbst.40 In seiner infantilen und egozentrischen Art scheint Homer es als Schicksal zu empfinden, keine Steine in den Weg gelegt zu bekommen und stattdessen das tun zu können, was er gerade möchte. Der USA-Ruf legt nahe, dass Homer diesen gelebten Hedonismus mit seinem Status, ein Teil der amerikanischen Gesellschaft zu sein, assoziiert. Ähnlich verhält es sich, als an einem letzten Schultag in Springfields Grundschule alle auf das erlösende Schlussläuten und damit den Startschuss in die Ferien warten. Nachdem Glockenschellen strömen alle Schuler nach draußen, als sie ein winkender Lehrer aufhält: »Wait a minute!«, ruft er. »You didn’t learn how World War Two ended.« Nach einer kurzen Zäsur streckt er triumphierend die Faust in die Höhe und ruft: »We won!« Jubelnd und unter lauten U–S–A-Stakkatos strömt die gesamten Schülerschaar über den Parkplatz der Schule, wo mehrere Schüler vehement an einem parkenden Auto zu rütteln beginnen und es schließlich umkippen.41 Auch in diesem quasi-anarchischen Szenario karikiert der USA-Ruf eine unreflektierte Auslegung des Freiheitsgedankens, mithin eine Idee, für die Amerika wie wohl kein zweites Land steht (und, wie im Auftakt zu dieser Szene erwähnt, im Zweiten Weltkrieg auch gekämpft hat).42

4.3 Universalisierbarkeit: Die Welt sieht gelb Trotz ihrer USA-Spezifik funktionieren die Simpsons auf einer weiteren Ebene auch für Nichtamerikaner, was auch den phänomenalen internationalen Erfolg der Serie erklären mag. Wie gezeigt, identifizieren die Americana-Topoi die Simpsons zwar als satirisches Porträt einer »anderen« Kultur (Amerika). Die 40 »Bart wird bestraft« (»Itchy & Scratchy: The Movie«, US-Erstausstrahlung: 3. November 1992; deutsche Erstausstrahlung: 5. Mai 1994). 41 »Krise im Kamp Krusty« (»Kamp Krusty«, US-Erstausstrahlung: 24. September 1992; deutsche Erstausstrahlung: 14. April 1994). 42 Natürlich sind derlei satirische Kommentare in den Simpsons vergleichsweise milde. Hier sind Nachfolger der Simpsons, wie zum Beispiel South Park, deutlich radikaler und die Simpsons schlicht zu mainstreamorientiert.

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satirische Verwendung von patriotischen Gesten und nationaler Symbolik hingegen eröffnet aber auch eine universellere Ebene. Somit können die Simpsons nicht nur als kritischer Kommentar der eigenen (amerikanischen) Kultur verstanden werden, sondern eben auch als kritische Außenansicht auf Amerika und dessen kulturelle Besonderheiten – die man praktisch überall auf der Welt, gerade aufgrund der kulturellen Hegemonie Amerikas wiedererkennt. Zunächst handelt es sich bei Faktoren wie den grafischen Zeichentrickhumor oder das komödiantische Setting des Familienalltags um eine Art Universalhumor, der selbstverständlich über die Grenzen Amerikas bekannt ist und verstanden wird. Jedoch sind es nicht nur diese Elemente, die die Simpsons zu einer weltweit erfolgreichen Unterhaltungsserie werden ließen. Auch als Gesellschaftssatire weist die Serie ein universelles Identifikationspotenzial auf, wie Tucel und Rauscher feststellen: »Obwohl manche Bezüge US-spezifisch ausfallen, sind Die Simpsons leicht auf eine universelle Ebene übertragbar. Das hat mit Sicherheit auch mit der Etablierung von archetypischen Charakteren zu tun. Polizisten wie Chief Wiggum, der sich vom gejagten Delinquenten aus dem umstellten Supermarkt gleich Bier und Donuts mitbringen lässt, korrupte Bürgermeister vom Schlage eines Diamond Joe Quimbys, windige Anwälte wie Lionel Hutz, die auch schon mal einen Prozess gegen die gesamten Weltreligionen bestreiten müssen, oder geizig-geldgierige Kapitalisten wie [Mr.] Burns sind der gesamten westlichen Hemisphäre verständlich.«43

Neben diesen sozialen Stereotypen, die die Serie zu einer universellen Gesellschaftssatire machen, wäre auch die (oft kritische) Repräsentation amerikanischer Produkte und Organisationen wie Starbucks, Apple oder Facebook in den Simpsons zu nennen.44 Dieser Effekt entsteht aus der Tatsache, dass die meisten Gesellschaften dieser Erde von eben diesen amerikanischen Produkten durchdrungen sind. Als satirisches Paralleluniversum einer globalisierten Welt stellt der diskursive Raum, den die Simpsons ihren Zuschauern anbieten, eine, wie Chris Turner es ausdrückt, popkulturelle »lingua franca« dar.45 Diese universelle Dimension unterstreicht auch ein Online-Kommentator, der den zuvor zitierten Artikel zu den Simpsons aufgreift: »Ich kann sagen, warum ich die Simpsons auch nach 20 Jahren immer noch liebe: weil sie liebevoll und doch hart die Klischees, Probleme, Absurditäten und Bigotterie Amerikas und damit der ganzen westlichen Welt thematisieren, Folge für Folge.«46 43 44 45 46

Tuncel / Rauscher 2014: 160. Vgl. Fink 2017. Turner 2004: 55. Siehe den ersten Leser-Kommentar (Username ben_) zum Artikel von Schweitzer (2007); online unter: http://web.archive.org/web/20130511210843/http://www.zeit.de/online/2007/ 21/simpsons-400-folgen – letzter Zugriff: 30.11.2017.

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5. Schlussbetrachtung: Selbstironie als Ausdruck eines neoliberalen Kulturimperialismus? Als Satire sind die Simpsons inhaltlich antihegemonial angelegt. Sie repräsentieren ein selbstkritisches, selbstironisches Bild von Amerika. Aber sind sie damit auch amerikakritisch? Wie gezeigt ist die Serie durchaus kritisch gegenüber einer bestimmten Facette Amerikas, nämlich des republikanisch-konservativen, white anglosaxon protestant, small-town Middle America sowie gegenüber eines ritualisierten Patriotismus der zum festen Bestandteil der gegenwärtigen politischen Kultur Amerikas geworden zu sein scheint. Chauvinismus, Lobbyismus, Markenkult sind alles Aspekte, die die USA in vielerlei Hinsicht mehr zu repräsentieren scheinen als das kulturelle Erbe des Landes, welches die Simpsons trotz – oder gerade wegen – ihrer sozialkritischen Botschaft im besten patriotischen Sinne immer wieder als große Errungenschaft hochhalten. Überträgt man die eingangserwähnten Kriterien von Liebes und Katz auf die Simpsons ist freilich eine Diskrepanz zwischen den satirischen Inhalten und den marktorientierten Interessen des realen Simpsons-Franchise zu konstatieren. Im Unterschied zu Dallas äußert sich die Serie inhaltlich ja durchaus kritisch gegenüber der dominanten westlich-kapitalistischen Kultur – insbesondere gegenüber Amerika als deren Vorreiter. Auf der anderen Seite sind The Simpsons™, als realexistierende Marke von Twentieth Century Fox, ein Ausdruck des gegenwärtigen Neoliberalismus par excellence. Anders gesagt: Auf den Fernsehschirmen mögen die Simpsons einen subversiven Gestus demonstrieren, nichtsdestotrotz handelt es sich bei der Serie um ein höchstprofitables Produkt, sowohl für die Macher rund um Matt Groening als auch für Rupert Murdochs Medienkonglomerat Twentieth Century Fox. Auf kultureller Ebene repräsentieren die Simpsons ein selbstironisches Amerika, auf der unternehmerischen Ebene sind sie zutiefst marktorientiert. Im neoliberalistischen Zeitalter scheinen diese beiden Pole – »alternativ« und »kapitalistisch« – jedoch keinen Widerspruch darzustellen. In diesem Sinne vertreten die Simpsons amerikanische Interessen sehr wohl, wobei sie sich eben gerade ein »anderes Amerika« auf die Fahnen schreiben. Dieses »andere« Amerika ist gerade nicht durch einen fahnenwehenden America-first-Patriotismus gekennzeichnet, sondern vielmehr durch eine kritisch-ironische Auseinandersetzung mit der eigenen Nation und Kultur. Wie Chris Turner erläutert, wandeln die Simpsons damit auf den Pfaden eines gegenkulturellen Esprits in Amerika, welchen Tony Hendra einst als »boomer humor« charakterisierte und der in medialen Instanzen wie dem

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Mad Magazine, National Lampoon, The Smothers Brothers Comedy Hour, Saturday Night Live sowie diversen Stand-up-Comedians und Künstlern aus der alternativen Szene seinen Ausdruck fand.47 Der gegenkulturelle Esprit dieses »anderen« Amerikas kann demnach weder als unpatriotisch noch unamerikanisch gelten. Vielmehr artikuliert sich diese Attitüde, wie der Publizist Dietmar Dath konstatiert, »unter Bezugnahme auf ein letztlich patriotisches Freiheitsverständnis.«48 Bleibt noch die Frage, wie die Zuschauer mit dieser ambivalenten Konstellation umgehen. Wie gesehen sind die Simpsons – wie Dallas – Teil eines transnationalen diskursiven Raums, der die Serie umgibt. Verschiedene kulturelle Kontexte ermöglichen verschiedene Lesarten der Serie, zudem bergen die vielen Sprachen, in welche die Simpsons synchronisiert werden eine zusätzliche Ermächtigung des Publikums.49 Doch inwieweit ein Text, dessen Hauptprinzip ironische Spielarten sind, selbst ironisch beziehungsweise oppositionell gelesen werden kann, bleibt fraglich. So wird das, von den Simpsons gezeichnete, satirische Bild Amerikas meist auch in diesem Sinne aufgefasst – Dekodierung und Enkodierung des Texts sind in diesem Falle relativ deckungsgleich. Und doch wird der Widerspruch zwischen den Inhalten der Simpsons und ihrer kommerziellen Form als Marke und Franchise-Unternehmen auf der Rezeptionsseite immer wieder hervorgehoben und diskutiert.50 Der Humor der Simpsons hat nicht nur den »American Way of Life« geprägt, der Humor der Simpsons ist universal. Die Serie ist damit ein gegenwärtiger Ausdruck der kulturellen Hegemonie Amerikas, vielleicht, und das ist wahrscheinlich das eigentlich Irritierende an dem Phänomen Simpsons, mehr als Dallas es je war.

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Vgl. Turner 2004: 45; vgl. Hendra 1987. Dath 2008: 110. Vgl. Ferrari 2009. Dies geschieht mitunter auf sehr kreative Weise, wie in einem YouTube-Video, in dem eine Intro-Sequenz der Simpsons satirisch aufs Korn genommen wird (vgl. Fink 2012).

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Heide Reinhäckel

»Krieg umgab ihn wie Unsterblichkeit« Amerikabilder in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 9/11 Amerikabilder in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 9/11 »Krieg umgab ihn wie Unsterblichkeit«. Amerikabilder in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 9/11

1. Konstellationen »Ich möchte nur schnell mal anmerken, dass ich durch eines der Flugzeuge, die ins World Trade Center reingeknallt sind (das zweite), wach geworden bin. Das zweite Flugzeug war größer, der Knall lauter.«1 Diesen Eintrag postet die deutsche Kulturjournalistin Else Buschheuer am Morgen des 11. September 2011 um 9:34 Uhr Ortszeit in ihrer Wohnung im New Yorker Stadtteil SoHo in ihr Internettagebuch. Mit diesem Knall setzt die deutsche Literatur über den 11. September ein, die sich im anschließenden Jahrzehnt auf unterschiedliche Weise mit dem Terror- und Medienereignis und seinen weltpolitischen Folgen auseinandersetzt.2 Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit erklärte den Knall sogar zur Metachiffre für die nach den Anschlägen einsetzende Diskussion über das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion.3 Auch die Autorin Kathrin Röggla hält sich zum Zeitpunkt der Terroranschläge in New York auf. Wie Else Buschheuer wird sie zur Augenzeugin der Katastrophe: »einen tower haben wir hier eben brennen und einstürzen sehen, etwa einen kilometer entfernt.«4 Noch im Dezember 2001 erscheint mit ihrem Buch really ground zero. 11. september und folgendes eine journalistisch-literarische Textsammlung, in der sie von der Durchdringung des amerikanischen Alltags mit dem Ausnahmezustand nach 9/11 berichtet. Auf Kathrin Rögglas New York-Aufenthalt bezieht sich eine Erzählung Ulrich Peltzers, die unter außergewöhnlichen produktionsästhetischen Bedingungen entstanden ist, wie der Autor in einem Feature berichtet: »Ich wollte da nach New York fahren und einfach diesen Gang den ich da aus der Erinnerung geschrieben habe – ich war da verabredet und wollte am 13. September, 1 2 3 4

Buschheuer 2002: 148. Vgl. Reinhäckel 2012. Vgl. Theweleit 2002. Röggla 2001 a.

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Heide Reinhäckel ich hatte da einen Flug gebucht, und da wollte ich einfach das zu Ende schreiben in New York […]. Und dann war da dieses Gefühl: jetzt haben diese Bastarde neben allem anderen Schrecken, den die angerichtet haben, die haben jetzt halt dieses Buch versaut! Ich kann das gar nicht mehr weiterschreiben, wie soll das gehen? Dann hab ich ein paar Tage nicht geschrieben und hab nur protokolliert, was ich da sehe, was ich im Fernsehen sehe, die Anrufe nach New York usw«.5

Anstatt wie geplant nach New York zu reisen, um dort eine begonnene Erzählung zu beenden, protokolliert Peltzer in Berlin seinen Tagesablauf am 11. September 2001. Er verfolgt die Fernsehberichterstattung und erhält eine E-Mail von Kathrin Röggla, die aus New York schreibt »alles mischt sich, der schock mit der normalität, aber das macht den schock wohl aus. […] das hättest du sehen müssen, how das ding collapsed.«6 Nach einer anfänglichen Schreibblockade – sowohl »Writer’s Block« als auch »Writer’s Shock« – entscheidet sich Peltzer, sein Berliner Erlebnisprotokoll in die begonnene Erzählung zu integrieren: Bryant Park erscheint im Frühjahr 2002 und wird von der Literaturkritik als erste literarische Erzählung über den 11. September gefeiert. Doch was verrät diese Konstellation dreier Autoren, von denen zwei sich in New York aufhalten – Buschheuer arbeitet zum damaligen Zeitpunkt dort als Praktikantin bei der deutsch-jüdischen Zeitschrift Aufbau, Röggla hat ein Aufenthaltsstipendium des Deutschen Literaturfonds –, und einer zum Schreiben anreisen wollte, mehr als über die Vernetzungen in der Literaturszene und New York als immer noch angesagten Sehnsuchtsort und Hot Spot der Schriftsteller? Die Konstellation zeigt, dass immer noch ein Amerika der Autoren im vielfachen Wortsinn existiert und die Faszinationsgeschichte Amerikas als realer und fiktiver Ort mit großer kultureller Strahlkraft für die und in der Literatur ungebrochen anhält.7 Dabei erstreckt sich die Traditionslinie literarischer Amerikabilder von Goethe über Kafka bis zur Gegenwart und gleicht damit einer Tour d’Horizon, bei der die publizistischen und literarischen Amerika-Diskurse der 1920 er-Jahre, die Amerikabilder der 1950 er-Jahre im Kontext der Amerikanisierung der westdeutschen Kultur oder die Entdeckung der amerikanischen Beat-Literaten in den 1970 er-Jahren nur Stationen einer langen, wechselseitigen Imaginationsgeschichte darstellen. Mittlerweile bilden die Amerikabilder der Literatur, des Films, der bildenden Künste sowie der Populärkultur ein nicht mehr zu entwirrendes und sich überlagerndes Referenzsystem von Stereotypen, 5 6 7

O-Ton Ulrich Peltzer im Radiofeature von Böttiger 2007: 13 f. . Peltzer 2002: 129. Vgl. Vogt / Stephan 2006.

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Narrativen und Figuren, von sich überlagernden kulturellen Zuschreibungen und Codierungen. Charakteristisch für diese Amerikabilder ist, dass sie von Beginn an polarisieren und oftmals mit Gegensätzen operieren: Freund oder Feind, Kulturbürger oder Konsument, Freiheitsversprechen oder Folterberichte. Zudem ist den Amerikabildern immer ein »Double Bind« aus Fremd- und Selbstbeschreibung eingeschrieben. So betonte der Literaturwissenschaftler Manfred Durzak bereits 1979 den großen Anteil der Selbstschreibungen in den jeweiligen literarischen Amerikabildern in Deutschland: »Das Amerika-Bild in der deutschen Literatur sagt mehr über die historische und gesellschaftliche Situierung dieser Literatur und ihrer Autoren aus als über die Realität dieser neuen Wirklichkeit. Dieses Bild ist also enger mit der Bewusstseinsgeschichte der Deutschen verklammert als mit der Sozialgeschichte Amerikas«.8

Doch welche literarischen Amerikabilder erzählt die deutsche Gegenwartsliteratur nach dem 11. September und was erzählt sie damit zugleich auch über Deutschland? Bedient sie sich des Feind-Freund-Schemas oder unterläuft sie es mit den ihr eigenen ästhetischen Mitteln und Poetiken? Zeitgeschichtlich ist diese Literatur eingebettet in eine Epoche der politischen Unsicherheit und Rückkehr der politischen Angst. Das Medien- und Terrorereignis 11. September wurde zur Signatur eines Jahrzehnts erklärt, das durch den sogenannten Krieg gegen den Terror und den mit diesem verbundenen Bilderkrieg, die Wiederkehr der Folter sowie die Polarisierung zwischen westlicher und arabischer Welt gekennzeichnet war. Mit dem Beginn des Irakkriegs 2003 setzte eine transatlantische Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen ein, begleitet von einer breiten gesellschaftlichen Debatte über das Verhältnis zwischen Alter und Neuer Welt sowie die Rolle Amerikas als letzter verbliebener Supermacht. Doch bevor sich die Dissonanzen dieses politischen Entfremdungsprozesses zwischen Deutschland und den USA auch im Symbolsystem der Literatur zeigen, sind es der bei Kathrin Röggla erwähnte Schock und die mittlerweile zu globalen Medienikonen avancierten Fernsehbilder der New Yorker Anschläge, an denen sich die ersten literarischen Reaktionen auf den 11. September abarbeiten. Eingebettet in ein globales, hochgradig emotionalisiertes Katastrophenkollektiv sind anfangs nur leichte transatlantische Störungen zu spüren, die sich vor allem auf die patriotischen Gesten und Rhetoriken in den USA beziehen. So beobachtet Kathrin Röggla in really ground zero. 11. september und folgendes die symbolische Aufladung des 8

Durzak 1979: 9.

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politischen Vokabulars in der amerikanischen Politik und Medienberichterstattung: »die vermischung von politischem und religiösem sprechen zieht sich durch alle bereiche des öffentlichen diskurses, selbst in den reden der abgeordneten ist viel von gebeten zu hören«.9 Zugleich porträtiert sie in ihrem Text auch amerikanische Antikriegsaktivisten und liberale Intellektuelle, sodass ein differenziertes Stimmungsbild der politischen Reaktionen nach den Anschlägen entsteht. Mit Else Buschheuers Internettagebuch und Kathrin Rögglas Reportagenband liegen erste literarische Reaktionen auf das Medienereignis und den Terroranschlag vom 11. September vor, die sich durch Zeugenschaft, Tagesaktualität, geografische Nähe sowie eine extreme Schreibsituation auszeichnen. So zitiert Dirk Knipphals, Kulturredakteur bei der Tageszeitung, in einer der ersten Rezensionen zu Kathrin Rögglas really ground zero aus der E-Mail, die Rögglas ersten Zeitungsartikel aus New York begleitete: »Der Text war dann am kommenden Morgen auf dem Mailaccount – ›Thu, 13 Sep 2001 06:48:51 +0200 (MEST)‹ steht in der Protokollleiste. Aus dem Begleitbrief muss man unbedingt zitieren, weil er das Flirrende, das in der Schreibsituation geherrscht haben muss, gut einfängt: ›anbei mein text, es ist der erste text, den ich, ohne schmäh, mit sauerstoffmaske geschrieben habe … ich habe eine nacht schon nicht geschlafen und jetzt ist wohl die zweite dran (in der houston street, neben meiner wohnung ist jetzt das aufmarschgebiet der rescues: polizei, trucks, emergencies etc. man kriegt echt paranoia). na gut, ich hör schon auf, arme taz-menschen zu belabern‹. Vielleicht hätte man dies Anschreiben in einem Kasten mitveröffentlichen sollen; es passt gut ins Spiel, das Rögglas Texte aufmachen [sic!] werden: die Wirklichkeitsbeschreibung mit der Zustandsbeschreibung der Beschreibenden zu verquirlen.«10

Beide literarisch-journalistischen Texte lassen sich als Ausdruck der gestörten Literarisierung und Symbolisierung anlässlich eines zum kulturellen Trauma erklärten Medienereignisses interpretieren. Erst mit zunehmendem zeitlichen Abstand setzt mit Ulrich Peltzers New York-Erzählung Bryant Park eine literarische Symbolisierung der Terroranschläge und damit ihre Integration in die Fiktion ein. Bryant Park erzählt den Tagesablauf des deutschen Wissenschaftlers Stefan Martenaars, der in New York in der Public Library für ein Forschungsprojekt über die Genealogie von Einwandererfamilien in Neuengland recherchiert. Er besucht nach der Arbeit eine Open-Air-Filmvorführung im hinter der Bibliothek gelegenen titelgebenden Park und tritt danach seinen nächtlichen Nachhauseweg an. Dabei sind die kollektiven Bilder, die die abendliche 9 Röggla 2001 b: 28. 10 Knipphals 2010.

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Filmvorführung evoziert, von symbolischer Bedeutung: »Überlebensgroß das Gesicht Ahabs unter dem abgewetzten Zylinder, der fanatische Blick, weithin dröhnend seine an die versammelten Seeleute gerichtete Botschaft.«11 Mit John Hustons Filmklassiker Moby Dick aus dem Jahr 1956 erfolgt nicht nur eine Hommage an Hollywood, sondern es wird zugleich ein Mastertext der amerikanischen Literatur aufgerufen. Herman Melvilles Roman MobyDick (1851) wurde unter anderem auch als Psychogramm der amerikanischen Gesellschaft gedeutet. So verkörpert für den Amerikanisten Winfried Fluck die Figur des Kapitäns Ahab das Sinnbild eines Individuums, das in seiner Selbstermächtigung grenzenlos ist, während die Schiffsmannschaft des Wahlfängers eine positive und integrierende Kollektiv-Utopie verkörpert.12 In der jüngeren Forschung wurde Moby Dick im Kontext von Geopolitik, Raumerschließung, Verkehrsströmen und damit als Wissensfigur der Globalisierung neu gelesen.13 Nach dem 11. September fungierte Moby Dick auch als Symbol für die Hegemonie der USA: So wurde Präsident George W. Bushs Agieren im Krieg gegen den Terror mit Kapitän Ahabs obsessiver Suche nach dem weißen Wal verglichen, und damit politische Kritik im Gewand eines literarischen Topos formuliert. So transportiert Bryant Park mittels der Referenz an Moby Dick ein Reservoir von Bedeutungen, das je nach zeitgenössischer Konstellation semantisch neu aufgeladen wird. Dabei deutet das mitunter unheimlich erscheinende Wissen des Textes sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft.

