Wo liegt die Bundesrepublik?: Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte [1 ed.] 9783666300585, 9783647300580, 9783525300589

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Wo liegt die Bundesrepublik?: Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte [1 ed.]
 9783666300585, 9783647300580, 9783525300589

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Wo liegt die Bundesrepublik? Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte

Herausgegeben von Sonja Levsen und Cornelius Torp

Vandenhoeck & Ruprecht

Gefördert von der

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30058-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de. Umschlagabbildung: Marshall Plan, Poster von 1950 (Ausschnitt). Bild: E. Spreckmeester im Auftrag der Economic Cooperation Administration (CC Public Domain Mark) © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Sonja Levsen und Cornelius Torp Die Bundesrepublik und der Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Kultureller Wandel ohne Grenzen? Christina von Hodenberg Wie westlich war das bundesdeutsche Fernsehen? Die Produktion und Rezeption von Unterhaltungsserien im Dreiländervergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Martin Kohlrausch Aufbruch und Ernüchterung. Architekten in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen . . . . . . 48 Silja Behre Wo liegt »1968«? Die historische Einordnung der 68er Bewegung in Deutschland und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Verflechtungsprozesse und ihre ambivalenten Folgen Petra Terhoeven Politische Gewalt und transnationale Kommunikation. Der Linksterrorismus der 1970er Jahre auf europäischer Bühne . . . . . . 89 Rüdiger Graf Die Bundesrepublik in der Welt des Öls. Internationale Zusammenhänge der Energie- und Souveränitätspolitik in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Malte Thießen Vergleichende, verfeindete und verflochtene Gesellschaften. Transnationale Zusammenhänge einer bundesdeutschen Geschichte der Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

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Inhalt

Westlich? Demokratisierung, Partizipation und Menschenrechtspolitik Claudia Christiane Gatzka »Demokratisierung« in Italien und der Bundesrepublik. Historiographische Narrative und lokale Erkundungen . . . . . . . . . . . 145 Christine G. Krüger Weibliche Dienstbarkeit und (post-)koloniale Abenteuerlust. Ein deutscher und ein britischer Weg zum Ideal der »aktiven Bürgergesellschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Jan Eckel Menschenrechte und der Wandel der Außenpolitik in den 1970er Jahren. Die Bundesrepublik im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . 185 Arbeit und sozialer Wandel: Transnationale Prozesse, nationale Spezifika und die Rolle der Akteure Lutz Raphael Industriearbeit(er) nach dem Boom. Bundesrepublikanische Entwicklungen im westeuropäischen Vergleich . . 207 Christiane Reinecke Wohlstand verpflichtet oder die Internationale der Moralisten. Urbane Armut und translokaler Aktivismus in den 1960er Jahren . . . . 232 Jenny Pleinen Ein Europa von Sonderfällen? Überlegungen zu einer Migrationsgeschichte der Bundesrepublik in europäischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Nicole Kramer Verrechtlichung im Wohlfahrtsstaat. Heimkritik und Altenrechte im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . 274 Kiran Klaus Patel Ex comparatione lux: Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Vorwort Am Anfang dieses Buches standen das gemeinsame Forschungsinteresse beider Herausgeber an vergleichenden Ansätzen in der Zeitgeschichte und die Frage nach ihren Konsequenzen für etablierte Narrative in der Geschichte der Bundesrepublik. Dass daraus eine Konferenz wurde, die im Februar 2014 an der Universität Freiburg stattfand, ist insbesondere der großzügigen Förderung durch die Volkswagenstiftung zu verdanken. An den Reaktionen der angefragten ReferentInnen merkten wir schnell, dass wir mit unserem Interesse nicht allein waren. Wir danken allen KommentatorInnen, ReferentInnen und Gästen für so offen, fair und entspannt geführte Diskussionen, dass sich mancher Teilnehmer fragte, ob die Zeitgeschichte keine »Streitgeschichte« mehr sei. Dass dies nicht der Fall ist, zeigten dann doch kontroverse Debatten über das Erkenntnisinteresse, über nationale, regionale und lokale Vergleichsanordnungen, über Generalisierungen, Repräsentativität, Vergleichsfälle und über die Geschichte der Bundes­republik. Die Konferenz war von Beginn an darauf ausgerichtet, in den vorliegenden Band zu münden. Wir möchten allen AutorInnen – besonders auch denen, die später noch hinzugestoßen sind – für ihre Beiträge und dafür danken, dass sie in hohem Maße bereit waren, unseren Überarbeitungsvorschlägen Rechnung zu tragen und sich einer strengen Zeitdisziplin zu unterwerfen. Die Drucklegung machten die Volkswagenstiftung sowie die Wissenschaftliche Gesellschaft der Universität Freiburg möglich; das Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg beteiligte sich mit einem ergänzenden Finanzierungszuschuss zur Tagung. Bei Vandenhoeck und Ruprecht danken wir besonders Martina Kayser und Daniel Sander für ihr anhaltendes Interesse und die ebenso kompetente wie flexible Betreuung. Ein großer Dank für die sorgfältige Vereinheitlichung und Korrektur des Manuskriptes geht an Marcus Gaidetzka, Michaela Wolf und nicht zuletzt Nicole Packhaueser, die auch wesentlichen Anteil an der organisatorischen Vorbereitung der Tagung hatte; last but not least hat uns das Team des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas am Historischen Seminar der Universität Freiburg in vielfältiger Weise unterstützt. Freiburg und Toronto, im November 2015

Sonja Levsen und Cornelius Torp

Die Bundesrepublik und der Vergleich Der Vergleich ist in jede Form der Selbstbeschreibung unhintergehbar eingelassen – das gilt für Individuen ebenso wie für Staaten oder Nationen, es gilt für die Zeitgenossen genauso wie in der historischen Rückschau. Wer oder was man ist oder sein will, wie man das Eigene entwirft – das lässt sich nur im Vergleich mit dem und in der Unterscheidung vom Anderen bestimmen. Ohne den Vergleich mit früheren Zeiten kann man sich weder der Identität mit sich selbst versichern, noch lässt sich ohne ihn eine historische Entwicklung konstatieren. Ebenso wie sich der einzelne immer in Relation zu seiner Umwelt definiert, ist der vergleichende Blick jeder historischen Darstellung und zumal jeder Nationalgeschichte stets eingeschrieben – in das Narrativ des British decline ebenso wie in die verschiedenen Varianten der Vorstellung eines American exceptionalism und einer exception française. Mehr noch, als das allgemein der Fall ist, trifft diese Beobachtung für die neuere und neueste deutsche Geschichte zu. Ob es sich um die »verspätete Nation« handelte, die am Ende des 19.  Jahrhunderts auf der Jagd nach dem ihr vorenthaltenen »Platz an der Sonne« war, ob die Vorteile der relativen ökonomischen »Rückständigkeit« der dann um so schneller zur Industriemacht aufsteigenden deutschen Wirtschaft beschrieben wurden oder ob es um den singulären Absturz einer Kulturnation in die braune Barbarei und die Einzigartigkeit des Holocaust ging – stets war die deutsche Geschichte eine historia comparans, spielte der Vergleich mit anderen Ländern eine zentrale Rolle, wenn es um das historische Urteil und die Suche nach Erklärungen ging.

I.

Bezugspunkte der bundesrepublikanischen Geschichte

Auch in der Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik Deutschland nimmt die vergleichende Perspektive eine schlechthin entscheidende Stellung ein. Das zeigt bereits ein Blick in die inzwischen in reicher Zahl vorliegenden Synthesen zur bundesdeutschen Geschichte, deren gehäuftes Erscheinen in den letzten Jahren zugleich verrät, dass man in ihr – jedenfalls gilt das für die Phase bis zur deutschen Einheit – einen hinreichend erforschten Zeitabschnitt vor sich zu haben glaubt, bei dem man sich in der historischen Darstellung auf einem vermeintlich festen Boden bewegt.1 Zwar handelt es sich bei ihnen insofern um 1 Vgl. etwa Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2; Jarausch, Die Umkehr; Conze, Suche nach Sicherheit; Kielmansegg, Das geteilte Land; Wolfrum, Die geglückte Demokra-

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»klassische« Nationalstaatsgeschichten, als sie ganz überwiegend die Bundes­ republik mit ihren territorialen Grenzen als selbstverständliche Untersuchungseinheit zugrunde legen. Doch gewinnt die Bundesrepublik-Historiographie ihre Kategorien und Erklärungsmuster gleichzeitig ganz wesentlich – und das unterscheidet sie von etwa der britischen oder der französischen Zeitgeschichtsschreibung – aus dem Bezug auf Punkte, die außerhalb des westdeutschen Staates liegen. Dabei ist interessanterweise weniger an die DDR zu denken, die als zweiter, in direkter Konkurrenz zur Bundesrepublik gegründeter deutscher Teilstaat für die Zeitgenossen gerade in den ersten Jahrzehnten des Kalten Krieges eine entscheidende Referenzgröße darstellte. Zu schnell scheint sich die Bundesrepublik im Systemwettbewerb als überlegen gezeigt zu haben, zu vollständig ihr mit der Einigung von 1989/90 besiegelter Sieg gewesen zu sein, als dass die DDR als ernstzunehmende Vergleichsfolie für die bundesdeutsche Geschichte in Betracht kam.2 Die beiden zentralen Bezugspunkte der Geschichtsschreibung zur Bundes­ republik liegen anderswo. Der erste ist zeitlicher Natur und wird durch den Nationalsozialismus verkörpert. Das wichtigste Kriterium zur Beurteilung eines großen Teils der bundesrepublikanischen Geschichte besteht auch heute noch in der Frage, ob und inwieweit sie sich wann von ihren braunen Wurzeln entfernt hat. Die vorherrschende Erzählung ist die von einer teils mühsamen und zunächst unvollständigen, insgesamt jedoch voranschreitenden und erfolgreichen Entwicklung weg vom »Dritten Reich«. Angesichts der tiefgreifenden Prägung der deutschen Gesellschaft durch den Nationalsozialismus ist es nicht erstaunlich, dass dieses Narrativ den Deutschen, aber auch den Zeithistorikern so »tief in den Knochen steckt«.3 Die wichtige Frage nach dem Ausmaß nationalsozialistischer Kontinuitäten personeller oder struktureller Art, nach NS -Traditionen in den Mentalitäten und Denkweisen und schließlich nach den Mechanismen ihrer Ablösung hat zumindest eine Generation deutscher Historiker geprägt und grundlegende Erkenntnisse über die westdeutsche Gesellschaft und ihre Wandlungsprozesse hervorbracht. Gleichzeitig allerdings hat die so unverkennbar große Bedeutung des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts – und häufig auch die verführerische Logik des zeitlichen Nacheinander – dazu geführt, dass dem Verweis auf den Nationalsozialismus manchmal implizit, manchmal explizit eine Art Allerklärungsanspruch zukam. Ganz unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungen in der Bundesrepublik vor allem der 1950er und 1960er Jahre – von den Geschlechterrollen bis hin zu Erziehungsfragen – werden üblicherweise in einen direkten oder indirekten Kausalzusammenhang mit dem »Dritten Reich« gestellt, entweder im Sinne eines Fortbestehens oder aber der tie; Görte­maker, Geschichte; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5; Herbert, Geschichte Deutschlands; Echternkamp, Bundesrepublik. 2 Vgl. aber Schildt u. a., Dynamische Zeiten; Wengst/Wentker, Das doppelte Deutschland. 3 Nolte, Jenseits des Westens, S. 277.

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Ablösung von Dispositionen und Handlungsmustern aus der NS -Zeit. Ein Beispiel für diese Tendenz ist die Debatte um die Deutung der westdeutschen Sexualität in den 1950er Jahren.4 Spätestens seit Mitte der 1960er Jahre setzte sich in Westdeutschland eine Vorstellung durch, der zufolge der Sexualkonservatismus der frühen Nachkriegszeit ein Produkt des Faschismus war. 2005 analysierte und dekonstruierte Dagmar Herzog den Aufstieg dieses Narrativs auf überzeugende Weise, setzte ihm allerdings eine Interpretation entgegen, die dem Nationalsozialismus – wie schon der Titel »Sex after Fascism« deutlich macht – nicht weniger Prägekraft zumaß: Die Sexualität der 1950er Jahre galt ihr nun als Abgrenzung zu libertären Tendenzen der nationalsozialistischen Moral. Sybille Steinbacher schließlich zeichnete 2011 ein ganz anderes, vielfältigeres Bild der 1950er Jahre und ihrer sexualpolitischen Diskussionsfronten.5 Auch ihre Kernthesen aber befassten sich mit dem Verhältnis von Nachkriegssexualität und Nationalsozialismus; der Kampf um »Sittlichkeit« galt ihr als Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Trotz des unverkennbar großen Ertrags dieser Studien wird die von den 1960er Jahren bis heute andauernde Zentralstellung des Nationalsozialismus als Bezugspunkt und Erklärungsfolie westdeutscher Sexualität bisher kaum hinterfragt. Alternative Kausalketten oder Erklärungen, die nicht zuletzt der transnationale Charakter des Sexualkonservatismus der 1950er Jahre nahelegt, bleiben damit unterbelichtet. Den zweiten Vergleichsmaßstab, auf den alle gängigen Darstellungen der bundesrepublikanischen Geschichte ausgerichtet sind, bilden die demokratisch verfassten Staaten Westeuropas, aber auch die USA . Das dominante Narrativ ist hier jenes von der »Ankunft im Westen«:6 In dem Maße, in dem die Bundesrepublik Distanz zwischen sich und den Nationalsozialismus brachte, habe sie einen Prozess der Verwestlichung durchgemacht. Innerhalb dieses Narrativs gibt es eine Bandbreite von Auslegungen und Schwerpunktsetzungen, die in sehr unterschiedlichem Ausmaß den Konstruktcharakter des »Westens« reflektieren. Sieht man in manchen Darstellungen die Bundesrepublik fast bildlich auf dem Weg nach Westen marschieren, gilt das etwas weniger für Deutungsmuster wie das der »Westernisierung«, das in einer Art von Transfer- und Verflechtungsgeschichte von der Herausbildung eines gemeinsamen westlichen Wertekanons ausgeht.7 Gleichzeitig aber rückt auch in dieser Konvergenzerzählung die Bundesrepublik im Verlauf ihrer Geschichte schrittweise an den Westen heran, wandte sie sich bewusst »anglo-atlantische[n] Muster[n] soziopolitischer und sozialökonomischer Ordnungsvorstellungen« zu; in dem Maße, in dem dies auch andere europäische Länder taten, wurden sie sich ähnlicher.8 Wiewohl der 4 Herzog, Sex after Fascism; vgl. dazu die interessanten Bemerkungen von Heineman,­ Sexuality. 5 Steinbacher, Wie der Sex. 6 Schildt, Ankunft. 7 Doering-Manteuffel, Wie westlich. 8 Doering-Manteuffel, Amerikanisierung und Westernisierung.

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Ansatz der »Westernisierung« mit dem Anspruch einher ging, nicht nur deutsche, sondern auch westeuropäische Transformationsprozesse zu beschreiben, blieb er letztlich ein Begriff zur Interpretation der Bundesrepublik.9 Das Verhältnis nicht nur des Westernisierungsparadigmas, sondern auch darüber hinaus vieler zeithistorischer Werke zum »Westen« als Bezugspunkt und Urteilsmaßstab ist ambivalent: Einerseits ist inzwischen der Konstruktcharakter des »Westens« von verschiedenen Seiten betont worden, andererseits übt die Erzählung einer Annäherung an ihn weiterhin große Anziehungskraft aus.10 Nicht selten finden sich partielle Distanzierungen: »Westlich« und der »Westen« erscheinen gelegentlich in Anführungszeichen; die Existenz von »Standards normativer Westlichkeit« wird zwar angenommen, gleichzeitig aber hinterfragt, ob westeuropäische Länder diesen tatsächlich »so viel näher« waren als die Bundesrepublik.11 Von einigen Autoren wird zumindest für die Phase nach 1970 die Erzählung einer Verwestlichung in Frage gestellt. Letztlich jedoch grundiert das Narrativ einer langsamen Überwindung alter Defizite zugunsten einer westlich-europäischen Konvergenz weiterhin große Teile der Historiographie zur Bundesrepublik. Sowohl vor der diachronen Kontrastfolie der nationalsozialistischen Schreckenszeit als auch synchron im Vergleich zu anderen, häufig wirtschaftlich weniger prosperierenden und von stärkeren gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen gekennzeichneten westlichen Demokratien ließ sich die Geschichte der »alten Bundesrepublik« fast nur als Erfolgsgeschichte schreiben, die durch die Ereignisse von 1989/1990 noch einmal eine glänzende Bestätigung erfuhr. Als Erfolgsgeschichte erschien die bundesdeutsche Entwicklung gleich in mehreren Dimensionen:12 Auf der sozio-ökonomischen Ebene handelte sie, erstens, von einem beispiellosen wirtschaftlichen Wachstum, das breiten Schichten der Bevölkerung einen ungekannten Wohlstand brachte und ungeahnte Konsummöglichkeiten eröffnete. Nicht weniger eindrucksvoll war, zweitens, die politische Bilanz: die Stabilität und Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen, der dauerhafte Friede und die außenpolitische Verlässlichkeit durch die feste Einbindung in die Europäische Union und das transatlantische Verteidigungsbündnis, aber auch der Ausbau des Sozialstaats mit seiner gesellschaftlich pazifizierenden Wirkung. Drittens schließlich ist von der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung ein Ende der 1950er Jahre einsetzender und bis in die frühen 1970er andauernder Umwälzungsprozess herausgearbeitet worden, 9 Weder die britische noch die italienische oder die französische Historiographie griffen den Begriff auf oder operierten mit parallelen Konzepten. Vgl. u. a. Conze, Wege. 10 Zum Konstruktcharakter des »Westens« Hochgeschwender, Westen; Gassert, Bundes­ republik; Conze, Wege; sowie jüngst Bavaj/Steeber, Germany. 11 Vgl. etwa Wolfrum, Demokratie, S. 183, 324; Herbert, Liberalisierung, S. 11, Nolte, Jenseits des Westens, S. 277; Conze, Wege, S. 75 f.; vgl. auch Kießling, Die undeutschen Deutschen, S. 409 ff. 12 Hierauf weist auch Andreas Rödder hin, der zwei Varianten der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte unterscheidet: Rödder, »Modell Deutschland«, S. 346.

