Komparatistik gestern und heute: Perspektiven auf eine Disziplin im Übergang [1 ed.] 9783737004428, 9783847104421

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Komparatistik gestern und heute: Perspektiven auf eine Disziplin im Übergang [1 ed.]
 9783737004428, 9783847104421

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Global Poetics Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zur Globalisierung

Band 2

Herausgegeben von Christian Moser und Kirsten Kramer

Sandro M. Moraldo (Hg.)

Komparatistik gestern und heute Perspektiven auf eine Disziplin im Übergang

V& R unipress Bonn University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Verçffentlichungen der Bonn University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit Unterstþtzung der UniversitÐt Heidelberg, Exzellenzinitiative II, Zukunftskonzept – VerstÐrkung des internationalen Austausches; Fçrderlinie Gastprofessuren.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung:  Manfred Rinderspacher Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2365-7901 ISBN 978-3-7370-0442-8

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sandro M. Moraldo Komparatistik gestern und heute – Perspektiven auf eine Disziplin im Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rüdiger Zymner Komparatistik – Konturen einer literaturwissenschaftlichen Disziplin . .

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Horst-Jürgen Gerigk Wozu Komparatistik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Jürgen Joachimsthaler Was produziert Komparatistik? Vergleichen als kulturelle Praxis . . . . .

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Peter V. Zima Vergleichende Literaturwissenschaft als Soziosemiotik

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. . . . . . . . . .

David Damrosch Home Is Somewhere Else: Comparative Literature as a Migrant Discipline

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Manfred Schmeling Transfer und Vergleich in der Literaturwissenschaft. Zwischen Komparatistik und Kulturtransferforschung . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Christian Moser ,Weltliteratur‘ im Spannungsfeld von theoretischer Reflexion und Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

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Inhalt

Achim Hölter Thematologie heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Maria Moog-Grünewald Mythisierung des Mythos: Anmerkungen zu Pierre Klossowskis Le Bain de Diane. Oder : Die Unvermeidlichkeit der Antike . . . . . . . . . . . . . 161 Monika Schmitz-Emans Konstellieren und Vergleichen. Beobachtungen zu komparativen Autorenpoetiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Gertrud Maria Rösch Roman / clef. Von der komparatistischen Relevanz eines gemiedenen Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Vorwort

Dieser Sammelband geht auf eine Ringvorlesung zurück, die im Wintersemester 2014/2015 am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie (IDF) der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg zum Thema Komparatistik gestern und heute – Perspektiven auf eine Disziplin im Übergang gehalten und im Rahmen einer Gastprofessur organisiert wurde. Die Ringvorlesung war Teil eines umfangreichen Veranstaltungsprogramms zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft im BA- und MA-Studiengang Germanistik im Kulturvergleich. Der konzeptuelle Fokus führte in Probleme, Wissensbereiche und Verfahrensweisen der literaturwissenschaftlichen Komparatistik ein und an deren gegenwärtigen Stand heran. Sie eröffnete den thematischen Horizont, vor dem die konkreten Fragestellungen dann in den Seminaren abgehandelt wurden. Die Ringvorlesung adressierte aber nicht nur das akademische Fachpublikum, sondern insbesondere auch die interessierte Öffentlichkeit. Damit nahm sie eine wichtige Transferfunktion zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit wahr. Studierenden ermöglichte sie zudem interessante Einblicke in ein faszinierendes Themenfeld und bot dadurch Anregungen für die Spezialisierung ihrer weiteren wissenschaftlichen Ausbildung. Das Resultat liegt nun in gedruckter Form vor. Die als Vortrag konzipierten Beiträge wurden speziell für diesen Sammelband überarbeitet und aktualisiert. Daher gilt zunächst allen AutorInnen mein besonderer kollegialer Dank für ihre Geduld, ihr großes Engagement und den bis zur Vollendung der Publikation anhaltenden Enthusiasmus. Ein Forschungsstipendium der Bogliasco Foundation ermöglichte mir die Fertigstellung des Bandes. Dies ist die Gelegenheit, ihr meine Dankbarkeit auszusprechen. Der Band enthält insgesamt zwölf Beiträge, die zwar ohne weitere Untergliederung(en) präsentiert werden, aber dennoch in eine sinnvolle Reihenfolge gestellt wurden, so dass eine innere Systematik erkennbar wird. Den Auftakt bildet ein Beitrag von Sandro M. Moraldo, der kurz die Geschichte des Faches Komparatistik umreißt und deren Stellung in der öffentlichen Meinung sowie in der akademischen Welt reflektiert. In Anlehnung an Gayatri Chakravorty Spivak plädiert er für eine Repositionierung des Faches, um die Rahmenbedingungen

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Vorwort

und neueren Entwicklungen, die sich in einer globalisierten Welt auch für die vergleichende Literaturwissenschaft zwangsläufig ergeben, adäquat begleiten zu können. In Anlehnung an den Geschichts- und Kulturtheoretiker Jörn Rüsen versucht dann Rüdiger Zymner über die rein konventionellen Arbeitsfelder der Komparatistik hinaus, eine disziplinäre Matrix des Gegenstandsbereiches zu rekonstruieren. Ausgehend von dem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse werden u. a. die Funktionen der Komparatistik in der kulturellen Lebenspraxis und die Bedeutung von Literatur in der Gegenwart paradigmatisch erläutert und skizzenhaft ausgeführt. Auf die Frage Wozu Komparatistik? versucht dann wiederum Horst-Jürgen Gerigk eine Antwort zu geben. Er propagiert sowohl den Einbezug der Filmwissenschaft in die Disziplin als auch eine streng von dem ,vierfachen Schriftsinn‘ (dem buchstäblichen, dem allegorischen, dem tropologischen und dem anagogischen Sinn) bestimmte Haltung gegenüber dem literarischen Text, um ihn vor missbräuchlichen Kontextualisierungen literaturtheoretischer und -ideologischer Positionen zu bewahren. Was dagegen Komparatistik in der kulturellen Praxis produziert, ist Gegenstand des Beitrages von Jürgen Joachimsthaler. Hier geht es im Wesentlichen darum, die Disziplin innerhalb der Kulturwissenschaften deutlich zu profilieren. Er tra¨ gt der Einsicht Rechnung, dass der Vergleichenden Literaturwissenschaft im Laufe ihrer Geschichte vielfa¨ ltige Aufgaben zugewachsen sind, die ihr den Charakter einer Interkulturellen Komparatistik geben. Das zu Vergleichende gehört in den Kontext unterschiedlicher kultureller Gefüge, als deren Vertreter dann die jeweiligen Autoren und Texte aufeinander bezogen werden. Die These, dass Literatur auf gesellschaftliche Probleme mit sprachlichen Verfahren und sprachlichen Innovationen reagiert, wird von Peter V. Zima am theoretischen Zugriff der Vergleichenden Literaturwissenschaft als Soziosemiotik dargestellt. Jeder literarische Text wird von seiner historischen und ideologischen Umgebung hervorgebracht und ist dementsprechend von ihr abhängig. Diese produktive und kreative Auseinandersetzung der Literatur mit gesellschaftlichen Entwicklungen wird dann auch an praktischen, typologischen wie genetischen Vergleichen exemplifiziert. Die lebensgeschichtliche Erfahrung von Vertreibung und Exil und ihre Bedeutung für die „migrant discipline of comparative literature“ ist Gegenstand des Artikels von David Damrosch. Drei Gelehrte, Lilian R. Furst, Erich Auerbach und Leo Spitzer, die aufgrund der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aus ihrem Heimatland geflohen und über Umwege in die Vereinigten Staaten gelangt sind, haben die Desintegrationserfahrungen in ihren autobiographischen wie theoretischen Schriften auf je unterschiedliche Weise verarbeitet. Ihr kollektiver, persönlicher wie wissenschaftlicher Ausnahmezustand liefert wichtige Erkenntnisse ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung und verdeutlicht, wie zentral Identifikations- und Erinnerungsprozesse das eigene wissenschaftliche Schreiben beeinflussen können. Im Kontext von Wande-

Vorwort

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rungsbewegungen und Grenzüberschreitungen thematisiert dann Manfred Schmeling das Verhältnis von kulturellem Transfer und literaturwissenschaftlichem Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland. Die traditionsreiche Spannungsbeziehung wird am konkreten Beispiel der beiden Literatur-Nobelpreisträger Romain Rolland und Thomas Mann mit dem Ziel diskutiert, Aneignungs- aber auch Abgrenzungsbestrebungen im Kulturtransfer zu beleuchten. Welche Rolle spielt im Zeitalter der Globalisierung und Migration die Übersetzung für die Weltliteratur? Und: In welchem Verhältnis steht in diesem Kontext die literaturwissenschaftliche Theoriebildung zur Weltliteratur? Eine Antwort auf diese Fragen versucht Christian Moser in seinem Aufsatz. An der fremdsprachlichen Übertragung des Begriffs ,Weltliteratur‘ legt er nicht nur die asymmetrische Beziehung zwischen Übersetzung als Machtinstrument auf der einen und die darauf aufbauende literaturtheoretische Reflexion auf der anderen Seite offen, sondern fokussiert auch einen Modus ihrer kritischen Hinterfragung. Über die neueren Entwicklungen eines traditionellen Forschungsgegenstandes der Komparatistik, dem der Thematologie, informiert dagegen der Beitrag von Achim Hölter. Neben einem kurz gefassten historisch-systematischen Überblick der Auseinandersetzung mit den Elementen fiktionaler Texte (u. a. Stoffe, Motive, Symbole, Metaphern, Topoi) schlägt sein Beitrag auch eine Brücke zu aktuellen Themen und Tendenzen der literarischen Inhaltsforschung, der sich durch die zunehmende Verfügbarkeit digitaler Daten (Stichwort Digital Humanities) neue Forschungsmöglichkeiten eröffnet haben. Wie wichtig für die Komparatistik die Kenntnis der griechisch-römischen Kultur, ihrer Sprachen und Literaturen auch im Zeitalter einer globalisierten Welt ist, demonstriert indessen die Studie von Maria Moog-Grünewald. Die Unvermeidlichkeit der antiken Literatur wird hier an der Rezeption und Variation der Geschichte des Actaeon-Mythos in Pierre Klossowskis Le Bain de Diane illustriert. Klossowskis literarischer Essay steht aber nicht nur exemplarisch für die Wirkungsgeschichte von Ideen, Motiven und Stoffen der Antike, sondern auch für den hohen Stellenwert, den die Mythenrezeption für das Verständnis der Moderne bietet. Dass vergleichen auch konstellieren sein kann, wird im Beitrag von Monika SchmitzEmans über die Autorenpoetiken von Italo Calvino, Michael Lentz und Peter Rühmkorf deutlich. Von der literaturwissenschaftlichen unterscheidet sich die konstellierende Komparatistik in ihrer Vorgehensweise. Nicht mehr der Zugriff auf die den Objekten immanenten Vergleichs-Gegenstände steht im Zentrum, sondern das erfinderische Spiel am Zusammenstellen und Konstruieren, das als para-kreative, experimentelle Anwendung praktiziert wird. Den Band schließt der Blick von Gertrud Maria Rösch auf die Verschlüsselung wirklicher Personen, Zustände und Geschehnisse in der deutschsprachigen, angelsächsischen und chinesischen Literatur. Zum einen wird nach den Gattungen, narrativen Verfahren und Funktionen der Vermischung von Fakten und Fiktionen gefragt, zum

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Vorwort

anderen der Begriff des Schlüsselromans aus der Peripherie wieder in das Zentrum literaturwissenschaftlicher Diskussionen gerückt. Mit der Herausgabe werden die einzelnen Beiträge nun einer weiterfu¨ hrenden Auseinandersetzung zuga¨ nglich gemacht. Der Sammelband ist, wie oben bereits erwähnt, das Ergebnis einer Ringvorlesung, die im Rahmen einer Gastprofessur am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Heidelberg gefördert wurde. An dieser Stelle geht daher mein Dank an die Ruperto Carola, die im Rahmen der Exzellenzinitiative meinen Lehr- und Forschungsaufenthalt finanzierte. Allen voran möchte ich Prof. Dr. Gertrud Maria Rösch meinen außerordentlichen Dank aussprechen. Nur durch ihr Engagement wurde meine Gastprofessur an diesem national wie international renommierten Institut möglich. Mit ihren konstruktiven Anregungen sowie ihrer fortwährenden Diskussionsbereitschaft und fachlichen Unterstützung hat sie meinen Aufenthalt am IDF nicht nur mit großem Interesse begleitet, sondern auch entscheidend zu einer einzigartigen persönlichen wie wissenschaftlichen Erfahrung werden lassen. Bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Christiane von Stutterheim, die als Geschäftsführende Direktorin des IDF die Gastdozentur seinerzeit nachhaltig unterstützt hat. Aber auch bei Dr. Martina Engelbrecht, Studienkoordinatorin am und guter Geist des IDS, die die Planung und Ausführung der Ringvorlesung mit Rat und Tat effektiv und professionell unterstützte. Dem Kollegen Dr. Michael Haase danke ich für fachliche Auseinandersetzungen und Diskussionen. Das gemeinsame Arbeitszimmer bot dafür im wahrsten Sinne des Wortes genug Raum. Nicht zuletzt danke ich allen KollegInnen am IDS für die angenehme Arbeitsatmosphäre und gute Zusammenarbeit. Prof. Dr. Christian Moser danke ich für die Bereitschaft, den Band in der von ihm und Kirsten Kramer betreuten Reihe Global Poetics aufzunehmen. Die Realisierung des Bandes wäre dabei ohne die tatkräftige Unterstützung des Verlages so nicht möglich gewesen. Daher möchte ich Marie-Carolin Vondracek für die schöne Zusammenarbeit meinen Dank aussprechen. Last but not least bedanke ich mich auch bei dem Fotografen Manfred Rinderspacher, der sein Foto von dem allegorischen Gemälde des Historienmalers Ferdinand Keller Gründung der Universität Heidelberg aus der Alten Aula der Ruperto Carola freundlicherweise für das Cover zur Verfügung gestellt hat. Eine persönliche, traurige Note zum Schluss: Jürgen Joachimsthaler konnte das Erscheinen dieses Buches leider nicht mehr miterleben. Er verstarb am 7. Januar 2018 nach langer und schwerer Krankheit. Seinem Andenken ist dieser Sammelband gewidmet. Sandro M. Moraldo

Bologna/Forl', im Frühjahr 2019

Sandro M. Moraldo

Komparatistik gestern und heute – Perspektiven auf eine Disziplin im Übergang Whatever our view of what we do, we are made by the forces of people moving about the world. Gayatri Chakravorty Spivak

Die Zweifel, welchen Bildungssinn und welche darüber hinaus gehenden Effekte die Beschäftigung mit mehreren Literaturen haben könne, gehörte u. a. zu den Vorurteilen der Nationalphilologien gegenüber einer aufstrebenden Disziplin, der Komparatistik, die sich literaturvergleichende Studien in Theorie und Praxis auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Lange Zeit wurde die wissenschaftliche Haltbarkeit komparatistischer Praktiken auf institutioneller, akademischer Ebene stark in Frage gestellt. Das Fach musste sich lange Zeit gegen den Vorwurf behaupten, nicht über ein wissenschaftlich tragfähiges Instrumentarium zu verfügen. Bezeichnend für diese reservierte Haltung war wohl auch die Sorge einzelphilologischer Fachvertreter, dass eine „komparatistische Horizonterweiterung“ (Bauer 1988, S. 39), d. h. eine zunehmende Aufsplitterung der literaturwissenschaftlichen Lehrinhalte, die in der Schaffung eines Faches wie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft offenkundig wird, auf längere Sicht die Identität ihrer eigenen Disziplin bedrohen, ihr Fach innerhalb der Geisteswissenschaften an Bedeutung verlieren, ihm allmählich seine Definitionsmerkmale abhanden kommen und letztendlich Stellen gestrichen oder umgeschichtet werden könnten. Im Brustton moralischer Überlegenheit und mit der Lust an der rhetorischen Vernichtung formulierten sie statt konkreter Kritik unreflektierte Pauschalurteile.1 Derlei Scharmützel waren sicherlich wenig auf1 Stellvertretend für solche Einstellungen sei hier aus der Eröffnungsansprache Roger Bauers auf dem 12. Weltkongress der Komparatisten 1988 in München zitiert: „Die deutsche Sonderentwicklung führte lange zur konsequenten Verweigerung einer Institutionalisierung des Faches. Erst nach 1945 kam es, zögernd und vorerst nur in der französischen Besatzungszone, zu den ersten Gründungen von komparatistischen Lehrstühlen und Instituten: ein ausreichender Grund dafür, nachzuprüfen, mit welchen Argumenten schon um 1900 und um 1925 frühere, ähnliche Vorhaben abgewehrt worden sind. Nach dem Germanisten Hans Daffis und Ernst Eisler um 1900 machte ein Vierteljahrhundert später auch der Germanist Julius Petersen geltend, dass ja ohnehin ,jede Nationalliteratur vergleichende [auch interliterarisch vergleichende] Aufgaben in sich schliesst‘. Daraus folgerte er, dass für ein eigenes, auf das Verglei-

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schlussreich und lenkten vom wahren Kern des Problems ab. Dennoch plädierten die Nationalphilologen für ein Festhalten am Status quo. Die Entwicklung beruflicher Perspektiven im Bereich des Lehramts war dafür sicherlich ein gewichtiges Argument. Die Germanistik präge – im Gegensatz zur Komparatistik – ein Berufsprofil. Ihr Studium gelte im öffentlichen Bewusstsein immerhin als allgemein qualifizierendes geisteswissenschaftliches Studienfach, als Ausbildungsphase, die – zumindest in Zeiten akuter Lehrermangel – relativ rasch zur Berufstätigkeit führe. Wenn man nun Zeitgeistbetrachtungen glauben darf, dann diente Komparatistik Anfang der 1970er Jahre „de facto nur der Ergänzung und Abrundung der bestehenden Universitätsphilologien“ und litt unter dem Komplex, dass sie „im Grunde genommen in den Philosophischen Fakultäten die Rolle des ,Zugroasten‘ [spiele], den die Einheimischen mit scheelen Blicken verfolgen und dessen Niederlassungs- und Existenzrecht sie grundsätzlich in Frage stellen möchten“ (Koppen 1971, S. 43 und S. 48). Man sah in ihr eine exzentrische selbstgefällige Disziplin, „eine Aktivität am Rande der etablierten Philologien […], vornehm, gediegen und menschheitsfreundlich, doch auch ein wenig abseitig und – in Krisenzeiten – von fraglichem Nutzwert“ (Schulz-Buschhaus 1979, S. 223). Diese ,Gewaltenteilung‘ dämpfte das Selbstbewusstsein der Fachvertreter und machte aus vergleichenden Lehren wünschenswerte Empfehlungen. Ende der 1970er Jahre widersprach zwar Ulrich Schulz-Buschhaus vehement diesem akademischen Bild und monierte unter dem Stichwort Die Unvermeidlichkeit der Komparatistik sowohl die mangelnde Reaktion nationalphilologischer Disziplinen auf aktuelle internationale Herausforderungen als auch ein Desiderat in der Forschung. Statt einer zweischneidigen Integration in die jeweiligen einzelsprachlichen Literaturen wurde die Kontinuität literaturvergleichender Tradition proklamiert. Doch noch Anfang der 1990er Jahre konstatierte Wilfried Barner zum einen „die besondere Labilität der Allgemeinen Literaturwissenschaft im Fächersystem“, zum anderen „auch ihre relativ schmale institutionelle Grundierung“ (1997, S. 298). Das geringe Interesse an der Komparatistik innerhalb der universitären Realität spiegelte auch die minimale Bedeutung des Faches im öffentlichen Bewusstsein wider. Die Diskussionen um das institutionelle und publike Verständnis kommt exemplarisch in einem Zeitungsartikel zum Studienfach Ende der 1980er Jahre zum Ausdruck. Dort heißt es:

chen spezialisiertes Fach kein Bedürfnis bestehe: Offensichtlich war selbst Petersen dem Irrtum verfallen, nach dem die erste, ja alleinige Aufgabe des Komparatisten das wie immer geartete Vergleichen sei. Noch bedauerlicher ist aber folgende Informationslücke des grossen Gelehrten: selbst er weiss nichts (oder will nichts wissen) vom enzyklopädisch-kosmopolitischen Idealprogramm der ersten, authentischen Komparatisten.“ (Bauer 1988, S. 39)

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„Wenige andere geisteswissenschaftliche Disziplinen haben sich über so heftige Widerstände hinwegsetzen müssen, wie die Vergleichende Literaturwissenschaft, die Komparatistik. Wenig andere Disziplinen haben in solchem Maße unter Selbstdarstellungszwang, zugleich aber auch unter Rechtfertigungsnot gestanden. Lange Zeit wurde das Fach im öffentlichen Bewußtsein völlig ignoriert, im universitären Bereich jedoch, zumal von den Vertretern der Nationalphilologien, als ,Superdisziplin‘ verlacht, deren vermeintlicher Anspruch auf literaturwissenschaftliche Universalität notgedrungen zu institutionalisiertem Dilettantismus führen müsse. Unpopularität und Unverständnis waren die Konsequenzen eines diffusen und undifferenzierten Selbstverständnisses, das gerade an den Punkten zu wünschen übrig ließ, an denen es darum ging, die Inhalte und Ziele des Faches zu formulieren und dabei seine Eigenständigkeit auf der einen, seine Relevanz und Tragweite auf der anderen Seite herauszustellen.“ (Mielke 1988)

Auch wenn die breite Öffentlichkeit das Fach weitgehend igonierte und die Vertreter der Einzelphilologien polemisierten und philosophierten: die komparatistische Zunft versuchte Überzeugungsarbeit in moderatem Ton zu leisten. Der Germanistik blies, wie anderen Fächern der Neuphilologischen Fakultät, schließlich der komparatistische Zeitgeist ins Gesicht und einige Universitäten suchten letztendlich die Chance, sich als innovations- und zukunftsfähig zu profilieren. Fakt ist, dass der Konflikt zwischen den Interessengruppen allmählich versandete, die Schallmauer durchbrochen und das Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft/Komparatistik an Konturen gewann und institutionalisiert wurde. Für Ren8 Wellek, sicherlich einer der führenden Adovakten dieser neuen literarischen Weltanschauung, hat „[d]ie Vergleichende Literaturwissenschaft das außerordentliche Verdienst, die falsche Isolation nationaler Literaturbetrachtung bekämpft zu haben“ (Wellek 1973, S. 93). Der Einzug der Komparatistik in die Lehrpläne hat die Universitätslandschaft zwar nicht grundlegend geändert. Doch das Fach gewann mit der Zeit und insbesondere im Zuge der Globalisierung zunehmend an Attraktivität und rückte aus der bisherigen Randlage ins Zentrum (nicht nur) der deutschsprachigen Hochschullandschaft. Aus der lange Zeit belächelten Außenseiterphilologie ist inzwischen einer der aufregendsten und innovativsten Wissenschaftszweige geworden. Allein schon die in diesem Jahrtausend im deutschsprachigen Raum erschienenen Einführungen in die Disziplin (Corbineau-Hoffmann 2000; Grabovszki 2011; Zemanek/Nebrig 2012; Zymner/Hölter 2013) sind ein Indiz für den Wandel in der Einstellung zum Fach.2 So erfreulich aber die Aufnahme der Komparatistik in das universitäre Cur2 In den Handbüchern kommt es allerdings meist immer noch zu einer „Diskrepanz zwischen der globalen Offenheit“, die die konzeptuelle Ebene der Handbücher auszeichnet, und „der eurozentrischen Beschränktheit im Bereich der Praxis“, wie Moser (2012, S. 189) nicht zu Unrecht in Bezug auf Grabovszki (2011) und Zemanek/Nebrig (2012) anmerkt.

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riculum ist, so merkwürdig ist wiederum die Tatsache, dass seit ihren Anfängen vor mehr als einem Jahrhundert bis in die heutige Gegenwart die Frage, was darunter nun eigentlich zu verstehen sei, immer wieder gestellt wird. Ob nun auf englisch (What is Comparative Literature?), deutsch (Was ist Vergleichende Literaturwissenschaft?, leicht variiert auch unter den Überschriften Was ist Komparatistik? oder Vergleichende Literaturwissenschaft – Was ist das?), französisch (Qu’est-ce que la litt8rature compar8e?), italienisch (Che cos’H la Letteratura Comparata?) oder im hispanistischen Raum (¿Qu8 es literatura comparada?): Man wird das Gefühl nicht los, als müsse das Fach gegenüber akademischer Gemeinschaft und Öffentlichkeit fortwährend Rechenschaft ablegen über seinen Gegenstandsbereich, seine Zielsetzungen und seinen Nutzwert. Ein purer Zufall? Tatsache ist jedenfalls, dass sich für keine andere Philologie, sei es nun die Romanistik, Slawistik, Hispanistik, Anglistik, Klassische Philologie oder die Germanistik, Amerikanistik und Italianistik etc., die so oft gestellte gleiche Frage über einen so langen Zeitraum (1903–2014) nachweisen lässt, wie für die Komparatistik.3 Als universitäres Fach ist sie sicherlich eine verhältnismäßig junge Disziplin, die ihr Selbstverständnis immer wieder neu suchen muss und sich deshalb in ihren Orientierungen vielleicht auch schneller bewegt und verändert als andere Studienfächer. Zum anderen lassen ihre zentralen Gegenstände, die Weltliteratur, Kunst und (Medien-)Kultur in all ihren vielfältigen Verbindungen, Erscheinungen und Wandlungen, eine Statik der Begriffe und ein stabiles Selbstverständnis kaum zu. Aber das gilt in einem gewissen Rahmen auch für die anderen Philologien. Natürlich sind einige der erschienenen Abhandlungen dem fachwissenschaftlichen Profil geschuldet, an Hand derer Studieninteressierte grundlegende Einsichten in fachspezifische Denkweisen und Methoden bekommen sollen.4 Und sicherlich greift eine solche Erklärung nicht zu kurz. Aber reicht das als Begründung? Es mag schwer sein, eine definitive 3 Den Anfang macht 1903 Charles Mills Gayley. Nur wenige Jahre später, 1926, formuliert Oscar James Campbell die gleiche Frage. Ihm folgen 1973 Herbert Seidler, 1995 Horst-Jürgen Gerigk und 1996 George Steiner. Im neuen Jahrtausend versuchen dann Pierre Brunel/Claude Pichois/Andr8-Michel Rousseau (2000), Evi Zemanek (2012), Michela Meschini (2014), Irlanda Villegas/David Reyes/Carlos Royas Ram&rez (2014), Peter Goßens (o. J.), Hendrik Birus (o. J.) und Martin von Koppenfels/Robert Stockhammer (o. J.) fundierte Antworten auf die analoge Fragestellung zu geben. [Die mit o. J. gekennzeichneten Angaben ließen sich nach Recherchen dem neuen Jahrtausend zuordnen. An der Ludwig-Maximilians-Universität München wurde der Text von Hendrik Birus vor wenigen Jahren durch den von Martin von Koppenfels/Robert Stockhammer ersetzt.] 4 So z. B. unter anderem an der Georg-August-Universität Göttingen (https://www.uni-goettin gen.de/de/38805.html) oder der Ludwig-Maximilians-Universität München (https://www. komparatistik.uni-muenchen.de/ueber_uns/portrait/index.html). Vgl. dazu auch den kreativen Kurzfilm Was ist Komparatistik? – Ein studentisches Filmprojekt über den Studiengang an der Universität Augsburg (https://www.philhist.uni-augsburg.de/lehrstuehle/germanistik/ komparatistik/Studentisches-Engagement/studentisches-filmprojekt/).

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Antwort zu geben, sofern es überhaupt eine definitive Antwort gibt. In Anbetracht der besonders gehäuft auftretenden Frage über eine so lange Zeitspanne hinweg mutet diese Feststellung zumindest wie ein besonderes Kuriosum an. Zu verstehen, was Komparatistik eigentlich bedeuten soll, heißt letztlich, jene Problemsichten nachzuvollziehen, die das Fach im Laufe seiner Geschichte entwickelt hat. Dies wird schon bei dem Terminus Komparatistik notwendig, der unter seinem aktuellen Wortgebrauch die unterschiedlichen historischen Schichten und Begriffe oft vergessen lässt: „Les 8tudes de litt8rature compar8e ne datent pas d’hier, et, comme il arrive, la chose existait avant que le nom f0t cr88“. (Van Tieghem 1906, S. 268) Stehen am Anfang „[l]es relations des diverses litt8ratures entre elles, les actions et r8actions qu’elles exercent ou subissent, les influences morales ou simplement esth8tiques qui d8rivent de ces 8changes d’id8es“ (Texte 1893, S. 253), so steht der heutigen Wortbedeutung nach Komparatistik für einen interdisziplinären Ansatz, der Literatur (die conditio sine qua non) in ihren transnationalen, transkulturellen und intermedialen Zusammenhängen untersucht. In Relation etwa zu seiner (oft) synonym verwendeten Bezeichnung Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (AVL) hat Komparatistik sicherlich den Vorzug, „dass der intendierte [transdisziplinäre; S.M.M.] Ansatz mit inbegriffen ist, während AVL die literaturzentrierte Perspektive betont“ (Zemanek 2012, S. 12). Die beiden Benennungen werden zwar weiterhin weitgehend parallel gebraucht. Doch aufgrund ihrer konzeptionell anders gelagerten Ansätze wäre es sicherlich angebrachter, sie terminologisch separat auszuweisen. Dass Komparatistik mittlerweile über die rein literaturwissenschaftliche Untersuchung hinaus geht, ist eine Errungenschaft, die Anfang der 1960er Jahre Henry H. H. Remak (1916–2009) mit seiner Definition der Vergleichenden Literaturwissenschaft als „the study of literature beyond the confines of one particular country, and the study of the relationships between literature on the one hand and other areas of knowledge and belief, such as the arts (e. g., painting, sculpture, architecture, music), philosophy, history, the social sciences (e. g., politics, economics, sociology), the sciences, religion, etc., on the other hand“ (Remak 1961, S. 3) definitiv absegnen wird. Dabei reicht die Geschichte des Faches weit in die Antike zurück. Wer sich mit vergleichenden Praktiken beschäftigt, hat es nämlich mit einem Konzept zu tun, das historisch über weite Strecken an verschiedene spezifische Termini gebunden war. In der literarischen Streitdichtung (u. a. Streitgespräch und -gedicht) der griechischen Antike verstand man unter dem Ausdruck der s}mjq_sir (sy´nkrisis) „die vergleichende Gegenüberstellung von Personen und Sachen“ in Form einer „gewichtende[n] Reihung von Ähnlichkeiten und Unterschieden“ (Gärtner 2001, Sp. 1156). Aufgrund ihrer agonalen (gr. agon = dt. Wettstreit) Eigenart korrelieren die vorgenommenen Überlegungen und Feststellungen mit (entweder auf- oder entsprechend ab-)wertenden Urteilen. Werden in der griechi-

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schen Literatur die mit Objekten und/oder Personen verknüpften Wertvorstellungen begrifflich unter der sy´nkrisis gefasst, so wird in der römischen Literatur der Vergleich diskursiv unter dem Begriff der comparatio eingeführt. Das ,Nebeneinander-Stellen‘ griechischer und lateinischer Texte erfüllt nun erstmals die für eine „8tude comparative des litt8ratures“ geforderte Wechselbeziehung „des diverses litt8ratures entre elles“ (Texte 1898, S. 1). Anders formuliert: Sie definiert sich jetzt auch dadurch, „daß sie literarische Phänomene, in erster Linie Texte, aus wenigstens zwei sprachlich verschiedenen Literaturen zum Gegenstand hat“ (Lamping 2007, S. 217). Plutarchs Doppelbiographien (oR b_oi paq\kkgkoi, B&oi par#lleloi; ab 96 n. Chr.) werden diesbezüglich immer wieder als anschauliches Beispiel angeführt. Es handelt sich dabei zwar um keine fiktiven Texte, sondern um parallele Lebensbeschreibungen der berühmtesten Griechen und Römer. Doch entscheidend ist das methodische Vorgehen: In einer vergleichenden Gegenüberstellung sagenhafter Gründergestalten und Staatsmänner (u. a. Teseus vs. Romulus, Alexander der Große vs. Caeser, Demosthenes vs. Cicero) werden durch „antithetisch zugespitzte Urteile“ (Nebrig 2012, S. 26) Unterschiede wie Gemeinsamkeiten der griechischen und römischen Kultur reflektiert. Die historische Kontinuität dieses antiken Vergleichsmodells lässt sich bis in die Frühe Neuzeit verfolgen, in der es aber im Bemühen, ausgehend von der Renaissance, um eine Wiederbelebung der kulturellen Leistungen der griechischen wie römischen Antike zu einem Wettbewerb sui generis kommt. Es ist zwar eine Kontinuität, aber sie ist gebrochen. Dieser Bruch lässt sich am Begriff der aemulatio (lateinisch aemulatio, zu aemulari = dt. wetteifern) festmachen, mit dem eine neue Zugriffsoption auf die antike Tradition und damit einhergehend ein neuzeitliches Selbstverständnis signalisiert wird. Aemulatio, so Barbara Bauer (1992), bedeutet als rhetorischer und dichtungstheoretischer Terminus das Wetteifern mit einem stilistischen oder poetischen Vorbild, in der Absicht, es zu erreichen oder gar zu überbieten. Beispielhaft hat Julius Caesar Scaliger (1484–1558) in Criticus, dem fünften seiner auf sieben Bände konzipierten, einflussreichen dichtungstheoretischen Poetik der Renaissance Poetices libri septem (1561), dieses produktionsästhetische Grundprinzip anhand eines Vergleichs der wichtigsten Vertreter des Epos, des Griechen Homer und des Römers Vergil, exemplifiziert und damit auch Wesentliches für die vergleichende Literaturkritik geleistet. An der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert setzt mit der von Charles Perrault (1628–1703) initiierten Querelle des Anciens et des Modernes, die die grundsätzliche Vorbildfunktion der Antike in Frage stellte, ein Paradigmenwechsel ein, da „der Vergleich mit der Antike nunmehr seiner apologetischen (rechtfertigenden) oder polemischen Funktion entledigt war und für das wissenschaftlich-historische Interesse frei wurde“ (Nebrig 2012, S. 29). Nach der Abwendung von den antiken Kampfschriften setzt nun durch

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Vergleichung (vgl. Johann Elias Schlegels Vergleichung Shakespeares und Andreas Gryphs; 1741) oder comparaison (vgl. August Wilhelm Schlegels Comparaison entre la PhHdre d’Euripides et celle de Racine; 1807) eine Neuausrichtung der Literaturkritik ein. Insbesondere Johann Elias Schlegels Abhandlung leistet „einen wesentlichen Beitrag zu einer Vorgeschichte der Komparatistik in Deutschland“ (Sarkhosh 2013, S. 290). Das Forschungsinteresse bietet jetzt die Möglichkeit, aus Vergleichen doch noch eine substantielle Bestimmung der Literatur zu destillieren, indem man Motive, Affekte, Figurengestaltung usw. untersucht und das durch die Bühne vermittelte subjektive ästhetische Erlebnis reflektiert. Die Bühne wird also weniger oder nicht mehr als moralische Anstalt verstanden, sondern vielmehr als Projektionsfläche eigener psychischer Vorgänge. Und mit August Wilhelm Schlegels comparaison kommt dann schließlich und endlich das „seit der Antike wirksame Genre der rhetorischen Literaturkritik […] an ein Ende“. Schlegels Erfolg liegt darin begründet, dass sein poetologisch motiviertes Programm eine tragfähige Grundlage für eine VergleichsStrategie bietet, da es ihm gelingt, „literaturpolitische Polemik und Wertung mit einer differenzierten Analyse zu verbinden“ (Nebrig 2012, S. 32). Auf unterschiedlichem Wege wurde dann Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich und im 20. Jahrhundert in Deutschland die Materie systematisiert sowie als Disziplin institutionalisiert: „A field or manner of study, of reading, of secondary discourse (edition, commentary, critical classification) becomes a visible entity in the modern scholastic-academic edifice“, schreibt George Steiner (1994), „when it produces books explicit to itself, when it establishes university chairs, journals and a syllabus. In steps at first tentative and almost unnoticed, comparative literature begins to accede to these criteria around the turn of the century“. Seit etwa Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts besteht dann auch eine lexikalisierte Bindung an die einzelsprachlichen Formen der Bezeichnung Vergleichende Literaturwissenschaft. Hierbei handelt es sich um eine Lehnübersetzung aus dem Französischen, in dem litt8rature compar8e in Anlehnung an anatomie compar8e des Begründers der modernen vergleichenden Anatomie Georges Cuvier (1769–1832) entstanden ist (vgl. LeÅons d’anatomie compar8e. 5 Bände. Paris 1798–1805). Für Cuvier ist der Vergleich (comparaison) „das adäquate Verfahren, wenn es gilt, die ,Gesetze‘ zu erfassen, nach denen die existierenden Organismen funktionieren und die die Beziehungen der Organismen zueinander regieren: diese Gesetze gelten nämlich im Teil wie in der Gesamtheit“ (Bauer 1988, S. 39). Ähnlich wie in der vergleichenden Anatomie, die den anatomischen Aufbau verschiedener Tierarten gegenüberstellt, geht die vergleichende Literaturwissenschaft vor. Sie versucht aus den transliterarisch beobachteten Gemeinsamkeiten und Differenzen Rückschlüsse zu ziehen, um literarische Grundprinzipien zu erkennen, die nationenübergreifend Gültigkeit beanspruchen können. Gleichzeitig rückte Bauer das damals gängige Bild zu-

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recht, „das Geschäft des Komparatisten“ beschränke sich lediglich „auf den mechanischen, horizontlosen Vergleich“. Das Phänomen sei dagegen differenzierter zu betrachten, denn für „die frühen Komparatisten war der Vergleich […] nie Selbstzweck und somit auch kein mechanisch anzuwendendes Verfahren. Wichtiger als der Vergleich selber war eben der Zweck, dem er dienen sollte“ (ebd.). Einen wichtigen Schritt hin zur Neubewertung der Vergleichenden Literaturwissenschaft unternahm Ren8 Wellek (1903–1995) mit seiner Rede The Crisis of Comparative Literature, die er auf dem 2. Kongress der International Comparative Literature Association (ICLA)/Association Internationale de Litt8rature Compar8e (AILC) in Chapel Hill im Herbst 1958 gehalten hat. Mit ihm wird die Disziplin innerhalb einer reformierten literarischen Vergleichswissenschaft wieder in ihr Recht gesetzt. Die neue Selbstsicherheit der Disziplin zeigte sich auch an ihrer Bereitschaft, die eigenen Leitbilder zu demontieren. Welleks Beitrag markiert zwei programmatische und durchaus kontroverse Postionen: die der französischen und die der amerikanischen Schule. Den Hauptvertretern der französischen Schule Fernand Baldensperger (1871–1958), Paul Van Tieghem (1871–1948), Jean-Marie Carr8 (1887–1958) und Marius-FranÅois Guyard (1921– 2011) warf er vor, der Fachdisziplin „eine veraltete Methodik“ aufgebürdet zu haben: „die erdrückende Last eines vom 19. Jahrhundert übernommenen Positivismus“ (Wellek 1973, S. 93), bei dem sich der Vergleich strikt auf die Beschreibung von Zusammenhängen, Tatsachen und den für ihr Zustandekommen maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten beschränkte. Nicht zuletzt auch seine Kritik an der von Paul Van Tieghem (1871–1948), Charg8 de conf8rences de litt8rature compar8e / la Sorbonne, in seinem 1931 publizierten einflussreichen Abriss La litt8rature compar8e postulierten, wertenden Trennung zwischen Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft dürfte den Komparatisten den Blick für die Schärfe der Problematik geöffnet haben. Die litt8rature g8n8rale, „un ordre de recherches qui porte sur les faits communs / plusieurs litt8ratures, consid8r8s comme tels, soit dans leurs d8pendances r8ciproques, soit dans leur co"ncidence“, wird von Van Tieghem als Antwort auf die „[i]nsuffisance de la litt8rature compar8e born8e aux rapports binaires“ hochstilisiert (S. 174 und S. 169). Kritiker haben die damals schnell ausgerufene ,Krise‘ in eine verzweigte Debatte einmünden lassen. Nicht zuletzt hat in dieser Zeit das Konzept einer internationalen Komparatistik mit Viktor Zˇirmunskijs dychotomischer Systematik, d. h. der Unterscheidung zwischen dem historisch-typologischen Vergleich, „der die Ähnlichkeit genetisch nicht miteinander verbundener Erscheinungen durch ähnliche gesellschaftliche Entwicklungsbedingungen erklärt“ und dem historisch-genetischen Vergleich, „der ähnliche Erscheinungen als Ergebnis ihrer genetischen Verwandtschaft […] betrachtet“ (zit. in: Markiewicz 1968,

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S. 1325), eine zusätzliche Facette bekommen und auch an methodologischer Schärfe und Attraktivität gewonnen.5 Inzwischen kann die Komparatistik auf eine mehr als erfolgreiche Tradition zurückblicken, die gleichzeitig neue Perspektiven eröffnet. Die Forschungsgebiete sind aufgrund ihrer Transdisziplinarität derart weitverzweigt, dass ihre Wissenschaftsgeschichte eine wahre Herausforderung darstellt. Die nach der institutionellen Etablierung der Komparatistik an deutschsprachigen Universitäten geschriebenen Einführungen von Ulrich Weisstein (1968), Hugo Dyserinck (1977), Gerhard R. Kaiser (1980) und Peter V. Zima (1992) sowie die Sammelbände von Horst Rüdiger (1973) und Manfred Schmeling (1981) sind wichtige, entscheidende Etappen, ja Meilensteine auf dem Weg hin zu einem klar definierten Fachverständnis. Will man aber heute die Konturen der Komparatistik „aus fachgeschichtlichen, methodischen und theoretischen Linien, aus allgemeingeschichtlichen und politischen Aspekten und Orientierungen, aus wechselnden Gegenständen […] und unterschiedlichen Fragestellungen zu diesen Gegenständen, aus disziplinären Praktiken, Gewohnheiten und organisatorischen Differenzierungen“ systematisch und historisch nachzeichnen (Hölter/ Zymner 2013a, S. 1), so kann ein solches Unternehmen eigentlich nur in Teamarbeit erfolgreich bewältigt werden, wie dies die Publikationen von Zemanek/Nebrig (2012) und Zymner/Hölter (2013) auf überzeugende und beeindruckende Weise leisten. Längst strebt aber die westliche Wahrnehmung literarischer wie künstlerischer und (medien)kultureller Phänomene zunehmend über die Grenzen der abendländischen Komparatistik hinaus. Gleichwohl ist mancherorts der geographische Geltunsgbereich dessen, was im deutschsprachigen Raum unter Komparatistik verstanden wird, nach wie vor weitgehend eurozentrisch geprägt. Aber in Europa leben derzeit mehrere Millionen Migranten. Dadurch entstehen nicht nur komplexe Gesellschaften, sondern auch transnationale Kulturdiskurse, zusätzlich vernetzt durch Medien und Reisebewegungen. Vor dem Hintergrund der Globalisierung, des Multikulturalismus und weltweiter Migrationsbewegungen erschien es daher nur eine Frage der Zeit, dass auch an das Fach Komparatistik die Erwartung herangetragen wurde, sich der ,neuen‘ Weltliteratur zu öffnen. Schon 1990 schien sich für Leo Kreutzer durch die zunehmende Integration der Literaturen von Entwicklungsländern in den weltliterarischen Prozess „eine Fragestellung für ein nicht länger eurozentrisches Konzept vergleichender Literaturwissenschaft abzeichnen zu wollen“ (1990, S. 12).6 Der ver5 In Zhirmunsky (1966) ist noch von „typological analogies“ und „convergences“ die Rede. Vgl. ˇ urisˇin (1976, S. 47f.) und die „fünf Vergleichstypen“ von Schmeling zu dieser Thematik auch D (1981, S. 11ff.). 6 George Steiner (1996b, S. 48) reflektiert diesen Wandel folgendermaßen: „It is almost axio-

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stärkte Blick nach ,außen‘ sollte dem Fach, das im Zeitalter inter-, bzw. transkultureller Dynamik unter Legitimationsdruck geriet, eine globale Perspektive verschaffen. Um die Jahrtausendwende monierte schließlich die an der Columbia University lehrende Gayatri Chakravorty Spivak unter dem Schlagwort Death of a Discipline die mangelnde Reaktion der Komparatistik auf anstehende globale Herausforderungen. Für eine Erweiterung und Neubewertung des Faches hat sie, moderat im Ton aber hart in der Sache, einen der Grundsteine gelegt. Ihre Wellek Library Lectures, gehalten 2000 an der University of California, Irvine unter dem Titel The New Comparative Literature, verstand sie zwar selbst noch „as the last gasp of a dying discipline“. Doch ihr „call for a ,new comparative literature‘“ (Spivak 2003, S. xii), dem Einschlagen von „alternative paths“ im Bemühen, „to carry forward the tectonic shift from a largely European-oriented discipline to a truly global perspective“, wie es der Begründer des Institute for World Literature an der Harvard University, David Damrosch, formuliert hat (2006, S. 99), blieb nicht unerhört.7 Die von ihr ausgelösten Diskussionen boten dann auch einen Rahmen, der die Sichtweisen auf die Komparatistik – „in response to the rising tide of multiculturalism and cultural studies“ (Spivak 2003, S. 1) – methodisch aus der Sackgasse einer primär europäisch-angloamerikanischen Nischenwissenschaft herauszuführen, theoretisch im Sinne einer ,entpolitisierten‘ „inclusive comparative literature“ (ebd., 4) tiefer zu durchdringen vermochte und dadurch wieder festen Grund unter den Füßen zu gewinnen. Spivak forderte zum damaligen Zeitpunkt erst einmal die zielstrebige Herauslösung des Faches Komparatistik aus der jahrzehntelangen Umklammerung durch wissenschaftliche Denkmuster, die auf westliche Verhältnisse ausgerichtet waren. Getragen von der Sehnsucht nach einer neuen vitalen (idealisierten ?) Ausrichtung des Faches, trat sie entschlossen den FachkollegInnen entgegen, die eingebunden in die stille Genügsamkeit ihrer Wissenschaft kein oder nur geringes Interesse hatten, komparatistisches Neuland anzupeilen. Zwar ist Spivaks Position immer wieder kritisiert und eingeschränkt worden. Angesichts der Komplexität des matic that today the great novels are coming from the far rim, from India, from the Caribbean, from Latin America.“ Vgl. dazu die polemische Antwort von Salman Rushdie (1997, S. 117): „[…] manchen wird es vielleicht überraschen, daß ich gegen diese Vorstellung vom ausgelaugten Zentrum und einer vitalen Peripherie etwas einzuwenden habe. Fragwürdig erscheint sie mir aber nicht zuletzt deshalb, weil sie auf ein ganz und gar eurozentrisches Lamento hinausläuft. Niemand außer einem westeuropäischen Intellektuellen würde ein Klagelied über das Hinscheiden einer ganzen Kunstform anstimmen, bloß weil die Literaturen Englands, Frankreichs, Deutschlands, Spaniens und Italiens nicht mehr die interessantesten auf dieser Erde sind. (Unklar bleibt, ob die Vereinigten Staaten für Steiner im Zentrum oder am fernen Rand liegen, wie überhaupt seine literarische Geographie, die die Erde offenbar als Scheibe betrachtet, nicht leicht nachzuvollziehen ist.) Was spielt es für eine Rolle, woher die großen Romane kommen, solange sie immer noch kommen?“ 7 Zu den durchaus auch kontroversen Positionen der beiden „distinguished comparative literature scholars“ vgl. Spivak/Damrosch (2011).

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literarischen Lebens und der Diversität kultureller Deutungen im globalen Zeitalter geht eine Entscheidung über bedeutsame Entwicklungen eben selten konsensuell von statten. An Durchschlagskraft hat ihr ,Nekrolog‘ auf die Komparatistik jedenfalls nicht verloren. Vor diesem Hintergrund sind ihre Ausführungen in der Vorlesung Crossing Borders über die „relationship between Comparative Literature and Area Studies“ (ebd., 7) aufschlussreich. Die besondere Relevanz, Originalität und m. E. auch Aktualität von Spivaks vergleichender globaler Sicht besteht nämlich darin, die Komparatistik nicht unter einem Dach mit Disziplinen zusammenzuführen, die mit ihren durch praktische Aspekte und wissenschaftliche Gesichtspunkte abgesteckten Arbeitsfeldern der Vergleichenden Literaturwissenschaft zuarbeiten könnten, sondern derart zu vernetzen, dass eine transdisziplinäre, Fächer übergreifende Kooperation besser als bisher ermöglicht wird. Es geht Spivak im Grunde darum, die gemeinsame Schnittmenge zu bestimmen und von da aus die Grenzen zu erweitern. Was aber könnte damit gemeint sein? Ein Blick über den eigenen Tellerrand soll dies näher verdeutlichen. Der Kunsthistoriker Damian Dombrowski hat in seinem Plädoyer für einen Studiengang Weltkunst den Ansatz einer Verbindung des Faches Kunstgeschichte mit den Area Studies postuliert, der sich versuchsweise auf die Komparatistik übertragen ließe. Um die auf Missverständnisse beruhenden Vorstellungen von künstlerischer Ethnizität zu überwinden, die dazu neigen, „außereuropäische Kunstobjekte als Ausdruck des jeweiligen ,Volksgeistes‘ zu begreifen – einschließlich des assoziativen Repertoires von Homogenität, innerer Geschlossenheit und äußerer Abgrenzung“, schlägt er eine „vergleichende Kunstgeschichtswissenschaft in globaler Perspektive“ vor, bei der es im Wesentlichen darum geht, eindimensionales Fachwissen durch ein inter- bzw. transdisziplina¨ res Arbeitsprinzip zu ersetzen, die traditionellen Inhalte des Faches mit den gegenwärtigen Positionen gewinnbringend zu verknüpfen, um der Pluralität von (Kunst)Wirklichkeiten gerecht zu werden. Ausgehend von der Tatsache, dass die kunsthistorischen Institute „die Weitung ins Globale jedoch weder personell leisten noch die nötige Kompetenz zur wissenschaftlich fundierten Auseinandersetzung mit außereuropäischer Kunst erwerben können“, plädiert Dombrowski für „eine neue Form der übergreifenden Zusammenarbeit“ mit den (eventuell auch an Nachbaruniversitäten angesiedelten) Area Studies, „die entweder selbst kunsthistorisch arbeiten (wie die Klassische Philologie oder die Ägyptologie) oder zwar traditionell textphilologisch ausgerichtet sind, in den letzten Jahren aber verstärkt die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Bildkulturen gesucht haben (wie die Sinologie oder die Indologie)“. Der Mehrwert eines solchen inter- bzw. transdisziplinären Ansatzes, die Kunstgeschichte aus verschiedenen Blickpunkten zu verorten, würde zum einen darin bestehen, dass dem Fach eine Art „Leitfunktion“ zukäme, „wenn die Kunst verschiedener

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Weltgegenden verglichen, analysiert und gewürdigt werden soll.“ Auf der anderen Seite würde sie eine Schutzfunktion einnehmen, denn der Versuch, die Wirkungsweisen besser zu verstehen, wäre eine strukturbildende Maßnahme ersten Ranges. Wenn sie nämlich erst einmal – „etwa in Form eines Studienganges ,Weltkunst‘ oder gemeinsamer Forschungsprogramme“ – den ihr gebührenden institutionellen Rahmen gefunden hat, „könnten gerade die kleineren, nicht selten von der Schließung bedrohten Fächer davon profitieren“, zumal es dann „schwieriger [würde], sie einzeln herauszulösen“ (Dombrowski 2008, S. 13). In diesem Austausch könnten dann auch Wechselwirkungen entstehen, die – ganz im Sinne Spivaks – dem Dialog westlicher und nicht-westlicher Kulturen eine faszinierende Perspektive bieten. Allein dieser Ansatz bietet genügend inhaltliche Grundlage für ein volles Arbeitsprogramm und würde die Legitimation für einen Paradigmenwechsel schaffen, bei dem aber letztlich der Staat mit seiner Hochschulpolitik die Rahmenbedingungen für ein innovationsförderndes Klima schaffen müsste. Es scheint reizvoll, Dombrowskis Ansatz auf die Komparatistik zu übertragen. Der Bezug jedenfalls liegt eindeutig auf der Hand, kann aber hier im Einzelnen nicht spezifiziert oder exemplarisch dargelegt werden. Vor dem Hintergrund der Globalisierung wäre eine curriculare Weiterentwicklung des Faches denkbar.8 Im Idealfall sollte die Reflexion und Inszenierung aller kulturellen Differenz und literarischen Erscheinungsformen europäischer und nicht-europäischer Länder gleichberechtigt studiert werden können.9 Noch ein letzter Punkt: Während über die grundlegenden Aufgaben der Komparatistik weitgehend Konsens bestehen dürfte, fällt die Antwort auf die Frage bei den Vergleichs-Literaturen anscheinend weniger einheitlich aus. Aus kommunikationspraktischer Sicht mag die auf den missglückten Turmbau zu Babel zurückgehende sprachliche Vielfalt der Welt wie ein Fluch erscheinen. Aus 8 Vgl. Hölter (2011); zu den Schwierigkeiten Hölter/Zymner (2013b). 9 Eine konstruktive Alternative, das derart weitgesteckte Feld der Komparatistik ohne (zumindest offizielle) Zuhilfenahme der Area Studies abzudecken, ist sicherlich die an vielen Instituten/Departments gängige Aufteilung der sich gegenseitig bedingenden und ergänzenden Aufgabengebiete in Form von Lehrstühlen, für das hier exemplarisch die Position der Bonner Komparatistik zitiert werden soll: „Gegenwärtig wird die Bonner Komparatistik von Christian Moser (seit August 2009) und Sabine Mainberger (seit April 2010) repräsentiert. Beide vertreten das Fach in seiner ganzen Breite, setzen aber unterschiedliche Akzente, die sich sinnvoll ergänzen. C. Mosers Schwerpunkte liegen in den Bereichen Weltliteratur und Globalisierung, Kulturtheorie und Kulturgeschichte sowie Antikerezeption, diejenigen S. Mainbergers in den Feldern Intermedialität, Wissensgeschichte und Ästhetik. Gemeinsam verfolgen sie das Ziel, die Bonner Tradition einer breit angelegten Komparatistik fortzuführen und das Fach gleichzeitig für neue kulturwissenschaftliche Fragestellungen zu öffnen.“ (vgl. https://www.germanistik.uni-bonn.de/institut/abteilungen/vergleichende-literaturwissen schaft-komparatistik/die-abteilung/geschichte-und-profil-der-bonner-komparatistik; 31. Januar 2018).

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komparatistischer Perspektive ist die babylonische Sprachverwirrung jedenfalls ein Reichtum, der unterschiedliche Metaphern und Möglichkeiten des Denkens und damit auch das Verfassen fremdsprachlicher Texte und deren Vergleich ermöglicht. Und doch scheint gerade diese Mehrsprachigkeit den Komparatisten Kopfzerbrechen zu bereiten, wenn es um die Frage geht, welche Literaturen nun eigentlich miteinander verglichen werden können. Im Vergleich zu den „monoliterarischen Disziplinen“ (Koppen 1971, S. 63) hat es ja die literaturwissenschaftliche Komparatistik mit polyliterarischen Disziplinen zu tun, deren Wechselbeziehungen zumindest auf den ersten Blick eindeutig bestimmbar scheinen. „Quelles sont, / une 8poque d8termin8e, les limites d’une litt8rature? quelle est la ligne frontiHre / partir de laquelle on peut parler d’8tranger, d’influence 8trangHre ou sur l’8tranger?“ sind Fragen, die Paul Van Tieghem (1931, S. 58) zwar scharf gestellt, allerdings auch etwas eigenwillig beantwortet hat. Unproblematisch erscheint der Fall, bei dem die Landessprache mit der Landesgrenze zusammenfällt: „Sur tous les points oF l’aire linguistique con"cide exactement, ou mÞme approximativement, avec le territoire politique, la r8ponse est facile: ainsi entre la France et l’Angleterre ou l’Espagne.“ (ebd.) Neben solchen eindeutigen Entscheidungssituationen gibt es aber auch Konstellationen, wie z. B. die der nationalen Varietäten einer Sprache (Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch etc.), die bei Van Tieghem in der Regel je nach Einzelfall bewertet werden müssen. Das Paradoxe dabei ist jedoch die Tatsache, dass bei solchen Sprachvarietäten-Phänomenen ein geographisches Gravitätszentrum festgelegt wird, anhand dessen dann beurteilt wird, ob ,gleich‘sprachige Autoren verschiedener Länder komparatistisch verglichen werden können oder nicht: „Pour des raisons 8videntes, nous consid8rons comme 8crivains franÅais le genevois Rousseau, le Savoyard de Maistre; nous admettons g8n8ralment les Suisses Vinet, Sch8rer, Rod, Cherbuliez, les Belges Rodenbach et Verhaeren, parce qu’ils ont plus ou moins gravit8 autour de Paris comme centre litt8raire; mais nous laissons / la Suisse Toepffer, / la Belgique Camille Lemonnier, parce qu’ils sont volontiers rest8s chez eux. En bonne logique, il faut consid8rer alors l’influence de Zola sur Camille Lemonnier comme un sujet de litt8rature compar8e. […] de mÞme, les influences franÅaises sur la litt8rature de langue franÅaise du Canada, de Ha"ti, etc…Par une diff8renciation analogue, les Anglais ne font plus figurer dans leur litt8rature les 8crivains am8ricains; il faut cons8quentement voir dans l’influence de Carlyle sur Emerson ou dans l’influence d’Edgar Poe sur les conteurs anglais des problHmes de litt8rature compar8e.“ (ebd., S. 58f.)

Van Tieghems selbstbestimmte Zielsetzung mutet heute sowohl willkürlich wie anachronistisch an. Diese kurze Passage ist aber insofern interessant, weil sie in verdichteter Form mögliche, inhärente Widersprüche komparatistischen Literaturbewusstseins aufzeigt. Es ist hier nicht der Ort, die vielfältigen Auffassun-

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gen zusammenzustellen und zu diskutieren, inwieweit und worin sie sich unterscheiden. Dennoch soll ein kurzer historischer Abriss des Diskurses die durchaus unterschiedlichen Positionen markieren, ob nun „der grenzüberschreitende Vergleich nach sprachlichen und/oder staatspolitischen Maßstäben“ stattfinden sollte (Schmeling 1981, S. 4). So unhaltbar einerseits Van Tieghems Argumentation eines kulturellen Gravitationszentrums bei der Klassifizierung komparatistischer Vergleichsmöglichkeiten bei Autoren einsprachiger, aber multinationaler Literaturen ist, so intrigant ist andererseits die Plurizentrizität einzelner Sprachen bei der Vergleichs-Bestimmung literarischer Phänomene. Henry H. H. Remak, der Komparatistik als Forschung „beyond national-literature scholarship“ (1961, S. 10) definiert, greift u. a. diese Streitfrage wieder auf („What are we to do with authors writing in the same language but belonging to different nations?“) und folgert: „We should probably not hesitate to assign a comparison between George Bernhard Shaw and H. L. Mencken, or between Sean O’Casey and Tennessee Williams, to comparative literature“ (ebd., S. 12). Auch Henryk Markiewcz bedient sich sowohl des mehrsprachlichen als auch des „einzelsprachlichen oder monoliterarischen Literaturbegriffs“ (Gsteiger 1971; S. 75), um den Forschungsbereich und die Systematik vergleichender Literaturwissenschaft zu bestimmen, die er so definiert: „Den Inhalt vergleichender Forschungen bilden die Beziehungen zwischen den hier genannten Objekten aus verschieden- oder einsprachigen, aber multinationalen Literaturen“. (Markiewicz 1968, S. 1326; kursiv H. M.)10 Mit Manfred Gsteiger und Herbert Seidler setzt im deutschsprachigen Raum dann Anfang der 1970er Jahre eine Neubewertung bei der Berücksichtigung unterschiedlicher Standardvarietäten und plurilingualer Einzelstaaten ein. Gehörte für Van Tieghem, Remak und Markiewicz die Plurizentrik – eine Sprache, mehrere Nationen (z. B. das Deutsche u. a. in Österreich, Deutschland und der Schweiz) – zum festen Bestandteil und Gegenstand literaturvergleichender Forschung, so positionieren sich Gsteiger und Seidler gegen eine solche Klassifizierung, indem sie die Anzahl der zu vergleichenden Literatur-Sprachen numerisch auf mindestens zwei festlegen. Bei der Abgrenzung nationale Philologie vs. Komparatistik schlussfolgert Gsteiger, dass erstere „im wesentlichen auf eine einzige Sprache und die in ihr verfaßten literarischen Zeugnisse ab(stellt)“, letztere aber „von zwei oder mehr Sprachen ausgeht“ (1971, S. 84). Aus diesem Grund sei für ihn die Komparatistik auch „das einzige Instrument, mit dem sich in einem mehrsprachigen Staat literaturkritisch mit 10 Vgl. dazu Seidler (1976, S. 10): „Gegenstand vergleichender Literaturforschung sind ihm [Markiewicz] immer zumindest zwei Literaturen, entweder verschiedensprachige oder einsprachige, aber in mehreren Nationen (z. B. die französische in Frankreich, Belgien, oder Schweiz und Afrika).“

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dem Blick aufs Ganze arbeiten läßt.“ Als Paradebeispiel führt er das der „literarischen Schweiz“ an, deren Realität er „gar nicht anders als komparatistisch“ verstehen könne, denn sie sei „kein ,monoliterarisches‘, sondern ein zusammengesetztes, ein pluralistisches Phänomen, dessen einzelne Bestandteile historisch und soziologisch in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu vergleichen sind“ (ebd.).11 In die gleiche Richtung geht auch Seidler, der die Komparatistik als „jedes wissenschaftliche Bemühen“ umschreibt, „das in Methode und Ziel über die Literatur in einer Sprache (oder einsprachige Literatur) bewußt hinausgeht“ (1973, S. 12). Diese Position teilen Horst-Jürgen Gerigk (1995, S. 21) und Dieter Lamping (2007, S. 217). Die Tatsache, dass von Vergleichender Literaturwissenschaft nur dann gesprochen werden kann, „wenn es um Texte aus mindestens zwei verschiedenen Sprachen geht“, hat laut Gerigk „seinen Grund nicht in der Sache des Vergleichens, sondern in einer […] willkürlichen Konvention“. Diese Willkür entspringe aber „einem ganz und gar positiv einzuschätzenden Motiv, nämlich dem zum Postulat gewordenen Wunsch, Literaturwissenschaft schon aufgrund seines Materials davor zu bewahren, zum Medium eines nationalistischen Narzißmus zu werden“ (1995, S. 21). Es scheint also in der Komparatistik weitgehend Klarheit darüber zu herrschen, welche ,Literatursprachen‘-Kriterien als grundlegend für eine Vergleichsstudie anzusehen sind. Doch setzt jetzt Grabovszki mit seiner Definition der Vergleichenden Literaturwissenschaft: „man [kann – und muss] die durch Nationen-, Sprach- und/oder Kulturgrenzen umschlossenen Literaturen miteinander in Beziehung setzen“ (2011: 8) seine Auffassung der Nationengrenze entgegen. Dass aber der Nationen-Begriff in der Komparatistik nicht greift, ließ sich schon am Beispiel polyzentrischer Literatur-Sprachen nachweisen. Auch der Kulturbegriff, den Zemanek zur Definition der Vergleichsvariablen ins Feld führt: „man (interessiert) sich im Rahmen der Komparatistik in besonderem Maß für die Beziehung zwischen Texten verschiedener Kulturen“ (2012, S. 10), greift meines Erachtens zu kurz, weil sie nicht zwischen Kulturen plurizentrischer Staaten differenziert.12 Gerade in Einführungsbänden, als welche die Bü11 Ganz in diese Richtung geht auch die literarische Selbstdarstellung der Schweiz, die sich auf der offiziellen Webseite der nationalen Tourismusorganisation myswitzerland.com wie folgt präsentiert: „Das Land hat eine literarische Tradition geschaffen, die sich in allen vier Nationalsprachen entwickelt hat. Von ,einer‘ Schweizer Literatur kann man allerdings nicht sprechen, da sich die Autorinnen und Autoren in den Kulturrä umen ihrer jeweiligen Sprache bewegen. Zwar gab es zur Zeit der beiden Weltkriege auch Versuche, die Idee einer nationalen Literatur zu stärken. Doch letzten Endes hat die Sprache in der Literatur doch mehr Einfluss als nationale Grenzen. So steht die Literatur der Deutschschweiz in enger Wechselbeziehung zur Literatur des gesamten deutschen Sprachraums, und Entsprechendes gilt für die französisch- und italienischsprachige Literatur der Schweiz.“ (https://www.mys witzerland.com/de-de/literaturszene-schweiz.html) 12 An das obige Zitat anschließend heißt es bei Zemanek (2012, S. 10): „Das Ziel der Rekon-

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cher von Grabovszki (2011) und Zemanek/Nebrig (2012) konzipiert sind, sollte aber der ,sprachliterarische‘ Geltungsbereich der Vergleichenden Literaturwissenschaft präziser konkretisiert werden, um bei den Einsteigern keinesfalls den Eindruck zu erwecken, hier handele es sich um einen Freibrief zum anything goes, denn das kann nicht Sinn und Zweck der Sache sein. Ein Fazit: Die Welt steht in einem Prozess ungewöhnlich rasanter Umbrüche und Dynamiken, die dazu führen, tradierte wissenschaftliche Verfahren und Vorstellungen nicht nur zu überdenken, sondern ernsthaft zu hinterfragen. Längst ist die Annahme, die europäische Komparatistik sei ein besonderer kultureller Glücksfall in der Landschaft der Weltliteratur zur bloßen Fiktion verfallen. Das Fach, das lange Zeit den interkulturellen Blick im Hort des eurozentrischen Weltbildes sicherte, hätte innerhalb der Geisteswissenschaften seine schwer errungene Bedeutung verloren und seine vitale Mittelstellung zwischen den großen und den Randdisziplinen eingebüßt, hätte es seine Lehrinhalte und Anforderungen nicht entsprechend ,zeitgemäß‘ angepasst. Die Globalisierung hat sprachliche, literarische, künstlerische und kulturelle Unterschiede nicht eingeebnet, sondern sie mehr zum Vorschein gebracht als zuvor. Sie lassen vor allem auch die Frage danach aufkommen, inwieweit ihre Paradigmen geeignet sind, zur Klärung dieser komplexen Problemlage beizutragen. Der spezifische Beitrag, den das Fach Komparatistik in Zeiten eines solchen Übergangs und zur geisteswissenschaftlichen Grundausbildung leisten kann, liegt in ihrem Rückgriff auf ein großes Beobachtungsfeld, in der die Vielfalt theoretischer Perspektiven, Methoden, Fragestellungen und Formate der wissenschaftlichen Darstellung und Auseinandersetzung einen Einblick in das struktion intertextueller Relationen ist es, das einzelne Werk in einem größeren transnationalen und damit in logischer Konsequenz in einem interkulturellen Zusammenhang zu sehen.“ Gesetz den Fall, man würde das Motiv des Künstlers bei Thomas Bernhard mit dem bei E.T.A. Hoffmann vergleichen wollen, dann läge hier sicherlich sowohl ein transnationaler wie interkultureller Zusammenhang (Österreich vs. Deutschland) vor, widerspräche aber dem numerischen Ansatz von mindestens zwei sprachlich verschiedenen Literaturen. Diesbezüglich vage bleiben in ihrer Definition auch Birus (2000, S. 323): „die Vergleichende Literaturwissenschaft [befaßt sich] vor allem mit der vergleichenden Analyse einzelner Werke, Werkgruppen und Genres sowie mit Konstanz und Wandel literarischer Stoffe und Formen in verschiedenen Literaturen…“ und Corbineau-Hoffmann (2013, S. 29), die den Gegenstand der Komparatistik u. a. an der Beschäftigung von „Literatur in internationalen […] Zusammenhängen“ festmacht. In der italienischen Komparatistik ist die Lage ähnlich. Nicola Gardini (2002, S. 3) und Raffaella Bertazzoli (2010, S. 5f.) legen ihren Handbüchern die Komparatistik-Definition Remaks zugrunde. Mariangela Lopopolo (2012, S. 7) spricht von der „pratica di studio aperta al confronto transculturale (tra culture distinte spazialmente e cronologicamente), sovranazionale e interdisciplinare“, ohne auf das Problem der Plurizentrik einzugehen. Andere geben in Bezug auf die verschieden- oder einsprachigen, aber polynationalen Literaturen keine (de Cristoforo 2014) oder nur eine unscharfe Definition (Boitani/Di Rocco 2013). Zur italienischen Komparatistik im Allgemeinen vgl. Moraldo (2016).

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faszinierende Panorama weltliterarischer, künstlerischer und (medien)kultureller Umbrüche eröffnet. Die Möglichkeit, sich frei zwischen den Sprachen, Literaturen, Künsten und Kulturen der Welt zu bewegen und sich auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten einzulassen, ist eine faszinierende Herausforderung. Eingebettet in einem solchen interdisziplinären Dialog ist die Reflexion und Inszenierung kultureller Differenz sicherlich ein zentrales Anliegen. Wenn es aber letztendlich darum geht, die „Funktion von Literatur und Kunst für Globalisierungsprozesse zu erfassen“, so scheint die Auseinandersetzung mit dem „globalen Imaginären“ (Moser/Simonis 2014, S. 13) ein wegweisendes interdisziplinäres Forschungsprojekt, denn es eröffnet der Komparatistik ein zukunftsträchtiges Feld. Im Hinblick auf die Veränderung, die der Literatur infolge der Globalisierung zukommt, bedarf es aber einer präzisen Analyse der Umgebungsvariablen. Anders formuliert: Es geht darum, unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Perspektiven, „den Vorrat an Bildern, Narrativen, Tropen und Figuren, die den Menschen eine Vorstellung von der (geographischen, politischen, kulturellen, ökonomischen etc.) Einheit der Welt vermitteln“, herauszudifferenzieren, in Erklärungsmodelle zu überführen und damit einen Beitrag zur Lesbarkeit der Welt zu leisten: „Das globale Imaginäre stellt bestimmte Tropen und Figuren des Globalen (etwa: die Globus-Figur) bereit, aber auch narrative Muster, Formen, Themen und Motive, mit deren Hilfe sich fiktionale Welten konstruieren lassen. Der Weltbezug der Literatur besitzt folglich einen dezidiert konstruktiven und performativen Charakter : Literatur setzt sich nicht bloß mit einer gegebenen Welt auseinander, sie ist darüber hinaus an der Herstellung von Welt(en) beteiligt. Insofern der Begriff der Welt auf eine geographische, kulturelle, politische und ökonomische Totalität verweist, die aufgrund ihrer gesteigerten Komplexität der Anschaulichkeit entbehrt, ist er auf die Darstellungs- und Konstruktionsarbeit der Literatur (und anderer künstlerischer Medien) angewiesen, um überhaupt vorstellbar zu sein. Indem die Literatur fiktive Welten entwirft, wirkt sie maßgeblich an der Konzeption von Globalität in den verschiedensten diskursiven Bereichen mit. Literarischer Weltbezug und literarische Welterzeugung stehen in einer engen Wechselbeziehung“. (ebd., S. 13; kursiv von C. M. und L. S.)