2. Präsidenten Auf die zeitgeschichtliche Figur des amerikanischen Präsidenten George W. Bush beziehen sich mit Thomas Hettches Woraus wir gemacht sind (2006) und Thomas Lehrs September Fata Morgana (2010) auch zwei deutsche 9/11-Romane. Dabei wird die fiktionalisierte Präsidentenfigur mit unterschiedlichen literarischen Verfahren dargestellt, ist jedoch jeweils mit der Gewalt des Irakkriegs assoziiert. In Thomas Hettches Roman reist der deutsche Biograf Niklas Kalf mit seiner schwangeren Frau Liz in die USA, um dort das Leben des jüdischen Emigranten und Physikers Eugen Meerkatz zu recherchieren. Doch dann wird in New York seine Frau entführt und Kalf tritt eine Reise durch die 11 Peltzer 2002: 94. 12 Vgl. Fluck 1997: 222 – 249. 13 Vgl. beispielsweise Stockhammer 2007 und Werber 2007.

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Vereinigten Staaten am Vorabend des Irakkriegs an. Der Roman spielt souverän mit Genre-Versatzstücken aus Kriminalliteratur, Thriller, Roadmovie, Western und Science-Fiction. Der Hybridität des Buches entsprechen auf der inhaltlichen Ebene die im Roman aneinandergereihten Amerikabilder. Denn Woraus wir gemacht sind zitiert und collagiert ein breites Arsenal an amerikanischen Selbst- und Fremdbildern aus Literatur, Film und Populärkultur, das der Rezensent Ulrich Greiner als »phantasmagorische[n] Reigen der Bilder«14 bezeichnete. Ein dominantes Motiv ist dabei der Traum: Dieses reicht von der Ankunftsszene, in der New York als »Jetblase aus Traum und Halbschlaf«15 beschrieben wird, über diverse Traumszenen16, Traummetaphern17, den Topos des »American Dream« als Streben nach subjektivem Glück in einer egalitären Gesellschaft, die Traumfabrik Hollywood bis hin zu europäischen Amerikabildern als Traum- und Wunschprojektionen und somit Amerika als »Vorlage aller Träume«18, aus denen zu erwachen auch schmerzhaft sein kann. Der Präsident kommt mittels einer intermedialen Referenz auf die Fernsehübertragung der Ansprache zum ersten Jahrestag des 11. September ins Spiel, die Kalf in seinem New Yorker Hotelzimmer verfolgt: »Der Redetext wurde über zwei Teleprompter beidseits des Pults eingespielt. Keinen Moment ließ Bush die Delegierten aus den Augen, sein Blick wie der eines wachsamen Tieres von links nach rechts und wieder zurück. Wie die gelben Augen eines Wolfes, dachte Kalf und bemerkte zum ersten Mal dieses winzige, hechelnd-bleckende Lächeln bei allem, was Bush sagte. Der Präsident […] zog seinen kleinen Mund zusammen wie zu einem gehauchten Kuß. Krieg umgab ihn wie Unsterblichkeit.«19

Der Vergleich des Präsidenten mit einem Wolf verweist auf die berühmte Formulierung aus Thomas Hobbes staatstheoretischer Schrift Leviathan (1651), dass der Mensch des Menschen Wolf sei – wenn nicht ein Gesellschaftsvertrag die Gewalt monopolisiert, die im Kontext von Bushs Doppelfunktion als Präsident und Oberbefehlshaber der Streitkräfte als Kritik an dessen Kriegsagenda lesbar ist. Auf das politische Vokabular des englischen Philosophen Hobbes bezieht sich der 9/11-Diskurs wiederholt. Beispielsweise bezeichnete der Kunsthistoriker Horst Bredekamp das Fernsehbild des Einschlages des zweiten entführten Linienflugzeuges in den Südturm des World Trade 14 15 16 17 18 19

Greiner 2006. Hettche 2006: 11. Vgl. Hettche 2006: 155 f.,160, 234, 282. Vgl. Hettche 2006: 27, 66. Hettche 2006: 153. Hettche 2006: 26 ff.

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Center im Kontext der politischen Ikonografie als »Anti-Leviathan«20. Denn es symbolisiere nicht wie Hobbes’ berühmtes Titelblatt des Leviathans von 1651 einen Staatskörper und damit das staatliche Gewaltmonopol, sondern den Zerfall dieser Ordnung. Damit folgte Bredekamp dem amerikanischen Bildwissenschaftler William J. T. Mitchell, der das zerstörte World Trade Center zum »bislang denkwürdigste[n] Bild des 21. Jahrhunderts«21 erklärte. Die Kritik an der fiktionalisierten Präsidentenfigur Bush ist zudem auch als Kritik am Konzept der »imperialen Präsidentschaft«22 in den USA nach den Anschlägen des 11. September interpretierbar. Der auf den US-amerikanischen Historiker Arthur M. Schlesinger Jr. zurückgehende Begriff der imperialen Präsidentschaft bezeichnet die systematische Machtüberschreitung der Exekutive, wie sie sich beispielsweise in der Legitimierung der Folter seitens der Bush-Administration zeigte. Neben der Präsidentenfigur bezieht sich der Roman auch auf die Herrschaftsfigur des Imperiums, mit der ein zyklisches Geschichtsverständnis von Aufschwung und Niedergang sowie die Dynamik von Machtfülle und Machtüberdehnung verbunden ist. Bereits am Romanbeginn wird die Herrschaftsfigur mittels eines Vergleichs etabliert: »[…] und dann war auch schon das Eiland Manhattan, wie es bei Brecht heißt, hinter den hohen Mauern seiner Türme atemberaubend schnell emporgewachsen, so unermesslich hoch und abweisend fremd wie nur je die Aurelianische Mauer in Rom.«23

Der Vergleich der New Yorker Hochhausarchitektur mit der antiken römischen Stadtmauer und damit die Analogie zwischen den Vereinigten Staaten und dem Römischen Reich evozieren das Konzept des Imperiums, die angesichts der hegemonialen Politik der USA nach den Anschlägen des 11. September an Konjunktur gewann und kontrovers diskutiert wurde.24 Der räumlichen Logik des Imperiums von Zentrum und Peripherie folgend verlässt Kalf im weiteren Verlauf des Romans New York und reist nach Marfa, einem kleinen Wüstenort an der Grenze zu Mexiko. Als ehemaliger Siedlungsort an einer Eisenbahnstrecke ist Marfa mit dem amerikanischen Nationalmythos der Grenze verbunden, der auf den amerikanischen Historiker Frederick Jackson Turner und seinen einflussreichen Essay The Significance of the Frontier in American History (1893) zurückgeht.25 Nach Turner 20 21 22 23 24 25

Bredekamp 2003: 158. Mitchell 2006: 261. Zum Konzept der imperialen Präsidentschaft vgl. Greiner 2011. Hettche 2006: 13. Vgl. beispielsweise Bender 2003, Münkler 2005, Bollmann 2006. Turner 1998: 31 – 60.

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bildete sich die amerikanische Identität erst in der bis 1880 andauernden westlichen Grenzverschiebung innerhalb der Besiedlungsgeschichte der Vereinigtem Staaten aus. Die Grenze markiert demnach das Aufeinandertreffen von Zivilisation und Wildnis und muss im Prozess der Landnahme überschritten werden, womit die Figur der Grenze einen expansiven Charakter erhält. Die Anglistin Aleida Assmann beschreibt den Frontier-Mythos als einen fortwirkenden Bestandteil des amerikanischen Selbstverständnisses, der beispielsweise in der hegemonialen amerikanischen Politik im 21. Jahrhundert zu beobachten sei.26 In Marfa reflektiert der Hauptprotagonist Kalf die Entfremdung zwischen Europa und Amerika: »Wir sind die ersten, überlegte er, die es nicht mehr hierherzieht. All die Emigranten haben hier noch ihr Glück gesucht, im Herzen des Imperiums. Doch der Sog ist vorüber, dachte Kalf«.27 Von Marfa reist Kalf an die amerikanische Westküste nach Pacific Palisades, das als »Weimar unter Palmen« während des Zweiten Weltkrieges als legendärer Treffpunkt der deutschen Exilantenszene galt.28 Dort besucht er Meerkatz’ Witwe, die in 520 Paseo Mirarmar lebt. Mit der Adresse wird die Villa Aurora, das ehemalige Wohnhaus von Marta und Lion Feuchtwanger aufgerufen, berühmter Erinnerungsort der deutschen Emigrantenszene während des Zweiten Weltkriegs und heutige Künstlerresidenz zur Förderung des deutsch-amerikanischen Austausches. Hettche hielt sich dort 2002 drei Monate als Stipendiat auf. Kalfs Reise durch die Vereinigten Staaten endet schließlich in Los Angeles, wo er einem ehemaligen Stummfilmkino als Referenz auf den Mythos Hollywood seine Frau und das inzwischen geborenen Kind wiederfindet. Mit der Geburt des Kindes am Romanende wird der Topos der Natalität, des Anfangs und einer positiven Zukunftsoffenheit aufgerufen, den Hannah Arendt als eine weitere berühmte Exilierte in ihren Studien untersuchte und der kulturhistorisch mit dem Mythos Amerika verbunden ist. Trotz der mittels der fiktionalisierten Präsidentenfigur Bush aufgezeigten Differenzen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa beziehungsweise Deutschland angesichts des Irakkrieges symbolisiert das Kind einen Neubeginn der transatlantischen Beziehungen. Zusammenfassend reflektiert Woraus wir gemacht sind anlässlich der transatlantischen Krise die wechselseitigen Projektionen und Interdependenzen von nationalen Fremdund Selbstbildern. Der Amerikaroman lässt mit den Zuschreibungen der USA als Einwandererland, als Zufluchtsexil während des Zweiten Weltkriegs 26 Vgl. Assmann 2008: 168. 27 Hettche 2006: 124. 28 Vgl. Schulenburg 2006.

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und als Traumfabrik Hollywood wichtige Stationen der deutsch-amerikanischen Beziehungsgeschichte Revue passieren, äußert aber angesichts des Irakkriegs mit der Herrschaftsfigur des Imperiums Kritik an der amerikanischen Hegemonie, um im Bild des Kindes das transatlantische Band wieder aufzunehmen. Auch in Thomas Lehrs Roman September Fata Morgana tritt ein fiktionalisierter amerikanischer Präsident Bush auf. Die Romanhandlung umfasst den Zeitraum September 2001 bis September 2004 und schlägt damit einen Bogen von den New Yorker Terroranschlägen bis zum Irakkrieg. Lehrs fulminanter Roman verbindet die Verlust- und Trauergeschichte des in den USA lebenden deutschen Germanistiken und Goethe-Forschers Martin Lechners, der bei den Anschlägen auf das World Trade Center seine Tochter Sabrina und seine amerikanische Ex-Frau verliert, mit dem Schicksal einer irakischen Arztfamilie in Bagdad, deren Tochter Muna 2004 bei einem Bombenattentat auf einem Markt getötet wird. September Fata Morgana zwingt die Leser somit zur Doppelwahrnehmung zweier Lebensgeschichten: einer akademischen Mittelschichtexistenz in der Global City New York und einem prekären Leben im Bagdad des Irakkrieges. Der Text weist keine Interpunktion auf und wird durch eine Polyfonie von vier Erzählstimmen organisiert: jeweils Vater und Tochter auf westlicher beziehungsweise irakischer Seite perspektivisieren das Romangeschehen. Die Vielstimmigkeit des Romans wird durch ein dominantes Symbolisierungsverfahren strukturiert. Bereits die Titel der drei Hauptkapitel installieren mit den drei literarischen Symbolen Schiff, Turm und Paradies eine komplexe Symbolebene und eröffnen ein dichtes Verweissystem. Das erste Romankapitel »Das Schiff« führt die Romanfiguren ein und endet mit den Anschlägen auf das World Trade Center. Das Schiff fungiert für die amerikanische Studentin Sabrina und die irakische Studentin Muna als Symbol der beginnenden Lebensreise, des Aufbruchs und der Jugend. Das Schiff kehrt im Roman weiterhin in zahlreichen Kontexten wieder, beispielsweise als Flugzeugträger, auf dem der US-amerikanische Präsident George W. Bush am 1. Mai 2003 das vermeintliche Ende der Kampfhandlungen und die Einnahme Bagdads verkündete,29 als amerikanischer Mythos der Mayflower30 und als »Resolute Desk«31, dem Präsidentenschreibtisch im Oval Office des Weißen Hauses, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus den Schiffsplanken eines britischen Polarschiffs gezimmert wurde. Der Turm fungiert dagegen im Roman als 29 Vgl. Lehr 2010: 360. 30 Vgl. Lehr 2010: 38. 31 Lehr 2010: 317.

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Symbol für politische Machtstrategien, die das Einzelindividuum nicht mehr überblicken kann, aber in deren Konsequenzen und Handlungsketten es unvermeidlich eingebunden ist, ob nun in den USA, im Irak oder andernorts. Die Mechanismen politischer Macht veranschaulicht das Unterkapitel »Embedded President«32, das die Anbahnung des Irakkrieges schildert und ein kritisches literarisches Porträt über George W. Bush, den »PRESIDENT OF WAR«33 darstellt, das zuweilen Züge einer Geschichtssatire annimmt. September Fata Morgana bezieht sich explizit auf den Irakkrieg, der im März 2003 von den USA angeführten Koalitionstruppen begonnen wurde und offiziell erst im August 2010 mit dem Abzug der US-amerikanischen Kampftruppen zu Ende ging. Der Irakkrieg wird als technologisch hochgerüsteter Fernsehkrieg in Echtzeit dargestellt: »Krieg als Fortsetzung des Computerspiels mit verheerenden Mitteln ein blitzartiges Zerfleischen der Angriffs- und Verteidigungsorgane des Gegners durchdacht von intellektuell wirkenden und auch tatsächlich promovierten jungenhaften Generälen digitalen Technikern des Todes die in Qatar in einer Wüsten-Zeltstadt ihr Central Command unterhielten«.34

Mit der Herrschaftsfigur des Imperiums, der Figur des amerikanischen Präsidenten George W. Bush und seiner Charakterisierung als Kriegspräsident sowie dem Motiv des Irakkriegs thematisieren die Romane von Thomas Hettche und Thomas Lehr Politik, Gewalt, Krieg und Herrschaft und erzeugen somit ein kritisches Amerikabild. Doch gleichzeitig dienen in beiden Texten Figuren des Familiaren – das neugeborene Kind bei Hettche, die Tochter und Exfrau bei Lehr – als Symbole für die enge affektive Bindung an die USA. So entwirft die deutschsprachige Gegenwartsliteratur nach dem 11. September teilweise ein kritisches Amerikabild, dessen Abgrenzungstendenzen nicht zuletzt Bestandteil eines übergeordneten Diskurses über die Neupositionierung eines vereinigten Deutschlands und eines nach 1989 transformierten Europas gegenüber den Vereinigten Staaten sind.35 Die europäische Neupositionierung zeigte sich insbesondere in den kritischen Reaktionen auf die militärischen Interventionen der USA, die vor dem Hintergrund der europäischen Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts abgelehnt wurden. Diese Position vertraten exemplarisch Jacques Derrida und Jürgen

32 33 34 35

Lehr 2010: 315. Lehr 2010: 323. Lehr 2010: 352. Vgl. Müller 2006.

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Habermas in ihrem Aufruf Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas.36 Angesichts der polarisierenden Amerikadebatte bemerkte der Literaturwissenschaftler und Wahlamerikaner Hans Ulrich Gumbrecht an: »Vielleicht stehen sich auf beiden Seiten des Atlantiks unvereinbar zwei Arten von Fundamentalismus gegenüber, welche beide in Anspruch nehmen, die normative Wirklichkeit des Westens zu sein. Der amerikanische Fundamentalismus: die Konvergenz aus religiöser Gewissheit und dem Glauben an die Freiheit des Individuums als Grundlage wirtschaftlicher Prosperität, als Doppelerwartung innenpolitischer Zurückhaltung und außenpolitischer Entschlossenheit seitens des Staates – dieser amerikanische Fundamentalismus ist in Europa bekannt und wohl auch hinreichend kritisiert worden. Es ist nun Zeit für die kritischen Freunde Amerikas in Europa, die Konturen ihres eigenen Fundamentalismus zu entdecken: die Erwartung der universellen Sorgepflicht eines Staates, der außenpolitisch nicht entlang nationaler Interessen, sondern in Verwirklichung von Menschheitsidealen agieren soll – verbunden mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber religiösen Lebensformen und gegenüber dem Wert der individuellen Freiheit.«37

Gumbrecht verweist auf Fundamentalismen auf beiden Seiten des Atlantiks und den »Amerikanischen Traum« als europäische Projektion, und plädiert somit für eine nuancierte Betrachtung des Anderen, die Unterschiede anerkennt. Mit der Wahl Barack Obamas zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten, die als symbolischer Neustart für die transatlantischen Beziehungen gedeutet wurde, setzte auch eine neue Leichtigkeit im deutsch-amerikanischen Verhältnis ein, die zwei Essaybände widerspiegeln. Während Hans Ulrich Gumbrechts California Graffiti. Bilder vom westlichen Ende der Welt ein differenziertes Bild des »American Way of Life« nachzeichnet, huldigt Stephan Wackwitz mit Fifth Avenue. Spaziergänge durch das letzte Jahrhundert der Kulturgeschichte einer der Lebensadern New Yorks.

3. Abschiede Pünktlich zum 10. Jahrestag der New Yorker Terroranschläge erscheint 2011 das Romandebüt des Architekten und Designprofessors Friedrich von Borries mit dem Titel 1WTC. Hatten sich die ersten Texte zu 9/11 mit dem Zusammenbruch der Twin Towers beschäftigt, bezieht sich der Titel auf die Neubebauung Ground Zeros. Borries’ Text betreibt ein virtuoses Spiel mit Realität und Fiktion, das eine paranoide Überwachungsstimmung erzeugt. Die Story wird dem Erzähler konspirativ von dem Berliner Künstler 36 Vgl. Derrida / Habermas 2003. 37 Gumbrecht 2006: 22.

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Mikael Mikael berichtet: Dieser reiste mit einem Stipendium des Berliner Senats nach New York, um dort an einem Kunstprojekt über die Folgen der Terroranschläge von 2001 zu arbeiten. In New York lernt Mikael Syana, eine Game-Designerin, und Jennifer, eine Kunsthistorikerin und Galeristin, kennen. Beide Frauen bindet er in eine Performance ein, bei der Jennifer vor Überwachungskameras im öffentlichen Raum posiert. Derweil entwirft Tom, Jennifers ehemaliger Freund, der als Architekt beim Geheimdienst angestellt ist, ein Foltergefängnis für islamistische Terrorverdächtige in Gestalt eines künstlichen Paradieses in den Kellergeschossen des neu errichtetet Hochhauses 1WTC. Der Roman kombiniert Theorie – »An der Bar holen sie sich ein Glas Wein. Die Arena ist eröffnet, Begriffe fliegen durch den Raum: Foucault, Deleuze, 9/11, Kommerz, der Leviathan«38 – und Thrillerelemente mit Drehbuchskripten und Kurzdossiers über Architekten und Künstler, die zu Überwachungstechnologien arbeiten. So entsteht ein dichtes Netzwerk an Verweisen zum Komplex Realität, Kunst und Überwachungstechnologie, das sich auf der Höhe der Gegenwart bewegt. Die durchaus abgründige Story inklusive Künstlermilieu, Hacker und Geheimdienste bedient sich noch einmal der Themen der 9/11-Literatur, verschiebt den Schwerpunkt aber weg von Trauma und Betroffenheit: Vielmehr zeichnet sich die digitale Kontrollgesellschaft ab, in der Überwachungstechnologien allgegenwärtig sind. Auch die Sekundärliteratur verweist auf einen Abschied: Mit Michael Königs 500 Seiten starker Studie Poetik des Terrors. Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur ist auch ein Ende vonseiten der literaturwissenschaftlichen Forschung zu 9/11 absehbar.39 Denn in Königs fulminanter Sichtung der literarischen Terrorismusdarstellungen sind die New Yorker Terroranschläge nur ein literarisches Motiv unter vielen anderen. So werden neue Amerikabilder in der Literatur kommen und die zukünftigen Romane vielleicht über das Leben im Zeitalter digitaler Kontrolle und digitalem Kapitalismus erzählen oder über das Zeitalter eines jungen amerikanischen Whistleblowers. Das Amerika der Autoren wird fortbestehen.

Literatur Assmann, Aleida (2008): Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, 2. Aufl., Berlin. 38 Borries 2011: 82. 39 Vgl. König 2015.

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Bender, Peter (2003): Weltmacht Amerika. Das neue Rom, Stuttgart. Bollmann, Ralph (2006): Lob des Imperiums. Der Untergang Roms und die Zukunft des Westens, Berlin. Borries, Friedrich von (2011): 1WTC. Roman, Berlin. Böttiger, Helmut (2007): Der Sound der Metropole. Mit Ulrich Peltzers Romanhelden unterwegs in Berlin. Sendung vom 28. August 2007. Manuskript Deutschlandradio Kultur (online unter: www.deutschlandradiokultur.de/manuskript-der-sound-der-metropole-pdf.media.61aafd7bed87c5bfcc5ffdffde78f35e.pdf – letzter Zugriff: 30.11.2017) Bredekamp, Horst (2003): Thomas Hobbes, der Leviathan: Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder (1651 – 2001), 2., stark veränd. Aufl., Berlin. Buschheuer, Else (2002): www.else-buschheuer.de. Das New York Tagebuch, Köln. Derrida, Jacques / Habermas, Jürgen (2003): Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Mai 2003, S. 33 – 34. Durzak, Manfred (1979): Vorwort: Annäherung an Amerika, in: ders., Das Amerika-Bild in der deutschen Gegenwartsliteratur. Historische Voraussetzungen und aktuelle Beispiele, Stuttgart, S. 7 – 15. Fluck, Winfried (1997): Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790 – 1900, Frankfurt/M. Greiner, Bernd (2011): 9/11. Der Tag, die Angst, die Folgen, München. Greiner, Ulrich (2006): Im Abgrund der Bilder. Kleine Verteidigung des neuen Romans von Thomas Hettche gegen seine großen Kritiker, in: Die Zeit, Nr. 41, 5. Oktober 2006. Gumbrecht, Hans U. (2006): Freunde Amerikas. Ist der amerikanische Traum in Wirklichkeit eine Erfindung der Europäer? Über einige Missverständnisse in einer schwierigen Beziehung, in: Literaturen 7/8 (2/2006), S. 18 – 22. Gumbrecht, Hans U. (2010): California Graffiti. Bilder vom westlichen Ende der Welt, München. Hettche, Thomas (2006): Woraus wir gemacht sind. Roman, Köln. Knipphals, Dirk (2001): Auf dem Adrenalin-Teppich. Schreiben über das Schwindelgefühl, dass »das da« wirklich stattfindet: Kathrin Rögglas Texte über die Anschläge in New York finden sich in dem Buch »really ground zero. 11. september und folgendes«, in: Die Tageszeitung, 24. Dezember 2001. König, Michael (2015): Poetik des Terrors. Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur, Bielefeld. Lehr, Thomas (2010): September Fata Morgana. Roman, München. Mitchell, William J. T. (2006): Den Terror klonen. Der Krieg der Bilder 2001 – 2004, in: Christa Maar / Hubert Burda (Hg.), Iconic Worlds. Neue Bilderwelten und Wissensräume, Köln, S. 255 – 285. Müller, Agnes C. (2006): Gefährliche Liebschaften. Zum Amerikabild in der deutschen Gegenwartsliteratur nach dem 11. September 2001, in: Jochen Vogt / Alexander Stephan (Hg.), Das Amerika der Autoren, München, S. 393 – 406. Münkler, Herfried (2005): Imperien. Die Logik der Weltherrschaft. Vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin. Peltzer, Ulrich (2002): Bryant Park, Zürich.