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in dessen Verlauf demokratische, individualistische und pluralistische Werte und Einstellungen zunehmend an die Stelle obrigkeitsstaatlicher und autoritärer Denkmuster getreten seien. Stichworte wie »Liberalisierung«, »Westernisierung« und »Wertewandel« umreißen verschiedene Facetten dieser die »langen 1960er Jahre« prägenden Entwicklung.13 Das sich spätestens seit den 1980er Jahren herausbildende Erfolgsnarrativ, das durch die eigene Erfahrung der zu dieser Zeit in Amt und Würden einrückenden Generation von Zeithistorikern gestützt wurde, konnte seine dominante Position auch dann noch verteidigen, als sich der Erwartungshorizont der Bundesrepublik im Laufe der 1990er Jahre zusehends verfinsterte. Zur vorherrschenden Erzählfigur wurde nun die der »Bürde des Erfolges«. Der kometenhafte Wiederaufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Gewöhnung an abenteuerlich hohe Wachstumsraten und an den mit ihnen verbundenen stetigen Anstieg des Verteilungsspielraums hätten, so eine verbreitete Argumentation, zu Selbstzufriedenheit und Reformunfähigkeit geführt.14 An der Schnittstelle von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft gelegen, rückte dabei vor allem der Sozialstaat ins Zentrum der Kritik. Zuvor als Garant von sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit gefeiert, galt er vielen nun als Hauptverursacher von Anspruchsdenken, von mangelnder Flexibilität am Arbeitsmarkt und von hohen Lohnzusatzkosten, die die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt nachhaltig unterminierten. Seit etwa einem Jahrzehnt jedoch hat auch diese eher kritische Variante des Erfolgsnarrativs als überholt zu gelten. Nach den unter dem Rubrum »Agenda 2010« stehenden Sozial- und Arbeitsmarktreformen der rotgrünen Regierung, der zeitweiligen Rückkehr höherer Wachstumsraten im Jahre 2006, vor allem aber seit der jüngsten Weltwirtschaftskrise, die Deutschland vergleichsweise unbeschadet überstanden hat, strahlen das »Modell Deutschland« und mit ihm die bundesrepublikanische Geschichte wieder in altem Glanz.15 »Wie Phönix aus der Asche« ist die Erzählstruktur, die den derzeitigen Blick auf die Bundesrepublik ganz überwiegend prägt  – wobei umstandslos vom Nacheinander der rot-grünen Reformen und der positiven ökonomischen Entwicklung auf ihren kausalen Zusammenhang geschlossen und damit einer zwar verführerischen, aber naiven Logik auf den Leim gegangen wird, nämlich: post hoc ergo propter quod.16 Die bundesdeutsche Erfolgsgeschichte jedenfalls scheint auf diese Weise wieder zu sich selbst gekommen zu sein.

13 Vgl. nur Herbert, Liberalisierung; von Hodenberg, Konsens; Doering-Manteuffel, Wie westlich?; Rödder, Wertewandel; Nolte, Jenseits des Westens. 14 Vgl. etwa Wehler, Notizen, S. 138 f.; Ders., Land, S. 206–227; Rödder, »Modell Deutschland«, S. 359–363; Steingart, Abstieg. 15 Zu diesem, ursprünglich auf einen SPD -Wahlslogan von 1976 zurückgehenden Begriff vgl. Hertfelder/Rödder, Modell Deutschland. 16 Vgl. hierzu Koselleck, Vom Sinn, S. 18 f.

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II. »Ankunft im Westen« und Sonderwegsdebatte Was seine wesentlichen Bezugspunkte anbelangt, bildet das bundesrepublikanische Erfolgsnarrativ eine Komplementärerzählung mit happy end zur These vom deutschen »Sonderweg«, die in der deutschen Geschichtswissenschaft besonders in den 1970er und 1980er Jahren einflussreich war.17 In beiden Fällen fungiert der Nationalsozialismus als Fluchtpunkt der historischen Betrachtung. Während es der »Sonderwegsdeutung« darum ging, den Absturz in den braunen Abgrund durch bereits tief im 19. Jahrhundert angelegte gesellschaftliche und politische Modernisierungsdefizite zu erklären, bildet der Nationalsozialismus im anderen Fall die Kontrastfolie, vor der sich die bundesdeutsche Geschichte nun mit zunehmender Dauer immer heller abhob. Gemeinsam sind der »Sonderwegsthese« und der bundesrepublikanischen Erfolgsgeschichte aber nicht nur ihre zeitliche, sondern auch ihre räumliche Bezugsgröße: In beiden Fällen ist es »der Westen« in Gestalt der westeuropäischen Nachbarländer und der Vereinigten Staaten, an dem die deutsche Entwicklung gemessen wird  – mit einer inzwischen zwar gewachsenen Skepsis gegenüber dem »Westen« als Norm, seiner letztlich aber fortbestehenden Prägekraft. Gleichzeitig zeichnen sich die beiden »Meistererzählungen« durch Parallelen im Umgang mit dem in sie eingelassenen internationalen Vergleich aus: Der negativ akzentuierte »Sonderweg« in die Moderne setzte stets die Existenz einer westlichen »Normalentwicklung« voraus, die ihrerseits jedoch nicht das Ergebnis empirisch gesättigter historischer Vergleiche war, sondern das idealisierte Konstrukt der amerikanischen Modernisierungstheorie. Ebenso unterstellte auch die Geschichtsschreibung, die vom Weg Deutschlands in den Westen berichtete, die Einheit einer allgemein westlichen Entwicklung mehr, als dass sie diese hätte belegen können. So deutlich diese Parallelen sind, so interessant sind auch die Unterschiede. Erstens war die Forschungslandschaft der 1990er und 2000er Jahre durch eine im Vergleich zu den 1970er Jahren größere Pluralität und damit auch Binnendifferenzierung der Deutungsmuster geprägt. Die Fronten der Debatte über die deutsche Zeitgeschichte nach 1945 sind daher komplexer, weniger scharf – und damit auch die meist eher impliziten als expliziten Positionierungen zum Konstrukt des westlichen Normalfalls vielfältiger. Zweitens steht das Narrativ der bundesrepublikanischen Verwestlichung in einem anderen Verhältnis zu den Deutungen der Zeitgenossen als jenes der klassischen Sonderwegsthese. Stand die Sonderwegsdeutung der 1970er Jahre im scharfen Kontrast zu den wilhelminischen Selbstbildern, knüpften der »Lange Weg nach Westen« (Heinrich August Winkler) und die »Westernisierung« an die Selbstbilder bundesrepublikanischer Eliten an: »Westernisierung« ist zwar kein Quellenbegriff, greift inhaltlich aber Zielsetzungen westdeutscher Nachkriegs17 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Torp/Müller, Bild; Langewiesche, Der »deutsche Sonderweg«; Welskopp, Identität; Gassert, Bundesrepublik.

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eliten auf: Defizite bundesrepublikanischer politischer Kultur erschienen ihnen als Mangel an Westlichkeit, den es zu überwinden galt. Das Narrativ einer »Ankunft im Westen« beschreibt demnach als realen Prozess, was die Zeitgenossen als Projekt formulierten. Drittens und damit eng verbunden stützt sich die Historiographie zur Bun­ desrepublik bisher zwar nicht auf komparative historische Untersuchungen, anders als der Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert stehen ihr jedoch in zahlreichen Aspekten zeitgenössische Vergleiche aus den Sozialwissenschaften zur Verfügung. Diese scheinen durchaus eine präzise Einordnung der westdeutschen Gesellschaft im europäischen Feld zu ermöglichen. So gibt es zwar keine historischen Arbeiten, die auf einen Vergleich der politischen Kultur westeuropäischer Länder in den 1950er Jahren zielen, dennoch gilt die politische Kultur der frühen Bundesrepublik als »sehr gut erforscht«. Das bezieht sich auf die Studien der Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba vom Beginn der 1960er Jahre, die behaupteten, dass sich die westdeutsche Gesellschaft durch eine »subject culture«, die USA und Großbritannien hingegen durch eine »civic culture« auszeichne.18 Ihre Arbeit »Civic Culture revisited« konstatierte dann 1980 eine Annäherung der deutschen politischen Kultur an jene des »Westens«.19 Weniger prominent, aber ebenfalls einflussreich waren sozialwissenschaftliche Studien auf anderen Feldern: Die Vorstellung etwa, deutsche Schulerziehung sei bis weit in die 1960er Jahre »autoritärer« gewesen als etwa die amerikanische, stützt sich auf amerikanische Vergleichsstudien aus der frühen Nachkriegszeit und Arbeiten des deutschen Psychologenehepaares Reinhard und Annemarie Tausch aus den 1960er Jahren, die Interaktionsformen deutscher und amerikanischer Lehrer verglichen.20 Auch die zeitgenössische Wertewandelsforschung gehört zu den Grundlagen, auf denen die historische Verortung der Bundesrepublik im internationalen Vergleich beruht; hier weniger in Form einer Abgrenzung nationaler Spezifika als vielmehr in Form eines Einschreibens in einen transnationalen Trend. Während demnach die alte Sonderwegsthese ein theoriegeleitetes Urteil fällte, das den dominierenden Selbstbildern der Zeitgenossen zuwiderlief, beruht die historische Verortung der Bundesrepublik zum Gutteil auf Analysen, die von den Zeitgenossen selbst unternommen wurden. Auf die Problematik der Übernahme sozialwissenschaftlicher Deutungsmuster in der Historiographie ist jüngst aufmerksam gemacht worden.21 Mit Blick auf die Verortung der Bundesrepublik im Vergleich zu ausgewählten Nachbarländern zeigt sich ein spezifischer Aspekt dieses Problems in zugespitzer Form: So reflektieren Historiker die zitierten Analysen zwar häufig mit quellenkritischer Distanz – da sie jedoch 18 Almond/Verba, Civic Culture; für das Urteil, die politische Kultur der Bundesrepublik sei sehr gut erforscht, vgl. Greiffenhagen/Greiffenhagen, Art. Politische Kultur, S. 393. Für Bezüge auf Almond/Verba in der Historiographie vgl. etwa Scheibe, Suche, S. 246. 19 Almond/Verba, Civic Culture Revisited. 20 U. a. Tausch, Merkmale; Tausch/Tausch, Sozialklima. 21 Graf/Priemel, Zeitgeschichte; Pleinen/Raphael, Zeithistoriker.

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bisher nicht auf genuin historische Vergleiche zurückgreifen können, können sie den ihnen zugrundeliegenden Vergleichslogiken und komparativen Urteilen wenig mehr entgegensetzen als die Vermutung, dass es »nicht ganz so« war. Dem Anspruch nach ist dieses komparatistische Defizit der Zeitgeschichte inzwischen weithin anerkannt. Viele der grundlegenden Forschungsprojekte, aber auch der Synthesen zur Geschichte der Bundesrepublik entstanden in genau jenem Zeitraum, der einen Publikationsboom komparativer Forschungen zum 19.  und frühen 20.  Jahrhundert sah. Die »Sonderwegsdeutung«, das war inzwischen klar geworden, hielt der methodischen Kritik und der empirischen Überprüfung durch die Komparatistik nicht stand. Zentrale Versatzstücke  – wie etwa die Behauptung eines »Defizits an Bürgerlichkeit« im Deutschland des 19. und 20. Jahrhundert – mussten revidiert werden; ebenso erwies sich die Vorstellung eines westlichen »Normalweges« als unhaltbar. Auch die transnationale und globalgeschichtliche Neuorientierung der Geschichtswissenschaft hinterließ deutliche Spuren. Insgesamt ist das Bild früherer Epochen der deutschen Geschichte  – das gilt insbesondere für das Kaiserreich  – heute weit nuancen­ reicher; sie präsentieren sich weltoffener und weniger von verhängnisvollen, spezifisch deutschen Traditionen geprägt, als das noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Angesichts dieser Neuformierung des historischen Bildes des Kaiserreichs bekannten sich viele Zeithistoriker, die in den 1990er und 2000er Jahren ihre eigenen Studien zur Bundesrepublik nationalgeschichtlich konzipierten, von Beginn an mit bemerkenswerter Offenheit dazu, dass auch die Frage nach den Spezifika der westdeutschen Wandlungsprozesse nach 1945 letztlich nur im Vergleich geklärt werden könne.22 So befindet sich die westdeutsche Zeit­ geschichtsschreibung in der eigentümlichen Lage, dass das Revisionspotenzial des Vergleichs breiter anerkannt ist denn je, in der Praxis jedoch bisher kaum eingelöst wurde. Eine vom Umfang her noch sehr begrenzte erste Welle historischer Vergleichsstudien, die auch die Bundesrepublik in den Blick nahmen, entstand um die Jahrtausendwende. Einzelne Sammelbände, die Beiträge zu zwei oder mehr Nationen enthielten, brachen die nationalzentrierte Perspektive der Historiographie auf; nur in geringem Umfang waren sie jedoch explizit vergleichend angelegt.23 Früh vergleichend untersucht wurde der Umgang europäischer und außereuropäischer Länder mit ihrer Vergangenheit, ein Thema, das eine größere Anzahl von transnational angelegten Sammelbänden, aber auch meh22 Vgl. in Auswahl Herbert, Europe, S. 6; Herzog, Lust, S. 315 f.; Schildt, Sozialgeschichte, S.  108 f. (mit allgemein positiver Wertung der »Transnationalisierung«); zudem ders./­ Siegfried, Marx and CocaCola; Jarausch/Lindenberger, Contours, u. a. S. 9. 23 Vgl. etwa Bessel/Schumann, Life after Death; Schildt/Siegfried, Marx and CocaCola; Briesen/Weinhauer, Jugenddelinquenz; Cornelißen u. a., Decennio rosso; Großbölting u. a., Jenseits der Moderne. Explizit vergleichende Beiträge versammelte Hockerts/Süß, Soziale Ungleichheit; zum Teil vergleichend auch die Beiträge in Rusconi/Woller, Parallele Geschichte; sowie Lindner/Niehuss, Ärztinnen. Deutscher, als es der Titel vermuten lässt, bleibt Reitmayer/Schlemmer, Anfänge der Gegenwart.

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rere komparative Einzelstudien hervorbrachte.24 Daneben wurden Aspekte der Jugendkultur, der Frauenbewegung, des Sozialstaats und der 68er Bewegung zum Gegenstand historischer Vergleiche.25 Insgesamt blieben die vergleichenden Analysen jedoch zu vereinzelt und verstreut, als dass sie zur Grundlage einer neuen Sicht auf die Bundesrepublik hätten werden können. Für die westdeutsche Zeitgeschichte steht daher eine der Sonderwegsdebatte vergleichbare Korrektur vorherrschender Narrative und eine ähnliche Revision vertrauter Erklärungsmuster noch aus.

III. Perspektiven des Vergleichs Der vorliegende Band zielt darauf, einen ersten Anlauf zur historischen Neuverortung der Bundesrepublik Deutschland zu nehmen. An die Stelle der etablierten Fixpunkte in Gestalt des Nationalsozialismus und des »Westens« versucht er ein differenzierteres Koordinatensystem treten zu lassen, das sich aus einer Reihe konkreter historischer Vergleiche der Bundesrepublik mit einzelnen anderen Ländern unter klar spezifizierten Fragestellungen ergibt. Die allgemeinen analytischen und heuristischen Vorzüge des historischen Vergleichs sind so bekannt, dass sie hier nur noch einmal stichwortartig angerissen werden müssen:26 Am wichtigsten ist wohl, dass er den Blick für alternative Konstellationen und Entwicklungen öffnet und dass er auf diese Weise vermeintlich selbstverständliche Zusammenhänge in Frage stellt, neue Fragen hervorbringt und entscheidend zur Klärung kausaler Beziehungen beiträgt. Trotz der guten Gründe, die für komparatistisch angelegte Untersuchungen sprechen, ist der historische Vergleich in den letzten Jahren etwas in die De­ fensive gedrängt worden. Zum einen wurde ihm – durchaus nicht immer zu Unrecht  – vorgeworfen, dass er dazu tendiere, homogene nationale Einheiten als Vergleichsobjekte artifiziell zu entwerfen und auf diesem Weg die im 19. Jahrhundert wurzelnde, auf endogene Erklärungsmuster abstellende nationalhistorische Betrachtungsweise in ähnlicher Weise zu stabilisieren, wie das überkommene Nationalgeschichten tun.27 Zum anderen – und eng damit zusammenhängend – 24 Die Vergangenheitsbewältigung gehört inzwischen zu den am häufigsten vergleichend betrachteten Feldern der Nachkriegsgeschichte; in den vorliegenden Band hat sie deshalb nicht mehr Eingang gefunden, vgl. Conrad, Suche; König u. a., Vergangenheitsbewältigung; Timmermann, Vergangenheitsbewältigung (auch mit explizit vergleichenden Beiträgen); Axer, Aufarbeitung; Herbert/Groehler, Zweierlei Bewältigung; Herf, Zweierlei Erinnerung; Bock/Wolfrum, Umkämpfte Vergangenheit. 25 Poiger, Jazz; daneben Kurme, Halbstarke; Schulz, Frauenbewegung; Lindner, Gesundheitspolitik; Etzemüller, 1968; Kolbe, Elternschaft. 26 Vgl. nur Haupt/Kocka, Comparison and Beyond; Dies., Comparative History; Welskopp, Stolpersteine; Haupt, Historische Komparatistik; Kaelble, Der historische Vergleich; ders., Historischer Vergleich. 27 Vgl. etwa Wagner u. a., Einleitung, S. 19; Werner/Zimmermann, Vergleich, S. 609–617.