Gesicherte Antworten auf die Frage nach der Zukunft der Komparatistik gibt es sicherlich nicht. Aber wenn es ihr gelingen sollte, sich auch weiterhin an theoretisch-konzeptionellen Diskussionen in den Geistes- und Kulturwissenschaften zu beteiligen und sich den ,global challenges‘ zu stellen, kann sie sicher sein, dass in einer Zeit, in der erneut die Krise der Geisteswissenschaften proklamiert und der Ruf nach einer Renaissance der Philologien, gar der „Rephilologisierung der Literaturwissenschaften“ (Möller 2018) laut wird13, ihre Arbeit an Texten der Weltliteratur, nicht zu einem Randphänomen verkommt. 13 Vgl. zur Gegenposition Dürr/Geier/Glanz (2018).

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Rüdiger Zymner

Komparatistik – Konturen einer literaturwissenschaftlichen Disziplin

Der Beitrag möchte die literaturwissenschaftliche Disziplin Komparatistik in ihren Konturen vorstellen – das heißt: wenigstens umreißen, was literaturwissenschaftliche Komparatistik ist und was sie macht. Dabei könnte ich auf die Darstellung der Konturen der Komparatistik zurückgreifen, wie Achim Hölter und ich sie in unserem Handbuch Komparatistik (2013) skizziert haben –: In einem Schema wird dort gezeigt und dann auch erläutert, was der Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Komparatistik ist, was ihre systematisch tragenden disziplinären Säulen sind (nämlich die methodologisch-theoretisch reflektierende Allgemeine Literaturwissenschaft und die historisch orientierte Vergleichende Literaturwissenschaft), in welchen Sektoren sich die Komparatistik heute vornehmlich bewegt (nämlich in der Literaturgeschichte, der Literaturtheorie, der Intermedialitätsforschung und der Kulturwissenschaft), und schließlich, was traditionelle Arbeitsfelder der Komparatistik sind – von der Literaturgeschichtsschreibung über die Thematologie und die Einflussforschung bis hin zu Theorie und Geschichte der Weltliteratur. Zu diesen Konturen gehört auch, dass literaturwissenschaftliche Komparatistik heute eine weltweit betriebene literaturwissenschaftliche Disziplin ist: Literaturwissenschaftliche Komparatistik ist an nord- und südamerikanischen Universitäten akademisch institutionalisiert ebenso wie an afrikanischen, in Indien, China oder Japan findet man ebenso komparatistische Seminare oder Institute wie an europäischen Universitäten – und es handelt sich dabei immer und grundsätzlich um Institutionen und organisatorische Einheiten einer literaturwissenschaftliche Disziplin, die dadurch wesentlich bestimmt wird, dass sie die Grenzen von einzelsprachlichen Literaturen oder auch die Grenzen von Literatur im allgemeinen systematisch überschreitet, indem eben mindestens zwei einzelsprachliche Literaturen in eine Beziehung zueinander gebracht werden oder indem die Beziehung zwischen Literatur und anderen Künsten den Gegenstand des Faches bilden. Literaturwissenschaftliche Komparatistik profitiert vielfach von Forschungen zu einzelsprachlichen Literaturen und baut sozusagen auf ihnen auf (und das

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schon allein deshalb, weil die meisten Komparatisten wohl zunächst ein nationalsprachliches Standbein haben, bevor sie mit einem komparatistischen Spielbein überhaupt etwas anfangen können). Dabei gibt es außer geographischen und gegenstandsbezogenen Unterschieden auch solche im Hinblick auf die historische Region, in der sich Komparatisten bewegen, im Hinblick auf die historischen Ausrichtungen, die für das Gesamtbild der Komparatistik von Belang sind –: Es gibt neben Neukomparatisten, die sich vor allem mit modernen Literaturen befassen und beispielsweise der Frage nachgehen, wie die Neue Weltliteratur eigentlich aussieht oder welche Auswirkungen die Globalisierung auf den modernen Roman hat, eben auch Renaissancekomparatisten, die beispielsweise die europaweite Entwicklung und Ausbreitung des Humanismus untersuchen; daneben finden wir mediävistische Komparatisten, denen das Europäische Mittelalter und die lateinische Literatur oder auch die Transferprozesse von der provenÅalischen Lyrik zur mittelhochdeutschen wichtige Gegenstände sind; und schließlich gibt es Altkomparatisten, die mit Antike und Präantike befasst sind und sich beispielsweise fragen, wie der Einfluss der griechischen Dichtung auf die römisch oder derjenigen der altmesopotamischen auf die althebräische ausschaut oder wie die ostasiatischen Dichtungen eigentlich zusammenhängen. All das könnte man nun genauer erläutern, das scheint mir aber in dem vorliegenden Kontext relativ unergiebig zu sein, weil es in den Grundzügen klar ist und weil es auch von den anderen Beiträgen des Bandes im Detail genauer erläutert wird. Ich möchte stattdessen versuchen, so etwas wie eine disziplinäre Matrix der literaturwissenschaftlichen Komparatistik zu rekonstruieren (also gewissermaßen paradigmatische gestaltgebende Züge der abstrakten Sammelkategorie herausarbeiten, in der alle literaturwissenschaftlichen Komparatistiken stecken) – ähnlich wie etwa Jörn Rüsen dies für die Geschichtswissenschaft unternommen hat. (2010, bes. S. 63 und 1983). Das bedeutet, dass ich versuchen möchte, die Frage nach den disziplinären Konturen umzuformulieren und zu fragen: Wozu Komparatistik? Und: Wie genau Komparatistik? Orientiert man sich nun an Rüsens Modell einer disziplinären Matrix, so könnte man zunächst einmal allgemein sagen, dass auch die literaturwissenschaftliche Komparatistik eine Unternehmung ist, der es um wissenschaftliche Erkenntnis geht und die von fünf grundlegenden Faktoren oder Dimensionen bestimmt wird, die systematisch miteinander zusammenhängen: (1) Das Erkenntnisinteresse der literaturwissenschaftlichen Komparatistik. (2) Funktionen der Komparatistik in der kulturellen Lebenspraxis heute. (3) Die Hinsichten und Perspektiven, in denen Literatur, Dichtung, Poesie u. ä. ihre Bedeutung in der Gegenwart erlangen. (4) Methodische Regeln der Forschung, nach denen die Erfahrung der Literatur in diese Hinsichten eingearbeitet wird.

Komparatistik – Konturen einer literaturwissenschaftlichen Disziplin

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(5) Formen der Repräsentation, in denen das gewonnene Wissen als sinn- und bedeutungsvoll dargestellt wird. Zu all diesen Punkten kann ich hier nur skizzenhafte Ausführungen machen, sie mögen immerhin auch Konturen der literaturwissenschaftlichen Komparatistik zeigen.

1.

Zum Erkenntnisinteresse der literaturwissenschaftlichen Komparatistik

Im Hinblick auf diesen Aspekt sollte man das persönliche Interesse jedes einzelnen Komparatisten (etwa, dass er nun einmal gerne liest oder für Lyrik oder für Romane schwärmt und sich gerne mit anderen darüber austauscht) nicht mit einem allgemeinen, disziplinären Erkenntnisinteresse verwechseln. Das disziplinäre Erkenntnisinteresse, die übergreifende oder disziplininhärente raison d’Þtre, muss nicht deckungsgleich mit den individuellen Erkenntnisinteressen der hier jeweils Handelnden sein, ja der einzelne Komparatist hat vielleicht sogar überhaupt kein eigenes entwickeltes Erkenntnisinteresse, was freilich selten vorkommen sollte; dafür ist aber der Disziplin als organisierter und institutionalisierter Form von Wissenschaft ein Erkenntnisinteresse gewissermaßen eingeschrieben: es ergibt sich aus der Positionierung innerhalb einer übergreifenden akademisch-disziplinären Systematik der Wissenschaften. Und hier wird man nun doch wohl sagen können, dass die literaturwissenschaftliche Komparatistik im Hinblick auf das ihr innewohnende Erkenntnisinteresse eine Position im Feld der Geisteswissenschaften einnimmt und hier wiederum ein auf einen bestimmten Forschungsgegenstand gerichtetes allgemeines Erkenntnisinteresse mit eben diesen Geisteswissenschaften teilt.1 Was ,die‘ Geisteswissenschaften auszeichnet, ist, dass sie ,den‘ Menschen (und zumindest ,die‘ Menschen in Gesellschaften, die sich Geisteswissenschaften leisten und solche Vorstellungen wie die von ,dem‘ Menschen entwickeln) über sich selbst aufklären können, indem sie z. B. erkunden und zeigen, dass, wie und wozu ,der‘ Mensch Geschichte hat bzw. macht, dass, wie und wozu er ,die‘ oder ,seine‘ Welt konzeptualisiert, dass, wie und wozu er so etwas wie ,Moral‘ oder auch ,Liebe‘ oder ,Politik‘ oder auch den ,Kapitalismus‘ und die technische Zweckrationalität erfindet, dass, wie und wozu er sich in gewisser Weise auch selbst konzeptualisiert und dass Selbstkonzepte auch mit Fremdkonzepten zusammenhängen, und nicht zuletzt: dass und inwiefern ,der‘ Mensch – soweit wir 1 Siehe hierzu auch allgemein Lamping (Hg.) 2015a, 2015b und 2015c. Teile meiner Ausführungen beruhen auf Zymner 2004; siehe außerdem Zymner 2013.

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wissen – das einzige Wesen ist, das in einem anspruchsvolleren Sinn Sprache benutzt, und das einzige Wesen zudem, das dichtet. Sprachen und Literaturen sind dabei nicht nur schier unerschöpfliche Speicher bereits aktualisierter Handlungs-, Verhaltens- oder Kommunikationsmöglichkeiten ,des‘ Menschen in ihren jeweiligen und jeweils unterschiedlichen kommunikativen Zusammenhängen, sich und die Welt zu bestimmen und in ihr sich zu orientieren, sie sind nicht nur unerschöpfliche Speicher vergangener Lebensformen und Kulturen, sondern zugleich auch solche potentieller Lebensformen und Kulturen – und zwar nicht allein, was die sogenannten ,Inhalte‘ betrifft, sondern selbst bis hin zu den kleinsten Details, bis hin zur einzelnen Metapher ebenso wie zum einzelnen Versfuß oder zu grammatischen Möglichkeiten und sogar einzelnen Lauten. Literaturwissenschaft kann Geschichte, Formen, Funktionen und Möglichkeiten dieser sprachlich verdinglichten, vergangenen und potentiellen Lebensformen und Kulturen zeigen, in Erinnerung rufen und sie damit als vergangene oder auch nur vorgestellte Möglichkeiten gewissermaßen in den eigenen, zeitgenössischen Kontext heben und zu einer gesellschaftlichen wie individuellen Selbstverständigung und Selbstaufklärung beitragen, auf die man nur um den Preis das Verlustes an Kultur und Zivilisation verzichten kann. Das klingt vielleicht unnötig dramatisch und ist doch nur realistisch, denn Sprache und Literatur drücken nicht nur Bewusstsein aus, sie ,erfinden‘ es auch ebenso: Wer ein ,Zeitalter besichtigen‘ möchte (und sei es sein eigenes), so könnte man mit Heinrich Mann sagen, der muss eben auch und zuerst wissen, auf welchen Praktiken des Geschichtenerzählens, Liedersingens und szenischen Spielens und (seit der Verschriftlichung von Poesie) auf welchen geschriebenen Texten und Büchern dieses Zeitalter aufruht und welche es konstituierende Sprache in ihm verwendet wurde bzw. wird. Zu wissen und zu zeigen, dass und wie Sprache und Literatur Bewusstsein ausdrücken oder erfinden, Kultur und Lebensformen bilden, heißt, die Optionen gesellschaftlicher wie individueller Selbstbestimmung zu befördern und gesellschaftliche wie individuelle Handlungsoptionen aufzuzeigen. Damit wäre ich aber auch eigentlich schon bei Punkt 2 der disziplinären Matrix.

2.

Die Funktion der Komparatistik in der kulturellen Lebenspraxis

Die Geisteswissenschaften und mit ihnen die literaturwissenschaftliche Komparatistik möchte ich zusammenfassend als Verständigungswissenschaften begreifen. Sie tragen durch die Fülle an Einzelkenntnissen, die sie hervorbringen,

Komparatistik – Konturen einer literaturwissenschaftlichen Disziplin

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speichern und bereitstellen, ganz gewiss auch zur ,kulturellen Atmosphäre‘ einer Gesellschaft bei; und sie mögen im Einzelnen wie auch übergreifend u. a. für Orientierung, Kompensation und Bildung sorgen. Notwendig erscheinen sie mir allerdings als Verständigungswissenschaften in einer Gesellschaft, die sich selbst als offen, pluralistisch und demokratisch organisiert versteht, und so lange es Zeichensysteme zur Welt- und Selbstkonzeptualisierung gibt, die nicht bloß naiv ,erlebt‘, erduldet oder hingenommen, sondern in ihren Voraussetzungen, Funktionen und in ihrer Geschichte auch verstanden und durch Vernunft kritisch reflektiert werden können. Dadurch legitimieren sich ,die‘ Geisteswissenschaften, und in einer zivilisierten Gesellschaft (deren Zivilisiertheit sich eben u. a. an dem Grad ihrer handlungsleitenden Normenreflexion bestimmt) sind diese Geisteswissenschaften von erheblicher ,Relevanz‘, denn sie zeigen in historisch-kritischer Reflexion, wie solche Gesellschaften und jeder Einzelne in ihnen wurden, was sie sind, und wie sie es bleiben oder sogar ,anders‘ werden können. Sie stellen „reflexives Anwendungswissen“ (Fricke 1977, S. 242ff.) bereit, sie sind darauf angelegt, „innerhalb kultureller Überlieferungen ein mögliches handlungsorientierendes Selbstverständnis von Individuen und Gruppen und ein reziprokes Fremdverständnis anderer Individuen und anderer Gruppen zu garantieren.“ (Habermas 51979, S. 221) ,Die‘ Geisteswissenschaften tun dies vielleicht nicht in jeder einzelnen ihrer häufig scheinbar auch abseitig mikrologischen Äußerungen, aber doch insgesamt. Dies gilt auch und besonders für ,die‘ Komparatistik mit ihrer Konzentration auf Literatur als eine Einzelsprachen und nationale Kontexte überschreitende Form von Sprachverwendung und geradezu als allgemeines Sprachverhalten, dessen anthropologisch und kulturevolutionär interessierte Erforschung zugleich weitgehende transdisziplinäre Entgrenzungen ebenso wie Integrationen und allemal den disziplinären Dialog erfordert. Allerdings teilt die komparatistische Literaturwissenschaft mit allen anderen Geisteswissenschaften auch die besondere Bedingung, dass die Bereitstellung des reflexiven Anwendungswissens wie auch das reflexive Anwendungswissen selbst nicht etwa ,technisch‘-unmittelbar auf Gruppen und Individuen wirken (so wie man Krankheiten unabhängig von Einstellungen und Vorurteilen des Patienten heilen kann), sondern dieses Wissen muss von Gruppen oder Individuen gewollt und verstanden werden können: Die gesellschaftliche Einsicht in ihren ,Nutzen‘ (jenseits aller ,Servicefunktionen‘ für die Schulen und andere Bereiche) führt insbesondere bei ,den‘ Geisteswissenschaften (und anders als bei den Naturwissenschaften) über ihre Verständlichkeit für Nichtfachleute. Von der Übersetzbarkeit oder Übertragbarkeit ,der‘ Geisteswissenschaften hängt ihre gesellschaftliche Akzeptanz in erheblicher Weise ab. Dies bedeutet aber, dass sich auch ,die‘ Komparatistik stets um sachangemessene Klarheit in Problem-

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stellungen, Argumentation und Darstellung bemühen und jede – gar absichtsvolle – Dunkelheit vermeiden müsste, um außerdisziplinäre Verstehbarkeit und Verständlichkeit nicht zu behindern oder gar unmöglich zu machen. Und es bedeutet auch, dass ,die‘ literaturwissenschaftliche Komparatistik ,die‘ Öffentlichkeit vielleicht sogar stärker als bisher suchen muss, dass sie ihre im besten Sinne des Wortes populärwissenschaftlichen Seiten kultivieren muss. Ich komme zum dritten Punkt der disziplinären Matrix

3.

Hinsichten und Perspektiven, in denen Literatur, Dichtung, Poesie u. ä. ihre Bedeutung in der Gegenwart erlangen

Was diesen Punkt betrifft, so kann man gar nicht genug betonen, dass die literaturwissenschaftliche Komparatistik als akademische Disziplin von ihren Anfängen im ausgehenden 18. und frühen 19. Jh. an die Grenzen von Nationalliteraturen überschritten und sich mit europäischen und außereuropäischen Literaturen und schließlich mit der Weltliteratur, wenn nicht mit Literatur an und für sich befasst hat und dass Literatur heute vor allem unter den Vorzeichen einer wie auch immer im Detail definierten Globalisierung ihre Bedeutung oder Funktion gewinnt. Sie wird weithin nicht mehr als Entwicklungszeugnis einer werdenden Nation oder gar als Ausdrucksform von einzelnen Völkern und Stämmen betrachtet, sondern als Beitrag zu einer Internationalen Literatur, einer internationalen Weltliteratur und als Literatur in einer globalisierten Welt. Die literaturwissenschaftliche Komparatistik ist die Disziplin, in der die Bedeutung, die Literatur als internationales, globales Medium gewinnt, zum Ausgangspunkt der Reflexion gemacht wird. Die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft richtet sich im Prinzip – also zwar nicht in jeder ihrer Äußerungen, aber doch gewissermaßen in allem und als Ganze – auf die so oder so konzeptualisierte ,Internationale Literatur‘, auf ,die Weltliteratur‘, auf „la litt8rature plan8taire“, wie etwa der französische Komparatist Ren8 Ptiemble programmatisch formuliert hat. Komparatisten wie Ptiemble gehen von der theoretischen Annahme aus, dass die komparatistische Beschäftigung mit Literatur im Prinzip keine Zeit, keinen Zeitraum und keine Kultur ausschließe und dass es keine Restriktionen apriorischer Art gebe, die literaturwissenschaftliche Forschungen mit weiten historischen und kulturellen Ausdehnungen unmöglich machten; und grundsätzlich wird dabei die Meinung erkennbar, dass die literaturwissenschaftliche Komparatistik sich nicht auf sektorielle Bündelungen von (zumeist westlichen) Literaturen reduzieren lassen müsste oder gar sollte (auch wenn wir in der individuellen Forscherpraxis natürlich überwiegend aus pragmatischen Gründen eben solche sektoriellen Bündelungen antreffen).

Komparatistik – Konturen einer literaturwissenschaftlichen Disziplin

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Auch die in der Literaturwissenschaft im allgemeinen erkennbare Auffassung, dass es sich bei ,Literatur‘ doch allemal um graphisch repräsentierte Sprache handeln müsse (Gedrucktes oder Geschriebenes), gerät aus der Perspektive der literaturwissenschaftlichen Komparatistik ins Schwanken – besonders dann, wenn sie sich den Dichtungspraktiken in außereuropäischen Kulturen zuwendet und hier eben nicht allein Oralliteratur (also schriftliche Aufzeichnungen eigentlich mündlicher Dichtung), sondern veritable oral poetry zur Weltliteratur und zur Literatur überhaupt rechnen. So argumentiert etwa Lee Haring in seinem Aufsatz ,What Would a True Comparative Literature Look Like‘ (1998), dass man in allen Gesellschaften beobachten könne, dass so etwas wie Wortkunst (verbal art) praktiziert werde, zu der stets Systeme von Regeln oder Konventionen gehörten, die Haring als „literary systems“ bezeichnet. Daher stelle sich für den Komparatisten die Frage: „Why not study literary systems? Using translations and ethnographies, comparative literature can take as its field both oral and written literatures in literary systems around the world“. (ebd., S. 37) Besonders im Kontext der englischsprachigen Komparatistiken hat sich inzwischen eine Forschungsrichtung etabliert, die als Ethnopoetics bezeichnet wird, deren Ziel unter anderem in einem „exploring the full range of man’s poetries“ besteht und die unter ,literature‘ oder Literatur eben beides versteht, graphisch wie phonisch repräsentierte Dichtungen. Ebenso könnte man im deutschsprachigen Bereich auf den Afrikanisten und Komparatisten Thomas Geider verweisen, der in einigen seiner Arbeiten das Konzept ,Literatur‘ von seiner Bestimmung als graphische repräsentierte Sprache löst. In „Weltliteratur in der Perspektive einer longue dur8e“ etwa diskutiert Geider mehrere Weltliteratur-Konzepte und hält das Konzept ,Weltliteratur als Kommunikation‘ für besonders geeignet. Hier könne sich, so Geider, auch die Oralliteratur, „auch wenn sie noch nicht per Text verfestigt ist, sondern nur beobachtet oder teilbeschrieben wurde, wiederfinden“ (2009, S. 341). Allgemein hält Geider an anderer Stelle fest: „Mit dem Beginn der Globalisierung wird die Frage ,Was ist Weltliteratur?‘ wieder aktuell. Mittlerweile sollen hieran auch die Oral- und Volksliteraturen beteiligt werden […]. Wie diese Literaturen jedoch tatsächlich einbezogen werden könnten, ist theoretisch, methodisch und interdisziplinär weiterhin offen und von keinem der genannten Fächer ernsthaft angegangen worden.“ (Geider 2009b, S. 162)

Die Diskussion über die ,Literatur‘-Frage tendiert inzwischen dahin, Versuche, ,Literatur‘ über wesentliche Eigenschaften oder Merkmale (Stichwörter : Literarizität bzw. Poetiziät; Autonomie) ein für alle Mal bestimmen zu wollen, als gescheitert zu betrachten und statt dessen sozialgeschichtliche ebenso wie kulturgeschichtliche Diversität und Relativität stärker in den Mittelpunkt der Konzeptualisierung von ,Literatur‘ zu rücken. (vgl. vor allem Jannidis/Lauer/

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Winko (Hg.) 2009) Insbesondere Versuche, Literaturgeschichte in einer globalen Perspektive zu betreiben bzw. zu beschreiben, aber auch Versuche, Literaturgeschichte sozialgeschichtlich zu empirisieren, zeigen deutlich, dass angesichts der poetologischen ebenso wie angesichts der historisch-sozialen Diversität von Dichtungs- oder Poesiekulturen ,der Welt‘ ein metatheoretischer Begriff von ,Literatur‘ nötig wäre, um einen epistemisch stabilen oder deutlichen Gegenstand einer solchen globalen Geschichte zu konstituieren.2 Anders Pettersson schlägt daher z. B. vor, „literature“ handlungstheoretisch zu bestimmen als „presentational discourse produced with pretensions to being culturally important, and/or well-formed, and/or conductive to aesthetic experience“ (2006, S. 35). Diese Bestimmung von ,Literatur‘ erlaubt es, insgesamt sieben unterschiedliche Typen von Literatur voneinander zu unterscheiden, unter denen auch einer ist, der etwas zur Literatur rechnet, allein weil es irgendwie als kulturell wichtig oder als besonders behandelt wird. Grundsätzlich entfällt bei diesem Vorschlag auch eine Fokussierung allein auf graphisch repräsentierte Sprache, vielmehr umfasst er graphisch wie phonisch repräsentierte Sprache. Ähnliches hat Jost Schneider angesichts leser- oder rezipientenkultureller Diversität im Sinn, wenn er als Bestimmung des Ausdrucks ,literarischer Text‘ kommunikationstheoretisch vorschlägt: „Ein literarischer Text ist eine finite Sequenz von Laut- oder Schriftzeichen, die (a) fixiert und/oder (b) sprachkünstlerisch gestaltet und/oder (c) ihrem Inhalt nach fiktional sind.“ (2009, S. 449) Auch hier lassen sich sieben unterschiedliche Typen des literarischen Textes voneinander unterscheiden, und auch hier gibt es einen Typus, der eben nicht aufgrund ästhetischer oder poetischer Merkmale, sondern aufgrund des Umgangs mit ihm als literarischer Text gelten kann. Auch hier wird die Unterscheidung zwischen graphisch und phonisch repräsentierter Sprache insofern aufgehoben, als eben auch hier beide Repräsentationsformen Literatur sein können. Ich selbst habe an anderer Stelle vorgeschlagen, Dichtung als making special von Sprache zu bestimmen und weiter zwischen Sozialsystemen und Symbolsystemen des making special, schließlich hiervon abgeleitet zwischen autonomer Literatur und heretonomer Poetrie zu unterscheiden und hieran anschließend als Gegenstand der Literaturwissenschaftlichen Komparatistik sowohl Weltliteratur als auch Weltpoetrie zu fokussieren. (Zymner 2013) Das kann ich hier nicht weiter vertiefen – wichtig erscheint mir noch einmal der Hinweis, dass Literatur als weltumspannendes Medium für moderne Gesellschaften Bedeutung gewinnt, dass der grenzüberschreitende, transgressive Charakter von Literatur unter den 2 Siehe hierzu besonders: Pettersson 2006; Prendergast (Hg.) 2004; Pizer 2006; Damrosch 2003 und 2009.

Komparatistik – Konturen einer literaturwissenschaftlichen Disziplin

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Bedingungen der Globalisierung die Hinsichten und Perspektiven konstituiert, in denen Literatur, Dichtung, Poesie u. ä. ihre Bedeutung in der globalen Gegenwart erlangen. Ich wende mich der vierten Frage zu.

4.

Methodische Regeln der Forschung, nach denen die Erfahrung der Literatur in diese Hinsichten eingearbeitet wird

Diese Frage lässt sich etwas ausführlicher oder kurz beantworten – in der kürzeren Version lautet die Antwort: Literaturwissenschaftliche Komparatistik wird als ,Literaturwissenschaft tout court‘ betrieben. Etwas ausführlicher könnte man sagen, dass literaturwissenschaftliche Komparatistik eben als eine theoretisch reflektierte und literarhistorisch breit interessierte wissenschaftliche Umgangsform mit internationaler bzw. Welt-Literatur betrieben wird und sich somit als ,Literaturwissenschaft tout court‘ begreifen lässt. Schon institutionell rechtfertigt sich dieses ,tout court‘ dadurch, dass die Komparatistik nichts anderes als eine selbständige akademische Literaturwissenschaft ist, während die Literaturwissenschaften der Einzelphilologien zumeist jeweils Teile von (nicht zuletzt auch auf Lehramtsstudiengänge bezogenen) disziplinären Verbünden sind, zu denen z. B. die fachspezifischen Sprachwissenschaften ebenso wie die spezifischen einzelphilologischen Didaktiken gehören. Allgemein gilt: ,Literaturwissenschaft tout court‘ kreist um ,Literatur‘ und gewinnt ihre raison d’Þtre aus diesen ,Kreisen‘.3 Literaturwissenschaftler sammeln und bewahren Literatur (z. B. als konkrete Texte in Editionen), sie überliefern sie und stellen sie bereit, beschäftigen sich mit ihrer Entstehung, ihrer Geschichte oder auch ihrer Verbindung mit nichtliterarischen Kontexten, Formen und Verfahren. Vor allen Dingen aber versuchen Literaturwissenschaftler, Literatur wissenschaftlich zu untersuchen, zu verstehen und zu erklären. Dabei kann man ,Literaturwissenschaft‘ grundlegend als eine Tätigkeit bestimmen, der es um die wissenschaftliche Produktion und Prüfung von Hypothesen und damit um die Feststellung von Sachverhalten geht, die sich mit Hilfe hermeneutischer Techniken aufhellen lassen. Die Grundfragen der Literaturwissenschaft, welche sich auf ihr primäres Erkenntnisziel richten, sind daher die einer erklärenden Hermeneutik, nämlich: „Wie ist der Text/das Sprachgebilde/ der Sachverhalt beschaffen?“ und „Wie lässt sich diese Beschaffenheit erklären?“ Methodisch bedient sich die Literaturwissenschaft als rationale oder an Rationalität orientierte Untersuchung von Literatur in erster Linie elementarer logischer Operationen: (Induktion – Deduktion – unter anderem auch: Ver3 Ich übernehme hier den Text des Beitrages ,Literaturwissenschaft tout court‘ im Handbuch Komparatistik.

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gleich – Konstruktion/Synthese – Analysis) sowie heuristischer Vorgehensweisen (z. B. spezifische Analyseverfahren: Stilanalyse, Erzählanalyse usw.) und empirischer Methoden (z. B. Datenerhebung etc.) – ungeachtet aller sonstigen methodischen Ausrichtungen, die von begründenden Bezugstheorien abhängen mögen. Methodische Grundoperationen, heuristische Vorgehensweisen, empirische Belege und sonstiges Wissen (,Weltwissen‘; enzyklopädisches Wissen) dienen dabei als stützende Gründe für Interpretationshypothesen. Methodisch relevant für die literaturwissenschaftliche Interpretation sind überdies: Die implizite oder explizite Unterscheidung und Spezifikation des Interpretationstyps (z. B. Strukturinterpretation, Stilinterpretation, Sinninterpretation etc.) und der Zielsetzung: Feststellung von Sachverhalten (wahr/falsch); Erklärung der Sachverhalte (gültig/ungültig); Bewertung von Sachverhalten (angemessen/unangemessen) sowie schließlich auch die implizite oder explizite Spezifikation des jeweiligen Verstehens-Typs. Zentrale Instrumente der rationalen oder an Rationalität orientierten literaturwissenschaftlichen Untersuchung sind das der hermeneutischen Optimierung und das der systemischen Vereinheitlichung (also der ,Abstimmung‘ von Text und Kontext aufeinander). ,Literaturwissenschaft‘ hat dabei stets einen ,nomologischen‘ Hintergrund (sie ist also unhintergehbar theoretisch fundiert); ihre Aussagen vollziehen sich überall auf der Grundlage eines ,Wissens von einem Zusammenhang‘ (sprachgeschichtliches, allgemein historisches, poetologisches, ästhetisches, poesiologisches Wissen, Regelmäßigkeitsannahmen unterschiedlicher Art), das im Prinzip offenzulegen und selbst kritisch überprüfbar ist. Die explizite Trennung von Hintergrundwissen, Beobachtung und Hypothese bildet dabei u. a. eine rationale Möglichkeit zur Diskussion des ,Bestätigungsdilemmas‘ und des ,Dilemmas in der Unterscheidung von Hintergrundwissen und Fakten‘, die sich u. a. hinter dem sogenannten ,hermeneutischen Zirkel‘ verbergen. Schließlich verleihen ein geteilter anthropologischer/,menschlicher‘ Hintergrund und eine ,gemeinsame Welt‘ Texten/Sprachgebilden einen allgemeinen Aspekt, der die Interpretation mitbestimmt. Literaturwissenschaftliche Behauptungen und Aussagen sollen als wissenschaftliche Behauptungen und Aussagen widerspruchsfrei sein (argumentative Deutlichkeit), sachlich/fachlich korrekt sein (terminologische Deutlichkeit), empirisch triftig sein (Gegenstandsbezug und historische Deutlichkeit), adäquat sein (Angemessenheit des analytischen Instrumentariums), überprüfbar sein (keine Selbstimmunisierung) und vorläufig sein (die jeweils beste mögliche Erkenntnis). Auch wenn literaturwissenschaftliche Theorien nicht falsifizierbar sein sollten, so sollten sie als wissenschaftliche Theorien doch im Prinzip erschütterbar sein. Komparatistik als ,Literaturwissenschaft tout court‘ ist damit vor allem Literaturwissenschaft, welche in ihrer Gegenstandsorientierung im Unterschied

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zu den Einzelphilologien systematisch und grundsätzlich auf Literatur in mehr als einer Sprache gerichtet ist, auf multilinguale Repräsentationen statt monolingualer Repräsentationen graphischer oder auch phonischer Formen des anthropologisch universalen making special von Sprache. Ich komme zu meinem letzten Punkt.

5.

Formen der Repräsentation, in denen das gewonnene Wissen als sinn- und bedeutungsvoll dargestellt wird

Dazu muss ich eigentlich nicht viel sagen. Wie in anderen Geisteswissenschaften auch, sind diese Formen der Repräsentation in der literaturwissenschaftlichen Komparatistik vor allem Monographien, Aufsätze in Fachzeitschriften (von denen es in der Komparatistik viele gibt) oder Herausgeberschriften, Artikel in Sach-, Werk- oder Autorenlexika, systematische und historiographische Beiträge in Handbüchern und Literaturgeschichten. Komparatistische Anthologien gehören ebenso zu den Instrumenten oder Medien der literaturwissenschaftlichen Komparatistik wie interessanter Weise Bilder und Diagramme, Tabellen und Synchronopsen – und das alles analog wie digital. Nicht zuletzt gehören aber auch Vorträge, öffentliche Diskussionen, universitäre Seminare und Vorlesungen (etwa Ringvorlesungen wie die, in der dieser Text als Vortrag gehalten wurde) zu den Formen der Repräsentation komparatistischen Wissens, das Gespräch vor anderen und mit anderen – und das ist vielleicht eine der schönsten, vielleicht auch erfrischendsten Formen der Repräsentation dieser Verständigungswissenschaft, die sich der Weltliteratur vor dem perspektivierenden Hintergrund einer globalen Welt befasst.

Literatur Damrosch, David: ,Frames for World Literature‘, in: Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/ Winko, Simone (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York 2009, S. 374–393, S. 496–515. Damrosch, David: What is World Literature? Princeton 2003. Fricke, Harald: Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen. München 1977. Geider, Thomas: ,Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Dur8e II: die Ökumene des swahilisprachigen Ostafrika‘, in: Ezli, Özkan/Kimmich, Dorothee/Werberger, Annette (Hg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturisierung und Weltliteratur. Bielefeld 2009, S. 361–402.

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Geider, Thomas: ,Zur Geschichte der interdisziplinären Erforschung afrikanischer Volkserzählungen‘, in: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Narrative Culture/Erzählkultur. Berlin/New York 2009b, S. 145–172. Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/Main 51979. Haring, Lee: ,What Would a True Comparative Literature Look Like?‘, in: Foley, John Miles (Hg.): Teaching Oral Traditions. New York 1998, S. 34–45. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Winko, Simone (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin / New York 2009. Lamping, Dieter (Hg.): Geisteswissenschaften heute. Die Sicht der Fächer. Stuttgart 2015a. Lamping, Dieter : ,Zur Lage der Geisteswissenschaften‘, in: Ders. (Hg.): Geisteswissenschaften heute. Die Sicht der Fächer. Stuttgart 2015b, S. XI–XXIX. Lamping, Dieter : ,Die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Eine Geisteswissenschaft in Bewegung‘, in: Ders. (Hg.): Geisteswissenschaften heute. Die Sicht der Fächer. Stuttgart 2015c, S. 117–133. Pettersson, Anders: ,Introduction: Concepts of Literature and Transcultural Literary History‘, in: Lindberg-Wada, Gunilla (Hg.): Literary History : Towards a Global Perspective. 4 Bde., Berlin/New York 2006, hier Bd. 1, S. 1–35. Pizer, John: The Idea of World Literature. History and Pedagogical Practice. Baton Rouge 2006. Prendergast, Christopher (Hg.): Debating World Literature. London 2004. Rüsen, Jörn: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik. Bd. 1: Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983. Rüsen, Jörn: ,Disziplinäre Matrix‘, in: Jordan, Stefan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2010, S. 61–64. Schneider, Jost: ,Die Sozialgeschichte des Lesens und der Begriff ,Literatur‘‘, in: Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Winko, Simone (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York 2009, S. 434–454. Zymner, Rüdiger/Hölter, Achim (Hgg.): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart/Weimar 2013. Zymner, Rüdiger : ,Literatur und andere Dichtung‘, in: Knaller, Susanne/Pichler, Doris (Hg.): Literaturwissenschaft heute – Gegenstand, Positionen, Relevanz. Göttingen 2013, S. 41–56. Zymner, Rüdiger : ,Selbstverständigung und Identität: Das Erkenntnisinteresse der ,Allgemeinen und Vergleichenden Deutschen Philologie‘‘, in: Walter, Erhart (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? Stuttgart 2004, S. 325–342. Zymner, Rüdiger : Funktionen der Lyrik. Münster 2013.

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Der ausführliche Titel der hier vorgelegten Überlegungen lautet: Vom Nutzen und Nachteil der Komparatistik für die Deutung literarischer Texte. Diese Formulierung zeigt: Es geht ausschließlich um ,literarische Texte‘ im Zugriff der Vergleichenden Literaturwissenschaft, die inzwischen im deutschen Sprachraum mit dem Fremdwort Komparatistik bezeichnet wird. Noch 1968 hat Ulrich Weisstein die erste deutsche Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft veröffentlicht. 2013 erschien zum gleichen Thema das Handbuch Komparatistik, herausgegeben von Rüdiger Zymner und Achim Hölter, verfasst von insgesamt 59 Beiträgern. Ulrich Weisstein hat 1968 sein Buch noch ganz allein geschrieben. Inzwischen ist die Komparatistik regelrecht aus den Nähten geplatzt. Und deshalb beschränken sich die hier vorgelegten Überlegungen, um anschaulich zu bleiben und sich nicht in Abstraktionen zu verlieren, auf die Deutung ,literarischer Texte‘ im Zugriff der Komparatistik.

Historischer Rückblick Die Sache der Komparatistik ist älter als ihr heutiger Begriff und auch älter als der Begriff Vergleichende Literaturwissenschaft. Schon Herder im 18. Jahrhundert sowie die Brüder Schlegel und Thomas Carlyle im 19. Jahrhundert gingen komparatistisch vor beim Vergleichen verschiedener National-Literaturen. Ja, Carlyle behandelte in seinem Hauptwerk On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History von 1841 im Dritten Kapitel Dante und Shakespeare unter der Überschrift The Hero as Poet. Und natürlich hatte Goethe mit dem programmatischen Begriff der Weltliteratur (der allerdings nicht von ihm geprägt wurde) dazu beigetragen, dass sich die Beschäftigung mit Literatur nicht auf eine einzige National-Literatur beschränken darf. Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts fand dann die Aufgliederung des Literaturstudiums an unseren Universitäten in die verschie-

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denen Einzelphilologien statt. Man konnte nicht Vergleichende Literaturwissenschaft studieren, sondern Klassische Philologie, Romanistik, Germanistik oder Anglistik. Nach 1945 kamen dann Slawistik und Amerikanistik hinzu. Diese Aufgliederung von ,Literatur‘ in Einzelphilologien suchte man durch Einführung des Studiengangs Komparatistik zu überbrücken, also durch eine Rückkehr zu den Anfängen des Literaturstudiums im 19. Jahrhundert. Nicht alle Universitäten aber zeigten sich bereit, einen Studiengang Komparatistik einzuführen. Man argumentierte, dass sich ja der einzelne Student in seiner jeweiligen Einzelphilologie ein komparatistisches Thema für seine Dissertation wählen könne. Über den heutigen Stand der Dinge, die Komparatistik an den Universitäten im deutschen Sprachraum betreffend, informiert, wenn auch ergänzungsbedürftig, das soeben genannte Handbuch Komparatistik aus dem Jahre 2013.

Filmwissenschaft Was aber auch in diesem Handbuch völlig fehlt: das ist die Filmwissenschaft. Zwar ist schon in Ulrich Weissteins Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft von der „wechselseitigen Erhellung der Künste“ die Rede, ja, Ulrich Weisstein rechnet auch das Opernlibretto zur Literatur : nirgends aber eine Spur von Filmwissenschaft. Die Filmkunst aber, mit dem Hollywood-Film als Zentrum der Ausstrahlung, hat bereits seit Stummfilm-Zeiten und erst recht mit der Erfindung des Tonfilms einen derartigen Einfluss auf das kollektive Bewusstsein der Menschheit, vor allem auch durch den Siegeszug des Fernsehens, dass die Filmwissenschaft auf geradezu natürliche Weise zur Komparatistik gehört. Denn: Jeder Film hat ein Drehbuch, und jedes Drehbuch ist ,Literatur‘. Allerdings kommt jedes Mal das Bild, und zwar als bewegliches Bild, hinzu – sowie die Filmmusik. Filmmusik hatte auch schon der Stummfilm, gespielt von einem Kino-Pianisten zum laufenden Film. Der erste Tonfilm aus dem Jahre 1927 (USA, Regie Alan Crosland), The Jazz Singer mit Al Jolson in der Hauptrolle hatte, wie es der neuen Technik entsprach, sowohl ,incidental music‘: das heißt Musik, die auch im Film auf der Figuren-Ebene zu hören war, als auch ,score music‘, die nur der Zuschauer hört. Die ,incidental music‘ bestand hier aus jüdischen Liedern in der Synagoge und dem Schlager Blue Skies von Irving Berlin, die ,score music‘ aus Tschaikowski-Klängen. Die Handlung des Films zeigt uns eine jüdische Gemeinde in den USA mit einem Rabbinersohn in der Hauptrolle, gespielt von dem Sänger und Entertainer Al Jolson, der nicht bei seinem Vater in der Synagoge singen will, sondern ein

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Jazz Singer werden möchte und deshalb Schlager von Irving Berlin und anderen Amerikanern singt. Hier ist anzumerken, dass der prominente amerikanische Schlagerkomponist Irving Berlin als kleines Kind noch unter dem Zaren Alexander III. mit seinen Eltern aus Russland in die USA eingewandert ist und ursprünglich Israel Baline hieß. Er wurde 1888 in Sibirien geboren. kam mit 5 Jahren in die USA und wuchs in New York auf. 1989 ist er gestorben und hinterließ an die tausend Songs, darunter White Christmas, wofür er 1942 als Komposition für den Film Holyday Inn einen Oscar bekam. Er schrieb auch God Bless America, und sehr berühmt wurde auch Alexander’s Rag Time Band. Ein anderes russisches Ehepaar, das in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts aufgrund der zunehmenden Pogrome von Petersburg nach New York auswanderte, war das Ehepaar Gershovitz, dessen zwei Söhne Ira und George, die in New York (Brooklyn) geboren wurden, sich anstatt Gershovitz „Gershwin“ nannten. George Gershwin lebte von 1898 bis 1937 und hielt sich geraume Zeit in Hollywood auf, wo er direkt für den Film komponierte. Die Texte schrieb fast ausschließlich sein Bruder Ira. Viele seiner Songs wurden nach seinem Tod in Hollywood-Filmen verwendet: so etwa in Vincente Minellis An American in Paris (1951), worin die Musik ganz und gar von George Gershwin stammt. Man sieht: Film und Filmmusik haben ihre eigene Geschichte, die für eine Komparatistik, die es ernst meint, nicht unter den Tisch fallen darf. Und natürlich gehört zur Film-,Wissenschaft‘ auch die Erforschung der Filmmusik als ganz wesentlichem Mittel der Verständnislenkung. Inzwischen mehren sich die Arbeiten über Filmkomponisten. Ich nenne hier nur die Monografie von Tony Thomas Filmmusik. Die großen Filmkomponisten – ihre Kunst und ihre Technik (1995). Abgehandelt werden darin 25 Filmkomponisten von Aaron Copland bis John Williams. Man sieht: Film und Filmmusik haben ihre eigene Geschichte als legitimer Bestandteil der Komparatistik. Es seien nun zwei Beispiele komparatistischer Forschung als Musterbeispiele vorgeführt.

Zwischenbemerkung Zuvor aber noch in aller Kürze eine Überlegung, die so selbstverständlich ist, dass sie gar nicht mehr aufs Tapet kommt, die Frage nämlich: Wie viele Bücher kann ein Mensch denn überhaupt lesen? Diese Frage hat für den Komparatisten eine besondere Schärfe. Denn er soll ja nicht nur eine National-Literatur gut kennen, sondern mindestens zwei, am besten mehrere. Ja, die gesamte „Weltliteratur“ wartet nur darauf, von ihm in den Griff genommen zu werden. Und das von einem Studenten Mitte Zwanzig! Au-

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ßerdem: die Primärtexte, auf die es ankommt, gut zu kennen – damit ist es nicht getan. Wer sich literaturwissenschaftlich kompetent äußern will, muss auch die einschlägige Forschung kennen. Über Dostojewskij aber sind in den letzten zehn Jahren weltweit an die achttausend Monografien und Aufsätze erschienen, aufgelistet in den Jahrbüchern der Dostoevsky Studies (Tübingen: Attempto). Niemand hat die Zeit, das alles zu lesen. Und das erwartet auch niemand. Kurzum: das Ideal der Komparatistik lebt zweifellos von der Utopie eines lesenden Bewusstseins, das es nicht geben kann. Was also ist zu tun? Antwort: Intensive Zuwendung zu möglichst wenigen Primärtexten. Ezra Pound hat einmal vermerkt, um literarisch gebildet zu sein, genügen vier Texte: Homers Ilias und Odyssee, Ovids Metamorphosen und Dantes Göttliche Komödie. Das sei die Grundlage unserer abendländischen Kultur. Die Bibel lässt Ezra Pound weg. Gegen die Bibel hat er seine Vorurteile. Wie ich meine, müsste aber die Bibel noch hinzugefügt werden. Jorge Luis Borges wiederum stellt fest, es gebe nur zwei Grundmuster des Erzählens: den „Konflikt“ und die „Reise“. Der „Konflikt“ komme in Homers Ilias vollendet zum Ausdruck und die Reise in Homers Odyssee. Wer diese beiden Texte gut kenne, kenne auch alle anderen, die nur Varianten seien. Weil aber die Komparatistik weder in der von Ezra Pound vermittelten Einsicht, noch in der von Jorge Luis Borges vermittelten Einsicht zur Ruhe kommen kann, wird es immer wieder gelehrte Abhandlungen geben, die der Forderung, Makrostrukturen verschiedener National-Literaturen miteinander in Beziehung zu setzen, dadurch nachkommen, dass die Bezugnahmen auf literarische Texte so oberflächlich sind, als seien sie aus Kindlers Literaturlexikon abgeschrieben worden. Das heißt: die Komparatistik verführt dazu, ein derart breites Wissen parat zu halten, das kaum im Direktkontakt mit den literarischen Texten erworben werden kann und deshalb aus zweiter Hand, nämlich aus den verfügbaren Nachschlagewerken oder inzwischen aus der Wikipedia gewonnen wurde. Damit aber kommt der literarische Text nur noch in seiner Symptomfunktion für die zu ermittelnde Makrostruktur zu Wort. Das ist eine, der Komparatistik inhärente Gefahr für die adäquate Deutung des einzelnen literarischen Textes.

Zwei Beispiele literaturwissenschaftlicher Komparatistik Natürlich wird diese Gefahr nicht immer spürbar aktuell. Deshalb nun zwei Beispiele dafür, was die Komparatistik positiv leisten kann. 1996 veröffentlicht Sandro M. Moraldo seine Dissertation über das Thema Wandlungen des Doppelgängers: Shakespeare – E. T. A. Hoffmann – Pirandello. Von der Zwillingskomödie zur Identitätsgefährdung. Der Titel zeigt: drei Lite-

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raturen kommen ins Spiel, die englische, die deutsche und die italienische. Und der Doppelgänger als zentrale Gestalt der deutschen Romantik ist der Mittelpunkt der herausgearbeiteten Makrostruktur. Das heißt: dem Stichwort ,Doppelgänger‘ werden drei literarische Texte unterstellt: Shakespeares The Comedy of Errors (Die Komödie der Irrungen), E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla. Ein Capriccio nach Jakob Callot und Pirandellos Il fu Mattia Pascal (Der verstorbene Mattia Pascal). Alle drei Texte werden regelrecht abgeklopft auf das, was sie unter dem Stichwort Doppelgänger hergeben. Im Resultat kommt also ein ganz bestimmter Kontext zur Herrschaft, der Kontext nämlich, der durch den ,Vergleich‘ dieser drei Texte miteinander hergestellt wird. Dies geschieht hier in genauer Kenntnis der Texte und der zuständigen Forschung. Als zweites Musterbeispiel für ein komparatistisches Vorgehen, sei auf meine eigene Arbeit verwiesen, die 2005 erschienen ist – unter dem Titel Der Suizid in der Literatur. Weibliche Selbsttötungen in vier klassischen Ehebruchsromanen des 19. Jahrhunderts. Behandelt werden vier Romane in chronologischer Reihenfolge, die zwischen 1857 und 1899 erschienen sind: Flauberts Madame Bovary, Tolstojs Anna Karenina, Fontanes Effi Briest und Kate Chopins The Awakening. Die Amerikanerin Kate Chopin dürfte in Deutschland noch relativ unbekannt sein. Sie lebte von 1851 bis 1904 und wurde in den USA von der feministischen Welle ganz nach oben getragen, so dass ihr Hauptwerk, The Awakening, zusammen mit ausgewählten Erzählungen, seit 1981 einen festen Platz in der prominenten Buchreihe The Modern Library (New York: Random House) gefunden hat. Es fällt auf: In jedem der vier soeben genannten Romane begeht die Ehefrau, nachdem sie Ehebruch begangen hat, Selbstmord. Und dabei haben wir es mit vier verschiedenen Literaturen zu tun: Madame Bovary – französisch; Anna Karenina – russisch; Effi Briest – deutsch; The Awakening – amerikanisch. Einfluss? Gewiss, soweit ein unausgesprochenes Konkurrenzverhalten vorliegt. Jeder Autor kennt seine Vorläufer und will es anders und besser machen. Hinzu kommt natürlich immer der jeweilige Geist der Zeit, der hier ein Blick auf die Macht der Konventionen ist. Die Todesarten sind verschieden: Emma Bovary vergiftet sich mit Arsenik, ein ganz schrecklicher Tod, und Flaubert spart nicht mit Details. Anna Karenina stürzt sich unter einen Güterzug: das Nützliche überrollt das Schöne – so konstruiert Tolstoj aufgrund seiner arterhaltenden Ethik, in der die Familie das Höchste ist. Anna Karenina aber hat ihre Familie egoistisch verlassen und deshalb, so Tolstoj, ihren Tod verdient. Effi Briest atmet absichtsvoll die tödlichkalte Nachtluft ein, sie ist lungenkrank und stirbt. Sie wird unter ihrem Mädchennamen beerdigt. Das war ihre letzte Bitte: „Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben; ich habe dem anderen keine Ehre gemacht.“ Ihren Selbstmord hat Dieter Wellershoff in seiner Essay-Sammlung Der verstörte

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Eros (2001, S. 159) den „stillsten und höflichsten Selbstmord der Literatur“ genannt. Ihr sozialer Tod ging voraus: ihre Ächtung durch Innstetten, der ihr das Kind entzieht und sich von ihr sogar durch Scheidung trennt, nachdem er ihren Geliebten, Crampas, im Duell getötet hat. Das Einatmen der tödlichen Nachtluft lässt Effi Innstetten wieder zu Effi Briest werden, zur „Tochter der Luft“. Edna Pontellier, die Hauptgestalt in Kate Chopins Roman The Awakening, schwimmt in den Golf von Mexiko hinaus, um zu ertrinken, nachdem sie das erstrebte Liebesglück auch außerhalb der Ehe nicht finden konnte. In allen vier Romanen ist die Ehefrau die Hauptperson und hat künstlerische Interessen, während der Ehemann als solide und spröde geschildert wird. In allen vier Fällen führt der Ausbruchsversuch aus der Familienbindung in den sozialen und physischen Tod. Mit dem Vergleich dieser vier Romane miteinander wird ein ganz bestimmter Kontext sichtbar, der alle vier miteinander verbindet: aufgrund des Selbstmords der weiblichen Hauptperson nach vollzogenem Ehebruch. Die verschiedenen Todesarten wie auch die jeweils vorausgehende soziale Isolation werden durch den vorgenommenen Vergleich besonders deutlich, erhalten ihr spezielles Profil. Und in dieser besonderen Verdeutlichung besteht der Nutzen der Komparatistik, deren Gegenstand immer ein ganz bestimmter Kontext ist, der verschiedene literarische Texte aufgrund einer zentralen Gemeinsamkeit miteinander verbindet. Nun steht aber jeder literarische Text seiner Natur nach immer in ganz verschiedenen Kontexten. So ließen sich etwa die atheistischen Prämissen Flauberts in Madame Bovary mit den atheistischen Prämissen in Theodor Storms Der Schimmelreiter vergleichen oder die Funktion des Duells in Fontanes Effi Briest und in Lermontows Ein Held unserer Zeit. Kurzum: Jeder Kontext, der für einen Vergleich literarischer Texte leitend wird, blendet andere Kontexte aus, die auch möglich wären, weil sie da sind. Und das heißt: Die Komparatistik nimmt per definitionem am Bedeutungsvolumen der literarischen Texte, denen sie sich zuwendet, eine Reduktion vor, weil jeder gewählte Kontext alle anderen Kontexte ausblendet. Dieser Nachteil der Komparatistik lässt sich nicht abschaffen, er gehört zum Wesen der Komparatistik. David Perkins (Harvard) bezeichnet 1997 in seinem Buch Is Literary History Possible? das zwangsläufige Resultat eines jeden Kontextes als „taxonomische Reduktion.“ Taxonomisch, das heißt: die Einordnung in ein System betreffend. Das menschliche Bewusstsein ist auf Einordnung der Realitäten seiner Umwelt ausgerichtet. Solche Einordnung geschieht stets aufgrund von Kontexten, d. h. festem Vorwissen. Und „Literaturgeschichte“ ist immer der Versuch, literarische Texte in Kontexte zu integrieren. Wenn David Perkins nachweist, dass Kontexte immer zur „taxonomischen Reduktion“ der Bedeutung des Einzelwerks führen, so hat er damit auch das

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Wesen der Komparatistik bewiesen, denn ihr Gegenstand sind ja immer Kontexte. Die Komparatistik kann also per definitionem gar nicht anders, als „taxonomische Reduktionen“ vorzunehmen. Darin besteht ihre Aufgabe, ihr Nutzen und ihr Nachteil. Und deshalb lassen sich ,Nutzen und Nachteil‘ der Komparatistik für die Deutung literarischer Texte eindeutig benennen. Niemand bestreitet den Nutzen. Denn: Nur, wer vergleichen kann, hat Horizont, und nur, wer Horizont hat, kann die Bedeutung des Einzeltextes im jeweiligen Kontext adäquat bestimmen. Es liegt auf der Hand, dass die Formel ,Nutzen und Nachteil‘ auf Nietzsches so berühmte Zweite Unzeitgemäße Betrachtung anspielt: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Nietzsche fordert darin, den großen Werken der Vergangenheit mit der „kritischen Historie“ zu begegnen, die nach dem Nutzen eines Werks der Vergangenheit für mich hier und heute fragt: mit Blick auf die Zukunft. Das heißt: ein Kunstwerk ist so viel wert, wie es mir hier und jetzt dabei hilft, mein Leben zu meistern. Hans-Georg Gadamer hat aus diesem Ansatz 1960 in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik seinen Leitbegriff der Applicatio entwickelt: „Verstehen ist Anwendung des Verstandenen auf mich selbst.“ (1960, S. 290–295) Große Kunstwerke sagen für Gadamer nicht über alle Zeiten hinweg ein und dasselbe, sondern haben, geschichtlich bedingt, eine jeweils andere Bedeutung für den, der sie liest, weil das Interpretament wechselt. Dieser Interpretationsbegriff ist von Nietzsche philosophisch begründet worden. Interpretieren heißt für Nietzsche: herauslegen, was sich ,verrät‘ (sein Wort), ohne dass es gesagt sein wollte. Diesen Interpretationsbegriff vertreten auch Marx und Freud. Marx fragt: Welche implizite Position bezieht der Autor eines literarischen Textes im Klassenkampf ? Freud fragt: Welche sexuellen Wünsche hat der Autor eines literarischen Textes verdrängt, die nun in seinem Text latent vorliegen und vom Leser herausgelegt werden müssen. Immer geht es Nietzsche, Marx, Freud und Gadamer, wenn sie einen literarischen Text interpretieren, um die „Anwendung des Verstandenen auf mich selbst“: hier und jetzt. Es lässt sich aber auch eine ganz andere Haltung zum literarischen Text denken und einnehmen, die Haltung nämlich, die vom „vierfachen Schriftsinn“ bestimmt wird. Die Lehre vom „vierfachen Schriftsinn“ unterscheidet zwischen dem „fundamentum“, dem „buchstäblichen Sinn“, und einem dreistufigen „superaedificatum“, dem Überbau, bestehend aus der aus dem „allegorischen Sinn“ (der übertragenen Bedeutung), dem „tropologischen Sinn“ (der moralischen Bedeutung für mich selbst) und dem „anagogischen Sinn“ (der Selbstbezogenheit des Textes als Komposition einer künstlerischen Intelligenz). Man sieht: der von Nietzsche philosophisch begründete Interpretationsbegriff will und kennt nichts anderes als den „tropologischen Sinn.“ Der literari-

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sche Text besitzt aber auch Bedeutungen, die vom Leser hier und jetzt völlig unabhängig sind. Diese Unabhängigkeit wird von der Lehre vom vierfachen Schriftsinn begründet, unter Einschluss des „tropologischen Sinns“, der Bedeutung, die der Text hier und jetzt für den Leser hat. In Gadamers Hermeneutik ist sonderbarerweise vom „vierfachen Schriftsinn“ nirgends die Rede. In meinem kleinen Lehrbuch Lesen und Interpretieren von 2002 (das mein akademischer Lehrer Gadamer leider nicht mehr lesen konnte) habe ich die Lehre vom „vierfachen Schriftsinn“ systematisch aktualisiert. Und 2006 veröffentlichte mein Kollege von der Jüdischen Hochschule in Heidelberg, Daniel Krochmalnik, seine Monografie Im Garten der Schrift. Wie Juden die Bibel lesen, worin es zentral um den vierfachen Schriftsinn geht. Und wenn meine heutigen Überlegungen mit dem Hinweis auf den vierfachen Schriftsinn abgeschlossen werden, so hat das seinen Grund darin, dass der vierfache Schriftsinn den literarischen Text unabhängig von jeglichem Kontext betrachtet. Es empfiehlt sich, bei der Lektüre eines literarischen Textes immer den vierfachen Schriftsinn parat zu halten: als notwendige Gegenkraft zu den Kontextualisierungen der Komparatistik. Und deshalb soll nun ein Zitat aus Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung die Pointe sein. Es heißt dort in § 36: „Während die Wissenschaft, dem rast- und bestandlosen Strom vierfach gestalteter Gründe und Folgen nachgehend, bei jedem erreichten Ziel immer weiter gewiesen wird und nie ein letztes Ziel, noch völlige Befriedigung finden kann, […] so ist dagegen die Kunst überall am Ziel. Denn sie reißt das Objekt ihrer Kontemplation heraus aus dem Strom des Weltlaufs und hat es isoliert vor sich; und dieses Einzelne, was in jenem Strom ein verschwindend kleiner Teil war, wird ihr ein Repräsentant des Ganzen, ein Äquivalent des in Raum und Zeit unendlich Vielen: sie bleibt daher bei diesem Einzelnen stehn: das Rad der Zeit hält sie an: die Relationen verschwinden ihr : nur das Wesentliche, die Idee, ist ihr Objekt.“ (S. 217–218)

Anders ausgedrückt: Schopenhauer geht davon aus, dass das literarische Kunstwerk frei von allen Kontexten dasteht. Es ist sein eigener Kontext. Das ist das Gegenteil von dem, was wenig später der Schopenhauer-Schüler Nietzsche über die Interpretation sagen wird. Schopenhauer legt dar, dass das literarische Kunstwerk mit dem Leben und der Situation des Lesers nichts zu tun hat, weil es den Leser herausreißt aus seiner Situation und ihn entführt in die dargestellte Welt. Mit diesem Hinweis sind meine heutigen Ausführungen zu Ende, denn die Frage Wozu Komparatistik? hat nun ihre sachgerechte Antwort gefunden.

Wozu Komparatistik?

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Jürgen Joachimsthaler

Was produziert Komparatistik? Vergleichen als kulturelle Praxis

I. Komparatistik – vom Namen her bedeutet das eine Wissenschaft, die etwas mit Vergleich oder Vergleichen zu tun haben müsste. Traditionell – und so kam es zu diesem Namen – wurde von Komparatistik gesprochen, wenn im Zeitalter der auf die europäischen Nationalliteraturen konzentrierten Nationalphilologien ein Philologe aus seinem national konturierten Kultur-Innenraum heraus auf literarische Phänomene in anderen Kultur-Innenräumen blickte. Im heutigen Fachverständnis ist für diese traditionelle Tätigkeit des Komparatisten zuständig das von der Komparatistik insgesamt zu unterscheidende Teilgebiet Vergleichende Literaturwissenschaft. Die Frage nach dem Kernbereich des Gesamtfaches Komparatistik lässt sich nämlich nicht mehr einfach unter Rückgriff auf die Wortbedeutung von Komparatistik mit „vergleichende Wissenschaft“ beantworten, da, so das Handbuch Komparatistik, „[d]ie Stellung des ,Vergleichs‘ in der Komparatistik […] umstritten [ist], insofern unklar ist, ob der Vergleich die oder eine Tätigkeit des Komparatisten auszeichnet“. (Zelle 2013, S. 132) Diese Relativierung der Bedeutung des Vergleichs begründet sich aus einer strukturell notwendigen Spannung zwischen einer enger gefassten Komparatistik im Sinne einer Vergleichenden Literaturwissenschaft einerseits und dem konkurrierenden Teilgebiet der Allgemeinen Literaturwissenschaft andererseits, die für sich beansprucht, die Spezifität der diversen einzelsprachlichen Literaturen transzendieren und oberhalb derselben allgemeingültige Aussagen über jede Literatur und damit die Literatur an sich treffen zu können. Die Spannung zwischen einer Allgemeinen Literaturwissenschaft, die allgemeingültige Aussagen über literarische Phänomene (Gattungen, Themen, Textstrukturen etc.) treffen möchte, unabhängig davon, aus welcher Sprache, aus welchem kulturellen Kontext die jeweils konkreten Texte kommen einerseits und einer Vergleichenden Literaturwissenschaft andererseits, die entlang der Sprachgrenzen vergleicht und Differenzen herausarbeitet, ist nicht neu. Sie gehört zu den Entstehungsbedingungen des Faches und reicht zurück in die Zeit, in

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der die Nationalphilologien entstanden, zugleich aber, komplementär dazu und nicht trennbar davon, vergleichendes literaturwissenschaftliches Arbeiten. Nationale und Vergleichende Literaturwissenschaft entwickelten sich gemeinsam, gemeinsam lösten sie im Laufe des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine ältere Literaturwissenschaft ab, die sich bezeichnen ließe als eine Art allgemeiner Literaturwissenschaft avant la lettre. Im Sinne einer noch stark an die traditionelle Rhetorik gebundenen Poetik vermittelte diese nicht nationalsprachlich geordnetes literaturhistorisches Wissen, sondern primär die praktische Befähigung zum schriftlichen Ausdruck, zu dessen Zweck auf literarische Vorbilder zurückgegriffen wurde, deren Exemplarizität und Vorbildfunktion wichtiger war als ihre epochale oder nationale Zuordnung. Die Textauswahl erfolgte anhand einer als verbindlich geltenden Regelpoetik und bewertete Texte danach, wie gut sie diese als allgemeingültig erachteten Normen erfüllten. Die ausgewählten Texte wurden denn auch nicht in literaturhistorische Raster wie Epochen, Strömungen, Länder etc. eingeordnet, sondern systematisch nach ihrer Funktion innerhalb eines wohlgeordneten ästhetischen Gesamttableaus. Auch innerhalb dieser älteren Tradition gab es bereits Vergleiche allerdings agonalen Charakters. Begründet im sportlichen Charakter und der oralen Tradition der antiken Polis, in welch letzterer in öffentlicher Rede um die Zustimmung der versammelten Bürger in politischen oder juristischen Fragen gerungen worden war, setzten sie in der Form etwa von Wettbewerben einzelne Autoren und einzelne Texte in Konkurrenz zueinander, um einen Sieger zu ermitteln. Diese Formen des komparativen Vergleichs unterscheiden sich vom komparatistischen dadurch, dass Autoren und Texte jeweils individuell, aber immer auf die Frage hin beurteilt werden, wie gut sie als allgemeingültig erachtete Qualitätskriterien erfüllen. Diese Art des Vergleiches unterstützt und verbreitet Wertvorstellungen und beschert denen, die ihn vornehmen, nicht nur die Metaposition eines scheinbar neutralen Schiedsrichters, sondern auch das beruhigende Gefühl, selbst Verkörperung der ästhetischen Wertvorstellungen zu sein, die sie vertreten. Partikulare Besonderheiten des zu bewertenden Textes (z. B. Dialekt oder Interferenzen mit anderen Sprachen) erscheinen dabei oft eher als störend. So produziert und reproduziert der komparative Vergleich ästhetische Standpunkte und wertende Gewissheit. Für den komparatistischen Vergleich hingegen ist notwendig die Zugehörigkeit der Vergleichsglieder zu unterschiedlichen, durch ihre jeweilige Besonderheit sich auszeichnenden kulturellen Gefügen, als deren Vertreter die jeweiligen Autoren und Texte in vergleichenden Bezug zueinander gesetzt werden. Der komparative Vergleich wertet, weil er einen Sieger küren muss, der komparatistische kann die verglichenen Phänomene werten und hierarchisieren, muss aber nicht. Der komparatistische Vergleich dient dazu, Aussagen zu treffen

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über voneinander unterschiedene kulturelle Gefüge, denen die betrachteten Autoren und Texte als für sie paradigmatisch zugeordnet werden, während der komparative Vergleich ein dem Anspruch nach (nicht unbedingt jedoch tatsächlich) ahistorisches und kulturtranszendentes Idealbild von Literatur dadurch durchzusetzen versucht, dass er Texte danach beurteilt, wie nahe sie diesem Ideal kommen.

II. Keine Wissenschaft kann ihre Gegenstände spezifizieren, ohne sie miteinander zu vergleichen, keine kann sie in Gruppen ordnen, ohne sie zu Vertretern derselben zu machen, sodass real beobachtbare Verschiedenheiten zwangsläufig als Unterschiede zwischen verschiedenen Phänomen-Klassen interpretiert werden. Solche Klassifikation wird desto problematischer, je mehr die Phänomene nicht naturgegeben, sondern kulturell überformt oder – wie eben Literatur – nur kultureller Art sind. Kultur zeichnet sich ja dadurch aus, Natur reflektieren und sich in Kontrast zu ihr setzen zu können. Im Zuge dieser Bewegung werden kulturelle Gefüge entworfen, die sich zu Deutungs- und Sinnwelten, zu ganzen Kultur-Innenräumen verdichten. Diese können den in ihnen Lebenden zwar als Natur erscheinen, sind aber vom Menschen gestaltete, letztlich in vielen Dingen arbiträre Simulakren (Baudrillard 2011, S. 92–156), deren Gestalt veränderlich ist und mithin nicht substanzialisierbar. Diese kulturellen Gefüge sind Lebensund Gesellschaftsordnungen, an deren reibungslosem Funktionieren oft das physische, immer aber das semantische Überleben von ganzen Gemeinschaften und oft auch vielen Individuen hängt, so dass sie dazu neigen, ihre Sinnwelt als natürlich oder von metaphysischen Instanzen vorgegeben zu ontologisieren – sie entwickeln Vorstellungen von ihrer Lebenswelt und von ihrer Gemeinschaft. Solche vorgestellten Welten bedürfen eines Mediums der Vorstellung von sich selbst, das, unterstützt von (vordergründig manchmal allein wahrnehmbaren) Bildern und Klängen im Wesentlichen das Medium der Semantik ist, der Text, Literatur. Der komparatistische Vergleich korrespondiert mit dieser Funktion von Literatur, insofern ihm die Neigung einverschrieben ist, die von ihm festgestellte und den Herkunftskulturen der beobachteten Phänomene zugeschriebenen unterscheidbaren Eigenschaften zu substanzialisieren und als ihnen wesenhaft zu betrachten. Ergebnis waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein Völker- und Kulturtypologien (im Gegensatz zur Typologie ästhetischer Erscheinungen in der Allgemeinen Literaturwissenschaft), die zunächst dabei halfen, die Welt mental zu ordnen, wie dies bereits in den frühneuzeitlichen Völkertafeln ge-

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schehen war : Jedem ,Volk‘ wurde ein bestimmtes, stabiles Set an Eigenschaften zugeschrieben, wobei im Zentrum jedes dieser Zuschreibungssysteme das Selbstbild desjenigen stand, der um sich herum die Welt entsprechend ordnete. Indem er der vorgestellten Gemeinschaft, der er sich selbst zurechnete, bestimmte Eigenschaften attestierte, mussten die übrigen Völker in damit korrespondierender Weise mit komplementären Eigenschaftskumulationen ausgestattet werden. Komparatistik kann deshalb nicht darauf verzichten, ihr Tun kulturwissenschaftlich zu reflektieren: Indem sie Texte aus verschiedenen Kulturen miteinander vergleicht, betreibt sie unvermeidlich selbst Kulturvergleich und produziert Bilder der verglichenen Kulturen, die den Regeln ihres immanenten Kulturverständnisses folgen. Dies lässt sich nicht umgehen, deshalb muss das jeweilige Konzept von Kultur bewusst gemacht werden und auf der argumentativen Oberfläche der vergleichenden Tätigkeit explizit (und mithin kritisierbar) ausformuliert sein.