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Heide Reinhäckel

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Franz Eder

Deutschlands Aufstieg zur Großmacht und die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit 9/11 Die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit 9/11

Deutschlands Aufstieg zur Großmacht und die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit 9/11

1. Einleitung Die Terroranschläge des 11. September 2001 waren ein Ereignis mit richtungsweisendem Charakter für die USA und bildeten eine Zäsur in der internationalen Politik. Die Anschläge bewirkten einen Wandel der Bedrohungswahrnehmung der politischen Eliten in Washington und waren somit der Katalysator für eine fundamentale Neuausrichtung amerikanischer Außenund Sicherheitspolitik, die ihren vorläufigen Höhepunkt im Irakkrieg fand. Erstmals seit Ende des Kalten Krieges agierte Washington gegen den Willen zentraler Akteure im internationalen System, überging bewusst den UNSicherheitsrat und tat dies ohne Rücksicht der Bedenken und schlussendlich der offenen Opposition langjähriger transatlantischer Partner. Besonders augenscheinlich ist diese Zäsur in den deutsch-amerikanischen Beziehungen. Während noch kurz nach 9/11 von einer engen Zusammenarbeit die Rede war und sich Deutschland sogar aktiv an Kampfeinsätzen (in Form von Spezialeinheiten) gegen den Terrorismus beteiligte, erreichte das bilaterale Verhältnis mit Ausbruch des Irakkrieges 2003 einen historischen Tiefpunkt. Während die deutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin George W. Bush, den amerikanischen Präsidenten, direkt mit Hitler verglich, konterte dessen Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und bezeichnete die Beziehungen zu Berlin als »vergiftet«.1 Diese Entwicklung ist bemerkenswert, betrifft sie doch zwei Staaten, deren internationales Gewicht und deren Einfluss auf internationale Politik für beide Seiten essenziell ist und deren Beziehungen der letzten 60 Jahren daher stets auf einer intensiven Kooperation und gegenseitigen Rücksichtnahme aufgebaut war, von der beiden Seiten nachhaltig profitierten. Es stellt sich somit die Frage, wie es überhaupt zu diesen Friktionen kommen konnte? Können diese Friktionen als einmaliger Ausreißer verstanden werden, deren 1

Vgl. Economist 2002.

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Ursachen in einem Missverständnis und den persönlichen Animositäten der handelnden Akteure zu suchen sind? Oder sind die Ursachen struktureller Natur und deuten damit den Beginn einer neuen Phase der deutsch-amerikanischen Beziehungen an? Wie ich auf den folgenden Seiten argumentieren werde, können die Ursachen der deutschen Opposition zum Irakkrieg und damit der Friktionen in den bilateralen Beziehungen Berlins zu Washingtons auf vier Analyseebenen gefunden werden. Erstens verkannten die politischen Entscheidungsträger der Bundesrepublik auf individueller Ebene, wie essenziell die USA in ihrer Bedrohungswahrnehmung von den Terroranschlägen des 11. September 2001 geprägt, und mit welchen Ängsten sie daher konfrontiert waren. Zweitens, und auf der Ebene innerstaatlicher Gruppen angesiedelt, muss die deutsche Opposition zum Krieg auch aus wahltaktischen Gründen verstanden werden. Drittens induzierte die außenpolitische Kultur der Bundesrepublik auf nationalstaatlicher Ebene, der »habitus of restraint«2, zwangsläufig die Opposition zur US-Politik. Und viertens sah Deutschland die eigenen Interessen und den eigenen Einfluss im internationalen System durch die Reaktion der USA auf 9/11 gefährdet. Ich argumentiere daher, dass die deutsche Opposition zum Irakkrieg nicht nur das Ergebnis individueller Fehlwahrnehmungen, wahltaktischer Überlegungen oder der Ausdruck einer in der außenpolitischen Kultur verankerten Ablehnung von unilateralem und militärischem Vorgehen war. Die deutsche Opposition zum Irakkrieg war vor allem dem neuen deutschen Selbstverständnis geschuldet, im internationalen System die eigenen Interessen selbstbewusst zu verfolgen und die seit Ende des Ost-West-Konflikts und der deutschen Wiedervereinigung erlangte Macht in den Außenbeziehungen aufrechtzuerhalten, wenn nicht sogar noch weiter auszubauen. Damit stellt sich das Zerwürfnis der deutsch-amerikanischen Beziehungen im Zuge des Irakkrieges nicht als einmaliger Ausreißer in einem ansonsten harmonischen Verhältnis zweier eng befreundeter Staaten dar, sondern als (längst überfällige) Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen. Aufgrund der strukturellen Gegebenheiten und der daraus resultierenden teilweise abweichenden Interessen beider Seiten, kann es auch zwischen befreundeten Staaten zu Rivalitäten kommen, vor allem dann, wenn die Politik eines Partners auf Dauer die Interessen des anderen unberücksichtigt lässt oder diese gar gefährdet. Um diese Thesen zu bekräftigen, werde ich in vier Schritten vorgehen. Zunächst stelle ich die Bedrohungswahrnehmung der politischen Ent2

Bjola / Kornprobst 2007: 298.

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scheidungsträger in den USA in Reaktion auf die Terroranschläge des 11. September 2001 dar und zeige, wie dieses Ereignis zu einem »Perceptual Shock« wurde. Darauf aufbauend beschreibe ich in einem zweiten Schritt die Präventions- und Demokratisierungspolitik der Administration Bush als fundamentalen Wandel der US-Außen- und Sicherheitspolitik. Im dritten Schritt zeige ich, inwiefern die deutsche Opposition zum Irakkrieg ein direktes Ergebnis der außenpolitischen Kultur ist. Viertens ergänze ich diese Sichtweise mit der Argumentation, inwiefern diese Opposition aber auch das Ergebnis eines neuen, stärker interessens- und machtorientierten Selbstbewusstseins der Berliner Republik ist. Abschließen werde ich meinen Beitrag mit der Zusammenfassung meiner Argumentation und dem Ausblick, wie sich die deutsch-amerikanischen Beziehungen in Zukunft gestalten werden.

2. 9/11 als »Modern-Day Pearl Harbor« 2.1 Vom Wandel des Bedrohungsbildes … Die Terroranschläge vom 11. September 2001 sind ein Schlüsselereignis, das bleibende und tiefgreifende Auswirkungen auf die US-Außen- und Sicherheitspolitik hatte und weiterhin haben wird. 9/11 hat nicht nur das Denken der entscheidungsrelevanten Akteure der Bush-Administration beeinflusst, sondern eine ganze Generation von US-Amerikanern geradezu traumatisiert. Seit dem Überraschungsangriff der japanischen Marine auf den Flottenstützpunkt Pearl Harbor 1941 und zum ersten Mal nach 1814, als Teile der Hauptstadt Washington von britischen Einheiten niedergebrannt wurden, waren die USA ein Ziel kriegerischer Auseinandersetzung. Das ansonsten durch zwei Weltmeere abgeschottete und von befreundeten Staaten umgebene Festland, schien die USA und deren Bevölkerung von internationalen Entwicklungen unberührt zu lassen. Mit 9/11 wurde diese vermeintliche Sicherheit im Kern erschüttert. Auch die USA mussten erkennen, dass in einer zunehmend globalisierten Welt, mit ihren Möglichkeiten der schnellen Kommunikation und der einfachen Überwindung von Distanzen, traditionelle Sicherheitsvorstellungen nicht mehr galten. Dieses Trauma von 9/11 führte bei den politischen Entscheidungsträgern zu einer Neudefinition der Bedrohungslage, die trotz etwaigen Anpassungen bis heute besteht. Besonders deutlich wird dieser Wandel des Bedrohungsgefühls in den Biographien der führenden Köpfe der Bush-Administration. Präsident Bush bezeichnete die Anschläge als ein »modern-day Pearl Har-

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bor«3 und stellte den 11. September 2001 damit auf eine Stufe mit einem zentralen Ereignis US-amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik des 20. Jahrhunderts. Ebenso wie nach Pearl Harbor, als die USA in den Zweiten Weltkrieg eintraten, ihre isolationistische Haltung aufgaben und bewusst versuchten, die internationalen Beziehungen nach ihren Vorstellungen zu formen, sollten die USA auch 9/11 als Wendepunkt ansehen. Es gehe darum, erneut in eine epochale Auseinandersetzung einzutreten und zu versuchen, durch die gezielte Einflussnahme auf das internationale System, die Strukturen zugunsten der USA und deren Sicherheit zu beeinflussen. Bushs Sicht wurde von seinem engsten Kreis an Beratern vollumfänglich geteilt. Vizepräsident Cheney sah eine neue Zeitrechnung für die US-Außenund Sicherheitspolitik angebrochen, Verteidigungsminister Rumsfeld sprach von einem »seminal point«, und die Nationale Sicherheitsberaterin Rice war sogar der Meinung »Every Day Since Has Been September 12«.4 Diese Darstellung in den Biografien spiegelt sich in den individuellen Diskursen der handelnden Akteure wider. Versteht man den politischen Diskurs als Ausdruck individueller Präferenzen, so zeigen die Diskurse der führenden Köpfe der Administration sehr deutlich einen signifikanten Wandel in der Wahrnehmung und im Denken dieser Akteure. Dem politischen Umfeld wurde zunehmend mit Misstrauen begegnet und darauf aufbauend verringerte sich die Kooperationsbereitschaft zugunsten eines stärker konfrontativen Verhaltens.5 Nach 9/11 sahen sich die USA plötzlich einer Bedrohungstriade bestehend aus Terrorismus, Schurkenstaaten und Massenvernichtungswaffen gegenüber, die alles andere überlagerte und die Angst vor erneuten Anschlägen zu einem permanenten Thema machte.6 Man wähnte sich plötzlich in einem Post-9/11-Sicherheitsumfeld, in dem die westliche Welt generell und die USA im Speziellen, nicht mehr rational handelnden Akteuren (das heißt Staaten) gegenüberstanden, sondern sich mit terroristischen Akteuren auseinandersetzen mussten, für die rationale Verhaltensweisen nicht mehr angenommen werden konnten. Die Bereitschaft dieser Akteure sogar Massenvernichtungswaffen (eigentlich tabuisierte Waffen7) einzusetzen, machte diese Bedrohung deshalb noch gefährlicher, weil durch die vermeintliche Kooperation von Terroristen mit Schurkenstaaten diese Bereitschaft nicht 3 4 5 6 7

Bush 2010: 137. Cheney / Cheney 2011: 10, Rumsfeld 2011: 355, Rice 2011: 79. Vgl. Eder 2015: 151 – 205. Vgl. Eder 2015: 206 – 227, Powell / Koltz 2012: 218. Vgl. Tannenwald 1999.

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nur fiktiv war, sondern plötzlich zu einer ernst zu nehmenden Möglichkeit wurde. Mit diesen Schurkenstaaten sahen sich die USA in einer existenziellen Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Freiheit und Tyrannei.8 Bush sprach daher in diesem Zusammenhang von »ruthless enem[ies]« 9, die die »worst fears«10 bestätigen würden. Sie würden grundlegende Menschenrechte missachten und sich nicht an völkerrechtliche Normen (die Spielregeln der internationalen Staatenwelt) halten.11 Diese Bedrohungswahrnehmung und die damit ausgelösten Ängste waren es auch, die die handelnden Akteure geradezu blind für die Faktenlage machte. Das Resultat war wiederum eine teilweise abenteuerliche Interpretation der Erkenntnisse der Geheimdienste,12 die zur Grundlage der Irakinvasion wurde. Die Gegner dieser Sichtweise, allen voran Deutschland, konnten diese Interpretation nicht teilen, reagierten ablehnend und zeigten sich »not convinced«13 vom Versuch Washingtons, den Irakkrieg zu legitimieren. Unterschwellig schwang dabei aber immer der Vorwurf mit, die USA würden diese Bedrohungswahrnehmung nur als billigen Vorwand nutzen, um andere politische und eben auch wirtschaftliche Ziele (unter anderem den Zugriff auf die irakischen Erdölquellen) zu verfolgen. Viele Kritiker der Bush-Administration, darunter die deutsche Außenpolitik, verstanden nicht, dass die Haltung Washingtons erstens keine gezielte Konstruktion der handelnden Akteure zur Durchsetzung anderer Interessen war, sondern wirklich das Ergebnis von Ängsten und Wahrnehmungen, die sich über Jahrzehnte aufbauten und verfestigten. Zweitens, und dieser Punkt ist ebenso wichtig, handelte es sich dabei nicht um eine exklusive Sichtweise der Administration. Diese Bedrohungswahrnehmung wurde vom gesamten politischen Establishment in Washington geteilt und spiegelte sich dementsprechend in der öffentlichen Meinung der US-Bevölkerung wider.14 Auch wenn sich diese Sichtweise in den kommenden Jahren abschwächte beziehungsweise relativierte, ist die Mehrheit der US-Entscheidungsträger genauso wie die Bevölkerung auch heute noch davon überzeugt, dass die USA durch die Terroranschläge des 11. September 2001, einer neuen sicher8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Senn 2009. Bush 2002 b. Bush 2002 c. Vgl. Bush 2002 b: 14. Vgl. unter anderem Pillar 2006, Jervis 2006, Badie 2010, Jervis 2012. Vgl. Fischer 2011: 77 – 125. Vgl. die Gallup-Umfrageergebniss (online unter: www.gallup.com/poll/1633/iraq. aspx?version=print – letzter Zugriff: 24.01.2017).

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heitspolitischen Herausforderung gegenüberstehen, die in ihrer Qualität vergleichbar mit den großen sicherheitspolitischen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts ist.15 Eine der Ursachen für die Friktionen zwischen den USA und Deutschland nach 9/11 und im Hinblick auf den Irakkrieg war daher die Unfähigkeit der außenpolitischen Eliten der Bundesrepublik, diese Bedrohungswahrnehmung ernst zu nehmen und die US-Reaktion als Ergebnis dieser Haltung zu sehen und nicht als Vorwand zur Durchsetzung versteckter Interessen.

2.2 … zur Selbstentfesselung des Hegemons Aufgrund dieser Bedrohungswahrnehmung wähnten sich die USA mit diesen Akteuren (das heißt dem transnationalen Terrorismus und den Schurkenstaaten) in einem Zustand, in dem die klassischen Spielregeln internationaler Beziehungen nicht mehr galten. In dieser, vom Rollenbild »Feind«16 geprägten Welt wurden daher plötzlich Worst-Case-Szenarien zur handlungsanleitenden Maxime in der Außen- und Sicherheitspolitik. So argumentierte Vizepräsident Cheney, dass die USA selbst dann proaktiv handeln müssten, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses nur bei einem Prozent liege und wurde dabei von Rumsfeld unterstützt, der eine große Gefahr von »unknown unknowns« ausgehen sah.17 Althergebrachte, Status quo-orientierte Instrumente wie »Deterrence« und »Containment«, auf die die US-Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgreich baute, mussten neuen, revisionistischen weichen. Im Zentrum dieser neuen Instrumente standen dabei einerseits die offensive Anwendung militärischer Fähigkeiten zur Ausschaltung sicherheitspolitischer Bedrohungen und andererseits der Versuch der Transformation des Charakters des internationalen Systems durch dessen Demokratisierung. Frei nach dem Motto »our best defense is a good offense«18, plädierten die USA den Kampf offensiv zum Feind zu bringen, anstatt abzuwarten, bis dieser die USA heimsuche.19 Mit Hilfe der Nationalen Sicherheitsstrategie 2002 wurde versucht, Prävention (das heißt die Ausschaltung einer poten15 Vgl. zum Beispiel die Gallup-Umfrageergebnisse (online unter: www.gallup.com/poll/5257/ War-Terrorism.aspx?utm_source=genericbutton&utm_medium=organic&utm_campaign= sharing – letzter Zugriff: 24.01.2017). 16 Wendt 2010: 259 – 262. 17 Vgl. Suskind 2007 sowie Rumsfeld 2011. 18 Bush 2002 b: 6. 19 Vgl. Bush 2002 b.

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ziellen Bedrohung, bevor sie sich materialisieren kann) zu einer akzeptierten Praxis im Völkerrecht umzudeuten,20 indem man bewusst die völkerrechtlich akzeptierte Form der antizipativen Selbstverteidigung (nämlich Präemption) mit der nicht akzeptierten Form (eben Prävention) vermischte.21 Damit stellten die USA eine der Grundfesten der Nachkriegsordnung, für die sie selber verantwortlich zeichneten, infrage. Für Washington galt das in der UN-Charta festgelegte Gewaltverbot (mit den Ausnahmen der Rechte auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung) nicht mehr. Die USA nahmen für sich in Anspruch, in ausgesuchten Fällen auch jenseits dieser Ausnahmen militärische Mittel zur Sicherung ihrer vitalen Interessen einzusetzen und relativierten damit das Souveränitätsrecht anderer Staaten. Darüber hinaus dürfe das Ziel der US-Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur die antizipative Durchsetzung von Sicherheit sein. Man müsse stattdessen ganz im Sinne eines »hard Wilsonianism«22 versuchen, den Charakter des internationalen Systems längerfristig zu verändern, indem man es (wenn nötig auch mit Gewalt) demokratisiert. Ziel sei die Transformation des internationalen Systems, weg von einem nebeneinander von Demokratien und Autokratien, und hin zu einem demokratischen und friedlichen Miteinander unter der Führung der USA. Das Neue an dieser Strategie war nicht der Umstand, dass die USA sich ihrer herausragenden militärischen und strukturellen Stärke, die sie spätestens seit Ende des Ost-West-Konfliktes besaßen, bewusst waren. Das Revolutionäre daran war, dass die USA erstmals bereit waren, ihre herausragende Position dazu einzusetzen, um den Status quo gezielt zu ihren Gunsten zu verändern.23 Die USA wurden damit von einer Status-quo-orientierten Macht, die maßgeblich für die Verfasstheit des aktuellen internationalen Systems und seiner Ordnung verantwortlich waren, zu einer revisionistischen Macht, die diese Struktur nicht nur hinterfragte, sondern gezielt zu transformieren versuchte. Durch den Anspruch frei von internationalen Normen ungehindert agieren zu können und den Status quo ändern zu dürfen (wenn nicht sogar zu müssen), versuchten die USA als Hegemon sich von den Fesseln zu befreien, die man sich nach 1945 und besonders nach 1989 selbst auferlegt hatte. Diese Neudefinition von Souveränität und die Missachtung des Gewaltverbots brachte aber zwangsläufig für alle anderen Akteure im internationalen Sys20 21 22 23

Vgl. Bush 2002 a: 15. Vgl. Freedman 2003. Muravchik 2008: 20. Vgl. Stover 2004: 4, Daalder / Lindsay 2005: 185.

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tem mehr Unsicherheit und einen relativen Machtverlust – ein Tauschhandel, den viele Staaten nicht bereit waren einzugehen.

3. Deutsche Verantwortung und die Wiederentdeckung von Macht 3.1 Von der außenpolitischen Kultur der Zurückhaltung … Was waren nun die Ursachen (neben dem Verkennen der US-Bedrohungswahrnehmung), warum sich Deutschland so vehement gegen den Irakkrieg aussprach und in direkte Opposition zu Washington trat? Ein Erklärungsfaktor für dieses Verhalten ist in einem individuellen Nutzenkalkül zu finden, nämlich dem obersten Ziel von Politikern, wiedergewählt zu werden. Es war eine bewusste Entscheidung des SPD-Präsidiums und somit Bundeskanzler Schröders, den Irakkrieg zu einem dominierenden Thema bei den Bundestagswahlen 2002 zu machen. Laut der Forschungsgruppe Wahlen war dieser Fokus auf die US-Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur eine klare Abgrenzungsstrategie zu den in den Umfragen führenden Parteien CDU und CSU, sondern schlussendlich sogar wahlentscheidend für den knappen Sieg der SPD.24 Dieser Faktor kann jedoch nicht erklären, warum die Thematisierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik auf diese drastische Art und Weise erst 2002 erfolgte und nicht schon früher. Zwar gab es in bundesdeutschen Wahlkämpfen vereinzelt immer wieder Kritik an der Politik der USA, die Form und das Ausmaß der ablehnenden Haltung von SPD (und Grünen) 2002 war jedoch neu und geradezu ein Tabubruch in den deutsch-amerikanischen Beziehungen.25 Es muss daher neben dem politischen Kalkül noch weitere Erklärungsfaktoren für das Verhalten Deutschlands geben. Einer der beiden Faktoren, der die deutsche Fundamentalopposition nachhaltiger und damit besser erklärt, ist die außenpolitische Kultur der Berliner Republik, die sich im Rollenkonzept der »Zivilmacht« ausdrückt.26 Die Grundprinzipien dieser Kultur geben den politischen Eliten einen eng begrenzten Spielraum ihrer außenpolitischen Optionen vor und binden sie daher zwangsläufig in ihrem Verhalten. Darüber hinaus sind die handelnden Akteure durch die Sozialisation in dieser Kultur von deren Grundprinzipien derart überzeugt und 24 Vgl. Hellmann et al 2014: 179. 25 Vgl. Kaim 2004: 133. 26 Vgl. Maull 1990.

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von ihnen geprägt, dass sie gar nicht anders können, als ihnen zu folgen. Diese Kultur (oder der »habitus of restraint«27), zwang Deutschland daher geradezu, in Opposition zu den USA zu treten und sich Partner für seine ablehnende Haltung zum Irakkrieg zu suchen. Was sind nun aber diese Grundprinzipien, die das deutsche Verhalten prägen? Bei diesen Grundprinzipien handelt es sich um eine Ausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, die mit den Worten von Hanns Maull auf die zwei Handlungsmaximen »Never again« und »Never alone«28 reduziert werden kann und die das Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung Deutschlands im 20. Jahrhunderts ist.29 Mit »Never again« sagt sich Deutschland als Hauptverursacher zweier Weltkriege vom einem deutschen Sonderweg und dem Militarismus los und ächtet Krieg als Mittel zur Verfolgung nationaler Interessen. Krieg wird nicht nur als unmoralisch erachtet, sondern generell als ungeeignet, um mit den Problemen und Herausforderungen der internationalen Politik im 20. und 21. Jahrhundert umzugehen. Aus dieser Sicht darf auf Krieg nur zur Selbstverteidigung oder als letztes Mittel und nur mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrates zurückgegriffen werden.30 Mit »Never alone« ist die Überzeugung gemeint, dass internationale Politik generell und die deutsche Außenpolitik im Speziellen, auf der Verregelung der Beziehungen von Staaten aufbauen und stets die Zusammenarbeit von Akteuren im internationalen System suchen soll. Globale Herausforderungen können nur gemeinsam und nie im Alleingang gelöst werden. Deutsche Außenpolitik, so die logische Konsequenz aus dieser Überzeugung, müsse daher eine Außenpolitik sein, die sich im Rahmen etablierter Institutionen bewegt. Damit erklärt sich auch die deutsche »Begeisterung« für Institutionen wie die Europäische Union (EU), die nordatlantische Vertragsgemeinschaft (NATO) und die Vereinten Nationen (UNO), oder die Etablierung multilateraler Verhandlungsrahmen wie die »P 5 + 1« (die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und Deutschland« als Verhandlungspartner mit dem Iran).31 Diese beiden Grundprinzipien – »Never again« und »Never alone« – waren bestimmend für die deutsche Außenpolitik nach 1945 und dienten nicht nur der Bonner Republik als Richtschnur für ihr Verhalten im internationalen System, sondern wurden auch für die Berliner Republik zum Kompass. 27 28 29 30

Bjola / Kornprobst 2007: 298. Vgl. Maull 2000: 66 – 68, Maull 2004: 20. Vgl. Algieri 2011: 126 sowie Hellmann et al 2014: 193. Vgl. Hellmann et al 2014: 201, Bockenförde 2011: 88, Bjola / Kornprobst 2007: 297, Maull 2004: 20. 31 Vgl. Maull 2004: 20, Hellmann et al 2014: 113, 200 f.