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ist der Vergleich in den letzten Jahren gegenüber der transnationalen und Globalgeschichte ins Hintertreffen geraten, für die weniger komparative Perspektiven als grenzüberschreitende Transfers und Verflechtungen im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. In Erwiderung des ersten Kritikpunkts lässt sich zunächst vorbringen, dass Vergleiche durchaus nicht immer auf der Ebene des Nationalstaats, sondern häufig auch auf lokaler oder regionaler Ebene ansetzen und auf diese Weise der Vorwurf der Konstruktion künstlicher nationaler Entitäten wenigstens teilweise unterlaufen werden kann. Auch Vergleiche auf nationaler Ebene jedoch sind notwendig, will man die Bedeutung und Wirkmacht nationaler Grenzen in der Epoche der Globalisierung präzise bestimmen. Vor allem aber stehen komparatistische und stärker auf Austauschbeziehungen fokussierende historische Ansätze nicht in einem Gegensatz zueinander, sondern ergänzen und bereichern sich wechselseitig. Das zeigen nicht zuletzt die Beiträge in diesem Band, die jenseits methodischer Frontstellungen zwischen Vergleich, Transfer und Verflechtung die betreffenden Methoden mit jeweils eigener Schwerpunktsetzung kombinieren. Jeder Vergleich gerade in der Zeit­geschichte wird den grenzüberschreitenden Transfers von Dingen, Menschen und Ideen, den wechselseitigen Wahrnehmungen und Einflüssen sowie der Rolle transnationaler Konstellationen besondere Bedeutung beimessen und so der Gefahr entgehen, die von ihm in den Blick genommenen Vergleichseinheiten zu reifizieren. Umgekehrt kommt keine Transfergeschichte ohne den Vergleich des sozialen, politischen und kulturellen Herkunfts- und Zielkontextes aus, wenn sie verstehen will, was im Rahmen der von ihr untersuchten Austauschbeziehungen vor sich geht.28 Schließlich hat der historische Vergleich ebenso wie die anderen Spielarten der transnationalen Geschichte in Rechnung zu stellen, dass moderne Gesellschaften selbst im Modus des permanenten Vergleichs miteinander operieren, dass also der vergleichende Blick auf Entwicklungen im Ausland mit zunehmender Tendenz stets in den Denkhorizont der Zeitgenossen selbst eingeschrieben war und eine zentrale Form des grenzüberschreitenden Transfers dargestellt hat. Bei unserem Versuch, einen Beitrag zur Neuvermessung der bundesrepublikanischen Geschichte zu leisten, haben wir uns der Mitwirkung einer Reihe von herausragenden Praktikern der vergleichenden und transnationalen Geschichte versichert. Sie alle haben in den letzten Jahren an größeren Forschungsprojekten gearbeitet, die sich mit der Bundesrepublik auseinandersetzen und die vergleichend oder transfergeschichtlich angelegt sind. Für diesen Band haben sie ihre Projekte daraufhin befragt, in welcher Hinsicht aus ihren jeweiligen Perspektiven neue Erkenntnisse für eine Geschichte der Bundesrepublik hervorgehen. Die geographische Auswahl der Länder und Regionen, zu denen die Bundesrepublik im vorliegenden Band in Beziehung gesetzt wird, kann als durchaus repräsentativ für den gegenwärtigen Forschungsstand gelten. Die westlichen Industrie­ länder – allen voran Großbritannien, Frankreich, Italien und die USA – stehen als Referenzpunkte für die westdeutsche Geschichte ganz im Vordergrund. Süd28 Vgl. Paulmann, Internationaler Vergleich, S. 681.

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europäische Staaten wie Spanien oder Griechenland finden sich überhaupt nicht, Länder des alten Ostblocks wie Polen oder die DDR sind nur vereinzelt vertreten. Durchaus zu Recht wird man darin ein Erbe der überkommenen These von der Verwestlichung der Bundesrepublik erblicken, die nun erstmals einer empirischen Überprüfung unterzogen wird. Gleichzeitig spricht die Dominanz bestimmter Vergleichsländer dafür, dass in ihnen – unter ganz unterschiedlichen Aspekten  – eine besonders große gemeinsame Schnittmenge mit der Bundes­ republik existiert hat, die in der Gemengelage mit den ebenfalls vorhandenen Unterschieden die Voraussetzung für jeden fruchtbaren Vergleich darstellt. Die Tatsache, dass die Autorinnen und Autoren des Bandes durchweg an deutschen Universitäten sozialisiert wurden, spiegelt das hierzulande im Vergleich mit anderen europäischen Ländern oder den USA stärker ausgeprägte Interesse am historischen Vergleich in der Zeitgeschichte wider.29 Freilich ist die Komparatistik in der Zeitgeschichte kein deutsches Monopol.30 In der britischen und französischen Historiographie zur Geschichte des jeweils eigenen Landes im 20. Jahrhundert waren und sind jedoch explizit oder implizit vergleichende Perspektiven, Bezüge auf außerhalb des eigenen Landes liegende Beispiele geringer ausgeprägt als in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. Diese Unterschiede gehen auf zeitgenössische Blickweisen zurück: Nach der mora­lischen Katastrophe des Nationalsozialismus schauten die Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert stets nach außen, in den »Westen«, um Urteilsmaßstäbe zu finden; Franzosen oder Briten suchten Maßstäbe eher in anderen Epochen ihrer eigenen Geschichte. Wenn nun gerade in der deutschen Forschungslandschaft viele explizite Vergleichsstudien entstehen mit dem Ziel, implizite Vergleichslogiken zu hinterfragen, ist das auch ein Symptom der longe durée historiographischer Traditionen. Thematisch decken die Beiträge ein breites Spektrum ab, das dennoch zwangsläufig Lücken aufweist, da es bislang nur zu einem Bruchteil derjenigen Themen, die für die westdeutsche Geschichte nach 1945 wichtig sind, kompa­ rative empirische Untersuchungen gibt. Auch wenn die Grenzen zwischen Sozial- und Kulturgeschichte längst fließend geworden sind, fällt doch ein gewisser Schwerpunkt des Bandes auf sozialhistorischen Themen auf, die sich unmittel29 Gerade in den letzten Jahren sind eine Reihe vergleichender und transfergeschichtlicher Arbeiten zur Geschichte der Bundesrepublik erschienen, vgl. etwa Pleinen, Migrations­ regime; Torp, Gerechtigkeit; Berlinghoff, Ende der »Gastarbeit«; Conrad, Suche; Axer, Aufarbeitung. Mit Schwerpunkt auf transnationalen und Transferperspektiven Terhoeven, Deutscher Herbst; Graf, Öl. Eine deutsch-französische Überblicksdarstellung, die Vergleich und Verflechtung kombiniert, liefert Miard-Delacroix, Zeichen. 30 Zum Stand der Debatte Lagrou, Europe. Für komparative Studien vgl. etwa Sommier,­ Violence; Tamagne, Histoire de l’homosexualité; eher transnational, jedoch mit vergleichenden Elementen Marwick, The Sixties, sowie Lagrou, Legacy; wesentlich breiter ist das Feld transnational bzw. vergleichend konzipierter Sammelbände, wenn auch mit wenig explizit vergleichenden Beiträgen; vgl. beispielhaft Hekma, Sexual Revolutions; Hanhimäki/Blumenau, International History of Terrorism.

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barer für einen komparativen Zuschnitt anzubieten scheinen. Die Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten im Wandel von Mentalitäten, Wahrnehmungen und Deutungsmustern spielt in diese Untersuchungen mit hinein, bedarf jedoch zweifellos weiterer Forschung. Desiderate bleiben im Bereich der Politikgeschichte oder einer Kulturgeschichte des Politischen, deren Erkenntnispotenzial der Beitrag zu Demokratisierungsnarrativen in Deutschland und Italien offenbart. Auch die jüngst geschriebene Geschichte des alternativen Milieus in der Bundesrepublik fordert geradezu Vergleiche heraus, welche die Spezifika dieser westdeutschen Milieuformierung herausarbeiten könnten.31 Warum die neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik auf sehr fruchtbaren Boden fielen, während sie in Frankreich »mit Unverständnis und Angst beäugt« wurden, ist weiterhin eine offene Frage.32 Gleichfalls zu untersuchen wäre, wie westdeutsch die »Suche nach Sicherheit« war, und welche verschiedenen Ausprägungen der Gestaltwandel der Religion und Religiosität zeigte, dessen Bedeutung für das Verständnis der Zeitgeschichte zu Recht betont worden ist.33 Es erscheint jedoch müßig, die Leerstellen hier durchzudeklinieren. Stellvertretend für andere sei noch genannt, dass Gender-Aspekte nur begrenzt zur Sprache kommen, obwohl auch auf diesem Feld die Frage nach nationalen Spezifika der westdeutschen Entwicklung – und ihr Zusammenhang oder Nicht-Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus – noch zu klären wäre. Zu analysieren wären die Ursachen des im europäischen Vergleich außergewöhnlich dramatischen Rückgangs der westdeutschen Geburtenraten in den frühen 1970er Jahren, der von der Forschung beiläufig zur Kenntnis genommen, aber noch kaum erklärt wurde.34

IV. Elemente einer historischen Neuverortung der Bundesrepublik Von einer Neukartierung der bundesrepublikanischen Geschichte mithilfe der historischen Komparatistik ist ein Ertrag auf vielen Feldern zu erhoffen. Fünf davon skizzieren wir im Folgenden. Sie gehen aus den Erkenntnissen früherer Vergleiche, unseren eigenen vergleichenden Forschungserfahrungen und den Beiträgen des Bandes hervor. Die Beiträge zeichnen zwangsläufig ein unvollständiges neues Bild der Bundesrepublik. Zu manchen Feldern liefern sie nur erste Striche, die von zukünftigen Forschungen weitergeführt, verstärkt, ergänzt werden müssen, bevor eine neue historische Landkarte entsteht. Deutlich machen sie jedoch, in welche Richtung sich die Konturen verschieben könnten: Erstens legt eine konsequente transnationale Einbettung und komparative Perspektivierung der bundesdeutschen Geschichte die Grundlage für eine grö31 Reichardt, Authentizität. 32 Vgl. Miard-Delacroix, Zeichen, S. 285. 33 Conze, Suche nach Sicherheit; Großbölting, Der verlorene Himmel; Großbölting/Große Kracht, Religion; Ruff, Religion. 34 Vgl. etwa Rödder, Bundesrepublik, S. 26 f.

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ßere analytische Distanz zu zeitgenössischen Wahrnehmungen und Deutungen. So ist zu erwarten, dass die Vorstellung »des Westens« als in sich geschlossener Referenzpunkt der bundesdeutschen Entwicklung dem Säurebad der empirischen Überprüfung nicht standhalten wird. Ebenso wie die Annahme eines westlichen »Normalweges« als Kontrapunkt zum deutschen »Sonderweg« dürfte sich die Idee eines »Westens«, in dem die Bundesrepublik schließlich geläutert aufgeht, als homogenisierende Konstruktion erweisen, die ihre Wurzeln zwar tief im 19. Jahrhundert hat, ihre ideologische Verdichtung und Übersteigerung aber erst im Zeitalter der beiden Weltkriege erfuhr. Daraus erwächst die Aufforderung an die Historiographie, einen deutlicheren Bruch mit Vorstellungen vom »Westen« und Narrativen der »Verwestlichung« zu vollziehen, als er den partiellen Distanzierungen in der Historiographie bisher zugrunde liegt. An die Stelle der »Westlichkeit« als implizites und inhaltlich vages tertium comparationis müssen konkrete Fragen treten, unter denen Entwicklungen in verschiedenen Ländern verglichen werden. Zur Disposition steht aber nicht nur das Bild einer voranschreitenden Annäherung der Bundesrepublik an einen idealisierten »Westen«, sondern die eng damit verknüpfte Vorstellung einer zunehmenden Konvergenz der westlichen bzw. westeuropäischen Gesellschaften überhaupt. Die bundesrepublikanische Geschichte ist bisher von einer Periodisierung geprägt, deren Phasen sich mit Blick auf das Verhältnis der Entwicklung Westdeutschlands zu jener des »Westens« unterscheiden: So werden die beiden Nachkriegsjahrzehnte üblicherweise als Epoche einer zunehmenden Konvergenz der Wertordnungen beschrieben, die um 1970 ihren Abschluss fand.35 Die Geschichte der Bundesrepublik in der Zeit danach hingegen erscheint als Teil  einer allgemeinen, krisenhaften westeuropäischen Entwicklung: »Strukturwandel« und Ende des »Booms« werden als »westeuropäische« Entwicklungen begriffen, deren Folgen sich in Westdeutschland niederschlugen. Schon die Beobachtung, dass die These einer Konvergenz westeuropäischer Wertordnungen in der deutschen Historiographie wesentlich ausgeprägter ist als etwa in der britischen oder in der französischen, wirft Zweifel an ihrer Reichweite auf. Ein Großteil der britischen Nationalgeschichten stellt sich gar nicht die Frage, ob es eine Annäherung der britischen Gesellschaft an jene des Kontinents gab. Gleichzeitig erscheint aus britischer Perspektive die kulturelle Annäherung an die USA eher als Alternative zu einer Annäherung an Westeuropa denn als Teil  eines umfassenden »Westernisierungs-« und Konvergenzprozesses. Im Zuge des wachsenden britischen Euroskeptizismus gewinnen jüngst auch Interpretationen an Gewicht, die Großbritannien als traditionell »anders« oder aber als sich zunehmend von Europa entfernend definieren. Auch französische Studien fragen gerade für die 1950er und 1960er Jahre seltener nach Konvergenz; »Europäisierung« und begrenzte Annäherung thematisieren sie vor allem 35 Doering-Manteuffel, Amerikanisierung und Westernisierung.

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mit Blick auf wirtschaftliche Entwicklungen und für die Epoche seit den 1980er Jahren.36 Jenseits historiographischer Differenzen entpuppen sich westdeutsche Entwicklungen, die üblicherweise als Ausdruck einer Annäherung an den Westen interpretiert werden – wie das etwa für den Aufschwung des Ideals der partizipativen Demokratie in den 1960er Jahren gilt –, als in vieler Hinsicht spezifisch westdeutsch in Form, Dynamik und Ergebnis.37 Zwar gibt es kaum einen Zweifel daran, dass die innereuropäische und transatlantische Verflechtung auf den unterschiedlichsten Ebenen des kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Lebens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich deutlich intensiviert hat. Doch sind wachsende Integration und Vernetzung nicht zwangsläufig mit einem Prozess der Angleichung gleichzusetzen. Natürlich gab es solche Prozesse – auf welchen Feldern und in welchen Grenzen ist jedoch für fast alle Bereiche der gesellschaftlichen Entwicklung noch genauer zu eruieren. Vor allem aber ist davon auszugehen, dass die fortschreitende Verflechtung vielfach auch zu Reaktionen der gegenseitigen Abgrenzung geführt hat, die bestehende Unterschiede akzentuiert und neue Differenzen hervorgebracht haben – aus der Forschung zur Geschichte der Globalisierung ist das ein vertrautes Phänomen. Die Ambivalenz von Nähe und Abgrenzung, die aus neuen Verflechtungen hervorgehen könnte, zeigt in diesem Band etwa Christina von Hodenbergs Analyse der britischen und deutschen Adaptionen einer US -amerikanischen Fernsehserie in den 1960er Jahren. Westdeutsche Eliten, hier die Redakteure des WDR , nahmen die eigene Fernsehpraxis als hinterherhinkend wahr und orientierten sich bewusst an US -amerikanischen und britischen Vorbildern. Diese »Westernisierungsanstrengung« war aber sowohl im Prozess wie auch im Ergebnis spezifisch deutsch: In der Adaption setzte man auf das Staatsfernsehen, nicht auf private Kanäle, mit konkreten Konsequenzen für die Seriengestaltung. In den Inhalten gab es transnationale Gemeinsamkeiten, prägender aber wurden letztlich Abgrenzungsbemühungen und die nationale Überformung der verhandelten Themen. Neben dem Fernsehen gilt üblicherweise auch die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung europäischer Länder als Motor ihrer Annähe36 Vgl. für Großbritannien etwa Marwick, British Society; Clarke, Hope and Glory; Morgan, Britain; Addison, No Turning Back; dasselbe gilt auch für neuere Studien zu den britischen 1970er Jahren, beispielhaft Black u. a., Reassessing; Beckett, Lights. Für die jüngste Debatte um die Differenzen zwischen Großbritannien und Europa, die von der europakritischen Vereinigung »Historians for Britain« angestoßen wurde, vgl. David Abulafia: Britain. Apart from or a part of Europe, in: History Today, http://www.historytoday.com/ david-abulafia/britain-apart-or-part-europe [letzter Zugriff: 4.11.2015]; sowie den Antwortbrief »Fog in Channel, Historians Isolated. An open letter in reponse to the Historians for Britain campaign«; ebd., http://www.historytoday.com/various-authors/fog-channelhistorians-isolated [letzter Zugriff: 4.11.2015]. Für Frankreich u. a. Sirinelli, Vingt déci­ sives; Delacroix/Zancarini-Fournel, France; Agulhon u. a., France. Eine größere Rolle spielt die – differenziert beantwortete – Frage nach Annäherung schon aufgrund des Gegenstandes bei Miard-Delacroix, Zeichen. 37 Vgl. Levsen, Authority.