III. Die ältere Poetik holte ihre Beispiele aus verschiedenen Literaturen in verschiedenen Sprachen, sofern die jeweiligen Texte nur dem ästhetischen Ideal entsprachen, das sie verkörpern sollten. Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey ist voller Verweise auf die antike, aber auch die zeitgenössische humanistische Dichtung verschiedener Sprache, während Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen neben antiken Referenztexten vor allem solche französischer Sprache bevorzugt. Bei aller Liebe zur deutschen Sprache als ihrem primären Ausdruckswerkzeug verwiesen beide bedenkenlos auf Vorbilder aus anderen Sprachen und verlangten von deutschsprachigen Autoren, dass sie sich am Beispiel als literarisch höher entwickelt betrachteter anderssprachiger Literaturen orientierten. Dass deutsche Literatur diesen oder gar den gemeinsamen antiken Vorbildern gegenüber originell sein und nationale Eigenart entwickeln solle, gehörte nicht zum Erwartungshorizont. Die Ergebnisse deutscher Spracharbeit wurden bewertet nach den als allgemein gültig betrachteten, der Antike entlehnten (bzw. dieser zugeschriebenen) Maßstäben. Es ging nicht darum, Besonderheit auszubilden, sondern dem allgemein anerkannten Ideal näher zu kommen. Entsprechend war es die Aufgabe von Literaturbetrachtung nicht, Besonderheit differenziert zu beschreiben, sondern allenfalls Distanz vom Ideal kritisch zu vermerken. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts trat dann eine langsame Verschiebung der Orientierungsmaßstäbe ein. Seit den Stürmern und Drängern verabschiedete sich die deutsche Literatur von der jahrhundertelang gültigen Tradition der Rhetorik. Seither soll Dichtung originell sein, individuelle Abweichung wird

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zum Markenzeichen des Dichters. Im Schul- und Universitätsunterricht wurde die praktische Seite des Schreibens, aber auch die poetisch-literaturwissenschaftliche Ausbildung im Sinne der Systematik poetischer Techniken und Verfahren immer weiter zurückgefahren zugunsten einer eher passiv zu rezipierenden nationalhistorischen Literaturgeschichte, die Identifikation schaffen soll(te) durch Einbindung des Lesers in von ihm zu übernehmende nationale Deutungsmuster. Dieser Vorgang war verbunden mit dem Paradox, dass die Schüler immer weniger über die konkurrierenden anderen Literaturen erfahren sollten (was dann wiederum für Komparatistik zu einem Ansporn werden konnte, über die nationalen Grenzen hinauszublicken), während die sich voneinander abgrenzenden nationalen Literaturen einander europaweit sehr wohl beobachteten, voneinander lernten, ähnliche Wege des Sich-Abgrenzens voneinander gingen und noch im Gegeneinander voneinander abhängig blieben. Nationale Absonderung ist nicht möglich ohne den vergleichenden Blick auf die ,Anderen‘. Komparatistisches Vergleichen muss also nicht unbedingt der Überwindung der Nationalismen dienen, sie kann diese auch unterstützen. Sie kann antagonistisches Gegeneinander stabilisieren durch das kritiklose Verzeichnen gemeinsam gegeneinander ausgebildeter komplementärer ästhetischer Verfahren (wie angeblich französischen Klassizismus und angeblich deutschen Antiklassizismus), die dann womöglich noch als wesenhaft für die jeweilige Kultur dargestellt werden.

IV. Nationale wie Vergleichende Literaturwissenschaft entstehen im Widerspruch zur älteren Poetik. Ihre Entwicklung lässt sich exemplarisch an einigen Texten zeigen, mit denen ein literaturenübergreifendes allgemeines Dichtungsverständnis langsam umschwingt in ein Denken, das Literaturen national zu differenzieren beginnt und so am Anfang zugleich einer nationalen und einer komparatistischen Literaturbetrachtung steht, ehe sich dann einseitig nationales Denken durchsetzt und komplementär mit diesem Komparatistik als ergänzende Fragestellung, die nationale Beschränktheit oft, aber nicht immer überwinden will – sie ist ja mit ihr zugleich entstanden. Beide sind ohne einander nicht denkbar. Johann Elias Schlegels Vergleichung Shakespeares und Andreas Gryphs wird gerne als ein Vorläufertext sowohl des Faches Germanistik als auch der Komparatistik angeführt. Schlegel war Schüler Gottscheds und mit diesem Vertreter einer klassizistischen Ästhetik, für die Shakespeare allenfalls als Negativbeispiel interessant war, das die Regeln nicht einhält. Im Zuge seines Vergleichs Shakespeares mit Andreas Gryphius zeigt Schlegel, dass die beiden von ihrem jewei-

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ligen historischen und kulturellen Kontext aus erklärbar sind und innerhalb desselben auch einen spezifischen Wert haben. Damit wird der Allgemeingültigkeitsanspruch der Regelpoetik, die nicht auf kulturelle Unterschiede, sondern auf Meisterwerke blickt, egal, in welcher Sprache diese verfasst sind, durch die Darlegung kulturell bedingter Besonderheit relativiert und letztlich sogar in seinem universalistischen Anspruch in Frage gestellt. Mit diesem Text beginnt zudem, ohne dass Schlegel dies so beabsichtigt hätte, die Würdigung Shakespeares als eines herausragenden Autors in Deutschland, der gerade wegen seines Abweichens von den regelpoetischen Prinzipien Wert in sich hat. Komparatistik muss nicht, aber sie kann kulturelle Selbstverständnisse in Frage stellen, indem sie, vergleichbar einer Übersetzung (und Schlegels Text entstand im Zuge übersetzerischer Tätigkeit), das Spektrum dessen erweitert, was in der Sprache und Kultur möglich ist, in die hineinübersetzt wird. Der spätere Abschied der deutschen Literatur von den tradierten Vorgaben wurde mit vorbereitet durch diesen vergleichenden und erklärenden Blick auf das von ihnen Abweichende, der einem Bruch mit als allgemeingültig akzeptierten Prinzipien gleichkam.

V. Die Familie Schlegel insgesamt ist für die Geschichte der deutschen wie der europäischen Komparatistik äußerst bedeutsam. 1807, also 66 Jahre nach Johann Elias Schlegels Vergleichung, veröffentlichte August Wilhelm Schlegel zunächst auf Französisch (Comparaison entre la PhHdre de Racine et celle d’Euripide; ein Jahr später dann auch auf Deutsch) seinen Vergleich der beiden Phaidra-Dramen von Racine und Euripides, der nun im Geist der Romantik (aber auch in der Tradition Johann Elias’ Schlegels) ausgerichtet war auf eine kulturhistorische Einbindung der beiden verglichenen Texte, die als paradigmatisch erscheinen für ihre Zeit und ihre kulturelle Umgebung. Damit hatte sich eine Herangehensweise etabliert, die lange im Mittelpunkt der Vergleichenden Literaturwissenschaft stehen sollte: Literarische Texte werden nicht nur als Einzeltexte miteinander verglichen, sondern als Zeugen ihrer Kulturen. Man trifft, wenn man Texte miteinander vergleicht, Differenzierungen zwischen kulturellen Gesamtgefügen und damit letztlich auch zwischen den Angehörigen derselben, die nun als Träger der Eigenschaften des kulturellen Kontextes erscheinen, dem sie entstammen. Diese Betrachtungsweise hat die Komparatistik lange begleitet und zu problematischen Konsequenzen geführt, indem ganze Volkscharaktere dekretiert wurden – was wiederum einer der Gründe ist, warum es später bei etlichen Komparatisten Skepsis gegenüber dem komparatistischen Vergleich gibt, denn dieser schafft unter Umständen Unterschiede erst, die es ohne ihn in

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dieser Weise nicht unbedingt geben muss. (Der kritischen Reflexion dieses Sachverhaltes verdankt die Teildisziplin der Imagologie ihre Entstehung.) Doch lässt sich deshalb so einfach auf ihn verzichten? Zu differenzieren ist zwischen Verschiedenheit und Unterschied. (vgl. Joachimsthaler 2010) Texte und Kulturen können verschieden sein, wenn sie nichts miteinander zu tun haben, unabhängig voneinander entstanden sind und sich nicht aufeinander beziehen wie z. B. jeweils spezifische orale Erzählformen in Polynesien und auf Grönland. Die Differenzen zwischen diesen sind durch Beobachter beschreibbare Verschiedenheiten, zwischen denen es keine Verbindung gibt. Ein Unterschied hingegen entsteht dann, wenn bereits existierende Verschiedenheit mit Bedeutung aufgeladen oder gar ein Unterschied konstruiert wird, wo es zuvor gar keine Verschiedenheit gab, etwa wenn die Anhänger einer bestimmten poetischen Schule anfangen, sich von ihrem Umfeld dadurch aktiv zu unterscheiden, dass sie ihren Texten gemeinsame Merkmale verleihen. Es ist nicht dasselbe, wenn Menschen in ihren verschiedenen Sprachen schreiben wie wenn sie wie etwa nach der Auflösung von Jugoslawien versuchen, Texte in serbischer und kroatischer Sprache möglichst weit voneinander und von jenem (seinerseits erst künstlich geschaffenen) Serbokroatisch zu entfernen, das zuvor als Einheitssprache proklamiert worden war. Ähnliches gilt für das Tschechische und Slowakische, nach dem die Idee einer tschechoslowakischen Einheitssprache mit der Auflösung der Tschechoslowakei hinfällig geworden ist, aber auch regionale Autoren, die etwa in Deutschland ihre Texte in diversen Regiolekten und Dialekten verfassen, machen dies heutzutage häufig im Bewusstsein einer Abgrenzung nicht unbedingt voneinander, aber doch in jedem Fall vom Hochdeutschen, zu dem sie sich in bewussten Kontrast setzen. Sie unterscheiden sich. Verschiedenheit ist zufällig und unbeabsichtigt. Sie bedeutet nichts. Unterschiedenheit aber ist gewollt, sie bedeutet und wird aufgeladen mit abgrenzender Semantik. Für einen methodologisch bewussten Einsatz der Begriffe Verschiedenheit und Unterschiedenheit ist es darüber hinaus wichtig, dass es einerseits bereits auf Gegenstandsebene Verschiedenheit und Unterschiede geben kann, dass andererseits aber auch erst der vergleichende Blick eines unterscheidenden Beobachters Verschiedenheit entdecken und diese mit Bedeutung versehen kann, die dann für ihn (nicht aber unbedingt auf Gegenstandsebene selbst) aus Verschiedenheit Unterschiedenheit macht. Er selbst ist es dann, der aktiv unterscheidet. Bloße Verschiedenheit erhält Bedeutung für denjenigen, der unterscheidet. Die klassizistische Poetik ist ein Regelwerk, an das man sich halten kann (was die meisten Autoren lange Zeit getan haben) oder eben nicht wie Shakespeare, der sie gar nicht kannte. Klassizismus und Shakespeare sind verschieden, ohne dass von ihnen aus ein Unterschied zwischen ihnen bestünde. Für die deutsche Literaturgeschichte von zentraler Bedeutung war der im 18. Jahrhundert fast

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schon topische Vergleich Shakespeares mit klassizistischen französischen Autoren; dieser erlaubte nicht nur eine Selbstabgrenzung der jungen deutschen Literatur des Sturm und Drang von den Vorgaben der Regelpoetik, dieser bereitete zugleich eine Unterscheidung zwischen (am englischen Vorbild geschulter) deutscher und französischer Literatur vor. Ergebnis war eine bewusst vollzogene Selbstunterscheidung im Bereich der Poetik, die zusätzlich sozial aufgeladen war mit der ständischen Selbstunterscheidung des deutschen Bürgertums von der stark französisch geprägten Kultur der Adels- und Fürstenhöfe. Was sich im 19. Jahrhundert dann herausbildete an stereotypen gegensätzlichen Vorstellungen von ,den Franzosen‘ und ,den Deutschen‘ beruhte zwar auch auf der späteren Erfahrung von Französischer Revolution, napoleonischer Besatzung und Befreiungskriegen, war semantisch aber bereits zuvor vorstrukturiert worden durch diese Selbstunterscheidung der deutschen Literatur vom bis Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland fraglos gültigen französischen Vorbild. Da mit diesem die Regelpoetik als ,französisch‘ abgelehnt wurde, mussten ihr Vorstellungen dessen entgegengesetzt werden, was denn nun ,deutsche‘ Literatur überhaupt sein soll. Schlegels Vergleich Racines mit Euripides, also dem antiken Dichter, von dem das älteste Phaidra-Drama überliefert ist, stellt Unterschiede fest, die im deutschen Kontext so rezipiert wurden, dass das, was von Schlegel als griechisch herausgearbeitet wird, den Deutschen näher sei als das Französische. So wie die Beschäftigung mit Shakespeare wirkungsmächtige Vorgaben für die künftige nicht-französische Gestalt der deutschen Literatur zur Verfügung stellte, wurde auch die griechische Literatur (im Gegensatz zur mit Frankreich assoziierten römischen) als potenzielles Vorbild betrachtet. Im französischen Original freilich hatte Schlegels Text dazu gedient, die Literatur der Aufklärung zu kritisieren und den Weg zu bereiten für ein von zeitgenössischer deutscher Literatur inspiriertes romantisches Literaturbewusstsein. Derselbe Text kann so je nach Kontext andere Wirkung entfalten, in der einen Sprache Unterscheidungsbedürfnisse gegenüber dem Nachbarland unterstützen, in der anderen geradezu umgekehrt Offenheit produzieren für noch Neues von drüben. In Deutschland jedenfalls wurden zu dieser Zeit mit vergleichender Methodik Unterschiede konstruiert, die dem Aufbau eines nationalen Selbstbildes dienten – wie ja die Konstruktion von Unterschieden immer auch Arbeit am eigenen Selbstbild ist.

VI. Dies gilt insbesondere für einen Schlüsseltext in der Entstehung nationaler wie komparatistischer Literaturbetrachtung, Johann Gottfried Herders anonym erschienene Sammlung Von deutscher Art und Kunst, die als konstitutiv betrachtet

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wird für die Herausbildung deutschen Nationalbewusstseins, während sie – wohl aufgrund ihres Titels – erstaunlich wenig betrachtet wird hinsichtlich ihrer Funktion für die Entwicklung komparatistischen Denkens (zu dessen Mitbegründern Herder doch ansonsten stets gezählt wird). Zu betrachten sind natürlich die beiden Beiträge Herders selbst, der Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker ([Johann Gottfried Herder :] 1773a) und ein Text über Shakespear. ([Johann Gottfried Herder :] 1773b) Gegenstand der von Herder selbst stammenden Texte ist nichts, was als ,deutsch‘ zu klassifizieren wäre: Er reflektiert Phänomene anderssprachiger Literaturen, denen er identitätsbildende Bedeutung für eine jede künftige deutsche Literatur zuschreibt. Noch ganz im Sinne der älteren Poetik geht es ihm um gültige Vorbilder – jedoch nicht mehr um Vorgaben für eine alle kulturellen Unterschiede transzendierende allgemeine Poesie, sondern um Anregungen für die Herausbildung einer durch ihre eigene Besonderheit sich auszeichnende deutsche Dichtung. Nicht umsonst verweist er auf Texte, die jeder klassizistischen Ästhetik widersprechen und damit eine Art der Literatur verkörpern, wie es sie in Deutschland noch überhaupt nicht gab. Vordergründig jedoch handelt Herder hier nicht von deutscher Literatur, er vergleicht Shakespeare nicht mit deutschen Autoren (wie noch Johann Elias Schlegel es getan), er vergleicht ihn zum Teil mit antiker, zum Teil mit französischer Literatur und arbeitet v. a. Unterschiede zwischen letzterer und Shakespeare heraus. Er operiert also in typisch komparatistischer Weise, impliziert zugleich aber durch entsprechende Wertung eine deutliche Abgrenzung von klassizistischer französischer Literatur, der Shakespeare als ein von ihr unterschiedener, ihr entgegengesetzter Bedeutungsträger gegenübergestellt wird, der für deutsche Literatur vorbildlich sein soll. Herder stellt damit nicht nur Verschiedenheit fest, er konstruiert Unterschiede, die Bedeutung haben nicht für den Unterschiedenen – Shakespeare war ja schon lange tot – sondern für den Unterscheidenden. Die deutschen Schriftsteller sind zum Nachvollzug dieser Unterscheidung eingeladen. Tatsächlich wurde dieser Aufsatz einer der programmatischen Haupttexte des Sturm und Drang und bedeutsam für die deutsche Literaturgeschichte weit über die Epoche hinaus. Mit ihm wandten sich bedeutsame Vertreter der deutschen Literatur von fortan gerne als ,französisch‘ diskreditierten Vorgaben wie den drei Einheiten ab und orientierten sich an Shakespeare. Durch den Vergleich zwischen französischer und englischer Literatur wurde so ein für den deutschen Kontext bedeutsamer Unterschied der deutschen zur französischen Literatur konstruiert.

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VII. In seinem anderen Text, dem Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker, verweist Herder auf die Volkslieder vieler Völker und Sprachen, die er zu dieser Zeit bereits gesammelt und später auch veröffentlicht hat. (Herder 1879a) Diese Sammlung gilt als eine wichtige Geburtsstunde komparatistischen Denkens und Handelns. Herder hat seine Volksliedsammlung begleitet mit Charakterisierungen der einzelnen Völker und damit auch hier begonnen, Kulturcharakteristika festzulegen. Sein Leben lang machte er sich Gedanken über die Funktionsweise von Kultur, bis heute ist er eine der wichtigsten Inspirationsquellen für jedes Nachdenken über kulturelle Unterschiede. Dabei sind für ihn alle Kulturen (außer vielleicht dem in seiner Zeit vorherrschenden französischen Klassizismus) gleichwertig, in allen sucht er allen gemeinsame, aber dann doch wieder auf jeweils andere Weise besondere Phänomene wie eben die Volkslieder. Ihn interessieren die Kulturen in ihrer Vielfalt wie ,die Kultur‘ insgesamt als das, was sie alle gemeinsamen haben. So bilden Allgemeine und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft bei ihm eine Einheit. Seine Beschäftigung mit den Volksliedern vieler verschiedener Völker führt tief in einige Grundprobleme der Komparatistik ein. Er war auf die Volkslieder gestoßen nicht im deutschsprachigen Raum, sondern im Baltikum während seiner Zeit in Riga. Unübersehbar an seinen Volksliedsammlungen ist der starke Anteil litauischer, lettischer und estnischer Texte. Überhaupt interessierte er sich für die literarischen Zeugnisse von Kulturen und Völkern, die vor ihm noch kaum jemand für beachtenswert gehalten hatte: „Und doch sind selbst in Europa noch eine Reihe Nationen, auf diese Weise unbenutzt, unbeschrieben. Esten und Letten, Wenden und Slawen, Polen und Russen, Friesen und Preußen – ihre Gesänge der Art sind nicht so gesammelt, als die Lieder der Isländer, Dänen, Schweden, geschweige der Engländer, Hersen und Briten, oder gar der südlichen Völker.“ (Herder 1879b, S. 382f.) Das Wort „unbenutzt“ verweist mit dem nachgeschobenen konkretisierenden Synonym „unbeschrieben“ auf Herders Intention: Ihn interessierten die Völker (und in ihnen die ,niederen‘ Bevölkerungskreise), die noch nicht „gebraucht“, noch nicht „benutzt“ waren in dem Sinne, dass es über sie noch kein fertiges Bild gab, weil ihre Literatur – die ja auf weitgehend noch nicht verschrifteter oraler Tradierung beruhte –, erst noch zu entdecken war. Dabei fällt auf, wie sehr er diese Literatur bezog auf den Wert, den sie für den Betrachter haben sollte – sie scheint nicht um ihrer selbst willen da gewesen zu sein, sondern für den, der sich für sie interessierte. Damit tut sich ein bisher nur angedeutetes Problem auf: Das Subjekt des Vergleichens und Unterscheidens ist nicht immer auch das Objekt des Verglei-

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chens und Unterscheidens. In welcher Beziehung aber steht das Subjekt dann zu seinen Gegenständen? Warum interessiert es sich überhaupt für sie? Die Volksliedsammlungen Herders haben breite Wirkung gehabt in ganz Europa, sie wurden vielerorts zur Inspiration für die im 18. und 19. Jahrhundert neu sich formierenden Nationen, die ihre jeweils eigenen Volksliedsammlungen anzulegen begannen, wobei aus der Vielfalt, an der Herder noch interessiert war, ein Mosaik aus sich voneinander abgrenzenden Nationalismen wurde: Hatte Herder noch Volkslieder aus allen Sprachen gesammelt, so konzentrierten sich seine Nachfolger auf ihre jeweils eigenen Sprachen und verwendeten die Volkslieder, um mit ihrer Hilfe beizutragen zur Konstruktion eines entsprechenden nationalen Selbstbildes. Auch sie „benutzten“ die Volkslieder, wenn auch für Zwecke, die nicht unbedingt Herders Intention entsprachen. Im Baltikum waren schon vor Herder Volkslieder von den deutschsprachigen Pfarrern gesammelt worden, die zuständig waren für die Seelsorge bei den im Zuge der Christianisierung des Baltikums unterworfenen nicht-deutschsprachigen, in Herders Zeit größtenteils leibeigenen lettischen und estnischen Bauern. Die Pfarrer waren ja im Zuge des Muttersprachengebots seit der Reformation dazu verpflichtet, zu ihren Gemeindeangehörigen in deren Sprache zu predigen, mussten sich als Angehörige einer deutschsprachigen Bildungsschicht die Sprache der ihnen zugeordneten, sozial in jeder Hinsicht Unterlegenen aber erst irgendwie aneignen. Deshalb sammelten sie orale Sprachzeugnisse (u. a. eben Volkslieder) schon lange vor Herder und fingen an, sich intensiv mit den baltischen Sprachen zu beschäftigen. Ergebnis waren zunächst Liebhaberschriften über die baltischen Sprachen, in denen diese vor dem Horizont der noch gültigen Regelpoetik vergleichenden Untersuchungen unterzogen wurden, um sie aufzuwerten und sie ins Orchester der etablierten Sprachen und Literaturen zu integrieren. Von großer Wirkung war Philipp Ruhigs Betrachtung der litauischen Sprache noch aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der Ruhig das Litauische mit dem Griechischen vergleicht in der Absicht, die litauische Sprache, mit der er sich so intensiv beschäftigt hat, mit dem Griechischen gleichzusetzen und es – dies ist eine der Geburtsstunden des genetischen Vergleichs – gleich aus diesem abzuleiten. Aus vergleichstechnischer Hinsicht ist dabei ein Moment besonders hervorzuheben: Hierarchisch, sozial und kulturell hegemoniale Intellektuelle interessierten sich in diesem Fall für die kulturellen Zeugnisse der ihnen Unterworfenen und begannen diesen einen besonderen Wert innerhalb ihres hegemonialen Horizonts und für diesen zuzuschreiben. Angesichts der Geschichte und der Sozial- und Bildungsstruktur im Baltikum darf man von einer durchaus kolonialen Perspektive sprechen, die noch zu spüren ist bis in den Wortlaut Herders hinein, wenn er von „benutzen“ spricht. Den Volksliedsammlungen wohnt denn auch der seelsorgerisch-patriarchale Blick von oben auf die zu behütende Ge-

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meinde inne und damit ein kolonialer Blick auf Unterworfene, die man zu erziehen hat, während man den besonderen, exotischen Reiz ihrer Kultur goutiert. Ruhig schrieb Gesang und Erfindung der Lieder „einfältigen Mädgdelein“ (Ruhig 1745, S. 75) zu und gab damit ein Motiv vor, das fortan immer verbunden war mit Volksdichtung aller Art: Sie wurde einem als naiv imaginierten ,einfachen‘ Volk in den Mund gelegt, auf das von den Gebildeten mit herablassender Sympathie herabgeblickt wurde. Die entsprechenden Textsammlungen wurden befreit von allen anstößigen Elementen, seien sie zu bildungssprachlich, zu obszön oder zu ketzerisch. Der litauische Schriftsteller Vyd0nas (wie er sich schrieb) klagte 1932, „wenn man Berichte über die Geistlichen in unserer Heimat liest, die Liedertexte prüften, so ist es schwer, sich eines quälenden Gefühles zu erwehren.“ (Vyd0nas 1932, S. 308) Mit dem Bild der Balten wurde ein bald auf andere Völker übertragenes Bild des Volkes an sich produziert, das einfloss in viele nationale Selbstbilder, die seit der Romantik allenthalben nach immer demselben Schema produziert wurden. Scheinbar wurde damit nur nationalphilologisch am Konzept des ,Eigenen‘ gearbeitet, tatsächlich jedoch entwarfen die Gebildeten über die Kulturgrenze zu den Ungebildeten hinweg ein Bild des ungebildeten Volkes nach dem Vorbild Ruhigs. Im Deutschen ist dies gut sichtbar an Sprache und Stil der – ihrer Herkunft nach tatsächlich oft eher französischen – Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die die Märchen in der Niederschrift stilistisch überarbeiteten hin auf eine angestrebte „Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen“. (Grimm 1989, S. 332) Im Gegensatz zu Ruhig und zu Herder jedoch schrieben die nationalen Sammler des Volksguts aller Sprachen nicht mehr vergleichend über ,andere‘ Völker, sondern insistierten darauf, über ihr eigenes zu schreiben – vom Publikum erwarteten sie Anpassung an das so entworfene Bild ,ihres‘ Volkes, während sie selbst sich zwar mit diesem identifizieren wollten, die Reflexionsschranke zwischen gebildetem Subjekt und von ihm konstruierten Objekt aber nie wirklich überschreiten konnten (daher kommt dann auch der gelegentlich verzweifelte nationale Fanatismus Einiger : wenn man nicht ist, was man sein möchte, will man es umso inbrünstiger sein). Komparatistik hat immer auch mit der Konstruktion von Selbstbildern zu tun. Methodologisch betrachtet kann sie – wie im Fall der Volkslieder – jederzeit umschlagen in eine identitätsbildende Philologie, die aus anderen Kulturen, Schichten etc. Elemente nimmt, um sich daraus ein ,Eigenes‘ zu basteln, das bei eingehender Analyse sich jedoch als interkulturelles Amalgam aus Elementen anderer, ,fremder‘ Kulturen erweist. Deshalb ist Interkulturelle Literaturwissenschaft ein notwendiger Bestandteil von Komparatistik. Durch Vergleich kann sie auflösen, was als undurchdringlich und nicht mehr hinterfragbar ,eigen‘ erscheint und doch tatsächlich aus später oft ,vergessenen‘ Quellen unterschiedlicher Provenienz amalgamiert ist.

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Nationalphilologie ist eine Form sich selbst einschränkender Komparatistik, die keine mehr sein möchte, weil sie sich danach sehnt, endlich in einem ,Eigenen‘ anzukommen. Sie möchte nicht mehr vergleichen, sondern nur noch synthetisieren. Komparatistik ist nie unschuldig. Sie gestaltet, indem sie vergleicht, zugleich das Bild dessen, was sie vergleicht und das Bild des imaginierten kulturellen Standpunktes, von dem aus sie vergleicht. Sie produziert diesen selbst.

VIII. In dem Maße freilich, in dem nationales Denken seine Bannkraft verliert, tritt an die Stelle der Konzentration auf nationale Besonderheit das Bewusstsein für deren Konstruiertheit. Komparatistik wird deshalb die Wissenschaft von dem, was der Vorgang des Vergleichens und Unterscheidens produziert, reflektiert also zunächst das, was sie im nationalen Zeitalter tat, und erweitert mit Blick darauf dann ihren Gegenstandsbereich von nationalen auf alle Vorgänge des Vergleichens und Unterscheidens selbst. In der Geschichte gibt es ja immer wieder identitätsbildende kulturelle Kollektive, die darauf beruhen, dass sie sich entlang variierender Leitdifferenzen unterscheiden, sei es in religiöser Hinsicht z. B. durch nur einen Gott von den polytheistischen ,Heiden‘, sei es durch bürgerliches oder proletarisches Standesbewusstsein im Gegensatz zur jeweils dominanten sozialen Schicht, sei es durch Parteizugehörigkeit o. ä.m. Daran hängen Selbstbilder und ganze Kultur-Innenräume, die im Medium der Literatur und anderer Künste entworfen werden, und mithin auch Konzeptionen des für das jeweilige Kollektiv richtigen Schreibens. Vieles von dem, was im 18. und 19. Jahrhundert als ,deutsch‘ proklamiert wurde, ist tatsächlich gegen die Adelskultur gerichtete bürgerliche Ästhetik, später versuchte der real existierende Sozialismus mit dem Sozialistischen Realismus eigene Schreibstrategien bis in Textstruktur und Stilvorgaben hinein verbindlich zu machen, während im Zuge des Feminismus ein ,Weibliches Schreiben‘ proklamiert wurde, das einem ersehnten Kollektiv der Frauen eine gemeinsame Schreibsprache verordnete, die eine nicht-männliche sein sollte. Mit jedem dieser Fälle geht einher ein gewolltes Sich-Unterscheiden, das zu den sich wiederholenden kulturellen Praktiken gehört und keineswegs beschränkt ist auf den Distinktionsdrang der Nationalismen. Unterscheidungen sind oft einseitig und berühren die Seite, von der man sich unterscheidet, nicht in jedem Fall, aber sie finden statt und haben Auswirkungen darauf, wie Literaturen verfasst werden und wie in ihnen geschrieben wird. Wenn Komparatistik nicht nur vergleicht – das macht ja Wissenschaft immer – wenn Komparatistik kulturelle Vergleiche und Unterscheidungen analysieren will,

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Jürgen Joachimsthaler

dann müsste Komparatistik an genau der Stelle ansetzen, an der kulturelle Unterscheidungen gewollt sind und gemacht werden, weil bestimmte kulturelle Einheiten sich unterscheiden wollen. Literarische Unterschiede wären dann daraufhin zu untersuchen, wie sie gemacht werden, als bewusst gestaltete Kunstwerke. Dabei ist es zweitrangig, ob die jeweilige Differenz-Bildung entlang einer Sprachgrenze erfolgt, entlang einer Konfessionsgrenze, einer geschlechtlichen, einer politischen, sozialen oder sonst einer Grenze. Wesentlich ist, dass die Unterschiede gewollt werden und diese gewollten Unterschiede dazu führen, dass Literaturen bewusst anders gestaltet werden als andere Literaturen. Die so entstehende Unterschiedenheit ist ein hochkomplexer Vorgang, der einer besonderen Analyse wert wäre und es nebenher auch erlaubte, zu erkennen, wo es noch bloße Verschiedenheit gibt, weil Dinge sich einfach unabhängig voneinander entwickelt haben. Und diese bleibt nach wie vor einer vergleichenden Betrachtung würdig.

Literatur Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin 2011. Grimm, Wilhelm: ,Vorrede‘. In: Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. 2 Bde. Textrevision und Anmerkungen v. Therese Edler. Berlin 1989 [EA 1812–1857], Bd. 2, S. 331–339. [Herder, Johann Gottfried]: ,Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker‘, in: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. [Hrsg. v. Johann Gottfried Herder.] Hamburg: Bode 1773a, S. 0–70. [Herder, Johann Gottfried]: ,Shakespear‘, in: Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. [Hrsg. v. Johann Gottfried Herder.] Hamburg: Bode 1773b, S. 71–118. Herder, Johann Gottfried: ,Stimmen der Völker‘ in Liedern‘. Hg. und mit Anmerkungen versehen v. Wollheim da Fonseca. In: Herder’s Werke. Nach den besten Quellen revidirte Ausgabe. Hrsg. und mit Anmerkungen begleitet v. Heinrich Düntzer und Wollheim v. Fonseca. 24 Bde. Leipzig: Gustav Hempel 1879a, Bd. 5. Herder, Johann Gottfried: ,Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, nebst Verschiedenem, das daraus folget‘, in: Herder’s Werke. Nach den besten Quellen revidirte Ausgabe. Hrsg. und mit Anmerkungen begleitet v. Heinrich Düntzer und Wollheim v. Fonseca. 24 Bde. Leipzig: Gustav Hempel 1879b, S. 373–384. Joachimsthaler, Jürgen: ,Unterscheiden und Vergleichen. Komparatistik oder Was ist ein kultureller Unterschied?’, in: Kulturwissenschaft(en). Konzepte verschiedener Disziplinen. Hg. v. Joachimsthaler, Jürgen/Kotte, Eugen. München 2010. (=Kulturwissenschaft[en] als interdisziplinäres Projekt 3), S. 79–101. Ruhig, Philipp: Betrachtung der littauischen Sprache in ihrem Ursprunge, Wesen und Eigenschaften / aus vielen Scribenten, und eigener Erfahrung, mit Fleiß angestellet, und zu reiferer Beurtheilung der Gelehrten, zum Druck gegeben. Königsberg 1745. Schlegel, August Wilhelm: Comparaison entre la ,PhHdre‘ de Racine et celle d’Euripide. Paris 1807.

Was produziert Komparatistik? Vergleichen als kulturelle Praxis

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Vyd0nas: Sieben Hundert Jahre deutsch-litauischer Beziehungen. Kulturhistorische Darlegungen. Tilsit 1932. Zelle, Carsten: Art. ,Vergleich‘, in: Zymner, Rüdiger/Hölter, Achim: Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart/Weimar 2013, S. 129–134.

Peter V. Zima

Vergleichende Literaturwissenschaft als Soziosemiotik

In dieser Darstellung der Vergleichenden Literaturwissenschaft als Soziosemiotik geht es primär um die Beantwortung einer Frage: Was verbindet alle Bereiche der Vergleichenden Literaturwissenschaft miteinander? Die knappe, auf das Wesentliche zielende Antwort könnte lauten: „Die Einbettung aller literarischen Texte in Gesellschaft und Sprache.“ Mit anderen Worten: Ein Vergleich, der Ähnlichkeiten, Abweichungen und Veränderungen beschreiben und erklären soll, kann sich nicht über die sprachlichen Verfahren einer bestimmten Literatur (etwa der Avantgarde) und über die gesellschaftliche und historische Entstehung dieser Verfahren hinwegsetzten. Die These, dass Literatur nur auf sprachlicher Ebene mit der Gesellschaft und ihrer Kultur vermittelt werden kann, gilt nicht nur für die Literatursoziologie als Textsoziologie, sondern auch für die literarische Komparatistik. Diese These wurde zuerst von einem russischen Formalisten – von Jurij Tynjanov – formuliert: „Diese Korrelation von literarischen und außerliterarischen Reihen vollzieht sich auf der sprachlichen Linie; die Literatur besitzt in bezug auf das außerliterarische Leben eine sprachliche Funktion.“ (1971, S. 453) Man könnte seine These auch umformulieren und sagen: Auf gesellschaftliche Probleme reagiert Literatur mit sprachlichen Verfahren und sprachlicher Innovation. Das Wort ,reagiert‘ deutet bereits an, dass es in der Literatur nicht primär um Widerspiegelung (im Sinne von Marx und Luk#cs) geht, sondern um eine kreative oder produktive Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Realisten wie Balzac, die Brüder Goncourt oder George Eliot (Mary Ann Evans) mögen glauben, dass sie die Wirklichkeit so wiedergeben, wie sie ist, tatsächlich reagieren sie aber auf neue sprachliche Situationen, die etwa dadurch zustande kommen, dass im Zuge der Industrialisierung neue gesellschaftliche Gruppen auf den Plan treten (z. B. Arbeiter, Angestellte, Wissenschaftler), deren Sprachen nicht mehr überhört werden können. Sowohl bei Balzac als auch bei Zola geht die Verwissenschaftlichung in den Roman ein, und der italienische Futurismus erfindet eine neue Metaphorik, um der Industrialisierung und der technischen Revolution gerecht zu werden: „[…] Besingen werden wir die

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Peter V. Zima

nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen […].“ (Marinetti 1995, S. 5) Es geht hier nicht darum, eine neue Wirklichkeit zu beschreiben, sondern darum, eine neue, „kühne“ Metaphorik ins Leben zu rufen: „elektrische Monde“, „gefräßige Bahnhöfe“ usw. Analog dazu – und wir sind beim Vergleich angekommen – reagiert der deutsche Expressionismus auf die neue gesellschaftliche Wirklichkeit, indem er Natur, Religion und Industrie ineinander greifen lässt. Vom „Gott der Stadt“ heißt es in Georg Heyms bekanntem Gedicht: „[…] Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik / Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.“ (1966, S. 62) Auch hier geht es nicht um eine Beschreibung, sondern um sprachliche Innovation im Bereich der Metaphorik. Bekannt ist George Orwells ,Newspeak‘ in Nineteen Eighty-Four, der parodistisch auf die totalitären Sprachen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts reagiert. Weniger bekannt ist möglicherweise Anthony Burgess’ Roman Clockwork Orange, dessen Erzählerdiskurs aus der mit russischen Vokabeln durchsetzten Sprache einer revoltierenden Jugendgruppe hervorgeht und als ,Nadsat‘ den Romantext beherrscht. Auch Jürgen Beckers Prosa und Werner Schwabs Pop-Theater sind am ehesten als parodistisch-kritische Reaktionen auf eine bestimmte sprachliche Situation und ihre Diskurse zu verstehen. In Italien hat Giuseppe Culicchia mit seinem Buch Bla Bla Bla (Mailand, 1997) auf die Entwertung der Sprache und die sich ausbreitende Sinnlosigkeit reagiert. Ein Vergleich mit Becker und Schwab drängt sich geradezu auf, weil in allen drei Fällen die Sprache als Vermittlung von Sinn und als Kommunikationsmittel ihre Funktion einbüßt.

1.

Mußeklasse und Konversation: Oscar Wilde und Hugo von Hofmannsthal

Konkreter als die Texte der Postmoderne (Becker, Schwab, Culicchia), die alle gegen eine durch Kommerz und Ideologie entwertete Sprache aufbegehren, lässt das mondäne Drama Oscar Wildes und Hugo von Hofmannsthals den Nexus von Gesellschaft und Sprache erkennen. Denn dieses Drama geht als „Konversationsdrama“ aus einer besonderen Gruppe hervor, die der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen als leisure class oder Mußeklasse bezeichnet, und aus dem Soziolekt dieser Klasse: der mondänen Konversation. Ich möchte nun in aller Knappheit zeigen, (a) dass eine enge funktionale Verbindung zwischen der Londoner und Wiener leisure class der vorigen Jahr-

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hundertwende und der mondänen Konversation aufgezeigt werden kann, (b) dass diese Konversation die sprachliche Substanz von Wildes und Hofmannsthals Dramen ausmacht und (c) dass sich diese Substanz auch auf die Dramenform – vor allem auf den Dialog – auswirkt. Es geht dabei um einen typologischen Vergleich, der nicht auf der Beobachtung von Einflüssen gründet, sondern auf sozialen und sprachlichen Parallelentwicklungen. Zunächst der soziologische Aspekt: Als von Marx und Herbert Spencer beeinflusster Sozialkritiker analysiert Thorstein Veblen das Prestigestreben der Oberklasse (in den USA), vor allem der Neureichen, das im demonstrativen Konsum („conspicuous consumption“ oder „Geltungskonsum“) und Müßiggang zum Ausdruck kommt. Veblen wendet sich in diesem Zusammenhang gegen die klassische Wirtschaftstheorie, die besagt, dass sich „preiswerte Produkte“ besser verkaufen und kehrt – im Hinblick auf die „conspicuous consumption“ – das Argument um: Vor dem Hintergrund des „auffälligen Konsums“ steigt die Nachfrage nach einem Konsumgut mit steigendem Preis. Dies bedeutet, dass das klassische Theorem zwar weiterhin gilt – aber nur bedingt. (In der Soziologie ist daher vom „Veblen-Effekt“ die Rede.) Im Anschluss an die bekannten Imperialismus-Theorien von J. A. Hobson und Lenin wäre hinzuzufügen, dass die leisure class oder „Mußeklasse“ nur deshalb entstehen kann, weil im Spätkapitalismus als Monopolkapitalismus so viel Kapital angehäuft wird, dass eine größere Gesellschaftsgruppe es sich leisten kann, von Kapitalrenditen (Renten), Aktien und Obligationen zu leben und sich (in vielen Fällen) der Kunst, den Pferderennen, der Jagd oder der mondänen Konversation in der Salongesellschaft zu widmen. Sowohl im London der Jahrhundertwende als auch im Wien der allmählich untergehenden Donaumonarchie gab es eine solche Mußeklasse, deren Angehörige – Kunstliebhaber, Mäzene und Causeurs – ausreichend Zeit hatten, die Konversation zu pflegen. Die Konversation wird so zum Soziolekt, zur besonderen Gruppensprache dieser Klasse. Es ist eine Sprache, die nicht primär als Kommunikationsmittel dient, sondern dazu, das Prestige des narzisstischen Redners in den Augen seiner Gesprächspartner zu steigern und die Gesellschaft zu unterhalten. Das narzisstische Element bringt Abel Hermant zur Sprache, wenn er über den Causeur, den mondänen Redner, und eine Dame der Gesellschaft schreibt: „Sie besaß das Vokabular des Philosophen und war deshalb für den Causeur interessant […].“ (Hermant o. J., S. 137) Mit anderen Worten: Der Causeur konnte sich ihres Vokabulars bedienen, um zu glänzen. Wir sind hier mitten im Konversationsdrama eines Oscar Wilde oder eines Hugo von Hofmannsthal, in dem sich die Sprache verselbständigt, zum Selbstzweck wird. Dazu bemerkt Peter Szondi:

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„Die Verabsolutierung des Dialogs zur Konversation rächt sich nicht nur qualitativ, sondern auch dramaturgisch. Indem die Konversation zwischen den Menschen schwebt, statt sie zu verbinden, wird sie unverbindlich. […] Sie hat keinen subjektiven Ursprung und kein objektives Ziel: sie führt nicht weiter, geht in keine Tat über. “ (1959, S. 88)

Schon zu seinem Roman The Picture of Dorian Gray bemerkt Oscar Wilde, er sei „all conversation and no action […]. My people sit in chairs and chatter“. (zit. in: Shewan 1977, S. 154) Dies gilt in noch stärkerem Maße für seine Dramen, in denen die Konversation mit ihren Parodien, Paradoxien und Andeutungen den dramatischen Dialog und die aus ihm hervorgehende vorwärts drängende Handlung sekundär werden lässt. Die Handlung wird vom „witty talk“ verdrängt: „ALGERNON: […] Really, if the lower orders don’t set us a good example, what on earth is the use of them? They seem, as a class, to have absolutely no sense of moral responsibility.“ (Wilde 1954, S. 254) Dieser Satz enthält eine der vielen Paradoxien, die die mondäne Konversation prägen und zugleich deren ,wit‘ oder ,Witz‘ ausmachen: Die sozialen Verhältnisse werden hier umgekehrt, weil nicht die Oberschicht die führende Funktion der Elite erfüllt, sondern die Verantwortung für das gesellschaftliche Geschehen der Unterschicht überträgt. In diesem Fall ist aber nicht nur die Sprache von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass sie als Rhetorik auf die soziale Passivität der ,Mußeklasse‘ hinweist, die der vita activa dezidiert absagt. Dies ist der eigentliche Grund, warum im mondänen Drama der handlungsgebundene und handlungsfördernde Dialog von der Konversation an den Rand des Geschehens abgedrängt wird. Dieser Vorgang ist auch in Hofmannsthals Lustspielen zu beobachten: etwa in Der Schwierige. Zunächst fällt auf, dass die Angehörigen der mondänen Gesellschaft danach beurteilt werden, ob sie die Konversation beherrschen oder nicht: „STANI: Das ist ja ihr großer Charme, daß sie eine Konversation hat. Weißt du, das brauch ich absolut: eine Frau, die mich fixieren soll, die muß außer ihrer absoluten Hingebung auch eine Konversation haben.“ (1979, S. 354) Wichtiger scheint aber die Tatsache zu sein, dass die Konversation in Hofmannsthals Drama beim Namen genannt und kritisch kommentiert wird, etwa von der Hauptfigur Hans Karl: „[…] Mir kommt bei der Konversation auf die Länge alles Gescheite dumm und noch eher das Dumme gescheit vor“ – (ebd., S. 340) Hier ist eine sprachliche Wende zu beobachten, die wir in dieser Form bei Oscar Wilde nicht finden: Die Konversation wird selbstkritisch und der Diskurs selbstreflexiv. Dadurch wird der dramatische Dialog, der durch die sich verselbständigende Konversation zur Atrophie verurteilt wurde, weiter geschwächt, weil das Drama stellenweise ins Essayistische oder Essayistisch-Reflexive übergeht – ähnlich wie in Musils Theaterstück Die Schwärmer, das Bianca Cetti Marinoni als „essayistisches Drama“ Cetti Marinoni 1992) liest.

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Was zeigt nun der Vergleich? Er zeigt erstens, wie Sprache und Gesellschaft zusammenhängen; er zeigt zweitens, dass Literatur und Gesellschaft nur über die Sprache miteinander vermittelt werden können; schließlich zeigt er (und das ist der eigentliche komparatistische Ertrag), dass es innerhalb des Konversationsdramas verschiedene Typen gibt, deren Besonderheit auf die Einstellung des Autors und der Protagonisten zur Sprache zurückzuführen ist. Während Wilde den ,witty talk‘ spielerisch bis an die Grenze des Möglichen entfaltet, hinterfragt Hofmannsthal – vor allem in den Reden Hans Karl Bühls – den Sinn der Konversation und indirekt auch den des Lebens einer Mußeklasse, deren Existenz nach dem Ersten Weltkrieg immer fragwürdiger wird.

2.

Einfluss und genetischer Vergleich: Stéphane Mallarmé und Stefan George

Auch das zweite literarische Modell, auf das ich eingehen möchte, geht von der sozio-linguistischen Situation, von einem Soziolekt als Gruppensprache und von der Sprachkritik aus. Dem sprachkritischen Moment kommt deshalb besondere Bedeutung zu, weil es zeigt, dass Literatur alles andere ist als eine passive Wiedergabe oder Widerspiegelung der sozialen Welt. Es geht um zwei Dichter, zwei Vertreter des Symbolismus und Ästhetizismus: um St8phane Mallarm8 und Stefan George. Geistig und ästhetisch mit den Dichtern des Parnasse und des französischen Symbolismus verwandt, bemühte sich St8phane Mallarm8 – wie kein anderer vor ihm – um die Erschaffung einer „reinen Sprache“. Unter einer „reinen Sprache“ verstand er eine von Ideologie, Kommerz und Alltagskommunikation unberührte Sprache, die seiner Meinung nach nur in der Dichtung möglich war. Von seinen Bestrebungen zeugt der Prosatext ,Crise de vers‘: „Narrer, enseigner, mÞme d8crire, cela va et encore qu’/ chacun suffirait peut-Þtre pour 8changer la pens8e humaine, de prendre ou de mettre dans la main d’autrui en silence une piHce de monnaie, l’emploi 8l8mentaire du discours dessert l’universel reportage dont, la litt8rature except8e, participe tout entre les genres d’8crits contemporains. (Erzählen, lehren, selbst beschreiben, das geht, und wiewohl es Jedem vielleicht zum Austausch des menschlichen Denkens genügen würde, aus der Hand des Nächsten schweigend eine Münze zu nehmen oder in sie zu legen, unterhält der elementare Gebrauch der Rede die universelle Reportage, an der, die Literatur ausgenommen, alles teilhat im gegenwärtigen Schrifttum.)“ (1998, S. 228f.)

Mit der „universellen Reportage“ meint Mallarm8 die kommerzialisierte und ideologisierte Alltagssprache („elementare Gebrauch der Rede“), deren Worthülsenkommunikation nichts Sinnvolles mehr mitteilen kann, weil sie in Ste-

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reotypen abläuft und kein „neues Sehen“ im Sinne der russischen Formalisten mehr bewirkt, sondern nur noch ideologisches oder kommerzielles Wiedererkennen. Mallarm8s dichterische Antwort auf diese Sprachzerstörung ist eine ästhetische Negativität, die auf sprachlicher Ebene alles tilgt, was auf fatale Weise mit Kommerz und Ideologie zusammenhängt. Diese Negativität beschreibt Mallarm8s Freund und Schüler Paul Val8ry : „Keine Beredsamkeit; keine Erzählungen; keine Maximen, und seien sie noch so tiefsinnig; kein unmittelbarer Rekurs auf gängige Leidenschaften; keine Zugeständnisse an familiäre Formen; nichts ,allzu Menschliches‘, das so viele Gedichte verdirbt; eine stets unerwartete Ausdrucksweise […].“ (1957a, S. 647) An diese Negativität, die auch Adornos Ästhetik zugrunde liegt, knüpfen – jeder auf seine Art – die spätmodernen und postmodernen Autoren an: von den Futuristen und Expressionisten bis Werner Schwab, der die Sprache bis zur Absurdität deformiert, um dem „allzu Menschlichen“ zu entgehen und um eine „stets unerwartete Ausdruckweise“ zu gewährleisten. In diesem Sinne kann Mallarm8 als Vorläufer der Modernisten und Avantgardisten gelesen werden – und als Vorläufer Adornos. Auf Mallarm8s Ästhetik und Poetik beruft sich Stefan George, der Mallarm8 in Paris persönlich kennen gelernt und später verschiedene Gedichte von ihm übersetzt hat. Mallarm8- und George-Kenner sind sich in einem Punkt einig: dass in Georges Werk ein Einfluss Mallarm8s nachgewiesen werden kann und dass er u. a. durch die Vermittlung des jungen Pariser Dichters Albert Saint Paul zustande kam, der George zu den „Mardis“ in der Rue de Rome einlud. Wir haben es hier folglich mit einem genetischen Vergleich zu tun, der auf nachgewiesenen Einflüssen gründet, und nicht mit einem typologischen Vergleich – wie im Falle von Wilde und Hofmannsthal –, der von ähnlichen gesellschaftlichen und sprachlichen Situationen ausgeht. Aber auch im Falle von Mallarm8 und George spielen typologische Ähnlichkeiten eine wesentliche Rolle, weil auch George (1868–1933) mit einer sprachlichen Situation konfrontiert wurde, die vom ideologischen und kommerziellen Missbrauch der Sprache geprägt war. (Aus Protest gegen die Ideologisierung seines Werks durch die Nationalsozialisten übersiedelte George in die Schweiz.) Davon zeugt seine kritische Reaktion in einem kurzen Essay über Mallarm8: „Jeden wahren künstler hat einmal die sehnsucht befallen in einer Sprache sich auszudrücken deren die unheilige menge sich nie bedienen würde oder seine worte so zu stellen dass nur der eingeweihte ihre hehre bestimmung erkenne… klangvolle dunkelheiten sind bei Pindar Dante und manche bei dem klaren Goethe.“ (1958, S. 53)

George teilt zwar Mallarm8s Absicht, der kommerzialisierten Kommunikation und den ideologischen Sprachen Widerstand zu leisten, hält sich aber nicht

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konsequent an Mallarm8s und Val8rys negatives Prinzip und verfällt bisweilen in die Rhetorik des Propheten. Darauf deuten bereits Ausdrücke wie „unheilige menge“ und „der eingeweihte“ hin, die Mallarm8 nie auf diese Art verwendet hätte. Auch er sprach zwar von „la foule“, wertete sie aber nicht ab im Sinne von George – und stellte ihr auch nicht den „Eingeweihten“ gegenüber. Jacques RanciHre ist sogar der Meinung, dass Mallarm8 insgeheim für die große Menge schrieb, weil er hoffte, dass sie einst – in einer befreiten Gesellschaft – seine Gedichte verstehen würde. (RanciHre 1996) Es stellt sich daher die Frage, ob der Missbrauch durch die Nationalsozialisten, der ihm in den 1930er Jahren widerfuhr, nicht teilweise auf seine affirmative Rhetorik zurückzuführen sei. In Georges später Lyrik ersetzt ein zweifelhaftes ideologisches Engagement die negative Vieldeutigkeit der frühen Gedichte. Dazu bemerkt Jürgen Wertheimer : „In zunehmendem Maße tritt die Reflexion über außerliterarische, außerindividuelle Probleme in den Vordergrund, bestimmen ethische, moralische, politische Ideen, Utopien das Denken Georges.“ (Wertheimer 1978, S. 68) Zu welchem Ergebnis kann nun der hier skizzierte genetische Vergleich von Mallarm8s und Georges Werken führen? Eine Schlussfolgerung könnte sein, dass die Reaktionen zweier geistig verwandter Dichter auf vergleichbare gesellschaftliche und sprachliche Situationen literarische Werke hervorbringen können, die trotz ihrer Ähnlichkeit stark voneinander abweichen – wie schon Wildes und Hofmannsthals Konversationsdramen. George hält nicht konsequent an der ästhetischen Negativität fest, die Mallarm8s oberstes Gebot war. Vor allem in seinem Gedicht-Zyklus Das Neue Reich gibt er der Versuchung nach, prophetische Allüren anzunehmen, mit prophetischen Sprachgesten aufzutreten. So werden Konzessionen an die Ideologie unvermeidlich. Dies mag auch mit dem zusammenhängen, was Adorno als den „Kulturkonservativismus des Kreises“ (Adorno 1969, S. 97) bezeichnet. Hier wird deutlich, dass jeder Vergleich auch kontrastive Aspekte aufweist und die Ähnlichkeiten, von denen er ausgeht, schließlich durch Unterschiede oder gar Gegensätze relativiert. Erst dadurch ermöglicht er aber ein konkretes Verständnis des literarischen Werks im Gesamtzusammenhang. Auch als Germanist versteht man George wesentlich besser, wenn man ihn mit Mallarm8 (und anderen Symbolisten) vergleicht.

3.

George als Übersetzer und Mallarmé-Schüler

In einer von Kommerz und Ideologie dominierten gesellschaftlichen und sprachlichen Situation versuchen sowohl Mallarm8 als auch George, eine „reine Sprache“ zu finden, ein „noch tragfähiges sprachliches Material“, wie Adorno es ausdrückt. Dabei entwickeln sie einen ästhetisierenden Soziolekt, der durch

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seine asketische Schlichtheit gekennzeichnet ist; der alles ausschließt, was ein romantisches oder neuromantisches Klischee evozieren könnte. Das wird vor allem in Georges Übersetzungen deutlich, in denen sich der deutsche Dichter – stärker noch als in seiner eigenen Lyrik – an Mallarm8s ästhetische Norm hält. Hier gilt uneingeschränkt der von Paul Val8ry erstellte Katalog der ästhetischen Tabus: „Keine Beredsamkeit […], kein unmittelbarer Rekurs auf gängige Leidenschaften […], nichts ,allzu Menschliches‘, das so viele Gedichte verdirbt […]. eine stets unerwartete Ausdrucksweise […].“ (1957b, S. 647) Zu Georges Übersetzungen bemerkt Adorno: „Die Qualität von Georges Übersetzungen ist in vielem seiner anspruchsvollsten Produktion überlegen.“ (Adorno 1974, S. 58) Dies mag damit zusammenhängen, dass George in seinen Übersetzungen nicht seinem prophetisch-ideologischen Drang nachgeben konnte, der ihn häufig ins Prätentiös-Bombastische führte. Er musste sich an die Vorlage halten und tat es im Rahmen der von Mallarm8 geforderten ideologiekritischen Negativität. Dies wird u. a. in seinen Mallarm8-Übersetzungen deutlich, in denen er auf alle semantischen Konnotationen verzichtet, die „gängige Leidenschaften“ oder romantische Stereotypen evozieren. Sein Ausdruck „mit gleißendem schlag“ könnte im Zusammenhang mit Val8rys Forderung nach einer „stets unerwarteten Ausdrucksweise“ gelesen werden: Apparition La lune s’attristait. Des s8raphins en pleurs RÞvant, l’archet aux doigts, dans le calme des fleurs Vaporeuses, tiraient de mourantes violes De blancs sanglots glissant sur l’azur des corolles. – C’8tait le jour b8ni de ton premier baiser. Ma songerie aimant / me martyriser S’enivrait savamment du parfum de tristesse […]. (Mallarm8 1993, S. 40) Erscheinung Der Mond betrübte sich. Seraphe tränenreich Hielten träumend den Bogen in den stillen Flor Der Blumen, und sie zogen aus sterbenden Violen Weißen Klaglaut, der glitt über das Blau der Kronen – Es war der Segenstag von deinem ersten Kuß Mein grüblerischer Sinn, der mich zu martern liebt, Berauschte kundig sich am Duft der Traurigkeiten […] (Mallarm8 1993, S. 41; Übersetzung Gerhard Goebel)

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Der mond war in trauer und weinende engel im traum. Den bogen in ihren händen im blumigen raum. Im hauchenden. liessen aus den sterbenden saiten Wie weisse seufzer auf azurne kelche gleiten. Es war deines ersten kusses gesegneter tag. Mein schwärmen quälte mich mit gleissendem schlag Und tauchte mich weise unter im dufte der trauer […] (Übersetzung Stefan George)

Vor diesem Hintergrund sind auch Georges Übersetzungen von Shakespeares Sonetten zu betrachten. Wir werden sehen, dass sich George in seinen Kommentaren zu diesen Übersetzungen explizit gegen die neuromantische ästhetische Norm wendet. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die ersten vier Zeilen des zweiten Sonetts: When forty winters shall besiege thy brow And dig deep trenches in thy beauty’s field, Thy youth’s proud livery, so gaz’d on now, Will be a tattered weed, of small worth held […] (Shakespeare 1958, S. 1043)

So sieht nun die neuromantische Übersetzung von Gottlob Regis aus: Wenn vierzig Winter einst Dein Haupt umnachten Und tief durchfurchen Deiner Schönheit Feld, Dann ist Dein Jugendflor, wonach wir itzt so trachten, Ein mürbes Kleid, das unbemerkt zerfällt […] (Borgmeier 1979, S. 11)

Anders übersetzt Stefan George: Belagern vierzig winter deine braun, Ziehn gräben tief in deiner schönheit flur: Ist deiner jugend putz, heut ein gestaun, Dann eine wertlos rissige hülle nur. (Ebd., S. 22)

Zunächst fällt auf, dass George viel wörtlicher übersetzt als der Neuromantiker : Er behält – im Gegensatz zu Regis – Shakespeares militärische Metaphern und Konnotationen bei: „besiege“ = „belagern“, „brow“ = „brau“, „trenches“ = „gräben“ usw. Er verzichtet auf romantische Metaphern wie „umnachten“, „tief durchfurchen“ und auf Archaismen wie „itzt“. In seinen Kommentaren zur Shakespeare-Übersetzung wendet sich George ausdrücklich gegen die herrschende romantische Norm, wenn er versucht, Shakespeare dem Zugriff der Neuromantiker zu entziehen:

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„Von den gründen weshalb Shakespeares sonette bei uns so wenig gewürdigt wurden, ist abgesehen von der anforderung sehr hohen verse-verständnisses der wichtigste innere: dass unsre gewohnheit alle dichtung durchaus ,romantisch‘ sieht, diese vierzehnzeiler aber, obwohl oberste dichtung, durchaus ,unromantisch‘ sind.“ (George 1964, S. 5)

Diese Ablehnung der romantischen ästhetischen Norm hängt mit zwei Faktoren zusammen: zunächst mit Mallarm8s Einfluss, dann aber auch mit Georges Reaktion auf die kommerzialisierte Sprache seiner Zeit, die auch in den Klischees der Neuromantiker zum Ausdruck kam. Wie die eigentliche Dichtung ist auch die literarische Übersetzung in einen gesellschaftlichen und sprachlichen Kontext eingebettet, auf den sie kritisch-polemisch reagiert. Was ist nun das Ergebnis dieser kurzen Untersuchung? Es kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: Eine Übersetzung und die ihr zugrunde liegende ästhetische Norm können im Zusammenhang mit einem genetischen Vergleich und im Kontext einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation und ihrer Soziolekte besser, konkreter verstanden werden. Man könnte auch vom konkreten Verständnis innerhalb einer literarischen Periode als Problematik sprechen. Die Periode als Problematik und sozio-linguistische Situation möchte ich zum Abschluss darstellen.

4.

Die Periode als Problematik und sozio-linguistische Situation

Es hat sich gezeigt, dass Mallarm8s und Georges Suche nach einer „reinen Sprache“, die schließlich in einen lyrischen Hermetismus mündete, nicht einfach innerhalb einer literarischen Evolution stattfand, wie sie die Formalisten aufgefasst haben, sondern auch und vielleicht vor allem in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Problematik, die man als sozio-linguistische Situation bezeichnen könnte, weil in ihr Gesellschaft und Sprache ineinander greifen. Der neue Soziolekt, den man als ästhetizistisch oder symbolistisch (im weiteren Sinne) bezeichnen könnte, zeugt von der Revolte einiger Dichter gegen eine Gesellschaft, die sich anschickt, sich in eine Kommunikations- oder Mediengesellschaft zu verwandeln. Darauf verweist Mallarm8s negativ konnotierter Ausdruck „universel reportage“. Man könnte nun versuchen, über den Zweiervergleich hinauszugehen und die literarische Periodisierung auch als soziosemiotischen Prozess aufzufassen, in dem es primär um gesellschaftliche und sprachliche Probleme geht. Auf metatheoretischer Ebene ist Periodisierung zweifellos eine gesellschaftliche (ideologische) und sprachliche Tätigkeit, in der bestimmte Relevanzkriterien und Klassifikationen (also semantische Tätigkeiten) darüber entscheiden, wie die literarische Entwicklung in Zeitabschnitte oder Epochen eingeteilt wird.

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Ausdrücke wie „wilhelminisch“, „Victorian“, „Georgian“ oder „Edwardian“ zeugen vom kulturellen und durchaus auch ideologischen Ursprung von Periodenbezeichnungen. Die Frage, wann die Renaissance und die Romantik angefangen bzw. aufgehört haben, ist immer noch offen. Es werden immer wieder widersprüchliche Meinungen geäußert, die teils kulturell, teils ideologisch bedingt sind. So bemerkt beispielsweise Jacques Barzun zur Entwicklung der Romantik: „Die Romantik stirbt nicht im Jahre 1850, sondern verzweigt sich unter verschiedenen Namen wie ein Delta.“ (1975, S. 99) Die Auseinandersetzungen um den Realismus, den Naturalismus und die Avantgarde (den Expressionismus), die vor allem die Stellungnahmen von Brecht und Luk#cs geprägt haben, lassen erkennen, wie sehr deskriptive und präskriptive (ästhetisch-ideologische) Periodenbegriffe miteinander verquickt sind. Es wird wohl nie gelingen, Walter Scott endgültig dem Realismus oder der Romantik, Thomas Mann dem Realismus (im Sinne von Luk#cs) oder dem Modernismus im Sinne von modernism zuzuordnen. Denn die Zuordnung hängt in allen Fällen von semantischen Relevanzkriterien und Klassifikationen ab, und diese sind stets kulturell, sprachlich und ideologisch bedingt. „Dis-moi comment tu classes et je te dirai qui tu es“, schreibt Roland Barthes (1964, S. 179) und evoziert die kulturellen und ideologischen Prozesse, die der Klassifikation zugrunde liegen. Aber nicht nur die Periodisierung als theoretische Tätigkeit ist ein soziosemiotischer Prozess; auch die literarische Entwicklung, die Literaturgeschichte selbst ist es. Jede Periode – Romantik, Realismus, Modernismus – ist eine gesellschaftliche und sprachliche Situation oder Problematik, in der Schriftsteller und Schriftstellergruppen (z. B. der George-Kreis) auf Probleme reagieren: etwa auf das Problem der Sprachentwertung, das Mallarm8 und George dadurch lösen möchten, dass sie die Utopie der „reinen Sprache“ ins Auge fassen. Es ist die Utopie der Kunst (der Literatur), die in der gesamten Spätmoderne als Modernismus (modernism) im Mittelpunkt der Problematik steht. Davon zeugt das Werk Marcel Prousts ebenso wie Thomas Manns großer Roman Doktor Faustus, James Joyces Jugendwerk A Portrait of the Artist as a Young Man sowie Jean-Paul Sartres La Naus8e. In allen Fällen lautet die Frage: Gibt es ein Jenseits der depravierten gesellschaftlichen und sprachlichen Verhältnisse? Es ist zugleich die Frage nach dem obersten Wert in einer gesellschaftlichen und sprachlichen Situation, die von der Ambivalenz der Werte strukturiert wird. Aus dieser Ambivalenz ergeben sich zahlreiche komplementäre Probleme und die sie begleitenden Fragen: z. B. die Einheit der Gegensätze (sowie die Fragen: Was ist gut, was ist böse? Was ist richtig, falsch, wahr, unwahr?), die komplementäre Kritik am Wahrheitsbegriff (Fragen: Was ist wahr? Was ist Wahrheit?). Der Zweifel an den großangelegten (christlichen, rationalistischen, hegelianischen) „Metaerzählungen“ (Fragen: Wer erzählt? Welchen Herrschaftsanspruch erhebt er?). Das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt sowie das Unbe-

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hagen in Gesellschaft und Kultur (Fragen: Ist die Wirklichkeit als Objekt erkennbar? In was für einer Wirklichkeit leben wir? Ist die Natur als das Andere der Kultur erkennbar? Und schließlich: Ist eine andere Wirklichkeit – auf ästhetischer oder politischer Ebene – denkbar?). Die letzte Frage bezieht sich nicht nur auf Brechts politisches Engagement, sondern auch auf die künstlerisch-sprachlichen Utopien Mallarm8s, Georges, Prousts, Joyces und Sartres. Es zeigt sich, dass in einer Problematik als soziolinguistischer Situation Schriftsteller, Politiker, Philosophen und Wissenschaftler sehr unterschiedlich auf Probleme und Fragen reagieren können: Brecht reagiert (im Rahmen des Marxismus) ganz anders als Proust, Joyce oder Sartre; dieser ganz anders als Heidegger oder Jaspers. Innerhalb der modernistischen Problematik findet man auch faschistische Reaktionen von Pierre Drieu Larochelle bis Marinetti und Wyndham Lewis. Eine Periode wie der Modernismus ist folglich nicht als stilistische, ästhetische oder ideologische Einheit aufzufassen oder gar als Weltanschauung, sondern als sozio-linguistische Situation oder „diskursive Formation“ im Sinne von Foucault, die darüber entscheidet, was sagbar, nicht mehr sagbar oder noch nicht sagbar ist. In unserer postmodernen Situation sind Aussagen, die sich bei Mallarm8, George oder beim frühen Sartre finden, nicht mehr möglich. Die Problematik als gesellschaftliche und sprachliche Situation wandelt sich wie ein Bild im Kaleidoskop: Probleme, Fragen und Antworten, die im Modernismus noch im Mittelpunkt standen, werden in der Postmoderne an den Rand der Problematik relegiert, und neue Probleme mit den sie begleitenden Fragen rücken ins Zentrum: z. B. das Verhältnis des Menschen zur Natur, das Verhältnis der Geschlechter, das Verhältnis der Kulturen usw. Utopien (politischer oder ästhetischer Art) werden zu Randerscheinungen, weil sie seit dem Zweiten Wertkrieg als gefährlich gelten oder weil die Wertsetzungen, auf denen sie gründen, fragwürdig werden. In der Postmoderne, die aus meiner Sicht nicht mehr von der Ambivalenz, sondern der Indifferenz oder Austauschbarkeit der Werte beherrscht wird, ist es kaum mehr möglich, von der Kunst oder der „reinen Sprache“ zu behaupten, sie sei der oberste gesellschaftliche Wert. Was von Mallarm8 bis Sartre sagbar war, ist in der postmodernen Problematik nicht mehr sagbar : u. a. deshalb, weil die „Regeln der Kunst“ (Bourdieu) nur in einem bestimmten Feld oder System gelten und außerhalb dieses Feldes oder Systems keinerlei Gültigkeit beanspruchen können – ebenso wenig wie die Regeln der Religion, des Sports oder der Politik. Die Ära des Bildungsbürgertums, das eine Zeit lang seine ästhetische Norm zur allgemein verbindlichen gesellschaftlichen Norm machen konnte, ist vorbei. Dies ist auch der Grund, weshalb in der neuen – postmodernen – Problematik der Künstlerroman nur noch als Parodie möglich ist. In dieser Problematik ist der Künstler nicht länger als Auserwählter, die Kunst nicht mehr als oberster

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Wert darstellbar, weil nun neue Soziolekte und neue Diskurse die Problematik beherrschen, in deren Kontext eine solche Darstellung nicht mehr möglich ist. Insgesamt zeigt sich, dass wir es sowohl bei typologischen und genetischen Vergleichen als auch bei der Übersetzung und der Periodisierung mit gesellschaftlichen und sprachlichen Problemen zu tun haben. Dabei erscheint die literarische Periode als „sprachliche Problematik“, in der neue Soziolekte und Diskurse in den Mittelpunkt drängen, während die älteren und alten an die Peripherie relegiert werden. Sie verschwinden nicht, verlieren aber allmählich an Bedeutung.

Primärliteratur George, Stefan: Shakespeares Sonette. Umdichtung. Vermehrt um einige Stücke aus dem liebenden Pilgrim. Düsseldorf / München 1964. Heym, Georg: ,Der Gott der Stadt‘, in: Bode, Dietrich (Hg.), Gedichte des Expressionismus. Stuttgart, 1966, S. 62. Hofmannsthal, Hugo von: Der Schwierige, in: Ders.: Gesammelte Werke, Dramen IV. Frankfurt 1979, S. 331–450. Mallarm8, St8phane: ,Apparition‘, in: Gedichte (Zweisprachig: übersetzt und kommentiert von Gerhard Goebel). Gerlingen 1993, S. 40. Shakespeare, William: The Complete Works of William Shakespeare. London / New York / Sydney 1958. Wilde, Oscar : The Importance of Being Earnest (1895), in: Ders.: Plays. Harmondsworth 1954, S. 247–313.