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Deutsche Außenpolitik war daher konstant über Jahre durch die »grundsätzliche Bereitschaft [gekennzeichnet, F. E.], (machtpolitische) Interessen hinter die Stärkung völkerrechtlicher oder friedenspolitischer Normen und Institutionen zurückzustellen«.32 Wenngleich konstatiert werden muss, dass es seit Ende des Kalten Krieges zu einer Neuauslegung von Teilaspekten dieser Grundprinzipien kam, vor allem was die Einstellung Deutschlands zum Krieg angeht. Besonders der Kosovokrieg 1999 hat gezeigt, dass Deutschland seine Zurückhaltung langsam aufgegeben hat und durchaus bereit ist, sich auch an internationalen Kampfeinsätzen zu beteiligen.33 Diese Bereitschaft war nach den Anschlägen des 11. September zu beobachten, als sich Berlin mit Spezialeinheiten am Afghanistaneinsatz auf die Seite Washingtons stellte. 34 Diese »Normalisierung« deutscher Außenpolitik, das heißt die Kenntnisnahme des Militärs als außenpolitisches Instrument, darf jedoch nicht als prinzipielle Abkehr vom Never-again-Prinzip verstanden werden. Sie wurde von der außenpolitischen Elite der Berliner Republik vielmehr stets damit gerechtfertigt, dass sich Deutschland nicht hinter seiner Geschichte verstecken dürfe, wenn es ernst wird, sondern vermehrt Verantwortung übernehmen müsse.35 Trotz dieser Relativierung war der Irakkrieg aus deutscher Sicht nicht tragbar, weil die beiden Grundprinzipien immer noch fest in der außenpolitischen Kultur verankert sind. Dieser Krieg war in den Augen Berlins nicht das letzte und unausweichliche Mittel. Er war weder durch ein UN-Mandat noch durch eine breite internationale Koalition, die ähnlich wie im Falle des Kosovos für Legitimität gesorgt hätte, abgesichert. Die Ablehnung des Krieges und damit der Widerstand gegen die Neuorientierung der US-Außenpolitik war für die Bundesrepublik daher zwangsläufig vorgegeben. Deutschland musste geradezu gegen die USA auftreten, wollte es sein Selbstverständnis als Zivilmacht nicht verleugnen.36

3.2 … zur Durchsetzung von Interessen durch die Akzeptanz von Macht Neben den drei bisher erwähnten Erklärungsfaktoren – dem Verkennen des US-Bedrohungsgefühls aufseiten Deutschlands, dem wahltaktischen Kalkül 32 33 34 35 36

Stark Urrestarazu 2015: 178. Vgl. Hellmann et al 2014: 207. Vgl. Knelangen 2011. Vgl. Hellmann et al 2014: 222, 228. Vgl. Dalgaard-Nielsen 2005: 356 f., Risse 2004: 30.

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der SPD sowie der außenpolitischen Kultur – gibt es einen vierten Faktor, dem bisher zu wenig und wenn, dann unzureichend Rechnung getragen wurde: der machtpolitischen Motivation Deutschlands. Die außenpolitische Kultur der Zurückhaltung, die die Eliten der Bundesrepublik seit 1945 prägte, war nicht nur ein von Deutschland gemachtes Zugeständnis an die Fehler der Vergangenheit. Sie war vor allem auch der Schlüssel, damit sich die Bonner Republik überhaupt wieder als Staat im internationalen System bewegen durfte. Außenpolitik war nur im engen Rahmen dieser Zurückhaltung und innerhalb internationaler Institutionen möglich.37 Mit der Zeit lernte Deutschland aber, mit dieser Einschränkung zu leben, wenn nicht sogar davon zu profitieren. Um in der Außenpolitik erfolgreich zu sein, musste man nicht zwangsläufig auf altbewährte Muster zurückgreifen, sondern konnte die multilaterale Ausrichtung und das Zivilmachtskonzept zu einem Machtmittel machen. Die Rolle als Zivilmacht war somit kein Altruismus, sondern ein rationaler Entschluss, ein Maximum an Einfluss zu sichern.38 Es war daher nicht überraschend, dass sich die deutsche Außenpolitik mit Endes des Kalten Krieges und vor dem Hintergrund des strukturellen Wandels des internationalen Systems39 stärker an den eigenen Interessen orientierte und damit der »machtpolitischen Resozialisierung« 40 der Bundesrepublik Vorschub leistete. Zu diesen strukturellen Änderungen zählt zunächst ganz augenscheinlich der Wegfall der externen Bedrohung durch den Zusammenbruch der Sowjetunion. Damit war aus Sicht Deutschlands eine Unterordnung unter die Bedürfnisse der US-Schutzmacht nicht mehr notwendig und ein schrittweiser Emanzipationsprozess konnte in Gang gesetzt werden.41 Diese schleichende Entfremdung fand jedoch auch jenseits des Atlantiks statt. Europa als befriedeter Kontinent bedurfte nicht mehr der uneingeschränkten Aufmerksamkeit Washingtons. Aufstrebende oder instabile und daher strategisch wichtigere Regionen wie Asien oder der Nahe und Mittlere Osten gewannen für die US-Außenpolitik an Bedeutung. Beide Entwicklungen, das heißt die Emanzipation Europas im Allgemeinen und Deutschlands im Besonderen sowie die geografische Neuorientierung der USA sorgten

37 38 39 40 41

Vgl. Baumann 2011: 473, Hellmann et al 2014: 103. Vgl. Dettke 2009: 232, Kundani 2011: 33. Vgl. Kaim 2004: 127 f., Forsberg 2005. Hellmann 2004 b: 80. Vgl. Szabo 2004: 13.

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dafür, dass die gegenseitige Rücksichtnahme auf die Interessen des jeweils anderen rückläufig war.42 Aufgrund dieser Entwicklung änderte sich auch der Wert, den Deutschland der NATO beimisst. Das deutsche Engagement für eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) im Kontext der Europäischen Union ist ein klares Zeichen dafür, dass Deutschland die NATO nicht so sehr braucht, wie umgekehrt die NATO darauf angewiesen ist, Deutschland als aktives Mitglied in seine Operationen miteinzubinden.43 Damit verliert aber eine weitere Klammer der transatlantischen Beziehungen ihre Bindungskraft und sorgt für eine Beschleunigung dieses Entfremdungsprozesses. Begleitet wurde diese Entwicklung auf regionaler Ebene vom Aufstieg Deutschlands zur unumschränkten Macht in Europa. Dieser Aufstieg ist nicht nur das Ergebnis der deutschen Wiedervereinigung oder des schleichenden Rückzugs der USA aus Europa. Der Aufstieg hat auch mit der Schwäche und dem Unwillen von Staaten wie Frankreich oder Großbritannien zu tun, Führungsarbeit in Europa zu übernehmen.44 Hinzu kommt, dass der deutsche Führungsanspruch in Europa nicht mehr gefürchtet, sondern vor dem Hintergrund der Turbulenzen in der Europäischen Union (Stichwort Wirtschafts- und Finanzkrise) sogar erwünscht und regelrecht eingefordert wird.45 Deutschland füllt hier sozusagen ein durch den Rückzug und das Desinteresse der USA entstandenes, machtpolitisches Vakuum aus. Deutschland kann dieses Vakuum ganz im Gegensatz zu Frankreich und Großbritannien aber nicht nur füllen. Es erkennt und akzeptiert, dass die Übernahme von Führungsmacht in der EU, seine eigenen Machtressourcen noch erweitert. Das instrumentalisierte Verständnis der EU als Mittel zur Durchsetzung von nationalen Interessen wird von der außenpolitischen Elite der Berliner Republik mittlerweile anerkannt.46 Dieser Bedarf nach »Governance«-Leistungen47 findet sich aber nicht nur auf europäischer Ebene. Auch international hat Deutschland an Bedeutung und damit an Einfluss gewonnen. Seit Ende des Ost-West-Konflikts verliert traditionelle »Hard Power« als Mittel der Einflussnahme an Bedeutung und andere Fähigkeiten gewinnen an Wert. Das Vertrauen das Deutschland eben wegen seines Zivilmachtskonzeptes in der internationalen Staatenwelt genießt, prädestiniert die Bundesrepublik als Vermittler, Gestalter und Brü42 43 44 45 46 47

Vgl. Szabo 2004: 6. Vgl. Berenskoetter / Giegerich 2010, Hellmann et al 2014: 246. Vgl. Hellmann et al 2014: 240. Vgl. Hellmann et al 2014: 236, Hellmann 2015: 475. Vgl. Baumann 2011: 469, Hellmann et al 2007: 664. Maull 2008: 131.

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ckenbauer zwischen den unterschiedlichen Interessen aufzutreten.48 Damit generiert die deutsche Außenpolitik eine Machtressource, die wiederum direkt zur Verfolgung der eigenen ökonomischen Interessen eingesetzt werden kann. Wie Beobachter der deutschen Außenpolitik konstatieren, nimmt Geoökonomie und die Rolle eines Handelsstaates in der deutschen Außenpolitik eine immer größere Rolle ein, zulasten der normativen Elemente des Zivilmachtskonzepts.49 Vor diesem Hintergrund wurde der Irakkrieg und die Neuausrichtung der US-Außen- und Sicherheitspolitik deshalb abgelehnt, weil sie nicht nur der außenpolitischen Kultur als solcher diametral entgegenstanden, sondern weil damit auch ein wirkungsvolles Machtmittel zunichte gemacht wurde. Durch den Versuch der Neuordnung der internationalen Beziehungen durch die USA, wäre Deutschland um einen Teil seines Einflusses gebracht worden, was sich generell auf dessen Stellung im internationalen System, speziell aber auch auf die damit verbundenen geoökonomischen Interessen ausgewirkt hatte.50 Die Ablehnung Berlins gegenüber dem Krieg und dem US-Vorgehen hatte daher nicht nur normative Bedenken zur Ursache, sondern resultierte vor allem aus dem befürchteten Machtverlust. Diese Änderung des Seins spiegelt sich konsequenterweise auch im Bewusstsein wider, sowohl jenem der politischen Eliten, als auch jenem der Bevölkerung.51 Auch wenn in Deutschland immer wieder argumentiert wird, es würde als altruistische Zivilmacht agieren, wird deutsche Außenpolitik zunehmend instrumenteller und verfolgt gezielter nationale Interessen. Das zeigt sich deutlich im Diskurs der handelnden Akteure. Begriffe wie Macht, Verantwortung und Führung finden sich immer häufiger in öffentlichen Statements wieder.52 Wie Hellmann und andere zeigen, veränderte sich die Nutzung des Wortes »Verantwortung«, das in den außenpolitischen Reden an Bedeutung gewinnt. Der Begriff wurde sowohl zeitlich als auch räumlich umgedeutet. Aus einer Verantwortung für die Geschehnisse der Vergangenheit wurde eine Verantwortung für die Geschehnisse der Gegenwart und Zukunft. Und räumlich ist man nicht mehr nur auf Europa beschränkt, sondern sieht sich global gefordert, besonders im Rahmen der Vereinten Nationen.53 48 49 50 51 52 53

Vgl. Maull 1990, Maull 2008: 135, Dettke 2009: 244, Szabo 2015: 444. Vgl. Kundani 2011: 32, Maull 2014, Szabo 2015: 440 f. Vgl. Mützenich 2015: 285. Vgl. Hellmann 2004 a: 32. Vgl. Hellmann 2011: 738, 741; Hellmann 2015: 478. Vgl. Hellmann et al 2007: 668.

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Dieser rhetorische Wandel wurde sehr deutlich in den Reden von Bundespräsident Gauck und Außenminister Steinmeier anlässlich der 50. Münchner Sicherheitskonferenz 2014. Gauck verwies in seiner Rede ganz explizit auf den Zusammenhang von Deutschlands Rolle im Globalisierungsprozess und der damit verbundenen Verantwortung für die Bundesrepublik. Ein Deutschland, so seine Argumentation, das überdurchschnittlich von der Globalisierung betroffen sei und auch davon profitiere (vor allem wirtschaftlich), müsse an der Aufrechterhaltung und dem Ausbau des Ordnungsgefüges interessiert sein und sich pro-aktiver für eine multilaterale Weltordnung einsetzen. Der Schatten der Vergangenheit dürfe nicht als Ausrede für die Zurückhaltung dienen, sondern Deutschland müsse aktiv und besonders in Form der Europäischen Union seine Gestaltungskraft einsetzen, um einer multilateralen, internationalen Ordnung zum Durchbruch zu verhelfen.54 Ähnlich äußerte sich Außenminister Steinmeier, der Deutschland als »Impulsgeber« betrachtete und konstatierte, dass »Deutschland […] zu groß [sei, F. E.], um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren« und daher bereit sein müsse, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen«.55 Diese Forderung wiederholte der Außenminister in einer Rede anlässlich der Review 2014 deutscher Außenpolitik, als er von der Bundesrepublik forderte: »wir Deutsche [müssen, F.E.] unsere Stimme und unser Gewicht aktiv in die Waagschale werfen, um Bausteine internationaler Ordnung zu stärken, wo es sie gibt, und neue Bausteine zu formen, wo sie möglich sind.«56 Ziel deutscher Außenpolitik sollte daher nicht nur die Aufrechterhaltung des Status quo sein, sondern wenn möglich, auch die Transformation und der Wandel des internationalen Ordnungsgefüges im Sinne deutscher Interessen. Die Opposition der Bundesrepublik Deutschland gegen den Irakkrieg muss daher zusätzlich unter diesem Blickwinkel verstanden werden. Sie war ein Versuch des klassischen »Balancings« von Staaten, die auf die Veränderung von Machtverhältnissen mit Gegenkoalitionen reagieren.57 Der Irakkrieg und die damit im Zusammenhang stehende Neuausrichtung der US-Außen- und Sicherheitspolitik war aus deutscher Sicht vor allem ein Versuch, die Machtmittel und damit den Einfluss anderer Staaten im internationalen System, darunter eben auch Deutschlands, zu hinterfragen und zu beschneiden. Ein Staat wie Deutschland, der aufgrund seiner strukturellen Gegebenheiten und 54 55 56 57

Vgl. Gauck 2014. Steinmeier 2014. Steinmeier 2015. Vgl. Dettke 2009: 7.

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seiner fortschreitenden Emanzipation und Neuentdeckung von Macht durch diese Entwicklungen viel zu verlieren hatte, konnte daher gar nicht anders als in Opposition zu treten und den Konflikt mit Washington zu suchen.

4. Zusammenfassung und Ausblick Ziel diese Beitrages war es, die Frage zu beantworten, welche Ursachen das Zerwürfnis zwischen Deutschland und den USA im Hinblick auf den Irakkrieg 2003 hatte und inwiefern es sich dabei um ein temporäres »Missverständnis« oder eine strukturelle Änderung der bilateralen Beziehungen handelte. Wie ich argumentiert habe, waren vier Faktoren für dieses Zerwürfnis verantwortlich. Erstens beruhte das Zerwürfnis auf dem Unvermögen der außenpolitischen Elite der Bundesrepublik, die Bedrohungswahrnehmung der USA zu verstehen und ernst zu nehmen. Zweitens war die starre Opposition der Regierung Schröder auch das Ergebnis wahltaktischer Überlegungen. Der strikte Antikriegskurs setzte die SPD nicht nur von der CDU ab, sondern verhalf ihr zusammen mit den Grünen zu einem knappen Wahlsieg. Drittens ließ die außenpolitische Kultur der Bundesrepublik – eine Kultur der Zurückhaltung, der Ablehnung von Krieg als Instrument in den internationalen Beziehungen und der Betonung von Kooperation – Deutschland keinen anderen Spielraum, als sich gegen die USA zu positionieren. Das Vorgehen der USA gegenüber dem Irak und der generelle Anspruch Washingtons, den Status quo zu seinen Gunsten zu verändern und damit althergebrachte Grundprinzipien der internationalen Ordnung infrage zu stellen, standen dieser Kultur diametral entgegen. Damit war die deutsche Oppositionshaltung zum Krieg und zum Vorgehen der USA geradezu determiniert. Viertens, und neben der außenpolitischen Kultur der wohl gewichtigste Grund, war die Wiederentdeckung von Macht durch die Bundesrepublik und die damit verbundene Angst, die US-Außen- und Sicherheitspolitik könne diese Macht durch ihr Vorgehen nachhaltig schwächen. Schon die Bonner Republik hatte gelernt, dass die durch die außenpolitische Kultur auferlegten Schranken für Deutschland kein Nachteil sein müssen, sondern gezielt als Machtmittel eingesetzt werden können. Dieses Wissen wird von der Berliner Republik bewusst genutzt, um nationale Interessen zu verfolgen und der Welt wenn möglich, auch die eigenen Wertvorstellungen zu vermitteln. Die deutsche Opposition muss unter diesem Aspekt daher als klassisches »Balancing« gegenüber der versuchten Machtverschiebung durch die USA gesehen werden.

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Damit stellt sich abschließend die Frage, welche Auswirkungen dieses transformative Ereignis58 auf die bilateralen Beziehungen für die Zukunft hat. Es ist auszuschließen, dass Deutschland einen permanenten Konfrontationskurs mit den USA einschlagen wird. Dazu sind die beiderseitigen Interessen zu eng miteinander verwoben und beide Staaten zu sehr aufeinander angewiesen. Ziel deutscher Außenpolitik wird es daher sein, auf die USA einzuwirken und sie »bei ihrer Positionierung im Sinne einer Orientierung an der Rolle eines liberalen Hegemons«59 zu unterstützen. Solange die USA der Kooperation mit den eigenen Allianzpartnern den Vorrang vor Alleingängen geben und solange sie sich innerhalb internationalen Institutionen (egal in welcher Form) bewegen, solange wird die Bundesrepublik die USA unterstützen und gemeinsam mit ihnen handeln. Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Berliner Republik auch in Zukunft bereit sein wird, sich gegen Washington zu stellen, wenn die Grundprinzipien deutscher Außenpolitik oder deutsche Interessen und deutscher Einfluss infrage gestellt werden. Deutschland ist mittlerweile kein Juniorpartner der USA mehr, sondern sieht sich als gleichberechtigte Gestaltungsmacht in einem geänderten internationalen Umfeld.

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The German TTIP-Initiative and GermanAmerican Relations What Can Still Be Saved?

The German TTIP-Initiative and German-American Relations The German TTIP-Initiative and German-American Relations. What Can Still Be Saved?

1. Introduction The title of this essay is meant to provoke twice over. First, if one were to conduct an informal poll among Germans about who pushed for the Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) initiative, most Germans would likely say American business interests. Political cartoons in prestigious German newspapers have provided images of either Germans dancing to the tune of the TTIP-»American capitalist piper« or being »über den Tisch gezogen«, i.e., being »pulled over the table« by TTIP-»American interests«.1 As we know, images inform language, and language informs logics, and narrative logics inform political frames from which emerge policy choices. For many Germans, TTIP took on the image and story from early on of another round of American hegemonic ambition, threatening the country with an »alternativlos« situation where citizens would be »gezwungen« or forced to accept or be occupied by interests of an »arrogant« power. In important respects, TTIP is not a cause of German-American discord, but rather a contemporary symbol reflecting an established narrative about America with which sizable portions of the German population locate »Amerika« on their political maps. TTIP has helped them reaffirm their »cognitive ideological cartography« afresh. The reality is that TTIP was launched importantly because of German strategic interests, and the influence and power of Angela Merkel, especially in Washington D.C. The Obama administration »came late to the party«, thinking that TTIP stood hardly a chance because of the already existing, deeply extensive, democratic architecture through which a trade agreement would have to pass in the European Union and in Germany. Merkel used her 1

See for example the lead political cartoon in the Süddeutsche Zeitung from January 20 2015, where the »Uncle Sam Pied Piper« plays his flute while following the path sign »KonzernInteressen« as the »simple citizens« in the form of the EU (Jean-Claude Juncker, President of the European Commission) and Germany (Angela Merkel, Sigmar Gabriel) follow enthusiastically.

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singular caché in the American capital to help sway the president toward her view of the possibilities and necessity for a new transatlantic trade regime that would shape Europe, the transatlantic alliance, and global politics for decades to come. In short, TTIP has always been the alternative of »alternativlos«; it has been from the beginning a direct extension of calculated choice in Berlin of how best to pursue core German national interests. The title offered here is also meant to confront us with the reality that TTIP can fail. As of the original writing of this essay in June 2016, the general consensus among those involved either in analyzing or negotiating TTIP is that the anti-TTIP-movement had better captured the public imagination and swayed democratic sentiments against the trade initiative, at least in Germany. That is perfectly legitimate; it is democratic politics. And certainly Germany and the United States are bound (and challenged) by open, competitive political systems where the inability of political, economic, and societal leadership to provide compelling narratives in favor of important voter choices can leave electoral openings that will be filled (like vacuums always are in open systems), be this from the likes of an ambitiously protectionist Donald Trump or a strongly anti-American »Alternative für Deutschland« (AfD) movement. One thing is clear: TTIP is a once-in-a-generation opportunity. If it fails, neither politicians in Germany or America will want for many years to come to invest so much political capital again for such an uncertain outcome. The Obama administration was not interested moreover in a truncated or mini-TTIP. The successfully concluded Pacific version of TTIP, the Transpacific Partnership (TPP), has provided a concrete example for the American political class of how ambition, determination, and willingness to compromise can lead to a grand bargain with tectonic geoeconomic and geopolitical implications. As with TTIP, America »came late to the party« regarding TPP; it was the initiative of its Pacific partners that America then joined in the effort to shape Pacific politics. The Bush administration and then the Obama administration understood finally that TPP was about Pacific actors from Peru to Australia to Vietnam wanting to shape a Pacific regional identity and system of governance and government that could serve as a »Gestaltungsmacht« or instance-of-authority beyond the growing influence if not perceived dominance of China. Chancellor Merkel’s calculations are not dissimilar. In fact, TTIP, and indeed the Euro project, have been primarily political projects from early on. Both TTIP and the Euro are ultimately meant, as with the open-borders Schengen regime, to help create a further integrated European economy that can provide sustained growth and thus options for Europe to maintain an expected lifestyle and exercise influence, yes power, at the 21st century table of global geoeconomics and geopolitics.

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The failure of TTIP would thus be a major blow to German interests. While TTIP may seem passé under the Trump administration, unlike with TPP which the president has formally rejected, TTIP has simply been placed »on ice« since there was no final agreement when he came to power. The final failure of TTIP would certainly represent the loss of a singular opportunity to build a more integrated and thus more vital European economy. It would also signal to American elites that Germany could not move beyond a form of political provincialism, i.e., nationalism, and articulate and pursue interests in a broader European and international context. Germany would certainly not be alone, indeed the zeitgeist seems increasingly shaped by a nationalist-populist protectionism from many corners of Europe and certainly America. But the German political project since World War II has been admiringly open and progressive about the effort to discourage such sentiments and political movements. TTIP thus provides for Germany, and certainly the United States, a momentous opportunity to show the international community how it can pursue successfully a grand transnational project with confidence, constructive pragmatism, and compromises that do not undermine national interests but rather, as in past efforts to build Europe and the transatlantic community, reflects their realization. In short, even under a Trump administration, and a more complex political reality in Germany after the 2017 national elections, TTIP can be seen as more necessary than ever for the transatlantic community.