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rung. Rüdiger Grafs Blick auf die Energiepolitik revidiert jedoch die Annahme, dass die angesichts der Ölkrise intensivierten Kooperationen zwischen europäischen Staaten zu einer Hochphase der europäischen Integration und Überwindung nationaler Strategien geführt hätten. Die Wahrnehmung der Zunahme an globaler »Interdependenz« führte zu ambivalenten Strategien von Annäherung und Abgrenzung, die stets dem Ziel untergeordnet blieben, nationale Interessen zu wahren. Für das Feld der Migrationsgeschichte schließlich arbeitet Jenny Pleinen heraus, wie janusköpfig Prozesse sein konnten, die oberflächlich betrachtet unter »Annäherung« und »Konvergenz« fallen. So lässt sich einerseits die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik nur im europäischen Kontext verstehen; verschiedene westdeutsche Weichenstellungen, die als »Sonderfall« gedeutet wurden, schreiben sich in europäische Trends ein. Das gilt etwa für den An­werbestopp 1973, der in eine Reihe mit fast zeitgleichen Maßnahmen anderer europäischer Staaten zu stellen ist. Solche Schließungsprozesse waren, so Pleinen, das Ergebnis einer gegenseitigen Verstärkung von Zuwanderungsängsten und damit Nebenprodukt der zunehmenden europäischen Verflechtung. Zweifellos war auch die Harmonisierung der europäischen Asylpolitik in den 1990er Jahren eine Form der innereuropäischen Annäherung. Diese Annäherung trug jedoch allenfalls vorübergehenden Charakter, wie spätestens die heftigen innereuropäischen Konflikte über Asyl- und Migrationspolitik angesichts rapide wachsender Flüchtlingsströme im Jahr 2015 zeigen – Konflikte, die die EU-Länder offenbar einander entfremden und sie nicht zusammenführen. Zweitens ermöglicht die komparative Perspektivierung eine Historisierung einflussreicher historischer Narrative, wie sie etwa die »Demokratisierung«, die »Amerikanisierung«, der »Wertewandel« oder die »Deindustrialisierung« und der »Strukturwandel« darstellen. Auch diese »Meistererzählungen« wurzeln ursprünglich in zeitgenössischen Selbstbeschreibungen, die Historiker später aufgegriffen haben. Der Vergleich der bundesdeutschen Entwicklungen mit entsprechenden Prozessen in anderen Ländern einerseits und ihrer jeweiligen nationalen historiographischen Beschreibungen andererseits besitzt dann ein doppeltes Potential: Zum einen lässt sich auf diese Weise feststellen, wie stark sich die zur Rede stehenden Prozesse in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich ausgeprägt fanden und welche Eigenheiten sie besaßen. Wie erkenntnisträchtig das sein kann, haben etwa Sammelbände zur Amerikanisierung in Europa und zum Wandel der Religion in Europa gezeigt, wiewohl auch in diesen Bänden vergleichende Beiträge in der Minderheit blieben und sich Erkenntnisse über Gemeinsamkeiten und Unterschiede somit nur aus der Gesamtschau der Beiträge ergaben.38 Zum anderen schärft die Auseinandersetzung mit alternativen Historiographien und Kategorien den Blick für die Historizität der eigenen Deutung und vergrößert so die Chance, dass sich die historische von der zeitgenössischen Perspektive emanzipieren kann. Das Narrativ der »Demokratisierung« etwa als Signum für einen vermeintlich transnationalen Wandlungs38 Stephan, Americanization; Pollack/Rosta, Religion; Graf/Große Kracht, Religion.

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prozess in der Epoche zwischen Kriegsende und 1970 zu verwenden ist eine spezifisch deutsche Sichtweise. »Demokratisierung« spielt als Deutungsmuster nicht nur in der britischen und französischen Zeitgeschichtsschreibung kaum eine Rolle; letztere privilegiert vielfach das Narrativ der »Modernisierung«.39 Auch die italienische Historiographie, zeigt Claudia Gatzka, schreibt keine vergleichbare Geschichte eines erfolgreichen Ankommens in einem demokratischen Westen; es dominiert vielmehr die Geschichte eines Scheiterns. Trotz gewichtiger Argumente, die das vorherrschende Bild des Gegensatzes zwischen einer »geglückten« und einer »missratenen« Demokratie bestärken, ergibt sich dieses Gegensatzpaar eher aus historiographischen Blickweisen denn aus gegensätzlichen historischen Wirklichkeiten. Der Verfremdungseffekt des historischen Vergleichs öffnet schließlich auch den Blick dafür, wie sehr die nationalen Historio­ graphien zeitgenössische Aufmerksamkeitskonjunkturen reproduzieren  – und welche Themen zu erforschen wären, die in zeitgenössischen Debatten eines Landes wenig öffentliches Interesse auf sich zogen, aus analytischer Perspektive aber bedeutsam erscheinen. Der Vergleich schärft die Aufmerksamkeit für die Frage, worüber Zeitgenossen schwiegen. Zahlreiche Beiträge in diesem Band führen vor, dass zeitgenössische Gegenwartsdeutungen, die die Historiographie übernommen hat, durch analytische Deutungen ersetzt werden müssen. Drittens birgt der Vergleich die Chance, in der Geschichtsschreibung zur Bundesrepublik etablierte Kausalketten zu hinterfragen. Ganz besonders gilt das für die zentrale Bedeutung, die dem Nationalsozialismus als verursachender Faktor zugeschrieben wird. Durch den Vergleich mit anderen Ländern, in denen der Nationalsozialismus als kausaler Faktor fehlt, können derartige Erklärungen empirisch überprüft und gegebenenfalls ergänzt werden. Komparative Untersuchungen öffnen damit den Blick für alternative Erklärungen, so etwa für die longe durée von Traditionen aus dem 19. Jahrhundert, aber auch für die Folgen politischer Entscheidungen und Weichenstellungen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene. Das zielt weniger darauf, den Stellenwert des Nationalsozialismus für die Geschichte der Bundesrepublik zu relativieren als vielmehr darauf, ihn zu präzisieren. Dabei zeigt sich, dass die bundesrepublikanische Geschichte nicht die einer Ablösung von »dem« Nationalsozialismus war, sondern ein Prozess vielfältiger Distanzierungen von einzelnen Aspekten des »Dritten Reiches«. Was aber jeweils als »nationalsozialistisch« galt, war das Ergebnis zeitgenössischer Debatten und Aushandlungsprozesse, und nur jene Deutungen, die sich in diesen innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen durchsetzten, bildeten die Grundlage für Distanzierungsbemühungen. Das wiederum galt nicht nur für die Bundesrepublik: Das »Dritte Reich« wurde in verschiedensten Kontexten weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus zu einem wichtigen Referenzpunkt für die Legitimation politischer Entscheidungen. Ein eindrückliches Beispiel für die grenzübergreifende Wirkmacht der selektiven Anknüpfung an den Nationalsozialismus liefert Petra Terhoeven in ihrer 39 Für Frankreich vgl. Miard-Delacroix, Zeichen, S. 259.

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Analyse der Verflechtungen zwischen deutschem und italienischem Terrorismus in den 1970er Jahren. Der deutsche Terrorismus wurde lange als Nachgeschichte des Nationalsozialismus geschrieben  – mit den Terroristen als nach­holenden Widerstandskämpfern auf der einen Seite und einer auf den Spuren des nationalsozialistischen Maßnahmenstaats wandelnden Staatsmacht auf der anderen. Nimmt man von einer derart nationalzentrierten Perspektive Abschied, wird deutlich, dass sich die terroristische Gewalt im Europa der 1970er Jahren auch und gerade durch die grenzübergreifenden Verflechtungen der Bewegungen radikalisierte. Den RAF-Mitgliedern verhalf dabei ihr bewusst stilisiertes Image als nachholende Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch etwa in Italien zu einer besonderen Legitimität und Sympathie. Ein anderes Beispiel für Varianten selektiver Distanzierungen vom Nationalsozialismus ist Christine Krügers Untersuchung von freiwilligen Jugend­ diensten in Großbritannien und der Bundesrepublik. Sie kann zeigen, dass sich die deutschen, aber auch die britischen Freiwilligendienste von ganz spezifischen Aspekten des NS abgrenzten. Beide distanzierten sich etwa von verpflichtenden Diensten, der britische aber auch vom Gemeinschaftsideal, das in den nationalsozialistischen Arbeitsdiensten hochgehalten worden war, ein Ideal, in dem die deutschen Trägerorganisationen keine problematische Tradition erkennen konnten. Zudem ergeben sich aus Krügers deutsch-britischem ebenso wie aus Gatzkas deutsch-italienischem Vergleich signifikante Zweifel am Narrativ des »unpolitischen Deutschen«, der sich in den 1950er Jahren »ins Private« zurückzog. In mancher Hinsicht unpolitisch beziehungsweise ohne politische Gestaltungsmacht war hingegen die westdeutsche Architektur der Nachkriegszeit. Politik »im Sinne eines erzieherischen und gestalterischen Auftrags« spielte, so zeigt Martin Kohlrausch, für manche westdeutsche Architekten selbst nur eine untergeordnete Rolle; andere reklamierten zwar einen solchen Gestaltungsanspruch für sich, trafen in der westdeutschen Gesellschaft und Politik damit jedoch nur auf wenig Resonanz. Das wird insbesondere im Vergleich mit den­ polnischen Architekten deutlich, denen zumindest zeitweise eine zentrale Rolle für die Gestaltung der polnischen Nachkriegsgesellschaft zugestanden wurde. Jenseits einiger politischer Repräsentationsgebäude war demnach die westdeutsche Architektur weniger Ausdruck einer gelungenen Demokrati­sierung als vielmehr von Leerstellen der Sinngebung und der Gestaltungsansprüche geprägt. Weniger Revisions- als vielmehr Präzisierungspotenzial bietet der Vergleich auch für die Frage, in welchem Ausmaß und in welcher Weise der Kalte Krieg westdeutsche Entwicklungen prägte. Zweifellos hatte in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft der Kommunismus als Vision und konkrete (partei-) politische Option keinen mit Frankreich oder Italien vergleichbaren Stellenwert: Aber auch im Vergleich zu Großbritannien oder den USA prägte die Systemkonkurrenz nicht nur das Regierungshandeln der Bundesrepublik, sondern auch ihre politische Kultur in einer spezifischen Form, deren Konsequenzen für viele Felder der gesellschaftlichen Entwicklung noch zu analysieren sind. Am Beispiel

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der Menschenrechtspolitik zeigt Jan Eckel, dass die besondere Weise, in der die Bundesrepublik vom Kalten Krieg betroffen war, Konsequenzen selbst für Politikfelder hatte, für die ein solcher Zusammenhang nicht unbedingt naheliegend erscheint. Im Vergleich zu Ländern wie den USA unter Carter, den Niederlanden oder Großbritannien zeigte die sozialliberale Regierung der Bundesrepublik in den 1970er Jahren wenig Engagement für Menschenrechtsfragen. Ihr wichtigstes Ziel blieb entspannungspolitische Stabilität; Kritik am Umgang mit Menschenrechten schien aus dieser Perspektive gefährlich. Daher schlug sich der transnationale Trend einer Aufwertung von Menschenrechten als Richtlinie der Außenpolitik zunächst kaum in der Bundesrepublik nieder. Während die Blockkonfrontation auf diesem Feld demnach eine Leerstelle, ein Nicht-Handeln der Bundesrepublik erklären kann – und gerade solche Leerstellen nur aus dem Vergleich zu erkennen sind  –, wirkte sie in anderen Bereichen eher dynamisierend. Das gilt, so zeigt Malte Thießen, etwa für die Gesundheitspolitik, die als Feld nationaler Konkurrenz wahrgenommen wurde, sich für Propagandaschlachten eignete, aber die schließlich auch zu neuen deutsch-deutschen Kooperationen führte. Viertens bietet der internationale Vergleich die Möglichkeit, die Bedeutung von Epochenschwellen zu überprüfen und zu differenzieren. Zwar gilt 1968 als »transnational moment«, dem sich bereits eine Reihe von Sammelbänden in transnationaler Perspektive gewidmet haben; erst Vergleichsstudien aber könnten die relative Bedeutung des Einschnitts von 1968 für spezifische Felder des Gesellschaftswandels in einzelnen Nationen herausarbeiten.40 Auf dem derzeitigen Stand der Forschung deutet sich allenfalls an, dass die deutsche 68er Bewegung radikaler sowohl als die französische als auch die schwedische war; es fehlt jedoch an Differenzierungen für einzelne Aspekte und gerade im deutschfranzösischen Vergleich an Erklärungen.41 Zudem hält bisher die französische Geschichtsschreibung deutlich stärker an der Einschätzung von 1968 als entscheidendem Bruch fest als die deutsche. Ob diese unterschiedlichen Wertungen aber historiographischen Trends entspringen oder verschiedene historische Wirklichkeiten abbilden, ist bisher kaum gefragt worden – und kann ohne komparative Studien nicht beantwortet werden.42 Silja Behres Beitrag in diesem Band historisiert die Kategorien, in denen die deutsche und französische Historio­ graphie 1968 diskutiert. Mithilfe des Vergleichs dekonstruiert sie insbesondere die gängige Dichotomisierung eines »politischen« Scheiterns und »kulturellen« 40 In Auswahl: Horn/Kenney, Transnational Moments, sowie als Monographie Horn, Spirit of ’68; Klimke/Scharloth, 1968 in Europe; Klimke u. a., Prague Spring; Cornils/Waters, Memories; Frazier/Cohen, Gender; jüngst in konsequent transnationaler Perspektive Gildea u. a., Europe’s 1968. 41 Für Schweden vgl. Etzemüller, Riss; in deutsch-französischer Perspektive Miard-Delacroix, Zeichen; einen deutsch-italienischen Vergleich liefert Tolomelli, »Repressiv getrennt«. 42 Für Frankreich vgl. den Forschungsüberblick von Gildea, Forty Years On; des weiteren Zancarini-Fournel, Moment 68; Damamme u. a., Mai-Juin 68; Artous u. a., France.

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Erfolgs, in der sich gerade jener traditionelle Politikbegriff niederschlägt, den die Protestbewegungen aufbrechen wollten. Auch die derzeit weithin akzeptierte These von den späten 1970er Jahren als Epochenschwelle zumindest in der westeuropäischen und transatlantischen Geschichte gilt es entweder zu bestätigen oder aber zu relativieren und zu differenzieren.43 Die Behauptung eines grundlegenden Strukturbruchs zwischen dem Zeitalter eines rasanten Wirtschaftswachstums in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ära »nach dem Boom« dürfte ihre elegante Konsistenz nicht zuletzt dem Umstand verdanken, dass markante Einschnitte, wie sie etwa die neokonservativen Wenden in den Vereinigten Staaten und Großbritannien mit ihrem fundamentalen Richtungswechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik darstellen, als partes pro toto zum Ausdruck eines allgemeinen Trends erklärt wurden. Wenn eine thematisch und international breit angelegte Untersuchung neben deutlichen Umbrüchen auch bemerkenswerte Kontinuitäten herausarbeiten sollte, muss das durchaus nicht den Zäsurcharakter der 1970er Jahre falsifizieren. Doch zeugt es von der Clio so vertrauten Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, deutet auf die Unabgeschlossenheit der Transformationsperiode hin und fordert die Zeitgeschichte dazu auf, nicht nur die 1970er und 1980er Jahre, sondern auch die Zeit seither als Phase entweder einer sich fortsetzenden Umwälzung oder der Stabilisierung in einem neuen Aggregatzustand verstärkt in den Blick zu nehmen. Fünftens schärfen komparative Studien gerade für die Zeitgeschichte, die oft als Epoche zunehmend unausweichlicher transnationaler Wandlungsprozesse erscheint, den Blick für Handlungsspielräume von Akteuren auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Das kann dazu beitragen, den nationalstaatlichen Rahmen zu relativieren: Expertise über Armut etwa, so zeigt Christiane­ Reinecke, entstand in den 1950er und 1960er Jahren häufig in lokalen Kontexten – unter Akteuren, die sich translokal vernetzten. Schon deutlich früher, als zuweilen in der Historiographie vermutet, tauschten sich hier, in direktem Bezug zur Praxis, Akteure über nationale Grenzen hinweg über Exklusions- und Marginalisierungsprozesse aus und entwickelten auf der Basis ihrer Erfahrungen Konzepte, Armut in städtischen Problemzonen zu bekämpfen. Auch Nicole­ Kramers Untersuchung der Entwicklung von Heimkritik und Altenrechten im europäischen Vergleich liefert neue Erkenntnisse über Handlungsspielräume von Akteuren – hier im Hinblick auf das Zusammenspiel von öffentlicher Meinung, privaten Akteuren in der Altenfürsorge und staatlicher Regulierung. Zudem eröffnet die transnationale Perspektive neue Einblicke in die Dynamik von Wandlungsprozessen sozialer Sicherungssysteme. Nicht zuletzt können auch Spielräume und Konsequenzen nationalstaatlicher Entscheidungen im Zeit­a lter der Globalisierung durch Vergleiche präzisiert werden. Jenseits »des« Strukturwandels wird im Beitrag von Lutz Raphael deutlich, dass die Transformations43 Besonders einflussreich in diesem Kontext natürlich: Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom.

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prozesse der 1970er und 1980er Jahre in westeuropäischen Ländern nicht nur verschiedene Verläufe nahmen, sondern vor allem auch sehr unterschiedliche soziale Begleiterscheinungen zeitigten. Abhängig waren diese zum einen von über­kommenen Strukturen  – die »Globalisierung« führte demnach nicht zu einer Abschwächung von historischen Pfadabhängigkeiten –, aber auch von den konkreten wirtschaftspolitischen Entscheidungen der jeweiligen Regierungen. Damit wird auch deutlich, dass die wirtschaftlichen Umbrüche dieser Phase nicht zu Konvergenz, sondern vielfach zu einer Verstärkung nationaler Unterschiede führten. Seit 1989/91 erlebt die vereinte Bunderepublik wiederkehrende Debatten darüber, ob sie nun wieder ein »normales« Land sei – geführt vor allem von Politikern und Journalisten, in Leitartikeln und Feuilletons, mit begrenzter Beteiligung auch von Historikern.44 Die Bandbreite und Varianten dessen, was in diesen Debatten als »normal« galt und gilt, lohnten eine historische Analyse. Die postulierte »Normalität« fiel jedenfalls nicht in eins mit den gängigen Definitionen von »Westlichkeit« – obwohl die Semantik beider Narrative implizierte, dass es sich um einen Angleichungsprozess Deutschlands an seine Nachbarn handelte. Als »Normalisierung« galt angesichts der Überwindung der Teilung nun vielfach eine »Rückbesinnung auf die Nation«, ein »unverkrampfter« Umgang mit ihr nach dem vermeintlichen Vorbild westeuropäischer Länder. Stellt man diese Debatte in den europäischen Kontext, wird deutlich, dass bereits der offensive Wunsch, »normal« zu sein, in vieler Hinsicht spezifisch deutsch ist und das Diktum der neuen »Normalität« schon daher ad absurdum führt. Jenseits von mit politischen Implikationen befrachteten Schablonen sowohl des »Normalen« als auch des »Westlichen«, die analytisch wenig fruchtbar erscheinen, skizzieren die Beiträge dieses Bandes die bundesrepublikanische Geschichte in einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht zu ihren europäischen Nachbarn, mit vielfältigen Kontakten, Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Auf verschiedenen Ebenen zeigen sie Handlungsspielräume, die sich eröffneten, die ergriffen oder nicht ergriffen wurden, und stellen die Alternativlosigkeit von Entwicklungen in Frage. Vergleiche, heißt es, haben weniger das Potenzial, neue Narrative hervorzubringen als alte zu zerstören. So bringt die Neuperspektivierung der westdeutschen Geschichte aus vergleichendem Blickwinkel keine neue große Erzählung hervor. Sie fügt jedoch dem historischen Bild der Bundesrepublik neue, mit schärferen und präziseren Strichen gezeichnete Konturen hinzu, setzt farbige Nuancen an die Stelle von Schwarz-Weiß-Malerei und bietet auch jenseits des Fokus auf Westdeutschland grundlegende Einblicke in die Dynamik des Wandels europäischer Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

44 Vgl. auch Große Kracht, Die zankende Zunft, Kap. V.; Wolfrum, Epilog oder Epoche; zeitgenössisch aus der Perspektive der Historiker Jarausch, Normalisierung oder Re-Nationalisierung.