Sekundärliteratur Barthes, Roland: Essais critiques. Paris 1964. Adorno, Theodor W.: ,Rede über Lyrik und Gesellschaft‘, in: Ders.: Noten zur Literatur I. Frankfurt, 1969, S. 73–104. Adorno, Theodor W.: ,George‘, in: Ders.: Noten zur Literatur IV, Frankfurt 1974, S. 45–62. Barzun, Jacques: Classic, Romantic and Modern. Chicago / London 1975. Borgmeier, Raimund: Shakespeares Sonett ,When forty winters‘ und die deutschen Übersetzer. Untersuchungen zu den Problemen der Shakespeare-Übersetzung. München 1970. Cetti Marinoni, Bianca: Essayistisches Drama. Die Entstehung von Robert Musils Stück ,Die Schwärmer‘. München 1992. George, Stefan: Tage und Taten. Aufzeichnungen und Skizzen. Gesamt-Ausgabe der Werke. Endgültige Fassung. Berlin 1958, S. 52–55. Hermant, Abel: Souvenirs du Vicomte de CourpiHre – par un t8moin. Paris o. J. Mallarm8, St8phane: Kritische Schriften. Französisch / Deutsch. Hg. von Goebel, Gerhard / Rommel, Bettina. Gerlingen 1998.

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Marinetti, Filippo Tommaso: ,Manifest des Futurismus‘, in: Asholt, Wolfgang / Fähnders, Walter (Hg.): Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Stuttgart / Weimar 1995, S. 4–7. RanciHre, Jacques: Mallarm8. La politique de la sirHne. Paris 1996. Shewan, Rodney : Oscar Wilde. Art and Egotism. London 1977. Szondi, Peter : Theorie des modernen Dramas. Frankfurt 1959. Tynjanov, Jurij, ,Über die literarische Evolution‘, in: Striedter, Jurij (Hg.), Russischer Formalismus. München 1971, S. 433–461. Val8ry, Paul: ,Vari8t8‘, in: Ders.: Œuvres, Bd. I, 8d. 8tablie et annot8e par Jean Hytier. Paris 1957a, S. 427–1512. Val8ry, Paul: ,Je disais quelquefois / St8phane Mallarm8‘, in: Ders.: Œuvres, Bd. I 8d. 8tablie et annot8e par Jean Hytier. Paris 1957b, S. 644–660. Wertheimer, Jürgen: Dialogisches Sprechen im Werk Stefan Georges. Formen und Wandlungen. München 1978.

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Home Is Somewhere Else: Comparative Literature as a Migrant Discipline

In a time of ever-expanding migrations, with millions on the move under conditions of extreme deprivation and distress, the disciplinary history of Comparative Literature takes on new cogency and calls for fresh examination. Comparative Literature is inherently a border-crossing discipline, and it has frequently been practiced by 8migr8s. Often, of course, prominent scholars have enjoyed the privilege of free movement from one cultural center to another, not always experiencing any great sense of dislocation when moving from a post in Berlin to Stanford or from Oxford to Geneva. Even the forced emigration of many scholars during the World War II era has often been described in positive terms, as a translatio studii enabling a great scholar to build a new life and to revive the discipline from a new perspective, as in Emily Apter’s discussion of Leo Spitzer in ‘Global Translatio: The ‘Invention’ of Comparative Literature, Istanbul, 1933’, or the essays collected in Stauth and Birtek’s ‘Istanbul’: Geistige Wanderungen aus der ‘Welt in Scherben’. There is a good deal to be said for the value of new environments, but a closer look at Spitzer and other 8migr8 scholars of his generation reveals a more troubled picture. The academics who escaped pogroms and death camps were very much aware of their good fortune, and the most fortunate among them did indeed pursue thriving careers in the postwar years. In the United States, 8migr8s such as Erich Auerbach, Anna Balakian, Leo Spitzer, and Ren8 Wellek exerted a decisive influence on the discipline, perhaps more than they might have had if they’d returned to their home environments in Germany, Turkey, Austria, and Czechoslovakia. Yet even the fortunate few were often deeply marked by the traumas of their sometimes multiple dislocations, and their struggles to reconstruct their lives are worth our attention today, as we seek to resituate comparative studies in a world of radically unequal global flows of people, capital, and cultural products of all kinds. Home is Somewhere Else is the title of a haunting, and haunted, memoir by another migrant comparatist, Lilian Furst. The discussion of 8migr8 comparatists has usually focused on ‘great men’ such as Auerbach, Spitzer, Wellek,

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Paul de Man, and Edward Said, but Lilian Furst was a prolific and significant comparatist, author of dozens of essays, several anthologies, and fifteen books, including late in life a study of novels of forced emigration, Random Destinations (2005). Her title is deliberately ironic, as ‘destination’ implies destiny or at least some settled intent, rather than the randomness and dislocation that she explores in a range of wartime and postwar fictions, including works by Anita Desai, Ruth Prawer Jhabvala, and W. G. Sebald. Completed a decade earlier, her memoir Home Is Somewhere Else gives a particularly personal expression to the experience of dislocation, which began when she was a child and never really ended. Furst was born in Vienna in 1931, daughter of a Hungarian father and a Polish mother ; her parents had worked their way up from impoverished circumstances to build a successful dental practice, just around the corner from the Freuds in Berggasse. In an essay on ‘Freud and Vienna’, Furst has written about the tenuously assimilated status of Freud’s parents, who like her own parents gave their children non-Biblical names so as not to sound too Jewish. She observes that even though Freud was only four years old when his family moved to Vienna, where he lived for the next seventy-seven years, “paradoxically, however, at some level he remained an outsider, a ‘Zugeraster’ in Viennese dialect; the word, a corruption of ‘zugereist’ (traveled there) was the common denotation for immigrants, particularly the East European Jews who flocked to the city in the late 19th and early 20th centuries” (Furst 2001, p. 49). The same term could be applied to Furst herself, except that immigration was a repeated experience for her, almost a way of life. Home Is Somewhere Else: An Autobiography in Two Voices (1994) is an intriguingly dual memoir, based on a manuscript that her father had written in retirement in the early 1970s, into which Furst inserted alternating chapters giving her own sometimes quite different memories of the events her father recounts.1 In the opening words of her first chapter, she describes a primal scene of life thrown out of joint: “My first distinct independent memory is of the day the Nazis marched into Vienna in March 1938. March in Vienna is usually rather cold, gray, and inhospitable, but on that day the sun was shining and the sky was of the deep blue I now associate with North Carolina or California. I remember so well leaning out of the window of our apartment on the Marie-Theresienstrasse trying to see what was going on. [. . .] Both the maids had gone out to join the crowds, while my parents huddled in their office, conferring in whispers.” (Furst/Furst 1994, p. 13)

She recalls that “the public jubilation outside was in stark contrast with the silence within. The daily round of life had ceased in the face of this event that I 1 Interestingly, in the German translation, the two voices become a singular “Jewish fate”: Daheim ist anderswo. Ein jüdisches Schicksal erinnert von Vater und Tochter.

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was witnessing. The pervasive atmosphere of mourning in our home was eerie and ominous” (ibid., p. 14). Soon her parents determined to flee – “forced to become flotsam”, as her father puts it (p. 73) – and after an agonizing series of nearly fatal attempts to find refuge, they managed to reach England, where Furst grew up. She won a scholarship to Cambridge, and secured teaching positions in Belfast and then Manchester before moving to the United States in 1971, accompanied by her now widowed father. She had become almost incurably restless, however, and after teaching at Dartmouth she taught for varying periods at the Universities of Oregon and of Texas, at Case Western Reserve, at Stanford, and at Harvard. Her father always accompanied her, and Furst remarks that “through our multiple moves, in addition to our status as strangers in the land, we formed an island of otherness wherever we went” (p. 212). He never objected to pulling up stakes yet again, though he once ruefully remarked, “It’s a pity God put down our bread in so many little piles in so many different places” (p. 221). After his death in 1985, Furst finally settled down at the University of North Carolina for the remaining quarter century of her life. Having written a series of pathbreaking comparative studies of Romanticism, naturalism, and realism, in her later years she became a founder of the field of narrative medicine, in a series of books and collections on such subjects as Just Talk: Narratives of Psychotherapy (1999), Medical Progress and Social Reality (2000), and Idioms of Distress: Psychosomatic Disorders in Medical and Imaginative Literature (2003) – works that bring her literary skills to bear upon the medical profession that her parents had hoped she’d pursue. Despite all her success, in Home Is Somewhere Else she says that “Even now, an American citizen, tenured in a major university, holder of an endowed chair, with savings, investments [. . .] a car, a long list of publications; still I am liable to agonies of anxiety and insomnia because, alone, at some level, I still feel so terribly vulnerable to the contingencies of an untrustworthy world” (pp. 23–4). She returns to this theme at the end of her memoir, describing her life in Chapel Hill: “My neighbors play golf and bridge, and walk their dogs, and talk with passion about ‘the game’. I don’t understand what matters to them any more than they understand what matters to me. [. . .] In the great melting pot that this county is said to be, I have somehow not melted; on the contrary, I have become more myself, and thereby more other. I am not in exile from anywhere; the worlds I knew have gone, and I mourn their disappearance as I do that of the family I would have had. A student with bright red curly hair and glasses had a curious fascination for me, and it was some weeks before I realized that she reminded me of the cousin I last saw when I was six and she eight; she vanished in Treblinka.” (p. 217)

Now she ends the book, in her final words recalling the large red J stamped on her family’s exit visa next to the Nazi swastika: “Home is where my things are. Home

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is nowhere. Maybe home is beyond the grave. [. . .] I float on the periphery, at home yet not truly so in Europe, Great Britain, or the United States. My geographical roots are shallow; only those created by the brand mark of the red ‘J’ run deep into my being” (p. 217). As Furst’s memoir shows, migrancy can be a lifelong experience, resonating in the minds and hearts even of people who have become very well established in their oxymoronic home away from home. In the case of the two comparatists whose emigrations have been most often discussed, Erich Auerbach and Leo Spitzer, attention has primarily been paid to their years of exile in Istanbul, as though it was during those years that they experienced the pain of dislocation before returning to the fold of Western culture after securing prestigious appointments at Johns Hopkins and at Yale. Yet though they were less willing than Furst to register openly the pain of their dislocation, they too struggled to find their footing in an unfamiliar new world in the United States, and to master the anxiety and grief that they felt over everything, and everyone, they’d left behind. Much as her years in England were formative for Furst, Istanbul was a crucial turning point for both Spitzer and Auerbach. Many readings of their work, beginning with Geoffrey Green’s Literary Criticism and the Structures of History : Erich Auerbach and Leo Spitzer (1983), have been inflected by the drama of their Nazi-era exile, the period so movingly evoked by Auerbach in the epilogue to Mimesis, almost as an aside, when he mentions the circumstance “daß die Untersuchung während des Krieges in Istanbul geschrieben wurde.” He claims to mention this fact only to excuse his paucity of sources and the lack of footnotes: “Hier gibt es keine für europäische Studien gut ausgestattete Bibliothek. [. . .] Mit dem Mangel an Fachliteratur und Zeitschriften hängt es auch zusammen, daß das Buch keine Anmerkungen enthält” (p. 518). Yet at the same time the book is a magnificent recovery of his lost European world, as he indicates in his closing lines: “Möge meine Untersuchung ihre Leser erreichen; sowohl meine überlebenden Freunde von einst wie auch alle anderen, für die sie bestimmt ist; und dazu beitragen, diejenigen wieder zusammenzuführen, die die Liebe zu unserer abendländischen Geschichte ohne Trübung bewahrt haben” (p. 518). Auerbach himself allows that he might never have succeeded in writing his masterwork if he’d had to consult the vast range of relevant literature he would have had available in Germany, though this bibliographical paucity seems as much an excuse as a factual necessity. He chose, after all, to have no footnotes at all, despite the presence of a good number of studies in the Istanbul library and in his own collection, which he’d supplemented by extensive purchases when spending five weeks back in Germany in the summer of 1937, spending down his savings by buying books, as Jews weren’t allowed to take money out of the country (Clemens Auerbach, ‘Summer 1937’, p. 495). Auerbach took up the chair in Istanbul vacated by Spitzer, who himself had an extensive personal library. His

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Johns Hopkins colleague Richard Macksey has told me that when Spitzer received news of a fire on board the ship that was bringing his wife and son to America, he reacted with alarm: “My books!” Beyond the liberation from scholarly protocols, Istanbul offered a fresh vantage point: Edward Said has argued that Mimesis is “a work whose conditions and circumstances of existence are not immediately derived from the culture it describes with such extraordinary insight and brilliance but built rather on an agonizing distance from it” (1983, p. 8). Following Said, Emily Apter describes both Auerbach and Spitzer as practicing “a ‘resistance’ philology” (2003, p. 274), though she also notes in Said’s account a certain tendency toward “the fetish of exile; the record shows that Auerbach was in pretty good cosmopolitan company during his Istanbul sojourn” (2003, p. 275). Kader Konuk has shown in her EastWest Mimesis how integrated Auerbach was among the German Jewish academic community in Istanbul, and as he wrote to Martin Hellweg in June 1946, “Unter den vielen Annehmlichkeiten unseres hiesigen Unterstandes [. . .] ist eine der wichtigsten, dass wir sie mit einer ganzen Anzahl von Schicksalsgenossen teilen, Emigranten der verschiedensten Kategorien, meist auch an der Universität, darunter sehr gescheite und sympathische. Es ist uns wirklich nicht schlecht gegangen, nur dass wir ziemlich arm geworden sind. [. . .] Aber das sind bourgeoise Sorgen…” (Vialon 1997, p. 70)

Yasemin Özbek (2007) has noted Auerbach’s and Spitzer’s success in getting several of their own assistants out of Germany to Istanbul, where they formed the core of an intellectual circle under their mentors’ direction; in Spitzer’s case he was able to further recreate his German life by bringing over Rosemary Burkart, who was his lover as well as an assistant. All in all, Auerbach and Spitzer felt relatively at home during their Istanbul years; it was America that proved to be a far more foreign environment for both of them. In the case of Auerbach, before finding posts in Princeton and then at Yale, he first washed up in rural central Pennsylvania, where Penn State was just beginning its transition from a primarily agricultural state college to a prominent national university. Writing to Werner Krauss two months after his arrival in January 1948, Auerbach described State College, Pennsylvania as “ein kleines Provinznest mit einer riesigen Staatsuniversität (12000 Studenten), kein eigentliches College”, adding that he’d been hired to help build up the humanities in an institution where “die Liberal Arts waren bisher ganz vernachlässigt” (Vialon 1997, p. 47). Though State College was a far cry from either Marburg or Istanbul, Auerbach would readily have stayed on, but for the fact that the university decided to let him go at the end of his initial contract. The reason: Auerbach was suffering from hypertension, and the dean didn’t want to make a long-term commitment to a

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potential invalid. Djelal Kadir has uncovered Auerbach’s personnel file at Penn State, including the letter from the doctor describing him as a bad risk because his hypertension was likely to kill him within a few years. In “Auerbach’s Scar”, Kadir quotes a letter that Auerbach wrote to his dean after receiving this news: “We had a very cordial talk with Dr. Glenn, but, as I expected, he can do nothing in my case. I am extremely grateful to you that you are willing to write to your friends about a possible position for me. I want to mention, in this connection, that there might be possibilities not only in the field of Romance philology and literature, but also in Comparative Literature, or even German. Thank you very much. Yours sincerely, Auerbach.” (2011, p. 25)

As Kadir says, “The case file is amply articulate, intentionally and otherwise, on a bureaucratic process worthy of Kafka. And the circumspect conversion, in Auerbach’s final sentence, of his undeniable qualifications into hypothetical ‘possibilities’ is not an insignificant index to his own self-effacement and dislocation within a precarious locus” (2011, p. 25). The great Romance philologist’s willingness to teach “even” German speaks volumes. Dismissed from Penn State, Auerbach did make it out to the Institute for Advanced Study at Princeton and then to Yale, but he never really acclimated to American culture, or even to English. Writing from New Haven in 1951 to Siegfried Kracauer, who had written him a warm letter in English, Auerbach apologized for replying in German: “Sie sehen, ich kann mich noch nicht recht daran gewöhnen an Sie englisch zu schreiben” (Barck/Treml 2007, p. 484). As Monica Jansen and Clemens Arts have observed, even during his final years at Yale “Auerbach tuttavia sembra essere rimasto piuttosto ‘uno straniero in un paese strano’” (2014, p. 75). A deep anxiety persisted beneath the surface of the unruffled calm that Auerbach emphasizes in the closing words of Mimesis. Mary Ann Caws, who was his student at Yale, has told me that in seminars he would often have two cigarettes burning at once – one in his hand, a second one forgotten in his ashtray. Late in 1955 he wrote to Kracauer that he’d done little in the previous several months, as “jener 1. März, an dem ich Sie in der Art Gallery besuchte, war der Anfang von einer Art Depression, die eine ganze Weile anhielt” (Barck/Treml 2007, p. 486). Perhaps contributing to his depression, his hypertension persisted, and killed him two years later. Leo Spitzer had left Germany and then Istanbul well before the war. He was free of Auerbach’s health problems, and he had the good fortune to secure a chair directly at Johns Hopkins, the American university founded most directly on German principles half a century earlier, located not in rural Pennsylvania but in the bustling city of Baltimore. Yet he too experienced his departure for America more as the loss of Europe than the gain of the New World. On boarding ship to leave Istanbul in 1936 he was deeply torn, only partly because he was leaving

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behind Rosemarie Burkart, for whom he’d been unable to secure American residency papers. In a letter to Kurt Vossler that December, at the end of his first semester at Hopkins, he speaks in melancholy terms of the parting, not just from her (“ein lieber und geliebter Mensch”), but from his German milieu, almost as if he’d still been living in Germany itself while in Istanbul: “Der Abschied von Istanbul war ein sehr melancholisches Ereignis. Spürte ich doch daß ich von eigentlich fast allem Abschied nahm, was mir außer Familie und Wissenschaft wert ist: deutsches Milieu, Europa, alte Kultur, ein lieber und geliebter Mensch, viele junge Mitarbeiter, verständnisvolle Studenten – und sogar die Türken selbst, die mich doch wie einen deutschen verdienten Professor wegfeierten (ein Abschiedsvortrag meinerseits, ein Rektoratsd%ner, ein Tanzabend). Der Moment, als das Schiff sich in Bewegung setzte und die Freunde und Schüler, die – mit einer Ausnahme, der traurerbeladensten – am Dock erschienen waren, betreten in sich versanken, während hinter ihnen der Genueserturm als Wahrzeichen der Romania finster dastand, war einer der schwersten meines Lebens.” (Hausmann 22008, pp. 314–15)

At Hopkins, Spitzer continued, “Alles ist hier net, höflich, ruhig, entgegenkommend – aber wohl im Herzen kühl und gläsern.” He was unimpressed by his new surroundings: “Die Stadt Baltimore ist ein Bonn von den Dimensionen Kölns, Grün und Villen, ohne Rhein oder Meer und ohne irgend etwas Bemerkenswertes. Lauter lange langweilige, seriengebaute Straßen mit kaum welchen Fußgängern, weil jedermann sein Auto hat, 25 % der Bewohner sind Neger” (ibid., p. 318), and he found the students “natürlich arbeitsamer, aber wenig originell, vor allem wenig geistesgeschichtlicher Blick und wenig Gefühl für das Schöne” (ibid., p. 319). Clearly, Spitzer had his work cut out for him, if he was going to inculcate the historical and aesthetic values that meant everything to him. Like Lilian Furst, Spitzer was determined to make himself at home “somewhere else” as best he could, and he threw himself into the task. He soon shifted to writing primarily in English, and unlike most 8migr8 comparatists he took an active interest in American literature and culture, much as he had in the comparably exotic Turkish language while in Istanbul. His collection Essays on English and American Literature even included a boldly speculative essay on ‘American Advertising Explained as Popular Art’, in which he analyzed a Sunkist orange juice ad in terms of Renaissance iconography. This was no mere jeu d’esprit; in a footnote, he says that analyzing the Sunkist ad in the early 1940s gave him “the first avenue (a ‘philological’ avenue) leading toward the understanding of the unwritten text of the American way of life” (1962, p. 249). Even as he strove to build a new life in America, he made exceptional efforts to connect his past and present. Thus in 1948 he published a collection of six Essays in Historical Semantics, three of them written in English, and three that he’d written in German. Remarkably, he decided to leave the German essays untranslated; in a foreword, he says that “such a presentation seemed fitting in view

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of my desire to attract scholars in German and English toward that common stock of European semantics that informs their own vocabulary : in this volume all nations will appear as citizens of ‘quella Roma onde Cristo H Romano’” (p. 13– 14). It is appropriate that he closes this justification with an (untranslated) line from his exilic forebear Dante, whose Christianity the Jewish 8migr8 translates into the Rome of Romance Philology.2 Particularly striking is the autobiographical title essay of Spitzer’s other book from 1948, Linguistics and Literary History. He begins by asserting that a life story can erase the difference of decades and of continents, even as he proposes, rather differently, that individual experiences profoundly shape a scholar’s identity : “I have chosen the autobiographical way because my personal situation in Europe forty years ago was not, I believe, essentially different from the one with which I see the young scholar of today (and in this country) generally faced. I chose to relate to you my own experiences also because the basic approach of the individual scholar, conditioned as it is by his first experiences, by his Erlebnis, as the Germans say, determines his method: Methode ist Erlebnis, Gundolf has said.” (1948, p. 1)

So far, so good, but he then makes a startling analogy : “In fact, I would advise every older scholar to tell his public the basic experiences underlying his methods, his Mein Kampf, as it were – without dictatorial connotations, of course” (ibid., p. 1). What could Spitzer possibly have intended by this comparison? In an extended essay on Spitzer, ‘Methode ist Erlebnis’ – a title drawn from this passage – Hans Ulrich Gumbrecht is frankly astonished. “Die Anspielung auf Adolf Hitlers Buch”, he says, “macht [. . .] deutlich, daß Spitzer 1948 noch immer nicht begonnen hatte, ernsthaft über die Schrecken des Dritten Reiches nachzudenken” (2002, p. 129). Something else must be going on, however, as it is clear from Spitzer’s letters of the 1940s that he was intensely aware of the depredations of the Nazis who had forced him from his homeland, and when the war ended he was unsparing in condemning those scholars who had accommodated themselves to the regime. Yet like Vladimir Nabokov, whom he resembles in many ways – he even celebrates “butterfly-words” in his essay – Spitzer asserts a sovereign command of language. And as with Nabokov, just beneath the Olympian surface are deep memories of trauma, and a firm political stance. His 2 This line is spoken by Beatrice as she leads Dante from Purgatory toward Paradise: “Qui sarai tu poco tempo silvano; / e sarai meco sanza fine cive / di quella Roma onde Cristo H romano” (Purgatorio 32, 98–100). Perhaps Spitzer was recalling the lines written in his guest book in Cologne in 1932 by none other than Erich Auerbach, whom Spitzer had invited to give a lecture. Auerbach wrote: “Unser Gegenstand ist nicht die Kunde von Sein und Kultur, sondern ‘das Rom, in dem Christus Römer ist’” (Gumbrecht 2002, p. 164).

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statement can be compared to his friend Victor Klemperer’s dissection of the Lingua Tertii Imperii: Spitzer isn’t going to let Hitler gain control over a single word of German – not even the title of Hitler’s infamous apologia, whose meaning is reduced to “dictatorial connotations”, nothing more, ready to be set on the ash heap of history. Thus Spitzer responds to the German crisis of language and culture, but there is another dimension to this passage as well. He is writing for his new American audience, and here we have to unravel the complexities of that relation. Amid the essay’s warm evocation of “the gay and orderly, skeptic and sentimental, Catholic and pagan Vienna of yore” (1948, p. 2) there runs a current of anxiety : just how can Spitzer make himself at home in this strange new world? Can he connect to postwar America at all? This concern is every bit as sharp as the anxiety that Kadir has identified beneath the measured tones of Auerbach’s letter to his dean, as we can already see in Spitzer’s dedication of the volume: “I dedicate this first book of mine printed in America [. . .] to Assistant Professor ANNA GRANVILLE HATCHER who is an outstanding American scholar in the too little cultivated field of syntax – which, in her case, is expanded into stylistic and cultural history – and who could thus teach me, not only the intricacies of English syntax and stylistics, but some of the more recondite features of American culture and of its particular moral, logical, and aesthetic aspirations: a knowledge without which all endeavors of the philologist to explain poetry to an American public must fail completely.” (1948, p. v)

Note the absolutes in this sentence: without such a guide, not just some efforts but any effort at all must – not may – fail, and must fail completely. In fact, his efforts failed even with Anna Hatcher. He had helped his star pupil finish her dissertation, had it published by the Johns Hopkins University Press, got her hired and then tenured in his own department. She was also his lover, replacing the lost Rosemary Burkart; for years, according to Richard Macksey, they had lunch together every day in the faculty club, arriving late and then lingering in the half-empty room after service had ended. On his retirement, she co-edited a festschrift for him, and after his death she published further collections of his essays. There could be no more devoted disciple – but she could never match his philological skills, his cosmopolitan flair, or his poetic sensibility. Her own awareness of this fact can be seen in her dedication of her first book to him in 1942, the published version of her dissertation, Reflexive Verbs: Latin, Old French, Modern French: To LEO SPITZER WHO BELIEVES THAT LANGUAGE IS POETRY I DEDICATE THIS LABOR BASED ON STATISTICAL COMPILATION

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IN WHICH THE FIGURES SEEMED, SOMEHOW, TO ADD UP TO POETRY.

Sadly, they don’t. Try as he might, in every way and on every level, Spitzer could never get close enough to Hatcher to bridge the gulf between the gay and orderly Vienna of his youth and the grey urban grid of postwar Baltimore. A sense of unbridgeable distance underlies the very end of his essay. After recounting his intellectual autobiography and explicating his philological method, he concludes that finally there is no way to teach the method; one just needs to live it. But in the essay’s concluding words, he regrets that he can never sufficiently be part of his students’ lives: “the capacity for this feeling is, again, deeply anchored in the previous life and education of the critic, and not only in his scholarly education: in order to keep his soul ready for his scholarly task he must have already made choices, in ordering his life, of what I would call a moral nature [. . . .] I have sometimes wondered if my ‘explication de texte’ in the university classroom, where I strive to create an atmosphere suitable for the appreciation of the work of art, would not have succeeded much better if that atmosphere had been present at the breakfast table of my students.” (p. 29)

Spitzer’s problem was less an agonizing distance from Europe than a tantalizing proximity to the American life around him, a milieu in which, like Furst, he could never feel entirely at home. Fifteen years into his sojourn at Hopkins, Spitzer still regarded his new academic world from a markedly European perspective. In a plenary address to the Modern Language Association on ‘The Formation of the American Humanist’, published in PMLA in 1951, he asks why no really good young philological scholars are emerging from any of the American universities. A first explanation he offers is that American academics give their students too much advice, thereby stifling their natural independence and creativity ; he notes with pride that he wrote his own dissertation without a word of advice from his mentor MeyerLübke from the day his prospectus was approved until the day he submitted the completed dissertation. Then comes his second, and still more surprising, explanation: “to make things worse – I hesitate to say it, but I shall say it – our students marry too early.” Though he grants that such marriages protect the (now evidently male) graduate students from “the soiling effect on mind and body of prostitution and debauchery” (!), he wishes that “the young scholar should keep himself as long as possible ‘disponible’”, instead of having to “shoulder his moral responsibilities and submit to the necessities contingent on married life and children (and God knows how exacting American wives and children sometimes are!)” (p. 41). To these detrimental factors, Spitzer adds a third: that new PhDs in America are all expected to teach as well as to be scholars,

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rather than being trained on one track or the other ; he recommends adopting the German system in which a minority of elite graduate students could devote themselves to scholarship in the honored role of Privatdozent, free of most responsibilities for teaching and administration. Spitzer admits that these opinions won’t sit well with his audience, given the divergence of his ideas from the American system and its egalitarian ideals. He anticipates their reaction in stark terms: “You may have decided [. . .] that consequently, as the saying goes, ‘I should go back where I came from.’ But I do not wish to go back, I wish to stay in this country that I love” (p. 47). He defends his critique as an expression of his love affair with America itself: “Is it not understandable that a relationship deliberately based on choice may inspire, at the same time, more passion and more criticism than an inherited relationship? It is just because I find in American democracy the only air in which I could breathe [. . .] that I would wish the American university system to possess all the advantages of the best systems of the old world!” (p. 47). He argues further that a synthesis of American democracy and European elitism will serve scholarship better than saddling every graduate student and assistant professor with heavy teaching loads of introductory language courses. Strange though his ideas must have sounded at the time, over the next generation many American universities began to offer better fellowship packages, to create postdocs, and to lighten the teaching load for junior faculty ; even parental leave, for men as well as women, has now become common. Institutionally as well as intellectually, Spitzer’s migrant perspective gave him a prescient angle of vision. Similarly, Lilian Furst’s skepticism of the upbeat American vision of ‘the melting pot’ infused her scholarship as well as her memoir. Her study Random Destinations (2005) begins with a prologue in which she describes leaving Vienna in 1938 with her parents on a train that also carried a group of Jewish children, separated from their families, bound for a Kindertransport ship: “How they stared at me, the only child walking along the corridor of that train securely gripping her father’s hand! This autobiographical experience together with the oral history I picked up from my parents and their friends forms the extraneous frame and the impetus to this study” (p. xi). In the body of the book, Furst emphasizes ordinary experience, in ways that anticipate today’s discussions of the migrant crisis: “Through their predilection for the remarkable, not to say exceptional, cases the sociohistorical studies tend to distort the overall picture of the average escapee’s difficulties, efforts, and occasional failures in the process of resettlement” (p. 11). She argues that most memoirs of the period also overemphasize success, as the writers look back at their lives and “express pride in overcoming obstacles and often gratitude to their host country” (p. 13). She finds a counterbalancing force in novels, which “concede the malaise, the sense of distance and apartness from their second

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homes, which persist for many escapees, caught as they are a bit in the middle of nowhere” (p. 194). She concludes that “While the sociological studies provide much valuable information about escapees’ outer, public paths, the fictions allow revealing insights into the scars on the souls of these ‘shards from the explosion’” (p. 195). A similar emphasis on literature’s ability to express psychic trauma can be found in the remarkable series of books she wrote in her later years in the new area of medical humanities – including work on doctor-patient relations, the interplay of psychic and somatic symptoms (from hysteria in the nineteenth century to eating disorders today) and the struggle of women to find acceptance in medicine. Less directly but no less deeply than Random Destinations, these books too were informed by her efforts to come to terms with her past and to make a new life in the present. For his part, Leo Spitzer continued to advance his mixed Euro-American perspective in a host of essays and reviews, striving above all to inspire his new readers to adopt his unique blend of historical philology and literary analysis. He inaugurated this project in Linguistics and Literary History, in which he challenges us to attend as closely as he does to what is most strange and distinctive in a writer’s style. As a prime example, he gives a passage from Rabelais, on whose extravagant neologisms he’d written his Habilitationsschrift thirty-five years before: “Just listen to the inscription on the abbaye de Th8lHme, that Renaissance convent of his shaping, from which Rabelais excludes the hypocrites: Cy n’entrez pas, hypocrites, bigots, Vieux matagotz, marmiteux, borsoufles, Torcoulx, badaux, plus que n’estoient les Gotz, Ny Ostrogotz, precurseurs des magotz, Haires, cagotz, cafars empantouflez, Gueux mitoufles, frapars escorniflez, Befflez, enflez, fagoteurs de tabus; Tirez ailleurs pour vendre vos abus.” (1948, p. 17)

Spitzer comments that most French scholars would see this passage simply as mediocre poetry based on the genre of a barker’s harangue, but he experiences it very differently : “But I can never read these lines without being frightened, and I am shaken in this very moment by the horror emanating from this accumulation of -fl- and -got- clusters – of sounds which, in themselves, and taken separately, are quite harmless, of words grouped together, bristling with Rabelais’ hatred of hypocrisy – that greatest of all crimes against life [. . . .] as shattering now as at the hour when Rabelais begot these word-monsters” (pp. 17–18). What can we make of this explanation? Lacking Spitzer’s decades of philological training, his twenty languages, his almost obsessive devotion to phonemes and morphemes, can we really share his terror at these fl and got clusters?

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I certainly wasn’t frightened by them when I read Rabelais as a teenager, and I was no more shattered the first several times I read Spitzer’s essay. But then I noticed that he asks us to listen to this poem; and how should we hear it? The Abbaye de Th8lHme in Gargantua is a humanist ideal, a cross between an aristocrat’s chateau and More’s Utopia, which had been published two decades before. It is a refuge for rational discourse and virtuous pleasures, secured by excluding the hypocrites who might undermine the abbey’s harmonious order. I suppose that the poem would have been read in the Parisian or Viennese lyc8es of Spitzer’s youth in a tone of urbane mockery, perhaps with a dismissive wave of the hand when ordering the hypocrites to withdraw elsewhere to peddle their abuses. The unstoppable flow of language will drive the hypocrites away, much as the power of music drives Monostatos from Sarastro’s enlightened temple in Die Zauberflöte. Read in this way, the passage conveys none of the horror that Spitzer feels emanating from it; if so, he fails with us as much as with Anna Hatcher. But several pages later, he gives us a different way to read, hinting at the psychic trauma that underlies his fear. Suppose that in place of “hypocrites” and “maggots” you substitute the word “Jews”? Suppose, indeed, that Rabelais’ greatest modern successor had been doing just that? Spitzer identifies this contemporary Rabelaisian as Louis-Ferdinand C8line – and not just any C8line, but the author of Bagatelles pour un massacre. He proceeds to quote a passage that, he says, “can be compared with the apocalyptic inscription over the portal of Th8lHme”: “Penser ‘sozial!’ cela veut dire dans la pratique, en termes bien crus: ‘penser juif! pour les juifs! par les juifs, sous les juifs!’ Rien d’autre! Tout le surplus immense des mots, le vrombissant verbiage socialitico-humanitaro-scientifique, tout le cosmique carafouillage de l’imp8ratif despotique juif n’est que l’enrobage mirageux, le charabia fatras poussif, la sauce orientale pour ces encoul8s d’aryens, la fricassee terminologique pour rire, pour l’adulation des ‘aveulis blancs’, ivrognes rampants, intouchables, qui s’en foutrent, / bite que veux-tu, s’en mystifient, s’en baffrent / crever.” (p. 22)

After quoting these vituperative lines, Spitzer somberly concludes that here: “Words and reality fall apart. This is really a voyage au bout du monde: not to the oracle of Bacbuc but to chaos, to the end of language as an expression of thought” (p. 22). This is how he wants us to hear Rabelais, not just read him: with the violence that a C8line – or a Hitler – would give to the explosive fl and got clusters that seek to expel the Germanic Gotz and maggot-like Ostragotz from the humanist utopia. Spitzer’s reading can be compared not only to the wartime work of Victor Klemperer but also to that of Horkheimer and Adorno: the dialectic of Renaissance humanism leads to Auschwitz. If we read Erich Auerbach, Leo Spitzer, and Lilian Furst rightly – intensely,

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with our ears as well as our eyes open to their historical and political contexts – they have much to teach us today, not only about the history of the migrant discipline of comparative literature, but about the ambiguous power of the double-edged sword of language. A renewed ‘resistance philology’ can help us navigate our shifting relations to our home culture and the ones we encounter in the wider world, amid the complex mixture of civilization and barbarism that these great scholars saw everywhere around them, and that we would do well to attend to today.

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Manfred Schmeling

Transfer und Vergleich in der Literaturwissenschaft. Zwischen Komparatistik und Kulturtransferforschung

Komparatistik als Kulturwissenschaft Um zu untersuchen, in welchem Verhältnis kultureller Transfer und literaturwissenschaftlicher Vergleich zu einander stehen, werde ich mich exemplarisch auf den deutsch-französischen Raum konzentrieren. Dabei soll es sowohl um theoretisch-methodische als auch um literarische Aspekte gehen. Besonders im Fokus stehen gegenwärtig die wechselseitigen Beziehungen und der Kulturtransfer im zeitlichen Kontext des Ersten Weltkrieges, ein historisches Ereignis, an das nach hundert Jahren wieder erinnert wird. Die Erforschung von Transferprozessen hat aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erheblich an Bedeutung gewonnen. Der nationale Raum ist durchlässiger geworden. Kultur vollzieht sich immer weniger in monolithisch geprägten Strukturen und immer mehr im Kontext von Wanderungsbewegungen und Grenzüberschreitungen. Die Literatur ist ein Spiegel dieser Veränderungen; sie reagiert in Form spezieller Diskurse und Schreibweisen, zum Beispiel in Form interkultureller Romane, die den Transfer abbilden oder thematisieren. Kein Transfer vollzieht sich ohne Menschen, die etwas bewegen, ob sie nun individuell, in Gruppen oder als Institution agieren. Es sind Reisende, Kaufleute, Kriegsteilnehmer, Korrespondenten, Missionare, Migranten und Flüchtlinge aller Art, Journalisten, Wissenschaftler, Künstler und – wie im vorliegenden Fall – Schriftsteller, die kulturelle Güter, Wissen, Ideale, Ideologien in Form von Gesprächen, Texten, Kunstobjekten usw. vermitteln. Unterstützt werden sie oft durch adäquate Einrichtungen, Universitäten, Verbände, Institutionen der Presse, Verlage, Medien im Allgemeinen. In den folgenden Überlegungen bestimmt der Gegenstand die Methode. Ich werde im konkreten Teil meiner Analyse über Romain Rolland und Thomas Mann sprechen, zwei Autoren, die sich als internationale Vermittler in Wort und Schrift besonders engagiert haben. Man kann sie – zumindest im betreffenden Zeitraum – gleichwohl als typische Verkörperung eines gescheiterten deutschfranzösischen Dialogs betrachten. Sie interagieren direkt in bilateralen Aus-

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einandersetzungen, in denen Kriegsrhetorik und Friedenssehnsucht aufeinanderprallen. Romain Rolland, für viele ein eher vergessener Romancier, steht aktuell deshalb wieder im Fokus der Forschung, weil er 1916 den LiteraturNobelpreis erhielt. Thomas Mann musste bis 1929 auf seinen Nobelpreis warten. Beide Schriftsteller haben unter anderem Künstler- bzw. Bildungsromane verfasst: exemplarisch werde ich auf Jean-Christophe (Romain Rolland, 1904–1912) und Doktor Faustus (Thomas Mann, 1943–1947) zu sprechen kommen. Und beide Autoren haben sich in Essays, Briefen, Vorträgen, Zeitungsartikeln usw. immer wieder auch gesellschaftspolitisch geäußert. Rolland emigrierte vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz, wo er den Kreis der Pazifisten maßgeblich bestimmte, Thomas Manns Emigration in die USA erfolgte erst im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. So unterschiedlich ihre Biographien und literarischen Stile auch sein mögen, sie geben zu interessanten Vergleichen Anlass. Ein solcher Vergleich sieht sich allerdings äußerst komplexen Vermittlungs- und Übertragungsprozessen gegenüber. Wenn er hier als methodisches Instrument für die Analyse von kulturellen Transferprozessen betrachtet wird, so impliziert das direkte Berührungspunkte, nachweisbare Formen der Begegnung zwischen den Kulturen. Gleichwohl lässt sich, wie ich zeigen werde, die vergleichende Forschung nicht auf die Transferproblematik und ihre genetisch-kausale Ausrichtung beschränken. Und damit stoßen wir auf den strittigen Kern meines Themas. In den letzten Jahren, etwa seit zwei bis drei Jahrzehnten, hat es vermehrt kritische Auseinandersetzungen mit dem Vergleich als analytischem Verfahren gegeben. Entsprechende Impulse gingen insbesondere von den Geschichtswissenschaften aus. Mein theoretisches Paradigma in diesem Zusammenhang sind Forschungen – Definitionen, Abgrenzungsversuche, programmatische Versuche etc. – von französischen und deutschen Kollegen, die sich als Kulturwissenschaftler verstehen und dabei schwerpunktmäßig die deutsch-französischen Beziehungen erforschen. Namen wie Michel Espagne und Michael Werner in Frankreich oder Hartmut Kaelble, Wolfgang Welsch und Hans-Jürgen Lüsebrink auf der deutschen Seite gelten hier als wichtige Referenzen. Das Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes hat 2013 in seiner Reihe Vice Versa einen Band unter dem Titel Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive veröffentlicht (Solte-Gresser / Lüsebrink / Schmeling 2013), der an diese Diskussion anschließt. Bereits zehn Jahre vorher (2003) publizierten Hartmut Kaelble und Jürgen Schriewer aus anderer, eher allgemeinerer Perspektive den Sammelband Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Michel Espagne verfasste 1999 sein Buch über Les Transferts culturels franco-allemands. Da es sich bei diesen und zahlreichen weiteren Diskussionen (vgl. Kaeble, 2005; Midell, 2000; Werner/Zimmermann, 2002;

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Espagne, 1999; Welsch, 2008) über das Thema um ein äußerst umfassendes Forschungsgebiet handelt, werde ich nur einige Theoreme herausgreifen, die sich kritisch mit der Komparatistik auseinandersetzen. In der Tat hat es in letzter Zeit manche Auseinandersetzung darüber gegeben, ob der Vergleich als methodisches Werkzeug, insbesondere sozialer Wissenschaften, nicht einer Überprüfung bedarf. Hauptsächlich seitens derjenigen Ansätze, die sich mit kulturwissenschaftlichen Fragen befassten, wurde immer wieder die Distanz gegenüber einer traditionellen, unzeitgemäßen Komparatistik geltend gemacht. Ich möchte hier gar nicht ein weiteres Plädoyer für die Disziplin als solche versuchen – es gab eine Zeit, in der sich die vergleichende Literaturwissenschaft als wissenschaftliche Einrichtung permanent legitimieren musste –, sondern vielmehr fragen, ob die Kritiker nicht mitunter offene Türen eingestoßen haben. Die Unterschiede zwischen einer vergleichenden Literaturwissenschaft und einem Ansatz, der transkulturell ausgerichtet ist, sind zumeist nicht so klar, wie es – auch aus Gründen der Fachkonkurrenz – manchmal dargestellt wird. Vorgeworfen wurden bestimmte methodische Defizite wie z. B. die Konzentration auf stoffliche Universalismen (Motive, Topoi), die Statik des Vergleichs (z. B. bilaterale Gegenüberstellungen), die mangelnde Kontextualisierung, die mangelnde Interdisziplinarität, ein restriktiver (monolithischer) Kulturbegriff, die Unkenntnis postkolonialer Theorien usw. Diese Vorbehalte sind, was die historische Entwicklung vergleichender Forschung betrifft, teilweise zu undifferenziert, teilweise aber berücksichtigen sie nicht, dass die methodischen Grenzen zwischen komparatistischen und kulturwissenschaftlichen Forschungen immer fließender werden. Ich kann die Historie unserer Disziplin hier nicht näher ausführen, aber gewiss ist: Wir leben nicht mehr im Zeitalter eines Fernand Baldensperger (1871–1958, Mitbegründer der Komparatistik als Disziplin in den 30iger Jahren), und wir befinden uns auch nicht mehr auf dem methodischen Stand der Nachkriegskomparatistik mit ihren ,rapport-de-fait‘Analysen, d. h. positivistischen Einfluss-Studien. Die kontextlose Suche nach Einflüssen, nach inhaltlichen Parallelen und Unterschieden, nach additiven Synthesen: das alles ist heute, bei allen stofflichen Notwendigkeiten, methodisch weitgehend überholt. Die neuere Komparatistik hat sich zumeist den allgemeinen methodologischen Bedingungen angepasst, auch im Hinblick auf das überall gewachsene interkulturelle Bewusstsein. Kultur als „der von Menschen erzeugte Gesamtkomplex von kollektiven Sinnkonstruktionen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen […]“ (Nünning 52013, S. 429), und somit Kultur als umfassendes symbolisches System, in das die Literatur eingebettet ist, wird auch in der Komparatistik mehr und mehr ernst genommen. Eine zentrale Kategorie, die sich als besonders operationell herausgestellt hat, ist in diesem Zusammenhang die des ,kulturellen Gedächtnisses‘, weil sie die konkrete Dynamik, die Tradierung des kollektiven oder individuellen Wissens durch

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Selektion, Speicherung und Vermittlung von Texten und anderen kulturellen Gütern, sowie durch die Kommunikation über Texte und andere kulturelle Objekte, erfassen kann. Letzteres bedeutet zugleich eine Ausweitung des Literaturbegriffs in Richtung auf den größeren Medienbereich und auf nicht-literarische Texte. Die Komplexität der Komparatistik als Fach hat dadurch erheblich zugenommen. Die Ausweitung des Literaturbegriffs gilt nicht nur für transmediale Beziehungen, sondern betrifft den Text an und für sich, seine Verankerung im intertextuellen Universum der Literatur. Ich habe immer die These vertreten, dass kein Text mit sich selbst identisch ist, jeder Text ist auf die eine oder andere Weise ein Glied im ,unendlichen‘ transtextuellen Raum und damit potenziell ein Gegenstand komparatistischer Betrachtung. Es ist dann eine Frage des speziellen Erkenntnisinteresses, ob man eine vergleichende Perspektive wählt oder auch nicht. Diese Auffassung deckt sich mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz, der von einem offenen, pluralistischen Kulturbegriff ausgeht: Kulturen „haben nicht mehr die Form homogener und wohlabgegrenzter Kugeln oder Inseln, sondern sind intern durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. Insofern sind sie nicht mehr Kulturen im hergebrachten Sinn des Wortes, sondern sind transkulturell geworden.“ (Welsch, o. J., S. 1)

Vom Transfer zum Vergleich Was leistet nun der Vergleich für die Analyse des Transfers? Betrachten wir die Frage zunächst wieder theoretisch. Der Vergleich ist, schon bei einfachsten Denkschritten, unentbehrlicher Begleiter von Verstehensprozessen und Kommunikation. Komparation vollzieht sich nach Emanuel Kant als „Vergleichung der Vorstellungen untereinander im Verhältnis zur Einheit des Bewusstseins“ (Schenk, Günter/Krause, Andrej, 2001, Sp. 679) – ist also ein unhintergehbarer dialektischer Vorgang. Der Vergleich ist immer standortbezogen, ist abhängig von einer subjektiven Instanz, von Perspektive, in wissenschaftlichen Kontexten auch von methodischem Wissen – während der Transfer, in welcher einfachen oder komplexen Form auch immer, zunächst einmal ein materieller oder geistiger Vorgang ist, der für sich steht, ein ,fait culturel‘, der als solcher erst einmal identifiziert und als Forschungsgegenstand methodisch aufbereitet werden muss. Jeder zu analysierende Transfer stellt uns zunächst vor eine bilaterale Situation, in der ein Transfer räumlich und zeitlich von A nach B und mit Hilfe von C vollzogen wird. Ich unterscheide in diesem Prozess also zwischen initiierenden, mediatisierenden und rezipierenden Instanzen bzw. Prozessen. Anders gesagt: Der Kulturtransferansatz „hat

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[…] dazu beigetragen, Kulturbeziehungen und Kulturaustausch als dynamische Prozesse zu betrachten, in deren Verlauf sich die transferierten Artefakte häufig grundlegend wandeln, transformieren, an die Kommunikationsstile, Werte und Erwartungshaltungen der Zielkulturen angepasst oder ausgerichtet werden […].“ (Lüsebrink, 2013, S. 39)

Mir scheint, diese Definition hätte auch in einem Handbuch für Komparatisten stehen können. Ein Blick auf die Forschung in Frankreich: Es ist bekannt, dass Michel Espagne einer der ersten französischen Spezialisten war (wenn nicht der erste), der den Begriff des transfert culturel in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt hat. Als französischer Germanist und Komparatist konzentriert er sich auf ein Paradigma, das aus historischen und politischen Gründen auf viele Forscher eine besondere Faszination ausübt, nämlich auf die deutsch-französischen Beziehungen. In einem Artikel von 2005 lieferte Espagne einen programmatischen Entwurf, in dem es gerade um gewisse Vorbehalte gegenüber der Komparatistik und um die Vorteile der Kulturtransferforschung geht: „Es geht natürlich nicht darum, den Wert komparatistischer Vorgehensweisen im Allgemeinen in Frage zu stellen, sondern ihre Tragweite nicht zu überschätzen, und zu verstehen, dass es sich nicht um einen Gemischtwarenladen handeln darf und dass es an einer kritischen Geschichte des Vergleichs und seiner Apriori auf grausame Weise mangelt. Die Kulturtransferforschung hat sich seit 1980 entwickelt […]. Sie privilegiert die Phänomene der Wiederaneignung und der Resemantisierung eines importierten Kulturguts und sie beobachtet, was dieser Aneignungsprozess über den aufnehmenden Kontext aussagt. Ihre Aufmerksamkeit gilt vor allem der sozio-kulturellen Analyse der Vermittlungsorgane. […]. Die Kulturtransferforschung kombiniert sehr bewusst Elemente der Sozialgeschichte mit hermeneutischen Elementen. Vielleicht unterstützt sie gerade darin besonders die Geisteswissenschaft („sciences humaines“), die sich mehr als andere Disziplinen untersagen muss, strikt im nationalen Rahmen zu arbeiten“.1

1 „Il ne s’agit 8videmment pas de remettre en cause la validit8 de toute approche comparatiste, mais d’en limiter la port8e, d’observer qu’il ne peut pas s’agir d’une panac8e, et qu’une histoire critique de cette m8thode et de ses a priori fait cruellement d8faut. La recherche sur les transferts culturels s’est d8velopp8e / partir des ann8es 1980 et a donn8 lieu / suffisamment de textes programmatiques pour qu’il ne soit pas n8cessaire d’en retracer ici les grandes lignes. Il s’agit de privil8gier les ph8nomHnes de r8appropriation et de res8mantisation d’un bien culturel import8, en tenant compte de ce que ce processus r8vHle sur le contexte d’accueil. L’attention porte tout particuliHrement sur une 8tude socio-culturelle des m8diateurs. […] La recherche sur les transferts culturels combine sans s’en cacher des 8l8ments d’histoire sociale avec des 8l8ments d’herm8neutique. Peut-Þtre cette combinaison la rend-elle plus attentive / l’histoire des sciences humaines qui, plus que toute autre, doit cesser d’Þtre envisag8e dans des cadres strictement nationaux.“ (Auszüge aus Michel Espagne, Les Transferts culturels.; vgl. das online-Programm: http://geschichte-transnational.clio-online.net/forum/id=576& type= artikel).

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Der Artikel von Espagne ist Teil eines 2005 organisierten Forums, das vor allem die Methodologie der Geschichtswissenschaften hinterfragt und dabei den Vergleich als zentrales Procedere zur Diskussion stellt. Der Vergleich befindet sich seit einigen Jahrzehnten unter anderem deshalb im Fokus der Historiker, weil diese die transnationale Perspektive für sich (wieder)entdeckt haben. Was nun die Kritik am komparatistischen Verfahren betrifft, so möchte ich es etwas polemisch ausdrücken: Diese Kritik hinterlässt bei mir keine Depressionen. Denn von der Neuartigkeit der Thesen Espagnes bin ich mitnichten überzeugt. Ich zitiere einige Begriffe aus dem präsentierten Textabschnitt: „kulturelles Gut“, „Aneignung“, „aufnehmender Kontext“, Vermittlungsorgane, Remantisierung – analytische Kategorien, die das Geschäft des Vergleichens neu orientieren sollen. Nun stellt sich das Schicksal des Vergleichs sicherlich nicht so dramatisch dar, wie Espagne das beschreibt. Die These vom methodischen „Allerlei“ („panac8e“) greift in vielen Fällen nicht mehr ; inzwischen haben viele Komparatisten, ich kann hier nur von der deutschen Komparatistik sprechen, sich mit der Systematik des Vergleichs, auch und gerade unter kulturwissenschaftlichen Voraussetzungen, auseinandergesetzt. (Corbinau-Hoffmann, Hölter, Chr. Moser, Schmitz-Emans, Schmeling, Sollte-Gresser, Zima, Zymner u. a.) Einen guten Überblick über Einzelprobleme, vor allem auch theoretischer Art, liefert neuerdings das von Rüdiger Zymner und Achim Hölter herausgegebene Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis (2013). Richtig ist die auch von Espagne vertretene Auffassung, dass eine geschlossene und umfassende Darstellung des Vergleichs in Form einer methodologischen Entwicklungsgeschichte ein ebenso schwieriges wie neuartiges Unternehmen wäre und dass hier Nachholbedarf besteht. Fragen möchte ich allerdings: Wie originell ist der Gedanke, wonach die Transferforschung die Phänomene der Wiederaneignung und der Resemantisierung kultureller Güter erforscht? Wer sich zum Beispiel mit der Rezeptionstheorie im Gefolge von Hans-Robert Jauss auseinandergesetzt hat, weiß, dass die Komparatistik genau dieses Phänomen häufig aufgegriffen hat. Die Dynamik der Beziehung zwischen Ausgangs- und Zielkultur zu untersuchen – auf das Problem der bilateralen Konstellationen komme ich noch zurück –, das heißt interkulturelle Beziehungen nicht als etwas Statisches, sondern als einen zeitlichen Prozess zu erkennen, der entscheidend von sich verändernden Kontexten und auch, wie Jauss es formulierte, von wechselnden „Erwartungshorizonten“ abhängig ist – das ist nun gewiss kein wissenschaftliches Thema, das die Transferforschung erfunden hätte. Es mag sein, dass eine gewisse Akzentverschiebung stattfand. Begriffe wie Einfluss, Wirkung, Rezeption, Image und Imagologie etc. werden von der Kulturtransfer-Forschung gerne in Frage gestellt. Aber haben sich die Themen und Perspektiven auf die Gegenstände wirklich verändert? Oder nur die Nomenklaturen? Ein besonders ergiebiges Gebiet war und bleibt in diesem Zusam-

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menhang die Übersetzungsforschung, die ja von jeher die materiellen und geistigen Bedingungen der sprachlichen Transformation von Texten an den Schnittstellen von Rezeptionsforschung und vergleichender Perspektive untersucht. Hier wären u. a. die Arbeiten von Fritz Nies (2002) zu nennen. In der französischen Komparatistik sind die Untersuchungen von Yves Chevrel in diesem Sinne vorbildlich (vgl. Histoire, 2012). Christine Lombez zählt zu den jüngeren Forschern in Frankreich, die den Transfer-Begriff mit dem Vergleich assoziiert und für die Übersetzungsgeschichte fruchtbar gemacht haben. (Lombez/von Kulessa, 2007) In diesen Forschungen geht es letztendlich um unstabile literarische Gegenstände, um Texte, die durch Übersetzung umgestaltet, mitunter auch manipuliert wurden. D. h. die Übersetzungsforschung konzentriert sich naturgemäß auf die Vermittlungsebene und auf die empfangende Kultur, auf den Leser und Verarbeiter fremder Texte: „un texte n’existe vraiment (…) que lorsqu’il est lu“, schreibt Yves Chevrel (2009, 42)2. Nun fällt auf, dass in der theoretischen Diskussion über Vergleich und Transfer die Literatur – sieht man von der Saarbrücker Diskussion, die auch literaturwissenschaftliche Akzente setzte, einmal ab – bisher eher eine marginale Rolle zu spielen scheint. In Deutschland, wo die Kulturtransferforschung mit dem Gebiet der Interkulturellen Kommunikation praktisch identisch ist, hat man immer wieder Wert auf den Sachverhalt gelegt, wonach die literaturwissenschaftliche Komparatistik diesen Disziplinen dem Umfang nach untergeordnet und methodisch eindimensionaler ausgerichtet sei. Hans-Jürgen Lüsebrink, der in Saarbrücken das Fach „Interkulturelle Kommunikation“ vertritt, weitet die Spanne seiner Forschungen zum Beispiel auf jede Art von kulturellen Gegenständen aus: „Kulturtransfer – oder ,interkultureller Transfer‘ – als Gegenstandsbereich interkultureller Praxis, Lehre und Forschung betrifft also nicht einen bestimmten kulturellen Sektor, sondern die Übertragung von Ideen, kulturellen Artefakten, Praktiken und Institutionen aus einem spezifischen System gesellschaftlicher Handlungs-, Verhaltens- und Deutungsmuster in ein anderes.“ (Lüsebrink 2, 2008, S. 129) Neben den unterschiedlichen Medien wie Literatur, Film und Kunst sind in dieses Arsenal von Gegenständen z. B. auch Kleidungs- und Essensgewohnheiten, soziale und wissenschaftliche Einrichtungen oder kulturelle Rituale einbezogen. Mir scheint, dass die Unterschiede weniger auf der Ebene der Gegenstände als in der Methodologie sichtbar sind. Stehen literarische Texte im Fokus, so wird der Vergleich immer beide methodische Perspektiven berücksichtigen müssen, genetische – Entstehungsprozesse, Transferbedingungen und vermittelnde Instanzen zwischen abgebender und 2 Vgl. Kap. II: R8ceptions de l’oeuvre 8trangHre. Vgl außerdem ders., on-line-Artikel: ,La r8ception des literatures 8trangHres‘, http://revistas.ucm.es/index.php/THEL/article/viewFi le/THEL9595230083A/34125: S. 91.

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aufnehmender Kultur – und frei kontextualisierende im Sinne einer vom Gegenstand unabhängigen Berücksichtigung historischer, soziologischer, psychologischer, ästhetischer Perspektiven. Letzteres unterscheidet die literaturwissenschaftliche Komparatistik vom Kulturtransferansatz. „Das vergleichende […] Vorgehen setzt Phänomene miteinander in Beziehung, die einen gemeinsamen, ,vergleichbaren‘ Kernbereich aufweisen und zugleich durch Unterschiede gekennzeichnet sind, aber nicht zwangsläufig in Beziehungen – etwa kultureller, kommunikativer oder politischer Art – miteinander stehen.“ (ebd., S. 33)

Beide Ansätze, der literarische Vergleich und der Kulturtransferansatz, leben in der Tat von genetischen Beziehungen zwischen den Vergleichsgegenständen. Die Komparatistik geht aber darüber hinaus und praktiziert zum Beispiel auch den assoziativen bzw. ahistorischen Vergleich, der sich jenseits von Kontakten und Einflüssen auf der Lektüreebene, gleichsam als die kreative, dialogische Arbeit des Interpreten vollzieht. Komparatisten haben in diesem Zusammenhang – eher selbstironisch – vom Vergleich als einem „illegitimen Verfahren“ gesprochen. (Solte-Gresser, 2013, S. 31 ff) So können intertextuelle Bezüge, wie im Falle der Auseinandersetzung zwischen Thomas Mann und Romain Rolland, genetisch sein, sie können aber auch außerhalb des Textes im Horizont des Lesers entstehen. Kafka mit Cervantes oder Flaubert zu vergleichen – wofür es bei Kafka kein klares genetisches Argument gibt – wäre somit kein Sakrileg.

Kritische Fragen an die Transferforschung Der Vergleich ist also in diesem Fall die Konsequenz einer forschenden, einer dialogischen, einer deutenden Aktivität des Lesers oder Interpreten; er liegt häufig nicht unmittelbar auf der Hand. Ein zu restriktiver Umgang mit dem Vergleich widerspricht im Übrigen dem Toleranz-Ethos der Komparatistik. Und weil das so ist, weil komparatistische Offenheit und Horizontvergrößerung etwas wissenschaftlich Faszinierendes sind, finden immer mehr philologische Lehrstühle das Vergleichen so ,sexy‘! Das hat nichts mit Wilderei zu tun, sondern der Vergleich bedeutet – immer begleitet von der notwendigen methodischen Reflexion – eine Erkenntnishilfe, nicht nur im Umgang mit Kunst und Literatur. Man beobachtet in letzter Zeit eine verwirrende Zersplitterung und Überdifferenzierung analytischer Vorgänge und Begriffe in Bezug auf den Vergleich, dergestalt, dass die praktische Anwendung sehr schwierig wird. Teilweise verselbstständigt sich auch der – mehr oder weniger metaphorische – analytische Jargon in einer Weise, dass die beabsichtigte Differenzierung letztlich die methodischen Unterscheidungen vernebelt. Beispiele aus dem Arsenal der Metaphorik: französische Termini wie transfert culturel, regard crois8, histoire

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crois8e, circulation, transposition, transplantation, auf deutscher Seite Kulturtransfer, Verflechtung, Grenzüberschreitung, Übertragung, Transdifferenz usw.. Dessen ungeachtet sind einige grundlegende Überlegungen wie z. B. in dem von Michael Werner und B8n8dicte Zimmermann herausgegebenen Sammelband De la comparaison / l’histoire crois8e (2004a) auf einer bestimmten, einer sehr abstrakten Reflexionsebene anregend, aber die Frage bleibt, ob für die konkreten Analysen wirklich etwas gewonnen wird. Nachdem Espagne nun schon an der Ideologie des Vergleichs gerüttelt hat, entwerfen Werner und Zimmermann ein Konzept, das Vergleich und Transfer gleichermaßen hinterfragt. Der Hauptvorbehalt, die verschiedenen Ansätze von vergleichender Forschung und von Transferforschung ignorierten das dritte Glied in der analytischen Aktivität, nämlich die Standortbezogenheit des Betrachters, ist alles andere als revolutionär. Erkenntnistheorie und Hermeneutik haben dieses Problem seit eh und je auf ihre Fahnen geschrieben. Die Autoren „legen den Akzent auf die reflexiven Aspekte und die gegenseitige Beziehung zwischen Forscher und Forschungsgegenstand“. (Werner/Zimmermann, 2004a, S. 12)3 Sie sprechen in diesem Zusammenhang von der „Asymm8trie“ der Vergleichssituation und fordern, „dass die Perspektive des Betrachters den Gegenständen gegenüber in jeweils gleichem Abstand platziert sei, damit eine symmetrische Sicht entstehe“. (Werner/Zimmermann, 2004b, S. 17)4 So weit so gut, aber bezeichnend für diesen eher spielerischen Umgang mit methodischen Ideen ist dann das Eingeständnis, „que ce point de vue, s’il para%t th8oriquement pensable, est inaccessible dans la pratique de la recherche.“ (ebd.) Es handelt sich hier in der Tat um eine interessante Diskussion über die soziokulturellen, die geschichtlichen oder allgemein-geistigen Apriori des analytischen Verstandes, ganz zu schweigen von psychologischer Konditioniertheit – ähnlich wie das im postkolonialen Kontext aufgeworfene Problem des „eurozentrisch“ vorgeprägten Vergleichers, ein Problem, das man ausweiten kann auf jede Art von kultureller Befangenheit, ja auf ganz allgemeine Vorprägungen wie ,cartesianisches‘, ,sozialistisches‘, ,westliches‘ Denken etc. Die analytischen Kategorien selber, das betonen auch Werner und Zimmermann, können bereits unterschiedlichen nationalen Traditionen angehören (ebd., S. 20). Wenn es einerseits richtig ist, dass die impliziten Referenzen und ,a priori‘ des Vergleichs wie auch der Transferanalyse im Idealfall so genau wie möglich ausgeleuchtet werden sollten, stößt diese Analyse meines Erachtens schon deshalb an ihre Grenzen, weil implizite Vorgänge schwer zu dokumentieren sind. 3 „Introduction“, S. 12: „mettent l’accent sur la dimension r8flexive et les formes de r8troaction entre le chercheur et son terrain“. 4 „que le point de vue soit id8alement plac8 / 8quidistance des objets, de faÅon de produire une vision sym8trique“.

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Möglicherweise wäre auch zwischen den Disziplinen stärker zu differenzieren, denn in diesem konkreten Fall werden in den weiteren Beiträgen des Bandes ausschließlich historische Beispiele analysiert, literarische Texte hingegen mitnichten. Und wenn in der Transferforschung von ,kulturellen Objekten‘ die Rede ist, so werden die speziellen, insbesondere die hermeneutischen und ästhetischen Bedingungen des literarischen Transfers zumeist ignoriert. Ein entsprechendes Paradigma liefert uns zum Beispiel Kafkas Der Verschollene, wo ein bestimmtes Amerika-Bild vermittelt wird. Da Kafka aber nie in Amerika war, sondern sein Wissen aus Reisebeschreibungen bezieht, handelt es sich hier um eine reine Konstruktion. Die Vergleichssituationen multiplizieren sich: Der Leser, respektive der Komparatist, vergleicht, was der Autor intertextuell bereits verglichen hat, indem er Eigenes und Fremdes miteinander in Beziehung setzt (exogene Vergleichsebene Kafkas). Aber es gibt eine dritte (endogene) Ebene: Das Staunen des Protagonisten über die „förmlich abgehackten Häuser“ New Yorks und der Vergleich mit „der Heimatstadt Karls“ ist indes Ausdruck der subjektiven Innenperspektive Karl Rossmanns (Kafka, 2003, S. 45). Die literarische Analyse erfordert somit eine differenzierte Auseinandersetzung mit Perspektiven und Vermittlungsprozessen, die über die empirischen Zusammenhänge des Transfers hinausgehen. Ein weiterer Punkt, den sowohl Espagne als auch Werner/Zimmermann in ihren Büchern aufgreifen, scheint mir für die Diskussion über Vergleich und Transfer wichtig zu sein. Wenn sich der Transfer innerhalb einer Bewegung vollzieht, die vom Zustand einer Ausgangskultur hin zu einer Zielkultur führt („d8placement“ und „appropriation“), so bedingt das für die Analyse zunächst eine diachronische Perspektive, sagen die Autoren. Der Vergleich hingegen „tend / priviligier la synchronie“ (Werner/Zimmermann, 2004b, S. 19), weil er die Gegenstände zunächst einmal aus der zeitlichen Bindung heraushebt, um sie einander (bi- oder multilateral) gegenüberzustellen. Espagne schreibt: „Le comparatisme met en parallHle des constellations synchroniques sans prendre suffisamment en ligne de compte la succession chronologique de leurs interf8rences.“ (Espagne, 1999, S. 37) Auch in diesem Fall bleiben die Autoren bei einer nicht ganz zutreffenden Verallgemeinerung stehen. Denn der Vergleich hat immer zwei Seiten, eine synchronisch-typologische und eine genetisch-diachronische. Jeder komparatistische Gegenstand resultiert aus dieser dialektischen Verbindung. Einerseits vollziehen und verändern sich kulturelle Kontakte in Abhängigkeit von historischen Prozessen, andererseits benötigt man für den Analysevorgang bestimmte Kriterien des Vergleichs, das, was ich als das ,tertium comparationis‘ bezeichnet hatte. Ich spreche wieder für die Literatur. Im Grunde wird der Vergleichenden Literaturwissenschaft einmal mehr unterstellt, dass sie auf historische Kontextualisierung verzichtet – was nicht der Fall ist.

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Ein letzter methodischer Aspekt: Generell desavouiert die Transferforschung – wie übrigens auch die postkoloniale Theorie – den binären Vergleich als einen statischen Akt, der an der Dynamik des Gegenstandes vorbeizielt. Kultur sei aber ein Prozess und keine abgrenzbare Entität. In diesem Zusammenhang arbeitet die Komparatistik gerne auch mit dem Begriff der kulturellen Hybridisierung, der ja auf ,fließende Identitäten‘ zielt. Ganze Armeen von Doktoranden untersuchen inzwischen hybride Texte von kulturell hybriden Grenzgängern und kommen nicht selten zu hybriden Ergebnissen! Aber wir haben es hier mit einem Phänomen der methodischen Logik zu tun. Natürlich gibt es zahlreiche Autoren, die zwischen den Kulturen leben und sozusagen gespalten, dezentralisiert, sich selbst entfremdet sind – was sich dann in ihren Texten in der Hybridisierung kultureller Verortung, mitunter auch ästhetischer Procedere, spiegelt. Das eine ist ein empirischer Sachverhalt; davon zu unterscheiden ist jedoch die Art unseres analytischen Vorgehens: Wir werden immer nur das eine mit dem anderen und das andere, das dann das eine wird, wieder mit dem anderen etc. etc. vergleichen können – binär, tertiär, multilateral. Wir lösen die Mischung – sagen wir in den Satanischen Versen von Salman Rushdie: Indischsein und Englischsein – sozusagen auf, damit wir die interkulturelle Situation zwischen den Polen überhaupt erfassen können. Entsprechendes gilt für den Kulturtransfer als Prozess. Ein Kulturbegriff, der das Prozesshafte und Fließende betont, bedeutet nicht, dass ich auf Anfangs- und Endpunkte verzichte. Die Formel von A nach B durch Vermittlung von C ist immer gültig.