2. The World Won’t Wait TTIP is part of a larger story involving for Germany and the United States multiple broad challenges to concepts of security and »Ordnung«. The eurozone crisis for example struck suddenly and sucked Germany into a vortex of crisis management and deep national choices with European, transatlantic, and global implications. The very same can be said about the Ukraine crisis, the Syrian crisis, and by extension the refugee crisis. Both the United States and Germany have been confronted with fundamental debates about what is meant by national security, national interests, and democratically legitimated strategies for a country to pursue and to uphold while adapting national systems of political, economic, and social order. Many voters in both countries have a palpable feeling that their respective countries are »losing control« of self-determination and national agency or genuine choice among policy options. Opinion polls for Barack Obama, Donald Trump, and Angela Merkel make this abundantly clear, as voters

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by clear majorities disapprove of the direction in which their countries are moving, in short, how they are being governed.2 The 2017 German national elections underscored this observation. TTIP has certainly contributed to this growing anxiety among many Germans about »losing control«. Fears about TTIP are also a symptom of a larger tectonic shift in national, regional, and global politics. While there have clearly been momentous developments in security politics since the end of the Cold War – the unraveling of ex-Yugoslavia, September 11th, the fallout from the Arab Spring – recent developments can arguably be seen as providing a more immediate impact on German perceptions of stability and security: fears about the sustainability of a currency, conflict with Russia, surges in refugee flows, and a possible trade regime that could revamp cherished socio-economic values. Both East and West Germany lived daily during the Cold War with immediate security threats and in a system where preparing for war was part of regular national politics, be it in NATO or the Warsaw Pact. That being said, social systems, daily life, and domestic »Ordnung« were largely stable, and relatively speaking, the world was in order. Those relatively stable political, economic, social, and even cultural borders no longer exist. This involves of course no master plot against Germany or America, but a world system that is undergoing globalization, democratization (popular uprisings), technology upheaval, and nationalization simultaneously. There is no »Ordnungsamt« for global politics. These trends have long precedents, multiple causes, and cannot be slowed down. The world won’t wait. The confusion, anxiety, and even anger that these tectonic developments can cause is certainly evident in American politics, where the presidential elections shaped up as a competition between a narrative of closing the borders and fighting anyone challenging America (Donald Trump) and pushing forcefully for substantial increases in government power to build an European-inspired socialist economic order (Bernie Sanders, who calls himself a democratic socialist inspired by European examples). Voices of moderation or the political center in the United States are experiencing the most difficult political season in a generation. Trade politics certainly belongs in America to the category of issues where voters want more control and less of a feeling of being »overrun«. The Pacific version of TTIP, the Trans-Pacific Partnership (TPP), mobilized many groups in America against further liberalization of the country’s trade 2

For Germany and Merkel, see Frankfurter Allgemeine Zeitung 2016; for United States and Obama, see Gass 2015.

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regimes. Unions, environmental groups, and religious groups, for example, have organized and expressed strong opposition to TPP. That is why it was relatively easy for Donald Trump to be against TPP, and withdraw the United States (whatever the economic and geoeconomic implications) from the agreement. Unions fear more factories being shipped overseas to countries where production costs are much lower (indeed this is why so many union members voted for candidate Trump and his anti-TPP politics); environmental groups fear the further exploitation of rain forests and other irreplaceable natural resources for relatively quick profits; and religious groups have expressed deep concerns about labor and human rights and the plight of families in the context or urbanization, industrialization, and the uprooting of traditional cultures. The power of these voices of protest can be measured by the fact that no major candidate for the 2016 presidential election expressed open support for TPP, indeed candidates stressed what they saw as the larger problems with TPP. The agreement has been finalized and signed. The some 6,000 pages of the final text can be read in full online.3 America actually has a rich tradition of anti-free-trade politics. The political battle around NAFTA, for example, was long and contentious, and the treaty barely received Congressional approval in 1993 (House of Representatives voted 234-200 in favor; Senate 61-38). President Bill Clinton had to rely on broad Republican support; NAFTA would not have passed in Congress based solely on the support of his own Democratic party. The contemporary anti-globalization movement arguably experienced its defining moment later in the 1990s during the »Battle of Seattle«, as tens of thousands gathered on the American west coast to protest World Trade Organization plans to initiate a new round of global trade liberalization. The images from Seattle helped mobilize a global grass roots movement against greater free trade. NAFTA and Seattle are part of a long American tradition of protest politics against economic liberalization and globalization going back at least to the later 19 th century and the birth of the Populist Party. NAFTA is still contentious in American politics, as seen by president Trump attacking it so vigorously. That being said, it is worth noting that the final push for NAFTA and the initiation of TPP did not start in Washington D.C. Neither reflected grand strategies for American hegemonic or imperial design. The Mexican political and economic class, for example, strongly wanted NAFTA to become the premier regional trading regime (and were deeply upset when President 3

It can be downloaded at the Office of U.S. Trade Representative (https://ustr.gov/trade-agreements/free-trade-agreements/trans-pacific-partnership/tpp-full-text).

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Clinton asked for labor and environmental modifications to the finished agreement). TPP received its impetus from Pacific countries from Peru to Australia to Singapore to help create a multilateral governance structure for regional trade. When America saw that TPP had good chances of becoming the premier Pacific trade architecture, it signaled its willingness to actively participate in the negotiations. Members of the transpacific space thus made clear to America that the world would not wait for it to sort out its national politics, or put differently, to move beyond its more provincial debates about national interests and politics.

3. Critique, Democracy, Constructive Engagement »Mündige Bürger« or citizens with voice thus has a long tradition in American and German trade politics. TTIP has received relatively little attention in the United States since TPP had been much more pressing in terms of nearing completion, and importantly, seen as more threatening for different American interests, from labor to religious to environmental critiques. In academic jargon, the economic asymmetries between say Vietnam and America are starker than they are between America and Austria (also strongly against TTIP). Even TTIP in Germany hardly caused a stir at first. Germany’s political class actually anticipated TTIP to run a similar technical policy course as it had with CETA – the Comprehensive Economic and Trade Agreement with Canada – where dedicated client politics took place but with broad public protest or engagement playing no sizable role. In the 2013 Koalitionsvertrag, for example, TTIP warranted barely a line in the final text.4 As Economics Minister Sigmar Gabriel recalls when he visited local SPD meetings in summer and fall of 2013 (TTIP was formally launched 17 June 2013), citizens were much more concerned about retirement payments, health insurance, and the future of Hartz IV.5 Reflecting the observations above about geopolitical and geoeconomic motivations for the Grand Coalition’s ambitions with TTIP, the first and largest chapter of the Koalitionsvertrag is entitled »Wachstum, Innovation und Wohlstand« 4

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»Genauso wie den Erfolg der Verhandlungen der Europäischen Union über ein Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) streben wir auch den zügigen Abschluss weiterer Handelsabkommen mit dynamisch wachsenden Schwellenländern an.« (CDU / CSU / SPD 2013: 15). For a fuller analysis of how TTIP protest evolved and then swelled in Germany, see Bollmann / Nienhaus 2015. As the authors conclude: »Kein Politiker hat sie kommen sehen, kaum ein Journalist, ja nicht einmal die früher Gegner selbst ahnten, dass der Protest so groß werden würde.«

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and stresses how fundamental the liberal and open global trade regime and Germany’s exports-driven economy are for the country. TTIP may well become a case-study for programs in diplomacy about the democratization of international political negotiations and the fundamental importance of constructing clear and concise narratives to convince citizens of the necessity for international engagement and interdependence. Some might wonder how TTIP can be an example of democratization, considering the relative secrecy of the negotiations (more on this later), but the grassrootsbased and highly effective opposition to TTIP underscores that the »demos« or the people can practice »kratie« or governing power when it comes to constructing agendas for major international issues. Germany’s and America’s political classes were clearly caught off guard by the well-coordinated, socialmedia-driven opposition to TTIP. German and American administrations were correspondingly slow to react, and in a reminder of the classic rule of politics, a vacuum will always be filled, in this case, the narrative vacuum. The two dominant images of the first round of TTIP from roughly fall 2013 to fall 2015 became the fabled »Chlorhühnchen« and the mystical »Paralleljustiz« of the so-called arbitration courts. Settled in the public mind, proponents of TTIP had a difficult road ahead to contextualize these images. TTIP also reminds us of another important rule of modern democratic politics. For the German and American governments, the trade initiative was an intellectual, geopolitical exercise about rational interests. For opponents, it is rather about a »way of life«, about fundamental values, in short, about a singular cause with a deep emotional resonance. That is perfectly legitimate and even vital for a robust culture of participatory democracy. But it also means the willingness to fight for a cause brings a different political will to the issue. Complicating the challenges of the certainly intellectually structured but also emotional focus of opponents to TTIP is the fact that for supporters of TTIP outside of government and policy circles, assessing possible benefits from trade remains a relatively abstract exercise. One is philosophically for liberalization of trade (subscribes to The Economist etc.), and supports the argument that greater free trade will indeed enhance the overall German, European, and transatlantic economy.6 In short, proponents of TTIP lack 6

As for the impact of liberalizing trade for economic performance, economists debate this intensely still. Among American economists, for example, an animated debate is taking place about the possible consequences of TPP for American employment and economic growth. For an overview of the debate, see Calmes 2016. A similar debate is taking place naturally about possible implications of TTIP, with clear conclusions being debated energetically by opponents and proponents. There is however a general consensus that Germany’s strongly export orientated economy would be one of the main beneficiaries. See for example the study Global Economic Dynamics / Bertelsmann Foundation 2013.

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the same intensity of voice and agency that epitomizes the language of their opponents, who see a grand cause, not an important opportunity. This contrast can be seen in that the social-media campaign against TTIP has been accessed by millions around Europe, while the extensive information about the content of TTIP available on German, EU, and American government websites has been viewed by only a few thousand people. The anti-TTIP campaign does not have more information, just more accusations, fear, outrage, and by extension, intensity.7 In this sense critiques of trade are often an extension of critiques about competing systems of economic order and activity. Indeed, just as America has had a contested relationship with free trade, so too has its relationship with capitalism been complicated. As the historian Joyce Appleby explains in her excellent study, The Relentless Revolution: A History of Capitalism8, America has always debated itself about the disruptive nature of capitalism and what it implies for models of societal and indeed moral order. Religious groups, civic groups, reform groups, unions, indeed arguably the world’s first modern populist movement, the Populist Party in the later 19th century, all have argued for curtailing what were seen as the excessive if not destructive forces of capitalism. As Seymour Martin Lipset and Gary Marks argue in their study, It Didn’t Happen Here: Why Socialism Failed in the United States9, capitalism remained the dominant and central American narrative importantly because of the country’s immigrant history and the ongoing ability of American elites to sufficiently reform capitalism to save itself from itself, whether with Theodore Roosevelt’s progressive Square Deal at the turn-of-the-century, or Franklin Delano Roosevelt’s New Deal during the 1930’s. Barack Obama sought to implement similar reforms – see his Affordable Care Act or national health insurance initiative (something Theodore Roosevelt also tried, but failed). And for understandable reasons, Americans continue to have a complicated relationship with capitalism. Germany’s relationship with capitalism one can argue has been even more complicated. As commonly known, the word »Kapitalismus« was coined by Karl Marx, and not to praise, but to condemn it.10 Interestingly, the German

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See for example Liebrich 2015. See Appleby 2010. See Lipset / Marks 2000. For an extended analysis of German »cultures of capitalism«, see Berghahn / Vitols 2006 especially the Introduction by Jürgen Kocka. For an excellent collection of comparative essays about the emergence of German and American models of societal order, see Mauch / Patel 2010 a, especially the introductory chapters by the editors (Mauch / Patel 2010 b).

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translation of Joyce Appleby’s book The Relentless Revolution11 carries the title Die unbarmherzige Revolution. Eine Geschichte des Kapitalismus12, which has a clearly different, negative connotation, signaling not disruption but a type of brutality to be associated with capitalism, a »Kaltherzigkeit«, which the author does not argue in her book. Certainly American capitalism has been seen as threatening by German elites ever since the 19 th century. Bismarck rearranged German domestic politics with his »iron and wheat« coalition to importantly engage and resist America’s surging agricultural and industrial export economy. Germany itself was becoming of course a leading global export economy. Many German firms also saw great opportunity in America. Indeed, by summer 1914 the United States and Germany were the world’s two leading economies, having surpassed Great Britain. The standardization and mass production of Fordism or a modern industrial economy in the earlier 20 th century would also find many critics in Germany, and many supporters. One can observe similar conflicts, contestations, fascination, and proponents of the current surge of the information economy (the digitalization phase), and the animated German debate around »Industrie 4.0« (or in the United States, »the internet-of-all-things«).13 »Kapitalismuskritik« and perceiving »Amerika« as an exporter of an »unbarmherzigen Kapitalismus« or Manchester Capitalism has in short a long and thick tradition in German politics and public debate. As former chancellor Gerhard Schröder put it, Germany does not want »amerikanische Verhältnisse«.14 Opponents of TTIP were able to very effectively place a public narrative early in the debate about how TTIP = Globalization = Americanization = Destruction of German-Way-of-Life.15 As a populist message, this strategy 11 See Appleby 2010. 12 See Appleby 2011. 13 Captured very nicely in the Süddeutsche Zeitung in its story about its 2015 »Wirtschaftsgipfel« held in Berlin. The title for its reportage about a panel discussion with Reiner Hoffmann, head of the DGB, Joe Kaeser, CEO of Siemens, and Günther Oettinger, the EU Commissioner for Energy and former Minister-President of Baden-Württemberg, reads »Die menschliche Seite: Wie sich Europa gegen die Übermacht der USA zu wehren versucht« (Bernay 2015. 14 See Rheinische Post 2001. The metaphor of »Amerikanische Verhältnisse« has a powerful pull in German politics across the ideological spectrum. During the 2002 national election, Schröder’s opponent Edmund Stoiber would also proclaim »Die Arbeitnehmer und ihre Familien erwarten zu Recht auch Sicherheit. Deshalb wollen wir keine amerikanischen Verhältnisse« (see Leinemann 2002). For an overview of the anti-American-image in German political economy, see Gersemann 2004. 15 As Bollmann / Nienhaus (2015) in their lengthy reportage on TTIP concluded, »TTIP ist zu einem Kürzel für alles Übel geworden, das die Globalisierung über Deutschland und Europa bringen könnte.« And further in their analysis: »Zu allem kommt etwas, das die Aktivisten

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has combined conservative and progressive vocabularies. TTIP would threaten everything from German food, books, schools, and culture, i.e., German traditions, even Germandom. Simultaneously, it would threaten German justice, jobs, and social solidarity. Important elements of the populist critique come for example from Die Linke and members of the SPD more inclined to support Andrea Nahles than the more centrist Sigmar Gabriel.16 Among conservatives sympathy for this narrative can be found among cultural conservatives in the CDU and CSU, and much more starkly, the anti-American nationalist-conservatism found among the broader AfD clientele. As for the left – and with populist narratives the left and right are often hard to distinguish – we have a political vocabulary and narrative stretching back to Marx, Rosa Luxembourg, Theodor Adorno etc. about the instrumentalization of citizens, their commodification, the various fetishes of capitalism, and the relentless pursuit of economic growth. The Deutsche Gewerkschaftsbund-led TTIP protest in Berlin on October 10 2015, that gathered around 250,000 supporters, was in part a public protest and festival in support of this narrative. Interestingly, according to a May 2015 survey by the Pew Research Center about German-American relations, the more education one has in Germany, the more likely one is to be against TTIP (the opposite is true in the United States according to the same survey).17 Possible explanations could include the fact that for millions of Germans struggling with monthly living costs, concepts around relatively elevated life-styles involving printed books, universities, and organic food do not have central meaning in their daily lives (per the sociology of consumption and education).18 And as the Ministerpräsident of Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann (part of the so-called »realo«-faction of the Greens) put it in a lengthy interview about TTIP in Handelsblatt, TTIP promises unequivocally to strengthen the German »Mittelstand«, the provider of 80 percent so-called good new jobs for the German economy.19 For the millions of Germans struggling with minimum-wage-jobs or part-time-work, the possible creation of promising new jobs surely sounds attractive compared to narratives warning of losses to

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auf beiden Seiten nicht gerne hören: eine diffuse Angst vor Amerika. Sie grassiert unter den Deutschen seit jeher. Mit dem TTIP bekommt sie neuen Anlass, offen zutage zu treten.« See for example Süddeutsche Zeitung 2014 a. Pew Research Center 2015. As Patrick Illinger (2016) argues in a pointed essay, »der Gedanke, elitärer Konsum löse globale Herausforderungen, ist albern. Und Selbstbetrug. Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik nennt es ›die symbolische Ökonomie eines Avantgarde-Bewusstseins‹«. See Kretschmann 2015.

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one German-way-of-life that holds less meaning for them in the first place. And for those millions of Germans enjoying work in stable firms and with stable contracts, there is good reason not to fear a »hire-and-fire-culture« as it exists in the United States. This is all the more true as Germany continues to enjoy record results for its export economy. Indeed, the Pew Study underscores that a clear majority of Germans do not fear that TTIP will lead to job losses and lower wages (only 17 percent said it would).20 The Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) leadership is clearly aware of this dichotomy, and thus announced that its TTIP protest in Berlin in October 2015 was not against TTIP writ large, just the way the negotiations were proceeding. Sigmar Gabriel as Economics Minister made clear he did not find the DGB event particularly helpful or constructive, although naturally an unquestionable democratic right to express voice and protest. Indeed, Gabriel emerged rather as the leading voice in Germany trying to construct greater consensus in German society for the relative benefits of a TTIP agreement. Chancellor Merkel clearly left »the heavy democratic lifting« on TTIP to her social democratic colleague, only occasionally expressing her support for the initiative (one can certainly argue her »plate was full« with the refugee crisis for example). Sigmar Gabriel on the other hand has given many interviews, engaged many public fora, debated his own party repeatedly, and sought to maneuver the »supertanker of public opinion« more clearly in the direction of freer trade being in German interests.21 In doing so, he has addressed the three main perception problems around TTIP in German debates that shape squarely national perceptions of American interests, power, and purpose in transatlantic relations: Standards, Arbitration, and Secrecy.

4. Tackling »The Big Three« The afore-mentioned Pew study on German-American relations underscores that among German opponents of TTIP, the main fear is about the possible 20 This is likely to be explained by the robust social and employment protection architecture that Germany has in place and that helps reduce (at least in the shorter run) the socioeconomic disruptions caused by economic change and especially the so-called Great Recession of 2008. For a very insightful comparative analysis of German and American political economies in contemporary times, see Hall 2013. 21 See for example his extensive page two interview Gabriel 2014. Gabriel has achieved clear successes as well, getting the SPD to approve of his TTIP strategy at the 2015 Party Convention (see Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015). He paid the political price, however, with TTIP playing a clear role in party members reelecting him as chairman with the worst result for him to date.

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deterioration of German standards (this being cited by some 65 percent of opponents as their main objection). Any round of trade liberalization involves dozens if not hundreds or even thousands of standards that need to be considered, coordinated, perhaps compromised. The world’s arguably most successful and substantial example of such processes leading to a greater public good is European integration. Pursuing European economic integration has involved from the beginning compromises of often cherished national standards and interests by all parties concerned. No country has been left »unshorn«. Henry Kissinger has defined successful diplomacy as assuring that all participants have made compromises but not so many as to abandon the effort to reach an agreement.22 The clearly beneficial result of so much open critique in the German TTIP debate about possibly lowering German standards is that it has led to a more transparent and fact-driven discussion about which national standards are threatened by TTIP. Indeed, in some areas TTIP might actually enhance German standards that lag behind the United States in important areas of human health and safety. One of the issues, for example, that has been highlighted by opponents of TTIP to consolidate opposition are possible implications for food safety, especially in the poultry industry. The »Chlorhühnchen« has become a powerful symbol of what is viewed as American »big business food« that is forced upon consumers and threatens citizen health. The German Bundesamt für Risikobewertung has conducted its own independent studies of how best to prevent potentially deadly salmonella in poultry and come to the conclusion that a »chlorine bath« has no ill side effects for the consumer and is actually a more reliable protection against salmonella than the current German practice of injecting antibiotics into poultry.23 Indeed, if one takes a step back from the debate and considers tangible health risks, it is clear that the current German practice is more damaging to public health. There has not been any reported cases of ill effects from chlorine-bathed-poultry among American citizens (nor for that matter, among the millions of German tourists who have eaten Kentucky Fried Chicken etc.), but there is a very clear record of rising resistance to antibiotics in western societies, an especially troublesome issue for children and for handling acute infections. Based on the conclusions of German science, and national concerns about public health, Germany would

22 Or put more precisely, »The test is not absolute satisfaction but balanced dissatisfaction« (Kissinger 2014). And then there is of course his classic study, Diplomacy (see Kissinger 1995). 23 See Tagesspiegel 2014.

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need to immediately stop injecting antibiotics into poultry and introduce a chlorine-bath-regime for its poultry products.24 Arguably the second most powerful image in the TTIP politics has been that of the ISDS – Investor-State Dispute Settlement mechanism or arbitration courts. ISDS has been embedded in the public imagination as a type of privatized, secret system of »capitalist justice« or »parallel justice« that represents an extension, certainly not of German business interests, but essentially American capitalism. American businesses are indeed interested in this arbitration mechanism, and it has been included in the TPP agreement, codified in some 22 pages of legal architecture and norms. The United States has its own experience with domestic critique of arbitration courts, especially during the NAFTA negotiations that led to the establishment of a special »court system« where business interests from Mexico, Canada, and the United States can take their complaints (as for example a Canadian energy company did after President Obama turned down the Keystone pipeline that was to extend from Canada to the Gulf of Mexico). Of course, as now generally known, the ISDS is an international legal institution constructed and implemented for the first time by Germany in 1959 and that Germany has insisted on including it in the over 100 trade agreements it has worldwide. German ministers from all major parties have overseen their introduction and implementation for decades without any larger public critique to date about their existence and their use by Germany around the world. Indeed, the ISDS mechanism was also included in the Canadian version of TTIP, CETA, and actively encouraged to be included by Germany and the EU. Again, during the CETA negotiation process, there was no larger public critique in Germany of including ISDS in the final deal (until the very final phase of negotiations). As the UN (UNCTAD) has concluded, the most active users of the arbitration mechanism are actually EU member states, among them chiefly Germany. It is even used within the EU to settle differences about investment rules and rulings, and has been for many years.25 It is thus fair to ask in the context of so little public protest to date against ISDS in German democratic debates about national interests and values, EU institutions, or trade with countries around the world including Canada – 24 TTIP involves actually and importantly the »harmonization« of standards, i.e., mutual-recognition. This means standards would essentially be left intact, but could not be used to hinder trade. For a nuanced analysis of American and European / German interests involved in TTIP and current standards and regulations, see, Ville / Siles-Brügge 2016. 25 For a good overview of ISDS in a transatlantic and global context, see Donnan 2014. For a more focused look at German and European use of ISDS, especially how the German government helps German businesses use this instrument, see Süddeutsche Zeitung 2015 a.

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why now? One can only speculate about possible answers, including that recent tensions between Germany and the United States, like the NSA-affair, have eroded German trust in America and thus led to greater suspicion in general about the behavior of Washington D.C. Just as plausible an answer could be that as long as German elites concluded that ISDS clearly served their national interests as it did for decades, there were no moral qualms to consolidate and instrumentalize on the public stage of democratic politics. Another possible answer could involve general anti-American and anti-capitalist sentiments being activated among German elites by the overall antiTTIP movement which then focused attention on the ISDS institution. We did see, for example, calls for its removal or strong reform in the CETA agreement.26 To be consistent of course, Germany would have to go back and remove ISDS from all its trade agreements around the world, including within the EU, to prevent any form of parallel justice for the country’s economic interests. Otherwise the country would be standing for a de facto ad hoc international legal system and not a uniform »Rechtsstaat’s« approach to public transparency and accountability. The last of the Big Three controversies around TTIP beyond Standards and Arbitration is the issue of Secrecy. Of course the German Chancellery and the EU negotiation team know about the evolving details of an emerging agreement, but distributing those developments among members of the »Bundestag« or Congress let alone broader publics has been strongly curtailed if not cut-off. Turning toward the Pacific, this was also the case with the negotiations of the TPP agreement, and also caused in America strong protests among diverse grassroots groups. One can of course be against secrecy during negotiations as an approach to politics, and exercising pressure to release details of the negotiations is part of fully legitimate, even necessary, democratic practice. It compels those in power to justify secrecy and retains pressure to inform publics about developments on government activity that potentially can impact a wide array of public interests. As is, however, also the case with Standards and Arbitration, Secrecy is a TTIP issue that when placed in a comparative and contrastive framework reveals lacunae or inconsistencies in public critiques that lead to important questions about ongoing influences on German-American relations. CETA was also negotiated in similar secrecy, for example, and that did not cause any public outcry of notice in German politics. Indeed, the EU and 26 Due to the final wave of German protest and that to be found in other countries with skeptical cultures toward trade such as Austria and Belgium, the final mechanism for a court of arbitration was provided a more formal, state-driven architecture. If it is to reduce the role of special interests and domestic politics in any decisions is of course a fully open question.