Kultureller Wandel ohne Grenzen?

Christina von Hodenberg

Wie westlich war das bundesdeutsche Fernsehen? Die Produktion und Rezeption von Unterhaltungsserien im Dreiländervergleich

Das westdeutsche Fernsehen war vom ersten Sendejahr an mit importierten Programmen durchsetzt. Aber wie »westlich« oder »westernisiert« waren die Strukturen in den Funkhäusern, die Produktionsbedingungen und das Selbstverständnis der Fernsehmacher in der Bundesrepublik? Diesen Fragen wird auf der Grundlage einer umfangreichen Dreiländerstudie nachgegangen, die die Wirkung von Fernsehunterhaltung auf den Wertewandelsschub der 1970er Jahre in England, Westdeutschland und den USA vergleichend gewichtet.1 Auf breiter Quellenbasis werden historische Rezeptionsprozesse empirisch rekonstruiert, um den Einfluss populärer Unterhaltungsserien auf Wertewandelsprozesse in hochindustrialisierten westlichen Nationen näher zu bestimmen. Dabei geht es um die Frage, ob die zeitliche Koinzidenz des von Soziologen konstatierten Wertewandelsschubs mit dem »Zeitalter knapper Kanäle«, in dem das Fernsehen wie nie zuvor oder danach unbestrittenes Leitmedium des massenmedialen Ensembles war, wirklich rein zufällig war.2 Ohne die Ergebnisse dieser Rezeptionsanalyse hier auszubreiten (es war kein Zufall), konzentriere ich mich im Folgenden auf jene Aspekte des internatio­ nalen Vergleichs, die Rückschlüsse auf Narrative der bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung zulassen. Der Dreiländervergleich bringt nicht nur institutionelle Unterschiede in den Rundfunksystemen und verschiedene Praktiken der Fernsehproduktion ans Licht, sondern auch divergierende Wahrnehmungsmuster der Handelnden, die als Selbst- und Fremddeutungen häufig national aufgeladen waren. Wie wichtig waren der Kalte Krieg, die deutsche Teilung und das Bewusstsein der nationalsozialistischen Vergangenheit für die Akteure? Welche Auswirkung hatten transnationale Kontakte und Verflechtungen, wie sie der Import eines ausländischen Fernsehformats zwangsläufig mit sich brachte, auf die Kultur der Bundesrepublik? Den Ausführungen liegt das empirische Beispiel dreier Situationskomödien oder sitcoms zugrunde. Das britische Original »Till Death Us Do Part« (BBC 1 Von Hodenberg, Television’s Moment. 2 Im Zeitalter knapper Kanäle waren die Wahlmöglichkeiten der Zuschauer stark begrenzt, bei flächendeckender Reichweite des Fernsehens. Fernsehen wurde zur gemeinsamkeitsstiftenden Erfahrung und zu täglichem Diskussionsstoff in Familie und Beruf. Von Hodenberg, Expeditionen. Vgl. auch Ellis, Seeing Things, S. 39, 46.

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Christina von Hodenberg

1966–75) wurde erst in die USA (»All in the Family«, CBS 1971–79) und dann in die Bundesrepublik verkauft (»Ein Herz und eine Seele«, WDR /ARD ­1973–76). Dabei übernahmen die Produzenten jeweils das Grundkonzept der Serie und passten es dann nationalen Gegebenheiten an. Stets ging es um eine Arbeiterfamilie am unteren Ende des sozialen Spektrums in einem bescheidenen Reihenhaus, in einer Gegend, in der Einwanderer zuzogen. Der Fernsehfamilie stand ein bornierter, erzkonservativer Antiheld vor, der im Original Alf Garnett, in den USA Archie Bunker und in der Bundesrepublik Alfred Tetzlaff hieß. Ihm zur Seite standen eine dümmliche, unterwürfige Hausfrau (Else, Edith), eine sexuell befreite Tochter (Rita, Gloria)  und ein progressiver, einkommens­loser Schwiegersohn (Michael). In jeder Sendung stritten sich der Schwiegervater und Michael heftig, wobei sich die reform- und fremdenfeindlichen Tiraden des Antihelden an den linken Idealen des jungen Paars rieben. Die Handlung war didaktisch angelegt: Alfreds Ansichten sollten in der Gegenüberstellung mit der jungen Generation als unrealistisch und lächerlich bloßgestellt werden. Die Serien waren, an heutigen Zuschauerzahlen gemessen, außerordentlich erfolgreich. In Großbritannien erreichte die BBC mit jeder Episode zwischen 16 und 20 Millionen Zuschauer, also mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung.3 In den USA war »All in the Family« lange die erfolgreichste Serie aller Zeiten; sie stand fünf Jahre lang auf Platz eins der Ratings. Im Jahr 1974–1975 wurde eine durchschnittliche Episode von fünfzig Millionen Amerikanern gesehen, also einem Fünftel der Gesamtbevölkerung.4 In Westdeutschland lagen die Zuschauerquoten in der ARD bei 48 bis 67 Prozent, das entspricht im Durchschnitt zwanzig Millionen Zuschauern.5 Die Sendereihen wurden auch zum Zank­apfel in Presse, Politik und soziologischer Forschung, weil sie durch die satirische Darstellung eines rassistischen Helden mit dem Konzept antraten, Vorurteile zu bekämpfen. Bei Skeptikern löste dies die Besorgnis aus, die Serien könnten stattdessen ungewollt Rassismus anheizen. Welche Perspektiven auf die bundesrepublikanische Geschichte ergeben sich aus dem konkreten Fall? Zunächst blicke ich auf die Spezifika des westdeutschen Rundfunksystems im Vergleich zum britischen und amerikanischen (I.). Danach wird es um die Besonderheiten westdeutscher Fernsehunterhaltung gehen, also das Programmangebot selbst (II.). Die Art und Weise, wie Konflikte über Sendungen ausgetragen wurden und Zensur geübt wurde (III.), sowie nationale Unterschiede und Parallelen in Bezug auf die Publikumsrezeption (IV.) stehen danach im Mittelpunkt. Zuletzt werden transnationale Verflechtungen des Unterhaltungsfernsehens beleuchtet (V.).

3 Zahlen aus 1968 und 1972 nach Akte T12/1321/1 bzw. Studie R9/757/1, S. 4, in: BBC Written Archives, Reading. 4 Ozersky, Archie, S. 67. Adler, Introduction. 5 IFEP-Studie, S. 5, in: Historisches Archiv des Westdeutschen Rundfunks (WDR HA), Köln, Nr. 8575.

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I.

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Der Vergleich der Fernsehsysteme

Während die westdeutsche Serie im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems, also ohne Quotendruck oder Einfluss von Werbekunden produziert wurde, war das US -amerikanische Sendesystem stark kommerzialisiert und das britische ein duales System, in dem die nicht-kommerzielle BBC der Konkurrenz des kommerziellen Fernsehens ITV ausgesetzt war. Der Vergleich der drei Fernsehserien kann daher darüber Aufschluss geben, wie sich die Kommerzialisierung, Staats- oder Parteinähe der Rundfunksender auf die Produktion und Inhalte von Fernsehunterhaltung auswirkte. Der augenfälligste Unterschied beim Vergleich der Produktionsbedingungen ist der klare Professionalisierungsvorsprung des US -Fernsehens. Dort wurde die Serie von einer kleinen, unabhängigen Produktionsfirma hergestellt und an das network CBS verkauft. Die Sitcom musste in ein halbstündig getaktetes Programmschema passen und lief jede Woche zur selben Zeit. Das erzwang Knappheit und Tempo, denn es blieben nach Abzug der Werbepausen nur 23 Minuten pro Episode. Ein wechselndes Team von mindestens fünf Autoren, geleitet von Produzent Norman Lear, schrieb die Drehbücher. Alle Autoren hatten bereits Erfahrung mit dem Genre der Fernsehkomödie und hielten sich an feste Regeln (etwa: Minimum drei Witze pro Minute, ein Lacher am Anfang, regelmäßige Verwendung von running gags, catchphrases und Wortverhunzungen).6 Im Gegensatz dazu waren die Serienproduzenten in Westdeutschland und Großbritannien nicht unabhängig, sondern Angestellte des Senders und unter­ lagen damit der Weisungspflicht der Intendanten. Alles hing an einem Drehbuchautor (Wolfgang Menge in Berlin, Johnny Speight in London), der ohne feste Regeln arbeitete und häufig mit der Lieferung in Verzug geriet. Lange Produktionspausen waren die Folge. Die westdeutschen Produzenten waren nicht nur Dilettanten in Bezug auf das Genre, denn Ekel Alfred war die erste deutsche Sitcom überhaupt. Sie waren auch  – viel mehr als in Großbritannien und den USA – bürgerliche Intellektuelle. Vergleicht man die soziale Herkunft der Mitglieder des Produktionsteams, so waren die Briten und Amerikaner fast alle Aufsteiger aus der working class (insbesondere Speight und Lear), während die Westdeutschen aus solide bürgerlichem Haus stammten und die Universität besucht hatten.7 Sie verstanden »Fernsehkunst als adäquaten Ausdruck von Persönlichkeiten« in der Tradition einer »vorindustriellen Produktionspraxis von Handwerkern und Künstlern«, die sich nicht am Publikum und am Markt, sondern

6 Von Hodenberg, Television’s Moment, Kap. 2. 7 Zu Peter Märthesheimer Nachruf in: Süddeutsche Zeitung, 21.6.2004, S.  19; Lebenslauf, 1.10.1982, in: WDR HA , Printarchiv Biographie. Zu Günter Rohrbach Katz u. a., Am Puls, S. 219. Zu Joachim Preen vgl. Weltwoche, 8.5.1974; Rheinische Post, 24.1.1974; Westfälische Rundschau, 8.3.1984, in: WDR HA , Datenbasis Presse.

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an letztlich autoritären Ideen von Massenaufklärung orientierte.8 Das Vorbild des Brechtschen Epischen Theaters hatte großen Einfluss auf »Ein Herz und eine Seele«, weil Hauptdarsteller Heinz Schubert zehn Jahre lang zum Berliner Ensemble Bertold Brechts gehört hatte und der Regisseursneuling Joachim Preen von Peter Zadeks Theaterstil geprägt war. Die westdeutsche Version wollte bewusst die Identifikation des Zuschauers verhindern, indem das Publikum und die Kameraleute ins Bild gerückt und Zwischentitel eingeblendet wurden. Die Episoden verlängerte man von 30 auf 45 Minuten, um den tagesaktuellen politischen Dialogen mehr Raum zu geben.9 Witz und Unterhaltung standen im Hintergrund, anders als in London und Los Angeles. Zudem waren die westdeutschen Produzenten vergleichsweise stark akade­ misiert. Der Hauptabteilungsleiter Fernsehspiel des WDR , Günter Rohrbach, war promovierter Germanist. Und Redakteur Peter Märthesheimer war der Prototyp eines »68ers« aus dem Umfeld der Frankfurter Schule: studierter Soziologe, Schüler von Adorno und Horkheimer, aktiv im SDS und in der IG Metall.10 Enge Kontakte bestanden zu mehreren Universitäten. So liefen 1974–1975 in Hamburg und Aachen Proseminare, in Münster und München Hauptseminare zur Serie. Märthesheimer diskutierte mit Studenten und beriet Doktoranden.11 Diese Akademisierung des Fernsehgeschehens korrespondiert mit der überschießenden Theoretisierung der westdeutschen Variante der »68er«-Bewegung. Die Autoren und Produzenten aller drei Serien neigten zu kapitalismus­ kritischen, bisweilen sozialistischen Ideen, doch die Schattierungen waren sehr unterschiedlich. Nur in der Bundesrepublik findet sich eine neo-marxistische Ausprägung. Redakteur Peter Märthesheimer gehörte zu einer jungen Fraktion im WDR , die Fernsehen gezielt als »Instrument zur Neugestaltung der Gesellschaft« einsetzen wollte und darüber auch in Konflikt mit der Intendanz geriet.12 Diese kulturrevolutionäre Mission war den Produzenten in England und Amerika fremd.13 Einer Partei gehörte im westdeutschen Team nur Abteilungsleiter Rohrbach an, und dies wirkte sich nicht direkt auf die Produktion 8 Mit Bezug auf Ekel Alfreds Produzenten: Knilli, Amerikanisches Fernsehen, S. 13. 9 Vgl. die Episoden »Das Hähnchen«, »Besuch aus der Ostzone« (1973). Rohrbach an Höfer, 22.2.1974, in: WDR HA , unverz. Bestand Höfer, Akte »Interne Korrespondenz mit den Abteilungen Fernsehspiel und Spiel und Unterhaltung 1973–76« (im Folgenden HF1). Märthesheimer an Speights Agentin Beryl Vertue, 7.4.1972, ebd., Nr. 8574. 10 Siehe Anm. 7. 11 Vgl. Korrespondenzordner Märthesheimer, in: WDR HA Nr. 8578. 12 Rohrbach in Die Zeit, 1.11.1974, in: WDR HA D1146. Günter Rohrbach, Ende oder Anfang? Die Chancen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Strudel der neuen Medien, in: epd Kirche und Rundfunk Nr. 26, 4.4.1984, S. 16. Zu Konflikten im WDR vgl. Schmid, Intendant Klaus von Bismarck. 13 Johnny Speight definierte sich als authentisches Sprachrohr der britischen Arbeiterklasse auf dem linken Flügel der Labour party (vgl. Schaffer, Till Death, S. 472). Lear, der All in the Family »erfand«, kritisierte die kapitalistische Logik der amerikanischen networks: Lear, Taboos.

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aus.14 Die nordrhein-westfälische CDU sah dies jedoch anders. Sie beschuldigte im Rahmen ihrer »Rotfunk«-Kampagne gegen den WDR , die 1973 begann, insbesondere Rohrbach und Märthesheimer in der Hauptabteilung Fernsehspiel der politischen Indoktrination.15 Als Spezifika des westdeutschen Fernsehsystems in den frühen bis mittleren 1970er Jahren erscheinen also: vergleichsweise dilettantische Produktionsweise, Unerfahrenheit mit dem Genre, großer Spielraum für die Individualität und ideologische Mission einzelner Fernsehmacher sowie eine bürgerlich-intellektuelle Haltung, die auf Aufklärung des Publikums zielte. Parteisoldatentum war (noch) kein typisches Merkmal, der zeitgenös­ sischen Wahrnehmung zum Trotz.

II. Die Serieninhalte im Vergleich Der Vergleich typischer Programmabende der frühen 1970er Jahre in den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik zeigt, wie trocken und aufklärerisch das westdeutsche Angebot war. Humoristische und dramatische Elemente waren politischen und bildenden Sendungen klar untergeordnet. Die Programmplaner des ersten ARD -Kanals vermieden es, zwei Spielprogramme in der abendlichen Hauptsendezeit aufeinander folgen zu lassen.16 An mehreren Wochentagen wurde abends überhaupt keine leichte Unterhaltung geboten. Während Situationskomödien Dauer­brenner auf allen amerikanischen Kanälen und gezielt gesetzte Highlights im BBC-Programmangebot darstellten, wurden sie den deutschen Zuschauern vorenthalten. Das erklärt, warum das westdeutsche Publikum »Ein Herz und eine Seele« so enthusiastisch begrüßte, obwohl die Reihe verglichen mit »Till Death Us Do Part« und »All in the Family« langatmig und lacharm daherkam. »Alfred ist ein Sonderling im Deutschen Fernsehen – er macht Spass«, erklärte »Der Spiegel«.17 Allein die Tatsache, dass Johnny Speights Serienformat überall ohne größere Änderungen »funktionierte«, also Quote brachte und heftige Diskussionen in Presse und Politik auslöste, belegt eine gewisse Parallelität der in den drei Ländern gerade verhandelten sozialkulturellen Themen. Der engstirnige Patriarch, der sich über die Hotpants seiner Tochter und die langen Haare des angeblich kommunistischen Schwiegersohns aufregte, die Konsumorientierung der Jugend anprangerte und alles Sexuelle verteufelte, wirkte in London genauso witzig und treffend wie in Köln und New York. Das Grundkonzept der westdeutschen Serie glich dem britischen Original aufs Haar: Identisch waren die Idee des 14 Rohrbach war in der SPD, Intendant von Bismarck parteilos. In den USA waren, soweit ermittelbar, die meisten Macher parteilos. 15 Undatiertes CDU-Medienpapier, Mitte 1970er Jahre, in: Hickethier, Fernsehspiel, S. 61. Vgl. auch Der Spiegel, 14.8.1978, S.  34; ebd., 28.4.1975, S.  4, 57–60; Schmid, Intendant Klaus von Bismarck, S. 349; Katz u. a., Am Puls, S. 300–303. 16 Rohrbach an Werner Höfer, 22.2.1974, in: WDR HA , HF1. 17 Der Spiegel, 31.12.1973, S. 74.