Transfer und Vergleich: Ein deutsch-französisches Paradigma Für viele Schriftsteller aus dem deutsch-französischen Raum sind die Beziehungen zwischen den beiden Ländern ein Schwerpunkt ihres Schaffens. Die Literatur ist wie durchtränkt von Beispielen, in denen vom gegenseitigen Kulturtransfer sowohl in kritischen Texten als auch auf fiktionaler Ebene die Rede ist. Exemplarisch in diesem Sinne sind Romain Rolland und Thomas Mann. Die beiden Nobelpreisträger stehen in einer Wechselbeziehung, die auf schriftlichen Äußerungen, auf kontroversem Meinungsaustausch beruht und sich in die ,histoire crois8e‘ deutsch-französischer Auseinandersetzungen einordnen lässt. Ich suche mir, ganz schulmäßig-komparatistisch, mein tertium comparationis und konzentriere mich auf zwei Vergleichsparameter : die Gattungstradition und die historisch-politischen Bedingungen zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Kulturtransfer entwickelt sich häufig auf der Grundlage persönlicher Biographien. Insbesondere die politische und psychologische Situation eines Autors zwischen den Kulturen hat immer großen Einfluss auf sein Denken und Handeln. Heute reden wir – kulturpolitisch aktuell – viel über postkoloniale

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Autoren. Aber die Probleme sind im Prinzip alles andere als neu. Romain Rolland hatte sich bei Kriegsbeginn in die Schweiz zurückgezogen, nicht, weil er wirklich gezwungen war, sondern weil er am Krieg nicht teilnehmen wollte und von der neutralen Schweiz aus dem Frieden am besten dienen zu können glaubte. Seine Situation erwies sich gleichwohl als schwierig: War er als Franzose während des Krieges schon manchem Deutschen suspekt, so unterstellten ihm seine französischen Kritiker geradezu Fahnenflucht und Verrat am Vaterland: „,Ce qu’on donne pendant la guerre / l’humanit8 est vol8 / la patrie‘“. Dieses Argument französischer Militärbehörden kolportiert Stefan Zweig in seiner 1942 posthum veröffentlichten Autobiographie. (Zweig, 2012, S. 277) Rolland befand sich somit ein Stück weit in einer Exilsituation. Der Aufbau eines umfangreichen sozialen und intellektuellen Netzes war später auch für Thomas Mann, als er sich erst in der Schweiz und anschließend in den Vereinigten Staaten im Exil befand, die Grundlage für neue internationale Kontakte, wobei die Ursachen und die interkulturellen Konsequenzen des jeweiligen Exils sich allerdings deutlich unterscheiden. Die Schweiz, die um 1914 ein Treffpunkt von Künstlern, Schriftstellern, Politikern, Pazifisten und Emigranten jeglicher Couleur war, galt Rolland als geradezu idealer Ort, um gegen den Krieg anzuschreiben. In seinem Journal des ann8es de la guerre 1914–1918 (Rolland, 1952) findet man unter Hunderten dort zitierter Briefe ein Antwortschreiben an einen Kritiker (Gabriel S8ailles), in dem Rolland sein Schweizer Exil folgendermaßen begründet: „Ich glaube, dass kaum ein Mensch in den letzten zehn Jahren, zumindest nicht seit Beginn des Krieges, mehr geistigen Handel mit Menschen getrieben hat als ich“. (Man denkt bei der Metapher des „geistigen Handels“ an Goethe, der mit Blick auf die Entstehung einer ,Weltliteratur‘ vom „freien geistigen Handelsverkehr“ sprach5.) Und Rolland fährt fort: „Wenn ich mich momentan in der Schweiz niedergelassen habe, dann weil dieses das einzige Land ist, in dem ich die Verbindung zu den geistigen Vertretern aller Nationen aufrecht erhalten konnte. Hier fühle ich den Puls von Europa im Kriege schlagen […]“. (Rolland, 1952, S. 213)6

Im selben Kriegstagebuch schildert der Autor sehr konkret seine Rolle als Leser und Korrespondent internationaler Zeitungen sowie seine unzähligen Kontakte 5 Johann Wolfgang Goethe, MA 18.2: Letzte Jahre 1827–1832, hg. von Johannes John u. a., München: Hanser 1986, S. 181. 6 Antwort an Gabriel S8ailles vom 15. Jan. 1914: „Je crois que peu d’hommes ont 8t8 depuis dix ans en commerce spirituel avec plus de personnes. Mais jamais plus que le d8but de la guerre. Si je me suis fix8 momentan8ment en Suisse, c’est que c’est le seul pays oF je pouvais continuer de me maintenir en relation avec des esprits de toutes les nations. Ici, je puis sentir battre le pouls de cette Europe en guerre […].“

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mit der internationalen ,Elite‘, mit Intellektuellen wie Georg Brandes, Stefan Zweig, Schickele, Hesse, G.B. Shaw, H. G. Wells, Gorki, Tagore oder Ghandi. Stefan Zweig bezeichnete ihn einst als „das Gewissen Europas“ (Zweig, 2012, S. 235). Dieser Stellenwert begleitet Rollands Schaffensprozess und Rezeption geradezu klischeehaft. Bildeten deutsche Kultur und deutsche Tradition (Goethe, Beethoven) einen deutlichen Schwerpunkt seiner Interessen, so waren übergeordnete Ziele, wie transnationaler Pazifismus, Kosmopolitismus, Freiheitsliebe etc., immer mitbestimmend für Leben und Werk. Seine Beschäftigung mit außereuropäischen Kulturen, insbesondere mit Indien, beeinflusste seinen Werte-Kodex ebenso wie die vorübergehende Bewunderung der russischen Revolution und des Kommunismus. Seine Gedanken und Ideen bewegen sich zwischen konkret-kritischen Stellungnahmen und quasi-mystischen Abstraktionen, zwischen kulturspezifischen Betrachtungen und dem Glauben an universelle Harmonie und Brüderlichkeit – pathosgeladene Kategorien, die heute zu historischer Distanz einladen sollten. Seine Faszination für die deutsche Musik, etwa die Werke Beethovens (Vie de Beethoven, 1903), sowie für die Kunstgeschichte (Vie de Michel-Ange, 1905), seine Rolle als Romancier (Hauptwerk Jean-Christophe, 1904–1912), seine Dramen und Übersetzungen etc. kennzeichnen ihn einerseits als Kunstverständigen und Literaten. Andererseits präsentiert er sich immer wieder als politischer Essayist, als Mahner in Krisenzeiten, wie z. B. in der Aufsatzsammlung Au-dessus de la mÞl8e (1915), deren ursprünglicher Titel – Au-dessus de la haine – gleichsam für den großen moralischen Anspruch seines Gesamtwerks stehen könnte.

Goethe-Rezeption im deutsch-französischen Kontext Umstritten, in Frankreich wie in Deutschland, war Rolland zunächst als Verfasser des Jean-Christophe – ein Roman, der dem damaligen Zeitgeist gegenseitigen Misstrauens zu widersprechen schien. Welches Deutschland- und welches Frankreichbild vermittelt der Autor zwischen hüben und drüben? Unter anderem thematisiert er in seinem Roman die Empfindungen Goethes um 1813 (Völkerschlacht bei Leipzig), um Goethes Situation mit der seines Helden, den Gefühlen und Reflexionen des deutschen Musikers Jean-Christophe Krafft zu vergleichen. Ich hatte betont, dass kulturelle Transferbewegungen durch vermittelnde Instanzen realisiert werden. Vermittlungsprozesse wiederum bedingen Veränderungen, Interpretationen, auch Abwehrhaltungen seitens der aufnehmenden Kultur. Zur historischen Kontextualisierung gehört die Tatsache, dass Romain Rolland sich in die Geschichte der französischen Goethe-Rezeption von Madame de Sta[l bis zum beginnenden 20. Jahrhundert einreiht. Welche Rolle spielen französische Missverständnisse in Bezug auf Goethe, den die

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Werther-Leser Frankreichs zum Romantiker machten, während Goethe Teile der Romantik (ETA Hoffmann) als ,Krankheit‘ desavouierte? Welche Bedeutung hat die Gattungstradition des deutschen Bildungs- bzw. Künstlerromans für das Werk eines französischen Romanciers, der die deutsch-französischen Beziehungen mit dem Transfer von Goethe und Beethoven verknüpft? Thomas Mann wird später behaupten: „Sein großes Prosawerk ist keine Gesellschaftskritik französischer Observanz, sondern ein Bildungs- und Entwicklungsroman im deutschen Stile […]“. (Mann, 1983, S. 164) Was immer das Motiv des deutschen Autors für diese vereinnahmende Rezeption sein mag, sie wirft ein Licht auf die transkulturellen Wechselwirkungen zwischen Deutschland und Frankreich. Das dürfte auch für die weitere Entwicklung gelten. Bekanntermaßen verknüpft auch Thomas Mann im Doktor Faustus Zeitgeschichte mit der individuellen Bildungsgeschichte eines Künstlers. Vor dem historischen Hintergrund deutsch-französischer Beziehungen und mit Blick auf die Entwicklung der Gattungstradition des Künstler- und Bildungsromans beide Autoren miteinander zu vergleichen, ist daher eine ebenso sinnvolle wie lohnende Aufgabe. Ich kann das im gegebenen Rahmen nur als Programm formulieren. Anhand der Romane Rollands und Thomas Manns läßt sich unter anderem nachweisen, wie sehr der universalistische Kulturbegriff Rollands von der bürgerlich-nationalen Konzeption einer ,deutschen‘ Weltliteratur abweicht. Beide Autoren sahen sich in der Tradition Goethes und seiner Idee der Weltliteratur. Aber Thomas Mann betrachtet Goethes Konzept gleichsam als ein national gewachsenes Erbe, dass der abstrakten Internationalität und dem kosmopolitischen Humanismus Rollands entgegensteht. Ein weiterer Aspekt: Wie wirken sich die in den beiden Nachbarländern unterschiedlich gewachsenen Nationen-Konzepte auf die Kontroverse aus? Bekanntlich ist die Vorstellung einer deutschen Nation eine späte Geburt, denn als wirkliche Einheit existierte diese Nation erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zu Frankreich bestand Deutschland bis dato aus Teilstaaten. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 war für die Entwicklung eines nationalen Bewusstseins in Deutschland ein entscheidender Faktor. In diesem Krieg schlug das preußische Militär die Franzosen und schuf damit die Voraussetzungen für die Gründung des Deutschen Kaiserreichs, die mit der Krönung Wilhelms I. zum deutschen Kaiser im Schloß von Versailles am 18. Jan. 1871 vollzogen wurde. Nachdem Frankreich auch noch die Abtretung von Elsass und Lothringen sowie Kriegszahlungen an den Sieger in Höhe mehrerer Milliarden Goldfranken akzeptieren mußte, ist es nicht verwunderlich, dass das Deutschlandbild der Franzosen zu dieser Zeit, d. h. nur ca. vierzig Jahre später, mit einem Roman wie Jean-Christophe nicht harmonieren konnte. Aber die Kontroverse zwischen Romain Rolland und Thomas Mann entzündete sich weniger am Roman, als an einem Disput über Krieg oder Frieden, der in

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Presseerzeugnissen wie Neue Deutsche Rundschau oder Journal de GenHve medial vorbereitet wurde. In Au-dessus de la mÞl8e, publiziert 1914 in Form einer Artikel-Sammlung, verschärft sich der Ton deutlich, nachdem Thomas Mann seine auch aus heutiger Sicht sehr irritierenden Gedanken im Kriege veröffentlicht hatte. In seinem Essay zeigt sich Rolland mit Deutschland und der deutschen Kultur bestens vertraut, im Positiven wie im Negativen. Zur positiven Leitfigur zählt einmal mehr Goethe. Letzteres gilt im übrigen nicht nur für Rolland, sondern zum Beispiel auch für Andr8 Gide, der kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges (1919) den schönen Satz formulierte: „La Prusse a si bien asservi l’Allemagne qu’elle nous a forc8s de penser : Goethe 8tait le moins allemand des Allemands“. (Gide, 1919, S. 46)

Solche Beispiele verweisen auf eine zentrale Unterscheidung innerhalb des französischen Lagers: nämlich auf die Unterscheidung zwischen dem guten oder alten Deutschland einerseits und dem bösen Deutschland, d. h. dem preußisch-militaristischen Staat, andererseits. Diese Einschätzung zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Schriften vieler französischer Intellektueller. Und auf der Grundlage dieser das Deutschland-Bild relativierenden Unterscheidung von Gut und Böse verfasste Rolland seinen Jean-Christophe (1904–1912) oder auch das AntiKriegsbuch Au-dessus de la mÞl8e (1914/15). In Jean-Christophe wird auf den letzten Seiten des Romans die aktuelle Situation Europas kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges thematisiert: „L’incendie qui couvait dans la forÞt d’Europe commencait / flamber.“ (Rolland, 1972, S. 452) Rolland beruft sich auch auf fiktionaler Ebene auf das Erbe Goethes, indem er Christophe, den deutschen Musiker, mit pazifistischem Gedankengut, universellem Geist und Empathie ausstattet: „Il se trouvait dans l’8tat d’esprit de Goethe en 1813. Comment combattre sans haine?“ Und er fährt fort: „Quand on est parvenu / un certain degr8e de l’.me, on ne connait plus de nations, on ressent le bonheur ou le malheur des peuples comme le sien propre“. (Ebd., S. 453) Aus den Gesprächen mit Eckermann vom 14. März 1930 übernimmt Rolland den zentralen Gedanken eines berühmten Goethe-Zitats, in dem es ebenfalls um die deutsch-französischen Beziehungen geht. Gegenüber Eckermann soll Goethe Folgendes geäußert haben: „Und, unter uns, ich haßte die Franzosen nicht, wiewohl ich Gott dankte, als wir sie los waren. Wie hätte auch ich, dem nur Kultur und Barbarei Dinge von Bedeutung sind, eine Nation hassen können, die zu den kultiviertesten der Erde gehört und der ich einen so großen Teil meiner eigenen Bildung verdankte!“ (Goethe 1986, 660)

Eckermann zitiert weiter Goethe: „Überhaupt, fuhr Goethe fort, es ist mit dem Nationalhaß ein eigenes Ding. – Auf den untersten Stufen der Kultur werden sie ihn immer am stärksten und heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den

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Nationen steht, und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß, […]“. (Goethe, Gespräche mit Eckermann, 1986, S. 660)

Das Beispiel demonstriert besonders deutlich, wie mit dem intertextuellen Transfer eine Art Zeitreise in die Vergangenheit und ihre historischen Kontexte unternommen wird. Einmal mehr stehen deutsch-französische bzw. europäische Kriegsereignisse zur Diskussion, wobei Rolland den Empathie-Gedanken und das universalistische Menschenbild Goethes aufgreift und in sein eigenes Ideal der Völkerverständigung integriert. Es sind solche idealistisch-emphatischen Töne inmitten beginnender Kriegswirren – die Öffnung gegenüber anderen Nationen erscheint bei Rolland gleichsam entpolitisiert und umfunktioniert zur Menschengüte und Bruderliebe –, die Thomas Mann in den Betrachtungen über viele Seiten hinweg mit ironischer Eloquenz kommentiert. Thomas Mann und Gerhardt Hauptmann gehören zur Zeit des Ersten Weltkrieges in der Tat zu den Antipoden Romain Rollands. Gegen sie, die auf der Grundlage ihrer nationalen Gesinnung ein eher positives Bild deutscher Kriegshandlungen zeichnen, wendet sich Rolland konkret in der Artikel-Sammlung Au-dessus de la mÞl8e, und zwar wiederum im Namen des guten, des alten Deutschland: „Je sais tout ce que je dois aux penseurs de la vieille Allemagne; et encore / l’heure pr8sente, je me souviens de l’exemple et des paroles de notre Goethe – il est / l’humanit8 entiHre – r8pudiant toute haine nationale […].“ Rolland, 2013, S. 47) Thomas Mann wird gegen Rolland sehr viel später gleichsam philosophische Gründe für die zwei Facetten des Deutschen geltend machen und in seiner Ansprache zum Goethejahr 1949 sagen: „Wir wollen auch nicht die populäre und schon abgeschmackte Unterscheidung mitmachen zwischen einem ,bösen‘ und einem ,guten‘ Deutschland und das erhabene Geburtstagskind als den Repräsentanten des ,guten‘ propagandistisch herausstellen. Großes Deutschtum hat von Gutheit soviel, wie Größe überhaupt davon haben mag, aber das böse Deutschland ist immer auch in ihm […].“ (Mann, 1985, S. 451)

Ein Gedanke, der an Faust erinnert.

Die Kontroverse um das „Au-dessus-Buch“ Hauptmann hatte die Zerstörung der belgischen Stadt Louvain in einem Artikel des Berliner Tageblatts (26. 08. 1914) gerechtfertigt und Thomas Manns Gedanken im Kriege (1914, vgl. auch Mann 1981) versuchten den Krieg auf der Grundlage seiner These vom Kampf der Kultur gegen die Zivilisation schönzureden. Die sich im Anschluss daran entwickelnde Diskussion zwischen den In-

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tellektuellen hüben und drüben war weit gestreut und ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „9tes-vous les petit-fils de Goethe, ou ceux d’Attila?“ fragt Romain Rolland in seinem „Lettre ouverte / Gerhard Hauptmann“ – Brief, der in die Sammlung Au-dessus de la mÞl8e aufgenommen wurde (Rolland, 2013, 49). Wie reagiert Thomas Mann? Die Auseinandersetzung mit Romain Rolland in den Betrachtungen eines Unpolitischen (1918–22) oszilliert zwischen freundlicher Nachsichtigkeit, Ironie und Polemik. Jedenfalls ist hier von einer pazifistischen Grundhaltung nichts zu spüren. Im Gegenteil: in dieser Phase seines schriftstellerischen Lebens vertritt der Autor die ausgesprochen kompromisslose Attitüde eines von der Notwendigkeit des Krieges überzeugten Menschen. Die Tatsache, dass er sein national zurückgebundenes Konzept mit der Forderung der Bürgerpflicht und mit pseudo-philosophischen Thesen unterstreicht – er spricht von der „teleologischen Funktion des Krieges“ –, macht die Sache nicht besser. „Ein Bürger aber, das weiß ich wohl, bin ich auch in meinem Verhältnis zu diesem Kriege. Der Bürger ist national seinem Wesen nach; […] Oft aber ist die teleologische Funktion des Krieges überhaupt nicht erkannt worden, daß er die nationale Eigentümlichkeit bewährt, erhält und bestärkt: er ist das große Mittel gegen die rationalistische Zersetzung der Nationalkultur […].“ (Mann, 1983, S. 115)

Der Krieg als Kampf der Kultur gegen die westliche Zivilisation! Und Rolland ist ihm ein Stück weit die Verkörperung dieser Zivilisations-Idee / la FranÅaise. Thomas Mann charakterisiert Rollands „unendlich-wohlmeinendes Kriegsbüchlein“ Au-dessus de la MÞl8e als „eine ausgemachte Selbsttäuschung“: „Ist denn nicht auch dieses ,Au dessus‘ eine naive Überheblichkeit und Unmöglichkeit im Europa von heute?“ (ebd. Mann, 1983, 163) Und er lässt sich zu der Bemerkung hinreißen, Rolland sei „ein Franzose mit Haut und Haar und also im Grunde ganz ohne kosmopolitische Begabung (…)“. (Ebd.) Im Umkehrschluss will er wohl sagen: Der Deutsche ist der geborene Kosmopolit. Es sagt das auch mehrfach explizit. Die Kontroverse ist zumindest partiell die Konsequenz der erwähnten Auseinandersetzung mit dem französischen Zivilisationsliteratentum und dem Bruder Heinrich. Rolland übernimmt in den Betrachtungen eines Unpolitischen eher eine Art Stellvertreterfunktion, denn der eigentliche – ungenannte – Protagonist ist Heinrich Mann. Es ist offensichtlich, dass Thomas Mann in den Betrachtungen pauschalisiert, wenn er einen Autor wie Rolland zu den politischen Köpfen Frankreichs, zu den rationalistischen Denkern in der Folge der Aufklärung zählt. Andererseits wird deutlich, dass der pazifistische Internationalismus des Franzosen, der zumindest kurzfristig mit der Russischen Revolution und dem Kommunismus liebäugelte, mit dem patriotisch eingefärbten Weltbürgertum Thomas Manns kollidierte. Ob Thomas Mann so unpolitisch

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war, wie sein Buchtitel es suggeriert, mag dahingestellt bleiben. Aber er polemisiert in eben diesem Buch gegen eine Haltung, die Literatur und politisches Engagement nicht trennt. Man muss jedoch zwischen dem frühen Thomas Mann und seiner Biographie nach 1920 unterscheiden. Verfolgt man den Weg von Manns Gedanken im Kriege bis hin zum Nationalsozialismus und zum Zweiten Weltkrieg, so wird man eine deutliche Entwicklung in seiner Auseinandersetzung mit der Nation, genauer, mit dem Verhältnis zwischen dem Staat einerseits und der Gesellschaft und ihren Intellektuellen oder Künstlern andererseits konstatieren. Die inzwischen kritische Haltung gegenüber der Nation als politischer Instanz hatte gewiss mit der immer stärkeren Selbstbetroffenheit des Dichters zu tun, der unter den Nationalsozialisten schließlich mit Bücherverbrennung, beruflicher Isolierung und Exil konfrontiert war. Gleichwohl war der geistige Stellenwert des Nationalen nach wie vor ein wichtiger Punkt seiner schriftstellerischen Existenz. Aus der historischen Distanz heraus, unter anderem 1932, in seiner Rede über ,Goethe als Repräsentant des Bürgerlichen Zeitalters‘, kann Thomas Mann jedoch die Grundlagen und Motive internationalen Denkens und Handelns klarer einordnen. Er tut das unter anderem im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Goethes Begriff der „Weltliteratur“. Nunmehr vertritt er mit Goethe die Auffassung, „daß es darauf ankommt, gerade für uns Deutsche, aus dem engen Kreis unserer eigenen Umgebung herauszublicken, um nicht individuell und national einem pedantischen Dünkel zu verfallen.“ (Mann, 1982, 174). Gegenüber den in den Betrachtungen formulierten Gedanken vollzieht sich ein deutlicher Gesinnungswandel. Thomas Mann sieht „viel Vorwegnahme in Goethe’s Statuierung der Weltliteratur“ aufgrund der „Beflügelung des Austausches, die sie brachte“ (ebd.,175). Mit anderen Worten: Zumindest indirekt nähert sich Thomas Mann hier der Position Romain Rollands wieder an – wenn man zugrunde legt, dass Rolland den geistigen Austausch mit fremden Nationen wie kaum ein zweiter Schriftsteller seiner Zeit gesucht hat.

Primärliteratur Franz Kafka, Der Verschollene, Frankfurt/Main 2003. Rolland, Romain: Jean-Christophe. Paris 1972.

Sekundärliteratur Chevrel, Yves: La lit8rature compar8e. Paris 2009. Espagne, Michel: Les transferts culturels franco-allemands. Paris 1999.

Transfer und Vergleich in der Literaturwissenschaft

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Eckermann, Johann Peter : Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Heinz Schlaffer. München 1986. Gide, Andr8: ,R8flexions sur l’Allemagne‘, in: Nouvelle Revue Francaise, ann. 69, nouv. S8rie, 1er juin 1919, S. 35–46. Histoire des traductions en langue franÅaise, XIXe siHcle, 1815–1914, dir. par Yves Chevrel, Lieven d’Hulst et Christine Lombez. Paris, Verdier 2012. Kaeble, Hartmut; ,Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?‘, in: H-Soz-Kult, 08. 02. 2005, http://www.hsozkult.de/hfn/article/id/artikel-574. Kaeble, Hartmut / Schriewer, Jürgen (Hg.): Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt/Main 2003. Lombez, Christine / Kulessa, Rotraud von (Hg.): De la traduction et des transferts, Paris 2007. Lüsebrink, Hans-Jürgen: Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer. Stuttgart / Weimar 22008. Lüsebrink, Hans-Jürgen: ,Der Kulturtransferansatz‘, in: Solte-Gresser, Christiane / Lüsebrink, Hans-Jürgen / Schmeling, Manfred (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart 2013, S. 37–50. Mann, Thomas: ,Gedanken im Kriege‘, in: Die neue Rundschau Nov. 1914/25. Mann, Thomas: ,Von Deutscher Republik‘. in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Politische Schriften und Reden in Deutschland, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt/ Main 1981, S. 7–24. Mann, Thomas: ,Goethe als Repräsentant des Bürgerlichen Zeitalters‘, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Leiden und Größe der Meister, hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/Main 1982, S. 145–180. Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/Main 1983. Mann, Thomas: ,Ansprache im Goethejahr 1949‘, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Über mich selbst, hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/Main 1985, S. 439–456. Midell, Matthias: ,Kulturtransfer und historische Komparatistik – Thesen zu ihrem Verhältnis‘, in: ders. (Hg.): Kulturtransfer und Vergleich. Leipzig 2000, S. 7–41. Nies, Fritz (Hg.): Spiel ohne Grenzen? Zum deutsch-französischen Transfer in den Geistesund Sozialwissenschaften. Tübingen 2002. Nünning, Ansgar : „Kulturwissenschaft“, in: ders. (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart / Weimar 52013, S. 427–430. Rolland, Romain: Journal des ann8es de guerre 1914–1918. Paris 1952. Rolland, Romain: Romain Rolland: Au-dessus de la mÞl8e, Paris 2013. Schenk, Günter / Krause, Andrej: Art. ,Vergleich‘, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried / Gabriel, Gottfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Darmstadt 2001, Sp. 676–680. Solte-Gresser, Christiane: Potenziale und Grenzen des Vergleichs. Versuch einer literaturund kulturwissenschaftlichen Systematik, in: Solte-Gresser, Christiane / Lüsebrink, Hans-Jürgen / Schmeling, Manfred (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart 2013, S. 23–35.

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Solte-Gresser, Christiane / Lüsebrink, Hans-Jürgen / Schmeling, Manfred (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart 2013. Welsch, Wolfgang: ,Transkulturalität – Die veränderte Verfassung heutiger Kulturen. Ein Diskurs mit Johann Gottfried Herder‘. On-line-Artikel: http://via-regia-kulturstrasse. org/bibliothek/pdf/heft20/welsch_transkulti.pdf. Welsch, Wolfgang: ,Auf dem Weg zur transkulturellen Gesellschaft‘, in: Allolio-Näcke, Lars / Kalscheuer, Britta / Manzeschke Arne: Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transzdifferenz. Frankfurt/Main 2008, S. 314–341. Werner, Michael / Zimmermann, B8n8dicte (Hg.): De la comparaison / l’histoire crois8e. Paris 2004a. Werner, Michael / Zimmermann, B8n8dicte (Hg.):,Penser l’histoire crois8e: entre empirie et r8flexivit8‘, in: Werner, Michael / Zimmermann, B8n8dicte (Hg.): De la comparaison / l’histoire crois8e. Paris 2004b, S. 15–49. Werner, Michael / Zimmermann, B8n8dicte: ,Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire crois8e und die Herausforderung des Transnationalen‘, in: Geschichte und Gesellschaft 2002/28, S. 607–636. Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/Main 2012. Zymner, Rüdiger / Hölter, Achim (Hg.): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis. Stuttgart / Weimar 2013.

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,Weltliteratur‘ im Spannungsfeld von theoretischer Reflexion und Übersetzung

I. Der Titel des vorliegenden Beitrags mag den einen oder anderen Leser stutzig machen: Inwiefern besteht zwischen der Konzeption der Weltliteratur und der Praxis des Übersetzens einerseits, der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung andererseits ein Spannungsverhältnis? Was ist an dieser Beziehung problematisch? Muss nicht eher davon ausgegangen werden, dass die drei Kategorien sich wechselseitig ergänzen und aufeinander aufbauen? Wenn der Begriff der Weltliteratur, sowohl in seiner ursprünglichen Goethe’schen Bedeutung als auch in aktuellen Verwendungsweisen,1 auf einen transnationalen literarischen Kommunikationszusammenhang, einen global dimensionierten Austausch zwischen Literaturen, Autoren und Lesern verweist, dann stellt die Übersetzung einen unverzichtbaren Bestandteil dieses Kommunikationssystems dar. Um Grenzen überschreiten und global zirkulieren zu können, müssen literarische Texte in andere Sprachen übersetzt werden. Die Praxis des Übersetzens ist für den globalen literarischen Austausch und somit für Weltliteratur konstitutiv.2 Weltliteratur umfasst zu einem überwiegenden Teil Werke, die in Übersetzung gelesen werden. Übersetzung ist ein unabdingbares Triebmittel des weltliterarischen Verkehrs. Ähnliches scheint, auf einer anderen Ebene, für die literaturwissenschaftliche Theoriebildung zu gelten. Sie stellt einen elementaren Bestandteil, wenn nicht gar die raison d’Þtre der Erforschung von Weltliteratur dar. Literaturtheorie 1 Zu Goethes Verständnis von Weltliteratur als Kommunikationsform vgl. Birus 1997ff., Sp. 825; Lamping 2010, S. 23–25. Eine daran anschließende, breit rezipierte aktuelle Definition von Weltliteratur bietet etwa Damrosch 2003, S. 4: „I take world literature to encompass all literary works that circulate beyond their culture of origin […]. In its most expansive sense, world literature could include any work that has ever reached beyond its home base, but […] a work only has an effective life as world literature whenever, and wherever, it is actively present within a literary system beyond that of its original culture.“ 2 Vgl. Damrosch 2003, S. 281: „World literature is writing that gains in translation.“

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strebt danach, die grundlegenden literarischen Formen, Gattungen und Darstellungstechniken zu erfassen. Sie zielt darauf ab, eine Grammatik der literarischen Formensprache zu erstellen, die transnationale Gültigkeit besitzt. Diese Grammatik ist das Resultat eines global ausgerichteten Vergleichs der Literaturen. Zugleich befördert sie umgekehrt die weltliterarische Kommunikation, konstituiert sie doch ein universal gültiges Formen- und Themenrepertoire des Literarischen, das es erlaubt, Darstellungsmuster, Techniken und Motive in ganz unterschiedlichen und scheinbar entlegenen kulturellen Kontexten wiederzuerkennen. Beide, Übersetzung und literaturtheoretische Grundlagenreflexion, stehen somit im Dienste der weltliterarischen Kommunikation und des transnationalen Verständnisses von Literatur. Sie gehen Hand in Hand in dem Bestreben, die weltumspannende Dimension literarischer Produktions- und Rezeptionsprozesse auszuweisen und zu realisieren. Bei näherem Hinsehen zeigt sich freilich, dass das Zusammenspiel von Weltliteratur, Theorie und Übersetzung weniger harmonisch ist, als es zunächst erscheinen mag. Der globale Austausch, der durch Übersetzung ermöglicht und von literaturtheoretischer Reflexion begleitet wird, weist Ungleichheiten und strukturelle Verwerfungen auf. Weltliteratur ist weniger inklusiv, als viele kosmopolitisch und humanistisch ausgerichtete Verfechter des Konzepts glauben machen wollen. Die Zahl der Zielsprachen des Übersetzens, die als globale Medien literarischer Kommunikation fungieren, ist eng begrenzt.3 Um weltweite Verbreitung zu erfahren, muss ein literarischer Text in einer der dominierenden Weltsprachen geschrieben oder in sie übersetzt worden sein. Zu ihnen zählt in erster Linie das Englische, des Weiteren das Französische, Spanische, Portugiesische und Deutsche. Werke, die in den sogenannten kleinen Literatursprachen verfasst sind, aber auch solche, die großen außereuropäischen Literaturen angehören, wie etwa der chinesischen, besitzen von vornherein vergleichsweise geringere Chancen, in eines dieser weltliterarischen Idiome übertragen zu werden. Folgt man dem Index Translationum der UNESCO, so findet sich unter den zehn bedeutendsten Zielsprachen der Welt nur eine einzige außereuropäische (das Japanische an Position 5),4 unter den zehn bedeutendsten Ausgangssprachen ebenfalls nur eine (das Japanische an Position 8).5 Einen hegemonialen Status als Leitmedium weltliterarischer Kommunikation hat sich im Zuge der jüngsten kulturellen und ökonomischen Globalisierungsprozesse das Englische erworben. „English-language writing is […], unlike writing in other languages, crucial to globalization’s machinery, both because of its role in digital media and 3 Zum Folgenden vgl. Beecroft 2015, S. 259–264 und Walkowitz 2015, S. 20–25. 4 Vgl. http://www.unesco.org/xtrans/bsstatexp.aspx?crit1L=4& nTyp=min& topN=50 [18. 01. 2018]. 5 Vgl. http://www.unesco.org/xtrans/bsstatexp.aspx?crit1L=3& nTyp=min& topN=50 [18. 01. 2018].

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commerce and because of its role as a mediator, within publishing, between other literary cultures.“ (Walkowitz 2015, S. 21) Das Englische fungiert als neue lingua franca und als privilegierte Vermittlungsinstanz. Werke, die auf Englisch geschrieben oder ins Englische übersetzt wurden, haben bessere Aussichten, auch in eine der anderen bedeutenden Zielsprachen übersetzt zu werden und somit ein globales Publikum zu erreichen.6 Literarische Texte legen es daher zunehmend darauf an, ins Englische oder in eine dieser dominierenden Zielsprachen übertragen zu werden. Sie besitzen, wie Emily Apter argumentiert, eine eingebaute „translatability“ (Apter 2002, S. 3). Sie arbeiten – von ihrer Form, Diktion und thematischen Ausrichtung her – der Übersetzung vor : „They have been written for translation from the start.“ (Walkowitz 2015, S. 3) Indem sie ihre Übersetzung ins Englische antizipieren, gewinnen sie ein anglomorphes Ansehen. Global English – ein von regionalen Besonderheiten bereinigtes Englisch – greift auf die in den Ausgangssprachen verfassten Werke über und sichert ihre internationale Marktgängigkeit.7 Um weltweit zirkulieren zu können, müssen sich Texte der Vorherrschaft dieses literarischen Idioms unterwerfen. Übersetzung gewährt literarischen Texten somit Zugang zum Zirkulationsraum der Weltliteratur, aber sie unterzieht ihn zugleich einer weitgehenden Beschränkung und Regulierung.8 Übersetzung ist ein konstitutiver Faktor des weltliterarischen Kommunikationszusammenhangs, doch fungiert sie gleichermaßen als ein Ausschließungsmechanismus, der ein Machtgefälle und Verhältnisse der Ungleichheit begründet. Das gilt auch für die literaturwissenschaftliche Erforschung von Weltliteratur und die darauf aufbauende literaturtheoretische Reflexion. Sie tendiert oft dazu, das angesprochene Machtgefälle zu festigen – insbesondere dann, wenn sie selbst sich einer der dominierenden Literatursprachen als Medium bedient und ihr Bild vom globalen Zusammenhang der Literaturen auf Kenntnissen beruht, die mit Hilfe von Übersetzungen gewonnen wurden. In diesem Sinne attackiert Gayatri Chakravorty Spivak „the arrogance of the cartographic reading of world lit. in translation as the task of Comparative Literature“ (2003, S. 73): Sie bezichtigt die komparatistische Weltliteraturforschung der Komplizenschaft mit kapitalistischen und neo-ko6 „English is not only a source of translations, the language from which translations often begin, it is also the most frequent medium of translations, the language through which texts in other languages move into yet additional languages.“ (Walkowitz 2015, S. 21) 7 Zum Konzept des global English vgl. Beecroft 2015, S. 260–263; vgl. auch Arac 2002, S. 35: „just as the dollar is the medium of global commerce, so is English the medium of global culture, producing ,one world‘“. 8 Beecroft fasst diese Beschränkung folgendermaßen zusammen: „The three dominant facts of the literary world in our time, then, are the general preponderance of English, the presence of a comparatively lively circulation of translated texts among European languages, and the general isolation of even very populous non-European languages from any kind of global literary system.“ (2015, S. 256)

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lonialistischen Praktiken der Ausbeutung. Unter solchen Prämissen gewinnt die eingangs skizzierte Spielart literaturtheoretischer Reflexion ein ominöses Ansehen: Die Grammatik der Formen, die sie erstellt, gerät in den Verdacht, eine bloße Extrapolation der literarischen Formen zu sein, die innerhalb der dominierenden (westlichen) Literaturen entwickelt wurden. Ihr vermeintlicher Universalismus erweist sich als humanistische Verbrämung kultureller Hegemonie. Ein anschauliches Beispiel dafür liefert Franco Morettis (2000) Versuch, die Evolution literarischer Formen in einem weltliterarischen Maßstab zu untersuchen. Laut Moretti verbreiten sich literarische Genres wie etwa dasjenige des Romans von einem regionalen Entstehungszentrum ausgehend wellenförmig über den Globus, um vor Ort Kompromissbildungen zwischen der originären Form und lokal spezifischen Gehalten einzugehen. (ebd., S. 58) Moretti schlägt eine Arbeitsteilung zwischen Nationalphilologien und Komparatistik bzw. Allgemeiner Literaturwissenschaft vor : Erstere sollen die besonderen Ausprägungen der Romanform in je spezifischen nationalen oder lokalen Kontexten untersuchen und die Werke zu diesem Zweck in der Originalsprache lesen. Letztere hingegen hat die Aufgabe, die den nationalen Ausprägungen zugrundeliegende globale Formensprache und ihre Evolution zu analysieren. Zu diesem Zweck soll sie ein „distant reading“ praktizieren, das nicht mehr die literarischen Texte selbst zum Gegenstand hat, sondern die Einzelstudien der Nationalphilologien auswertet und ihre Resultate synthetisiert. (ebd., S. 57) Um den theoretischen Ertrag ihrer Studien einzufahren, bedient sich diese Form von Komparatistik, wie auch Jonathan Arac kritisch bemerkt,9 unreflektiert der globalen lingua franca des Englischen. Für die Formensprache, die sie zu erfassen sucht, wie auch für die Sprache, die sie zur Kommunikation ihrer Forschungsergebnisse verwendet, gilt mithin, dass sie letztlich keinen universalen Charakter besitzt, sondern europäisch oder westlich geprägt ist. Dementsprechend denkt Moretti Weltliteratur als ein System, das eine Einheit bildet, aber in sich durch Verhältnisse der Ungleichheit gekennzeichnet ist: Das Zentrum, das den Ausgangspunkt der globalen Evolution von Formen bildet, ist in der Regel ein europäisches. (2000, S. 56) Die Verfahrensweise des „distant reading“, die er vorschlägt, ist nicht dazu geeignet, dieses hegemoniale Modell in Frage zu stellen – im Gegenteil: Zwischen der Verfahrensweise und dem eurozentrischen Konzept der Weltliteratur besteht ein systematischer Zusammenhang; beide verstärken sich wechselseitig.10 9 Arac 2002, S. 40: „[Moretti] ignores the actual role of English in contemporary globalization, even though English is the crucial enabling medium that makes possible his survey of all those continents and years.“ 10 Eine ähnliche Kritik wie an Morettis „distant reading“ könnte auch gegenüber dem Konzept des „refracted“ oder „detached reading“ vorgebracht werden, das David Damrosch mit „world literature“ assoziiert (vgl. Damrosch 2003, S. 297–300).

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Wie das Übersetzen trägt also auch der Theoriediskurs (bzw. eine bestimmte Spielart desselben) dazu bei, dass Weltliteratur sich als ein durch Ungleichheiten, Ausschlussmechanismen und Machtbeziehungen gekennzeichneter Zirkulationsraum etabliert. Das Zusammenspiel von Übersetzung und Theorie kann sich dahingehend auswirken, dass ein Literaturbegriff, der seiner Entstehung nach historisch und lokal bestimmt ist, universalisiert wird. Theorien der Weltliteratur stehen in der Gefahr, kulturell spezifische Literaturkonzepte zu essentialisieren; sie sind auf mehr oder weniger verborgene Weise ethnozentrisch. Wurde einem bestimmten Literaturbegriff auf diesem Weg erst einmal Anspruch auf globale Geltung vindiziert, so fungiert er als ein Ausschlussmechanismus. Dann finden nur noch solche Texte Eingang in die Sphäre des weltliterarischen Austauschs, die dem impliziten (zumeist westlichen) Literaturkonzept entsprechen. Solche Theorien der Weltliteratur rufen daher Gegentheorien auf den Plan – kritische Theorien, die die politischen Implikationen, ideologischen Prämissen und ethnozentrischen Beschränktheiten der ,herrschenden‘ Theoriediskurse zu entlarven suchen. Die postkolonialistisch ausgerichtete Komparatistik eines Edward Said oder einer Gayatri Chakravorty Spivak beispielsweise erhebt den Anspruch, eine solche theoretische Grundlagen- oder Metakritik zu leisten. Derartige theoretische Ansätze gehen nicht mehr Hand in Hand mit den Praktiken weltliterarischen Austauschs, sie bemühen sich vielmehr darum, Sand in das Getriebe globaler literarischer (und literaturwissenschaftlicher) Kommunikation zu streuen. Theorie begibt sich in eine spannungsreiche Frontstellung gegenüber der Weltliteratur(forschung) und macht ihr ein Defizit an kritischer Reflexion zum Vorwurf. Bezeichnenderweise sind solche Ansätze oft mit einer radikalen Skepsis gegenüber dem Status von Übersetzungen verbunden. Spivak etwa spricht sich vehement dagegen aus, in der Komparatistik mit Übersetzungen zu operieren. Sie fordert die Repräsentanten ihrer Disziplin dazu auf, auch solche Werke, die in vermeintlich entlegenen oder kleinen Literatursprachen verfasst sind, im Original zu studieren, und sich die entsprechenden Kompetenzen anzueignen. (Spivak 2003, S. 9ff.) Es fragt sich freilich, ob Ansätze, die dem Übersetzen mit einer derart weitgehenden Skepsis begegnen, nicht in der Gefahr stehen, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Tatsache, dass das Übersetzen im Rahmen des derzeit herrschenden globalen Literaturbetriebs dazu dienen kann, den Zugang zur Weltliteratur zu beschränken, sollte nicht dazu verleiten, es per se als Machtinstrument zu diskreditieren. Übersetzung kann als Ausschlussmechanismus fungieren, es kann solchen Mechanismen aber zugleich auch Widerstand entgegensetzen, ihre Funktionsweise aufdecken und behindern. Alternative Theorieansätze unternehmen denn auch den Versuch, das Übersetzen als eine ambivalente Praxis zu beschreiben, die das Regime globaler literarischer Idiome gleichermaßen zu stützen und zu obstruieren vermag. Rebecca Walkowitz etwa

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argumentiert, dass Texte, die ihre Übersetzung antizipieren und ihr sowohl formal als auch inhaltlich Rechnung tragen, nicht bloß unter dem Gesichtspunkt einer konformistischen Anpassung an globalisierte Marktverhältnisse gesehen werden können. Oft sind solche Texte nicht (oder nicht nur) für eine erhoffte Übersetzung geschrieben („written for translation“), sondern sie gerieren sich auch als Übersetzungen („written as translations“) oder markieren den Übersetzungsprozess als die maßgebliche Instanz ihrer eigenen Hervorbringung („written from translation“). (Walkowitz 2015, S. 4) Sie entstehen gleichsam als Übersetzungen (sie sind „born translated“, so die glückliche Formulierung, die Walkowitz [ebd., S. 3] für dieses Phänomen findet) und reflektieren auf den Übersetzungsvorgang, dem sie ihre eigene Existenz verdanken. Dergestalt verweisen sie auf die daran gekoppelten kreativen Möglichkeiten, aber auch auf die Probleme und Beschränkungen, die sich damit ergeben. Ein Werk, das seinen Status als (potenzielle) Übersetzung thematisiert, nimmt damit auch – und zuweilen durchaus kritisch – den transnationalen Zirkulationsraum in den Blick, in den es einzutreten sucht. Emily Apter geht in dem Bemühen, die Übersetzung als Reflexionsform zu profilieren, noch einen Schritt weiter als Walkowitz. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die den Texten antizipatorisch implantierte „translatability“, sondern auch auf die irreduzible Dimension des Unübersetzbaren. Beide, Übersetzbarkeit und Unübersetzbarkeit, begründen ihrer Ansicht nach Weltliteratur, die folglich nicht als homogener Raum einer reibungslos funktionierenden Zirkulation von Texten konzipiert werden kann: „translation and untranslatability are constitutive of world forms of literature.“ (Apter 2013, S. 16; Hervorh. C.M.) Das, was an literarischen Texten unübersetzbar bleibt, wirkt demnach auch in der Übersetzung fort als ein Moment des Widerstandes, das die Illusion totaler Verständlichkeit zerstören, die rückhaltlose Aneignung verhindern und somit zur kritischen Reflexion herausfordern kann. Eine Übersetzung, die dieses Moment offenlegt, stellt folglich ihrerseits eine Form der theoretischen Reflexion dar. Das gilt in gesteigertem Maße für die Übersetzung von Theoriesprache. Theoretische Schlüsselkonzepte wie etwa dasjenige der ,Welt‘, das im Zuge einer langen Begriffs- und Wortgeschichte eine vielschichtige und komplexe Semantik ausgebildet hat, setzen der Übertragung in andere Sprachen besonderen Widerstand entgegen. (vgl. Apter 2013, S. 175–190 und David 2004) Das hat Auswirkungen auf den Begriff der ,Weltliteratur‘ und seine fremdsprachlichen Übersetzungen – auch in ihnen insistiert ein Unübersetzbares, das den Diskurs über Weltliteratur immer wieder irritiert und zur theoretischen Selbstvergewisserung nötigt. An der Übertragung des Begriffs ,Weltliteratur‘ und an den Problemen, die sie mit sich bringt, lässt sich beispielhaft demonstrieren, dass das Übersetzen nicht bloß ein Machtinstrument darstellt, das den

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Zugang zum globalen Zirkulationsraum reguliert, sondern zugleich auch einen Modus der theoretischen Reflexion, die es kritisch hinterfragt.

II. Es hat den Anschein, als könne der Vorwurf mangelnder theoretischer Reflexion auch gegenüber Goethes Konzeption der Weltliteratur erhoben werden. Goethe hat, wie oftmals bemerkt worden ist, keine ausgearbeitete Theorie der Weltliteratur vorgelegt. (Lamping 2010, S. 21) Er eröffnet weder einen systematischen Zugang zu diesem Themenkomplex, etwa in Form einer Abhandlung, noch liefert er eine präzise Definition des Begriffs. Vielmehr lässt er in der Zeit zwischen Januar 1827 und seinem Todesjahr 1832 immer wieder sporadisch bruchstückhafte Bemerkungen fallen, die jeweils verschiedene Aspekte des Weltliteraturkonzepts beleuchten. Sie werden eher beiläufig in kleineren Zeitschriftenartikeln publiziert (zumeist in seiner eigenen Zeitschrift, Über Kunst und Altertum), sind oft auch gar nicht für die Publikation bestimmt, sondern finden sich in brieflichen Äußerungen und in Gesprächszusammenhängen, die erst posthum veröffentlicht wurden. Auffällig ist allerdings die Vielzahl dieser Äußerungen – Weltliteratur ist eines der beherrschenden Themen seiner letzten Lebens- und Schaffensphase. Die unsystematische Betrachtungsweise hat den Vorteil, dass sie es erlaubt, den Komplex auf vielfältige und flexible Weise anzugehen. Goethes Nachdenken über Weltliteratur ist wandlungsfähig und mobil. Das wirkt seinem Gegenstand gegenüber angemessen, da ,Weltliteratur‘ es ja auch wesentlich mit einer neuen Form von globaler Mobilität zu tun hat.11 11 1825, in einem Brief an Zelter, wird die gesteigerte „Schnelligkeit“ des Verkehrs und der Kommunikation von Goethe noch negativ bewertet und mit einer im Mittelmaß verharrenden ,Überbildung‘ assoziiert: „Reichtum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Fazilitäten der Kommunikation sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.“ (Johann Wolfgang Goethe: ,Brief an Zelter vom 6. Juni 1826‘, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. v. Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert/Norbert Miller/Gerhard Sauder, Bd. 20.1: ,Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1827‘, München 1991, S. 851. Nachweise aus dieser Werkausgabe erfolgen fortan unter Angabe der Sigle MA, der Bandziffer und der Seitenzahl parenthetisch im fortlaufenden Text.) Ab 1827 schätzt Goethe den verkehrs- und kommunikationstechnologischen Fortschritt verstärkt positiv als Ermöglichungsbedingung weltliterarischen Austauschs ein. So äußert er etwa die Erwartung, „daß bei der gegenwärtigen höchst bewegten Epoche und durchaus erleichterter Kommunikation eine Weltliteratur baldigst zu hoffen sei“ (MA 18.2, 97), oder er gibt sich davon überzeugt, dass „eine solche Weltliteratur, wie bei der sich immer vermehrenden Schnelligkeit des Verkehrs unausbleiblich ist, sich nächstens bildet“ (MA 18.2, 178). Vgl. dazu Goßens 2014.

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Weltliteratur als ein Phänomen transnationaler Mobilität erfordert gewissermaßen ein mobiles Denken. Es wäre mithin voreilig, Goethes Nachdenken über Weltliteratur von vorneherein ein Theoriedefizit zu unterstellen. Vielmehr gilt es, die besondere Form, in der dieses Denken erfolgt, zu berücksichtigen. Dazu gehört neben der Mobilität und Flexibilität, die es auszeichnet, auch der dialogische Charakter, den ihm Goethe verleiht. Goethe entwickelt sein Konzept der Weltliteratur im lebendigen Austausch mit anderen. Dieser Austausch besitzt zudem eine internationale Dimension. Einige der wichtigsten Partner, mit denen Goethe über Weltliteratur konferiert, sind im französisch- und englischsprachigen Ausland beheimatet.12 Damit kommt die Frage der Übersetzung und Übersetzbarkeit ins Spiel. Goethe antizipiert gewissermaßen die Übersetzung des Weltliteraturbegriffs, noch während er dabei ist, ihn zu verfertigen. Das Weltliteraturkonzept ist „born translated“ im Sinne von Rebecca Walkowitz. Seine Übersetzung ist Teil des Prozesses der Begriffsbildung. Es stellt sich somit die Frage, ob die (antizipierte und tatsächliche) Übersetzung des Begriffs als Reflexionsform das vermeintliche Theoriedefizit zu supplementieren vermag. Als ,Urszene‘ weltliterarischer Bewusstseinsbildung gilt der neueren Forschung eine Äußerung Goethes gegenüber seinem Sekretär Johann Peter Eckermann, die in dessen Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1835) auf den 31. Januar 1827 datiert ist (MA 19, 205–210).13 Die Äußerung markiert zwar nicht Goethes Ersterwähnung des Begriffs ,Weltliteratur‘ (diese findet sich in einer sehr knappen Tagebuchaufzeichnung vom 15. Januar 1827), stellt aber die früheste Verlautbarung dieser Idee gegenüber einem anderen dar : „Ich sehe mich […] gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ (MA 19, 207) Nicht zufällig erfolgt die erste ausführlichere Reflexion auf das Phänomen der Weltliteratur im Rahmen eines Gesprächs. Das Konzept wird im Austausch mit anderen entfaltet. Die Art und Weise, wie der Begriff gebildet wird, entspricht dem Gehalt, den Goethe damit verbindet. Es geht ja gerade um eine Form des Austauschs – um die Vorstellung, dass eine Nationalliteratur sich nicht aus sich allein bilden und entwickeln kann, sondern zu diesem Zweck aus sich heraustreten, mit den sie umgebenden, aber 12 Als Dialogpartner in Frankreich figuriert vor allem die Zeitschrift Le Globe; als britischer Gesprächspartner spielt der schottische Schriftsteller Thomas Carlyle eine wichtige Rolle. Zu Goethes Austausch mit Le Globe vgl. Hamm 1998 und Goßens 2011. Goethes Verhältnis zu Carlyle beleuchten Strich 1957, S. 287–300; Lamping 2010, S. 36–38; Sorensen 2004; Lüdeke 2008, sowie Moser 2018 (im Druck). 13 David Damrosch etwa eröffnet sein Buch über Weltliteratur mit einer Diskussion des Eckermann’schen Gesprächsszenarios. (2003, S. 1–36)

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auch mit entfernteren Literaturen in Beziehung treten muss (MA 18.2, 99). Wie Goethe seine Vorstellung von Weltliteratur ausarbeitet, korrespondiert mithin dem Was, dem Kerngedanken, der dem Konzept zugrundeliegt. Er vermeidet es, den Begriff monologisch und kontemplativ in der Gelehrtenstube auszubrüten. Die oft konstatierte „Unschärfe“ des Konzepts hat darin möglicherweise ihre Ursache. (Lamping 2010, S. 21) Sie ist kein Mangel, kein Kennzeichen fehlender Durchdachtheit, vielmehr entspringt sie einem gewollt praktizierten Verfahren: Goethe wirft gezielt eine unfertige Idee auf den Markt, um sie in öffentlicher (und, wie sich zeigen wird, internationaler) Diskussion ,fertig zu denken‘. Die Idee gehört nicht ihm allein an, sie ist (wie die durch den Begriff bezeichnete Sache) „Gemeingut der Menschheit“ (MA 19, 206), kann also auch nur im öffentlichen, möglichst internationalen Dialog entwickelt werden. So verfährt Goethe nicht bloß im persönlichen Gespräch, sondern auch hinsichtlich der ,offiziellen‘ Publikation seiner Idee. Sie wird nicht an prominenter Stelle veröffentlicht, etwa in einem Artikel, der den Begriff bereits im Titel anführt, sondern eher beiläufig. Goethe will die Idee gleichsam ,austesten‘, er möchte sie „in die Welt entlassen“, um zu beobachten, „wie sie aufgenommen“ wird, und die Reaktionen auf sie für die Vertiefung des Konzepts zu nutzen. (Lamping 2010, S. 21) Die früheste öffentliche Erwähnung des Begriffs Weltliteratur findet sich im ersten Heft des sechsten Bandes von Über Kunst und Altertum, der Zeitschrift, die Goethe zwischen 1816 und 1832 herausgab und die ihm als Sprachrohr für seine Ansichten über Literatur, Kunst und Kultur diente. Besagtes Heft erschien im Mai 1827 (vgl. MA 18.2, 703). Seit den frühen 1820er Jahren ist in Über Kunst und Altertum eine verstärkte internationale Ausrichtung zu verzeichnen.14 Eine Vielzahl von Artikeln befasst sich mit der aktuellen literarischen Produktion in Frankreich, Italien und England. Werke aus dem benachbarten Ausland werden rezensiert, aber auch ausländische Journale referiert, die es sich ihrerseits zur Aufgabe gemacht haben, fremdsprachliche Literatur zu beobachten. In diesem international und interkulturell orientierten Kontext lanciert Goethe seinen Begriff. Dies geschieht in einem kurzen Aufsatz, der auf zwei französische Zeitschriftenartikel Bezug nimmt und daraus in Übersetzung zitiert – beides Rezensionen eines französischen Theaterstücks, Le Tasse, drame historique, aus der Feder des Schriftstellers Alexandre Duval. Duvals Stück ist eine Bearbeitung von Goethes eigenem Tasso-Drama Torquato Tasso (1790). Die französischen Rezensionen unternehmen einen Vergleich zwischen den Tasso-Versionen Goethes und Duvals. Die eine Besprechung (aus der Zeitschrift Le Globe) gibt dabei Goethe, die andere (aus dem Journal de Commerce) gibt Duval den Vorzug. Goethe referiert beide, ohne Partei zu ergreifen. Das ist eine bemerkenswerte 14 Zu Goethes Zeitschrift Über Kunst und Altertum als Medium weltliterarischer Bewusstseinsbildung vgl. Koch 2002, S. 231–233.

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Konstellation: Ein deutsches Stück über einen italienischen Dichter wird in Frankreich adaptiert; die Adaption wird von französischen Rezensenten besprochen und mit dem deutschen Original verglichen; diese französischen Vergleiche werden vom deutschen Autor nun seinerseits aufgegriffen, übersetzt, dem deutschen Publikum bekannt gemacht und miteinander korreliert. Dieser kleine, aber intensive literarische Grenzverkehr exemplifiziert die Funktionsweise von ,Weltliteratur‘, wie Goethe sie konzipiert. Es liegt daher nahe, dass er den Begriff in diesem Zusammenhang verwendet. Goethe kommentiert: „Die Mitteilungen, die ich aus französischen Zeitblättern gebe, haben nicht etwa allein zur Absicht, an mich und meine Arbeiten zu erinnern, ich bezwecke ein Höheres, worauf ich vorläufig hindeuten will. Überall hört und liest man von dem Vorschreiten des Menschengeschlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im Ganzen hiermit beschaffen sein mag, […] will ich doch […] meine Freunde aufmerksam machen, daß ich überzeugt sei, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist. Alle Nationen schauen sich nach uns um, sie loben, sie tadeln, nehmen auf und verwerfen, […] verstehen oder mißverstehen uns […]: dies alles müssen wir gleichmütig aufnehmen, indem uns das Ganze von großem Wert ist.“ (MA 18.2, 12)

Auffällig an Goethes Kommentar ist die Zurückhaltung, die er sich auferlegt.15 Obwohl er selbst ein Gegenstand der Besprechungen ist, die er referiert, sieht er davon ab, persönlich dazu Stellung zu nehmen. Er führt somit beispielhaft die ,gleichmütige‘ Haltung vor, die er als Voraussetzung für das Gelingen eines weltliterarischen Verkehrs ansieht. Zurückhaltend ist Goethe aber auch, was die inhaltliche Bestimmung des von ihm an dieser Stelle neu eingeführten Begriffs der Weltliteratur angeht. Er verzichtet darauf, den Begriff zu erläutern. Stattdessen zeigt er – gleichsam deiktisch – auf den italienisch-deutsch-französischen Literaturverkehr, den er gerade präsentiert hat und der ,Weltliteratur‘ in actu vorführt. Dabei macht er den Verzicht auf theoretische Explikation seinerseits explizit: Er bekundet, dass er auf das Weltliteraturkonzept nur „vorläufig hindeuten“ will. Die theoretische Reflexion wird in Aussicht gestellt und aufgeschoben; der scheinbare Reflexionsverzicht erfolgt aber zugleich sehr bewusst und reflektiert, nachgerade mit strategischem Kalkül. Denn die vage Andeutung ist Teil einer publikumsorientierten Strategie. Die Leserschaft wird dazu animiert, den angestoßenen Reflexionsprozess fortzuführen. Goethe publiziert lediglich den Keim einer Idee, die im öffentlichen Dialog zur Entfaltung gebracht werden soll. Goethes suggestiver Hinweis ist als Anregung intendiert und zum Weiterdenken bestimmt. Der Ball ist nun im Spiel, und das Spielfeld ist ein dezidiert 15 Zur ökonomischen Funktion dieser Zurückhaltung im Rahmen eines ,geistigen Handelsverkehrs‘ vgl. Moser 2016, S. 161–162.

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internationales. Denn indem Goethe aus einer französischen Zeitschrift zitiert, die sich programmatisch der Sache der internationalen Verständigung verschreibt, provoziert er eine Reaktion von dieser Seite. Es ist bezeichnend, dass Goethe seine Begriffsprägung ,Weltliteratur‘ in der Auseinandersetzung mit einer Zeitschrift publik macht, die den weltumspannenden Anspruch in ihrem Namen propagiert. Tatsächlich ist Le Globe eine der Lieblingszeitschriften des alten Goethe; er liest sie regelmäßig und mit größtem Interesse. (vgl. Hamm 1998) Das 1824 gegründete Journal gilt zu dieser Zeit als publizistisches Hauptorgan der liberalen Opposition in Frankreich; es besitzt ein klares kosmopolitisches und wirtschaftsliberalistisches Profil. (vgl. Oesterle 2005, S. 86–91) Zentraler Punkt des kulturpolitischen Programms von Le Globe, das in der ersten Nummer der Zeitschrift verkündet wird, ist die Beförderung eines „utile 8change de connaissances comme de produits“ zwischen den Nationen.16 Le Globe stellt sich konkret die Aufgabe, „de propager dans un pays la connaissance de tous les autres“. Um dieses Ziel zu erreichen, so heißt es weiter, gebe es keinen besseren Weg, als die Kenntnis über fremde Literaturen zu vermitteln: „car la litt8rature des nations, c’est leur vie.“ Le Globe vertritt mithin das Programm einer internationalen Vermittlung zwischen den Literaturen, ganz ähnlich derjenigen, die Goethe mit seinem Konzept der ,Weltliteratur‘ intendiert. Die Zeitschrift sieht sich selbst als das Organ einer solchen Vermittlung. Goethe hat den Ball folglich gar nicht als erster ins Spiel gebracht, sondern er hat ihn von anderer Seite aufgenommen und spielt ihn nun zurück, indem er das, was Le Globe programmatisch vertritt, auf den Begriff bringt. Goethes Konzept der Weltliteratur übersetzt den literarischen Kosmopolitismus französischer Prägung in eine prägnante Begriffssprache und trägt dergestalt dazu bei, die dahinter stehende Idee schärfer zu fassen und theoretisch zu fokussieren. Goethes ,Rückpass‘ wird von Le Globe tatsächlich angenommen – das Spiel geht weiter, die dialogische Verfertigung des Konzepts ,Weltliteratur‘ wird fortgesetzt. In der Ausgabe vom 1. November 1827 greift die Zeitschrift Goethes ,vorläufigen‘ Hinweis auf die sich bildende Weltliteratur auf und entwickelt seine Idee weiter : „Goethe, dans le dernier num8ro du recueil p8riodique qu’il publie, annonce aux Allemands qu’il entrevoit l’aurore d’une litt8rature occidentale ou europ8enne, qui n’appartiendra en propre / aucun peuple, mais / laquelle chaque peuple aura contribu8 pour sa part. Et en effet chaque nation, / son tour, ressent cet attrait qui, comme l’attraction des corps physiques, entra%ne l’une vers l’autre et unira un jour dans une harmonie g8n8rale toutes les races qui composent l’humanit8. La tendance des savants / s’entendre et / coordonner leurs travaux n’est pas nouvelle sans doute, et la langue 16 Le Globe, journal litt8raire, No 1, Mercredi 15 September 1824, verfügbar unter : http://gallica. bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1073536c/f26 [18. 01. 2018], S. 2. Die beiden folgenden Zitate ebd.

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latine, autrefois, servit merveilleusement / ce but: mais cette communication 8tait born8e / un petit nombre d’hommes; quoi qu’ils fissent, les barriHres qui divisaient les peuples les divisaient eux-mÞmes et nuisaient / leur commerce intellectuel; l’instrument mÞme dont ils se servaient ne pouvait convenir qu’/ un certain ordre d’id8es, en sorte qu’ils ne se touchaient pour ainsi dire que par l’intelligence, tandis qu’ils se touchent aujourd’hui par le cœur et par la po8sie. Les voyages, l’8tude des langues, la litt8rature p8riodique, ont remplac8 la langue universelle, et 8tablissent de concert des rapports bien plus intimes qu’elle ne fit jamais. Les nations les plus occup8es d’industrie et de commerce sont encore les plus occup8es de cet 8change d’id8es; et l’Angleterre […] offre en ce moment un nouveau symptime de ce besoin de se r8pandre au dehors et d’8tendre son horizon.“17

Le Globe nimmt Goethes ,vorläufige Hindeutung‘ offenbar ernst. Die Zeitschrift bezieht ausführlich Stellung zu Goethes Idee der Weltliteratur und unterwirft sie einer vertiefenden Betrachtung. Dabei fällt zunächst auf, dass sie einen engen Zusammenhang zwischen internationalen literarischen Austauschbeziehungen und der Sphäre des Ökonomischen herstellt. Le Globe etabliert eine Analogie zwischen dem Austausch merkantiler und geistiger Güter. Es handelt sich dabei nicht bloß um eine metaphorische Beziehung, vielmehr wird ein realer Sachzusammenhang avisiert. Für die Autoren von Le Globe ist es kein Zufall, dass die derzeit ökonomisch aktivste Nation – England – sich zugleich in besonderer Weise für fremde literarische Erzeugnisse interessiert. Ökonomischer Erfolg geht mit dem Ausbau der internationalen Literaturbeziehungen einher. Den Hintergrund für diese Korrelation zwischen Ökonomie und intellektuellem Austausch bildet die Tatsache, dass die Produktion und Rezeption von Literatur im 19. Jahrhundert verstärkt auf marktwirtschaftlicher Basis funktioniert: Literaten stehen nicht mehr im Dienste aristokratischer Mäzene, sondern sind Unternehmer und produzieren Bücher für einen (mehr oder minder) freien Buchmarkt. Ihre geistigen Erzeugnisse sind Waren, mit denen gehandelt wird, zunehmend auch international. Le Globe postuliert somit einen engen Zusammenhang zwischen der Internationalisierung des Handels und der Internationalisierung der literarischen Kommunikation. Goethe greift diese Einsicht in den Zusammenhang von Welthandel und Weltliteratur in der Folge auf.18 Er 17 Le Globe, Recueil philosophique et litt8raire, tome V, No. 91, Jeudi, 1er Novembre 1827 , verfügbar unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k10745128/f1.item [18. 01.2018], S. 481. 18 Die von Goethe im Anschluss an Le Globe betriebene Engführung von Ökonomie und literarischem Austausch wirkt auch in aktuellen Theorien der Weltliteratur nach. Wenn David Damrosch Weltliteratur als einen globalen Zirkulationszusammenhang beschreibt (vgl. 2003, S. 4: „literary works that circulate beyond their culture of origin“) oder als „writing that gains in translation“ definiert (ebd., S. 281), mithin als Literatur, die infolge ihrer globalen Zirkulation einen (Bedeutungs-)Profit erwirtschaftet, dann ist die ökonomische Hintergrundmetaphorik unübersehbar. Gayatri Spivaks Kritik an Damroschs Weltliteraturkonzeption hakt genau an diesem Punkt ein und versucht aufzuzeigen, dass der Metaphorik sehr reale ökonomische Interessen korrespondieren: „Publishing conglomera-

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bezeichnet Weltliteratur mehrfach explizit als einen „freien geistigen Handelsverkehr“ (MA 18.2, 181; siehe auch MA 18.2, 86). Besondere Aufmerksamkeit richtet er dabei auf eine Institution, die diesen grenzüberschreitenden intellektuellen Handel allererst ermöglicht: das Übersetzungswesen. Übersetzer sind, um im Bild zu bleiben, internationale Zwischenhändler : „Und so ist jeder Übersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein geistigen Handels bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht.“ (MA 18.2, 86) Damit ist ein zweiter Aspekt des Weltliteraturkonzepts angesprochen, auf den der Verfasser des Globe-Artikels in seiner Replik auf Goethe reflektiert: die Problematik von Sprache und Übersetzung. Er artikuliert ein klares Bewusstsein davon, dass der im Zeichen von ,Weltliteratur‘ stehende internationale Austausch eine neue Qualität besitzt, die sich von der alteuropäischen latinitas und der durch sie ermöglichten Gelehrtenkommunikation unterscheidet. Die Kommunikation zwischen den Literaturen, für die ,Weltliteratur‘ einsteht, beruht nicht auf der Existenz eines übergreifenden sprachlichen Mediums, einer lingua franca oder Universalsprache wie das Latein der mittelalterlichen Kleriker oder der frühneuzeitlichen Humanisten. Im Gegenteil, Le Globe erkennt in der vermeintlichen Universalsprache Latein ein Machtinstrument und einen Ausschlussmechanismus, der eine akademische Elite privilegiert, aber große Teile der Bevölkerung und damit auch ganze Bereiche der literarischen Produktion vom internationalen Verkehr fernhält. Eine lingua franca wie das Lateinische ermöglicht demnach nicht etwa die weltliterarische Kommunikation, sie behindert sie vielmehr. Le Globe konzipiert den mit ,Weltliteratur‘ verbundenen internationalen Austausch als inklusiv und umfassend – umfassend nicht nur in dem Sinne, dass die gesamte literarische Produktion der beteiligten Nationen in sie einbezogen werden, sondern auch insofern, als der ganze Erfahrungsbereich der ihnen angehörenden Menschen, ihr intellektuelles wie auch ihr affektives Leben („le cœur“), darin Ausdruck finden soll. Wenn die Literatur einer Nation, wie es in der programmatischen Eröffnungsnummer von Le Globe heißt, ihr Leben ist und dieses in seiner Totalität repräsentiert, dann kann nur eine solche Form des Austauschs das gegenseitige Kennenlernen der Nationen gewährleisten, die ihre Literaturen umfassend, in der ganzen Bandbreite ihrer Formen und Themen, vermittelt. Le Globe pointiert das scheinbare Paradox, dass erst der tes have recognized a market for anthologies of world literature in translation. Academics with large advances are busy putting these together. Typically, the entire literature of China, say, is represented by a couple of chapters of The Dream of the Red Chamber and a few pages of poetry. Notes and introduction are provided by a scholar from the area commissioned for the purpose by the general editor, located in the United States. The market is international. Students in Taiwan or Nigeria will learn about the literatures of the world through English translations organized by the United States.“ (2003, S. XII)

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Untergang der Universalsprache Latein und die Freisetzung der partikularen Nationalsprachen einen solchen ganzheitlichen Austausch ermöglicht. Das impliziert eine massive Aufwertung des Übersetzens. Denn wo die lingua franca fehlt und die polyglotte Sprachkenntnis der am Austausch Beteiligten ein utopisches Ideal bleiben muss, tritt notwendigerweise die Übersetzung ins Mittel. Diese zentrale Einsicht, die Le Globe in Fortentwicklung des Gedankenanstoßes aus Über Kunst und Altertum artikuliert, wird von Goethe seinerseits aufgegriffen und weiterverfolgt. Im zweiten Heft des sechsten Bandes seiner Zeitschrift formuliert er einen ähnlichen Gedanken und bringt ihn in eine signifikante Verbindung zur ökonomischen Dimension von ,Weltliteratur‘: „Die Besonderheiten einer jeden [Nation] muß man kennen lernen, um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren: denn die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich.“ (MA 18.2, 86)

Goethe vergleicht die Besonderheiten einer Nation, zu denen vor allem ihre Nationalsprache gehört, mit einer Währung. Die grenzüberschreitende Kommunikation wird seiner Ansicht nach nicht etwa durch eine internationale Währung ermöglicht (eine Leit- oder Einheitswährung, die der Universalsprache Latein korrespondieren würde), sondern im Gegenteil durch die Existenz vieler partikularer Währungen – durch Nationalwährungen, die den Nationalsprachen entsprechen. Die Vielzahl der Währungen macht es notwendig, das Geld an jeder Grenze neu zu tauschen. Aber eben darauf kommt es Goethe an: den Tausch zwischen den Nationen und ihren Literaturen. Das Fehlen einer Einheitssprache und die Vielzahl der Idiome erschweren nicht etwa die Verständigung, sie „erleichtern“ vielmehr den „Verkehr“. Sie vervielfältigen, potenzieren und intensivieren die Tauschaktionen. Je mehr getauscht werden muss, desto besser, desto intensiver die Kommunikation. Vielfalt wird wie in Le Globe nicht als Behinderung, sondern als Ermöglichungsgrund des weltliterarischen Austauschs angesehen. Der Umtausch von Geld verweist zugleich metaphorisch auf die Praxis des Übersetzens. Goethes Vergleich zwischen Sprache und Währung impliziert, dass sich der internationale literarische Verkehr maßgeblich in Form von Übersetzungen vollzieht. Der „Übersetzer“ ist der eigentliche „Vermittler dieses allgemein geistigen Handels“ (MA 18.2, 86). Soweit scheint die dialogische Verfertigung des Konzepts der Weltliteratur also recht gut zu funktionieren. Goethe und Le Globe spielen sich gegenseitig die Bälle zu. Die Implikationen des Konzepts werden auf diese Weise zur Entfaltung gebracht; einzelne Aspekte – etwa derjenige des Übersetzens – werden als besonders wichtig herausgearbeitet. Das Übersetzen ist dabei nicht nur Gegenstand der dialogischen Reflexion, sondern zugleich auch ein praktischer Bestandteil des Austauschs. Goethe etwa übersetzt den Artikel aus Le Globe, der auf

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sein Weltliteratur-Konzept Bezug nimmt, fast vollständig ins Deutsche und druckt ihn unter dem Titel „Bezüge nach außen“ im zweiten Heft des sechsten Bandes von Über Kunst und Altertum ab (MA 18.2, 97–99). Der Dialog über Weltliteratur, den Goethe und Le Globe führen, beruht – wie ihr Gesprächsgegenstand selbst – auf Übersetzungen; er vollzieht sich über weite Strecken als reflexive Übersetzung der Position des jeweils anderen. Hier, auf der Ebene des Übersetzens und der theoretischen Reflexion, die ihr inhärent ist, werden allerdings gewisse Spannungen und Missverständnisse zwischen den Dialogpartnern manifest. Da die Praxis des Übersetzens in diesem Fall von der theoretischen Reflexion nicht zu trennen ist, wirken sie sich unmittelbar auf die jeweilige Konzeption von Weltliteratur aus. Die Spannungen entzünden sich bezeichnenderweise an dem Begriff – genauer : dem Wort – ,Weltliteratur‘ selbst. Der Artikel aus Le Globe übersetzt das Kompositum ,Weltliteratur‘ mit litt8rature occidentale ou europ8enne: „Goethe, dans le dernier num8ro du recueil p8riodique qu’il publie, annonce aux Allemands qu’il entrevoit l’aurore d’une litt8rature occidentale ou europ8enne“, so lautet der einleitende Satz. Der Verfasser des Artikels scheut sichtlich davor zurück, eine dem deutschen Ausdruck nahe kommende Begriffsprägung – etwa: ,une litt8rature mondiale‘ – zu wagen. Die Welt-Komponente des Kompositums ist für ihn offenbar unübersetzbar – „untranslatable“ im Sinne Emily Apters. Doch warum sollte es ausgerechnet der kosmopolitisch ausgerichteten Zeitschrift Le Globe nicht möglich sein, der Welt-Dimension von ,Weltliteratur‘ in der Übersetzung Rechnung zu tragen? Zwei Antworten auf diese Frage sind denkbar. Erstens erscheint es möglich, dass der Verfasser des Globe-Artikels mit seiner Übersetzung auf die eurozentrische Voreingenommenheit verweist, die dem Goethe’schen Konzept zugrunde liegt. Die Übersetzung signalisiert einen Mangel – sie indiziert, dass die Aussicht auf weltumspannende Gültigkeit, die das deutsche Wort verheißt, von der Konzeption in ihrer vorliegenden Form (noch) nicht eingelöst wird. Tatsächlich sind die meisten Beispiele für weltliterarischen Verkehr, die Goethe in Über Kunst und Altertum anführt, auf den europäischen Raum beschränkt. Andererseits ist sein großes Interesse an außereuropäischen Literaturen, wie etwa seine Hafis-Nachdichtung im West-östlichen Divan (1819) oder seine Rezeption chinesischer Literatur (vgl. etwa MA 19, 206) demonstrieren, kaum zu übersehen. Wahrscheinlicher ist daher eine zweite Deutungsvariante. Möglicherweise ist dem Verfasser des Globe-Artikels seinerseits ein globaler Austausch der Literaturen nur unter europäischer bzw. abendländischer Führung überhaupt vorstellbar. Denn dass mit dem Ausdruck litt8rature occidentale ou europ8enne nicht bloß die europäische Literatur im engeren Sinne, sondern eine weltumspannende Gemeinschaft der Literaturen gemeint ist, macht der Artikel hinreichend deutlich: Er avisiert unter diesem Titel eine Totalität „[qui] unira un jour dans une harmonie g8n8rale toutes les races qui

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composent l’humanit8“. Le Globe redet einer teleologischen Geschichtsauffassung und einer Fortschrittsemphase das Wort, die auf die Herstellung einer globalen Einheit der Menschheit abzielt. Als Motor dieser teleologischen Entwicklung gilt Le Globe die europäische Zivilisation (der Zivilisationsbegriff spielt nicht zufällig in der programmatischen Eröffnungsnummer der Zeitschrift eine wichtige Rolle).19 Die Zeitschrift Le Globe scheint mithin – ihrem Namen entsprechend – eher die Entstehung einer globalen Literatur als einer Weltliteratur ins Auge zu fassen.20 Die Figur des Globus veranschaulicht die erstrebte Einheit, Ganzheit und Geschlossenheit der Welt.21 Der Begriff der Welt (oder des ,monde‘) impliziert demgegenüber eine größere Offenheit und Diversität.22 Welten sind nicht notwendigerweise einfach, einheitlich, in sich gerundet und geschlossen. Für den Verfasser des Globe-Artikels scheint die Unübersetzbarkeit von ,Welt‘ folglich darauf zurückzuführen zu sein, dass die Zeitschrift ein stärker teleologisch, eurozentrisch und auf Einheitlichkeit ausgerichtetes Verständnis von Weltliteratur vertritt. Aufschlussreich ist schließlich auch, wie Goethe die von Le Globe vorgeschlagene französische Übersetzung des Begriffs ,Weltliteratur‘ ins Deutsche rückübersetzt. Wie bereits erwähnt, überträgt er den Globe-Artikel fast vollständig und publiziert ihn in Über Kunst und Altertum – mit Ausnahme des einleitenden Satzes, der in der französischen Fassung den Terminus litt8rature occidentale ou europ8enne anstelle von ,Weltliteratur‘ enthält. Goethe ersetzt diesen Satz durch die folgende einleitende Bemerkung: „Mein hoffnungsreiches Wort: daß bei der gegenwärtigen höchst bewegten Epoche und durchaus erleichterter Kommunikation eine Weltliteratur baldigst zu hoffen sei, haben unsre westlichen Nachbarn […] beifällig aufgenommen“ (MA 18.2, 97). Goethe restituiert also das Wort ,Weltliteratur‘, er beharrt auf der Weltkomponente seiner Begriffsprägung. Er verweigert die Übertragung von litt8rature occidentale ou europ8enne – wie der Begriff ,Weltliteratur‘ für Le Globe, so scheint dieser Begriff für ihn unübersetzbar zu sein. Doch zugleich behauptet er, dass Le Globe sich 19 Vgl. Le Globe, journal litt8raire, No 1, Mercredi 15 September 1824, verfügbar unter : http://gal lica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1073536c/f26 [18. 01. 2018], S. 2: „Les peuples sont aujourd’hui unis par les int8rÞts; la civilisation entretient entre eux un utile 8change de connaissances comme de produits; avec les nuances qui les distinguent, tous marchent, / l’ombre de la paix, vers un but commun […].“ 20 Zwischen world literature und global literature wird auch in aktuellen Theorien der Weltliteratur unterschieden. Vgl. etwa Beecroft 2015, S. 243–299, für den global literature eine spezifische Ökologie der Weltliteratur darstellt, und zwar die historisch jüngste, die durch ökonomische, mediale und sprachliche Globalisierungsprozesse hervorgebracht wurde. 21 Zum Globus als einer „teleological figure of completeness“ vgl. Stäheli 2003, S. 1; Moser 2014. 22 Es ist möglich, von der Vielzahl der Welten – „la pluralit8 des mondes“, wie sie der Titel der berühmten Dialogschrift von Fontenelle evoziert (Entretiens sur la pluralit8 des mondes [1682]) – zu sprechen, nicht aber von der Vielzahl der Globen oder Globalitäten.