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Germany want and need such secrecy to negotiate any successful trade agreement with partners around the world. Broad trade agreements are by their nature frameworks that impact dozens if not hundreds of particular interests throughout a society. Any concessions will most likely lead to a very focused political and public relations campaign to scuttle or torpedo that »piece of progress« in the negotiations. Again, that is perfectly legitimate, but underscores the observation by many students of politics that perfect democracy is a paralyzed democracy. That is why governments, and certainly those in Berlin, Brussels, and Washington D.C., regularly negotiate agreements in secrecy and often restrict information as much as possible until an agreement is reached that can then be presented for democratic debate and possible legitimization (votes of approval). The German government has been practicing this form of liberal politics for decades. Perhaps not surprisingly, neither the Merkel government nor the EU Commission has rushed to announce that. Like the US government, they actively pursue secrecy during the negotiations. Washington D.C. could call the Berlin-Brussels-Bluff, and simply state, fine, let us create complete transparency of the ongoing negotiations. This would most likely end any meaningful negotiations, however, and thus hurt American interests, but of course the core interests of Berlin and Brussels too.

5. Articulating Interests Indeed, the TTIP initiative was pushed by Chancellor Angela Merkel so strongly before its formal launch in 2013 for reasons of German interests and models of European and transatlantic order. Even reaching back to the 1990s, Angela Merkel was intrigued by the then New Transatlantic Agenda (NTA) launched in 1995 to promote greater European and North American integration, especially economic deepening of the relationship. Twenty years ago, efforts at transatlantic economic liberalization also quickly became mired in broader transatlantic politics of security, including the unravelling of former Yugoslavia, ongoing tensions with Iraq, and Russian geopolitics in eastern and southeastern Europe. For the next two decades, the vision of a North Atlantic Free Trade Zone gathered greater attention at different intervals, only to quietly slip away as the enormity of the exercise discouraged both sides of the Atlantic from expending serious political capital on its realization. A combination of global, European, and transatlantic developments however refocused especially the German chancellor on the importance and possibilities of a transatlantic free trade regime. As the Süddeutsche Zeitung

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journalist Stefan Kornelius, in arguably the best biography to date of Angela Merkel, narrates it, the German chancellor experienced a paradigm shift in her »Weltanschaung« during her visits to China when she experienced the enormity of the country’s economic power, energy, and ambition, and its long-term patience to achieve realpolitik goals of regional and global influence and power.27 It became clear for her – and more generally for the current leaders in the German political class – that China respected the United States for its economic power and vitality (public statements to the contrary notwithstanding), and saw Europe rather as an opportunity to challenge American power, but not as a global power in its own terms. For Europe to enjoy a genuinely independent and powerful voice at the table of 21st century global politics, Merkel concluded, Europe must build an integrated, liberalized, dynamic economy that could afford not just the expected social state, but the wherewithal to pursue a more ambitious global geopolitics. This conclusion accounts centrally for Merkel’s unwavering ambition to see the Euro succeed as a global currency to compete with the Dollar and the Renminbi and as a vehicle for European integration. And as for TTIP, it should not just bring greater growth to Europe, but ultimately help integrate and liberalize the EU economy, positioning Europe for a structural shift to sustained economic growth and enhanced material power (that in turn naturally would provide support for the strength and prestige of the euro). President Obama understood these goals pursued by the German Chancellor and supported them fully. More so than perhaps any president since World War II, he supported greater EU integration as part of his overall global security strategy to reduce American commitments around the world and to enhance the abilities of regional powers with global interests to help build and support a global architecture for stability and »Ordnung«. Nevertheless, he was clearly dubious about the chances of TTIP to actually succeed. The intricate democratic rules for a TTIP agreement to become EU law – needing to receive approval from all 28 EU member parliaments plus the European Parliament28 – meant any final agreement would likely 27 »Da ist es also wieder, Merkels ganz großes Leitmotiv vom Wettlauf der Systeme, von der Überlebensfähigkeit des Westens und seiner Werte. Wir oder die – das freiheitliche System des Westens oder das autoritäre System Chinas. Das ist in Merkels Augen die eigentliche Mission, die sich hinter all den Reisen, den Bilanzen und den Freundschaftsgesten verbirgt.« Kornelius 2013: 211 28 Indeed as the President of the German Bundestag, Norbert Lammert, argued in a lengthy essay entitled Gut gerüstet (Lammert 2015), addressing the democratic powers that Germany and EU member states have in foreign and trade policy. As he concluded, »Ist das Parlament in der Außenpolitik ohnmächtig? Die europäische Integration und die Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP zeigen das Gegenteil.«

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have the same chances of success as the once heralded EU Constitution. The highly pragmatic American president, socialized politically in the hardboiled political trade of south-side Chicago, liked the TTIP-idea, but did not like its political price tag, and made that clear to the German chancellor. But it says a lot about the growing geopolitical and geoeconomic clout of Germany in transatlantic affairs, and about the strong stature that Angela Merkel enjoys among both political parties in Washington D.C., that she was able with persistence and patience to help convince the American president that she would use the full weight of her office to make TTIP a top priority for the EU. Indeed, the relatively unproblematic negotiations for CETA (until the final phase at least), and its successful conclusion in terms of a final text, provided a positive example. It is hard to imagine today, but CETA was an acronym known until the TTIP maelstrom to a relatively small circle of policy specialists and dedicated readers of international economic news. As with any trade regime negotiations, there had been many difficult and contentious issues, ranging from fish to milk to intellectual property, all reflecting the particularities of different constituencies in EU member-states and Canadian domestic / federal politics. But different forms of national and regional ambitions – Canada wanting to deepen its EU anchor and relative independence from American markets; and the EU wanting to show its transatlantic and global influence as an economic actor – trumped national particularities and helped the EU achieve a significant accomplishment as a transatlantic and global geoeconomic »Gestaltungsmacht«.

6. Reflective Agency Unlike with CETA, however, TTIP has been positioned in many parts of the German imagination as reflecting rather the absence of »Gestaltungsmacht«, or choice, what scholars and philosophers refer to as agency. As the German-American scholar Albert O. Hirschmann articulated in his influential book, Exit, Voice, and Loyalty: Responses to Decline in Firms, Organizations and States, history shows that citizens and participants in markets, polities, and other public spaces can practice agency or voice, or they can exit the arena of interaction.29 His work has had a lasting impact on the study of international political economy (among many other areas). Importantly, his work assumes that actors have choice, and in relatively open and competitive political and economic systems, this is a fair and reasonable assumption. The 29 See Hirschmann 1970, especially the chapter on »Exit« (Hirschmann 1970: 21 – 29).

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degrees of choice underscore moreover an actor’s perception of individual or group power not just to articulate voice, but to practice influential voice. The German sociologist Max Weber has provided us with a concise and indeed classical definition of power; namely, the ability or resources to get another actor to support one’s interests or agenda. Weber refined his definition by distinguishing two types of power, authoritative and coercive. Force stands behind coercive power; whereas either a charismatic personality, traditions, or rational-legal structures contribute to authoritative power. Interestingly, Weber’s use of »Herrschaft« in the second volume of Wirtschaft und Gesellschaft (published posthumously in 1922) has been translated into English as »authority« or authoritative power.30 The position of »authority« in American-English however leaves ample room for negotiation or voice, more to do with governance than strictures of power. The current author’s non-native understanding of »Herrschaft« is that it is a word-and-logic signaling rigidity or formal architectures of power, i.e., provides a cognitive dissonance confronting the perceiver rather with starker choices of protest or exit rather than practicing the politics of agency within a particular arena as articulated by Hirschmann. As the German business daily, Handelsblatt, framed it in its title page dedicated to TTIP in April 2015, TTIP: Freihandel oder Unterwerfung?31 »Herrschen« implies hierarchy and leader-follower relationships; authority can imply horizontal arenas of competitive politics. In short, reading Weber in a German-American context can involve important linguistic and cultural coding that influences the perceptions and practices of politics nationally or internationally.32 One can observe this for example in looking at current populist politics in Germany involving either the AfD, or Die Linke, and how both reject TTIP categorically. For the AfD, America is still a »Besatzungsmacht«, and Germany needs to remove »die Herrschaft der EU« from German politics. Both the AfD and Die Linke support a strategy of exit to provide Germany with true political agency with which to pursue German interests. The 2017 German national elections positioned the AfD’s narrative as the third strongest message in the country.33 Combine support for Die Linke and AfD nationally, 30 See Uphoff 1989: 301. 31 See Handelsblatt 2015. As for the increasing sentiment among German voters that they are losing relative agency, see Petersen 2016. 32 Interestingly, the concept of »Herrschaft« and »Recht« has been highlighted in German national politics recently with Bavarian Ministerpräsident Horst Seehofer’s accusation that Merkel’s refugee policies are creating a »Herrschaft des Unrechts«. This has unleashed a strong national debate, and critics counter that such a provocative phrase may well reflect Seehofer’s sense of »powerlessness« to alter Merkel’s course (see Süddeutsche Zeitung 2016 b). 33 See Süddeutsche Zeitung 2016 a.

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and one comes close to a quarter of all German voters (informal numbers could be distinctly higher). So-called third party or protest parties in the American context – and one can define the Tea Party for example as such in that it is an intact movement with a clear profile within the Republican Party – can exercise programmatic and political power by influencing the agendas of the larger »Volksparteien«, whether the Democratic or Republican Party. While working within the Republican and Democratic parties respectively, we witness how personalities like Donald Trump and Bernie Sanders have compelled important shifts and definitions of what is meant by »centrist« politics in both their parties, especially regarding trade. Before the arrival of Bernie Sanders, Hillary Clinton spoke out clearly in favor of TPP; she stopped doing so during the 2016 election. In Germany’s parliamentarian system, the AfD or a protest party like Die Linke can arguably exercise even more influence. In the Scandinavian, strongly social-democratic, countries of Sweden, Finland, and Denmark, for example, we can observe how AfD-like-parties are now either formal members of current parliamentary governments or exercising powerful influence on national policies. One can ask reasonably if such sentiments of powerlessness, protest, and demands for exit are cyclical in nature – part of a political season – or more structural, i.e., part of a generational, sociological shift in political attitudes in increasingly post-industrial societies. One can find evidence for both tendencies, but structural considerations should not be underestimated: the current generation of globalization with its growing characteristics of human, economic, cultural, ideational, and political mobility are confronting citizens in Europe and North America with prolonged challenges to understood patterns and cultures of societal order. At a minimum, and depending on how one defines the duration of a zeitgeist, the populist mood-of-our-times will be at the center of competitive, democratic politics for years to come. Transatlantic populism will be influencing perceptions of agency, choice, and thus political behavior, for the foreseeable future. Thus one cannot separate TTIP from other German and transatlantic challenges to perceptions and practices of societal order, be these the Great Recession starting in 2008, the eurozone crisis, the Ukraine crisis, the refugee crisis, or the violence and terrorism of ISIS. TTIP has its own chronology of course, and chronology matters here, but TTIP is currently part of what I would call a German, European, and transatlantic ecosystem of political protest and politics of security. For our purposes, the politics of security can be defined as public perceptions of individual and group stability, safety, general well-being, and importantly, articulated, tangibly influential voice. Recent terrorist attacks in Paris, Berlin, and London have only accentuated

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the contemporary tensions between liberal spirits and the search for order, a conscious reference to the classic volume by Robert Wiebe34, about another turbulent period in American and transatlantic politics, the unfolding of the industrial era in the later 19 th and early 20 th century (that included its own terrorist waves with the anarchist movement and multiple bombings in the United States and Europe). The current unfolding of the post-industrial information economy provides us with strikingly similar challenges informing domestic politics and transatlantic relations. The European and German political classes have seemingly understood this basic challenge, as can be witnessed in the now strategic public campaign to »Tackle the Big Three« of Standards, Arbitration, and Secrecy around the TTIP negotiations to create a tangible and public narrative of Berlin and Brussels being able to exercise power vis-à-vis the United States. This is an important service to German and European democracy, encouraging confidence among citizens that they and their elected leaders can indeed practice voice and shape emerging patterns of transatlantic and global politics. While it involves, in important respects as argued earlier, slaying windmill-dragons (a riff off Don Quixote and seeing threats where they arguably are not), the performance of such acts of »empowered democracy« play an important function for the confidence and feeling of empowerment among those participating. The process is in this case arguably as important as any possible political or tangible consequences. Thus we witness how Berlin has »forced« Brussels and Washington D.C. to provide more access to TTIP documents35, and we witness how Berlin and Brussels have »forced« America to revise the ISDS architecture to make it less of a relatively informal non-state institution36, and we have witnessed how Berlin and Brussels have »insisted« that no key standards for Europe and Germany will be compromised.37 These »performances of agency« have been important in that public protest against TTIP has diminished somewhat (for now) as voice has been articulated, heard, and influenced international politics. Washington D.C. understands the need for such performances, and thus has not actively sought to tell a fuller story about Standards, Arbitration, or Secrecy to German and European audiences. TTIP will not succeed without

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See Wiebe 1967; especially the chapter on »Crisis in the Communities« (Wiebe 1967: 44 – 75). See Mühlhauer 2016. See for example the front-page story in the Süddeutsche Zeitung 2015 b. The German government for example took out full page ads in leading German newspapers to make exactly this argument. See the full page in the Süddeutsche Zeitung (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2015). The ad features a prominent picture of Sigmar Gabriel.

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sufficient democratic legitimacy both in the United States and Europe, and the Obama administration understood this basic reality all too well. Where Washington D.C. has remained relatively quiet, Fortuna and Clio have added their voices. Contemporary chance and events always accompany the unfolding of international diplomacy. TTIP is no exception. Since the protests and outcries about threats to standards, legal norms, and secrecy, three acronyms have compelled Germany to reflect on a more complicated reality that impacts directly the initial narrative that consolidated so much criticism around TTIP. These acronyms are VW, FIFA, and BND. The ongoing VW scandal reaches deeply into German society, and has revealed to what extent Germany has used formal power to shape European standards, and not necessarily to improve health standards for its citizens and fellow Europeans.38 Stated bluntly, Berlin has fought consistently to allow more particulates from diesel engines than is permissible in the United States. And unlike chlorine-baths or the science on GMO’s39, there is overwhelming scientific evidence from Germany and Europe that these particulates cause long-term damage to human health, especially in children.40 Air quality in many German and European cities, for example, is notably worse than in many American cities, and German-European diesel engine standards play a notable role in permitting this existing health threat. For one of the key sectors of the Germany economy, the auto industry, we have experienced that the Environmental Protection Agency in the U.S. should arguably provide key transatlantic standards so as to improve the health of millions of Germans and Europeans. As for FIFA, it was American legal norms that forced Europe and the world to confront the degree of corruption, lack of transparency, and even 38 See Brundsden / Oliver 2016. As the authors observe, Germany is not the only country to push for laxer diesel standards, but Germany represents the most powerful auto industry in Europe, and has regularly exercised its influence in Brussels to shape standards for diesel and large, luxury autos, two areas of the auto industry where Germany enjoys comparative advantages in European and global markets. 39 German newspapers have reported that no German or EU authority or scientific organization has been able to show any concrete ill effects from GMO’s. See Schadwinkel 2014. As Schadwinkel notes, »Keine Studie zeigt bisher Gesundheitsgefahren durch Gentech-Pflanzen. Trotzdem ist die Angst groß. Dass die EU herumlaviert, trägt nicht zur sachlichen Debatte bei.« That such a clear and strong story appears in Die Zeit is worth noting since its readership correlates strongly with the university-educated clientele often associated with the anti-TTIP movement. 40 See Grescoe 2016. And as recently reported, »European countries, which rely heavily on diesel-fueled vehicles, remain far behind the United States in their efforts to reduce harmful air pollution« according to a recent report by the World Health Organization. See Goode 2016.

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criminality at the highest levels of the premier body for regulating and governing soccer worldwide.41 Such iconic figures in German society like Franz Beckenbauer were not spared, and even the World Cup »Sommermärchen« of 2006 came under a cloud of suspicion about how Germany secured the rights to host the global sporting event. Some have argued that the American Justice Department going after FIFA and threatening its governing body with criminal charges was another example of America seeking unilaterally to play the world’s »sheriff«.42 Most voices however reflected on the revelations and wondered out loud why the double-standards and corruption had not been detected by Germany’s own soccer association (DFB) and authorities meant to uphold standards for the world of soccer. Both the FIFA scandal around corruption and the Volkwagen scandal around diesel engines have thrust squarely into German awareness a more complicated and reflective debate around what is meant by endangered German standards, and the threat posed by so-called inferior American standards – and that around two essential elements of German identity – »Autos« and »Fußball«. Recent revelations about the BND and its spying on NATO allies like Turkey, even France, or collecting secret intelligence itself on American politicians have encouraged further reflection in German politics and public debates about what is meant by friends and enemies in international politics.43 Outrage at the NSA has quieted substantially in the country’s domestic politics (there are even front-page reports about the NSA helping Germany in the refugee crisis to gather intelligence on the thousands of people pouring into the country from Syria, North Africa, and Afghanistan).44 41 Viswanatha 2015. 42 See for example Zielcke (2015). The author struggles with the general public sentiment, noting, »Siemens, Fifa, VW und dann? Amerika tritt wie der juristische ›Weltpolizist‹ auf. Das ist legitim, sogar wünschenswert. Trotzdem erinnert manches in diesem Vorgehen an Franz Kafkas Prozess.« The recent investigative report into the awarding of the 2006 World Cup has only further called into question the legality and standards applied at the time. See the reporting by the Süddeutsche Zeitung, including Ralf Wiegand (2016), who summarizes, »Der Fußball hat die Deutschen 2006 zu fröhlichen Patrioten gemacht. Nun wird sehr viel infrage gestellt.« 43 See for example, Leyendecker / Mascolo 2015. As the authors report, »Auch der BND hat in befreundeten Länder abgehört – und versucht, das zu vertuschen. Das Kanzleramt wusste davon.« They quote one source observing, »In Berlin seien Abhör-Protokolle von US-Politikern begehrt gewesen [...] sie sind uns aus der Hand gerissen worden«. These were not isolated cases but there have been hundreds of such instances. The authors conclude: »Dass der BND – wenn auch im geringeren Maßstab – ebenso agierte wie die NSA, sollte nicht bekannt werden.« 44 See Mascolo 2016. As Mascolo concludes, »BND und Amerikas Geheimdienst NSA kooperieren wieder ganz eng – in der Abhöranlage von Bad Aibling. Das Zerwürfnis mit den USA ist überwunden. Die Bundesregierung befürchtete, brisante Warnungen zu verpassen.«

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What has emerged from the VW, FIFA, and BND revelations in short is a more substantial reflective agency rather than a broader reactionary agency in German public debates about German-American relations and the pursuit of German interests.45 The context in which TTIP is debated and critiqued has thus shifted notably. Contemporary chance and events have shown German and international publics that Germany, in the vocabulary of Albert Hirschmann and Max Weber, most certainly has voice and agency, has loyally pursued national interests, and has and can exercise power, especially vis-à-vis the United States.

7. Conclusion: Wolfgang Ischinger, Wissen-Schaffen, Weltpolitik The distinguished German diplomat Wolfgang Ischinger, former ambassador to Great Britain and the United States and now President of the Munich Security Conference (arguably the premier transatlantic public arena for discussing and debating German-American and European-American geoeconomic and geopolitical security interests), argues that his country needs to do more than react to what it sees as the initiatives of others and more constructively articulate its interests, and pursue them in transatlantic and global politics. A confident articulation of national interests will help improve German-American relations by reducing the space for the perceptions of »fremde Freunde« let alone »Feinde« regarding German welfare and security. Although later than arguably beneficial for German-American relations, this is indeed what has been happening with the German debate about TTIP, involving an increasingly robust and focused articulation of how TTIP represents vital German and especially European interests in the unfolding twenty-first century transatlantic and global political agenda. Opinion polls show that around half of Germans are inclined to agree with the arguments from Sigmar Gabriel and other adherents of TTIP while around twenty-five percent are undecided and the remaining quarter are firmly against the trade initiative. These numbers correspond interestingly to about the breakdown of support and opposition to TTIP and TPP in the United States.46 If we look at the democratic politics of trade liberalization in the United States 45 As Schäfer (2014) observed, »Die Debatte um das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP ist eine Debatte voller Halbwahrheiten und Demagogie«. Or as Bollmann / Nienhaus (2015) argued in their reportage on TTIP, »Gabriel findet den Widerstand nicht rational.« See also Hulverscheidt 2016. 46 These numbers can be distilled from the Pew Study on German-American relations (Pew Research Center 2015: 2015: 10 – 11).

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during the last quarter century, from NAFTA to TPP to TTIP, it becomes evident that America has long had a contested democratic politics about globalization. German debates are thus part of a long transatlantic tradition of debate and dissent about how to construct new rules for international political economy. That being said, surveys also show that opposition to TTIP among EU member states is strongest in Germany.47 Since Germany is one of the leading winners of liberalized trade in the European, transatlantic, and global economy48, this raises an interesting puzzle or paradox. Germany has debated itself, Europe, and America in trying to resolve these contradictions, and seems to slowly be coming to a new form of sufficient consensus about how the country’s interests will indeed be served by playing an active and constructive role in the EU to allow Europe to conclude possibly a TTIP agreement with the United States. A fundamental agent in that process has been the continuous introduction of facts and arguments into the debate to counter fears about threats to Germany’s and Europe’s system of standards and way-of-life. Rational arguments in the public arena have thus helped strengthen and consolidate a German culture of security with which to pursue the country’s geopolitical and geoeconomic interests. Playing to one of Germany’s classic strengths, the Humboldtian tradition of »wissen-schaffen«, or pursuing a rational, liberal society by producing knowledge for factually-structured decision-making, has helped also build a more constructive German-American debate about TTIP. As Steve Weismann has argued fairly and perceptively, trade involves important societal decisions about relative trade-offs for a society and thus requires open, vigorous, and rational debate.49 The outcome of TTIP is still uncertain. America will have to make notable concessions to cherished political rules as well (such as guidelines for public procurement contracts). Europe and Germany will also need to make concessions. That has been the process for decades to reach new forms of consensus for European integration and a transatlantic liberal order. That is a tradition and practice that has served the global community well since World War II. The German-American debate about TTIP ultimately illustrates how open, democratic, contested transatlantic politics around fundamental global issues 47 See Atlantic Council 2015; data from October 2015. 48 Germany has experienced record export surpluses, for example, for several years in a row, substantially higher than almost any other county in the world. For how Germany is a major winner from European integration (only Denmark profits more), see the front-page graph and story in the Süddeutsche Zeitung (2014 b). For Germanys booming export economy, see Leipziger Volkszeitung 2016. 49 Weismann 2016.