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rassistischen Anti-Helden aus der Arbeiterklasse, das Reihenhaus-­Setting bis hin zu Details der Wohnzimmereinrichtung, die Charaktere bis hin zur Namensgebung und Kostümierung. Sogar die Drehbücher einiger früher Folgen waren weit stärker aus den Vorlagen Johnny Speights geschöpft, als es die westdeutschen und amerikanischen Drehbuchautoren im Nachhinein zu­geben wollten.18 Allerdings nahmen die Serien in den drei Ländern schnell eine jeweils eigene Entwicklung, und Handlung und Charaktere wurden nationalen Gegebenheiten angepasst. Alfred Tetzlaff konnte natürlich kein Monarchist und Anhänger des Empire sein, so wie Alf Garnett. Er schimpfte nicht auf koloniale Einwanderer, sondern auf Türken. Er blieb stumm, wo sein britisches Gegenstück sich ausdauernd über Juden ausließ. Und Alfred neigte weit mehr zu antikommunistischen Tiraden als Alf oder Archie. Das Produktionsteam beim WDR hatte ursprünglich gehofft, Speights Drehbücher einfach übersetzen zu lassen. Aber: »Eine normale Übersetzung des Textes erwies sich binnen kurzem als nicht ausreichend für eine glaubwürdige Übertragung auf deutsche Verhältnisse. So wurde lediglich die Konstruktion der Serie übernommen; die Texte wurden vollkommen neu geschrieben.«19 Auch das Format selbst wurde durch eingeschobene politische Dialoge, Elemente epischen Theaters und die Verlängerung auf 45 Sende­minuten erheblich modifiziert. Durch diese rasche Nationalisierungsanstrengung hatte die Übernahme der Sitcom kaum transkulturelle Übertragungseffekte im Sinne einer »Westernisierung« zur Folge. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Schattierungen der Kulturrevolution in den drei Ländern belegt der Vergleich der Serieninhalte aufschlussreiche Parallelen, aber auch Unterschiede. Bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Wertewandels wurden überall mit Erfolg aufgegriffen. Vor allem begeisterten sich die Zuschauer für die Vulgärsprache und die schlechten Manieren des Serienhelden, also für den Angriff des Fernsehens auf konservative bürgerliche Moral­ vorstellungen. Weitere Elemente, die in allen drei nationalen Zusammenhängen gut ankamen und zugleich Neuerungen im Fernsehprogramm bedeuteten, waren die Verhöhnung des autoritären Familienpatriarchen, die Spiegelung des Generationenkonflikts, die Darstellung unmittelbarer Körperlichkeit (etwa: Durchfall, das hörbare Rauschen der Toilette, das Wickeln eines Babys), offene Gespräche über Sexualität (im ehelichen und heterosexuellen Rahmen) sowie über Einwanderer und ethnische Minderheiten. Interessanterweise rückte die amerikanische Serie, dem Druck der Zuschauerpost und feministischer pressure groups nachgebend, schnell feministische Themen ins Zentrum: die Emanzipation der unterdrückten Hausfrau, Partnerschaft in der Ehe, Frauen und Erwerbs18 Wolfgang Menges Nachlass enthält zahlreiche Skripte Johnny Speights, die er detailliert durcharbeitete (Deutsche Kinemathek Berlin, 4.4.–199605, 4). Frühe, weitgehend identische Storylines sind die Silberhochzeit (Till Death… I/3, All in the Family I/1, Ein Herz… 5/1973), das Begräbnis (Till Death… III /4, All in the Family II /2, Ein Herz… 2/1973) und der Spion Stalin (Till Death… IV/4, Ein Herz… 1/1973). 19 Bilanz des Intendanten Klaus von Bismarck zu Ein Herz und eine Seele, 29.5.1974, S. 5, WDR HA Nr. 12520.

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arbeit. Die westdeutsche Serie folgte diesem Beispiel erst spät und halbherzig. Wie auch die britische Sitcom machte sie Feminismus nie handlungstragend für ganze Episoden. Anders als »All in the Family« wagte man sich nicht näher an die Themen weibliche Sexualität und Körperlichkeit, Vergewaltigung sowie Homosexualität und Transvestiten heran. Die Westdeutschen folgten auch nicht dem britischen Muster einer antireligiös aufgeladenen Stoßrichtung der Reihe.20 Ein westdeutsches Alleinstellungsmerkmal war zudem der Spott über den antikommunistischen Konsens der frühen Bundesrepublik, der seit einigen Jahren zunehmend bröckelte. Ganze Episoden drehten sich um die »Ostzone« und die angeblich kommunistisch unterwanderte SPD -Bundesregierung. Kanzler Willy Brandt galt Alfred als »Spion von Erich Honecker«, Schwiegersohn Michael als »Oberkomsomolze«.21 Diese Vergleichsergebnisse legen nahe, dass der Feminismus im nordamerikanischen Fernsehen früher Fuß fasste als in Großbritannien und Westdeutschland, dass die Säkularisierung in Großbritannien noch am wenigsten fortgeschritten war, und dass weibliche Sexualität und Homosexualität im westdeutschen und britischen Fernsehen noch länger ein Tabu darstellten als in den USA . Der kleinste gemeinsame internationale Nenner der Fernseh-Kulturrevolution war der Triumph des Massengeschmacks über die Elitenkultur, der Angriff auf die Autorität des männlichen Familienoberhaupts und die Liberali­ sierung heterosexueller Normen. Allen drei nationalen Varianten war gemeinsam, dass sie dem Publikum eine entradikalisierte Lesart des Wertewandelsschubs der 1970er Jahre boten. Für die spezifischen Überdehnungen der Kulturrevolution  – Aussteigertum, marxistische Utopien, politisch motivierte Gewalt, Drogenkonsum, Promiskuität, antiautoritäre Erziehung – war kein Platz im Programm. Ehe und Familie blieben tragende Werte; Scheidung, nicht-eheliche und gleichgeschlechtliche Sexualität waren für die Serienfiguren undenkbar. Und obwohl im wesentlichen Alfred bloßgestellt wurde, eignete sich das junge Paar nicht eindeutig zum Sympathieträger. Michael war ein Abziehbild-Liberaler, der seinem Schwiegervater auf der Tasche lag, und Rita ein konsumfixiertes, sexy aufgemachtes, aber intellektuell zurückgebliebenes »Pipimädchen« (Märthesheimer).22 So hatten neben den jungen, progressiven Zuschauern auch die Gegner der kulturellen Revolution etwas zu lachen. Im Ergebnis unterstreicht der Vergleich die folgenden westdeutschen Spezifika: eine weitgehende Ausblendung feministischer Themen, eine starke Fixie20 Hierzu und zum Folgenden: von Hodenberg, Television’s Moment, Kap. 4–6. 21 Folgen »Frühjahrsputz«; »Besuch aus der Ostzone«. 22 Allerdings ließ die westdeutsche Sendereihe die Figur des Michael vergleichsweise sympathisch erscheinen, da er im Gegensatz zum arbeitsscheuen britischen und studierenden amerikanischen Schwiegersohn immerhin (kurz-)arbeitete.  – Zitat Märthesheimers in A. Brockes u. a., Zwischenprüfungsarbeit: Kritische Beurteilung der Ziele, Methoden und Wirkungen der Familienserie Ein Herz und eine Seele, RWTH Aachen 1974, in: WDR HA Nr. 8578, S. 16.

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rung auf den Kalten Krieg und Antikommunismus und ein Desinteresse an Religion. Allein die deutsche Serie war als Transmissionsriemen einer bestimmten Ideologie konzipiert. Ekel Alfred war als »komische Widerspruchsfigur zu bestehenden Verhältnissen konzipiert«. Er sollte den sexuell verklemmten, anal fixierten, autoritär erzogenen, faschismusaffinen Charaktertypen verkörpern, den die »68er« sich aus Theodor W. Adornos und Max Horkheimers »autoritärem Charakter« sowie Wilhelm Reichs Schriften zusammengebastelt hatten.23 Diese ideologische Aufladung Alfreds wurde vom westdeutschen Publikum allerdings mit Nichtachtung gestraft.24 Tatsächlich lässt sich auch belegen, dass die nationalsozialistische Vergangenheit im westdeutschen Fall eine gewichtige Rolle spielte und sich stark auswirkte – auf den Inhalt der Fernsehserie, auf die öffentliche Debatte und die Entscheidungen der Fernsehmacher.

III. Kontroversen und Zensureingriffe im Vergleich Überall zog die Sitcom große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und löste Kontroversen in der Presse, in Politik und Parlamenten sowie in Experten­ diskursen (Rundfunkgremien, Fachpresse, Wissenschaft) aus. In Großbritannien betrafen die von »Till Death Us Do Part« losgetretenen Kontroversen die Entweihung religiöser Werte, die Haltung der Kirche zu sexuellen Fragen und die Einstellungen zu farbigen Einwanderern aus den Ex-Kolonien. In den USA war der Rassismus gegenüber Schwarzen das dominante Thema öffentlicher Debatten über »All in the Family«, angeheizt durch die Ängste vor dem militanten black power movement der 1970er Jahre. Ebenfalls vieldiskutiert, allerdings mehr in privaten als politischen Kontexten, war die Unterdrückung der Hausfrau Edith durch ihren Ehemann Archie.25 Der westdeutsche Fall hebt sich davon deutlich ab. Hier spielten die Themen Rassismus, Einwanderung, Religion und Sexualität in der Öffentlichkeit eine untergeordnete Rolle. Zwar ist belegt, dass die Zuschauer sich privat an Alfreds patriarchalischer Tyrannei und Elses Opferrolle störten. Auch die in den Sendungen angesprochenen sexuellen Normen stießen auf großes Interesse, im Gegensatz zu den tagespolitischen Inhalten. In der Öffentlichkeit und den Massenmedien drehte sich die Auseinandersetzung um »Ein Herz und eine Seele« aber um die vorgeblich gefährliche Wirkung der Sitcom auf »ewiggestrige« be­ ziehungsweise ostdeutsche Zuschauer. Politiker und Journalisten befürchteten, der ausgesprochene Anti-Antikommunismus der Serie könne die Zuschauer in der DDR entmutigen und verun­ 23 »Alfred ist der Prototyp dessen, was die Sozialpsychologen den ›autoritären Charakter‹ nennen«: Märthesheimer in WDR information, 11.11.1976, S. 1, WDR HA Nr. 8575. Märthesheimer, Woher denn, wohin denn?, S. 20, 26–28. 24 Vgl. von Hodenberg, Ekel Alfred. 25 Vgl. dies., Television’s Moment, Kap. 4 und 5.

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sichern. Der Sender Freies Berlin versuchte im Jahr 1974 vergeblich, für den Tag der Deutschen Einheit die Ausstrahlung der Episode »Besuch aus der Ostzone« zu verhindern, in der Drehbuchautor Menge die Begegnung der Tetzlaffs mit den Schwiegereltern aus der DDR inszenierte.26 Noch intensiver wurde darüber gestritten, ob Alfreds Kritik an der amtierenden SPD -Regierung möglicherweise die Wiederwahl von Bundeskanzler Willy Brandt vereiteln könne.27 Aber die größte Angst der Rundfunkmanager und Produzenten war durch die nationalsozialistische Vergangenheit bedingt. Könnten Alfreds rassistische Tiraden nach hinten losgehen und die Position alter und neuer Nazis und Antisemiten bestärken? Darüber waren WDR-Intendant Klaus von Bismarck und Fernsehdirektor Werner Höfer so beunruhigt, dass sie eine Publikumsbefragung in Auftrag gaben, die feststellen sollte, ob »Alfred als Verstärker faschistischer Tendenzen wirkt«.28 Redakteur Märthesheimer wollte so »vor dem unerträglichen Verdacht geschützt werden, wir begünstigten die Sache der Gestrigen«. Er wolle nur mit der Serie fortfahren, wenn die demoskopische Untersuchung widerlege, dass die Sendung »sich mittlerweile gegen die Absichten ihrer Macher kehre« und damit »demokratiefeindlich, gastarbeiterfeindlich, judenfeindlich usw., kurz gesagt faschismusaffin« wirke.29 Das dem WDR durchaus genehme Ergebnis der Studie lautete, durch die Sendungen würden »weder Vorurteile ausgelöst noch bestehende Vorurteile verstärkt«, da Alfred »recht einheitlich als ein Bündel von Negativ-Eigenschaften« erlebt werde.30 Die Furcht vor dem Antisemitismus der Zuschauer war so groß, dass Serienautor Wolfgang Menge – übrigens, den Zeitgenossen unbekannt, jüdischer Herkunft – Bezüge Alfreds auf Juden fast vollständig vermied. Zwar hatte Menge in den britischen Originalen zahlreiche entsprechende Witze und Handlungen vorgefunden und diese auch sorgsam exzerpiert. Denn weil der britische Schauspieler Warren Mitchell, der den Alf gab, selbst Jude und als solcher bekannt war, nutzte Johnny Speight antisemitische Insinuationen immer wieder als running gag.31 Menges persönlich bedingte Vorsicht traf sich mit Märthesheimers Überzeugung, über Judenhass müsse man nicht reden, weil in der Bundesrepublik »no overt racial problems and no anti-semitism« mehr vorhanden seien.32 Für Märthesheimer, den »68er«, war Alfred mehr Proto-Faschist als konkret schul-

26 Vgl. Der Spiegel, 24.6.1974, S. 96; Intendant Barsig an Klaus von Bismarck, 13.6.1974, in: WDR HA Nr. 12520. 27 Vgl. nur Bilanz von Bismarcks, Entwurf, 29.5.1974, in WDR HA Nr. 12520, S. 5; Das Parlament, 30.3.1974. 28 Im Mai und Juni 1974 wurden 1200 Bundesbürger durch das Kölner Institut für empirische Psychologie (IFEP) befragt. Institutsangebot vom 8.4.1974, in: WDR HA Nr. 8580. 29 Märthesheimer an Höfer, 21.3.1974, in: WDR HA Nr. 8580. 30 IFEP-Studie (WDR HA), S. 107, 6, 10. 31 Deutsche Kinemathek Berlin, Nachlass W. Menge, 4.4.–199605, 4; siehe auch 1, 5, 8 und 9. 32 Das schrieb er an Speights Agentin. Brief Märthesheimer an Vertue, 14.3.1973, in: WDR HA Nr. 8574.

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dig gewordener Nazi; das zu behebende Problem war der Autoritarismus, nicht der Anti­semitismus der Deutschen. Solcherart Selbstzensur gab es in allen drei nationalen Kontexten, wiewohl an verschiedenen Themen. Das US -Produktionsteam schreckte vor Witzen über die Bibel und den Präsidenten zurück, das britische vor zu viel Sex und Nacktheit. Das Team beim WDR fuhr im Frühling 1974 die politischen Inhalte deutlich zurück, um Kanzler Brandt zu schonen und der vom Intendanten angemahnten parteipolitischen Neutralität nachzukommen. Als dies vor den Bundestagswahlen 1976 erneut geschah, war dies für Wolfgang Menge »ein einziger Eiertanz«.33 Die direkte Zensur durch die Sender und Rundfunk-Aufsichtsbehörden – die Gremien und Beiräte bei WDR und ARD sowie bei der BBC , die Federal Communications Commission (FCC) beim network CBS  – war dagegen meist in­ effektiv, wenn sie gegen den Willen des Produktionsteams durchgesetzt werden sollte. Es hing stark von den Persönlichkeiten der Produzenten und Intendanten ab, ob Zensurakte von oben erfolgreich waren. Am wenigsten solchen Eingriffen ausgesetzt erwies sich die amerikanische Sendereihe. Als Quoten-Spitzenreiter war »All in the Family« fast unangreifbar, solange sich Norman Lear nicht beirren ließ. Und er war so stur, dass er die CBS -Zensoren regelmäßig zur Verzweiflung brachte. Die Zensur des networks richtete sich vor allem gegen die Behandlung sexueller Themen (etwa Impotenz, Abtreibung oder Verhütung) im Gespräch der Fernsehfamilie. Sobald Lear damit drohte, die Lieferung der für CBS extrem profitablen Serien-Episoden einzustellen, knickten die Zensoren ein. Im Jahr 1976 kippte Lear sogar die network-übergreifende Neuerung der sexualitäts- und gewaltfreien frühabendlichen »Familiensendezeit« (family viewing hour) mit einem von ihm angestrengten Gerichtsprozess – mit Konsequenzen für die Abend­programme auf dem Gesamtgebiet der Vereinigten Staaten.34 Der Vergleich von den durch die Serien ausgelösten Konflikten und Zensureingriffen zeigt somit, dass das am stärksten kommerzialisierte Rundfunk­ system die im Verhältnis radikalste Darstellung des Wertewandels erlaubte und erfolgreiche Produzenten am besten gegen Zensur immunisierte. Das hierarchisch organisierte westdeutsche System setzte die Redakteure dagegen der Weisungsbefugnis des Intendanten aus, weil letztlich dieser und die (parteilich besetzten) Gremien über die Einstellung der Reihe entschieden. Ähnlich lag die 33 Siehe die Streichungen Brandt-kritischer Passagen im Drehbuch zu »Besuch aus der Ostzone« 1974: Deutsche Kinemathek, Nachlass W. Menge, 4.4.–199605, 4. Menge zit. nach Die Welt, 27.9.1976, in: WDR HA , unverzeichnete Akte Programmgruppe Fernsehunterhaltung, Ein Herz und eine Seele, Folgen 21–24, 1976. 34 Vgl. W. J. Ferguson, Memorandum opinion. Writers Guild of America, West, Inc., et al., v. Federal Communications Commission, et. al., No. 75–3641-F; and Tandem Productions, Inc., v. Columbia Broadcasting System, Inc., et. al., No. CV 75–3710-F, 423 F. Supp 1064, 1161 (C. D.Cal.: Los Angeles, 1976). Siehe auch Geoffrey Cowan, See No Evil. The Backstage Battle over Sex and Violence on Television, New York 1979. Im Detail von Hodenberg, Television’s Moment, Kap. 5.

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Sache in Großbritannien. Dort setzten sich Speight und Main Wilson zwar immer wieder über die von BBC-Managern verordneten Sprachregelungen hinweg und ließen jahrelang, mit Rückendeckung des Director General (Intendanten) Hugh Carleton Greene, auch die Zornesanfälle des zuständigen Abteilungsleiters Tom Sloan an sich abtropfen. Doch seit eine skandalträchtige Episode im Jahr 1972 der heiligen Maria die Einnahme der Antibabypille unterstellt hatte, wurde Till Death konsequent einem neuen, strengeren Regiment unterworfen. Nun zensierte ein Vorgesetzter alle Drehbücher vorab.35 Aber in London konnte der Autor seine Komödie wenigstens leicht verändert an die kommerzielle Konkurrenz verkaufen, als die BBC ihm den Hahn abdrehte. Damals, 1969, kaufte der Sender London Weekend Television Speights nur leicht verhüllte Serienkopie »Curry and Chips«. Dies belegt erneut, dass ein kommerzialisiertes oder duales Fernsehsystem ein kritischeres Programm erlauben kann als ein staatsnahes,­ öffentlich-rechtliches System.