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sein Wort zu eigen gemacht und „beifällig“ anerkannt habe. Tatsächlich war dies aber nicht der Fall: Le Globe hat sich mit der Sache (dem Begriff) vertiefend auseinandergesetzt, das Wort aber gerade nicht übernommen, sondern durch ein ganz anderes ersetzt. Goethe suggeriert seinem deutschen Publikum folglich die Übersetzbarkeit nicht nur des Begriffs, sondern auch des Worts ,Weltliteratur‘. Er verschleiert die Spannungen, Konflikte und Deutungskämpfe, die zwischen ihm und Le Globe auf dem Felde der Übersetzung ausgetragen werden, und verleugnet das dabei zutage tretende Moment von Unübersetzbarkeit. Goethe will den Anschein erwecken, dass ,Weltliteratur‘ eine Sphäre der ungehinderten grenzüberschreitenden Zirkulation und der harmonischen Verständigung markiert. Doch eben dadurch exponiert er die Verhältnisse der Ungleichheit und die Machtbeziehungen, die diese Sphäre – selbst im scheinbar freundschaftlichen Verkehr zwischen Nachbarn – durchziehen. Der Begriff wird mithin im Zuge eines deutsch-französischen Dialogs verfertigt, aber die in den Übersetzungsversuchen insistierende Unübersetzbarkeit bildet einen integralen Bestandteil dieses Verfertigungsprozesses.

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Christian Moser

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Achim Hölter

Thematologie heute

Der Terminus Thematologie ist nach wie vor problematisch, aber international praktikabel. Er umfasst in einem weiten Verständnis alle literatur- (oder kultur-)wissenschaftlichen Verfahren zur Erforschung inhaltlicher Konstanten literarischer Texte, sowohl auf der Ebene der ,res‘ wie der ,verba‘, namentlich mit dem Erkenntnisziel der Klassifikation, der Deutung und der Aufklärung von Transferwegen und -mechanismen. Insofern ist Thematologie schon eng verwandt mit den in der Antike gründenden Disziplinen Rhetorik und Mythologie, die bis in die frühe Neuzeit auch die Ordnung fiktiven oder zumindest fiktionalen Wissens prägten. Spätestens seit der Romantik ist eine Sensibilität für die interkulturelle Kommunizierbarkeit poetischer Inhaltselemente zu verzeichnen, eine Tendenz, die mit großer Rasanz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Verwissenschaftlichung führte, welche dann bis um 1900 einerseits Klassifikationsmodelle für ,volks‘literarische Elemente hervorbrachte, andererseits, namentlich für die ,hoch‘literarische Texttradition, positivistische Bestandsaufnahmen favorisierte. Dass eine solche dann im 20. Jahrhundert erstmals im Weltmaßstab möglich scheint, belegt wissenspoetologisch das Auftreten von thematologischen Lexika in den großen philologischen Verkehrssprachen. Die Moderne befasst sich aber zunehmend auch mit der Rekonstruktion des Transfers von Motiven, Stoffen und Topoi. Inzwischen lässt sich eine neue, mehrschichtige Aufmerksamkeit für Thematologie diagnostizieren, bei der mindestens folgende Aspekte im Mittelpunkt stehen: a. Die intermediale Multifunktionalität thematischer Einheiten im Zeichen eines stark erweiterten Literaturbegriffs, b. die Existenz zeitübergreifender personaler Typen bis hin zur scheinbaren Autonomie literarischer Figuren, c. die literaturüberschreitende Relevanz von Sprachbildlichkeit, d. die thematische Verwandtschaft kanonischer Literatur mit den Sensationsthemen heutiger Massenmedien über Themen wie etwa Missbrauch oder Inzest, e. die Wechselwirkung zwischen fiktionalen und faktualen Inhalten und der Impact von Literatur wie etwa beim Selbstmord, f. die rasante Genese und Wanderung populärer Mythen und die Trabantenrolle der Literatur dabei, g. die Frage nach der Erforschbarkeit von Themenmigra-

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tionen in der Ära des Internets, und überhaupt h. die Frage nach dem Verdienst literaturwissenschaftlicher Inhaltsforschung in Zeiten der Volltextsuche. Hier soll jedoch in einfachen Schritten und ohne die teils komplexen Auseinandersetzungen über einzelne Operationen der Thematologie ein knapper historischsystematischer Überblick gegeben werden, der auch den gegenwärtigen Status der literarischen Inhaltsforschung einzuordnen erlaubt. 1. Terminologie: Über die Frage, ob die Untersuchung inhaltlicher Konstanten in der Literaturwissenschaft auch im Deutschen Thematologie heißen solle, wurde tatsächlich schon vor Jahrzehnten debattiert (Hölter 1995, S. 18–25; s. auch Beller 1981. S. 73–97). Unter Thematologie im allgemeinen Sinn versteht man in der heutigen Literaturwissenschaft und namentlich in der Komparatistik, wo sie hauptsächlich vorkommt, die Erforschung aller inhaltlichen und sogar sprachlichen Konstanten der Literatur, als da sind Stoffe, Motive und eben Themen im engeren Sinn, aber auch Symbole, Metaphern, Topoi. Fast jeder hat also eine ungefähre Vorstellung davon, was gemeint ist, wenn man sich mit mehr oder minder berühmten Stoffen wie dem Fauststoff oder Motiven wie dem Brudermordmotiv oder Themen wie dem Selbstmord oder Topoi wie dem sehnsüchtigen Lobpreis vergangener Zeiten beschäftigt. Ein Stoff ist nach Frenzel „eine durch Handlungskomponenten verknüpfte, schon außerhalb der Dichtung vorgeprägte Fabel“ (1988, S. V). „Als kleinstes, handlungsstrukturierendes und bedeutungsvermittelndes Element übernimmt“ dagegen das Motiv „die Gestaltung eines Textes auf der Inhaltsebene, indem es das Geschehen organisiert, Themen veranschaulicht und Sinnzusammenhänge vermittelt“ (Dahms 2013, S. 125). Dabei ist eine altbekannte Komplikation der Vergleichenden Literaturwissenschaft insbesondere auf diesem Arbeitsfeld zu beobachten, nämlich die Inkongruenz der internationalen Terminologie. Dem englischen Wort theme (auch: legend) würde das deutsche Stoff, aber das französische mythe entsprechen, das französische thHme eher dem deutschen und englischen Motiv/motif. Und dies ist nur der einfachste denkbare Fall. Wer einen deutschsprachigen Grundkurs zur Vergleichenden Literaturwissenschaft besucht hat, benutzt bereits zwei ,Schubladen‘, nämlich die mit Absicht als Zwillingswerke angelegten Lexika von Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur (102005) bzw. Motive der Weltliteratur (62008). Wer aber einen englischsprachigen Kurs absolviert hat, kennt vielleicht das analoge Dictionary of Literary Themes and Motifs von Jean-Charles Seigneuret (vgl. die französischsprachige Studie von Raymond Trousson ThHmes et mythes. Questions de m8thode). Häufig zu beobachten ist die Praxis, terminologische Unsicherheiten zu überspielen, indem man z. B. aus der Metasprache der bildenden Kunst den Begriff sujet entlehnt. 2. Mythographie: Wenn schon diese Begriffe von Sprache zu Sprache changieren und die Komparatistik generell erst ca. 200 Jahre alt ist, stellt sich die Frage, seit wann man eigentlich so etwas wie Thematologie betreibt und unter

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welchem Namen. Schon die antiken Mythographen (Fornero Sasso 2000), die man sich am besten vorstellt als Benutzer einer der großen antiken Bibliotheken wie Pergamon oder Alexandria, taten dies. Das Apollodor zugewiesene umfassende Werk heißt denn auch einfach Bibliotheke (Apollodorus 1989–1990; s. auch Montanari 1996). Es erzählt sekundär die Geschichten, die die Leserschaft im Altertum aus den großen Epen und Tragödien, auch heute verlorenen Texten kannte. Ein solches Sammelwerk lässt sich also am ehesten vergleichen mit Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums (1838), die ebenfalls die berühmten Mythen um Herakles oder die Argonauten oder Odysseus quer zu Homer oder Apollonius resümieren. Von diesen Mythographen gab es weitere, Hyginus beispielsweise, dessen ursprünglich Genealogiae betiteltes Werk unter dem Titel Fabulae überliefert ist (vgl. Schmidt 1988), der lateinischen Entsprechung von griechisch Mythos. Mythoi oder fabulae wurden also schon vor 2000 Jahren handbuchartig zusammengefasst. Dabei lag das Interesse noch weniger bei einer kritischen Sonderung oder gar einer wissenschaftlichen Analyse, sondern eher bei einer Vereinheitlichung, ähnlich wie man bei der Bibel aufgrund von Konkordanzen und Synopsen den gemeinschaftlichen Inhalt als sicher bewahren will. Die genealogische Nähe von Mythenforschung und Komparatistik ist jedenfalls, auch unter den diversen Aspekten des Mythos-Begriffs, evident (vgl. Bachmann-Medick 2004, S. 349–396). 3. Romantik: Die Entwicklung dessen, was später Stoff- und Motivforschung heißt, steht ganz am Anfang der Komparatistik. Um 1800 fallen immer wieder Autoren sprach- und kulturübergreifende Konstanten auf, durch die sie ermuntert werden, Texte aus den verschiedensten Sprachkulturen zusammen-, d. h. wörtlich: in einem Buch anthologisch nebeneinanderzustellen, z. B. Gedichte und Lieder, die die großen Menschheitsthemen behandeln wie Liebe, Tod, Krieg usw. So konzipierte schon Herder 1778/79 (1975) seine später mit Stimmen der Völker in Liedern betitelte Volksliedsammlung. Die Professionalisierung erfolgte aber erst in der romantischen Generation. Bekannt ist, dass Johann Elias Schlegel in einem der Gründungstexte der Komparatistik zwei Dramen miteinander verglich: Shakespeares Julius Caesar und Andreas Gryphius’ Leo Armenius. In diesem Aufsatz von 1741 ist tertium comparationis das, was man erst später das Motiv des Tyrannenmords genannt hätte. Schlegels Neffe August Wilhelm steuerte 1807 den zweiten großen Dramenvergleich zur Frühgeschichte des Faches bei, als er die beiden Phaedra-Dramen von Racine und Euripides nebeneinanderstellte. Tertium comparationis war hier das, was man, wiederum später, einen antiken Stoff hieß (Schlegel nannte es in einem französischen Text „sujet“1). In dieser Phase, um 1800, schält sich allmählich das Interesse der 1 Schlegel (1846, S. 333): „Un parallHle avec une piHce 8crite sur le mÞme sujet dans une autre langue, peut donc Þtre utile“.

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Autoren für stoff- und motivähnliche Texte heraus. Ludwig Tieck, der schon aufgrund von vier ausgeschlagenen Professuren (Hölter 1989, S. 110–125) neben Schlegel als ein deutscher Gründervater des Faches betrachtet werden kann, meinte einmal: „Es ist immer merkwürdig [= bemerkenswert; interessant, A.H.] zu sehen, wie derselbe Gedanke von Shakespeare oder A. Gryphius behandelt wird“ (Tieck 1848, S. 380). Durch Tiecks gesamtes Werk lässt sich als roter Faden die auf Schritt und Tritt festgehaltene Ähnlichkeit von Texten aus verschiedenen Sprachkulturen – sehr oft der englischen, spanischen und deutschen – feststellen. Verbal fasst Tieck solche Entsprechungen oft als einfache Identität („ist dieselbe Geschichte“) (ebd., S. 263). 4. Die Brüder Grimm: Die romantischen Autoren betrieben einerseits die Professionalisierung der Literaturwissenschaft, wurden aber andererseits von dieser Entwicklung überholt. Bei dieser Generation ist eine stabile Terminologie für inhaltliche Konstanten, also Stoff, Motiv usw. noch nicht vorhanden. Jacob und Wilhelm Grimm waren in zweifacher Hinsicht für eine komparatistische Sichtweise auf die Literatur vorbildlich: Bekanntlich tragen ihre großen Textsammlungen jeweils das Adjektiv „deutsch“ im Titel (Deutsche Sagen usw.), mit Ausnahme der berühmtesten Publikation, der Kinder- und Hausmärchen 1812/ 15. Heinz Rölleke erklärt dies plausiblerweise damit, dass den Grimms bewusst war, wie viel die deutschen, oft mündlich, meist aber schriftlich aufgenommenen Märchenversionen den Originalen des Franzosen Perrault, des Italieners Basile oder der durch zahlreiche Sprachkulturen wandernden europäischen Erzähltraditionen verdankten (2004, S. 11–24). Mindestens im wissenschaftlichen Anmerkungsband zu den Kinder- und Hausmärchen ([1822] 1980, S. 3–264) werden diese stofflichen oder motivlichen Entsprechungen oder auch einfach die fremdsprachlichen Quellen offengelegt. Dieses Interesse am Sammeln von Erzählkernen im europäischen Maßstab bewegte die Grimms schon sehr früh, so dass sie gleichzeitig mit der Anbahnung ihres Märchenprojekts noch ein zweites Vorhaben ins Werk setzten, das erst im 21. Jahrhundert herausgegeben wurde: die sogenannte „Sagenkonkordanz“ (Rölleke 2006). Dabei handelte es sich um eine Art Zettelkasten, in dem die Brüder zwischen 1807/9 und 1811 Verweise auf parallele Fassungen oder Motiventsprechungen zu Sagen festhielten, so dass aus diesem prinzipiell unendlichen Projekt ein Lexikon aller mündlichen und schriftlichen, lateinischen und volkssprachlichen, mittelalterlichen und frühmodernen Stoffe, Motive und Figuren entstanden wäre (Beispiele: ,Schwarze und weisse Segel‘ [also unglückliche oder gute Botschaft], oder ,das Geschlecht verändern‘). – Am ehesten wird man sich das Ziel des Ganzen vorstellen können, wenn man die Enzyklopädie des Märchens (EdM) heranzieht (Ranke 1977–2015), die erkennbar auf Grimmschen Klassifikations- und Verzeichnungsmustern basiert. In der EdM ist zugleich eine zweite, lange nach den Grimms begründete Unternehmung abgebildet: der von den Volkskundlern Antti Aarne und Stith

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Thompson begründete Motif index of folk literature (AaTh) (Aarne/Thompson 1973; Thompson 1955–1958). Diese Publikation zeugt von der Ende des 19. Jahrhunderts verbreiteten Episteme nahezu jeglicher Wissenschaft: das beinahe unendliche Material, in diesem Fall alles, was über die Jahrhunderte wiederholt erzählt, verarbeitet und abgewandelt wurde, zu klassifizieren. Der Impuls von AaTh war also ein taxonomischer. 5. Narrateme: Der russische Strukturalist Vladimir Propp publizierte 1928 seine Morphologie des Zaubermärchens (1975), worin er anhand vieler russischer Märchen feststellte, dass zwar die Inhalte der Texte an der Oberfläche stark variieren, darunter aber eine konstante Tiefenstruktur freigelegt werden kann. Propp löste aus den konkreten Texten sogenannte Narrateme, aus denen er stabile Handlungsstrukturen unterhalb variabler Ereignisabläufe ableitete. Seine These lautete, dass es eine begrenzte Anzahl von Möglichkeiten gebe, ein typisches Volksmärchen zu bauen. Diese Auffassung ist einerseits für die Narratologie fruchtbar, andererseits hat sie mit der Motivforschung so viel zu tun, dass sie das begrenzte Inventar an Narratemen ähnlich verwaltet wie dies auch für andere Textsorten möglich ist. Als Christopher Booker 2004 sein Buch The seven basic plots publizierte, argumentierte er in eine ganz ähnliche Richtung. Motivforschung hat also unmittelbar mit der Struktur der Texte zu tun, seien es narrative oder dramatische, weil sie die Kombinationsmöglichkeiten zu einer Art feststehender ,Grammatik‘ verdichtet. 6. Positivismus: Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dominierte in der wissenschaftlichen Methodologie allgemein der Positivismus, d. h. jenes Wissenschaftskonzept, das das Sammeln und Sichern von Daten in den Mittelpunkt stellte und die Deutung des Materials mindestens in die zweite Reihe schob. In der Literaturwissenschaft zeichnete sich der Positivismus dadurch aus, dass erstmals in massivem Umfang Editionen literarischer Texte und Gesamtwerke unternommen wurden, die zugleich mit minutiösen Kommentaren versehen wurden. Für die Stoff- und Motivgeschichte war der Positivismus ein fruchtbarer Untergrund, insofern das Zusammentragen von Texten oder Textstellen, die inhaltlich zusammenpassten, eine aufwendige und zu jener Zeit innovative, vor allem aber auf keine Weise spekulative Verfahrensweise darstellte. Die Blütezeit der positivistischen Stoff- und Motivforschung fiel aber erst in die Zeit um den und nach dem Ersten Weltkrieg. Das typische Format einer solchen stoff- oder motivhistorischen Untersuchung war die Dissertation, denn im Umfang von seinerzeit etwa 100 Seiten ließ sich eine überschaubare Anzahl von motivgleichen Texten vergleichen (siehe seit 1929 die Reihe Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur mit Untersuchungen wie Paulus im Drama oder Napoleon in der deutschen Literatur).2 Im Grunde blieb die Thematologie, 2 Hg. von Paul Merker und Gerhard Lüdtke. Am Ende des ersten Bandes (Grenzmann, Wilhelm:

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auch wenn sie im deutschen Sprachraum nicht so hieß, dem positivistischen Paradigma über die folgenden Jahrzehnte verpflichtet, und eigentlich hat sich, trotz der Frage nach sozialer/politischer Relevanz, bis heute nichts daran geändert, dass die Suche nach Konstanten und der Versuch, für diese Erklärungen zu finden, eine der Hauptwurzeln für das Interesse an der Komparatistik weltweit ist. 7. Publikationstypen: Mehrere Publikationsformen der Vergleichenden Literaturwissenschaft können bis heute als typisch gelten: die Anthologie, die unter einem Oberbegriff steht, Lexika zur antiken Mythologie, zur Bibel oder zu historischen Gestalten in Literatur, Kunst, Film usw., Stoff- und Motivlexika, die in den wichtigsten Diskurssprachen der internationalen Philologie existieren, Monographien zu einzelnen Themen, Motiven usw., zum Don Juan-Stoff, zum Motiv des Spiegels oder zum Symbol der Lerche. – Das Nachschlagewerk an sich ist die typische Publikationsform der Thematologie (z. B. Frenzel, Seigneuret, Daemmrich, Ceserani u. a.). Ob Thema, Stoff, Motiv oder etwas anderes, ist in den Artikeln zum Mond oder ähnlichem nicht von zentraler Bedeutung. Als umfangreichstes Nachschlagewerk der Thematologie kann momentan das italienische Dizionario dei temi letterari gelten. An der Größe der Lexika und dem betriebenen Aufwand lässt sich praxeologisch recht gut ablesen, was offenbar als eine Hauptwissensart der Stoff-, Motiv- und Symbolforschung betrachtet werden kann: nämlich das Zusammentragen von Beispielen, das Ordnen dieser Exemplare und die (implizite) Voraussage weiterer Texte. 8. Frenzel: Möglicherweise hat das gewisse Schattendasein der Stoff- und Motivgeschichte auch damit zu tun, dass diese Forschungsrichtung für einige Jahrzehnte von Elisabeth Frenzel (gest. 2014) dominiert wurde, die unbestreitbar die Theoriebildung und die Lexikographie mit Standardwerken versorgte, aber aufgrund ihrer frühen Verstrickung in die vom Nationalsozialismus beeinflusste Germanistik3 einer zunehmenden Kritik und teilweise verlegener Halb-Distanzierung anheimfiel. Auch deshalb konnte keine rechte Kontinuität nach Frenzel entstehen. Wenn man die Diagramme in einem ihrer Bücher betrachtet, wird die Episteme der Stoff- und Motivforschung (Beispiel: ,die verleumdete Gattin‘) deutlich (1980, S. 52–70). Diagrammatisch lässt sich das Erkenntnisinteresse Die Jungfrau von Orleans, Berlin/Leipzig 1929) ist eine Ankündigung der sehr umfassend angelegten, in der Folge aber nicht in dieser Ausdifferenzierung realisierten weiteren Planung aufgelistet, die folgende Stoffgruppen umfassen sollte: Epochen (Antike, Mittelalter, Neuzeit), Kirchengeschichte und Bibel, Literaturformen (Legenden, Sagen, Märchen, Fabeln), Personen (Dichter, Maler etc.), Stände und Berufe, Stoffe und Motive des Privatlebens (Familie, Liebe etc.), Natur, Zivilisation (Post, Eisenbahn, Großstadt etc.) und nicht zuletzt Klassikerrezeption (Homer, Shakespeare etc.). S. auch Schmitt, Franz Anselm: Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur. Eine Bibliographie. Begründet von Kurt Bauerhorst. 2. neubearbeitete u. stark erw. Aufl. Berlin 1965. 3 Vgl. ihre Berliner Dissertation: Die Gestalt des Juden auf der neueren deutschen Bühne (1940).

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erklären, das sich dort klar auf Genealogien und Entwicklungen, aber auch auf Komplexität und Überblick richtet. 9. Wilperts Klassifikation: Als zweites praxeologisches Beispiel zeigt Gero von Wilperts Studie über den Schatten als literarisches Motiv (1978), wie die besondere Sichtweise der Motivforschung sich typographisch äußert: Neben der Art, wie Wilpert seine Texte historisch und systematisch ordnet, neben der Methode, mit der er Erzählkerne um die Idee des verlorenen Schattens bestimmt und dadurch gleichsam Schubladen etikettiert, kann man schon am Inhaltsverzeichnis ablesen, wie mit Klassifikationen und Subklassifikationen gearbeitet wird, wie Zahlen und Buchstaben als Werkzeuge der Kategorisierung und Hierarchisierung funktionieren. 10. Mittelalterforschung: Eine besondere Spielart der Symbolforschung ist die von Friedrich Ohly entwickelte mittelalterliche Bedeutungsforschung. Hierbei ging es darum, in der Literatur und auch Kunst des europäischen Mittelalters den in zahlreichen exegetischen und allegoretischen Schriften festgehaltenen Signifikationen von Dingen, Materialien, Tieren, Zahlen usw. nachzuspüren. Da die Mönchskultur des Mittelalters nicht durch Territorien- oder Sprachgrenzen beschränkt wurde, verkörpert sie sozusagen ein vorweggenommenes komparatistisches Arbeitsfeld, eine Art globalisierter Literatur vor 1000 Jahren. Beispiele sind: Christel Meier-Staubach: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert (1977); Heinz Meyer/Rudolf Suntrup: Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (1999); Christel Meier-Staubach/Rudolf Suntrup: Handbuch der Farbenbedeutung im Mittelalter (2012) u. a. Diese Werke basieren auf einem Grundkonzept der Zeichenhaftigkeit der Welt, wie es im Hochmittelalter etwa von Bartholomaeus Anglicus (1190–1250, De proprietatibus rerum) vertreten wurde und bis in Symbolenzyklopädien der frühen Neuzeit (z. B. Filippo Picinelli: Mundus symbolicus, 1687) fortwirkte. Als methodologisches Problem wurde vielfach empfunden, dass querschnitthaft das Symbolinventar eines homogen vorgestellten Mittelalters rekonstruiert wurde. Behandelt man diesen Aspekt mit Vorsicht, so steht fest, dass die rekonstruktiven Lexika mittelalterlicher Bedeutungen sozusagen additiv dasselbe tun, was auch neuzeitliche Nachschlagewerke zu literarischen Motiven und Symbolen tun: Sie bilden das – modern gesprochen – Archiv unserer Kultur ab, alle Signifikate, die grundsätzlich in einem Kommunikationszusammenhang aufgerufen sein können. 11. Thema als Aktualitäts- und Relevanzbegriff: 1993 gab Werner Sollors in den USA den Sammelband The Return of Thematic Criticism heraus. Dort ging es u. a. auch um das, was der Editor „Thematic Practice“ nannte, die Frage also, wo und wie inhaltliche Studien in der Literaturwissenschaft eigentlich vorkommen. Vor allem wurde bereits damals ein Neubeginn der Thematologie postuliert (vgl. Scarinzi 2009). – Ein Beispiel für ein nicht mehr nur innerliterarisches Sujet ist

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der Inzest (gleich, ob Vater/Tochter, Mutter/Sohn oder Geschwisterinzest), der eines der brisantesten und langlebigsten Motive darstellt. Die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der westlichen Welt führten zuletzt dazu, den Inzest als Straftatbestand in Frage zu stellen. Damit ist ein Text über Inzest definitiv in einem laufenden, nicht auf Belletristik limitierbaren Diskurs angelangt, und dies gilt auch für alte Texte zu diesem Thema, denn sie können jederzeit argumentativ zitiert werden. Analoges gilt natürlich für alle anderen ,Motive‘, die nun als Themen in den Medien verhandelt werden.4 – Ein wesentliches Attribut des Themas ist seine Relevanz im Gegensatz zur scheinbaren oder wirklichen Zeitlosigkeit des Motivs. Zwar sind auch Motive historischem Wandel unterworfen, aber langfristig. Das Thema hingegen, wie es verstanden werden sollte, hat eine aktuelle Bedeutung; es ist das inhaltliche Objekt, das der Gestaltung eines Kunstwerks seinen Zweck verleiht. Es ist also möglich, dass ein bestimmtes Motiv der Kommunikation eines Themas gleichsam dient, aber natürlich setzt dies eine zweckrationale Konstruktion des literarischen Texts voraus, was insbesondere in der Lyrik nicht immer zutreffen muss. Als auffällige zeitgemäße Themen ließen sich vor etwa zehn Jahren zur Zeit der Bankenkrise Geld und Ökonomiekritik beobachten. In dichter Folge erschienen vor allem Theaterstücke, die sich mit der Funktionsweise des Bankenwesens befassten. Hieran lässt sich ablesen, dass ein aktuelles Thema eine Flut von Publikationen in Dutzenden aktiver Literatursprachen generiert. Daraus wiederum entsteht die Frage, wie angesichts dieser quantitativen Entwicklung eigentlich eine ,komplette‘ Inventarisierung literarischer Inhalte noch möglich ist oder vorsichtiger : ab wann sich eine inhaltliche Untersuchung zumindest auf ein repräsentatives Korpus stützt. 12. Menschentypen und Orte: In den meisten literarischen Texten wird gehandelt; die meisten spielen in einer realistisch gezeichneten oder davon abgeleiteten Gesellschaft. Deshalb kommen in den meisten Texten Menschen vor, oft in großer Anzahl und Differenzierung: nach Geschlecht, Ethnie, Aussehen, Charakter, Beruf usw. Sie sind Individuen, und zugleich Typen, erfüllen Funktionen als fiktionale Figuren, halten sich an realen oder erdachten Orten auf. Ein älteres Nachschlagewerk trug z. B. den Titel Beruf und Arbeit in deutscher Erzählung (Schmitt 1952). Seit Jahren entsteht in Wien ein Lexikon fiktiver Dichter (vgl. Hölter 2011), das nicht einfach nur eine Aufzählung von Texten bezweckt, in denen irgendein erfundener Autor ein erfundenes Werk schreibt (das auch), sondern das darin auch eine von vielen Optionen demonstriert, wie die Literatur 4 Die breitere kulturwissenschaftliche Bewertung der Inhaltselemente von Literatur ist sprachlich oft daran zu erkennen, dass in den deutschsprachigen Publikationen in Anlehnung an Stephen Greenblatt nicht mehr vom „Behandeln“ von Themen, sondern von einer Art geschichtsübergreifendem „Verhandeln“ die Rede ist.

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metareferentiell ihre eigenen Produzenten abbildet. Eine weitere Klassifikationsmöglichkeit ist die nach Orten, Ländern, Städten. Ein wichtiger Seitenaspekt dieser Überlegungen ist es sicher auch, dass die Stoff- und Motivforschung an die Fiktionstheorie grenzt: wer die Diegese eines Romans als künstliche Wirklichkeit versteht, muss sich mit der Frage auseinandersetzen, welchen Status zum Beispiel London in einem Roman von Charles Dickens hat. Der Roman als erfundene Geschichte von weitgehend erfundenen Figuren spielt in einer Stadt, die keinesfalls auf gleiche Weise als erfunden gelten kann, die aber in dem Roman selbst trotzdem eine Art sekundärer Existenz führt. 13. Zu den fiktionalen Menschen: Eine neuere Tendenz ist es, sich klarzumachen, dass die erfundenen Figuren, egal, ob Tiere, Menschen, Comic-Figuren oder Superhelden sich inzwischen von ihren Urhebern, aber oft auch den Ursprungstexten gelöst und eine Art ewiges Eigenleben begonnen haben. Don Quixote ist ein Produkt von Cervantes, aber man muss nicht einmal den Namen Cervantes kennen, um (ungefähr) zu wissen, wer Don Quixote „war“. Der Ritter von der traurigen Gestalt ist inzwischen eine Persönlichkeit mit Weltgeltung, die, unabhängig davon, dass sie nie existierte, durch eine Anzahl ikonischer Situationen ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegangen ist. (vgl. zum Thema: Karlan u. a. 2006; Pollard-Gott 2010; Drew 2010) 14. Breitere Thematologie inkl. Kunstwissenschaft: Es ist schwierig und schwer begründbar, die Stoff- und Motivgeschichte nur und genau in der Literaturwissenschaft zu verankern. Sie hat schon immer Nähe zur Kunstgeschichte (Ikonographie), denn auch diese klassifiziert, was auf Bildern dargestellt ist, nach identifizierbaren Personen, historischen Stoffen und situativen Motiven, und beobachtet diachron deren Stabilität oder Veränderbarkeit. Auch scheint sie in eine allgemeine Diskursanalyse zu münden, wie seit den 1970-ern üblich. Insbesondere die ,Kollektivsymbolik‘ (Jürgen Link) bietet ein Paradigma, das wiederkehrende Symbole bewertbar macht, gleich, ob in Literatur, Film oder Zeitung (vgl. Parr, Rolf/Thiele, Matthias 22010). Gerade heute, da große Interessengruppen sich etwa mit Klimawandel (ecocriticism) oder der Veränderung der Lebenswelt durch Technik, Verkehrsmittel und Medien befassen, scheint diese vertiefende Betrachtung allgemeiner und verbreiteter Symbole gut einsetzbar. Es ist auch kaum sinnvoll, prinzipiell zwischen verbalen und ikonischen Einheiten zu unterscheiden, als ob Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte oder Filmwissenschaft separat mit den Inhalten ästhetischer Repräsentation (Texten/ Bildern) umgingen. Moderne Thematologie wird also oft ,across media‘ operieren. 15. Kultur und Wissen: Christiane Dahms verweist darauf, dass durch den cultural turn „Stoffe und Motive nicht länger als gestalterische und Bedeutungen transportierende Elemente von Texten verstanden werden, sondern als Objekt und Methode einer als Text begriffenen Kultur“ (2013, S. 128). Ein typisches

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Beispiel für die explosionsartig sich vermehrende Literatur auf der Basis eines rezenten Stoffs ist seit 2001 9/11. Dieses Geschehnis hat die gesamte westliche Kultur nachhaltig infiltriert; rein literaturwissenschaftliche Kategorien greifen hier eindeutig zu kurz. – Eine weitere Anknüpfungsmöglichkeit für thematologische Studien hat sich durch das zunehmende Interesse für den Wissensbegriff eröffnet, weil die Frage, in welchem Rahmen und auch warum schöne Literatur eigentlich zahlreiche nicht-fiktionale Wissensgebiete streift oder integriert, innerhalb der Thematologie stets ein wenig unglücklich angefasst wurde. Es ging eigentlich immer um das aus der sozialistischen Widerspiegelungstheorie bekannte Problem, was genau die Kunst eigentlich mit dem Leben oder der Wirklichkeit zu tun hat. Will man über die aristotelische MimesisTheorie hinaus, kommt man mit der Feststellung aus, dass Literatur unter anderem die Tendenz und vielleicht die Aufgabe hat, Wissen aus allen möglichen anderen sozialen Systemen sich anzueignen, zu verarbeiten, zu ordnen und natürlich überhaupt rezipierbar zu machen. Formen des Wissens begegnen in praktisch allen Texten der Weltliteratur und dementsprechend auch in Geschichten, die man gewohnt ist, als Verknüpfung einer bestimmten Anzahl von Motiven zu verstehen. Das Wissen der Literatur ist also nicht nur in Handlungsmotive oder historische Stoffe gliederbar, sondern auch nach den den verschiedenen Disziplinen eigenen Wissensordnungen. Beispielsweise ist das Rechtswissen in den zahlreichen Texten, in denen es um juristische Fragen geht, auch oder sogar vorrangig nach der Wissensordnung zu betrachten, die diesem konkurrierenden Diskurs je nach Land eignet. Einfach gesagt: Wer etwa William Gaddis’ Roman A Frolic of His Own (dt. Letzte Instanz) liest, in dem es zentral um Urheberrecht geht, wird die US-amerikanische Rechtspraxis mit ihren Besonderheiten und ihrer Terminologie (daher der Titel) nutzen, um die Informationen des Romans inhaltlich zu gliedern und zu verstehen. Die schon erwähnte Monographie über Kriegsinvaliden musste eine ganze Reihe von Disziplinen kombinieren, um dem Motiv oder besser : dem Thema (der Terminus soll hier im engeren Sinn die soziale Relevanz markieren) der Kriegsinvaliden in der Literatur bis zum 19. Jahrhundert beizukommen: Medizin, Sozialgeschichte, Militärgeschichte, Ereignisgeschichte, aber auch Psychologie und Ikonographie. 16. Metaphern und Topoi: Weitere Konstanten, die sich oft mit den inhaltlichen verbinden, betreffen die andere Hälfte des Zeichens, den Signifikanten, also z. B. Sprachbilder, Metaphern, Topoi. Am Symbol zeigt sich, dass sich gar nicht genau trennen lässt, ob man es primär mit einem graphischen oder mit einem sprachlich/lautlichen Zeichen zu tun haben: Wenn in einem Gedicht häufig das Wort „Flamme“ begegnet, sehen die Rezipient(inn)en dann nicht vor dem inneren Auge Feuer? (Wingertszahn 1990, S. 124–145) – Die Metaphorologie ist zusammen mit der Topologie jene Spielart der Motivforschung, die eher auf die verbale Erscheinungsweise der Zeichen abhebt. Gerade die Selbstbeobachtung

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der Disziplin zeigt, wie die Toposanalyse und das Bewusstsein für die oft verborgene Metaphorik (,deep metaphors‘, D. Fishelov) aufklärend fungieren kann. Wenn also auffällt, dass bei Herder und den Romantikern die Entwicklung der internationalen Literatur immer wieder mit Vegetationsmetaphern belegt wird oder dass in der Goethezeit nicht nur literarische Gattungen wie sich entwickelnde Pflanzen konzeptualisiert werden, sondern das Neben- und Miteinander der Autoren des Kanons als Park oder Garten versinnbildlicht wird, sollten die darin impliziten Bewertungen: lineares Wachstum, göttliche Schöpfung, Aufblühen und Verwelken, Ordnung und Pflege vs. Wildnis u.v.m. erkennbar werden. Und diese programmieren wiederum das Denken der Vergleichenden Literaturwissenschaft bis heute (vgl. Hölter 2013, S. 87–90). 17. Suchmaschinerie und Kanon: Über die gängige Praxis konnte man vor zehn Jahren resümieren, dass in früherer Zeit „für eine solide thematologische Dissertation etwa zwei Jahre Sucharbeit vorauszusetzen waren. Dabei bestand die bequemere Hälfte in der Auswertung von Registern, die spannendere, aber auch frustrierendere und unvorhersagbare im Lesen […] von Texten.“ (Hölter 2004/2005, S. 135) Auch vor der Existenz von Google existierten Vorläuferformen der heutigen Suchmaschinen, womit nicht nur die Bibliothekskataloge gemeint sind (vgl. Brandstetter/Hübel 2012). Das ist wichtig, weil die Logik der Stoff- und Motivforschung im Grunde bis heute dem Prinzip des Zettelkastens gehorcht (Gfrereis/Strittmatter 2013), was keine Abwertung impliziert. Man kann dies an Elisabeth Frenzels Zwillingswerk, dem Stoff- und dem Motivlexikon beobachten, denn die Artikel wurden von Auflage zu Auflage behutsam erweitert, und zwar weitgehend, ohne den Grundaufbau des Artikels zu verändern. Texte, die der Verfasserin erst später bekannt wurden oder neue Texte wurden hauptsächlich hinten angehängt. Dieses additive Prinzip lässt sich natürlich in digitaler Form leicht verbessern, und doch bleibt es dabei, dass die Stoff- und Motivforschung im wesentlichen Belege akkumuliert. Dabei muss sie einen Kern benennen, ein Lemma, von dem ausgehend das prinzipiell unendliche Textkorpus der Weltliteratur ,gescannt‘ wird, sodass in einem totalen thematologischen Lexikon der Weltliteratur quasi alles Sagbare mindestens einem Artikel zugehören würde. So wie Einträge in einer Enzyklopädie nicht ohne Querverweise auskommen, sind aber auch die Inventare der Literatur stets mit einem doppelten Boden ausgestattet, was die wissenschaftliche Präzision steigert, aber das Problem der Einordnung aufweicht. Technisch ist das kein Problem: jeder literarische Text kann im Prinzip einer unbegrenzten Anzahl von Motiven oder Symbolen zugeordnet werden; eine totale Durchklassifikation literarischer Texte wäre möglich. Trotzdem repräsentieren die gängigen Nachschlagewerke implizit und in ihren Registern einen zwar breiten, aber eben doch selektiven weltliterarischen Kanon.

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18. Wörter und sensible Wörter : Es wurde bereits betont, dass es oft keinen Sinn hat, nach Wortarten oder anderen grammatischen Kategorien zu unterscheiden, dass also ,Invalide‘; ,Invalidität‘; ,betteln‘ usw. zum Gesamtkomplex (Sujet, Thema) der Kriegsinvaliden gehören (Hölter 1995, S. 21). Erst 2008 erschien erstmals in deutscher Sprache ein Nachschlagewerk zu literarischen Symbolen (Butzer/Jacob 22012), das alphabetisch Stichworte wie ,Gefängnis‘ oder ,Geier‘ abarbeitete. Die Komparatistik hat aber mit einem Problem zu tun, das vielen gar nicht bewusst ist, weil es das Englische als scheinbar universelle Wissenschaftssprache gibt. Dieses Problem ist die Terminologie, die in jeder Sprache ein unterschiedliches Netz aus Begriffen und Konzepten über die Dinge stülpt. Es geht darum, dass Stoffe meist mit historischen Namen belegt werden und insofern keine Probleme aufwerfen, dass aber Motive und Themen nicht selten auf eine allgemeine sprachliche Formel gebracht werden müssen, die in jeder Sprachkultur ein wenig anders heißen kann. Hier gilt naturgemäß, dass sich in der Benennung eines Themas bereits eine Bewertung verbergen kann und dass deswegen auch Motivlexika dem Zeitgeist unterworfen sind. Es ist z. B. eine Eigenheit der Motivgeschichte nicht nur im Deutschen, dass bis jetzt festgehalten wird an Einträgen und Buchtiteln mit dem Lemma ,Zigeuner‘, während die öffentliche Sprachverwendung das Wort längst gebrandmarkt hat. Grund für die relative Stabilität ist, dass die Literatur ihre eigenen Traditionen ausgebildet hat und (Vor-)Urteile reproduziert, die man durch einfache Umbenennung nicht aus der Welt schafft, sondern eher der Analyse und Kritik entzieht. In der Zukunft wird man vermutlich mindestens mehr mit Anführungszeichen und ausgestellter Selbstbeobachtung arbeiten. 19. Wortschatzarbeit: Es geht also um „Wortschatzarbeit“ (Hölter 2004/2005, S. 137). Nun sind fast alle daran gewöhnt, den Wissensdurst zuerst bei Wikipedia zu stillen. Begreiflicherweise ist es sehr viel einfacher, Stoffe, also historische oder mythologische Personen oder Ereignisse, in einen Wikipedia-Artikel zu bringen. Wenn man aber etwa die Einträge zu einem typischen Motiv, dem ,Menschenhass‘, vergleicht, gelangt man zu den Artikeln ,Misanthropie‘ auf deutsch, englisch, französisch, italienisch.5 Die Artikel sind verwandt, aber alle verschieden. Zentrale Beobachtung ist, dass bei Wikipedia die Misanthropie nicht primär als (literarisches) Motiv rubriziert ist, sondern als eine Haltung, die in der Philosophie ebenso verhandelt wird wie in der Literatur oder Kunst. Wikipedia scheint aber nur an der Oberfläche ein lückenloses Entsprechungssystem zu sein. Die Lemmata sind gleich, die Texte z. T. sehr verschieden. Im genannten Fall ist der italienische Eintrag der bei weitem umfangreichste und 5 https://de.wikipedia.org/wiki/Misanthropie; https ://en.wikipedia.org/wiki/Misanthropy ; https://it.wikipedia.org/wiki/Misantropia; https://es.wikipedia.org/wiki/Misantrop%C3%A Da – Abruf 22. 5. 2016.

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auch für die Literatur informativste; der Begriff des Menschenhasses ist aber in nicht weniger als 37 Sprachen präsent. 20. Digitalität: Eine dramatische Änderung der Sachlage und notwendigerweise auch der Forschung lässt sich durch die Massenkommunikationsmittel und sozialen Medien beobachten. Einer der Kernpunkte der vor allem volkskundlichen Motivforschung war über viele Jahre das Interesse an der Ausbreitung bestimmter Märchenmotive über den europäischen Kontinent hinweg. Die Literaturwissenschaft, die sich hauptsächlich mit Texten befasste, welche auf einen benennbaren Autor zurückgingen, konnte noch optimistisch sein, was die Möglichkeit betraf, den Weg eines Elements X von Autor A über B zu C nachzuvollziehen. Die Motiv- und die Stoffgeschichte waren somit typische Hilfsmittel zur Aufklärung intertextueller Sachverhalte. Dies änderte sich radikal seit der digitalen Revolution. Viele Dokumente sind flüchtig, vor allem aber sind die Kommunikationswege andere geworden, so dass weder eine genaue Provenienz noch ein genauer Transferweg bestimmt werden können. Kurioserweise ist das Interesse an dieser Art von Transfer nicht erlahmt, nur vollziehen sich vergleichbare Prozesse heute massenhaft, in Sekundenschnelle und ohne Rücksicht auf Ländergrenzen: „Wenn die Frist, innerhalb deren Informationen oder Gerüchte, Themen, Stichworte, Motive oder Formulierungen von A nach B um die Welt wandern, sich in Mikrosekunden bemißt, wenn die elektronischen Wege überdies weitgehend anonym sind, dann ist es naiv zu glauben, daß man in einigen Jahrzehnten noch Aussicht hat, eine Filiation von Inhaltselementen bei diversen Autoren nachzuzeichnen. Nicht nur wird es unmöglich sein zu ermitteln, wer was von wem ,hat‘, der oder die Autor(in) selbst wird dies im Normalfall nicht wissen. Es wird keine Rolle mehr spielen.“ (Hölter 2004/2005, S. 133f.)

Vor zehn Jahren war deshalb die Rede von einer „transitorischen Phase“, thematologische Sachverhalte seien „nicht zuverlässig vorhersagbar“, doch habe sich „die Aufgabenstellung leise verschoben, ohne daß dies bisher in die Bewertungspraxis eingegangen wäre, und erst recht, ohne daß die Komparatistik offiziell ihre Ziele justiert hätte“ (Hölter 2004/2005, S. 135). Als jüngere Trends zählte auch Christine Lubkoll auf: „verstärktes Interesse an den kommunikativen und interpretativen Aspekten von Stoffen und Motiven, Themen als Anhaltspunkte der Verknüpfung von literar. Texten und ihren Kontexten […] sowie computergestützte Inhaltsanalyse“ (Nünning 2008, S. 687) Die Volltextsuche samt Einsatz Boolescher Operatoren ermöglicht ein völlig anderes Arbeitsdesign: „Ein Jahr darüber zu reflektieren, Konzepte zu entwickeln, potentielle Begründungen zu entwerfen, und dann in einem Monat mit allen Registern der Digitalität die Bestätigung zu generieren, so ungefähr könnte eine verantwort-

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liche komparatistische Studie in näherer Zukunft entstehen.“ (Hölter 2004/2005, S. 137). Es ist inzwischen beinahe allgemein anerkannt, dass kooperative Netzprojekte, allen voran Wikipedia, vielfach die Print-Nachschlagewerke abgelöst haben, selbst dort, wo die Sprachverschiedenheit der einzelnen Einträge sie zugleich reichhaltig und unzuverlässig macht. Thematologie findet also faktisch oft kumulativ im Internet statt. Es liegt aber auf der Hand, dass all diese Erwartungen an eine quantitativ verfahrende und dadurch auch exakte Thematologie im Rahmen der methodischen und institutionellen Konstitution der Digital Humanities neu verhandelt werden müssen. Dies ist bisher allerdings kaum geschehen. Hier seien deswegen abschließend einige Perspektiven und Anforderungen resümiert: Was genau wird das Untersuchungsfeld einer künftigen Thematologie sein? Lassen sich literarische Texte im engeren Sinn von anderen Textsorten und lassen sich Texte im engeren Sinn von anderen kulturellen Repräsentationen trennscharf und vor allem sinnvoll abgrenzen? Da die Praxis der Komparatistik wie der Kulturwissenschaften (vgl. Bachmann-Medick 2006)6 in den letzten Jahrzehnten eher unbeholfen an einer solchen Separation festgehalten hat, liegt die Vermutung nahe, dass der nächste Schritt, der zu einer universellen digitalen Verfügbarkeit kultureller Artefakte, gleich ob Text, Bild, Film, Musik, auch endgültig zu einer gemeinsamen Auswertung unter thematologischen Gesichtspunkten führen wird oder schon subliminal geführt hat. Die bisherige Komparatistik war noch stets buchförmig, gleich ob im Print- oder im pdfModus. Sobald jedoch die Resultate von thematologischer Forschung substantiell digital gespeichert und kommuniziert werden, sobald also etwa Film- oder Opernzitate nicht mehr in Form einzelner Standbilder zu Buchillustrationen heruntergebrochen werden, werden sich die Proportionen zwischen den Künsten in entsprechenden Untersuchungen verschieben, zweifellos eher zulasten der reinen Literatur. Viel wichtiger ist aber, dass damit eine supraverbale Repräsentation von Wirklichkeits- bzw. Fiktionselementen ins Zentrum rückt, weil irgendwo die Zugehörigkeit zu einer Klasse gleicher Elemente indiziert werden muss. Womit sich eine andere Trennlinie abzeichnet: die zwischen essentiell textuellen Elementen, die auf dem reinen Wortlaut basieren sowie auch noch sprachlichen Metaphern einerseits und allem, was verschieden verbalisiert werden kann, aber durch die Klammer des Themas vereinigt wird, inklusive der Symbole. Für beide Felder ist die digitale Revolution von Bedeutung. 6 Dass die gesamte Frage der systemischen Lokalisierung von Themenforschung von seiten einer nicht-literaturwissenschaftlich positionierten Kulturwissenschaft teils anders eingestuft, teils als überholt betrachtet wird, sei hier nur begleitend erwähnt. Diese Debatte abzubilden, würde an der epistemologisch-praxeologisch orientierten Perspektive dieses Beitrags vorbeigehen.

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Die Digital Humanities stellen immer mächtigere Tools bereit, die Korpora der Volltextsuche zu unterziehen. Auf dieser Basis ist die Vielsprachigkeit des textuellen Materials plötzlich von größter Bedeutung, denn das Browsen eines digitalen Korpus funktioniert prinzipiell nach Wortlaut und unter Berücksichtigung der Grenzen zwischen Tokens. Eine zukünftige Weiterentwicklung hätte die Sprachgrenzen zu überwinden; bisher jedoch liegt hier eine Beschränkung, die gerade für die Komparatistik von Belang bleibt. Für alle non-verbalen Repräsentationen gilt, wie erwähnt, bisher, dass sie an einem Index-Ort verbalisiert und damit für eine Referenzierung auf Ähnliches/Gleiches kompatibel gemacht werden. Der nächste Schritt besteht also zunächst darin, bestehende Indizes (Motivlexika, ikonographische Lexika, Filmdatenbanken usw.) zu übersetzen in gleichförmige Metaverzeichnisse – eine praktikable und idealerweise im selben Schritt auch multilinguale Aufgabe, für die mehr noch relativ viel Arbeitskraft erforderlich ist, als dass Kapazitäts- oder Softwareprobleme ihr im Weg stünden. Die Angleichung diverser medialer Formen ist auf der Ebene der digitalen Matrix erforderlich, um beispielsweise strukturelle Ähnlichkeiten erfassbar und analysierbar zu machen: etwa die intrinsische Kartenförmigkeit eines verbalen Texts, das narrative Potential eines Diagramms. So bietet erst der aufwendige Transfer von Material in xml-Codierung, namentlich dann bei handschriftlichen Unikaten, die Chance auf eine digitale Auswertung. Franco Morettis Arbeit im Stanford Literary Lab hat sich bekanntermaßen zunächst primär mit gattungshistorischen oder auch einmal literaturgeographischen Fragen befasst. Inzwischen ist aber deutlich geworden, dass das distant reading-Konzept (Moretti 2013) gerade unter den Gesichtspunkten der Quantifikation, der Neutralität, auch der potentiellen Unendlichkeit eines Korpus für die Thematologie eine – wenngleich mit nicht-traditionellen Zielen verknüpfte – neue Richtung bietet. Das Hauptproblem wird auch hier wieder die Vielsprachigkeit des literarischen Materials sein.7 Überall dort, wo die untersuchten Stichworte namenförmig sind (Ortsnamen, Personennamen usw.), ist dies leicht überwindbar. Das Problem darf aber nicht unterschätzt oder übergangen werden, wenn man die reale Vielfalt der gegenwärtigen Weltliteratur respektieren will. Mit der Änderung der Ziele gegenüber einer bisherigen Thematologie ist hier gemeint, dass eine distant reading-Inhaltsforschung sich logischerweise nicht für die Hin- und Herbewegung zwischen Stoffgeschichte oder Problemkontinuität einerseits und der Semantisierung oder Interpretation einzelner Texte oder Testimonien andererseits interessieren kann. Das Besondere der Verhandlung eines Themas im einzelnen Fall tritt hinter die Regel oder den Normalfall zurück, oder, wie es Michel Issacharoff drastisch formulierte: „La 7 Vielleicht befindet sich deshalb unter den bisher 16 „Pamphleten“ keines mit einer klassisch thematologischen Fragestellung: https://litlab.stanford.edu/pamphlets/.

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th8matologie tue la litt8rature. R8duire un texte / un sottisier th8matique, c’est l’apprivoiser en supprimant sa diff8rence.“ (Issacharoff 1995, S. 95; wobei eine Reduzierung vorausgesetzt wird, die ja in keinster Weise stattfinden muss.). Dieser Regelfall freilich wird mit ungleich größerer Treffsicherheit erfasst werden können. – Die Möglichkeiten, die Digital humanities für die Thematologie bieten, sind also, kurz zusammengefasst: Eine radikale Erweiterung des untersuchbaren Materials, möglicherweise zukünftig eine Homogenisierbarkeit heterogener kultureller Zeugnisse, eine Modifikation der Repräsentationsweise und natürlich Präzision, Neutralität und statistische Auswertbarkeit. 21. Das Ungesagte: Schließlich sei noch – ganz jenseits der digitalen Möglichkeiten – auf ein anderes Erweiterungsfeld hingewiesen, das bisher in den Humanwissenschaften, beinahe im Wortsinn, ein Schattendasein führte: die Negativbefunde oder sogar die Nicht-Untersuchung (vgl. Hölter 2015). Die Literaturwissenschaft hat sich über Jahrhunderte zur Regel gemacht, Phänomene zu analysieren und zu besprechen, die der Fall sind. Das Nicht-Vorhandene wird normalerweise nicht zum Gegenstand von Forschung, und doch kann dies gerade auf dem Sektor der Thematologie von Belang sein. Die Feststellung, dass real oder in den künstlichen Welten der Fiktion vorhandende Phänomene nicht in Texten verhandelt, radikal formuliert: vergessen, übergangen, verschwiegen oder allenfalls verklausuliert werden, bedarf mindestens so sehr der Aufklärung wie die Bedeutung manifester literarischer Themen oder Motive. Freilich setzt eine solche Vergleichsprozedur die Etablierung einer Norm des Erwartbaren oder Möglichen voraus – und selbstverständlich liegt auch hier der Postulatcharakter, mithin eine implizite Politisierung der Themenforschung, nahe. Eine zunehmende Nähe kulturwissenschaftlicher Diskussion zu realen gesellschaftlichen Diskursen und Disputen ist aber ohnehin ein separat feststellbares Faktum. Die Frage der Neutralität oder Parteilichkeit von Themenforschung sei hier nur am Rande benannt. Für eine selbstreflektierte Thematologie ist hingegen auch auf einer zweiten Ebene die Markierung des Nicht-Vorhandenen von Belang und Gewinn, nämlich die Ermittlung dessen, was etwa in Nachschlagewerken oder auch in Netz-Enzyklopädien nicht aufgenommen ist. Dafür waren in Zeiten personaler Autoren- oder Redaktionsverantwortung Motive vermutbar ; dort, wo ein Wikipedia-Lemma tatsächlich von einer Vielzahl Autor(inn)en und nicht nur verdeckt von einigen wenigen fortgeschrieben wird, zeigt sich tatsächlich die Frage nach dem Grund für ein Nicht-Nennen oder eine disproportionale Repräsentation spezifischer Aspekte eines Themas. Bisher bewegt sich die Untersuchung von Figuren, Problemen, Themen, Memes, Mythen, Stoffen und allen anderen inhaltlichen Konstanten literarischer Texte vielfach in der Spur der bewährten Methodik. Angesichts der exponentiellen Vermehrung von Publikationen im Weltmaßstab ist dies begreiflich; alleine das Schritthalten mit der Globalisierung aktueller Themen oder transkultureller

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Mythen ist eine Herausforderung, der die Komparatistik, so sehr sie sich international organisiert, noch nicht gewachsen ist. Das technische Problem ist eines der numerischen Dimensionen, das prinzipielle aber eines der Sprachvielfalt und der begrifflichen Unschärfen. Selten werden grundsätzliche neue Fragen an die untersuchten Mechanismen gestellt wie etwa die von Alfonsina Scarinzi (2014), was eigentlich den Startschuss für die mediale Karriere eines Themas auslöse. Die komparatistische Thematologie steht, kurz zusammengefasst, technisch sicher, methodisch vielleicht und sozio-politisch vermutlich vor großen Möglichkeiten und großen Umbrüchen.

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Mythisierung des Mythos: Anmerkungen zu Pierre Klossowskis Le Bain de Diane. Oder: Die Unvermeidlichkeit der Antike

I Vor mehr als einem Vierteljahrhundert hat Ulrich Schulz-Buschhaus in der Zeitschrift arcadia Überlegungen „zum Verhältnis von einzelsprachlichen Literaturen und Vergleichender Literaturwissenschaft“ formuliert, in der Absicht, die „Unvermeidlichkeit der Komparatistik“ (1979, S. 223–236) zu erweisen. In ihrer Prägnanz und Luzidität haben die Argumente nichts an ihrer Gültigkeit verloren, ja mehr noch: sie sollten Präludium sein zu jedem Band, der sich mit Gegenstand und Perspektive der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft befasst. Die einzelsprachlichen Literaturen, die Schulz-Buschhaus paradigmatisch nennt, sind allerdings die üblichen: die deutsche, spanische, italienische, englische, französische – kurz: prominente europäische Literaturen, zudem der letzten beiden Jahrhunderte. Die räumliche und zeitliche Beschränkung tut der Argumentation in der Sache selbst keinen Abbruch – und dennoch ist sie symptomatisch für ein Verständnis von Komparatistik, das neuerdings ihr Image kulturwissenschaftlich, zudem weltliterarisch und interkulturell aufpoliert, doch glaubt, auf die Kenntnis ihrer historischen sprachlichkulturellen Voraussetzungen verzichten zu können: auf die Kenntnis der griechisch-römischen Antike.1 Damit verkennt sie freilich ihren Gegenstand: die Literatur und die Kunst selbst der Moderne – mithin jener Epoche, die in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses der Komparatistik getreten ist. Meine nachfolgenden Bemerkungen haben zwei Absichten: Zum einen möchte ich deutlich machen, dass es schlechterdings nicht möglich ist, Allgemeine und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, im ganzen Inter1 Beschränken wir uns einmal vorsichtshalber auf ,Europa‘. Das Interesse für außereuropäische Sprachen und Kulturen wird stets größer, doch die notwendigen Kenntnisse der Sprachen, Voraussetzung des Verstehens der Literaturen und Kulturen sind – im übrigen verständlicher Weise – kaum vorhanden.

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kulturalität – was immer darunter zu verstehen ist – ohne die Kenntnis der griechisch-römischen Kultur, ihrer Sprachen und ihrer Literaturen ernsthaft zu betreiben. Ob Ernst Robert Curtius, Erich Auerbach oder Aby Warburg, auf den sich insbesondere die Kulturwissenschaftler in den letzten zwei Jahrzehnten berufen, oder Fritz Saxl und Erwin Panofsky : für sie alle war die profunde Kenntnis der Antike, der Spätantike und der Epoche der Renaissance eine Selbstverständlichkeit ihres Metiers – und keineswegs Selbstzweck. Um auch nur eine rudimentäre Vorstellung von der Unvermeidlichkeit der antiken Literatur – im übrigen nicht nur – für Komparatisten zu geben, verzichte ich auf allgemein-theoretische Erörterungen, mache im Gegenteil eine ,Probe aufs Exempel‘: als Beispiel wähle ich einen modernen Künstler und Dichter, Pierre Klossowski. In einer Serie von Gemälden und in einem seiner bedeutenderen literarischen Werke, Le Bain de Diane, hat er sich eine antike Geschichte zum Vorwurf gewählt, die Geschichte von Diana und Actaeon. Mit der Wahl eines künstlerischen Werkes, das eine mythische Figur bzw. einen Mythos zum Kristallisationspunkt poietischer Reflexion macht, soll zugleich einem Bereich Rechnung getragen werden, der zu den prominentesten der Antikerezeption zählt. Denn die ,Arbeit am Mythos‘, um die viel bemühte Formel von Hans Blumenberg aufzunehmen, ist eine Konstante der abendländischen Kultur von den Anfängen bis in die unmittelbare Gegenwart. Seit fast dreitausend Jahren leben die antiken Mythen in immer neuen Variationen und Transformationen fort – in der bildkünstlerischen Darstellung, sodann in Literatur, Musik, Philosophie, Psychologie, Ethnologie, zudem in Film, Werbung, Comic – und dies ohne Unterbrechung oder gar Übersättigung. Das ist ein Phänomen. Wie ist diese beispiellose Faszination des antiken Mythos zu erklären? Was ist der Grund, weshalb nicht nur Künstler des Altertums, des Mittelalters und der Epoche der Renaissance als Sujet eine mythische Figur oder eine mythische Szene zum Vorwurf ihrer Darstellung und Interpretation wählen, vielmehr und neuerdings vermehrt die Künstler der Moderne und der unmittelbaren Gegenwart? Eine Antwort unter vielen vermag Pierre Klossowski und seine bild-textlichen Bezugnahmen auf Diana und Actaeon zu geben.2

2 Die nachfolgenden Ausführungen zu Klossowskis Bain de Diane basieren auf einem Vortrag, den ich bereits im Rahmen einer Tagung am Internationalen Kolleg Morphomata in Köln im Frühjahr 2012 gehalten habe: Die Evidenz des Mythos; Organisation: Ludwig Jäger, Andreas Kablitz, Maria Moog-Grünewald. Zu diesem Zeitpunkt war mir die ungemein erhellende und die vielfältigen Aspekte des klossowskischen Werkes analysierende und ausdifferenzierende Studie von Giulia Agostini (2012) nicht bekannt. Gleichwohl habe ich an meinem vorliegenden Text nichts verändert – er versteht sich nicht als eine exhaustive Lektüre von Le Bain de Diane (dazu bräuchte es eben hundert und mehr Seiten), als vielmehr als ein Plädoyer für die Kenntnis der Antike auch und gerade zum Verständnis der Moderne.