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Des Präsidenten neue Kleider Populismus, Propaganda, Protest und das Phänomen Donald J. Trump im digitalen Informationszeitalter

1. Einleitung Nach wie vor herrscht vielerorts ungläubiges Kopfschütteln darüber, dass ein Mann wie Donald Trump ins mächtigste Amt der westlichen Welt gewählt wurde. In Deutschland, wie in weiten Teilen Europas, oszillieren die Reaktionen zwischen Unbehagen, Unverständnis, Satire und Sarkasmus sowie einer gehörigen Portion Enthusiasmus aufseiten der sich im Aufwind fühlenden Rechtspopulisten. Gleichwohl liegt in diesem europäischen Stimmungsbild nichts wirklich grundlegend Neues. Wie in vielen Teilen der Welt haben auch in Europa nicht zuletzt die kontroversen Präsidentschaften von Richard Nixon, Ronald Reagan und vor allem George W. Bush eine kritische Haltung gegenüber Amerika geprägt, in politischer wie kultureller Hinsicht. Aber der 45. Präsident des Landes, das sich den »Pursuit of Happiness« als Maxime auf die Fahnen geschrieben hat, gebärdet sich sogar ungeschminkt als Demagoge, als notorischer Provokateur, der sich unflätig über Menschen äußert und viele als minderwertig verunglimpft – Frauen, Hispanics, Muslime, Menschen mit Behinderung. »Pursuit of Happiness« meint eigentlich den Respekt vor jedem Einzelnen, egal welchen Geschlechts, welcher Religion, welcher Hautfarbe, welcher körperlichen Verfassung. In Trumps reaktionärem Weltbild, so scheint es, ist der »American Dream« pervertiert und ausschließlich gesunden, gutsituierten, weißen Männern vorbehalten. Es ist schwierig, dem altehrwürdigen Amt des amerikanischen Präsidenten auf seriöse Weise zu begegnen, wenn es von einer Person bekleidet wird, die sich auf dem politischen Parkett wie ein cäsarischer Zampano verhält. Im Folgenden steht indes nicht so sehr der Politiker Donald Trump im Mittelpunkt, sondern der mediale Diskurs, den das Phänomen »Donald Trump« entfacht hat. Trump gibt sich als Mann des Volkes, doch inwieweit greifen Trumps Anhänger dessen Symbolik auf? Inwieweit fungiert Trump unter seiner Anhängerschaft als Posterboy im Sinne einer Stil-Ikone wie Ché Guevara oder Barack Obama? Und wie reagiert die Opposition? Genauer, in

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welchem Maße bietet Trumps mediale Inszenierung Anknüpfungspunkte für kreative Formen des Protests in der vernetzten Mediengesellschaft?

2. Eine neue, kreative Rechte? Lange Zeit galten kreative Formen des Protests als eine ureigene Domäne linksliberaler Gesinnung. Der Hauptgrund mag die wirkmächtige Idee des Gewaltverzichts sein, die den Strategien alternativer Protestformen innewohnt und damit – geprägt durch die Konzepte und Praktiken von Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi und Martin Luther King1 – faschistischen Ideologien grundlegend zuwiderläuft. Konträr zu Traditionen der Gewaltlegitimation definierte sich kreativer Protest durch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte künstlerische Komponente. Ein historischer Vorläufer findet sich beispielsweise in Frankreich im marxistischen Avantgardekollektiv »Situationistische Internationale« rund um Guy Debord, den Autor des in den 1968 er-Jahren populären Traktats Die Gesellschaft des Spektakels.2 Werke der Situationisten bedienten sich typischerweise im Angebot der Bilder, das die Künstler in der damaligen Medienlandschaft vorfanden. Sie verfremdeten das Material (zum Beispiel Comic-Hefte), versahen es mit neuen politischen Inhalten und damit neuen Bedeutungen. Als Nachfolger der Situationisten entstand in den 1980 er-Jahren die sogenannte »AdBusting«-Bewegung. Diese Gesinnungsgruppe eint die Absicht, auf kreative Weise gegen die alltägliche Manipulation durch Werbung zu protestieren. AdBusting basiert auf Umberto Ecos Konzept einer »semiotischen Guerilla«, wonach passives Rezeptionsverhalten durch eine »Korrektur der Perspektive«, durch eine »kritischen Dimension« ergänzt werden müsste.3 Für AdBusting-Aktivisten bedeutet dies, Plakate und andere Werbeträger parodistisch zu verfremden oder sogar eigene satirische Kampagnen zu starten – wie etwa die Bewerbung der Parodiefigur »Joe Chemo«, einem an Lungenkrebs erkrankten Cartoon-Kamel in Anlehnung an Joe Camel, dem langjährigen Werbeträger und Maskottchen der Zigarettenmarke Camels.4 Die Zeiten, in denen solch clevere und meist auch humoristische Formen des kreativen Protests eine exklusiv linksliberale Erscheinung waren, sind

1 2 3 4

Vgl. zum Beispiel Ebert 1970: 20. Vgl. Debord 1978. Eco 1985: 156. Vgl. DeLaure / Fink 2017: 13.

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jedoch längst vorbei.5 Bereits in den 1990 er-Jahren entstand unter Neonazis eine visuelle Kultur, die aus dem ikonografischen Inventar der Popkultur bestimmte Elemente übernahm und für eigene Zwecke umfunktionierte. Parallel zu subkulturellen Produktionen, beispielsweise von afroamerikanischen Jugendlichen, die die Figur Bart Simpson mit Rastalocken und schwarzer Hautfarbe versahen und so zu »Rasta Bart« machten, kursierten unter Neonazis Bilder von »Nazi Bart« mit Springerstiefel und Insignien aus der Neonazi-Szene.6 Nicht besser erging es Asterix. Der Comic-Held ist ebenfalls ein Opfer rechtsextremer Zweckentfremdung geworden, nicht zuletzt, weil er es immer wieder versteht, sein gallisches Heimatdorf vor fremden Invasoren zu schützen.7 Wie Arno Frank in einem Artikel für die Tageszeitung konstatiert, sind dabei die neuen Rechten der »Identitären«-Bewegung mit ihrer Aneignung von Praktiken der semiotischen Guerilla oft nur auf den zweiten Blick von typischerweise links verorteten Darstellungsformen zu unterscheiden. Das Plakative der traditionellen Ikonografie, das gemeinhin mit Neonazis assoziiert wird (Hakenkreuz etc.), weicht zusehends subtileren Techniken, die Elemente wie »völkische« Homogenität lediglich implizit propagieren. »Die postmoderne Verwirrung hat System«, resümiert Frank. »Weltanschauliche Kämpfe werden einstweilen im vorpolitischen Feld ausgefochten, wo es ›nur‹ um Symbolisches geht.«8 Auch der harsche Wahlkampf um die amerikanische Präsidentschaft 2016 war in dieser Hinsicht postmodern. Die Wählermobilisierung fand in einem erheblichen Maße über soziale Netzwerke statt; viele Kampagnen waren geprägt von einer Ästhetik der populären Aneignung und Umdeutung.9 Gesponsert vom sogenannten »Committee to Restore America’s Greatness« wurde beispielsweise eine animierte Videosequenz auf eine Anzeigetafel am New Yorker Times Square projiziert (siehe Abbildung 1). Sie zeigt »Super Trump« mit rotem Kopf im blauen Superman-Kostüm. Anstelle von Supermans S-Logo prangt Trumps Initiale »T« auf der Brust der Figur, darunter Trumps Wahlkampfslogan »Make America Great Again«. Die Montage soll Trump als Superheld stilisieren, wenngleich, wie Adweek bemerkt, viele Passanten das Bild auch ironisch interpretiert haben dürften.10 Doch zeigt das Beispiel auch, wie sehr popkulturelle Partizipationspraktiken am politi5 6 7 8 9 10

Siehe dazu auch Schedler 2009. Vgl. Fink 2016: 154 f. Vgl. Frank 2017. Frank 2017: 13. Vgl. Sanders 2016. Vgl. Nudd 2016.

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schen Diskurs nicht nur im linksliberalen Lager, sondern zunehmend auch in rechtskonservativen Milieus anzutreffen sind. Abbildung 1: Bildausschnitt aus »SuperTrump –Times Square Digital Billboard«

Quelle: YouTube (online unter: www.youtube.com/watch?v=pgM1PDV3dFI – letzter Zugriff: 16.01.2018).

3. Civic Imagination: Keine exklusiv linke Veranstaltung Die Stilisierung Trumps als Superman ist nicht wirklich originell. Sie ist inspiriert von Darstellungsformen Barack Obamas im Wahlkampf 2008, basierend auf der ästhetischen Praxis gesellschaftspolitische Aspekte unter Zuhilfenahme von Elementen und Figuren aus der Popkultur zu thematisieren. Henry Jenkins und dessen Mitautoren bezeichnen dies als »Civic Imagination«.11 »These ›creative activists‹ often speak to each other through images borrowed from commercial entertainment but remixed to communicate their own messages; they are often deploying social media platforms, sometimes in ways that challenge corporate interests; and they are forging communities through acts of media circulation.«12 11 Vgl. Jenkins et al. 2016b: 295–320. 12 Vgl. Jenkins et al. 2016a: 40.

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Abbildung 2: »Obama Superman« von Mr. Brainwash an einem Laden in Los Angeles

Quelle: Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Obama_ Superman_Los_Angeles.jpg – letzter Zugriff: 18.12.2017).

Wahlkämpfe werden zunehmend auch im semiotischen Raum – auf der Ebene der Zeichen – ausgetragen. Insbesondere seit Barack Obamas Wahlkampf 2008 ist dies offenkundig. Erstmals fungierte dabei Pop Art als Hilfsmittel, um vor allem junge Wähler zu mobilisieren.13 Zahlreiche Aktivisten, allen voran der Straßenkünstler Shepard Fairey mit seinem »Hope«-Poster, trugen dazu bei, dass Obamas Wahlkampf eine eigene individuelle Ikonografie hervorbrachte, die ihn zum einen mit Coolness, zum anderen mit einem authentischen Graswurzel-Charakter versah. In Reaktion auf Obamas Wahl formierte sich kultureller Widerstand – ein »Backlash« – nicht nur gesellschaftspolitisch in Form der Tea-Party-Bewegung, sondern auch symbolisch. Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Darstellung Obamas als Joker im Stile von Heath Ledger aus dem Batman-Film The Dark Knight (meist versehen mit dem Zusatz »Socialism«), ein Bild das auf Anti-Obama-Demonstrationen häufig Verwendung fand. Auch wenn diese Art der Schockästhetik auf viele martialisch wirken mag, ist sie trotzdem ein Beispiel für »Civic Imagination«. Wenn diese Form kreativen Protests jemals ein Erkennungsmerkmal von progressiver, linksliberaler oder 13 Vgl. Lee/Perry-Zucker 2009.

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multikultureller Populärkultur war, dann gilt dieses Alleinstellungsmerkmal spätestens seit der Tea-Party-Bewegung nicht mehr.14 Verstanden es Obamas Unterstützer beim Wahlkampf 2008 auf exzellente Weise, die Macht der »Civic Imagination« zu entfalten, indem sie ihren Wunschpräsidenten zur Pop-Ikone stilisierten, gelang es Trumps Anhängerschaft acht Jahre später ebenfalls, diese Ressourcen zu nutzen. Trumps Erfolg speist sich damit nicht nur aus dem Wählerpotenzial der Tea-Party-Bewegung und einer Bevökerungsgruppe, die Michael Kimmel als »Angry White Men«15 identifiziert; auch Praktiken von »Civic Imagination« trugen dazu bei, den Mythos von Trump als demjenigen, der die hart arbeitenden Amerikaner von den ganzen elitären Bestimmern und Wichtigtuern aus Hollywood, New York und Washington befreien würde, zu generieren und zu popularisieren.16 Neben der »Super-Trump«-Reklame – einer sicherlich eher ungewöhnlichen und spektakulären Aktion – artikuliert sich das Phänomen Trump daher auch in weitaus typischeren Formen von »Civic Imagination«. In der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts geschieht dies nicht nur mittels traditioneller Vehikel wie Poster, Buttons oder T-Shirts, sondern auch und vor allem durch sogenannte »Memes«. Typischerweise bezeichnet der Begriff »Meme« visuelle, oft humoristische Motive, die in der digitalen Partizipationskultur durch Repetition und Variation mediale Verbreitung finden.17 Als Hashtag #MAGA wurde Trumps Wahlkampfslogan »Make America Great Again« zum Namensgeber einer solchen »Meme« auf der Social-MediaPlattform Twitter. Ein Tweet des pro-republikanischen TV-Senders Fox News zeigt beispielsweise ein Gemälde von Amerikas erstem Präsidenten George Washington, dem Trumps charakteristische Baseballkappe mit der Aufschrift »Make America Great Again« hinzugefügt wurde (siehe Abbildung 3). Die Implikation ist klar und spiegelt Trumps Wahlkampfrhetorik wider: Durch die vergangenen Präsidenten, das politische Establishment in Washington und die liberale Elite befindet sich Amerika in einem desolaten Zustand. Trump sieht sich mit dem Regierungsauftrag in seiner Mission bestärkt, Amerika zu seiner alten, vermeintlichen Größe zurückzuführen. 14 Der appropriative Gestus der Tea-Party zeigt sich bereits in ihrer Namensgebung als Referenz auf die symbolischen Protestaktionen rund um die sogenannte »Boston Tea Party« im Jahre 1773. Zur Ikonografie der Amerikanischen Revolution gehören seither die als Indianer verkleideten Siedler, die publikumswirksam die gesamte Teeladung eines englischen Handelsschiffes ins Wasser des Bostoner Hafens kippten, um ihrem Unmut gegen die Besteuerung von Teeimporten aus England in die Kolonien auszudrücken. 15 Kimmel 2015. 16 Vgl. Yates 2016. 17 Vgl. Shifman 2014.

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Abbildung 3: George Washington mit Make-America-Great-Again-Baseballkappe

Abbildung 4: Satirischer Vergleich zwischen den ehemaligen Präsidenten Nixon und Obama in einem fiktiven Zeitungsartikel

Quelle: Twitter (https://twitter.com/Fox News/status/822303468543213568 – letzter Zugriff: 18.12.2017).

Quelle: Twitter (https://twitter.com/ lrihendry/status/838589666618191872 – letzter Zugriff: 18.12.2017).

4. Postmoderne Propaganda Ein drittes Beispiel aus dem virtuellen Trump-Lager soll an dieser Stelle genügen, um den kulturellen Paradigmenwechsel aufzuzeigen, den das Phänomen »Donald Trump« offenbart. Es handelt sich dabei um einen Tweet von Lori Hendry. Hendry fungiert als politische Kommentatorin und Meinungsmacherin der konservativen Rechten in den USA und ist assoziiert mit dem Radiosender Freedom In America Radio. In dem entsprechenden Tweet postete sie ein als Satire gekennzeichnetes Bild eines Titelblatts der fiktiven Tageszeitung »The Free Press«. Es zeigt eine Parallelmontage der ehemaligen Präsidenten Richard Nixon und Barack Obama (siehe Abbildung 4). Beide schauen und zeigen mit dem Finger in die Kamera (beziehungsweise auf die Bildrezipienten). Auch der Begleittext ist zweigeteilt und ergänzt den

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Textrahmen des Motivs: »What’s the difference between Nixon and Obama? The press uncovered the crimes of one and covered up crimes of the other.« Hintergrund dieses als Satire angelegten Arguments sind die Unterstellungen seitens Trumps und seiner Anhängerschaft, Obama hätte Trump während des Wahlkampfs ausspioniert, wie einst Richard Nixon seine politischen Gegner im Zuge der Watergate-Affäre. In der Lesart von Trumpianern wie Hendry war die »Presse« – das heißt die großen Tageszeitungen und »Medieneliten« – maßgeblich daran beteiligt, die Watergate-Affäre aufzudecken, während sie Obama dabei unterstützt hätten, dessen Abhöraktion zu vertuschen. Zwar ist Trump bisher jeglichen Beweis für seinen Vorwurf schuldig geblieben (wohingegen selbst Verschwörungsenthusiasten wie Hendry die WatergateAffäre als faktisch akzeptieren), doch passt die gesamte Rhetorik sehr wohl in das Bild von Trumps selbsterklärtem »Krieg gegen die Medien«. Ob koordiniert oder nicht, die Rhetorik aus dem Trump-Lager ist Teil eines Informationsclusters, das Richard Herzinger in einem Artikel für die Welt als »postmoderne Propaganda« charakterisiert. Im Unterschied zu »klassischer« Propaganda, deren Prinzip darin besteht, Tatsachen durch ideologisch motivierte Fiktionen zu ersetzen, handelt es sich demnach bei postmoderner Propaganda um die Verbreitung von Gegeninformationen, mit dem Ziel die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Fakt und Fiktion verschwimmen zu lassen. Wie Herzinger erläutert, führt insbesondere der »demokratische« Raum des Internets dabei zu einer Selbstvergewisserung derer, die sich der Manipulation »von oben«, sprich durch das politische Establishment und die sogenannten »Mainstream-Medien«, ausgesetzt sehen. Diese Haltung resultiert häufig aus einem mehr oder weniger stark gefiltertem Informationsfluss und einer Abkehr von der demokratischen Diskussionskultur, getreu dem Credo »alternativer« Fakten: »Beweist uns doch erst mal, dass irgendeine gegenteilige Information wahrer ist als unsere!«18

5. Krieg der Bilder: US-Präsidentschaftswahlkampf 2016 und Visionen einer Allianz gegen Trump Dem rechten Rand wird oft Einfältigkeit und Kreativlosigkeit unterstellt. Angesichts einer neuen selbstbewusst auftretenden Rechten, die mittlerweile auch im Bürgertum ihren Platz gefunden hat, wäre es jedoch mehr als naiv, diese eindimensionale Diagnose aufrechtzuerhalten. Rechtes Gedankengut scheint sich unter diversen Deckmänteln dem Zeitgeist angepasst zu haben 18 Herzinger 2006.

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Abbildung 5: Humoristisches Wahlplakat von Bernie Sanders-Unterstützern »Bernie Sanders, The Star-Spangled Man With a Plan by Twinsvega«

Quelle: DeviantART (https://twinsvega.deviantart.com/art/Bernie-Sanders-The-StarSpangled-Man-with-a-Plan-609884086 – letzter Zugriff: 18.12.2017).

und operiert bisweilen als Wolf im Schafspelz. Dies geschieht in großen Teilen unter Zuhilfenahme von kulturellem Kapital. Längst verstehen es Rechtspopulisten auf der Klaviatur der digitalen Medien zu spielen. Sie suggerieren, ebenso hip und humorvoll zu sein, wie die Protestkultur der Linken. Obwohl sich auch die Rechte der Mechanismen der »Civic Imagination« bedient, finden sich auf der anderen Seite, in Opposition zu Trump, oft die pfiffigeren, subversiveren, vielleicht auch originelleren Motive. Hier wäre zum einen die visuelle Kampagne von Bernie-Sanders-Unterstützern im Präsidentschaftswahlkampf 2016 zu nennen, die sich an das berühmte Coverbild der ersten Ausgabe der Comic-Heftreihe Captain America anlehnte (siehe Abbildung 5). Wo im Original der Comic-Superheld Captain America der Darstellung Adolf Hitlers einen Kinnhaken verpasst, ist Bernie Sanders zu sehen, der im Captain-America-Kostüm steckt, sowie Donald Trump als Hitler-Stand-In. Auf ihrer Facebook-Seite riefen die Schöpfer ihre Besucher dazu auf, sich das Bild herunterzuladen und auf T-Shirts oder auf persönlichen Facebook-Seiten zu reproduzieren.

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Als Trump tatsächlich gewählt wurde, schlugen die Wellen kreativen Protests noch höher. Diverse Künstler kritisierten Trumps großspurige, impulsive Twitterpraxis. Auf einer Abbildung erkennt man Trump mit Smartphone und Baseball-Cap, ihm gegenüber Martin Luther King, der Trump den Mund zu- und mahnend den Zeigefinger vor seinen eigenen Mund hält. Über der Abbildung prangt die Abwandlung des Hashtags #MAGA (»Make America Great Again«) in »Make Art Great Again« (siehe Abbildung 6). Im Vergleich zu »Super Trump« wirkt das Bernie-Sanders-Motiv auf viele vermutlich gewitzter und weniger plump: In beiden Fällen hat man es jedoch, wertneutral betrachtet, mit »Civic Imagination« als Ausdruck einer kulturellen Partizipation zu tun. Man könnte also argumentieren, dass »Civic Imagination« weder zwingend tiefgründig oder smart noch zwingend progressiv im demokratischen Sinne sein muss. Es liegt demnach im Auge des Betrachters, ob »Civic Imagination« ihrem emanzipatorischen Anspruch noch gerecht wird, wenn sie gerade nicht die Idee einer »besseren Welt« bekundet, sondern zur hippen Ausdrucksform von feindseligen Nationalisten wird.19 Strittig bleibt auch, inwieweit diese Art der Partizipation lediglich oberflächlich fungiert, abgekoppelt von der eigentlichen, »realen« politischen Partizipation, etwa durch die Teilnahme an Wahlen oder das Engagement in Parteien, Vereinen und Gewerkschaften. Ein Bild wie das von Bernie Sanders als Captain America auf T-Shirts zu drucken, virtuell zu verbreiten oder zu »liken«, ist nicht gleichzusetzen mit politischer Teilhabe. Unbestreitbar ist jedoch, dass diese Praktiken eine gewisse Investition an Zeit, Energie und kulturellem Kapital bedeuten. Und so sehen Jenkins und seine Mitautoren positive Signale, dass sich die jüngere Generation wieder mehr, wenn auch auf andere Art, mit Politik auseinandersetzt.20 Auch namhafte Künstler wie Shepard Fairey, der sich bereits durch das berühmte Obama-Hope-Poster einen Namen machte, sich politisch positionierte und damit aktiv in Obamas erfolgreichen Wahlkampf eingriff, mischten sich unter die symbolische Graswurzel-Allianz gegen Trump. Faireys »We the People«-Bild zeigt eine Frau, die die US-Flagge als Kopftuch trägt (siehe Abbildung 7). Entgegen Trumps einwanderungsfeindlicher Rhetorik konnotiert das Bild nicht nur die Vereinigten Staaten als multikulturelles Einwanderungsland und die Amerikaner (»the People«) als multikulturelles Volk, sondern demonstriert auch, inwieweit sich Protestästhetik in Amerika oft als patriotische Geste artikuliert.21 19 Vgl. Jenkins et al. 2016 a: 29. 20 Vgl. Jenkins et al. 2016 a: 45. 21 Vgl. Young 2015.

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Abbildung 6: Der twitternde Präsident Donald Trump und Martin Luther King

Abbildung 7: Shepard Faireys »We the People«

Quelle:Twitter (https://twitter.com/DJNight Audit/status/821189502781837318 – letzter Zugriff: 18.12.2017).

Quelle: We the People Art (https://obeygiant.com/people-art-avail-download-free/ – letzter Zugriff: 18.12.2017).