IV. Der Vergleich der Publikumsrezeption Die Zuschauerreaktion war in den drei Ländern in bestimmten Punkten parallel gelagert. Die Sendereihen sprachen alle sozialen Schichten an, wurden meist gemeinsam im Familien- und Freundeskreis angesehen und lösten dann weiterführende Diskussionen aus. Die Sitcoms erreichten auch stets soziale Gruppen, die noch vor dem Radio- und Fernsehzeitalter relativ langsam vom sozialem Wandel erreicht worden waren: ländliche, ungebildete, ungelernte, politisch uninteressierte, ältere und Unterschichten-Zuschauer, zudem Hausfrauen, Kinder und Jugendliche.36 Zuschauer eigneten sich zudem das von den Sitcoms angebotene Vokabular an, um ihre eigenen Botschaften zu kommunizieren, und spielten mit den Witzen, Figuren, catchphrases und anderen Symbolen aus den Episoden. Dies war ein aktiver Aneignungsprozess, in dessen Verlauf sich Zuschauer untereinander über ihre Haltung zu neuen sozialen Normen verständigten. Übereinstimmungen finden sich auch in der Einschätzung des Publikums durch die Fernsehmacher. Generell wurden die Fähigkeiten der Zuschauer stark unterschätzt. Rundfunkmanager, Politiker, Wissenschaftler und Journalisten glaubten, das Fernsehpublikum sei passiv und lasse sich durch scheduling (gezielte Programmplatzierung) leicht steuern. Sie warnten, dass das einfache Massenpublikum die satirische Darstellung von Rassismus in diesen Sitcoms missverstehen könnte. All dies erwies sich als falsch. Das Publikum war aktiver, 35 Episode »The Bird Fancier«. Vgl. Korrespondenz aus September und Oktober 1972 zwischen Mary Whitehouse und Lord Hill sowie Protokolle des Weekly Programme Review Meeting und Board of Management, in: BBC Written Archives, Reading, R78/2811/1. Vgl. von Hodenberg, Television’s Moment, Kap. 4. 36 Hierzu und zum Folgenden die quantitativen Analysen zeitgenössischer Erhebungen in: ebd., Kap. 3.

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verständiger und eigenständiger als gedacht. Praktisch alle Zuschauer begriffen, dass Alfred ein satirisches Zerrbild war.37 Und man ließ sich auch nicht völlig vom Sendefahrplan fremdbestimmen. Um eine Lieblingsshow zu sehen, stellten Zuschauer die Uhr, standen vom Sofa auf und schalteten innerhalb weniger Minuten gezielt zum anderen Kanal um. Westdeutsche, die besonders selten lustige Sendungen geboten bekamen, fuhren einen regelrechten »Entertainment-Slalom« zwischen mehreren Kanälen und blieben sogar abends länger als gewohnt auf, wenn Ekel Alfred lief.38 In allen drei Kontexten suchte das Publikum nach Unterhaltung und zeigte sich allergisch gegen unverhohlene Didaktik und dick aufgetragene Ideologie. Dagegen waren Sendereihen, die Spaß und Ablenkung mit politischen, gesellschaftskritischen Inhalten verbanden, durchaus populär, solange sie nicht allzu didaktisch daherkamen. Diese Didaktik-Allergie erklärt, weshalb die neulinke Ideologie hinter Alfreds autoritärer Persönlichkeit beim westdeutschen Publikum nicht landen konnte. Im Auftrag des WDR wurden mehrere Gruppengespräche von »Ein Herz und eine Seele«-Zuschauern protokolliert. Dort betonten Teilnehmer übereinstimmend, die politischen Dialoge in der Sendung seien »fürchterlich«: »wenn die Politik so dazwischen ist … das interessiert mich einfach nicht«.39 Die meisten Zuschauer verstanden Alfred auch als sexuell verklemmt, aber folgten nicht der von Märthesheimer intendierten Verklammerung von sexueller Repression, autoritärem Charakter und politischem Protofaschismus.40 In anderer Hinsicht konnte »Ein Herz und eine Seele« aber durchaus Lernprozesse im Publikum beschleunigen. Dies wurde damals in sozialwissenschaftlichen Studien vor allem am Thema Rassismus untersucht. Die westdeutschen, britischen und amerikanischen Ergebnisse gleichen sich. Die drei Fernseh­serien bestärkten jeweils eine kleine Minderheit klarer Rassisten in ihren Vorurteilen. Die Gruppe der amerikanischen und westdeutschen Rezipienten, die sich mit dem Rassisten Archie oder Alfred identifizierte, kam aber nur auf 5 bis höchstens 15 Prozent. Die Progressiven, die sich mit dem jungen Paar voll identifizierten, zählten dagegen etwa 15 bis 20 Prozent. Die große Mehrheit  – 60 bis 80 Prozent, je nach Umfrage – gehörte zu einer Gruppe, die ich die transitional majority oder Übergangsmehrheit nenne. Das waren jene Zuschauer, die auf halbem Wege waren, manches an der Kulturrevolution der 1960er und 1970er Jahre ablehnten und anderes bereits begrüßten  – oder die nicht ganz tolerant, aber

37 IFEP-Studie, S. 6, 71, 75, 86; G. Cleveland Wilhoit/Harold de Bock: Archie Bunker goes to Holland. Selective Exposure and Perception in the Dutch Television Audience, Netherlands Broadcasting Foundation, Audience Research Service 1975, S. 4, 8, 30.  38 Vgl. Hickethier, Einschalten, S. 272, 274, 278. Analyse britischer TAM-Ratings (Archiv des British Film Institute, London) für Januar 1968 und Februar 1967: von Hodenberg, Tele­ vision’s Moment, Kap. 3. 39 Gesprächsprotokoll Nr. 2, S. 3, 6, in: WDR HA Nr. 8580. 40 Vgl. Gesprächsprotokolle Nr. 1 und 2, ebd.

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auch nicht durchweg rassistisch waren.41 Nicht zuletzt zeigten Publikumsbefragungen in der Bundesrepublik, dass Ekel Alfred einen toleranteren Umgang mit Gastarbeitern förderte. Überaus häufig wurde er auch als Zerrbild des alten Nazis verstanden und auf dem Hintergrund der NS -Vergangenheit und des Zweiten Weltkriegs interpretiert.42

V. Transnationale Verflechtungen Möglicherweise bedeutete die Übernahme eines internationalen Formats auch, dass eine im engeren Sinne nationale Öffentlichkeit aufgebrochen wurde, etwa im Sinne einer »Westernisierung« oder »Globalisierung«. Wie bereits gesehen, wurde Johnny Speights Original vor der Ausstrahlung deutlich »nationalisiert«, also an den westdeutschen Geschmack angepasst. Wie stark orientierten sich die Produzenten an britischen oder amerikanischen Vorbildern, und wie wurde es im Publikum und den Medien der Bundesrepublik aufgenommen, dass der neue Fernsehheld britische Wurzeln hatte? Das europäische Fernsehen war bis in die 1980er Jahre weithin von national zugeschnittenen Produkten beherrscht. Bestimmte Genres wie Kinder­ programme, serielle Dramen und Komödien »do not … easily travel between national television cultures«.43 In diesen Sparten blieben hausgemachte Angebote immer marktführend. Selbst ein Riesenhit wie »Dallas« (50 Prozent Publikumsanteil) wurde von der »Schwarzwaldklinik« mit 62 Prozent auf den zweiten Platz verwiesen.44 Wie anderswo war auch das westdeutsche Publikum nicht willens, ausländische Sitcoms den hausgemachten Serien vorzuziehen.45 Insbesondere Familienserien verfingen nur dann bei den Zuschauern, wenn sie genügend Stallgeruch verbreiteten. Obwohl »Ein Herz und eine Seele« zu Anfang mehrfach von der Ansagerin als englische Erfindung und Parallele zur US -Erfolgsserie angekündigt wurde,46 wurde die Reihe als deutsche Kost rezipiert. Typisch war zum Beispiel der Anrufer bei der WDR-»Meckerecke«, der im Januar 1975 forderte: ›,Laßt Ekel Alfred laufen und mehr bayerische Volksstücke und nicht das amerikanische Lumpenzeug.«47 Fast alle Fans identifizierten Alfred sofort als Zerrbild des Deutschen schlechthin, ebenso wie die westdeutsche Presse. Auf dem Titel des »Spiegel« 41 Nach einer Auswertung von einer britischen, 24 amerikanischen und zwei westdeutschen Studien, in: von Hodenberg, Television’s Moment, Kap. 7. 42 Vgl. die IFEP-Studie und die Gesprächsprotokolle, siehe Anm. 28, 30 und 39. 43 Bignell/Fickers, Conclusion. 44 Silj/Alvarado, East of Dallas, S. 199, 148. 45 Ausnahmen von der Regel sind Länder wie Holland und Kanada, die immer schon von Fernsehimporten abhängig waren. Wilhoit/de Bock, Archie Bunker, S. 28 f. 46 Presseerklärung zum Start der Reihe (1973) und Ansage am 15.1.1973, in: WDR HA Nr. 8574. 47 »Meckerecke« Bericht über eingegangene Telefonanrufe, 20.1.1975, WDR HA Nr. 8581.

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prangte Alfred über der Schlagzeile »Ekel Alfred, der häßliche Deutsche«. Der »Express« adelte Alfred zum »Fernsehheld der Nation«, die »Bunte« zum »Liebling der Nation«.48 Dieser Aufstieg Alfreds zum Nationalsymbol hatte eine Kehrseite. Denn im Ausland wurde das Ekel mit dem kantigen Schnauzbart zum Symbol für die Wiederauferstehung des Nazideutschen. Die Briten deuteten den Erfolg der WDR-Serie dahin, dass das Publikum aus latenten Nazis bestehe. Der »Guardian« titelte: »Enter Herr Garnett  – little Hitler«. Der »Daily Express« schrieb »A heil of a row as Germany’s Alf lets rip« und der »Daily Mirror«: »Herr Von Garnett could stir up  a new wave of anti-semitism«.49 In den amerikanischen CBS Evening News wurde über eine drohende Renazifizierung der Bundesrepublik durch Alfred Tetzlaff berichtet.50 Die »Washington Post«, »Time« und »New York Times« sahen in den Fans der Serie »the old Nazis who still survive in Germany today«.51 Auf diese Welle national-stereotyper Kritik antworteten die Westdeutschen mit ebenso stereotyper Gegenkritik. Wolfgang Menge drehte den Spieß um und schrieb eine Episode, in der die Tetzlaffs von einem amerikanischen Journalisten besucht wurden, der auf der Suche nach einer »typisch deutschen« Familie war.52 Die Presse reagierte, indem sie ihren eigenen Anti-Helden über den der anderen erhob (»Unser Ekel ist viel frecher«) oder auf die Schwachstellen der anderen zielte. Die »Fernsehwoche« behauptete etwa, dass Archie Bunker ein typisches Abbild des weißen Durchschnittsamerikaners sei, der seit 200 Jahren die Schwarzen unterdrücke.53 So wurden die eigenen wie die ausländischen Fernseh-Ekel in allen drei Kontexten Objekte kruder nationalistischer Projektionen. International vermarktete Fernsehfiguren wie Alfred, Alf und Archie konnten nur deshalb als nationale Symbole fungieren, weil die Zuschauer ihre ausländischen Wurzeln verdrängten. Und das ging nur, weil die Produzenten das Serienformat so rasch und umfassend »nationalisiert« hatten – im Bemühen, ihre eigenen Sendungen von der Konkurrenz der anderen abzugrenzen. Zwar orientierten sich deutsche wie europäische Fernsehfachleute immer schon stark an amerikanischen Vorbildern, weil die USA bei der Verbreitung von Fernsehen einen deutlichen zeitlichen Vorsprung innehatten. Auch beim WDR schielten die Produzenten auf amerikanische Sitcoms und definierten die eigene Arbeit gegen die US -Produkte, die entweder kopiert oder verteufelt 48 Titelblatt-Schlagzeilen: Der Spiegel, 18.3.1974, Express Nr. 1/1974, Bunte Nr. 10/1974. 49 Guardian, 10.1.1974, S. 4; Daily Express, 9.1.1974; Daily Mirror, 22.1.1974, alle WDR HA Nr. 8581. 50 Evening News Segment vom 23.4.1974, Vanderbilt Television News Archive Nr. 234019. 51 Washington Post, 30.7.1974, S.  A6, sowie 7.1.1974, S.  A13; New York Times, 16.1.1974 (WDR HA Nr. 12520); Time, 13.5.1974. 52 Episode »Modell Tetzlaff«. 53 Hör zu!, 2.3.1974; Fernsehwoche, 13.4.1974, beide WDR HA Nr. 8579. Ähnlich Der Spiegel, 18.3.1974, S. 60–63.

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wurden. Damit waren sie nicht allein. Bei der Londoner BBC waren die Produzenten der Light Entertainment Group der Überzeugung, dass ihr Sender »the best in the world« sei und verglichen ihre Sitcoms mit den amerikanischen.54 Letztere seien »bland formula comedy«, »plastic«, »less inspired«, und »built on wisecrack following wisecrack in a sequence of crescendos«. Dagegen sei britische Sitcom »organic«, »highly individual«, »honest« und »real«, weil sie wesentlich auf die Entwicklung der Charaktere gebaut sei.55 Für Autor Johnny Speight waren die »Yankees« schlicht »too dumb« und »got no culture«.56 Im letzten Punkt waren sich die westdeutschen Serienmacher mit den britischen Kollegen einig. Aber sie bewunderten und hassten das US -Vorbild zu gleichen Teilen, aufgrund ihres eigenen Minderwertigkeitskomplexes. Redakteur Märthesheimer studierte zwar amerikanische Fachbücher über die narrative Konstruktion erfolgreicher Fernsehserien.57 Aber er und Drehbuchautor Wolfgang Menge fanden »All in the Family« blass und kommerziell verwässert.58 WDR-Abteilungsleiter Günter Rohrbach meinte sogar, das US -Trivialfernsehen richte sozialpsychologische Schäden in der Gesellschaft an. Fernsehserien würden dort wie Cornflakes vermarktet.59 Auch WDR-Fernsehdirektor Werner Höfer, der für Alfred zuständig war, sah Amerika als das »klassische« Fernsehland, in dem alles Vorbildliche, aber auch alle Mängel des Mediums überdeutlich zutage träten.60 Die Briten und Westdeutschen verstanden das US -Fernsehen somit als kommerzialisierte Dutzendware für die ungebildeten Massen. Weil in den 1970er Jahren die Trennlinien zwischen Populärkultur und Elitekultur in der Bundesrepublik und Großbritannien noch weitaus schärfer gezogen waren als in Nordamerika,61 lebte der europäische Streit über das mutmaßlich herunter­ gekommene US -Fernsehen wesentlich von der hausgemachten Spannung zwischen jenen, die bürgerliche Bildungsprogramme und jenen, die Unterhaltung für die Massen auf dem Bildschirm sehen wollten.62 In der Zusammenschau bedeutet dies, dass transnationale Verflechtungen im Fernsehen keineswegs notwendig Globalisierungs- oder Westernisierungsprozesse beschleunigten. Die Präsenz importierter Fernsehformate bedeutete nicht eine Schwächung nationaler Öffentlichkeiten, sondern konnte die Domi54 Steemers, Selling Television, S. xiii. 55 Tom Sloan, Television Light Entertainment, BBC lunch-time lecture VIII, 2 (11.12.1969), S. 8 f. Frank Muir, Comedy in Television, BBC lunch-time lecture V, 3 (14.12.1966), S. 8–10, 17. Beides im Archiv des British Film Institute, London. 56 Speight, For Richer, S. 159–163. Evening News, 9.9.1976. 57 Vgl. Büchereiquittung in WDR HA Nr. 8577. 58 Entwurf eines Artikels für die New York Times, S. 5, WDR HA , HF1. 59 Günter Rohrbach, Das Subventions-TV, in: epd Kirche und Rundfunk, 7.5.1977. Ders., in: Die Zeit, 23.5.1975. 60 Höfer, Einleitung, S. 8. 61 Silj/Alvarado, East of Dallas, S. 201 f. 62 Vgl. Bondebjerg u. a., American Television, S. 180 f.

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nanz natio­naler Kulturen bestärken und Abgrenzungsdiskurse voller nationalistischer Stereotype auslösen. Bei den hier untersuchten Debatten um das Sitcom-Format ging es letztlich weniger um interkulturelle Befruchtung als um das Zusammenschustern nationaler Identitäten auf Kosten anderer Kulturen. Unterhaltungsfernsehen wurde selbst Teil der Konstruktion des Nationalen, denn Nationen sind in sich brüchige und flüssige Konstrukte, die sich wesentlich durch ihre Absetzung vom Anderen definieren.63 So wurde Alfred Tetzlaff genutzt (in Westdeutschland wie im Ausland), um deutsch-nationale Identität zu definieren und Stereotype zu transportieren. Es bestätigt sich der bisherige Eindruck medienhistorischer Forschung, das Fernsehen des 20. Jahrhunderts sei eher Antriebskraft des nation-­building als interkultureller Transmissionsriemen oder Träger der Europäisierung gewesen. Nach wie vor kann dem audiovisuellen Medium eine »zentrale Rolle in der Stabilisierung des nationalen Erfahrungsraumes« zwischen 1950 und 1990 zugewiesen werden.64

VI. Fazit Der Vergleichsfall hat bestimmte Leitmuster der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik unterfüttert und andere erschüttert. Erstens bestätigt sich diejenige Interpretation der westdeutschen Wertewandelsperiode zwischen 1960 und 1980, die eine besondere Bedeutung der NS -Vergangenheit wie des Kalten Kriegs betont. Der Handlungsrahmen und Wahrnehmungshorizont der westdeutschen Fernsehmacher war tatsächlich vom, wenn auch bisweilen unausgesprochenen, Rekurs auf die Belastung durch den Nationalsozialismus geprägt. Auch im Publikum herrschte die Neigung vor, Sendungen auf diese Vergangenheit hin zu deuten.65 In den Etagen der bundesdeutschen Funkhäuser herrschte starke Angst vor dem Massenpublikum und eine extreme Vorsicht vor dem Thema Juden und Antisemitismus. Das einzig vergleichbare Angstthema war die Erschütterung des antikommunistischen Konsenses der jungen Bundesrepublik, obwohl diese Sorge in den 1970er Jahren nur noch von Minderheiten geteilt wurde.66 Die geographisch-strategische Situation der Bundesrepublik bewirkte, dass der Kalte Krieg das Denken und Handeln der Protagonisten, selbst noch über die

63 Seigel, Beyond Compare, S. 63 f. 64 Fickers, Nationale Traditionen, S. 1, 19. Siehe auch von Hodenberg, Expeditionen. 65 Ein Alfred Tetzlaff im Karnevalskostüm wurde meist als Hitler oder Goebbels verkleidet imaginiert, zuweilen auch als Wehrmachts- oder SS -Mann oder KZ -Aufseher: IFEP-Studie, S. 67. 66 Dies spiegelte sich in den Auseinandersetzungen des ARD -Programmbeirats wider, wo die Notwendigkeit antikommunistischer Fernsehpropaganda von vielen Mitgliedern bereits bezweifelt wurde. Vgl. Korrespondenz aus Mai 1974 zwischen Programmbeirat und ARD -Programmdirektion sowie Protokoll vom 19.6.1974, WDR HA , HF1.