Mythisierung des Mythos: Anmerkungen zu Klossowskis Le Bain de Diane

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II Nunc tibi me posito visam velamine narres, / Si poteris narrare, licet. (Ov. met. III, 192f.) Es sind die Worte, die Diana – zornig, höhnisch, spöttisch – Actaeon entgegenschleudert, nachdem dieser sie, umgeben von ihren Dienerinnen, den Nymphen, beim Bade ohne Gewand, nackt also, gesehen. Es ist der Augenblick, in dem die Göttin der Jagd den Jäger mit Wasser besprengt und in einen Hirsch verwandelt. Seine Hunde zerreißen ihn „in der falschen Gestalt“ – falsi […] sub imagine cervi.3 Nunc tibi me posito visam velamine narres,/ Si poteris narrare, licet sind die Worte, die Ovid der jungfräulichen Göttin in den Mund legt in seiner so wirkmächtigen Erzählung von Actaeon im III. Buch der Metamorphosen, und es sind die Worte, mit denen Pierre Klossowski seinen 1956 bei JeanJacques Pauvert in Paris erschienenen literarischen Essay Le Bain de Diane eröffnet; ihnen kommt die Dignität einer Losung zu. Le Bain de Diane wurde in 2000 numerierten Exemplaren mit vier Schwarz/weiß-Photographien der sogenannten Diana von Versailles verlegt; die gewählten differenten Perspektiven inszenieren immer nur en d8tail und in distanzierendem Licht die Göttin als Erscheinung, momenthaft, visionär. Die Statue wird lebendiger Körper, ohne ihren statuarischen Charakter zu verlieren. Und doch sind die Photographien ein ,faute de mieux‘. In der zweiten Auflage von 1980 – dieses Mal bei Gallimard erschienen – sind sie ersetzt durch die Reproduktion einer Zeichnung von Klossowski selbst: Seit Beginn der 1950er bis in die 1990er Jahre hat Klossoswki die Begegnung Actaeons mit Diana immer wieder künstlerisch gestaltet: in Zeichnungen – in Bleistift4 oder Farbstiften5 auf Papier – und in einem Gemälde – polychromes synthetisches Harz und Acryl auf Leinwand6 ; die Varianten sind gering, doch die jeweiligen Darstellungen der beiden mythischen Figuren außergewöhnlich: Sie fallen heraus aus dem Üblichen, dem Bekannten von der ersten Buchillustration bis in die Moderne des 20. Jahrhunderts. Sie befremden und faszinieren zugleich. Denn nicht zu Unrecht vermeint man, in dieser Szene und ihren Varianten die „Zweideutigkeit des Begehrens zur Vorstellung“ gebracht, den „Einbruch der Lust und deren moralische Abwehr“, die „sich gleichzeitig in ein und demselben Körper“ vollziehe7. Dass diese Sicht über die Diana-Actaeon-Szene hinaus Gültigkeit für das künstlerische Gesamtwerk Pierre Klossowskis beanspruchen könne, suchte sodann eine Ausstellung in Köln Ende 2006 bis Anfang 20078 zu erweisen, und es dürften wiederum die 3 4 5 6 7 8

Ov. met. III, 250: Dilacerant falsi dominum sub imagine cervi. Diane et Act8on, 1957, 123 x 75,5 cm. Diane et Act8on, 1981, 214 x 147 cm. Diane et Act8on, 1990, 245 x 130 x 95 cm; Sammlung Denise Klossowski. So Thomas Wagner in seinem Artikel (2007) zur Ausstellung [Anm. 9]. Die Ausstellung wurde auch in London, Whitechapel Gallery, 20. September bis 19. November

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Diana-Actaeon-Figurationen Klossowskis gewesen sein, die eine nachfolgende Ausstellung in Düsseldorf im Jahre 2008 zum Anlaß bzw. zum Vorwand nahm, unter dem Mantel des Mythologems ,Actaeon und Diana‘ großteils Pornographie in Malerei und Photographie zu lizenzieren. „Der verbotene Blick auf die Nacktheit“9 war denn auch der Besucher und Betrachter lockende Titel der Exposition mit den üblichen tabubrecherischen Implikationen. Kaum anders verfährt der Klappentext der 1980 erschienenen Ausgabe des Essays Le bain de Diane – im übrigen gegen jede philologische Korrektheit: „[…] Le bain de Diane [a] pour point de d8part le mal8fice d’une vision que r8sume l’exhortation d’Ovide: Nec videamus labra Dianae!“ Freud, Nietzsche und Sade sind denn auch die Autoren, mit denen man vermeint, Le bain de Diane angemessen zu interpretieren, zumal ihnen das Hauptinteresse Klossowskis gilt, sie sein essayistisch-literarisches und philosophisches Werk wesentlich prägen. Aus dieser Perspektive wären Le bain de Diane nicht anders als die Diana-Actaeon-Zeichnungen nur mehr ein Partikel des klossowskischen Universums. Dem ist nicht zu widersprechen – und dennoch sollte man genau hinsehen: Der rund 130 Seiten umfassende Essay ist nicht rückhaltlos subsumierbar unter die Interessen der Gruppe um Klossowski, der Bataille, Lacan, Derrida, Foucault, Blanchot. Die adäquate Lektüre des Essays könnte eher eine korrigierende ReLektüre auch der übrigen Werke Klossowskis provozieren, denn er dürfte auch ein Schlüssel zu deren Verständnis sein10 – wenn auch in anderer Weise als intendiert. Dies zu erweisen, genügt es vorerst, die Besonderheit des literarischen, ja poetischen Essays Le bain de Diane herauszustellen und dabei folgende dem Essay angemessene Fragen zu erörtern: Welche Funktion hat die Bezugnahme auf eine antike Erzählung allgemein und auf die Erzählung von Actaeon und Diana im besonderen? Inwiefern ist sie für unsere Behauptung von Belang, dass die Kenntnis der Antike für das angemessene Verständnis der Moderne, ihrer Kunst, Literatur, Philosophie unvermeidlich sei? Le Bain de Diane ist eine Hybride. Vierundzwanzig kurze Einzelstücke, episodisch aneinandergereiht, bald mit, bald ohne Titelei, folgen aufeinander : Darstellungen, Reflexionen, Informationen, Kommentare, Erläuterungen und Fiktionen, auch Träume, Entwürfe, Monologe. Am Ende, separat, in kleinerer 2006, und in Paris, Centre Pompidou – Mus8e National d’art moderne gezeigt. Deutsche Ausgabe des Katalogs: Spira/Wilson (Hg.) 2006. 9 Ausstellung in Düsseldorf, museum kunst palast, 25. Oktober 2008 bis 15. Februar 2009. Katalog: Wismer/Badelt 2008. Siehe dazu die treffende Besprechung von Tauber 2008. 10 Siehe dazu Foucault 1994, S. 326–337; hier : S. 335: „C’est pourquoi Le Bain de Diane est sans doute, de tous les textes de Klossowski, le plus voisin de cette lumiHre 8clatante, mais pour nous bien sombre, d’oF nous viennent les simulacres. On retrouve, en cette ex8gHse d’une l8gende, une configuration semblable / celle qui organise les autres r8cits, comme s’ils trouvaient tous l/ leur grand modHle mythique: une fresque annonciatrice comme dans La Vocation; […].“

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Schrifttype „Pclaircissements“, kurze lexikalische Artikel zu den mythischen Figuren Artemis/Diana, Actaeon, Atalanta, Kallisto und Kadmos, und schließlich eine lange Anmerkung zum augustinischen Verständnis des paganen Mythos. Es mischen sich Gelehrsamkeit und enzyklopädisches Wissen, Erzählung und Erfindung, Poesie und Prosa; es gibt einen Ich-Erzähler, einen Kommentator, einen Interpreten, und es gibt Figurenrede – explizite und implizite. Die Frage ,wer spricht?‘ ist nicht eindeutig zu beantworten – die Perspektiven wechseln. Auf das den Essay eröffnende Zitat aus der ovidischen Actaeon-Version – Nunc tibi me posito visam velamine narres,/ Si poteris narrare, licet – folgt der erste der vierundzwanzig Einzeltexte; ich möchte ihn, wenngleich er nicht der repräsentativste ist, zum Ausgang meiner Überlegungen nehmen und daher in toto zitieren: J’aimerais vous parler de Diane et d’Act8on : deux noms qui dans l’esprit de mon lecteur 8voquent peu ou beaucoup de choses : une situation, des postures, des formes, un motif de tableau, / peine de l8gende, car l’image et le r8cit, vulgaris8s par les encyclop8dies, ont r8duit / la seule vision d’un bain de femmes surprises par un intrus ces deux noms dont le premier fut l’un des mille que porta la divinit8 aux regards d’une humanit8 disparue. Encore cette vision est-elle bien sinon „ce que nous avons eu de meilleur“, du moins la chose la plus difficile / imaginer. Mais si mon lecteur n’est par entiHrement vide de souvenirs, et de souvenirs transmis par d’autres souvenirs, ces deux mots peuvent luire soudain comme une explosion de splendeurs et d’8motions. Cette humanit8 disparue au point que le terme de disparue – en d8pit de toutes nos ethnologies, de tous nos mus8es, etc. –, que ce terme, dis-je, n’a plus lui-mÞme de sens : cette humanit8 comment a-t-elle seulement pu exister ? Et cependant ce qu’elle rÞva en marchant, ce que par les yeux d’Act8on, elle vit dans son rÞve 8veill8 jusqu’/ imaginer les yeux d’Act8on, nous parvient comme la lumiHre des constellations 8teintes pour nous, / jamais 8loign8es : or, c’est en nous que fulgure l’astre 8clat8, c’est dans les t8nHbres de nos m8moires, dans la grande nuit constell8e que nous portons dans notre sein, mais que nous fuyons dans notre fallacieux grand jour. L/ nous nous confions / notre langue vivante. Mais parfois se glissent entre deux mots d’usage quotidien, quelques syllabes des langues mortes : motsspectres qui ont la transparence de la flamme en plein midi, de la lune dans l’azur ; mais dHs que nous les abritons dans la p8nombre de notre esprit ils sont d’un intense 8clat : qu’ainsi les noms de Diane et d’Act8on restituent pour un instant leur sens cach8 aux arbres, au cerf alt8r8, / l’onde, miroir de l’impalpable nudit8.11 11 Klossowski 1980, S. 7f. – Übersetzung (Klossoswki 1982, S. 9): „Ich möchte mit euch über Diana und Aktaion sprechen: zwei Namen, die im Geiste des Lesers nur wenige oder sehr viele Assoziationen auslösen. Eine Situation, Positionen, Formen, das Motiv eines Gemäldes, doch kaum etwas von der Sage, denn da Bild und Erzählung durch die Enzyklopädien vulgarisiert worden sind, verknüpft sich nur noch die Vorstellung von Frauen, die im Bade von einem Eindringling überrascht werden, mit diesen beiden Namen, deren erster einer der tausend Namen war, die die Gottheit nach Ansicht einer längst entschwundenen Menschheit trug. Dazu ist diese Vision, wenn auch nicht „das Beste, was wir genossen haben“, doch das am schwersten Vorstellbare. Für einen Leser aber, der nicht ganz bar aller Erinnerungen ist, die durch andere Erinnerungen vermittelt worden sind, können diese beiden Worte plötzlich

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Die Identität des Sprechers bleibt einmal mehr absichtsvoll uneindeutig. Doch nimmt die den Text eröffnende Formulierung „J’aimerais vous parler“ das zweimalige ,narrare‘ – „narres“ und „poteris narrare“ – des ovidischen Zitats unmittelbar auf. Erzählt werden soll gegen den Fluch der Göttin die Geschichte von Diana und Actaeon. In der Erzählung der Geschichte soll die Verkürzung auf eine einzige Szene zwar aufgehoben werden, gleichwohl bleibt sie Ausgang und Zentrum: das Ansichtigwerden der Göttin durch Actaeon, das seinen Blicken Ausgesetztsein. Den Objektstatus der Göttin bringt die ihr zugeordnete ovidische Formulierung „me […] visam“ in zweifacher Modalität zur Sprache und verstärkt einmal mehr die vorausgegangene Fügung „in vultu visae sine veste Dianae“ (Ov. met. III, 185.) („im Antlitz der ohne Gewandung erblickten Diana“). Klossowski nimmt diese Formulierungen in lateinischer Sprache offenbar auf, wenn er die Situation, die Position, die vielfältige und doch immer ähnliche Gestaltung in der Literatur und in der bildenden Kunst gefunden hat, als ,Vision‘ bezeichnet, Vision einer „verschwundenen Menschheit“, einer „humanit8 disparue“, die mit und durch die Augen Actaeons gesehen hat. Damit wird die sinnliche Wahrnehmung zu einer Wahrnehmung mit dem inneren Auge, zu einer Kraft der Verbildlichung, zur Imagination. Ausdrücklich werden die Ethnologie und die Bemühungen musealer Verwahrung als untauglich zurückgewiesen, eine Vorstellung zu geben von einer „entschwundenen Menschheit“ und damit wohl implizit die fast zeitgleich erschienene Strukturale Anthropologie des Claude L8vi-Strauss mit einem Kapitel zu „Die Struktur der Mythen“ (1958; dt. 1967) der Kritik unterzogen; stattdessen wird das Vermögen der Einbildungskraft, des Wachtraums (le rÞve) auf den Plan gerufen: Schichten der sich in den Zeiten verlierenden Erinnerungen sind freizulegen, Erinnerungen, die ausgelöst werden in unverhofften Momenten höchster Luzidität und deren Ort eine Sprache zwischen der Sprache ist: Wortgespenster – „mots-spectres“ –, die erstrahlen in einer Explosion glanzumflossener Emotionen. Wie war diese Menschheit, die in einem Maße verschwunden ist, daß der Ausdruck „verschwunden“, all unseren Ethnologen und all unseren Museen zum Trotz – daß schon dieser Ausdruck, sage ich, keinen Sinne mehr hat: wie war diese Menschheit, wie war ihr Dasein überhaupt möglich? Und doch, was sie zu ihrer Zeit träumte, was sie in ihren Wachträumen mit den Augen des Aktaion sah – so deutlich, daß sie die Augen des Aktaion zu sehen wähnte –, erreicht uns wie das Licht der für uns erloschenen und für immer verschwundenen Sternbilder : nun blitzt also der helle Stern in uns auf, in der Düsternis unseres Gedächtnisses, in der großen Sternennacht, die wir in unserem Herzen tragen, die wir jedoch bei der trügerischen Helle des Tages fliehen. Dort vertrauen wir uns unserer lebenden Sprache an. Zuweilen aber schleichen sich zwischen zwei Wörter der Umgangssprache einige Silben der toten Sprachen ein: Wortgespenster von der Transparenz der Flamme am hellen Mittag und des Mondes im Blau der Nacht, doch sobald wir sie in den Halbschatten unseres Geistes bergen, sind sie von strahlendem Glanz: mögen so die Namen Diana und Aktaion den Bäumen, dem durstigen Hirsch, dem Gewässer, jenem Spiegel unberührbarer Nacktheit, für einen Augenblick noch einmal ihren verborgenen Sinn geben.“

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„in dem Halbschatten unseres Geistes“ zu bergen sind, damit sie ihren Glanz entfalten können und ihren ihnen eigenen Sinn zurückgewinnen. Die Namen Diana und Actaeon stehen ein für die Unternehmung, „den Bäumen, dem durstigen Hirsch […] ihren verborgenen Sinn zu geben“. Die Aussage des Le Bain de Diane eröffnenden Einzeltextes ist nicht klar, sie entbehrt prima vista jeglicher argumentativer Stringenz; das gilt für alle übrigen Einzeltexte des literarischen Essays in gleichem Maße. Und doch entdeckt sich dem Leser allmählich die Intention: nicht noch einmal die Geschichte von Diana und Actaeon aufzunehmen und sie in neuer Weise zu erzählen, sie gar für eine bestimmte und überraschende, überraschend moderne Aussage in Anspruch zu nehmen, vielmehr aufs Ganze zu gehen: mit und an der Geschichte von Diana und Actaeon zu erkunden, was es denn auf sich hat mit dem, was wir seit etwa dreihundert Jahren mit dem semantisch hoch aufgeladenen Begriff Mythos bezeichnen und was doch seit jeher nichts anderes war und ist als eine Erzählung von Göttern und Menschen, eine Erzählung, die Menschen ersonnen haben, um ihre Erfahrung mit Göttern zur Vorstellung und Anschauung zu bringen, von der sie aber zuweilen behaupteten, die Götter selbst habe sie ihnen einst erzählt. Damit aber wird diese Erzählung wiederum zu einer besonderen Erzählung, für die die Griechen wie für jede andere Erzählung nur mehr das Wort ,Mythos‘ kannten. Hierzu ist in aller Knappheit zu bemerken12 : Das griechische Wort ,Mythos‘ bedeutet nichts anderes als ,Handlung‘, ,Geschichte‘, dann erst ,Rede‘, ,Erzählung‘, ,Konzeption‘. Mythen sind also allererst Handlungen, Geschichten – und, soweit sie durch Sprache oder Bild gestaltet sind, durchaus Erzählungen bzw. bildliche Darstellungen von Göttern und Heroen und Menschen, auch Erzählungen und Darstellungen vom Ursprung der Welt. Walter Burkert, der bedeutende Religions- und Mythenforscher, räumt noch im Jahre 1993 einerseits ein, dass es „noch immer keine anerkannte Definition von ,Mythos‘“ gebe, um dann aber am Beispiel des griechischen Mythos selbst folgende Definition vorzuschlagen: „Nehmen wir Mythen als traditionelle, bedeutsame Erzählungen, als anthropomorph-adäquate, speicherbare und abrufbare Programme; sie sind mit Namen versehen, die eben die Abrufbarkeit erleichtern, aber auch mit echten denotativen Eigennamen; sie sind der Tendenz nach überindividuell und im Rahmen einer Kultur traditionell, oft vorbildlich-exemplarisch; sie werden eingesetzt, ,angewandt‘ im Rahmen der vielerlei Interessen, die Gruppen und Individuen nun einmal verfolgen, wobei sie die gegenseitige Verständigung bei 12 Die nachfolgenden Anmerkungen zu Ritus, Mythus, Poiesis sowie die zu Roland Barthes basieren auf Vf.in: ,Mythologie/Mythos‘, in: Jäger, Ludwig et al. (Hg.): Sprache – Kultur – Kommunikation. Language – Culture – Communication. Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft. An International Handbook of Linguistics as a Cultural Discipline (= HSK 43), Berlin/Boston 2016, S. 471–477.

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Interaktionen ermöglichen und so das Verhalten kanalisieren.“ (Burkert 1993, S. 16) Demnach ist in der frühen griechischen Kultur ein Mythos, sind Mythen „Wissen in Geschichten“. Um noch einmal Walter Burkert zu Wort kommen zu lassen: „Ein Komplex traditioneller Erzählungen liefert das primäre Mittel, Wirklichkeitserfahrung und [Wirklichkeits]-entwurf zu gliedern und in Worte zu fassen, mitzuteilen und zu bewältigen, die Gegenwart an Vergangenheit zu binden und zugleich Zukunftserwartungen zu kanalisieren.“ (Burkert 1981, S. 12) Daraus ist vorerst zu folgern, dass Mythen Erzählungen sind, sprachlich oder figural gestaltete Geschichten, die ordnen, orientieren und begründen. Somit liegt ihre Besonderheit und infolgedessen ihr Unterscheidungsmerkmal nicht in ihrem Inhalt, mithin in der Geschichte als solcher, sondern in deren Form und der mit der jeweiligen Form verbundenen Funktion: Welt- und Wirklichkeitserfahrung zu strukturieren und zu erklären: Erklärung und Strukturierung der kosmologischen Erscheinungen nicht anders als der religiösen und moralischen Vorstellungen, der gesellschaftlichen und politischen Konzepte und nicht zuletzt der ,Geschichte‘ – ,Geschichte‘ freilich in einem ,vor‘geschichtlichen Verständnis. Es sind also offenbar die Form und die Funktion, näherhin die Gestaltung und deren Funktionalität, die die Besonderheit dessen ausmachen, was ein Mythos ist, und wodurch er sich vom Märchen, von der Legende, der Sage und ähnlichen Genera unterscheidet. Und es dürfte offenbar die – nicht einmalig gegebene, sondern immer neu und immer verschieden zugeordnete – Funktion, die Funktionalität der zu Mythen gewordenen Erzählungen sein, die der Grund ihres Faszinosums sind. Wenn dies aber gleichermaßen für die Zeit ihrer Genese wie in den nachfolgenden Jahrhunderten ihrer Wirkung und Rezeption Geltung beanspruchen darf, dann setzt dies wiederum voraus, dass die zum Mythos gewordene Geschichte selbst von Anbeginn vieldeutig ist; dass Vieldeutigkeit und Multifunktionalität ein Charakteristikum des Mythos ist; dass der Mythos mithin implizit Fragen formuliert, auf die eine ein für allemal verbindliche Antwort nicht gegeben werden kann. Es war vor allem Hans Blumenberg, der dieses Phänomen als Kennzeichen des ,Mythos‘ par excellence herausstellte und es wie folgt erläutert: „[…] nicht die Überzeugungskraft alter Antworten auf vorgeblich zeitlose Menschheitsrätsel begründet die Andringlichkeit mythologischer Konfigurationen, sondern die Implizität der Fragen, die in der Rezeption und ihrer Arbeit an ihnen entdeckt, ausgelöst, artikuliert werden.“ (Blumenberg 1971, S. 34)13 Außer acht bleibt freilich, dass der Mythos aus dem Ritus, dem Götterkult, 13 Nach Blumenberg ist der antike Mythos nicht dogmatisch, er repräsentiert nicht eine geschlossene Weltsicht, vielmehr ist er polysem: Im Mythos ist ein Deutungs- und Veränderungsspielraum angelegt, der eben die ,Arbeit am Mythos‘ in Gang setzt und in Bewegung hält.

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erwachsen sein könnte. Für diese Vorstellung ist der Hymnus Auf das Bad der Pallas des Kallimachos aus dem 3. vorchristlichen Jahrhundert ein erhellendes Beispiel. Die Besonderheit dieses Hymnus – eines von insgesamt sechs erhaltenen – besteht darin, dass er nicht nur ein Gebet an Pallas Athene ist, mithin Teil des Ritus, vielmehr den Ritus selbst zum Thema hat: die Vorbereitung des Bades für die Göttin, deren Präsenz erfleht wird. So gibt der Sprecher des Hymnus, wohl ein Priester, den „Töchtern Achaias“ (v. 13) Anweisungen in den Einzelheiten der kultischen Zeremonie, und er wendet sich schließlich an den ,Pelasger‘, Eponym der Männer Achaias, mit folgenden Worten: […] sorge, Pelasger, Dass du die Königin nicht, sei es auch ungewollt, siehst. Denn wer nackt erblickt die stadtbeschirmende Pallas, Dem ist nimmer vergönnt, Argos wieder zu schaun. Hehre Athene, tritt hervor! Inzwischen erzähl’ ich, Was ich von andern gehört, eine Geschichte, der Schar.14

An diesem Punkt – und dies ist die zweite Eigenheit – geht der den Ritus inszenierende und zugleich die Gottheit evozierende Hymnus über in eine Geschichte, eine Erzählung, im Griechischen ,Mythos‘. Es ist der Mythos von Teiresias, der eines Tages die Göttin beim Bade überraschte und zur Strafe sein Augenlicht verlor. Dass er zum Ausgleich von der gnädig gestimmten Pallas Athene die Sehergabe erhielt, unterscheidet ihn von Actaeon, dem Sohn des Aristaios und der Autono[, der – wie gleichfalls der Sprecher des Hymnus, dabei die Worte der Pallas wiedergebend, zu berichten weiß – von Artemis weitaus härter bestraft werden wird für das nämliche Vergehen: Er wird in einen Hirsch verwandelt werden, und seine Hunde werden ihn zerreißen. Worin liegt nun das Interesse des kallimacheischen Hymnus Auf das Bad der Pallas? Der Hymnus thematisiert zum einen das Bad, die Waschung, mithin einen Ritus, sodann das Verbot an die Männer, die Gottheit beim Bade zu sehen. Aus der Verbindung des Ritus mit einem göttlichen Verbot erwächst eine Geschichte, ein Mythos: der Mythos von Aktaion, der die Göttin Artemis im Bade gesehen hat und dafür bestraft wird. Kallimachos weist daraufhin, wenn er den Sprecher des Hymnus sagen läßt: „Inzwischen erzähl’ ich eine Geschichte […]“, doch es ist eine Geschichte, die nicht nur aus dem Ritus hervorgeht, sondern die, insofern sie im Rahmen eines Ritus erzählt wird, Teil des Ritus selbst ist. Die 14 Zit. nach: Callimachi Poemata. Graece et Germanice. – Die Dichtungen des Kallimachos. Griechisch und deutsch. Übertragen, eingeleitet und erklärt von Ernst Howald und Emil Staiger, Zürich 1955, S. 138–149: EIS KOUTQA TGS PAKKADOS – Auf das Bad der Pallas, vv. 51–56: […] Pekasc´, vq²feo lµ oqj 1¢´kym t±m bas¸keiam Ud,r. fr jem Ud, culm±m t±m Pakk²da t±m pokioOwom t¥qcor 1soxei˜tai toOto pamust²tiom. pºtmi’ )¢ama¸a, t» l³m 5ni¢i7 l´sva d’ 1c¾ ti tai˜sd’ 1q´y7 lO¢or d’ oqj 1lºr, !kk’ 2t´qym.

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Einfügung des Mythos in den Ritus ist aber allein dem Hymnus geschuldet, der seinerseits Ritus ist im Sinne von Poiesis, von sprachlich-ästhetischer Gestaltgebung. Es ist also die Poiesis des Hymnus, die es ermöglicht, den Mythos als Ritus auszuweisen und den Ritus in den Mythos zu überführen. Die Folge ist, dass der Mythos nicht anders als der Ritus nur mehr in der Poiesis und als Poiesis vermittelt werden kann. Unmittelbarkeit ist ausgeschlossen. Noch Ovid, der Erzähler von Mythen „in mythenloser Gesellschaft“15, insistiert gleich zu Beginn der Metamorphosen, „von den Gestalten zu künden, die einst sich verwandelt in neue“ – „In nova fert animus mutatas dicere formas / Corpora“ (Ov. met., I,1f.), und der Sprecher des kallimacheischen Hymnus Auf das Bad der Pallas hebt zudem hervor, eine Geschichte zu erzählen, die er von anderen gehört hat: anders als in vermittelnder und vermittelter Rede ist von Göttern und Menschen nicht zu erzählen. Genau hier hat Klossowskis Le Bain de Diane seinen Ort, wenn in Aufnahme des zynischen „si poteris narrare, licet“ der Text einsetzt mit „J’aimerais vous parler de Diane et d’Act8on“. Was folgt, ist die Erzählung der vielen, sich immer ein wenig voneinander unterscheidenden Erzählungen von Diana und Actaeon: der Varianten, die Apollodor in der Bibliotheke, Hygin in den Fabulae und vor allem Ovid in den Metamorphosen überliefern; sodann der Gründe für den Tod des Jägers, der um Semele, die Geliebte des Zeus, zugleich Schwester der Mutter, geworben habe16 oder sich rühmte, ein besserer Schütze zu sein als Diana/Artemis selbst17, oder eben Diana beim Bade überrascht haben soll.18 Der poetische Essay Le bain de Diane mit seinen Digressionen und Reflexionen ist daher weder eine weitere Variante in der über zweieinhalbjahrtausend alten Erzählung von Diana und Actaeon, noch ist er eine weitere Theorie oder Philosophie des Mythos, wie sie von Vico über Creuzer und Cassirer bis Blumenberg und darüber hinaus entworfen wurden; der Essay Le bain de Diane ist vielmehr eine Mythographie eigener Art, der gleichwohl eine Theorie und Philosophie des Mythos inhäriert: Er ist die 5mschreibung und Umschre&bung des Mythos, der Geschichte von Diana und Actaeon, in vielzähligen Annäherungen; er tut dies in der Absicht zu zeigen, dass der Mythos sich jeglicher vereindeutigenden Erschreibung entzieht. So konfiguriert auch der Essay Le bain de Diane in seinen einzelnen und doch auseinander hervorgehenden Textstücken den Mythos von Diana und Actaeon, der wie jeder andere Mythos anderes und mehr zu sein intendiert als eine Erzählung, die ein für alle Mal die ihr eigene narrative Form und poetische Gestalt gefunden hat. Das spezifische Verfahren, immer neue 15 16 17 18

So der Titel eines 1993 erschienenen und von Fritz Graf herausgegebenen Bandes. So Akusilaos bei Apollodor 3,4,4. Eur. Bacch. 337–340; Diod. 4,81,3–5. Zu den zahlreichen Varianten siehe Moog-Grünewald 2008, hier: S. 41.

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Einzelheiten des Mythos, auch sich widersprechende, aneinanderzufügen, zugleich die Erzählmodi zu variieren, hat zunächst die Funktion zu evidenzieren, dass auch der Mythos, wofern er eine Erzählung von Göttern und Menschen und auch von Erscheinungen im Kosmos der Natur ist, immer nur eine Leistung der Sprache, der gesprochenen und insbesondere der geschriebenen Sprache, ist und damit das dem Mythos Inhärente immer schon vermittelt in Erscheinung tritt. Der Mythos selbst, so er denn als das Unmittelbare, Präreflexive gedacht wird, ist – so die implizite und auch explizite Thesis – abwesend. Das gilt für die Antike nicht anders als für die Moderne. Nur hat sich die Moderne ein anderes Bild von der Antike gemacht und damit auch von dem, was sie unter Mythos versteht bzw. sich vorstellt. Klossowski räumt mit dieser Vorstellung auf, indem er das Geschaffene, das Gestaltete, die Poiesis des Mythos herausstellt. Darin allerdings grundsätzlich einen Mangel zu sehen, wäre verfehlt: Es ist nämlich die Poiesis, die jeweilige des Textes und des Bildes, die überhaupt die Funktionalisierung einer Geschichte, eines Mythos, ermöglicht und die zugleich das Potential der Evidenzierung einer Aussage in sich trägt. Und dennoch belässt es Klossowski nicht dabei. Er wäre nicht ein Moderner, würde er nicht dem Mythos zumuten, was so viele Moderne vor ihm dem Mythos zumuteten: dass er eine Geschichte sei vor der Geschichte, aus Zeiten, die vor der Zeit liegt, in der die Götter den Menschen begegneten; und dass es eine Sprache gebe, die es vermöge, als „mots-spectres“ „den Bäumen, dem durstigen Hirsch […] ihren verborgenen Sinn zurückzugeben“, dass es – mit den Worten Foucaults – eine prophetische Sprache gebe, der sich anzunähern immer nur in ironischer Brechung möglich ist. Dies zu evidenzieren, scheint keine antike Erzählung besser geeignet als die Erzählung von Diana und Actaeon, und nirgendwo wird dies in Le bain de Diane deutlicher als in dem Teiltext, der überschrieben ist „Diane et le d8mon interm8diaire“ – „Diana und der vermittelnde Dämon“. Der in der französischen Originalausgabe rund fünf Seiten zählende Text gehört zu den längeren des Essays, er steht in etwa in der Mitte und hat als einziger ein Argumentum, ein Resümee also. Das Argumentum hat folgenden Wortlaut: Argument: Diane pactise avec un d8mon interm8diaire entre les dieux et les hommes, pour se manifester / Act8on. Par son corps a8rien, le d8mon simule Diane dans sa th8ophanie, et inspire / Act8on le d8sir et l’espoir insens8 de poss8der la d8esse. Il devient l’imagination d’Act8on et le miroir de Diane. (Klossowski 1980, S. 46)19

19 Übersetzung (Klossowski 1982, S. 35): „Argument: Diana läßt sich, um dem Aktaion erscheinen zu können, mit einem Dämon ein, der in der Mitte zwischen den Göttern und den Menschen steht. Mit seinem ätherischen Körper simuliert der Dämon Diana in ihrer Theophanie und flößt so dem Aktaion das Begehren und die wahnwitzige Hoffnung ein, die Göttin besitzen zu können. Er wird zur Einbildung des Aktaion und zum Spiegel der Diana.“

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Mittler zwischen Göttern und Menschen ist ein Dämon – Daimon in griechischer Sprache. Er ermöglicht die Wahrnehmung der Göttin im Schein des weiblichen Körpers, und er erwirkt in der menschlichen Vorstellung des Jägers Actaeon das ,Gesicht‘ der Göttin. Seine Allegorie ist der Spiegel: Er reflektiert das Göttliche und macht es dem Menschen sichtbar, und er ist zugleich die Projektionsfläche menschlichen Vorstellungsvermögens, der Ort, an dem das Göttliche imaginär geschaffen wird: […] Diane, en un sens plus complexe que Pallas, est l’une des th8ophanies en laquelle la nature divine a le plus r8fl8chi son essence. Diane regarde donc dans ce miroir d8monique et devient ainsi l’objet de l’imagination d’Act8on. (Klossowski 1980, S. 49)20

Die Folge ist ein wechselseitiges Begehren, dessen Effekt ein Moment der Ekstase, des Heraustretens aus Raum und Zeit und des Überstiegs in ein mythisches Absolutum des Plötzlichen und Unmittelbaren ist. Dieser Effekt des Epiphanen ist aber das Indicibile, das Unsagbare, dem wiederum eine Spannung eignet, „die nur der Dichter kennt, die der Künstler der Szene, die er darzustellen beabsichtigt, verleihen kann […].“ (Klossowski 1982, S. 43) An dieser Stelle – wie an zahlreichen anderen – wird deutlich: Der Essay Le Bain de Diane ist eine Allegorie poetischer und pikturaler Poiesis, näherhin der Poiesis als Ort der Überschreitung, für den zugleich der Mythos, in besonderem Maße der Mythos von Diana und Actaeon einsteht. Zugleich intendiert der Text Le Bain de Diane selbst die poietische Überschreitung auf der Ebene der ,histoire‘ wie auf der Ebene des ,discours‘, er ist – wie Foucault in seinem gleichnamigen Essay über Klossowski bemerkt – ,die Prosa Actaeons‘, ,la Prose d’Act8on‘ (vgl. dazu auch Foucault 1994). Sie hat ihr pikturales Analogon in den Bildversionen, den meist großformatigen Farbstiftzeichnungen und dem Gemälde, die allesamt den Titel Diane et Act8on tragen. Die Konstellation ist stets dieselbe: Actaeon, mit Ausnahme der Hände oder auch nur einer Hand in einen Hirsch verwandelt, umfasst in aufrechter menschlicher Haltung und mit einer Jacke bekleidet von hinten oder von der Seite den nackten Körper der Göttin Diana, die ihm ihrerseits den Rücken oder die Seite zugewandt hat. Im Gemälde von 1990 springt darüber hinaus ein Hund zwischen den Schenkeln der Diana hoch und sucht, ihr Geschlecht mit der Zunge zu berühren. Die gleichfalls großformatige Zeichnung von 1981 trägt zudem die von Klossowski als Motto gesetzten Worte aus der ovidischen Erzählung. Klossowskis Actaeon-DianaDarstellungen sind weder pornographisch noch hieratisch, sie sind in ihrer Ambivalenz beides zugleich und suchen gerade darin das in Le Bain de Diane 20 Übersetzung (Klossowski 1980, S. 37): „[…] Diana ist, in einem komplexeren Sinne als Pallas, die Theophanie, in der die göttliche Natur ihr Wesen am stärksten reflektiert hat. Diana schaut also in diesen dämonischen Spiegel und wird so das Objekt der Einbildungskraft des Aktaion.“

Mythisierung des Mythos: Anmerkungen zu Klossowskis Le Bain de Diane

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höchst komplex formulierte wechselseitige Begehren des ,Menschlichen‘ und des ,Göttlichen‘ ,ins Bild zu setzen‘, mithin konsequent zu ,simulieren‘. Erst im Bild – so scheint es –, in der von Klossowski gegenüber der gesamten Tradition der bildlichen Darstellung des Actaeon- und Dianamythos so überraschend neuen Variante, wird die schillernde Konstellation des Begriffs ,simulieren‘, ursprünglich ,zusammen auftreten‘, anschaulich21: als Trugbild (simulacrum), Ähnlichkeit (similitudo), Gleichzeitigkeit (simultas), Vortäuschung (simulatio) und Verstellung (dissimulatio): […] sous le masque de ce corps d8monique elle [sc. Diane] peut se livrer clandestinement, ou exp8rimenter incognito les 8motions que son principe immuable exclut, y compris les 8motions de la chastet8; de la sorte, sans pr8judice de son corps essentiel et invisible, ins8parable de son principe divin, impassible parce que impalpable, mais spectatrice – car Diane plus que les autres dieux, a le go0t du spectacle –, elle assiste / ses propres aventures – aventures oF sa chastet8 est mise / l’8preuve. (Klossowski 1980, S. 50)22

Die „gefährlichste Versuchung“, der Actaeon unterliegen könnte, wäre die Trennung der Diana von ihrem Dämon, die Trennung der Diana von ihrem sichtbaren Körper, und sei es nur für einen Augenblick, aufzuheben: …C’est donc de toute 8ternit8 qu’il la guette, de toute 8ternit8 qu’elle 8prouve la souillure de son regard, de toute 8ternit8 qu’elle 8prouve le besoin de se laver de cette souillure – et nul masque de cerf ne saurait jamais lui permettre de contempler le Bain de Diane d’un regard pur – si ce n’est que Diane mÞme, du dehors, n’ouvre au-dedans du chasseur les yeux du cerf mourant. (ebd., S. 73)23

Der Anspruch des klossowskischen Actaeon ist absolut: der Göttin unmittelbar ansichtig zu werden. Der Text Le Bain de Diane dementiert allerdings die Realisierbarkeit des Anspruchs: Es bleibt jeweils bei der Intentio und der unhin21 Foucault 1994, S. 329: „Ainsi s’8tablit cette constellation propre / Klossowski, et merveilleusement riche: simulacre, similitude, simultan8it8, simulation et dissimulation.“ 22 Übersetzung (Klossowski 1982, S. 37): „[…] unter der Maske dieses Dämonenkörpers kann sie [Diana] sich heimlich hingeben oder die Gefühlsregungen inkognito erproben, die ihr unveränderliches Prinzip ausschließt, die Regungen der Keuschheit inbegriffen; dergestalt daß sie, ohne Schaden für ihren eigentlichen, unsichtbaren Körper (son corps essentiel et invisible), der von ihrem göttlichen Prinzip nicht zu trennen und unerregbar, weil unberührbar ist, als Zuschauerin – denn Diana liebt das Theater mehr als alle anderen Götter – ihren eigenen Abenteuern beiwohnt – Abenteuern, bei denen ihre Keuschheit auf die Probe gestellt wird.“ (Kursivierung im Original) 23 Übersetzung (Klossowski 1982, S. 52): „Seit unvordenklichen Zeiten also lauert er ihr auf, seit unvordenklichen Zeiten empfindet sie die Befleckung seines Blickes, seit unvordenklichen Zeiten verspürt sie das Bedürfnis, sich von dieser Befleckung zu reinigen – und keine Hirschmaske kann es ihm jemals ermöglichen, das Bad der Diana mit reinem Blick zu betrachten – wenn nicht Diana selbst von außen im Innern des Jägers die Augen des sterbenden Hirsches öffnet.“

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tergehbaren Einsicht, dass Sprache – und darum geht es – anderes sein könnte denn Simulacrum, Simulatio. Die Besonderheit des Textes Le Bain de Diane liegt allerdings im spezifischen Modus der Simulatio. Foucault bringt es auf den Begriff, wenn er anmerkt, dass Klossowski seine eigene Sprache als Simulacrum behandelt, und hinzufügt: [sie]24 ist ein simulierter Kommentar zu einer Erzählung, die selbst ein Trugbild ist, da es sie nicht gibt, oder vielmehr, da sie ganz in diesem Kommentar, den man von ihr gibt, enthalten ist. In einer einzigen Sprachschicht öffnet sich somit die innere Distanz der Identität, die dem Kommentar zu einem unzugänglichen Werk die Möglichkeit gibt, ganz in der Gegenwart dieses Werkes aufzugehen, und dem Werk, sich in diesen Kommentar, der doch die einzige Form seiner Existenz ist, hineinzustehlen. (Foucault 1994, S. 336)

Die Simulation der Simulation ist aber nichts anderes als der Versuch, den Mythos zurückzugewinnen über dessen Mythisierung – qua Sprache, zu der das Bild, die Zeichnungen und das Gemälde wiederum ein Kommentar sind. Um es aber noch einmal zu verallgemeinern und an unsere eingangs gemachten Bemerkungen anzuschließen: Mythos ist immer nur im Ritus der Poiesis zu haben. Von Anfang an ist der Mythos begründend, allerdings in dem Sinne, dass erst ist, was er schafft. Es ist die Poiesis, die den Mythos zum Ritus zweiter Ordnung macht und damit die Voraussetzung bildet für seine Funktionalisierung, im 5. Jahrhundert v. Chr. nicht anders als in der Gegenwart. Genau hieraus erhält der Mythos seine persuasive Kraft, seine Evidenz. So ist zu schließen: Der Text Le bain de Diane ist als ganzer zugleich eine neue Variante der so wirkmächtigen und in Dichtung und Kunst so vielgestalteten Szene der Begegnung der Göttin der Jagd und des Jägers im wechselseitigen Ansichtigwerden; ihre Botschaft: ein wechselseitiges Ansichtigwerden hat nurmehr als Simulacrum statt, im Simulacrum der Sprache.

III Klossowski schafft mit Le Bain de Diane einen weiteren Mythos, indem er den Mythos distanziert und zugleich re-mythisiert. Was bedeutet dies und welches Verständnis liegt dem Begriff ,Mythos‘ zugrunde? Mythos, so bemerkten wir eingangs, ist immer schon eine intentional – sprachlich, bildlich, philosophisch – gestaltete Erzählung, die auf vorgängige Erzählungen des mehr oder minder selben Inhalts rekurriert und sie transformiert, sich mithin absichtsvoll in deren Horizont stellt, um sich zugleich vor diesem Horizont zu unterscheiden. Auf 24 Foucault verweist an dieser Stelle des näheren auf La Vocation suspendue; indes haben die zitierten Zeilen Geltung für Klossowskis ,Prosa‘, die „Prosa Actaeons“ insgesamt.

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diese Weise vermag es die zum immer je neuen Mythos gewordene Erzählung – sei es als Text oder als Bild – in ihrer je einmaligen und einzigartigen Gestaltung ein je eigenes ,Programm‘ zu formulieren. Genau hierin, in der Möglichkeit, eine eigene und neue Botschaft nicht nur zu vermitteln, vielmehr mit Bezug auf die Tradition zu plausibilisieren, sie mithin ,mythisch‘ zu evidenzieren, beruht die Faszination des Mythos als einer immer schon tendenziösen Erzählung. Genau hierin ist der immer neue Versuch und die immer neue Versuchung begründet, den Mythos, i. e. die einzelne Erzählung und ihre unendlich vielen Transformationen implizit und explizit noch einmal aufzunehmen, zu transformieren, ihn für eigene Interessen in Anspruch zu nehmen. Das Raffinierte und Einzigartige des Mythos ist, daß seine Botschaft sich ,natürlich‘ gibt, doch in höchstem Maße ,künstlich‘ ist, und gerade daraus paradoxerweise seine ,Evidenz‘ bezieht. So ist – um es konzis zu formulieren – der Mythos ein Produkt der Sprache, der Kultur, das sich gleichwohl den Anschein der ,Natürlichkeit‘ gibt. Es war Roland Barthes, der, ohne auf den antiken Mythos zu rekurrieren, Ende der 1950er Jahre eine Semiologie des Mythos entworfen hat, die zur Beschreibung der Verfahren der Transformation und der Evidenzierung gerade auch des antiken Mythos und insbesondere von Klossowskis Le Bain de Diane in überraschender Weise geeignet ist. „Le mythe est une parole vol8e et rendue“ (Barthes 1970, S. 838) – „der Mythos ist eine entwendete und zurückerstattete Rede“. In diesem knappen Satz bringt Barthes ein komplexes semiologisches System auf den Begriff, dessen Relevanz und Aktualität für Kultur und Politik, für die moderne Polis tout court, in den Mythologies, den sog. Mythen des Alltags, ihre Anschauung findet. Mythos ist hier verstanden als „Metasprache […], weil es sich um eine zweite Sprache [langue] handelt, in der man von der ersten spricht“ (ebd., S. 259). Der Mythos arrogiert einen Sinn auf einer zweiten Ebene des Zeichens, die die erste Ebene des Zeichens nicht hat: Der Mythos ,entwendet‘ die Äußerung und verwendet sie für seine Zwecke. Er ist eine „entwendete und zurückerstattete Rede“, wobei „die zurückgegebene Rede nicht mehr ganz die gestohlene“ (ebd., S. 273) ist. Dabei ist es wesentlich zu sehen, dass Mythos einen Sinn wiederverarbeitet, den er vorfindet: Er ist nicht referentiell auf die Welt selbst gerichtet, sondern auf semiologisches Material, das in unterschiedlichen medialen Gestalten auftreten kann: mündlich, schriftlich oder bildlich. Der Mythos findet also immer schon eine erste Sprache (und nicht die Dinge selbst) vor, die er verarbeitet. Diese greift er auf, um „eine zweite Sprache“ zu generieren, die „nicht die Dinge, sondern ihre Namen“ behandelt: „denn der Mythos kann nur auf Objekte einwirken, die bereits die Vermittlung durch eine erste Sprache erfahren haben“ (ebd., S. 299f.). Der Mythos ist „immer Metasprache“ (ebd., S. 297). Mit der Definition des Mythos als Metasprache hat Roland Barthes, ohne dies zu intendieren, auf einen Sachverhalt und auf ein Verfahren hingewiesen, das den

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seit der frühen griechischen Antike bekannten Erzählungen von Göttern, Heroen und Menschen eignet und das die Relevanz des antiken Mythos gerade auch für die rezenten Kulturen illustriert: Diese werden dadurch zu Mythen, dass sie immer schon auf eine vorgängige Erzählung rekurrieren, diese sich aneignen, sie ,entwenden‘ und wieder ,zurückerstatten‘ – doch alteriert, vereinnahmt für neue und andere, ja fremde Zwecke. Der Mythos ist nicht, er wird gemacht – und er steht damit von Anbeginn in einem komplexen semiotischen Prozess. Das gilt für die ovidische Variante der Erzählung von Diana und Actaeon nicht anders als für Klossowskis Le Bain de Diane. Dass Klossowski in äußerst raffinierter Weise in der Art eines Bricolage eine Fülle von Varianten präsentiert und immer neu konstelliert und perspektiviert, hat seinen Grund in der Absicht zu erweisen, dass Sprache nichts anderes sei als Simulacrum, Simulatio. Die Absicht und das Produkt aber sind selbst Simulatio – freilich in einem etwas anderen Verständnis als dem der Klossowski, Bataille, Lacan, Derrida, Foucault, Blanchot. Dies zu sehen und als solches zu entlarven25, bedarf es der Kenntnis der antiken Texte und ihrer Tradierung über die Jahrhunderte hinweg. Sie bewahrt zumindest davor, die Moderne uneingeschränkt für einen Erkenntnisfortschritt zu halten.

Literatur Agostini, Giulia: Der Riss im Text. Schein und Wahrheit im Werk Pierre Klossowskis. München 2012. Barthes, Roland: ,Le Mythe, aujourd’hui‘ [1957], in: Marty, Eric (Hg.): Œuvres complHtes, I: 1942–1961. Paris 1970, S. 823–868. Blumenberg, Hans: ,Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos‘, in: Fuhrmann, Manfred (Hg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. München 1971 (= Poetik und Hermeneutik IV), S. 11–66. Burkert, Walter : ,Mythos und Mythologie‘, in: Wischer, Erika (Hg.): Propyläen Geschichte der Literatur : Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt. Bd.I: Die Welt der Antike 1200 v. Chr. – 600 n. Chr. Berlin 1981, S. 11–35. Burkert, Walter: ,Mythos – Begriff, Struktur, Funktionen‘, in: Graf, Fritz (Hg.): Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, Stuttgart/Leipzig 1993, S. 9–24. Foucault, Michel: ,La prose d’Act8on‘, in: Foucault, Michel: Dits et 8crits 1954–1988 – I: 1954–1969. Edition 8tablie sous la direction de Daniel Defert et FranÅois Ewald. Paris 1994, S. 326–337. Graf, Fritz (Hg.): Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, Stuttgart/ Leipzig 1993 (= Colloquium Rauricum, Bd. 3). Klossowski, Pierre: Le bain de Diane. Paris 1980. (dt. Das Bad der Diana. Berlin 1982) L8vi-Strauss, Claude: Anthropologie structurale. Paris 1958 (dt.: Strukturale Anthropologie, Frankfurt/Main1967). 25 Auch auf diesem Terrain war Roland Barthes seinen Zeitgenossen überlegen.

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Moog-Grünewald, Maria: ,Aktaion‘, in: Dies. (Hg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart/ Weimar 2008, S. 41–52. Moog-Grünewald, Maria: ,Mythologie/Mythos‘, in: Jäger, Ludwig et al. (Hg.): Sprache – Kultur – Kommunikation. Language – Culture – Communication. Ein internationales Handbuch zu Linguistik als Kulturwissenschaft. An International Handbook of Linguistics as a Cultural Discipline (= HSK 43), Berlin/Boston 2016, S. 471–477. Schulz-Buschhaus, Ulrich: ,Die Unvermeidlichkeit der Komparatistik‘, in: arcadia 1979/ 14, S. 223–236. Spira, Anthony/Wilson, Sarah (Hg.): Pierre Klossowski. Ostfildern 2006. Tauber, Christine: ,Göttin Diana hätte es mit Zerfleischen bestraft. Das große Missverständnis: Eine Ausstellung im Düsseldorfer Museum Kunstpalast verwechselt Voyeurismus mit Tabubruch‘, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 251, 27. Oktober 2008, S. 35. Wagner, Thomas: ,Zunge vom Hirsch an Göttin. Grammatik des Begehrens: Zeichnungen und Plastiken von Pierre Klossowski in Köln‘, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Januar 2007. Wismer, Beat/Badelt, Sandra (Hg.): Diana und Actaeon: Der verbotene Blick auf die Nacktheit. Ostfildern 2008.

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Konstellieren und Vergleichen. Beobachtungen zu komparativen Autorenpoetiken

I.

Konzepte des Vergleichens – Com-paratio und Komparatistik

Das lateinische Verb „comparare“ interpretiert das Vergleichen als ein Zusammenstellen, als eine Form der Herrichtens oder Zubereitens zweier oder mehrerer Relate; liest man die Liste deutscher Äquivalente dieses Verbs, so ergibt sich das Bild reger Tätigkeit, bei der mancherlei hin und her gerückt, sortiert und arrangiert wird.1 Im Grimmschen Wörterbuch der deutschen Sprache wird analog dazu der „Vergleich“ mit Praktiken des Arrangierens in Verbindung gebracht; insbesondere ist die Rede von einer „nebeneinanderstellung“.2 Am Prozess der „comparatio“ beteiligt sind demnach stets (mindestens) drei Größen: (mindestens) zwei, die zusammengestellt werden – und einer, der diese Zusammenstellung vornimmt. Aber warum, wozu und unter welchen Rahmenbedingungen tut er das? Worauf beruht die Choreografie des Nebeneinanderstellens nebst dem Hin-und-Her-Rücken, das ihm vorangehen mag? Eine für alle vergleichenden Wissenschaften3 methodologisch zentrale Frage ist die nach 1 Das Schulwörterbuch Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch 1971, S. 118 (Lemma „com-paro“) nennt u a.: ,bereiten, beschaffen, zusammenbringen, (Leute) aufbieten, (zum Kampfe) rüsten, sich rüsten, sich in Bereitschaft setzen, herbeischaffen, aufkaufen, zurüsten, veranstalten, machen, stiften‘, (metaphorisch auch:) ,herstellen, herrichten, einrichten, anordnen‘ (I.) sowie ,zusammenstellen, feindlich gegenüberstellen, gleichstellen, an die Seite stellen‘ (II.), erst nachgeordnet dann (unter II.) auch ,vergleichen, vergleichend betrachten‘. Ähnliche Angaben macht Langenscheidts Großes Schulwörterbuch LateinischDeutsch 2008, (Lemma: com-paro); das ,vergleichen‘ und ,vergleichend erwägen‘ tritt hier stärker hervor; hinzu kommt das „(etwas) unter sich teilen“ (S. 165). 2 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm 1984, Bd. 25, S. 448–449, Art. „vergleich“, hier 449: „(1) ,zustand des gleichseins‘, (2) ,zustand, der durch ausgleichung hervorgebracht wird‘ und (3) ,nebeneinanderstellung, aus welcher ähnlichkeiten erkannt werden‘“. Vgl. auch den Art. „vergleichung“: „nebeneinanderstellung zweier ähnlicher Dinge behufs gleichstellung oder behufs kritischer hervorhebung der ähnlichkeiten und unähnlichkeiten.“ (Art. vergleichung. Bd. 25, 458–459, hier S. 459). 3 Als weitere vergleichende Einzelwissenschaften berücksichtigt etwa das rezente Handbuch der Komparatistik die Biologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie,

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dem Grund – nach den Möglichkeitsbedingungen und prägenden Faktoren – des jeweiligen Vergleichens, denn er ist zugleich ja auch der Grund aller Resultate, die dieses Vergleichen seinerseits erbringt. Sind die verglichenen Relate einander an und für sich selbst ähnlich oder werden sie als ähnlich wahrgenommen?4 Liegt, anders gesagt, das für Vergleiche konstitutive tertium comparationis in den verglichenen Dingen selbst oder ergibt es sich aus dem Modus des Betrachtens? Wird mit oder gar aus den verglichenen Größen durch den Vergleich etwas gemacht, das sich erst im Prozess des „Nebeneinanderstellens“ ergibt? Man kann diese und ähnliche Fragen auf den gemeinsamen Nenner einer einzigen bringen: Fördert der Vergleich bestehende ,Tiefenstrukturen‘ zutage – oder strukturiert er selbst das Beobachtungsfeld und damit alles, was diesem angehört? Wie einige wenige andere Disziplinen auch, führt die Komparatistik den Hinweis auf das Vergleichen bereits im Namen. Damit ist sie aber offenbar noch keineswegs definiert, und über das, was sie – beispielsweise – mit der Vergleichenden Anatomie verbindet, ist auch noch nichts gesagt.5 Als was sie sich selbst versteht und wie sie vorgeht, hängt evidenterweise maßgeblich davon ab, an welcher Konzeption des Vergleichens sie sich orientiert. Unter Komparatisten hat die Frage, was das Vergleichen überhaupt sei, entsprechende Aufmerksamkeit erfahren.6 Religionswissenschaften und Ethnologie, Geschichtswissenschaften, Rechtswissenschaften (Zymner/Hölter 2013); zu nennen wären ferner etwa auch die vergleichende Sprachwissenschaft, Kulturwissenschaft, Kunst- und Musikwissenschaft. Aber natürlich wird auch in den Natur- und Lebenswissenschaften verglichen. Zur Epistemologie des Vergleichens siehe Eggers 2011 und Eggers 2016. 4 Vgl. Hölter 2010, S. 20f. Hölter spricht das Thema an, lässt die Frage aber offen; ihm geht es um den „Grund des Vergnügens“ am Vergleichen, und ein Argument bezieht er aus der Anthropologie: „Menschen werden laut Gestalttheorie fasziniert durch Ähnlichkeiten. Jede Art von Ähnlichkeit aber (hier ist die hermeneutische Frage, wo diese liegt, im Objekt oder im Auge des Betrachters, unerheblich) provoziert den Vergleich als Spiel-Arbeit mit Reizen und Mustern.“ 5 Weder lässt sich die Komparatistik über die Praxis des Vergleichens gegen andere (einzelphilologische) Literaturwissenschaften klar abgrenzen, noch lässt sie sich in exklusiver Weise über das Vergleichen bestimmen, denn das Geschäft derer, die sich als Komparatisten verstehen, besteht ja keineswegs nur aus dem Vergleichen. Vgl. den Artikel ,Vergleich‘ von Zelle (2013). Einige Anschlussfragen seien nur genannt: Wie steht die literaturwissenschaftliche Komparatistik zu diesen diversen Konzepten und Praktiken des Vergleichs? Und was alles kann zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Komparatistik werden? Ist Komparatistik eine Wissenschaft allein von Texten, womöglich allein von literarischen Texten? Oder ist sie auch für anderes zuständig? Und gibt es das überhaupt – eine Wissenschaft ,allein von Texten‘? 6 Vgl. u. a. Hölter 2010, S. 11f., den Artikel ,Vergleich‘ von Zelle 2013 sowie (ausführlicher) Zelle 2004/2005. Zelle unterscheidet zwischen verschiedenen Spielformen des Vergleichens: (a) einem juristischen „Verfahren zum Interessenausgleich zweier widerstreitender Parteien“, (b) „eine[r] rhetorische[n] Gedanken- bzw. Sinnfigur“, (c) einem literaturkritischen Genre [als dessen Archetypus: Plutarchs „Parallelbiographien“ gelten können], sowie (d) „eine[r] ubi-

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Hinsichtlich der konkreten Praxis literaturwissenschaftlichen Vergleichens scheint es nun auf den ersten Blick vielfach, als suche dieses nach Relationen, welche einer impliziten methodologischen Vorannahme zufolge die verglichenen Relate per se miteinander verbinden. Dies gilt etwa dort, wo es anlässlich des Vergleichs um kausale Bedingungsverhältnisse geht: Die Aussage, ein Text (B) sei unter dem Einfluss eines anderen (A) entstanden, was man an Ähnlichkeiten zwischen beiden ablesen könne, scheint eine neutrale und a-perspektivische Kausal-Feststellung über A und B zu sein – und der Vergleich zwischen dem Bedingenden und dem Bedingten erscheint methodologisch zumindest auf besagten ersten Blick nicht weiter explikationsbedürftig.7 Und dann, wenn ein Text im Licht seiner ,Architextualität‘ (Genette 1982), also als Repräsentant einer bestimmten Gattung oder Schreibweise, betrachtet und mit anderen Texten unter diesem Aspekt verglichen wird, scheint das Vergleichen ebenfalls zunächst in einer vorgegebenen Struktur fundiert zu sein; als Vergleichsgrundlage unterstellt werden Konstanten in Form von Gattungsmustern sowie andere Regelhaftigkeiten oder Konventionen.8 Wo direkte kausale Bedingungsverhältnisse zwischen Text A und B oder aber indirekte, architextuelle Prägungen vorliegen, scheint, anders gesagt, das tertium comparationis gesichert zu sein – als etwas, das in den verglichenen Texten liegt und zu ihnen selbst gehört; Komparatistik scheint in einem analogen Sinn vergleichend sein zu können wie die Vergleichende Anatomie.9 Doch kritische Rückfragen sind geboten. „Kausalität“ ist eine explikationsbedürftige Kategorie,10 und selbst wenn man die transzendentalphilosophischen

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quitäre[n] wissenschaftliche[n] Methode“ (S. 22). Lassen sich diese Vergleichspraktiken auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Gibt es, anders gesagt, eine feste „Grundlage“, auf der sie sich untereinander vergleichen lassen? Damit wären wir – nun auf einer Meta-Ebene – wieder bei der Frage, ob tertia comparationis ,in‘ den verglichenen Relaten liegen oder von außen an sie herangetragen werden. Was hat sich, so lautet die leitende Frage in etwa, auf dem Weg vom ,Hypotext‘ zum ,Hypertext‘ (Genette) erhalten, was kam dazu, was ging verloren? Zum Begriff der Hypertextualität vgl. Genette 1982. Auch hier ist die Begründung des Vergleichs nicht so simpel, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte; das verdeutlicht schon ein Blick auf die Geschichte der Gattungsbegriffe: Gattungskonventionen und andere Ordnungsmuster sind nichts absolut Gegebenes, sondern etwas, das der Betrachter an eine Fülle von Texten heranträgt. Vgl. Hölter 2010, S. 12: „Unsere Teildisziplin der Philologie entstand in Anlehnung an Forschungsgebiete wie die Vergleichende Anatomie. Man hoffte, wie beim Körperbau der Lebewesen Verwandtschaften und ,genetische‘ Abhängigkeiten zu erkennen, wenn man die Dichtkunst verschiedener Völker, Sprachen und Kulturen auf ihre Ähnlichkeiten prüfte.“ In der Kantischen Transzendentalphilosophie gehört sie zu den Kategorien, mittels derer das transzendentale Subjekt die Erfahrungsdaten interpretiert, sie gilt also als etwas, das seitens der erkennenden Instanz an diese Daten herangetragen wird. Vgl. zur Kategorie der Kausalität: Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Gottfried Martin u. a.,

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Komplikationen ausblendet und sich an einem alltäglichen Vorverständnis von „Verursachung“, „Determination“ oder „Beeinflussung“ orientiert, stellen sich beim konkreten Textvergleichen oft methodisch intrikate Fragen nach den Kriterien, der Verifizierbarkeit und den Grenzen kausaler Prägungen späterer Texte (B) durch frühere (A). Und „Architexte“ sind, wie die Geschichte der Gattungsbegriffe exemplarisch zeigt, Derivate einer verallgemeinernden Betrachtung vieler besonderer Fälle – heuristische Konstrukte, manchmal ideologisch semantisiert und zudem historisch und kulturell keineswegs konstant. Über andere methodische Verfahrensweisen, die sich an einem bestimmten Typus von tertium comparationis orientieren (etwa an Stoffen, Motiven, Themen, welche als vorgegebene, den verglichenen Texten inhärente Konstanten behandelt werden), ließe sich Ähnliches sagen: Man hat es bei diesen VergleichsBegründungen stets mit diskursiven Konstrukten zu tun. Epochen- und StilBegriffe sowie Kategorisierungen auf der Basis von Konzepten einer „Nation“ oder einer „Kultur“ bilden schließlich erst recht ein wackliges, weil seinerseits in ständiger Aushandlung und Umgestaltung begriffenes (Schein-)Fundament des Textvergleichs. Wie sieht es da mit den Gründen des Vergleichens erst aus, wenn Texte „nebeneinandergestellt“ (com-pariert) werden, die im Horizont eines konventionellen Vorverständnisses weder ,hypertextuell‘ noch ,architextuell‘, weder durch Gattung, Stil oder irgendwelche kulturelle Determinanten verbunden sind? Natürlich gibt es andere tertia comparationis, an denen sich der Vergleich orientieren kann – etwa die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Oeuvre oder zu einem Kanon, aber auch hier ist das Verbindende ja jeweils ein diskursives Konstrukt: im Fall des Oeuvres das Autor-Konstrukt (das bekanntlich als solches von Roland Barthes und Michel Foucault kritisch beleuchtet wurde), im Fall des Kanons eine jeweils historische und kulturspezifische Setzung. Und wollte man einen verbindenden Diskurs-Horizont zum vorgegebenen tertium comparationis zweier Texte (und damit zum ,festen Punkt‘ des Vergleichens) erheben, so läge ein zirkuläres Begründungsmodell vor – ist doch der „Diskurs“ selbst ein aus Sprechweisen abgeleitetes Abstraktum, kein Absolutes, das die einzelne Äußerung determiniert.

Stuttgart 1973, S. 150 = I. Transzendentale Elementarlehre II. T., I. Abt., I. Buch, I. Hauptstück (= B 106).

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II.

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Konstellieren und Vergleichen: Zu Implikationen der Konstellationsmetapher

Das den Vergleich ermöglichende Nebeneinanderstellen von virtuellen Vergleichsrelaten ist in literaturtheoretischen und wissenspoetologischen Diskursen u. a. als ein ,Konstellieren‘ bezeichnet worden, d. h. im Rekurs auf die Metaphorik der Konstellation (vgl. Krauß 2011). Als Bildspender dienen hier Gegenstände der Astrologie und Astronomie. Konstellationen sind ja zunächst Gruppen benachbarter Fixsterne (stellae) respektive deren räumliche Relationen. Die zeitweilig in wissenschaftstheoretischen Diskursen beliebte Konstellationsmetapher, die in jüngerer Zeit neuerliche Aufmerksamkeit erfahren hat,11 prägt dort, wo sie auf andere Gegenstandsbereiche übertragen wird, die Betrachtungsweisen der fraglichen Gegenstände erheblich; exemplarisch illustriert sie die Konsequenzen spezifischer Leitmetaphoriken für das Selbstverständnis von Prozessen wissenschaftlicher Forschung und Erkenntnis. Insbesondere treten die Bestandteile einer „Konstellation“ als Komponenten einer „mehrstelligen Beziehungsstruktur“ in den Blick, die „einen dynamischen, veränderbaren Wirkungszusammenhang bilden und auch nur aus diesem relationalen Zusammenhang heraus angemessen erklärt oder verstanden werden können“ (Albrecht 2010, S. 107). Hinzu kommt aber noch mehr : Sternengruppen erhalten oft Namen, die von anderen Namensträgern entlehnt sind, insbesondere von mythischen Figuren. Die jeweilige Benennung der Konstellation beeinflusst (und sei es über Assoziationen und Konnotationen) ihre Interpretation. Astrologische Reflexionen über „Konstellationen“ betreffen zumindest implizit immer auch die „Bedeutsamkeit“ der Gestirne und Gruppierungen.12 – Die wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe und wissenstheoretischen Implikationen der Konstellationsmetapher hat in jüngerer Zeit Andrea Albrecht einer Sichtung unterzogen; sie betont dabei u. a. die gegenüber dem noch zentralistischen, wenn auch bereits perspektivischen Erkenntnismodell Leibnizscher Prägung stärker relativistische Tendenz eines Denkens in Konstellationen.13 11 Vgl. Albrecht 2010. Zur Konstellationsmetaphorik vgl. auch: Mulsow/Stamm (Hg.) 2005. Hier u. a.: Martin Mulsow: Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung. S. 74–97. – Marcelo Stamm: Konstellationsforschung – ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven. S. 31–73; Weder 2006; Henrich 1991. 12 Vgl. den Artikel ,Konstellation‘ im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen. Hg. v. Wolfgang Pfeifer ; erarbeitet vom Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Berlin, 2. durchges. u. erg. Aufl. Bd. 1, Berlin 1993, 709f. 13 Albrecht 2010, insbes. S. 110, S. 144. „In Leibniz’ Bild von einer Stadt, von der es viele verschiedene Anblicke […], aber nur einen richtigen […] (göttlichen) Überblick gibt, bleiben die beschränkten Perspektiven des Menschen auf den göttlichen Angelpunkt verwiesen. Im Bild der Konstellation wird diese polare Struktur durch eine Vielzahl menschli-

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Angewandt auf die Gegenstände literaturwissenschaftlicher Forschung vermittelt gerade die Konstellations-Metaphorik die Vorstellung, ein jeder Vergleich beruhe letztlich auf einer arrangierenden und temporär gültigen Zurichtung der Erkenntnisgegenstände für den Beobachterblick. Die geläufigen Namen der konstellierten Relate bieten dabei einen wichtigen Anhaltspunkt. Ein konstruktives Moment liegt im vergleichenden Konstellieren also nicht allein, weil der Betrachterblick – noch bevor er mehrere Relate konkret vergleicht – diese Relate zuallererst als Konstellation auffassen muss. Auch und gerade der damit verbundene Akt des Benennens der jeweiligen Konstellation ist Interpretation – etwa wenn Epochenbegriffe verwendet werden (z. B. beim Vergleich von „Romanen der Romantik“). Welche Konsequenzen Leitmetaphern auf die jeweils spezifische wissenschaftliche Methodik haben, zeigt im Bereich literaturwissenschaftlicher Studien übrigens exemplarisch die Differenz zwischen „Sternbild“- und „Fluss“-Metaphorik: Einem sich als konstellierend betrachtenden Vergleichen geht es nicht primär um „Einflüsse“. Es geht, anders gesagt, nicht vorrangig darum, historische Abhängigkeiten, kausale Prägungen, Bedingtheiten von Texten durch bestimmte andere Texte zu (re-)konstruieren. Eine Zwischenbilanz: Der konstellierende Vergleich zielt auf Relationen, die er nicht als vorgegeben unterstellt; vielmehr treten die Vergleichsrelate in Beziehungen ein, die sich nach dem Beobachterstandort richten, wobei es keinen privilegierten Standort gibt (und eigentlich auch keine dummen Fragen).14 Im Horizont der Konstellationsmetapher werden Ähnlichkeiten nicht als etwas Vorgegebenes gefunden, sondern durch den vergleichenden Blick produziert; ob man sie sieht, hängt davon ab, wo man steht. – An die Stelle von Begründungen treten konstruktive Relationierungen, die sich zudem als dynamisch darstellen. Etwas „ergibt sich“, aber auf die Annahme ,starker‘ Kausalitäten und Prinzipien wird verzichtet. Dies schließt übrigens nicht aus, dass anlässlich einzelner Vergleiche mit einem ,starken‘ Kausalitätsmodell gearbeitet wird, etwa wenn es darum geht, solche Texte zu analysieren, die ihre „intertextuellen“ Dependenzen, ihre Prägung durch „Hypotexte“, ja ihren „Zitat“-Charakter ostentativ zur Schau tragen. Aber sobald als Vergleichsrelat nicht konkrete Texte in den Blick rücken, sondern Abstrakta – „Gattungen“, „Schreibweisen“, „Stoff“, „Thematiken“, cher Perspektiven und Standorte ersetzt, deren Inkommensurabilität durch keine übergeordnete Instanz mehr vermittelt wird.“ (S. 110) 14 Schuller 1997, die den Begriff der ,Konstellation‘ in diesem Sinn verwendet, spricht von einer Blickrichtung auf Zukünftiges (Werdendes) statt auf Vergangenes. „Im Unterschied zur theoretischen Metapher des ,Einflusses‘, die auf empirische Verbindungen und auf die Zeitform der Kontinuität als ,Fluß der Zeit‘ setzt, spannt die theoretische Figur der Konstellation ein Netzwerk aus, das sich unter dem unumgänglich nachträglichen Blick erzeugt. Denn das Gegenwärtige ist nicht einfach Resultat einer Vergangenheit, sondern es bildet sich in dem Licht, das aus der Zukunft des Vergangenen auf diese fällt.“ (S. 10)

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„Epochen“, „Diskurse“ etc. –, bezieht sich das Vergleichen auf ein vom Blick selbst konstituiertes und dynamisches Ensemble. Eine konstellierende Komparatistik wird sich konsequenterweise als eine erfinderische Wissenschaft verstehen – als eine Wissenschaft zudem, die mit Vergnügen am Konstruieren betrieben wird, die das „Zusammenstellen“ als zumindest para-kreative, kunstnahe Praxis kultiviert. Achim Hölter hat in seinen Überlegungen „Über den Grund des Vergnügens an philologischen Gegenständen“ die Tätigkeit des Komparatisten als ein Bauen, Basteln und Experimentieren beschrieben.15 Wenn er insgesamt zwei Spielformen literaturwissenschaftlicher Komparatistik voneinander unterscheidet, so entspräche die erste davon in etwa einem Vorgehen, das seinem eigenen Selbstverständnis nach auf die Entdeckung und Freilegung vorgegebener, den Gegenständen inhärenter Vergleichs-Gründe abzielt – während das zweite konstruktiv und experimentell vorgeht. In diesem Fall ergeben sich die Anordnungs-Prinzipien bei der Herstellung einer Textkonstellation nicht aus den Relaten selbst, sondern aus dem konstellierenden Blick, der zudem von wechselnden Standorten aus erfolgen kann. „Im Prinzip gibt es zwei einander ergänzende Wissensweisen, die der traditionellen Vergleichenden Literaturwissenschaft, die auf Bestätigung einer Vermutung hinarbeitet, und die der Kulturwissenschaft, die eher der Bricolage frönt, der Lust, zu sehen, was bei einer Konstellation herauskommt. Die Episteme eines solchen new historicism besteht sinngemäß darin, die Exponate aus ihrer scheinbar langweiligen Anordnung zu lösen, die Vitrinen neu zu bestücken, dem Betrachter nicht alles zu erklären, sondern Rätsel aufzugeben, ja, selbst Änigmatisches auszuprobieren. Das Material bleibt dasselbe. Man sieht auch, wie beide Epistemen zusammengebunden werden können, denn warum ein Versuchsmuster des Kulturwissenschaftlers mehr Sinn oder größeren Reiz erzeugt als ein anderes, wird niemand besser erklären können als der Komparatist.“ (Hölter 2010, S. 16)

Insofern das „Bastel“-Material in Gestalt literarischer Texte bereits vorliegt, erscheinen die komparatistischen Praktiken mit den (durchaus selbst kreativen) Tätigkeiten eines Museumsdesigners vergleichbar, die Erstellung eines Kanons mit der Erstellung einer Sammlung, die Vermittlung der kanonischen Bestände mit der Einrichtung eines Museums.16 15 „Der Vergleich erzeugt etwas Neues, Drittes, und sei es nur ein ,Komparat‘. Das Vergnügen am Reproduzieren und Rekombinieren von Texten ist im Prinzip die Lust des Bauens und Hervorbringens, des Zeugens oder Gebärens, die Kreativlust schlechthin […].“ (Hölter 2010, S. 19) 16 „Kanon und ,Hängung‘ – das ist es, was analog zu einem Museum [Hölter verweist hier auf entsprechende Buchtitel des 19. Jahrhunderts] die Tätigkeit der Komparatistik aufschließt, denn keine andere Literaturwissenschaft ist so maßlos und deshalb keine […] so kanonorientiert.“ (Hölter 2010, S. 16)

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Komparatistik sei eine ,vergnügliche‘ Praxis, so Hölter, der im Folgenden 20 Gründe solchen Vergnügens zusammenträgt – auf der Basis professioneller (Selbst-)Beobachtungen, aber doch auch ein Beispiel eines spielerisch-vergnüglichen Meta-Diskurses.17 In diesem Zusammenhang kommt auch das Begründungsproblem nochmals zur Frage, zusammen mit einem klaren Votum gegen Ansätze einer ,starken‘ kausalen Begründung des Fachs und seiner Praktiken.18

III.