Neben individuellen Bildern sind auch ganze Profile auf verschiedenen Plattformen von sozialen Medien darauf ausgelegt, Widerstand zu Trump zu formulieren. Dass die Twitter- und Facebook-Kultur nicht zwangsläufig darauf hinausläuft, lediglich zu »liken« oder zu »retweeten«, sondern bisweilen auch zeit- und energieintensivere Investitionen voraussetzt, zeigen parodistische Twitter-Accounts: @donaeldunready beispielsweise verpackt Trumps Statements rhetorisch im Stile eines verrückt gewordenen mittelalterlichen Königs und @MatureTrumpTwts offeriert eine Ergänzung zu Trumps offiziellem Twitterkanal, bei dem die Tweets des Präsidenten in seriöse, präsidentielle Botschaften umformuliert werden. Möglicherweise handelt es sich dabei bereits um eine Variante von Umberto Ecos Vision einer Kommunikationsguerilla für das digitale Zeitalter. So sehr sich diese Beispiele von kreativem Widerstand auf die Ebene des Symbolischen beschränken mögen, kann man dennoch davon ausgehen, dass sie zunehmend Einfluss auf die politische Realität gewinnen werden. So war Shepard Faireys ikonisches »We the People«-Bild bereits auf vielen

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der zahlreichen Protestmärschen gegen Trump zu sehen. Und vor allem der Women’s March am 21. Januar 2017, bei dem weltweit Millionen von Frauen und Männern auf die Straße gingen, hat gezeigt, dass sich eine große Anti-Trump-Allianz formiert.22 Viele Demonstrantinnen trugen dabei übrigens pinke, meist selbstgestrickt oder gehäkelte sogenannte »Pussy Hats«, ein ironischer Symbolakt als solidarische Geste gegen Trumps »Grab them by the pussy«-Bemerkung.23

6. Trumps Krieg gegen die »Mainstream-Medien« Donald Trump hat niemals einen Hehl daraus gemacht, dass er die traditionellen Nachrichtenorgane verachtet. Kritische Berichterstattung und Meldungen, die ihm nicht zu passen scheinen, verunglimpft er kurzerhand als »Fake News«. Damit provoziert er bewusst und mit Erfolg. Das Verhältnis des gegenwärtigen US-Präsidenten zum linksliberalen Journalismus gleicht einer Fehde; es ist noch zerrütteter als während der problematischen Präsidentschaften von Nixon, Reagan und George W. Bush. Bereits im Wahlkampf 2016 wendete sich Trump von den traditionellen Medien ab: Als Sprachrohr fungieren vielmehr Nischensender wie das erwähnte Freedom in America Radio oder die ultrarechte Informationsplattform Breitbart News. Darüber hinaus ist Trumps bevorzugtes Kommunikationsmittel sein Smartphone und der Kanal seiner Wahl die Social-Media-Plattform Twitter. Als Twitter-Präsident ist Trump nur schwer zu bändigen, selbst seine eigenen PR-Berater haben Schwierigkeiten, ihn im Zaum zu halten. Dabei geht Trumps Polemik weit über bloße Medienschelte hinaus. Für ihn und seinen Beraterstab sind die sogenannten »Mainstream-Medien« ein politischer Gegner, den es zu bekämpfen gilt.24 In seiner Rhetorik präsentiert er sich hier einmal mehr als der, der im Dienst des Volkes agiert. »The Fake News media (failing @nytimes, @NBCNews, @ABC, @CBS, @CNN) is not my enemy, it is the enemy of the American People!«, twitterte Trump am 17. Februar 2017. Freilich ist diese Art der Polarisierung »Wir gegen die« beziehungsweise das amerikanische Volk gegen das liberale Establishment, kein amerikaspezifisches Problem. Auch in Deutschland und andernorts in Europa sind Angriffe auf die sogenannte »Lügenpresse« mittlerweile salonfähig, 22 Vgl. Kolb 2017. 23 Hahn 2017. 24 Herrmann 2017.

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und öffentliche Attacken auf Medienvertretern leider traurige Wirklichkeit geworden. Und doch ist es beachtlich, dass sich ein amerikanischer Präsident auf Pegida-Niveau bewegt. Dass die Pegida-Bewegung bisher Trump nicht vor ihren Karren gespannt hat, liegt wohl an einem tiefverwurzelten Antiamerikanismus. Insbesondere in den USA dienen Late-Night-Comedyshows wie die Tonight Show mit Jimmy Fallon oder TV-Satirenachrichten wie The Daily Show oder Colbert Report zunehmend als Informationsquelle und der (kritischen) Auseinandersetzung mit dem politischen Tagesgeschäft. Mittlerweile müssen sie gar als fester Bestandteil des journalistischen Medienbetriebs betrachtet werden.25 Für viele Amerikaner bieten satirische Formate eine Alternative zu den zunehmend skeptisch beäugten klassischen Nachrichtenformaten. Auch diese Entwicklung kann durchaus als Vorbehalt gegenüber den »Mainstream-Medien« gewertet werden.26 Aversion dieser Art sind in den USA weitaus verbreiteter als etwa in Deutschland. Derzeit ist noch unklar, ob Deutschland in diesem Bereich Amerika nachfolgen wird und sich auch hierzulande Satireshows als Ersatz für Nachrichtensendungen etablieren können.27 Satire bietet die Freiheit des politisch unkorrekten und damit unverhohlenen Blicks auf Politik und gesellschaftspolitische Themen. Doch im Falle Trumps versagt dieser Mechanismus, das satirische Sezierbesteck ist durch das unkonventionelle Auftreten des medienerfahrenen Exzentrikers stumpf geworden. Teflonartig prallt jegliche Art der Persiflage – und damit Kritik – an Trumps karikatureskem Verhalten ab.28 Mit Trump scheint die Realität sämtliche satirische Szenarien eingeholt zu haben. Im ganzen Medienbetrieb sorgt die unflätige Rhetorik Trumps für Irritationen – sowie für Feindseligkeit und Häme. Das ergibt eine explosive Mischung, zumal sich Trump als extrem offensiv im Austeilen von Beleidigungen gezeigt hat, umgekehrt aber, im Hinnehmen von Kritik oder gar satirischem Spott, bisher nur wenig Nehmerqualitäten bewiesen hat. Legendär sind in diesem Zusammenhang die Trump-Parodien des Schauspielers Alec Baldwin in der Comedyshow Saturday Night Live geworden. Saturday Night Live sei »einseitig«, »voreingenommene« und überhaupt nicht lustig, twitterte der offensichtlich gekränkte Präsident nachts nach einer Ausstrahlung im Herbst 2016. Ebenfalls Ziel dieses medialen Backlashs wurde Trumps ehemaliger Pressesprecher, Sean Spicer, dessen unwirsche Art und Weise 25 26 27 28

Vgl. Lichter / Baumgartner / Morris 2015. Vgl. McClennen / Maisel 2014: 11. Vgl. Gäbler 2016: 83. Vgl. Höhne 2016.

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mit Journalisten auf Pressekonferenzen umzugehen ,von Melissa McCarthy herrlich komisch aufs Korn genommen wurde. In der Tat scheint Parodie die einzig verbliebene Form medialer Opposition zu sein. Unklar bleibt jedoch, ob diese Art der ironischen Imitation, die in Baldwins und McCarthys Parodien zutage tritt, die wahre Dimension der Realität nicht zu sehr verkennt. »Am Ende des Tages«, so resümiert Jakob Biazza in seiner Analyse für die Süddeutsche Zeitung, sei auch Donald Trump keine Comic-Figur: »Er ist ein realer Präsident mit realer Macht. Seine Slogans sind reale Stimmungsmache […]. Wer bloß nachäfft, egal wie gekonnt, der agiert eben nicht im Geiste irgendeiner Aufklärung. Er entlarvt nichts, er bricht die Realität nicht. Er gewinnt gerade keine Deutungshoheit, sondern stellt bloß seine Fassungslosigkeit aus.«29

Und dennoch: Humor ist eine psychologische Waffe. Parodien wie jene Baldwins oder McCarthys mögen angesichts der politischen Realitäten hilflos wirken, doch fungieren sie als »Memes« in einer sich global manifestierenden und prominent besetzten Widerstandskultur. Die Frage stellt sich jedoch, ob diese Art der Entmythisierung bei Trumps Anhängern überhaupt einen Adressaten finden kann.

7. Europas Satiriker schlagen zurück Seit seiner Wahl zum Präsidenten lässt Trump keinen Zweifel daran, dass er weder an internationalen Bündnissen noch an Europa interessiert ist. Doch während der europäische Politikbetrieb noch mit sich haderte, wie man Trump gegenüber auftreten sollte, schlugen Europas Satiriker bereits zurück. Schon einen Tag nach Donald Trumps offizieller Amtseinführung am 20. Januar 2017 zeigte der niederländische Humorist Arjen Lubach in seiner TV-Comedysendung Zondag met Lubach einen Videoclip, in dem er Trumps Rhetorik aufs Korn nahm und ironisch dafür plädierte, dass, wenn schon von einem »America first« die Rede ist, die Niederländer doch wenigstens »second« sein könnten. Auf YouTube wurde der Clip zu einem viralen Hit und bis Dezember 2017 fast 26 Millionen Mal angeklickt. Kurz nach seiner Veröffentlichung stieg auch der Satiriker Jan Böhmermann mit ein, der mit seinen Aktionen bereits mehrfach für Furore gesorgt hatte.30 Mit seiner Late-Night-Comedyreihe 29 Biazza 2017. 30 So zum Beispiel bei den beiden wohl bekanntesten Aktionen Böhmermanns: zum einen die Erklärung, das Mittelfingervideo des damaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis gefälscht zu haben; zum anderen das kontrovers-diskutierte Schmähgedicht auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Vgl. Fink 2015, Brauck et al. 2016.

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Neo Magazin Royale imitierte er das niederländische Parodievideo, jedoch mit der Pointe »Germany second«, und rief alle Länder dazu auf, es ihm gleich zu tun – unter dem Motto: »Every Second Counts«. Bis Juni 2017 waren bereits Videoclips aus 22 Ländern beteiligt. Wie diese Beispiele zeigen, sind kreative Protestformen zu einem immanenten Bestandteil des kulturellen und politischen Zeitgeists geworden. Gemeinsam mit dem technologischen Fortschritt wandeln sich auch die Artikulationsformen des Protests. In guter alter kulturkritischer Tradition darf und muss natürlich darüber diskutiert werden, inwieweit das Internet seinen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft leistet und leisten kann. Jedoch bleibt unbestritten, dass die Phänomene kreativen Protests durch die neuen Wege und Möglichkeiten der digitalen Kultur mannigfaltiger, sichtbarer und zahlreicher werden – und damit zu einer potenziellen Triebfeder auf der linken wie der rechten Seite des politischen Spektrums. Satire, sei es durch Civic Imagination, Parodie-Twitter-Accounts oder Kampagnen wie »Every Second Counts«, kann als kreative Form des Protests dazu beitragen, das Bild von Donald Trump zu entmythisieren. Was in dem bekannten Märchen Des Kaisers neue Kleider der entlarvende Ausspruch eines Kindes ist, vermag in der modernen, digital vernetzten Gesellschaft der kritische Geist der Satire zu leisten, der durch mediale Verbreitung Aufmerksamkeit erregt und somit an Bedeutung gewinnt. Wenn es diesem Geist zu zeigen gelingt, dass Trump in Wahrheit kein Superheldenkostüm trägt, ist seine Mission erfüllt. Alles Weitere obliegt der Verantwortung der Wähler.

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Volker Benkert

Epilogue: Nation and Class – Who Would Have Thought? Transatlantic Alienation in the Face of New Nationalism and Increased Class Divides

Epilogue: Nation and Class – Who Would Have Thought? Epilogue: Nation and Class – Who Would Have Thought? Transatlantic Alienation in the Face of New Nationalism and Increased Class Divides

The contributions in this volume describe the evolution of German perspectives on the United States after the Second World War. They suggest an often strained though constant dialogue on the basis of shared democratic values, economic cooperation and collective challenges. Yet, formulating common values seems more difficult today. President Obama and Chancellor Merkel invoked such shared ideals urging for more international cooperation and giving globalization a »human face« at their Berlin meeting in May of 2017. Of course the former American leader and his longtime German counterpart also grappled with the election of Donald Trump. Candidate Trump ran on easy solutions to complicated issues such as immigration and globalization which mirror similar yearnings in Europe and Germany as underlined by the election success of the »Alternative für Deutschland« party (AfD) in the September 2017 German election. Germans overall have no love lost for Donald Trump and preciously little confidence in his ability »to do the right thing regarding world affairs.«1 But the new President’s solutions, especially a renewed nationalism to put national interests first and to stop immigration, are not so alien to many Germans. Trump’s measures target both illegal and legal immigration and encompass building a wall at the US-Mexico border, mass deportations of undocumented immigrants even including childhood arrivals whose deportation President Obama had deferred, and cutting legal immigration in half through the introduction of a point system.2 In addition to his tough stance on immigration, President Trump also envisions a kind of class war from above to defend the small man from the forces of globalization that caused jobs to move abroad. Echoing this sentiment, the AfD styles itself 1 2

Wike et al. 2017. On building the wall see White House 2017. On DACA (Deferred Action for Childhood Arrivals) see Homeland Security 2017. On cutting legal immigration see Rascoe / Rosenberg 2017.

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as the bulwark against unchecked immigration and as the defender of German blue collar workers and pensioners whose savings are threatened by the low interest policies of the European Central Bank.3 The resurgence of nation and class is a blow to US liberals who have worked towards more inclusive notions of nationality and dreamed of a globalization whose benefits would sweep away class distinctions. European and German elites seemed equally aloof to nation and class. They diminished the power of the nation state in favor of a somewhat undefined closer European integration, and they looked on to an ever widening wealth and class gap despite a still elaborate welfare state. Did liberal elites on both sides of the Atlantic neglect, even treat with contempt, nation and class, ideas so powerful in forging identities and so destructive in the 20th century?4 If liberal elites have failed to address national and class identities, should American liberals now embrace white blue collar voters and at what cost to the universal values? After all, Trump supporters inevitably endorsed, tacitly accepted or tolerated the racist and misogynist undertones that accompanied his campaign. Should liberals express hope that bigotry is only »fixed and immutable in some people, while others’ bias can be manipulated by a demagogue like Trump depending on circumstances«?5 Or in a more pessimistic reading, are we witnessing »the summoning of the white working class, emblem of America’s hardscrabble roots, inheritor of its pioneer spirit, as a shield against the horrific and empirical evidence of trenchant bigotry« and deeply engrained racism in America?6 Likewise, should major German parties respond to the success of the AfD by »closing the right flank« and adopting some of their points particularly on immigration?7 Or, would that not only endorse intolerable, deep-seated xenophobia as expressed by some AfD and Pegida leaders?8 Donald Trump’s solutions to immigration and globalization – the only two topics he treated with consistency – will not work. Even if the border wall actually gets built, it will hardly stop the flow of immigrants, and the large scale deportation of illegal immigrants currently residing in the US will 3 4 5 6 7

8

»Sparer und Rentner vor der Enteignung durch die EZB schützen.« (Alternative für Deutschland 2017: 14). See Drum 2017. Packer 2017. Coates 2017. The leader of the Bavarian Christlich-Soziale Union Horst Seehofer spoke about closing ranks on the right flank in the aftermath of the 2017 election (»die rechte Flanke schließen«). See Tagesspiegel 2017. See Fehser 2017: 73.

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likely deprive the economy of much needed labor and consumers. Imposing tariffs on Chinese and Mexican goods will not bring back manufacturing to the US, but start trade wars detrimental to all sides.9 What Trump offers is an emotional appeal to bygone days of American supremacy abroad, alleged racial homogeneity at home and their economic benefits to white Americans. Immigration and globalization also dominate the rhetoric of the AfD while the party’s policy suggestions offer little hope for enduring solutions. Alexander Gauland’s repeated call to »take back our country« in the face of an »Islamic invasion« does not even try to disguise its open xenophobia while the party’s suggestion that Islam is not compatible with the German constitution seems to contradict religious freedom enshrined in that very document.10 Furthermore, the AfD’s suggestion to leave the eurozone seems at best counter-intuitive, since the German export driven economy benefits from the opportunities the euro affords.11 While Donald Trump’s vision appeals to a multitude of his ardent supporters, his winning coalition included many who were just less enthused with the alternative, among them not few minorities. The loss of confidence in the liberal vision is also palpable in Europe where some find comfort in Marine Le Pen’s call to nation and class while others are just looking for an alternative to the liberal vision. In Germany the AfD won nearly 13 percent of the popular vote in the September 2017 elections by appealing to populism (»Volkssouveränität«), curbing immigration and asylum (gegen »ungebremste Masseneinwanderung nach Deutschland«) and a deep mistrust towards Islam (»Der Islam gehört nicht zu Deutschland«).12 While many Americans and Germans are motivated by racism and xenophobia, others find it difficult to support a liberal vision based upon the assumption of the inevitability of globalization, European and international integration and immigration, all of which they see as dissolving national identities and class securities. The dilemma that liberals on both sides of the Atlantic face is having to square ideas they found impossible to align in the past: universal humanitarian values clash with national identity and class equity at home. Failing to do so might well endanger the integrity of values Mr. Obama and Mrs. Merkel vowed to uphold and that according to Merkel are the precondition for a successful partnership with Donald Trump. Yet, neglecting nation and class as identity paradigms for many citizens will only strengthen those who seek 9 10 11 12

See Krugman 2017. See Friedman 2017. See Alternative für Deutschland 2017: 14. Alternative für Deutschland 2017: 8, 30, 34.

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to introduce exclusive, xenophobic and protectionist notions to German and American communities and their global relations. How can liberals harness the galvanizing emotions of nation and class while offering identities free from the open racism and protectionism of Mr. Trump and his European counterparts? President Obama created a sense of nation stressing values shared by Americans of all races, religions and income levels. At his last Democratic National Convention speech in July 2016, he reiterated his »faith in America – the generous, bighearted, hopeful country.«13 Kinship, respect and emotional belonging to a community emerge not from sharing racial, religious or ethnic features, but from common values. This is not the same as post-nationalism, nor does it entail an open door policy on immigration. These values propelled Mr. Obama to argue for comprehensive immigration reform, legalization of many undocumented people and creating viable paths to immigration while also deporting illegal immigrants in record numbers.14 With immigration reform stuck in Congress, however, little remained of this reform and worse still Donald Trump’s proposal to end DACA and curb all forms of immigration decidedly turn the wheel of time backwards. Similarly, Mrs. Merkel’s mantra »We will manage it« in response to the refugee crisis invoked humanitarian values as basis of national identity.15 Yet, support for her open door policy eroded not only in the wake of the Cologne attacks but also because many Germans struggled to see how Germany could successfully integrate refugees when it had often failed to welcome foreigners in the past.16 Furthermore, Angela Merkel encountered open opposition in Eastern and only lukewarm support in Western Europe. As a first in her tenure as Chancellor, she even had to grapple with open hatred directed against her during her 2017 campaign rallies especially in East Germany.17 Reassuring her constituents and fellow European leaders, Mrs. Merkel felt obliged to promise that a sudden influx of refugees will never happen again.18 What President Obama and Chancellor Merkel had to realize is that their idea of a national community based on values began to lose its appeal at the 13 Obama 2016. 14 See Marchevsky / Baker 2014. 15 »Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!« (Merkel 2015). 16 See Werthschulte 2017. 17 See Kollberg 2017. 18 »Eine Situation wie im Jahre 2015 soll und darf sich nicht wiederholen, da alle Beteiligten aus dieser Situation gelernt haben. Wir wollen, dass die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, dauerhaft niedrig bleibt.« (CDU / CSU 2017: 61).

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moment when it seemed that this vision could not be forged into lasting policies. Particularly problematic seemed that contrary to the universal moral appeal of humanitarian values, policies on immigration are inevitably ambiguous. They serve to uphold national identities and limit immigration while also protecting the rights of minorities and immigrants. This ambiguity led Barack Obama to push for the legalization of so-called Dreamers, young immigrants brought to the US as children. At the same time he deported others on a scale unseen before. Angela Merkel also seems to at least tacitly accept this ambiguity by agreeing to a soft cap, though no hard and fast limit (Obergrenze), to the number of admitted refugees as precondition for forming a coalition with its Bavarian sister party Christlich-Soziale Union (CSU) in the aftermath of the election.19 The limits of American generosity and bigheartedness as well as what Germany can manage clashed with the universal message of morality and humanity both Merkel and Obama employed in recent years. In a way, Donald Trump and the AfD have already changed both the US and Germany less through the power of their ideas but more through a loss of confidence in the liberal vision. Much to the chagrin of its supporters, defining liberalism today and on both sides of the Atlantic seems about defining its moral and practical limits. Similar to national identities, class identities were recalled from their deathbeds by Mr. Trump as an unlikely physician. In his acceptance speech on election night, he once more said »The forgotten men and women of our country will be forgotten no longer.«20 Protectionism as proposed by Donald Trump and Brexit leaders offers no safeguard against globalization nor against losing jobs through automatization. Yet President Obama’s vision of economic recovery failed to assuage the fears of decline of industrial jobs and the lifestyles they supported. These fears seemed somewhat exaggerated as the overall picture improved significantly. The unemployment rate in the US fell dramatically to less than 5 percent and wages rose moderately at the end of his second term.21 Yet, Americans benefited from these hopeful signs in different ways and too many still have no reason to be hopeful about the future. Germans too see more jobs moved to low wage countries in Eastern Europe or overseas.22 This endangers mostly low skills jobs, but recent years also saw increased competition in higher skilled and higher earning trades. 19 20 21 22

See Karnitschnig 2017. Trump 2016. See Kurtzleben 2017. »The present tendency to global industrial diffusion will entail, for the richer countries, a leveling down of wages, increased inequality of incomes, and / or high levels of (transitional?) unemployment. No one has abrogated the law of supply and demand.« (Landes 1999: 522).

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Liberals on both sides of the Atlantic have argued that higher education and the knowledge industries it sustains are the remedy against mobility of capital and jobs, and greater efficiency and innovation will keep at least some manufacturing at home. Yet Europeans have failed to create jobs for graduates particularly in Southern Europe, and Americans have fallen well short in making college more affordable. Despite efforts on both sides of the pond, elites largely reproduce themselves generating ever greater mistrust to those in charge.23 Bernie Sanders reminded Americans that liberals can do more to serve the areas hardest hit by globalization, yet the disparity between rich and poor in the US is widening at an alarming rate.24 Liberal elites who supported trade agreements such as the Trans-Pacific Partnership (TPP) and Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) must press for more safeguards to protect industries, safety and environmental standards while continuing to lobby for greater mobility of goods and people.25 European liberals have to think about how far the European Union project should reach, and how to fix its undemocratic government structures. Here too, liberals have to define the limits of globalization and European integration even as they seek to tap into their economic benefits. Nation and class made an unexpected return in 2016 and 2017 not as nightmarish 20 th century memories but as liberal liabilities. They reemerged in the US and Europe because the morally loaded vision of liberalism imposed an inevitability and limitless that could not be forged into lasting policies on immigration, European integration and globalization. President Obama and Chancellor Merkel unapologetically and eloquently defended liberal values, but the advent of Trump and the AfD will force American and Germans elites to think about the limits of this vision when it comes to policy making. They have to do that by formulating sound policy and without paying lip service to Donald Trump or the AfD that would only be understood as an endorsement of xenophobia and protectionism. Restoring confidence in a shared liberal vision for challenges faced by both countries will also strengthen the transatlantic bridge.

23 See Piketty 2014: 107. Piketty especially draws our attention to inheritance as a marker of elites. He critiques as illusion the idea that capitalism can generate a veritable meritocracy if only similar access to education is guaranteed. »The idea that unrestricted competition will put an end to inheritance and move towards a more meritocratic world is a dangerous illusion.« (Piketty 2014: 534). Furthermore, he suggests that elites are largely reproducing themselves through financing access to education. »In other words, parents’ income has become an almost perfect predictor of university access.« (Piketty 2014: 618). 24 See Hirsh 2016. 25 Compare to the contribution of Crister Garrett in this volume.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Alex Alvarez ist Professor für Criminology and Criminal Justice an der Northern Arizona University in Flagstaff, Arizona. Assistant Prof. Dr. Volker Benkert lehrt an der Arizona State University und war 2015 Gastdozent an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Assoz. Prof. Dr. Franz Eder ist assoziierter Professor für Internationale Beziehungen und Terrorismusforschung an der Universität Innsbruck. Dr. Moritz Fink ist Amerikanist und Medienwissenschaftler sowie Bibliothekar an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Axel Fischer, M. A. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Phillips-Universität Marburg. Prof. Dr. Crister S. Garrett ist Professor für American Culture and History an der Universität Leipzig. Dr. Katharina Gerund ist Akademische Rätin a. Z. und Habilitandin am Lehrstuhl für Amerikanistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. Konrad H. Jarausch war bis 2006 Leiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam und ist Lurcy Professor of European Civilization an der University of North Carolina in Chapel Hill. Dr. Daniel Kosthorst ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig (Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland). Prof. Dr. Marita Krauss ist Professorin für Europäische Regionalgeschichte sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte an der Universität Augsburg. Dr. Stefanie Kunze lehrt International und Native American Politics an der Northern Arizona University in Flagstaff, Arizona. Dr. Jan Logemann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Georg-August-Universität Göttingen.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Maren Roth ist Research Associate am Lasky Center for Transatlantic Studies des Amerika-Instituts der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiterin des Lasky Archivs. Dr. Heide Reinhäckel ist Literaturwissenschaftlerin und Journalistin und arbeitet und lebt in Berlin. Prof. Dr. Rolf Steininger war bis zur Emeritierung 2010 Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Dr. Frank Usbeck ist Amerikanist und Historiker in Leipzig.