Konstellatives Vergleichen als poetisch-poetologische Praxis

Für die Offenheit der Grenze zwischen literarischem Schreiben und einem Schreiben über Literatur sprechen neben komparatistischen Arrangements und Basteleien auch noch andere Textgenres, insbesondere autorenpoetologische Texte, in denen sich der Diskurs über Literatur eng an literarische Schreibweisen knüpfen kann. Autorenpoetiken bilden zwar kein homogenes Textgenre; sie können vielmehr ganz unterschiedliche Formen annehmen (wie beispielsweise die der Poetikvorlesung, die aber auch viele Gestaltungsoptionen bietet) und sich in unterschiedlichen medialen Formen präsentieren. Aber was sie für den konstellierenden Blick des Lesers verbindet, ist doch ihre eigentümliche Stellung zwischen theoretischer Reflexion auf der einen Seite, literarischem Diskurs auf der anderen Seite. Verfasser von Poetikvorlesungen, die als Literatur-Interpreten vergleichend Relationen zwischen verschiedenen Texten stiften, mögen dabei eher konventionell oder eher eigenwillig verfahren – als literarische Autoren demonstrieren sie jedenfalls (unter anderem) das kreativ-konstruktive Potenzial, das im Vergleichen als einer Herstellung von ,Sternbildern‘ liegt. Im Folgenden eine Konstellation von Beispielen.

Beispiel 1: Italo Calvino: „Sei proposte per il prossimo millennio“ (1988) Italo Calvino, der zeitweilig der französischen Oulipo-Gruppe nahestand, hat kombinatorische und insofern konstellierende Verfahren wiederholt für das literarische Schreiben fruchtbar gemacht, so etwa in den beiden Zyklen von Geschichten zu Tarockkarten-Sequenzen – Il castello dei destini incrociati und La 17 „Comparatio“ erzeugt „Vergnügen, analog dem Duft von Lindenblüten“ – so Hölter in Anspielung auf Prousts „Recherche“ (2010, S. 17). Nach Hölters Beobachtung wird es übrigens „immer schwerer […], einen substantiell haltbaren Unterschied zwischen Literatur und Literaturwissenschaft zu fundieren“ (2010, S. 17). 18 „[…] ich glaube, es ist falsch, sich auf eine zweckrationale Fachbegründung zu verlassen. Unser Fach existiert aus einem schlichteren Grund: Es macht Spaß […].“ (Hölter 2010, S. 17)

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taverna dei destini incrociati (1973).19 Eine Gruppe von Personen legt hier, der Rahmenhandlung zufolge, Karten zu einem netzförmigen Muster aus, und der Haupterzähler interpretiert diese Anordnung als ein Netzwerk visuell erzählter Geschichten. Auch in anderen literarischen Werken Calvinos geht es um den konstellierenden Blick und seine Interpretationsleistungen, dabei auch manchmal explizit um das Vergleichen – so vor allem in Palomar (1985). Calvinos posthum erschienenen Harvard Lectures (Sei proposte per il prossimo millennio, Six Memos for the next Millennium, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, 1988; dt. 1991) lassen sich als Beispiele einer konstellativ verfahrenden Poetik beschreiben, bei der heterogene Relate zusammengestellt und als dynamisches Geflecht behandelt werden. Die fünf Vorlesungen (eine letzte, sechste, blieb wegen Calvinos Tod ungeschrieben) erörtern die Qualitäten einer künftigen Literatur, die ihre Funktionen für die menschliche Kultur und Gesellschaft auch weiterhin erfüllen soll. Die Sequenz gliedert sich in je ein Kapitel über Leichtigkeit, Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielschichtigkeit (Lightness, Quickness, Exactitude, Visibility, Multiplicity); ein sechster Abschnitt über Konsistenz (Consistency) war geplant.20 Expliziert werden diese Qualitäten einer vorerst nur antizipierbaren Literatur unter Verweis auf bereits bestehende Werke. Calvino entwirft seine Literatur-Vision im Zeichen der Zusammenschau sehr heterogener Beispiele und Vorbilder. Diese entstammen verschiedenen Zeitaltern und Sprachräumen, und neben poetischen Werken verschiedener Gattungen (Calvino verweist auf lyrische, erzählende und dramatische Texte) werden wissenschaftliche, insbesondere naturbeschreibende Werke angeführt. In der Vorlesung über Leichtigkeit beispielsweise findet sich eine Fülle an Referenzen zusammengestellt; dazu gehören mythische Fabeln und deren Gestaltung durch Ovid (Metamorphosen), Texte von Eugenio Montale (Piccolo testamento), Milan Kundera (Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins), Lukrez (De rerum natura), Giovanni Boccaccio (Decamerone), Guido Cavalcanti (Gedichte), Dante (Divina Commedia), Paul Val8ry, Emily Dickinson, Henry James (The Beast in the Jungle), Cervantes (Don Quijote), William Shakespeare (Romeo and Juliet, Midsummernight’s Dream, As you like it u. a.), Panofsky/Saxl (Saturn und Melancholie), 19 Zum Prinzip literarischer Kombinatorik vgl. auch Calvino 1984. 20 Die Vorlesung zur „Leichtigkeit“ etwa beleuchtet die Beziehung der literarischen Fiktion zur Lebenswirklichkeit: Literatur, so Calvino, transformiert den „schweren“ Erfahrungsstoff und leistet damit einen Beitrag zur Bewältigung des Lebens. Das Stichwort „Schnelligkeit“ verweist auf das Erzählen als eine quasi „magische“ Operation mit der Zeit. Durch präzisen Sprachgebrauch wirkt, so die Vorlesung über „Genauigkeit“, die Literatur einem nachlässigen und undifferenzierten Alltagssprachgebrauch entgegen. Als „Anschaulichkeit“ angesprochen wird die visuelle Prägung literarischer Imagination, die, so Calvino, von Dichtern stilistisch umgesetzt werden muss. Die Vorlesung über „Vielschichtigkeit“ gilt vor allem dem modernen Roman als einem enzyklopädischen „Vernetzungswerk“.

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Cyrano de Bergerac (Voyage dans la lune), Swift (Gulliver’s Travels), Voltaire (Microm8gas), Gallands Übersetzung der Märchen aus 1001 Nacht, Giacomo Leopardi (Lyrik), Vladimir Propp (Morphologie des Märchens), Franz Kafka (Der Kübelreiter) und eigene Texte Calvinos. Ein abwechslungsreicher Parcours durch ein Gelände, das diverse Zeitalter und Schreibweisen umspannt. Und nicht nur mit Blick auf die Beispiele innerhalb der einzelnen Vorlesungen verfährt Calvino konstellativ ; auch das Gefüge der Teile (und „Qualitäten“) hat etwas von einem „Sternbild“. Ein System bilden „Lightness, Quickness, Exactitude, Visibility, Multiplicity“ und „Consistency“ nicht, ihre Anordnung erscheint in der vorliegenden Form nicht zwingend, und die Exemplifizierung der fraglichen Eigenschaften an literarischen Texten folgt keinem einheitlichen Muster. Calvino hat in einem Interview einmal das systematische Denken, das sich an Prinzipien orientiert und auf die Aufdeckung von Gründen abzielt, von einem anderen Denkstil unterschieden, der mit Begründungsfiguren nur spielt; sich selbst verortet er klar auf der Seite der Bastler. „Richtig begabt für Theorien bin ich […] glaube ich, nicht. Das Vergnügen, eine Denkmethode auszuprobieren wie ein Gadget, das anspruchsvolle und komplizierte Regeln auferlegt, kann sich durchaus vertragen mit grundsätzlichem Agnostizismus und Empirismus; das Denken der Dichter und Künstler funktioniert, glaube ich, fast immer so. Etwas anderes ist es, seine gesamten eigenen Erwartungen für eine Wahrheitsfindung in eine Theorie oder Methodologie zu investieren (so wie in eine Philosophie oder in eine Ideologie). Die Strenge der Philosophie und der Wissenschaft habe ich immer sehr geliebt; aber immer ein bißchen von weitem.“ (Calvino in Corti 1986, S. 27)

Es wäre verfehlt, die lockere, unsystematische und ,grundlose‘ Kompositionsweise der Harvard Lectures (in sich und als Gruppe) als Symptom eines TheorieDefizits zu interpretieren. Vielmehr erscheinen abstrakte Begriffe und Verallgemeinerungen hier als Materialien eines ludistischen Arrangements, das durch seinen konstellativen Charakter Mimikry an literarische Schreibweisen betreibt. Die diversen „Qualitäten“ der (bestehenden und künftigen) Literatur werden nicht nur theoretisch reflektiert, sie bestimmen auch den Duktus der Vorlesungen. Nehmen wir die erste „Qualität“ als Beispiel: Nicht nur die inhaltliche Ebene der ersten Vorlesung Calvinos steht im Zeichen der Leichtigkeit;21 auch in 21 Diverse Helden der Leichtigkeit werden in der ersten Vorlesung beschworen: neben Perseus der Dichter Cavalcanti in Boccaccios Schilderung „der leicht tanzende Mercutio aus Shakespeares Romeo und Julia, Cyrano de Bergerac (dessen Phantasie von der Frage, wie man sich der Schwerkraft entziehen könne, so angestachelt wird, dass er, wie Calvino (2010, S. 40) bemerkt, „eine ganze Serie von Methoden erfindet, um auf den Mond zu gelangen, eine immer einfallsreicher als die andere“), der Baron Münchhausen, das lyrische Ich Leopardis, Montales, Emily Dickinsons, Kafkas Kübelreiter… einander abwechselnde und dabei ähnelnde Gestalten. Gegen Ende der Leichtigkeits-Vorlesung vergleicht Calvino deren Struktur

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ihrer eigenen Struktur geben die Erörterungen Calvinos ein Beispiel für „lightness/leggerezza“: leicht bewegt sich der Diskurs durch die Jahrtausende, von Text zu Text, von der Poesie zur Naturwissenschaft, von Beispiel zu Beispiel. Hier werden keine Theoriegerüste gezimmert, keine Schlussfolgerungen erzwungen, keine Thesen untermauert. Die Vorlesungen über Schnelligkeit, Genauigkeit, Anschaulichkeit, Vielschichtigkeit sind analog angelegt: Auch dort bewegt sich der Diskurs – selbst schnell, präzise, anschaulich und beziehungsreich – durch weite Räume der Literaturgeschichte; auch dort werden aus Autoren-Namen und Textreferenzen Konstellationen gebildet, die dem verhandelten Thema Kontur verleihen. Die Möglichkeit, gebildete Konstellationen auch aus einer anderen Perspektive zu betrachten, bleibt dabei eben so offen wie die, dass Konstellationen sich verändern können. – Dass die Form der Harvard Lectures für die Entfaltung ihrer Thematik von prägender Bedeutung ist, bestätigen die expliziten Reflexionen, mit denen Calvino auf diese Form aufmerksam macht. „Habe ich zu viele Fäden in mein Knäuel verflochten? An welchem muß ich ziehen, um einen vernünftigen Schluß in die Hand zu bekommen? Da ist der Faden, der den Mond und Leopardi mit Newton, der Gravitation und der Levitation verbindet… Da ist der Faden, der von Lukrez und dem Atomismus über Cavalcantis Philosophie der Liebe zur Magie der Renaissance und zu Cyrano führt. Dann der Faden der Schrift als Metapher für die staubförmige Substanz der Welt: schon für Lukrez waren die Buchstaben Atome in permanenter Bewegung, die durch ihre Permutationen die verschiedensten Wörter und Laute erzeugten, ein Gedanke, den eine lange Tradition von Denkern aufgreifen sollte, für die sich die Geheimnisse der Welt in der Kombinatorik der Schriftzeichen fanden – ich denke an die Ars Magna von Ramjn Llull, an die Kabbala der spanischen Rabbiner und die von Pico della Mirandola. Auch Galileo sah im Alphabet das Modell jeder Kombinatorik kleinster Einheiten… Dann Leibniz…“ (Calvino 1991, S. 45)

Die Bildung vorübergehender Gruppierungen, das Zusammen-Stellen einzelner Phänomene, Texte, Motive und Exempel zu Gruppen, die temporär und im Rahmen eines bestimmten Argumentationsgangs etwas bedeuten, erscheint im Kontext der „Harvard Lecture“ als eine programmatische Verfahrensweise. Sie entspricht nicht allein dem Denkstil eines Poetik-Dozenten, der nicht so ,richtig begabt für Theorien‘ ist, sondern in ihr exemplifiziert sich letztlich der für Calvino maßgebliche Grundzug literarisch-poetischen Schreibens. Denn die Schöpfung temporärer Muster aus Heterogenem (das von sich aus zur Zerstreuung tendiert) ist für Calvino Inbegriff des Widerstands, den die menschliche Kultur einem insgesamt entropischen Universum entgegensetzt. einmal mit einem Knäuel, das nicht aus einem, sondern aus vielen Fäden besteht – ein suggestives Bild, in dem sich sowohl die Gleichordnung des Verschiedenartigen wie auch die durch einfallsreiche Verknüpfungen vollzogene Verdichtung“ zum Ausdruck bringt.

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„Das Universum löst sich in eine heiße Wolke auf, stürzt unaufhaltsam in einen Strudel von Entropie, doch im Innern dieses irreversiblen Prozesses können sich Zonen von Ordnung ergeben, Portionen von Existentem, die nach einer Form streben, privilegierte Punkte, in denen man einen Plan, eine Perspektive zu erkennen meint. Das literarische Werk ist eine dieser winzigen Portionen, in denen das Existierende sich in einer Form kristallisiert, einen Sinn gewinnt, keinen festen, endgültigen, zu steinerner Unbeweglichkeit erstarrten Sinn, sondern einen lebendigen, der wie ein Organismus lebt. Dichtung ist die große Widersacherin des Zufalls, obwohl auch sie ein Kind des Zufalls ist und weiß, daß er am Ende den Sieg davon tragen wird.“ (Calvino 1991, S. 99f.)

Beispiel 2: Michael Lentz: Atmen Ordnung Abgrund (2013) Steht über Calvinos Vorlesungsreihe Hermes/Mercur als Patron (Calvino 1991, S. 75), so übernimmt bei Michael Lentz (2013) die „Dame Rhetorica“ diese Rolle. Im thematischen Zentrum seiner Frankfurter Poetikvorlesungen steht dabei die literarische Arbeit als Ordnungswerk – genauer : als Produktion von Formen im Angesicht drohender Formlosigkeit. Inbegriff eines für die Literatur relevanten Programms geordneter Rede ist die Rhetorik, die deshalb zum Leitfaden der poetologischen Erörterungen genommen wird. Entsprechend heißt es am Ende des Prologs, nach Erläuterung der Begriffe „Inventio, Dispositio, Elocutio, Memoria, Actio“: „Rhetorik, warum? Hier herrscht sinnreiche Vernunft und ein vernünftiges Reich der Sinne. Es ist die Sehnsucht des ästhetischen Freelancers nach der Regelpoetik, nach der Selbstunterwerfung, nach dem Barock. Geistige Einkünfte in geregelten Bahnen. Weil ich nicht Maß halten kann. Weil die Erfahrung lehrt, dass ein regelpoetisch angefertigtes Prokrustesbett allemal überraschendere, scharfsinnigere, rätselhaftere Ergebnisse zeitigt als die pure Not literarischen Produzierens. Einbildungskraft schafft noch keine Worte, fessellose Imagination fängt keinen Text. Ich bin ordnungsbesessen, kann aber keine Ordnung halten. Literaturtheorie ist eine Ordnungsinstanz. Sie interessiert mich mehr als die Literatur. In der Beschäftigung mit Rhetorik wähne ich, alles an seinem Platz zu finden und wiederzuerkennen. Ich suche in theoretischen Texten meinen Einfall. Diese Texte dienen mir als exempla (praecepta), sie sind die poetologischen loci (Topoi). Erfinden des Stoffs – inventio – heißt auch hier Finden, Auffinden.“ (Lentz 2013, S. 22f.)

Lentz’ Entscheidung, seine Poetikvorlesungen der Rhetorik zu widmen, verleiht diesen einen ähnlich konstellativen Charakter wie den Jahrzehnte vorher entstandenen „Harvard Lectures“ Calvinos. Das Muster der Vortrags-Konstellation leitet sich aus einem Ensemble rhetorischer Grundbegriffe ab. Auf den Prolog, „DIE DAME RHETORICA“ betitelt, folgen jeweils Kapitel unter den Titeln „I. INVENTIO“, „II. DISPOSITIO“, „III. ELOCUTIO“, „IV. MEMORIA“,

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„V. ACTIO“, sowie abschließend die „Nachweise“ der literarischen, philosophischen, wissenschaftlichen Referenzen. – Innerhalb der Einzelvorträge werden illustrierende Beispiele konstelliert, die an sich sehr heterogen sind, sich im Rahmen des jeweiligen Diskurses aber sinnvoll konfigurieren; die Rhetorizität der Literatur wird im Rekurs auf eine bis zur Antike zurückdatierende Tradition auch an Beispielen jüngerer Zeit illustriert.22 In die Buchpublikation integriert finden sich, den einzelnen Kapiteln vorangestellt, verschiedene Visualgedichte. Diese Text-Bilder sind keine Illustrationen zum folgenden Text, ihr Bezug zu diesem ist unklar. Hier bleibt es dem Leser überlassen, die Motivation solchen Konstellierens zu erschließen, ja selbst zu konstellieren, denn wo ein direkter Bedingungszusammenhang nicht erkennbar ist, lassen sich die zu vergleichenden Relate (Visualtext und Vorlesung) aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Explizite Ansätze zu einer Poetik des Konstellierens enthält unter anderem das Kapitel INVENTIO; der rhetorische Begriff ist hier Anlass zur Erörterung des poetischen (Er-)Findens, der Abhängigkeit von Tradition und der Stimulierung durch Mängelbefunde. Aus einer Abhandlung von Gonsalv K. Mainberger zitiert Lentz eine Charakteristik der „inventio“, diese sei „Suche nach Verborgenem, nach den in der Sache schlummernden Argumenten; 2) theoriegeleitete Techne zu Überwindung der Tyche [Forscherglück]; 3) schöpferisches Erfinden von Neuem, Überraschendem, Nützlichem […]“ (vgl. Lentz 2013, S. 27).23 – Relationen zu schaffen erscheint Lentz als fundamentales po(i)etisches Verfahren; Rhetorik als die elaborierte Kunst, dies im Medium der Sprache zu tun. „Rhetorik. Alles steht mit allem in Verbindung“ (ebd., S. 21), so lautet eine Zwischenüberschrift in der Poetikvorlesung, die ahnen lässt, warum „Die Dame Rhetorica“ als Patronin der Vortragsreihe gewählt wurde. In einem Aufsatz Lentz’ über Bodo Hell findet sich eine Notiz, die sich auf das Tun des Schriftstellers wie das des Poetikers beziehen lässt: „Alles mit allem zu verbinden, in einem solchermaßen verschrifteten Kontext als Ganzes zu poetisieren, dass wir zwar Einzelnes herauslösen können, dieses Einzelne aber als gleichwertig mit dem Vorangegangenen und dem Folgenden erkennen […].“ (Lentz 2011, S. 269)

Vergleiche werden bei Lentz wie schon bei Calvino im Sinn eines konstruktiven Konstellierens heterogener Relate angestellt. Bestimmte Autoren und Werke 22 Zur Illustration von Lentz’ Parcours nur einige Namen: Pastior, Schiller, Brecht, Kafka, Bernd Scheffer (über Kurt Schwitters), Franz Mon, Heinrich F. Plett, Stefan Rieger, Peter L. Oesterreich, Erich Kleinschmidt, Wolfgang Iser, Samuel Beckett, Ren8 Descartes, George Berkeley, Ror Wolf, Paul Val8ry, Ernst Jandl etcs. Eigene Texte werden teilweise ausführlich zitiert. 23 Referenz: Mainberger 2003, S. 62.

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können die Funktion von Leitsternen übernehmen, eine Art persönlicher Kanon zeichnet sich ab, aber ohne jede allgemeine Verbindlichlkeit.

Beispiel 3: Peter Rühmkorf: agar agar – zaurzaurim. Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven (1985) Peter Rühmkorf hat seine Frankfurter Poetikvorlesungen von 1985 unter einen Titel gestellt, der wie eine Zauberformel klingt, und er orientiert sich unter produktions- wie unter rezeptionsästhetischen Aspekten an der Idee einer inneren Affinität von dichterischem und magischem Sprachgebrauch. Insbesondere leitet Rühmkorf das Lesen vom Zusammen-Lesen ab (was etymologisch auch richtig ist). Das Zusammen-Lesen zufälliger Objektgruppen lässt sie in den Augen des Lesers zu einer bedeutsamen Botschaft werden, und dieses Geschäft der alten Orakeldeuter erscheint bei Rühmkorf als der Nukleus literarischer Produktion und Kommunikation. Der runenlesende orakelnde Priester operiert auf der Basis ihm buchstäblich zu-gefallener und aufgesammelter Einzelstücke, die er als Fragmente einer virtuellen Botschaft deutet und gemäß seiner ,tonangebenden‘ Lesehypothese zusammen-liest.24 Analog dazu gestaltet sich für Rühmkorf bis in die Gegenwart das Werk eines Dichters jeweils als Produkt des Zusammenwirkens von Zugefallenem und Technik. (Im Vergleich des modernen Dichters mit Orakel- und Runenlesern liegt bereits ein konstellierender Zug.) Auch neuere Poesie beruht auf analogen Prinzipien wie die magisch-atavistische Praxis, ist ursprünglich mit dieser deckungsgleich: ein „Verketten“, ein „Ergänzen“ von Gefundenem, Zugefallenem, Zufälligem.25 Dichten bedeutet, Formen zu schaffen. Besonders ostentativ geschieht dies 24 „Der Priester oder Deuter wirft die mit Runenkritzungen versehenen Buchenstäbe auf ein weißes Tuch, greift […] einen Runenstab heraus, die sogenannte ,Nota‘, die den Ton angibt und den Vortrag regiert, dann erst beginnt seine eigentliche Arbeit: das Gefundene durch passende Erfindungen zu ergänzen: stabende Wörter, die den bruchstückhaften Götterbescheid in eine sinnvoll-ohrenfällige Ordnung überführen. Wir sehen mithin, wie sich am Anfang einer Kultur […] die Wahrsagekunst und das Dichterhandwerk in einer Person und ihrer Profession vereinigen und wie sich das Zufallsprodukt (das dem Menschen Zugefallene) mit dem poetischen Einfall zum bedeutungsvollen Amalgam verbindet. Wir sehen darüber hinaus, daß alle späteren Verbindungen von Inspirations- und Fabrikationstheorien nur immer wieder auf eine alte Doppelrolle zurückweisen, die in der Figur des Dichtermagiers noch ganz ungeteilt verkörpert war.“ (Rühmkorf 1981, S. 20f.) 25 Insbesondere Sprachspiele basieren auf solchen Fundstücken; so dient der Reim zwischen „Reim“ und „Leim“ dazu, den Effekt des Reimens zu beschreiben: „[…] was sich reimt, das leimt sich: eine tief im magischen Denken verwurzelte Vorstellung, die noch in den Disputationen der Mittelhochdeutschen Dichter über das ,r&men unde l%men‘ nachklingt.“ (Rühmkorf 1981, S. 23)

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durch die Verwendung von Reimen. Angeführt werden zahlreiche Beispiele aus der Alltagswelt, die belegen sollen, welche Wirkungsmacht Reime haben, wenn es ums Verknüpfen und Verbinden von Heterogenem geht. Ästhetische Wahrnehmung und Gestaltung steht für Rühmkorf im Zeichen der Suche nach sichaufeinander-,reimenden‘ Relaten. Je sensibler der Mensch für Unordnung sei, desto wichtiger seien ihm solche Korrespondenzen.26 Rühmkorfs Kernanliegen ist es, den Reim (in seinen verschiedenen Spielformen, als Binnen-, wie als Endreim) zu rehabilitieren und in seiner kulturellen Bedeutung zu würdigen. Damit verbinden sich anthropologisch-psychologische Annahmen zur Disposition des Menschen, auf Gereimtes in besonderer Weise zu reagieren, sich von Reimen nicht nur erfreuen, sondern auch beeinflussen zu lassen. Die Dopplung bildet für ihn eine basale ästhetische Praxis; das atavistische Reimen, bis in die Gegenwart praktiziert, dabei oft eher in populärkulturellen als in hochkulturellen Kontexten, ist für ihn eine fundamentale Form des Gestaltens – einer Poiesis, die eine Kunst der Zusammenstellung ist: Reime setzen das jeweils reimend Benannte in Relationen, schaffen Relationsgeflechte.27 In dieser Funktion – die man als ,Konstellierungseffekt‘ charakterisieren könnte – steht der Reim im Zentrum der Poetikvorlesungen. – Rühmkorfs zahlreiche und betont heterogene Beispiele bilden selbst Konstellationen, die auf einer höheren (thematischen) Ebene vergleichend in Beziehungen gesetzt werden – in Beziehungen, die man ohne Rühmkorf so vielleicht nicht wahrgenommen hätte. Es geht um die Kunst, Heterogenes aufeinander zu ,reimen‘ und dadurch zu ,leimen‘. Dass es Rühmkorf mit seinen Ausführungen über den Reim und dessen Wirkungen über literaturgeschichtliche Thesen hinaus um ein fundamentales konstellierendes Verhältnis des Menschen zu seiner Welt geht, belegen die Bilder, die er in die Poetikvorlesungen integriert; wie die Textbeispiele sind sie zugleich Produkte und Anlässe kreativen Konstellierens. Es handelt sich um Klecksbilder, wie Rühmkorf sie in größerer Zahl hergestellt (und dabei auch zum Substrat lyrischer Interpretationen gemacht) hat. Die symmetrischen Klecksographien, entstanden durch Faltungen beklecksten Papiers, sind als axialsymmetrische Gebilde visuelle Pendants der Silben-Wiederholung, des Reims und anderer 26 Das Reihenbilden respektive das Auf-Zählen erscheint als basaler po(i)etischer Prozess, etymologisch und sachlich verwandt mit dem Ordnen durchs Erzählen. 27 Poetische Sprachmuster wie Alliterationen und Reime haben, so Rühmkorf, „eine Macht, die mit logischer Argumentation und dem ihr unterstellten Bedürfnis nach Wahrheit überhaupt nichts zu tun hat“ (Rühmkorf 1981, S. 20). Rühmkorfs Vorlesung behandelt primär den Reim als poetisches Grundphänomen, das nicht nur in im engeren Sinne dichterische Texte prägt, sondern auch und sehr nachdrücklich die Alltags-Sprachkultur. Die in Binnen- und Endreimen konkretisierte Wiederholung erscheint ihm als ein gestalterisches Grundprinzip von erheblich praktisch-performativer Suggestivkraft.

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Formen poetischer Duplikation; stehen doch auch die im Zeichen der Duplikation (wie Bild und Spiegelbild). In den Versen über diese Klecksbilder verschafft ihnen der Dichter gleichsam ein Echo: Die Verse drücken aus, was der dichtende Betrachter da jeweils ,sieht‘. Explizit knüpft Rühmkorf an die Klecksbilder Justinus Kerners an, die dieser im 19. Jahrhundert zum Anlass poetischer Interpretationen in Versform genommen hatte.28 Schon Kerner hatte sich auf programmatische Weise als Interpret von Zufalls-Bildern geübt: Er hatte bei der Produktion seiner ,Klecksographien‘ zwar auf deren Zufälligkeit gesetzt, diese aber manipulativ beeinflusst; er hatte in den zufallsbedingten Konfigurationen konkret Abbilder gesehen (respektive: vorgegeben, solche zu sehen – etwa Bilder von Tieren, Menschen, Dämonen, Teufeln) – und er hatte das solcherart „Zusammen-Gelesene“ dann in Versen bedichtet. Die angefertigten Klecksbilder nebst Versen waren dann ihrerseits zu Gruppen gefügt worden: zu den „Höllenbildern“ und den „Hadesbildern“. So hatte Kerner Kontingentes (Kaffee-, Tinten-, Saftkleckse) zu nichts Geringerem als zu einem Abbild der Relation zwischen Diesseits und Geisterwelt werden lassen – wenn auch mit eindeutig parodistischem Akzent. Ein Band mit klecksografisch illustrierten Meta-Gedichten Rühmkorfs (die „Kleine Fleckenkunde“) ist dem Klecksbild als einem Anlass konstellativen Betrachtens gewidmet (Rühmkorf 1982). Wie bei Kerner finden sich (eigene) Klecksbilder und Verse zusammengestellt. Und Rühmkorf verfasst seine Klecksbildgedichte als explizit poetologische Gedichte: Sie stehen im Zeichen ständiger Metaisierung, insofern sie variantenreich vom Klecksen, Falten, Sehen, Lesen und Interpretieren sprechen; sie exemplifizieren dadurch das für Rühmkorf fundamentale Verfahren der Dichtung, die auf Duplikationen beruht – und sie sind Hommagen an das Klecksbild als Pendant des Reims. Dopplung und Paarung hier wie dort: visuell illustriert das Klecksbild die Genese poetischer Strukturen aus der Dopplung – für die auf akustischer Ebene der Reim konstitutiv ist. Und Rühmkorfs Verse – wenn man so will: eine Vorlesung über ,Poiesis‘ in Versform – sprechen mehrfacht darüber. „Wer hierzulande Flecken hinterläßt gilt gleich als Schwein. Wer einen Klecks in eine Ordnung preßt kann schon ein Künstler sein.“ (ebd., S. 12)

In sämtlichen Gedichten geht es, direkt oder indirekt, um das produktiv zusammen-lesende Sehen, die Sinnsuggestionen von symmetrischen Erscheinungen, die Herstellung von Relationen.

28 Vgl. zu Kerners Klecksographien u. a.: Kerner 1890 und 1986.

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„Fleck-Reflex [Titel] Denke nicht: die Wahrheit kleckst einfach auf die Platte. Denke nicht: das Leben wächst sauber nach der Latte. Blind auf einen Fleck gestiert, wendet nichts zum Hellen. ABER: Flecken reflektiert, schimmert wie Libellen.“ (ebd., S. 52f.)29

Gleichsam demonstrativ macht der Dichter seine Zufallsbilder zu Substraten des individuellen Interpretierens; der Vergleich zwischen den visuellen Formen und ähnlich gestalteten Erscheinungen im Menschen-, Tier- und Geisterreich ist dabei grundlegend. So treibt der Verfasser der „Fleckenkunde“ ein reflektiertes Spiel mit Ähnlichkeiten und Vergleichbarkeiten.30 Poetikvorlesungen und „Fleckenkunde“ machen sinnfällig, dass diese ,Ähnlichkeiten‘ nichts ,per se‘ Gegebenes sind, sondern beim Vergleichen als einem Spiel entstehen – einem Spiel, das von Regeln geleitet, in seinem Verlauf durch diese aber nicht determiniert wird.

Konstellationen – eine kleine Bilanz Wer vergleicht, ,liest zusammen‘; dabei werden ,Ähnlichkeiten‘ generiert, ,Muster‘ gebildet, temporäre und dynamische Ordnungsgefüge geschaffen. Davon handeln die Reflexionen Calvinos, Rühmkorfs und Lentz’. Was diese ihren thematischen Differenzen zum Trotz kompatibel macht, ist der Akzent, den die Autoren jeweils auf die kompositorische Dimension der literarischen Arbeit legen: auf das Anordnen, das Zusammenstellen. Wer vergleicht, konstelliert – und im Licht der vorgestellten Poetikvorlesungen erscheint dieses Konstellieren als Modell und Inbegriff einer im engeren wie im weiteren Sinn ,poetischen‘ 29 Dargestellt ist eine libellenartige Figur. Die „Libelle“ – ein weiteres ,symmetrisch‘ auf Zweierlei verweisendes Wort – teilt sich Namen und Achsensymmetrie mit dem „Libellum“, das der Leser in Händen hält. 30 „Jede Art von Ähnlichkeit […] provoziert den Vergleich als Spiel-Arbeit mit Reizen und Mustern“ (Hölter 2010, S. 21). Für Rühmkorf – der in seinen Poetikvorlesungen ein MetaSpiel mit Ähnlichkeiten spielt und spielerisch ,vergleicht‘ – ist dies offenkundig prägend. Vgl. Hölter über diesen „Grund des Vergnügens am philologischen Vergleich“: „Gehen wir davon aus, dass Ähnlichkeiten und deren Wiedererkennen Beruhigung erzeugen, vom Kleinkind an, so hätten wir hier eher ein Muster für das Vergnügen am Immergleichen, etwa an Trivialliteratur, wo die Losung gilt: Variatio non delectat. Die Lust der Monotonie, die Wonnen der Gewöhnlichkeit.“ (ebd.) – Rühmkorfs Argumentation zugunsten des Reims passt hierzu bestens.

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(poietischen) Praxis. In allen drei Beispielen für eine Poetik des Konstellierens und des „Lesens“ von Konstellationen ist zugleich ein Moment der Selbstironie unüberhörbar, die sich aus der Einsicht ergibt, systematische, verbindliche und definitive Belehrungen weder geben zu wollen noch zu können. Wer das scheinbare Finden von Ähnlichkeiten als ein Erfinden versteht, kann sich der selbstkritischen Einsicht nicht entziehen, dass er selbst erfindet, wo er Beispiele, Argumente und Theoreme präsentiert. Der ludistisch-experimentelle Charakter konstellierenden Schreibens zeigt sich bei Calvino, Lentz und Rühmkorf – über die Beispiele hinaus – auch jeweils am Text des Poetikdozenten selbst. Es gilt, wie es scheint, vor allem zu erkunden, was passiert, wenn man die Dinge einmal so betrachtet und vergleicht, wie sie hier betrachtet und verglichen werden. Herrn Palomars Einsicht – „Um ein Sternbild zu erkennen, prüft man am besten, wie es auf seinen Namen reagiert“ (Calvino 1985, S. 65) – gilt auch und gerade für Komparatisten.

Primärliteratur Calvino, Italo: Il castello dei destini incrociati / La taverna dei destini incrociati. Turin 1973. Calvino, Italo: Herr Palomar. München/Wien 1985. Kerner, Justinus: Kleksographien. Stuttgart/Leipzig/Berlin/Wien 1890. Rühmkorf, Peter : Kleine Fleckenkunde. Zürich 1982.

Sekundärliteratur Albrecht, Andrea: ,,Konstellationen‘. Zur kulturwissenschaftlichen Karriere eines astrologisch-astronomischen Konzepts bei Heinrich Rickert, Max Weber, Alfred Weber und Karl Mannheim‘, in: Scientia poetica 2010/14, S. 104–149. Calvino, Italo: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. München/Wien 1991. Calvino, Italo: Kybernetik und Gespenster. Überlegung zu Literatur und Gesellschaft. München/Wien 1984. Corti, Maria: ,Interview mit Italo Calvino‘, in: Zibaldone. Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart 1986/Bd. 1, S. 18–28. Eggers, Michael: Vergleichendes Erkennen. Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie des Vergleichs und zur Genealogie der Komparatistik. Heidelberg 2016. Eggers, Michael (Hg.): Von Ähnlichkeiten und Unterschieden. Vergleich, Analogie und Klassifikation in Wissenschaft und Literatur (18./19. Jahrhundert). Heidelberg 2011. Genette, G8rard: Palimpsestes. La litt8rature au second degr8e. Paris 1982. Grimm, Jacob und Wilhelm: ,Vergleich‘, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 25. München 1984, S. 448–449.

Konstellieren und Vergleichen

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Gertrud Maria Rösch

Roman à clef. Von der komparatistischen Relevanz eines gemiedenen Begriffs

Der Schlüsselroman, in der angelsächsischen Literaturwissenschaft geläufig als Roman / clef, ist von hoher komparatistischer Relevanz, obwohl der Begriff gleichzeitig gemieden wird. Diese Spannung nimmt der folgende Beitrag als Ausgang einer vergleichenden Untersuchung dieses Konzepts in der deutschsprachigen, angelsächsischen und chinesischen Literatur. Grundsätzlich ist die Frage zu beantworten, welche Genres und Narrative sich für verschlüsselndes Erzählen anbieten, welche narrativen Verfahren zur Verfügung stehen, um Fakten zu verhüllen und zugleich mitzuteilen, und zuletzt, welche Funktion das verschlüsselnde Schreiben in einer Gesellschaft hat. Es sind, so die These, die historischen Kontexte, die verschlüsselnde Erzählverfahren und eine Poetik der Referentialität hervorbringen, auch wenn sie nicht so benannt werden. Diese Texte dienen bestimmten Funktionen, die durch kein anderes Genre oder Narrativ erfüllt werden können. Es ist ein Schreiben im Konflikt, wobei diese Konfliktlinie häufig darin besteht, im Interesse der Gesellschaft Verdecktes auszusprechen, ohne als Autor Sanktionen auf sich zu ziehen. In der englischen und amerikanischen Literaturwissenschaft findet sich dieses Konzept der real people and places in fiction, also der Anspielungen auf historische Personen oder Ereignisse. In der chinesischen Literatur wiederum finden sich Schlüsselromane unter dem Begriff yingshe-Roman. Zu erklären ist zudem, warum Schlüsselliteratur in den Literaturgeschichten häufig unter dem Verdikt der Kolportage und der Trivialität marginalisiert wird, aber eine wichtige Funktionsstelle im literarischen und gesellschaftlichen Diskurs einnimmt und daher in der einen oder anderen Form immer im literarischen Leben existiert. Als bestes Beispiel für dieses Genre dient in der deutschsprachigen Literatur Klaus Manns Roman Mephisto (1936), in dem er die Karriere seines Freundes Gustaf Gründgens (1899–1963) – der zeitweise auch sein Schwager war, weil mit Erika Mann (1905–1969) verheiratet – im nationalsozialistischen Berlin in der Figur des Hendrik Höfgen erzählte. Dieser Text prägt das Genre, was sich auch darin zeigt, dass Mephisto den Juristen für einen weiteren Fall, den Streit um Maxim Billers Esra (2003), als Vergleich für die Frage diente, ob der Roman

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verboten werden sollte oder nicht.1 Das Gericht hat 2007 den Vertrieb von Billers Roman untersagt. Mit welchen Verfahren verhüllt der Roman das, was er doch zugleich mitteilen will? Als erstes ist auf die doppelte – bzw. im Hinblick auf den yingshe-Roman auch analog zu nennende – Struktur der Texte hinzuweisen, die einen Oberflächen- bzw. Decktext aufweisen, unter dem jedoch der eigentliche Geheim- oder Subtext liegt. Die augenfälligsten Verweise zwischen Oberflächen- und Geheimtext gehen dabei – und hier läge ein zweites Merkmal – von den Namen aus. Figuren gehören zum Oberflächentext und tragen erfundene Namen, die aber zugleich als Signale funktionieren, die unverkennbar auf ihre historischen Urbilder mit den wirklichen Namen zurückverweisen. Anders als innerhalb der realistischen Erzähltradition wird die Wirklichkeitsreferenz durch die fiktionale Einbettung nicht gekappt, sondern besteht weiter als ein Signal, eine Aufforderung, sie als Teil der Textaussage wahr zu nehmen. Meist werden die Leser durch mehrfache Signale auf außerliterarische Fakten und Personen als den Verstehenshorizont der fiktionalen Handlung gelenkt. Klaus Kanzog spricht hier von einer „Textkonstellation, deren konkreter Realitätsbezug nicht erlöschen darf“, wenn der Leser die vom Autor intendierte Aussage verstehen soll. Diese Autor-Leser-Kommunikation liegt der Schlüsselliteratur zugrunde und ist ihr im Genrebegriff schon beschriebenes Kriterium: Es ist das „Kalkül des vom Leser zu leistenden Rückbezugs auf den eigentlich gemeinten Sachverhalt“,2 d. h. die Entschlüsselung eines in fiktionaler Handlung verschlüsselten zeitaktuellen Zusammenhangs. Verschlüsseln bedeutet also Übersetzen von Realität in Fiktion. Die spezifische Ort- und Zeitgebundenheit der verschlüsselten Personen und Ereignisse könnte sich hier als großes Hindernis erweisen. Seine Aktualität ist für den Schlüsselroman ein inhärentes Problem, verlieren doch die Wirklichkeitsanspielungen ihren Reiz, wenn die darin getroffene Wirklichkeit historisch fern rückt. Dann verlieren die Signale zum Entschlüsseln ihre Funktion oder müssen durch Kommentare und andere Formen der Paratexte beigefügt werden, z. B. auch durch Schlüssel, d. h. nachgeschickte Erklärungen.3 Das Genre der Schlüsselliteratur ist in der europäischen Literatur alt und berührt sich eng mit den Techniken der Geheimschrift und der BuchstabenSpiele. Verschlüsseln stellt an sich schon Übersetzen im Sinne von Codieren dar, denn Namen und Ereignisse von Personen der realen Welt werden übersetzt bzw. verschoben in die fiktionale Welt, in der sie andere, meist erfundene Namen 1 Über diesen vieldiskutierten Fall vgl. bes. Becker (2006, S. 20–23), ebenso Wittstock (2011). 2 Kanzog (2003, S. 380). 3 Zu der Form dieser nachgeschickten Erklärungen und ihren unterschiedlichen Formen vgl. Rösch (2004, bes. S. 24f.).

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erhalten. Seit ihren Anfängen im 17. Jahrhundert stand literarische Verschlüsselung in Verbindung mit den Techniken der Geheimschrift, die damals selbstverständlicher Teil der Diplomatie war. Die verschlüsselnde Darstellung zeitgenössischer Wirklichkeit genoss daher entsprechend hohes Renommee in Gestalt gewichtiger höfischer Romane (z. B. Anton Ulrich von BraunschweigLüneburg, Die römische Octavia). Angesichts der Forderung, Literatur müsse ästhetische Autonomie wahren, wird Schlüsselliteratur im 18. Jahrhundert zum gemiedenen Genre. Ihre Techniken bestehen aber weiter, denn sie werden gebraucht. Schreibweisen, die einen doppelten Sinn erlauben, sind u. a. Satire, Pasquill, Polemik, Märchen, Fabel, Allegorie. Ihnen kommt im 18. Jahrhundert bevorzugt diese Funktion zu, auf verhüllte Weise zu kritisieren.4 Im 19. Jahrhundert werden es dann der Zeit- bzw. Gegenwartsroman oder der politische Roman, die an die Stelle des gemiedenen Begriffs Schlüsselroman treten. Es sind die historischen Kontexte, die verschlüsselnde Erzählverfahren und eine Poetik der Referentialität hervorbringen, auch wenn sie nicht so benannt werden. Diese Texte dienen bestimmten Funktionen, die durch kein anderes Genre oder Narrativ erfüllt werden können. Es ist Schreiben als soziales Handeln, das auch einen Akt wie den Skandal als eine kalkulierte Verletzung der sozialen Normen oder nur der Erwartungen der Leserschaft einschließt. Der durch diese Form eingreifenden Handelns heraufgerufene Konflikt kann weitere Akteure auf den Plan rufen und damit als externer Konflikt sichtbar sein; repräsentativ hierfür wären neben dem Skandal besonders die Zensur in Diktaturen bzw. totalitären Gesellschaften. Dem externen Konflikt an die Seite zu stellen wäre der interne Konflikt, in dem ein Autor oder eine Autorin Persönliches mitteilen will, das Qualitäten des Geheimen oder des Schmerzhaften umschließt und daher an die Grenzen des Sagbaren stößt. Der für diese Form der inneren Auseinandersetzung repräsentative Fall wären die autobiographischen Romane, in denen die Fiktionalität einen Raum schafft, in dem die Fakten modifiziert und damit erzählt werden können. Dieses Erzählen grenzt an die von Wagner-Egelhaaf als Auto(r)fiktion beschriebene narrative Technik.

Englische und amerikanische Literatur: Fiction or Faction? Im Englischen wird der französische Terminus roman / clef gebraucht, wenn nicht überhaupt nur von fact and fiction die Rede ist. Folglich lässt sich auch die Frage nach Schlüsselromanen oder diesen vergleichbaren Erzähltexten in den europäischen Literaturen nur ansatzweise beantworten. Angesichts der Funk4 Zu diesem historischen Wandel referentialisierenden Schreibens vgl. Rösch (2004, S. 79–92).

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tionen, auf die Autoren mit verschlüsselndem Schreiben reagieren (also Umgehung der Zensur, Aussprache des Geheimen) muss es diese Form von Literatur aber geben. Lässt sich aus diesen Romanen eine ähnliche Poetik der Referentialität ablesen? Ein bekanntes Beispiel wäre der Roman von Aldous Huxley, Point Counter Point (1930), in dem er seine schreibenden Zeitgenossen und ihre Familien unter erfundenen Namen einführt: Katherine Mansfield (1888–1923) erscheint als Susan Paley, und ihr Ehemann, der Kritiker John Middleton Murry (1889–1957), als Denis Burlap. Zu den viel porträtierten Autoren gehört D.H. Lawrence (1885–1930), dessen fiktionaler Gegenpart Mark Rampion mit seiner Frau Mary ist, hinter der sich Frieda Lawrence (1879–1956) verbirgt. In seiner Analyse dieses und weiterer Romane warnt Sean Latham vor den Konsequenzen einer solchen Lektüre. Er nennt sie „one of literary criticism’s deadliest sins by treating seemingly fictional works […] as if they contained real facts about real people and events.“5 Genau dies ist aber der Fall, ungeachtet des Verdikts einer Literaturwissenschaft, die Realia in einem Text als Minderung seiner ästhetischen Autonomie ansieht. Wie sehr dieses Verdikt durchschlägt auf die Rezeption von Texten, lässt sich an den Rezensionen ablesen. Die Vermischung von Fakten und Fiktion wird einem Text ungleich häufiger als Schwäche denn als Ausweis besonders kunstvoller Komposition nachgesagt. Ein sehr aktuelles Beispiel bietet der Roman Lola Bensky der Journalistin Lily Brett (geb. 1946). Darin erzählt sie ihre Geschichte als Tochter jüdischer Eltern, die beide das Lager Auschwitz überlebt hatten und nach Australien auswanderten. Sie selbst begann für ein australisches Musikmagazin zu schreiben und veröffentlichte 1967 das erste Interview mit Jimi Hendrix. Diese und die zahllosen weiteren Begegnungen mit Cat Stevens, Mick Jagger, Janis Joplin und Linda McCartney, kurz mit einer Generation, die über Rockfestivals den Aufbruch und die Revolte in die Gesellschaft tragen wollte, machen einen der Erzählstränge im Buch aus. Der andere ist die Spurensuche in der Vergangenheit ihrer Eltern und die Rekonstruktion der eigenen Geschichte, die sie vom übergewichtigen ,fat girl‘ zur erfolgreichen Schriftstellerin führt. Sie erzählt diese Geschichte vermittelt und wählt eine Stellvertreter-Figur namens Lola Bensky, aber immer bleibt klar : „Das alles ist keine freie Erfindung der Autorin, sondern hautnah an Lily Bretts eigener Biographie […]“. Eben das bereitet der Rezensentin Unbehagen: „Es kann sein, dass Brian Jones schlicht stoned war in Monterey, und es kann gut sein, dass Mick Jagger eine schon immer bestens organisierte Persönlichkeit war und dass er nach Jahrzehnten eine schlanke, reife Frau bei einem Charity-Dinner in New York wiedererkennt, die ihn einst als übergewichtige Neunzehnjährige in London interviewte. Aber über all das würde man zu gern die Reportagen lesen – und zwar von Lily 5 Latham (2009, S. 3).

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Brett selbst. Wäre es nicht wesentlich interessanter, sie hätte sich gar nicht erst hinter Lola versteckt? Dann würde man nicht so unglücklich zwischen fiction und faction hängen. Denn nicht ganz unerheblich ist doch ein weiterer Aspekt: Alle, die Lola im Roman trifft, sind inzwischen Personen der Zeitgeschichte – und manche von ihnen leben noch: Auch deshalb wirkt die Camouflage der Autorin so irritierend.“6

Warum sollte ein solches Erzählverfahren irritieren, wenn es doch darum geht, am inneren wie am äußeren Konflikt entlang zu schreiben und die eigene Bildungsgeschichte zu vermitteln mit der Gesellschaftsgeschichte? Die Signale des Textes halten die doppelte Ebene stets präsent, die Porträts bleiben erkennbar und die Abgründe der eigenen Familienvergangenheit sind plausibel in Dialogen und Schilderungen gefasst, wie sie jedoch nur die Fiktionalität zulässt. Bretts Roman – wie auch die irritierte Reaktion darauf – erweist sich damit als ein überzeugendes Beispiel für Auto(r)fiktion und damit für eine Tendenz der Gegenwartsliteratur, deren Merkmal es gerade ist, „Autobiographisches und Fiktionales gezielt zu verbinden.“ Die Mischung von Fakten und Fiktion ermöglicht die schwebende Darstellung, die den porträtierten Personen einen Raum des Möglichen und der taktvollen Andeutung belässt. Vor allem aber profitiert die Hauptfigur davon, denn sie kann ihre Familiengeschichte rekonstruieren und deuten und sich letztendlich als Autoren selbst begründen: „Der autofiktionale Text […] exponiert den Autor im performativen Sinn als jene Instanz, die im selben Moment den Text hervorbringt wie dieser ihr, d. h. dem Autor, auf seiner Bühne den auktorialen Auftritt allererst ermöglicht.“7

Die chinesische Literatur: Der yingshe-Roman „In contrast to the less popular position of the roman / clef in the European tradition, the same method of composition has a central significance throughout the history of traditional Chinese fiction. In traditional Chinese terminology, yingshe best describes this kind of analogical imagination. Literally, yingshe means shadow shooting, but in fact it refers to the fictional projection of a certain historical event.“8

Der Komparatist Chen Jue, der den yingshe-Roman, das vergleichbare Genre in der chinesischen Literatur untersucht hat, geht von einem grundsätzlichen Unterschied aus, genauer gesagt: einem kulturellen Unterschied. Dem Schlüsselroman weist er, der vorherrschenden literarhistorischen Wertung folgend, eine marginale Funktion zu. Blickt man jedoch zurück auf die literarische For6 Gropp (2013). 7 Beide Zitate aus Wagner-Egelhaaf (2013, S. 12). 8 Chen (1997, S. 29).

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mierung dieses Genres in der europäischen Literatur, dann zeigt sich gerade auch dieses analoge Erzählen als das zentrale Merkmal. Die analoge Erzählwelt entsteht durch punktgenaue Verschiebung der realhistorischen Elemente in eine fiktionale Welt.9 Als Beweis führt Chen einen Roman mit einer langen Entstehungsgeschichte an: Blumen im Meer der Sünde, von Pu Zeng (1872–1935). Dieser war als Beamter und Herausgeber zweier Zeitschriften tätig und schrieb 1904 die ersten zwanzig Kapitel unter dem Titel Blumen im Meer der Sünde, nachdem er die Idee dazu von Jin Songcen (1874–1947), einem Übersetzer, erhalten hatte. Weitere Kapitel entstanden 1907, aber erst Jahre später griff er die Arbeit wieder auf, musste es dann aber einem Freund überlassen, Zhang Hong (1867–1941), den Text zu erweitern. „So gut wie alle Figuren beruhen auf wirklichen Personen,“ urteilt Lu Xun in seiner Literaturgeschichte.10 Erzählt werden die politischen Umbrüche der Jahre 1860 bis 1910, einschließlich der Aktivitäten der Geheimgesellschaften und des Boxer-Aufstands. Die Hauptfigur, im Roman Fu Caiyun, die Frau des Diplomaten Jin Wenqing, hat als historisches Vorbild Sai Jinhua (1872–1936), die 1887 den Diplomaten Hong Jun (1840–1893) heiratete. Er übernahm Positionen als Botschafter in Russland, Deutschland, Österreich und Holland, so dass vor allem die europäische Politik in den Blick des Romans gerät. Deren Akteure treten unter ihren historischen Namen auf, darunter Alfred Graf von Waldersee (1832–1904), der von Kaiser Wilhelm II. zum Kommandeur der internationalen Truppen ernannt wurde, um den Unruhen der aufständischen Boxer ein Ende zu setzen. Im Roman setzt sich Fu Caiyun für die Pekinger Bevölkerung ein. Dieses Handlungsdetail entspricht auch der Darstellung in ihren Memoiren der Sai Jinhua, die 1934 erschienen; darin inszeniert sie sich als Frau, die in Diplomatenkreisen verkehrt und mit dem Kommandeur Waldersee engen Umgang hat. Zeng Pu und Sai Jinhua kannten sich, jedenfalls las sie ihr eigenes Porträt in diesem Roman und widersprach Zeng, der sie als Tochter eines Kulis beschrieben hatte. Über ihren Tod hinaus lieferte diese Episode in der deutsch-chinesischen Kolonialgeschichte Stoff für Spekulationen, zumal neben Pu Zengs Roman zwei Theaterstücke darüber entstanden und nach Sais Memoiren auch noch eine biographische Darstellung erschien, deren Verfasser sich unter dem Pseudonym Drunken Whiskers verbarg. Darin wird die Legende der gesellschaftsgewandten Kurtisane fortgeschrieben, die ihre Verbindungen aus ihrem Aufenthalt in Deutschland dann in Peking patriotisch nützen kann, um Waldersee zu beraten und zu maßvollem Vorgehen gegen die Chinesen zu bewegen.11 9 Dazu Rösch (2004, S. 9–19). 10 Lu (1981, S. 398). 11 Vgl. dazu: Waldersee. Der große Liebhaber. In: Der Spiegel 1959/Nr. 52, 23. 12. 1959,

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Allerdings ist diese Sicht bis heute umstritten.12 Der Roman liefert mithin ein – mindestens aus der Sicht einer europäischen Leserschaft – spannendes Panorama der politischen Ereignisse und füllt historische Leerstellen mit angedeuteten Handlungsmöglichkeiten.

Fazit Schlüsselliteratur wird in den Literaturgeschichten häufig marginalisiert unter dem Verdikt der Kolportage und der Trivialität, aber sie füllt eine wichtige Funktionsstelle im literarischen und gesellschaftlichen Diskurs und existiert daher in der einen oder anderen Form immer im literarischen Leben. Mit diesem Thema verbindet sich daher auch der dringende Wunsch nach komparatistischer Spurensuche, deren Ertrag die Neubewertung eines unterschätzten Genres sein könnte.

Primärtexte Brett, Lily : Lola Bensky. Aus dem Englischen von Brigitte Heinrich. Berlin 2012. Zeng, Pu: Blumen im Meer der Sünde. Aus dem Chinesischen von Thomas Zimmer. München 2001.

Forschungsliteratur Becker, Bernhard von: Fiktion und Wirklichkeit im Roman. Der Schlüsselprozess um das Buch ,Esra‘. Würzburg 2006. Chen, Jue: Poetics of Historical Referentiality. Roman / Clef and Beyond. [Dissertation Dept. of Comparative Literature Princeton 1997]. University of Michigan Microfilm 1997. Gropp, Rose-Maria: ,Dicke Lola, armes Kind‘. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 28. 03. 2013. Kanzog, Klaus: Art. ,Schlüsselliteratur‘, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2003, S. 380–383. Latham, Sean: The Art of Scandal. Modernism, Libel Law and the Roman / Clef. Oxford/ New York 2009. Lu, Xun: Kurze Geschichte der chinesischen Romandichtung. Beijing 1981.

S. 60–61. Der Beitrag stützt sich auf die Aussagen von McAleavy, That Chinese Woman, der die Memoiren Sais und die anonyme Biographie vergleicht. 12 Kritisch revidiert diese Sicht Minden, Die merkwürdige Geschichte der Sai Jinhua; auf ihn stützt sich Zimmer (2002, Bd. 2, S. 779–785).

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Autorenverzeichnis

David Damrosch is Ernest Bernbaum Professor of Comparative Literature at Harvard University. A past president of the American Comparative Literature Association, he is the founder and director of Harvard’s Institute for World Literature. His books include What Is World Literature? (2003), The Buried Book: The Loss and Rediscovery of the Great Epic of Gilgamesh (2007), How to Read World Literature (expanded 2d. ed. 2017), and Comparing the Literatures: What Every Comparatist Needs to Know (forthcoming from Princeton). He is the general editor of the six-volume Longman anthologies of British Literature and of World Literature, editor of World Literature in Theory (2014), and co-editor of The Princeton Sourcebook in Comparative Literature, and of two collections in Chinese, Theories of World Literature (2013) and New Directions in Comparative Literature (2010). Dr. phil. habil. Horst-Jürgen Gerigk ist seit 1974 Professor für Russische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg. Die Schwerpunkte seiner Forschung sind die russische, amerikanische und deutsche Literatur sowie die Geschichte der Ästhetik von Kant bis Heidegger. Seit 2008: korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. 2017: Auszeichnung mit der Ehrenurkunde des Generalkonsulats der Russischen Föderation in Frankfurt am Main für seinen großen Beitrag zur Popularisierung der russischen Kultur in Deutschland. Wichtige Veröffentlichungen (Auswahl): Die Spur der Endlichkeit. Meine akademischen Lehrer. Vier Porträts. Dmitrij Tschizewskij, Hans-Georg Gadamer, Ren8 Wellek, Paul Fussell (2007); Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft (2016); Vom Igor-Lied bis Doktor Schiwago. Lesetipps zur russischen Literatur (2018). Dr. Achim Hermann Hölter, ist seit 2009 Univ.-Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Wien, war von 2005–2011 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissen-

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Autorenverzeichnis

schaft und organisierte 2016 den XXI. Weltkongress der International Comparative Literature Association in Wien The Many Languages of Comparative Literature. Publikationen u. a.: Ludwig Tieck: Literaturgeschichte als Poesie (1989); Die Invaliden. Die vergessene Geschichte der Kriegskrüppel in der europäischen Literatur bis zum 19. Jahrhundert (1995); Die Bücherschlacht. Ein satirisches Konzept in der europäischen Literatur (1995); (Hg.): Marcel Proust. Leseerfahrungen deutschsprachiger Schriftsteller von Theodor W. Adorno bis Stefan Zweig (1998); Comparative Arts. Universelle Ästhetik im Fokus der Vergleichenden Literaturwissenschaft (2011); (Hg. mit Rüdiger Zymner): Handbuch Komparatistik. Theorien, Arbeitsfelder, Wissenspraxis (2013); (Hg. mit Stefan Alker): Literaturwissenschaft und Bibliotheken; (Hg. mit Monika Schmitz-Emans): Literaturgeschichte und Bildmedien (2015). Forschungsschwerpunkte: Romantikforschung, Themen- und Diskursforschung, Kunst- und Literaturhistoriographie, Ritualisierungen der Literatur, Ästhetische Selbstreferenz, Comparative arts, Internationale Rezeptionsgeschichte, Kanonforschung, Bibliotheken und Literatur. Dr. Jürgen Joachimsthaler studierte Germanistik und Geschichte in Regensburg, dort 1990 bis 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter. Promotion 1994. Lehr-, Verlags- und Redaktionstätigkeiten in Deutschland und Polen. 1996–2001 DAADLektor in Opole (Polen), 2001–2006 an der TU Dresden, dort Mitarbeit an der Historisch-Kritischen Ausgabe der Briefwechsel Ludwig Tiecks. 1996–2006 Mitherausgeber und Redaktionsleiter des germanistischen DAAD-Jahrbuchs Convivium. 2002–2010 Geschäftsführer des Mitteleuropäischen Germanistenverbandes und 2016 Berufung in den Johann Gottfried Herder-Forschungsrat. Von 2006–2014 Ratsstelle an der Universität Heidelberg, 2010 Habilitation mit der umfangreichen Studie: Text-Ränder. Kulturelle Vielfalt als Darstellungsproblem deutscher Literatur (3 Bde., Heidelberg 2011). Ab 2014 Professur für Neuere und neueste deutsche Literatur an der Philipps-Universität Marburg. Verstorben 2018. Forschungsschwerpunkte: Literatur und literarisches Leben vom 18.–21. Jahrhundert (Romantik, klassische Moderne, Nachkriegsliteratur und aktuelle deutsche Literatur); Interkulturalität deutscher Literatur (insbesondere im Kontakt mit den Literaturen Ostmitteleuropas); Theorie und Praxis der Übersetzung; Kulturwissenschaft(en) als interdisziplinäres Projekt. Dr. Maria Moog-Grünewald hatte von 1992 bis 2014 den Lehrstuhl für Romanische Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen inne Ihre wichtigsten Arbeitsgebiete sind: Ästhetik und Poetik von der Antike bis zur Moderne; Text-Bild-Verhältnis; poietische Funktionen der Ekphrasis; Antike-Rezeption unter philosophisch-erkenntnistheoretischen und ästhetischen Gesichtspunkten; Mythenrezeption; Giordano Bruno; zudem Un-

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endlichkeit und Vollkommenheit. Sie war von 1999 bis 2016 Mitherausgeberin der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft und ist Mitherausgeberin mehrerer renommierter Buchreihen, darunter das Neue Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie war von 1993 bis 1999 Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Von 2010 bis 2011 war sie Fellow am Internationalen Kolleg Morphomata, von 2012 bis 2013 Senior Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Dr. Sandro M. Moraldo ist Professor für Deutsche Sprache, Kultur und Literatur an der Scuola di Lingue e letterature, traduzione e interpretazione der Alma Mater Studiorum Universität Bologna (Campus Forl'). Seit 2010/2011 vertritt er auch die Komparatistik-Professur an der Katholischen Universität in Mailand. Er ist seit 2016 stellvertretender Vorsitzender des italienischen Komparatistenverbandes Societ/ Italiana di Comparatistica Letteraria (SICL). Publikationen (in Auswahl): E.T.A. Hoffmann. Vita e opera. Vol. 1 + 2: Milano 2015 und 2017. Herausgeber folgender Sammelbände (in Auswahl): Leonardo Sciascia. Annäherungen an sein Werk. Heidelberg 2000. Das Land der Sehnsucht. E.T.A. Hoffmann und Italien. Heidelberg 2002; Mord als kreativer Prozess. Zum Kriminalroman der Gegenwart in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Heidelberg 2005; (zusammen mit Michael Haase und Gertrud Maria Rösch): Die Elixiere der Literatur, München 2016; Die deutsche Sprache in Italien – Zwischen Europäisierung und Globalisierung. Frankfurt am Main et al. 2017; Sprachwandel. Perspektiven für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Heidelberg 2018; Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Fremdsprachenpolitik, Kontakt- und Medienlinguistik, Themen-und motivgeschichtliche Untersuchungen, Literaturtheorie, die Poetik des Kriminalromans, E.T.A. Hoffmann und Leonardo Sciascia. Christian Moser ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bonn und Leiter der dortigen Abteilung für Komparatistik. Von 2011 bis 2017 war er 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mediengeschichte der Subjektivität; Literatur und Globalisierungsprozesse; Komparatistik literarischer Gegenwartsbezüge; Literatur und Ethnographie; Begriffsgeschichte des Barbarischen; Poetik des Anekdotischen. Neuere Publikationen (in Auswahl): Kannibalische Katharsis. Literarische und filmische Inszenierungen der Anthropophagie von James Cook bis Bret Easton Ellis, Bielefeld 2005; Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, Tübingen 2006; Kopflandschaften. Landschaftsgänge. Zur Kulturgeschichte und Poetik des

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Spaziergangs, hg. v. Axel Gellhaus, Helmut J. Schneider u. Christian Moser, Köln u. Weimar 2007; Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien, hg. v. Jörg Dünne u. Christian Moser, München 2008; Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, hg. von Christian Moser u. Linda Simonis, Göttingen 2014; Barbarism Revisited. New Perspectives on an Old Concept, hg. von Maria Boletsi u. Christian Moser, Leiden 2015; Sich selbst aufs Spiel setzen. Spiel als Technik und Medium der Subjektivierung, hg. v. Christian Moser u. Regine Strätling, Paderborn 2016; The Intellectual Landscape in the Works of J. M. Coetzee, hg. v. Tim Mehigan u. Christian Moser, Rochester/NY 2018; (mit Markus Winkler u. a.:) Barbarian. Explorations of a Western Concept in Theory, Literature, and the Arts. Vol. 1: From the Enlightenment to the Turn of the Twentieth Century, Stuttgart 2018. Prof. Dr. Gertrud Maria Rösch studierte Germanistik, Geschichte und Anglistik in Regensburg, 1989 Promotion bei Bernhard Gajek an der Universität Regensburg mit der Studie: Ludwig Thoma als Journalist. Ein Beitrag zur Publizistik des Kaiserreichs und der frühen Weimarer Republik. In Deutschland wie im Ausland in der Lehre und Forschung tätig: 1989–1991 als Lecturer in Neuseeland; Habilitation bei Georg Braungart 1999 mit der Monographie Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. 1999 und 2002 als DAAD-Gastdozentin in Brünn/Tschechien. Von 1999 bis 2002 tätig am Herder-Institut der Universität Leipzig im Bereich Deutsch als Fremdsprache, seit 2006 Professorin für Literaturwissenschaft am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Verantwortlich für Partnerschaften mit Universitäten in Rumänien, Litauen und China (Shanghai International Studies University). Max Kade Visiting Professor an der University of Illinois at Urbana-Champaign (2009) und an der University of Washington in Seattle (2013). Zahlreiche Publikationen zu Drama und Roman im 19. und 20. Jh., zu Gender Studien und Literaturtheorie zu Satire bzw. Karikatur sowie zur Schlüsselliteratur und dem Zusammenhang von Faktualität und Fiktionalität. Herausgabe folgender Sammelbände: Fakten und Fiktionen. Werklexikon der deutschsprachigen Schlüsselliteratur 1900–2010. Erster Halbband: Andres bis Loest. Zweiter Halbband: Heinrich Mann bis Zwerenz. Stuttgart 2011 und 2013; Women Against Napoleon. Historical and Fictional Responses to his Rise and Legacy, (hg. zusammen mit Waltraud Maierhofer und Caroline Bland), Frankfurt 2007; Codes, Geheimtext und Verschlüsselung. Geschichte und Gegenwart einer Kulturpraxis. Tübingen 2004. Manfred Schmeling ist emeritierter Professor im Fach Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität des Saarlandes (em. seit 2009).

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Er war Mitglied des GK „Interkulturelle Kommunikation“ (1996–2003), Leiter des Frankreichzentrums der UdS (bis 2009) sowie Präsident der International Comparative Literature Association (2007–2010). Er ist Träger des Ordre National du M8rite Frankreichs (2004). Arbeitsschwerpunkte: Komparatistische Literaturtheorie, Erzählforschung und Poetik, Deutsch-französische Kulturbeziehungen, Fremdhermeneutik, Literarische Übersetzung. Ausgewählte Publikationen: Der labyrinthische Diskurs (Habil.-Schrift, Frankfurt/M. 1987), Metath8.tre et intertexte (Paris 1982). Co-Autor : Dialogische Beziehungen und Kulturen des Dialogs (Innsbruck 2011). Mhg.: Kultur übersetzen (Stuttgart 2009), Lexikon der Poetiken (Berlin 2009), Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen in deutsch-französischer Perspektive (Stuttgart.2013), Theorie erzählen. Fiktionalisierte Literaturtheorie im Roman (Würzburg 2016), Romain Rolland – Ein transkultureller Denker (Stuttgart 2016). Wiss. Reihen: Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft (Königshausen & Neumann) sowie VICE VERSA – Deutsch-französische Kulturstudien. Dr. Monika Schmitz-Emans ist Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Arbeitsgebieten gehören Text-Bild-Beziehungen, Themen der modernen Poetik, insbesondere der Autorenpoetik, Comics, Spielformen literarischer Buchgestaltung sowie Jean Paul. Peter V. Zima war bis 2012 ordentlicher Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er wurde 1998 als korr. Mitglied in die Österreichische Akademie der Wissenschaften (Wien) und 2010 in die Academia Europaea (London) gewählt. Seit 2014 ist er Honorarprofessor an der East China Normal University in Schanghai. Neueste Publikationen: Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft (Tübingen/Basel 22011), Entfremdung. Pathologien der postmodernen Gesellschaft (Tübingen/Basel 2014), Dekonstruktion. Einführung und Kritik (Tübingen/Basel 22016), Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur (Tübingen/Basel 42016); Was ist Theorie? Theoriebegriff und Dialogische Theorie in den Kultur- und Sozialwissenschaften (Tübingen/Basel 22017), Theorie des Subjekts. Zwischen Moderne und Postmoderne (Tübingen/Basel 4 2017), Essai et Essayisme. Le potentiel th8orique de l’essai: de Montaigne jusqu’/ la postmodernit8 (Paris 2018). Prof. Dr. Rüdiger Zymner, Studium in Göttingen, Promotion und Habilitation (venia legendi für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Deutsche Literatur) in Fribourg (Schweiz). Seit 1997 Professor für Allgemeine

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und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Publikationen zu Literaturtheorie und Literaturgeschichte (u. a.: Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn 2009; Funktionen der Lyrik, Münster 2013; Handbuch Komparatistik, Stuttgart u. Weimar 2013 [Hg., zusammen mit Achim Hölter]; Handbuch Literarische Rhetorik, Berlin, Boston 2015 [Hg.]; Gedichte von Peter Rühmkorf. Interpretationen, Münster 2015 [Hg., gem. mit Hans-Edwin Friedrich]).