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Ostpolitik und Entspannung der frühen 1970er Jahre hinaus, stärker beeinflusste als in den Vergleichsländern. Zweitens bestätigt dieser Fall das Denkmuster einer von den bundesrepublikanischen Eliten angestoßenen Westernisierungsanstrengung. Die Autoren, Redakteure und Manager hinter Ekel Alfred orientierten sich bewusst am englischen und amerikanischen Vorbild und nahmen die eigene Produktionspraxis als hinterherhinkend wahr. Die angestrebte Westernisierung war allerdings deutsch überformt. Anstelle einer Marktorientierung auf Publikumsunterhaltung und produktionsorientierter Abläufe im Team wurde auf bildungsbürgerliche Konzepte gesetzt: Volkserziehung durch Massenmedien, Wertschätzung akademischer Theorie, künstlerische Freiheit des individuellen Fernsehautors. Drittens findet sich das populäre Vorurteil bestätigt, nach dem das westdeutsche Fernsehsystem der 1970er Jahre verzweifelt unlustig, volkserzieherisch und produktionstechnisch eher bescheiden daherkam. Das ebenfalls gängige Vorurteil eines parteipolitisch dominierten Rundfunksystems bestätigt sich dagegen nicht. Aber es zeigen sich deutliche Nachteile des Einflusses männlicher, bildungsbürgerlicher Eliten und der öffentlich-rechtlichen Organisation des Fernsehens. Die Zensur von Sendungen wurde erleichtert, und es gelang ideologisch motivierten Fernsehmachern eher, ihre Sprache nur leicht modifiziert ins Fernsehen zu transportieren. Mithin spiegelte die westdeutsche Sitcom viel direkter die politischen Anliegen einer Minderheit von »68er«-Aktivisten wider, als es in der britischen BBC oder im amerikanischen CBS möglich gewesen wäre. Das westdeutsche Fernsehen sprach die Sprache der Eliten und ging vielfach an den Interessen der durchaus politisch und gesellschaftlich interessierten Massen vorbei. Es mag überraschen, aber das kommerzielle amerikanische Fernsehsystem und das duale britische System erlaubten mehr Gesellschaftskritik, eine stärkere Orientierung am Zuschauer und eine weiter gehende Darstellung kulturrevolutionärer Phänomene »von unten« auf dem Bildschirm als das westdeutsche System.

Martin Kohlrausch

Aufbruch und Ernüchterung Architekten in der Frühphase der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen*

Wie andere polnische Architekten verbrachte auch Szymon Syrkus, einer der wichtigsten Vertreter des Funktionalismus in Osteuropa, den Zweiten Weltkrieg in einem Konzentrationslager. Syrkus war aufgrund seiner Planungsarbeiten für den Wiederaufbau Warschaus, die die deutschen Besatzer Polens untersagt hatten, in Auschwitz interniert worden. Erst am 3. Mai 1945 wurde Syrkus in einem Außenlager des KZ Dachau in Mettenheim in Bayern von den Amerikanern befreit. Gut zwei Monate später, noch immer in Bayern, bat Syrkus die Militär­regierung in Mühldorf »in scientific aims« u. a. München, Nürnberg und Würzburg besuchen zu dürfen. Dort wollte er die zerstörten deutschen Städte studieren, um sich so auf die Rekonstruktion in Polen vorzubereiten.1 Die kurze Geschichte berührt drei Probleme und Themen, die dieser Aufsatz thematisieren wird. Erstens scheint hier die grundlegend unterschiedliche Kriegserfahrung polnischer und deutscher Architekten auf. Während erstere im Zweiten Weltkrieg mehrheitlich erheblichen Drangsalierungen ausgesetzt waren, hatten die deutschen Architekten in der Mehrzahl erheblich profitiert.2 Die Geschichte verweist zweitens darauf, dass insbesondere die modernen Lösungen verbundenen Architekten der europäischen Länder bis 1933 bzw. 1939/1940 einen intensiven Austausch gepflegt hatten und die Geschichte deutet zumindest an, dass sie über eine gemeinsame Sprache der Problemformulierung und Problemlösung verfügten. Diese Erfahrung überlagerte die radikale nationale und politische Spaltung des nationalsozialistischen Besatzungsregimes und des Krieges. In der Zerstörung europäischer Städte im Luftkrieg und der daraus resultierenden – und bereits lange vor Kriegsende reflektierten –– Herausforderung des Wiederaufbaus als europäische städtebauliche Aufgabe zeigte sich diese Gemeinsamkeit besonders deutlich.3 Indirekt verweist die Geschichte, drittens, auf den aus dem nie dagewesenen Zerstörungsgrad erwachsenden Planungs- und Aufbauimperativ, der die Architekten in beiden Ländern notwendig nach 1945 in eine zentrale Position hineinwachsen ließ. * Für die Unterstützung bei der Recherche des hier verwendeten Materials danke ich Henning Holsten, Berlin. 1 Gutschow/Klain, Vernichtung, S. 170. 2 Zum Exil der jüdischen Architekten vgl. die umfassenden Forschungen von Myra Warhaftig. 3 Vgl. Lenger, Metropolen, S. 420–434.

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Es ist schon fast ein Gemeinplatz der jüngeren Forschung geworden, auf die Konvergenzen der Architekturentwicklung in der Nachkriegszeit in Ost- und West hinzuweisen.4 Für die Architekten selbst und ihre gesellschaftliche Rolle relativiert sich dieser Befund allerdings. Wenn hier – in der gebotenen Kürze – die Entwicklung in der Bundesrepublik mit der Volksrepublik (VR) Polen verglichen wird, dient das heuristisch zwei Zielen: Erstens soll der Vergleich die Spezifika der bundesrepublikanischen Entwicklung erhellen. Zweitens soll der Blick auf Polen im Sinne eines »Was möglich gewesen wäre« Alternativen zur bundesrepublikanischen Entwicklung aufzeigen – letzteres insbesondere mit Blick auf die Handlungsspielräume der Politik. Der Blick über den Eisernen Vorhang scheint einerseits naheliegend, weil die Architektur  – wie im Folgenden zu erläutern ist  – nach dem Ende des Nationalsozialismus mit erheblicher politischer Bedeutung aufgeladen war und damit auch Teil der Systemkonkurrenz war.5 Die Relevanz der Volksrepublik Polen ergibt sich andererseits aus der Tatsache, dass es sich auch bei ihr um einen neuen Staat handelte, der sich mit vergleichbar großen Wiederaufbauherausforderungen wie die Bundesrepublik konfrontiert sah. Diese Kongruenz spiegelt sich in der spät einsetzenden, dann aber – trotz enormer politischer Spannungen – intensiven Rezeption des polnischen Wiederaufbaus in Westdeutschland. Immerhin war Polen das bevölkerungsreichste Land im europäischen Teil des Ostblocks, mit Deutschland, sei es auch oft negativ, auf vielfältige Weise kulturell und politisch verbunden und besaß in der Hauptstadt Warschau eines der weltweit eindrücklichsten Beispiele für die Folgen des Kriegs für die Städte. Schließlich, wiewohl in fundamental unterschiedlicher Weise und auch nicht immer reflektiert, formte der Nationalsozialismus für die Architekten beider Länder einen entscheidenden Referenzpunkt, wie dies für kaum ein anderes Land der Fall war.

I.

Architekten als Untersuchungsgegenstand

Obgleich kaum als kollektive Gruppe untersucht, bilden die Architekten zweifellos eine zentrale historische (funktionale) Elitenformation der frühen, durch den Wiederaufbau geprägten Bundesrepublik.6 Relevant sind nicht nur, und für diesen Beitrag auch nicht in erster Linie, die Anpassungsleistungen der Architekten über den Systembruch hinweg, sondern ebenfalls ihre politischsozialen Funktionen. Insbesondere ist zu fragen, inwieweit die progressiven 4 Von Beyme, Wiederaufbau. 5 Zwar ließen sich die Kontraste zwischen der Entwicklung im westlichen System und im Staatssozialismus auch im Vergleich der Bundesrepublik mit der DDR erörtern. Jedoch treten die hier interessanten Kontraste in den 1950er Jahren in der vor allem über Berlin noch vielfach mit der Bundesrepublik verwobenen DDR weniger deutlich zutage. 6 Vgl. neben verschiedenen Studien zur Professionalisierung der Architekten jetzt vor allem: Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft; Durth, Deutsche Architekten.

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Planungsutopien der 1920er Jahre und die entfesselte Gestaltungsmacht der Architekten im Dienste des Nationalsozialismus im Kontext der frühen Bundes­ republik spürbar blieben. Daran anschließend stellt sich die Frage nach der Gestaltung des Sozialen durch Städtebau und Architektur in der Bundesrepublik und damit auch der Legitimität der frühen Bundesrepublik. Die Gruppe der Architekten und ihre politisch-soziale Position zu betrachten, führt dabei weit über »bloß« ästhetische Probleme hinaus. In dem der Gründung der Bundesrepublik vorangehenden halben Jahrhundert hatte zumindest eine begrenzte Gruppe der Architekten einen enormen Bedeutungsaufstieg erlebt, der ihnen eine bisher unbekannte soziale und politische Relevanz verlieh.7 Die kurze, aber umso eindrucksvollere Erfolgsgeschichte des Bauhauses ist hierfür der bekannteste Ausdruck – auch für den Zusammenhang von Selbst­ ermächtigung und Zuschreibung.8 Selbstredend blieben viele Visionen des Architekten als Schöpfer der neuen Welt für neue Menschen von der Realität weit entfernt. Aber es steht doch außer Zweifel, dass die Architekten Fluchtpunkt intensiver sozialer und politischer Suchbewegungen nach einer besser beherrschten Moderne wurden. Der Architekt, so der Bauhausdirektor Hannes Meyer 1928, »war künstler und wird ein spezialist der organisation!«,9 er wurde, wie der Maler Franz W ­ ilhelm Seiwert erklärte, zum »Sinnbild des auf das Bauen gerichteten planerischen Denkens und damit zum Symbol des Fortschritts durch moderne Technik«.10 Am augenfälligsten zeigte sich die Verwandlung zumindest der modernen Architekten in eine Projektionsfläche, einen Hohlspiegel der Planungsphantasien, aber auch der Visionen sozialer Reform und Umgestaltung im Aufstieg von StarArchitekten wie Walter Gropius oder Le Corbusier, die ihren Ruhm nicht allein oder nicht einmal in erster Linie ihren Bauten verdankten. Tzvetan Todorov hat eindrücklich erläutert, wie sich das Verhältnis von Politik und Kunst in der Zwischenkriegszeit wandelte und Künstler in die Rolle des Demiurgen gerieten. Dabei spielte die Architektur die prominenteste Rolle – »the total art that could transform everyone’s life«.11 Seit den 1930er Jahren zeigte sich aber auch ein zweites Charakteristikum der Architekten besonders deutlich, nämlich die extreme Abhängigkeit von Auf7 Ich konzentriere mich auf im weitesten Sinne moderne Architekten, also diejenigen, die sich auf die Vorbilder des Bauhauses bezogen und in entsprechenden Vereinigungen mitarbeiteten (vor allem den Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM)). Vgl. allgemein zum Bedeutungszuwachs von (technischen) Experten: Raphael, Sozialexperten; und mit Bezug zur Raumplanung: Leendertz, Ordnung. Bereits früh: Berndt, Gesellschaftsbild. Vgl. auch: Etzemüller, Ordnung. 8 Als Überblick zur kaum mehr überschaubaren neueren Literatur zum Bauhaus: Jaeggi, Modell; Bergdoll, Bauhaus. 9 Meyer, bauen. 10 Erläuterung des Gemäldes »Der Architekt« von 1931 durch den Maler. Rheinisches Landesmuseum, Bonn. 11 Todorov, Limits, S. 41.

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traggebern, um ihre Vorhaben umsetzen und damit ihren Beruf überhaupt ausüben zu können – und ein daraus resultierender Opportunismus.12 Allerdings wurden nicht nur Architekten abhängiger von ihren zunehmend nicht mehr privaten Auftraggebern, sondern auch umgekehrt die Politik von Bauexperten für die Planung und Umsetzung immer weiter reichender sozialer Leistungen. Die Leistungsverwaltung musste sich, wie Ernst Forsthoff bereits 1938 feststellte, vornehmlich in der Stadt bewähren.13 In diesem Sinne formte der Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte eine besonders dramatische Bewährungsprobe für die politische Legitimität der Bundesrepublik. Der Blick auf die Gruppe der Architekten erhellt aufgrund ihrer zentralen Rolle im Wiederaufbau und der großen Bedeutung desselben nicht nur das alte Thema eines Staatsstils, also die Debatten um die Frage, wie sich die Bundesrepublik in ihren Repräsentationsbauten darstellte, sondern auch die Frage, wie sich der neue Staat zu einer Mitte des 20. Jahrhunderts fest etablierten Tradition staatlicher Gesellschaftsplanung verhielt.14 Dies verweist auf die Frage der Autonomie der Architekten über die Bruchsituation von 1945 hinweg – im engeren berufsständischen Sinne, aber auch in einem weiteren Sinne der Möglichkeit, eigene Vorstellungen um- und durchsetzen zu können.15 Fragen der Selbstorganisation der Architekten als professionelle Gruppe waren auch immer Fragen der Selbstvergewisserung, der Positionierung gegenüber der Gesellschaft und des Mitspracheanspruchs in der Gesellschaft. Dieser Beitrag wird eine Reihe der hier anklingenden Fragen ausklammern müssen. Das Problem der sogenannten »gläsernen Moderne« bzw. Wiederaufbaumoderne als mehr oder weniger geglückter Stil bleibt außen vor. Ebenso weitgehend unberücksichtigt bleibt die staatliche Repräsentation mit ihren mehr oder weniger eingelösten Transparenzansprüchen und den entsprechenden Debatten um Architektur als Ausdruck der Demokratisierung und Westernisierung der Bundesrepublik.16 Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass im Hintergrund dieses Beitrages eines der erfolgreichsten Narrative der bundesrepublikanischen Selbstbeschreibung steht, nämlich jenes der geglückten Demokratisierung und Modernisierung und ihres baulichen Ausdrucks. Dieses Narrativ macht sich vor allem fest an der Interpretation und Rezeption von ikonischen und politisch aufgeladenen Gebäuden wie Hans Schwipperts Bonner Bundeshaus und Frei Ottos Zeltdachkonstruktion für das Münchener Olympiastadion.17 12 Vgl. hierzu auch die literarische Verarbeitung dieses Grundkonflikts in Stefan Heyms ›Die Architekten‹, Mitte der 1960er Jahre verfasst, aber erst nach dem Ende der DDR ver­ öffentlicht. 13 Forsthoff, Staat, S. 75 f. (ursprünglich: Forsthoff, Verwaltung). 14 Vgl. Guckes, Ordnungsvorstellungen. 15 Vgl. hierzu Siegrist, Professionelle Autonomie, S. 20 f. 16 Zur von Rudolf Schwarz 1953 angestoßene Bauhaus-Debatte: Betts, Bauhaus und Hilpert, Nachkriegszwist. 17 Arndt, Demokratie. Mit engem Fokus auf die politische Repräsentation: Barnstone, Transparent State.

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II. Der Wiederaufbau als historisches Problem Vom Wiederaufbau in der Bundesrepublik zu sprechen ist nur auf den ersten Blick evident.18 Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass der Wiederaufbau ein enorm komplexer Vorgang war, der sich weder im Beginn und Ende noch als Gegenstand deutlich eingrenzen lässt und auch keinen für die ganze Bundes­ republik verallgemeinerbaren Linien folgte. Zudem bezeichnet der Begriff Maßnahmen, die weit über die Rekonstruktion zerstörter Baustrukturen hinausgingen. Der Wiederaufbau bot für Architekten eine Herausforderung, wie es sie zuvor nie gegeben hatte; gleichzeitig implizierter er grundlegende Entscheidungen über die Verfasstheit von Politik und Gesellschaft. Neben dem funktionellen Anspruch der Wohnraumbereitstellung und Stadtraumverbesserung bot die Herstellung der Städte in der Bundesrepublik auf einer höheren Ebene ein zumindest zweifaches Sinngebungs- und Selbstverständigungsangebot. Erstens konnte der katastrophalen Zerstörung deutscher Städte ein Sinn abgewonnen werden, da sie die Durchsetzung des seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelten und Mitte des 20. Jahrhunderts beinahe konsensualen Leitbilds der aufgelockerten Stadt (›Stadtlandschaft‹) ermöglichte.19 Zweitens konnte sich die Bundesrepublik als nüchtern-moderner Staat präsentieren – und damit gleichzeitig stillschweigend über die NS -Vergangenheit hinweggehen. Die Geschichtswissenschaft und Architekturgeschichte haben den Wiederaufbau in seinen verschiedenen Facetten – Leitbilder, Kontinuitäten, technische Voraussetzungen, Akteurshandeln – in jüngerer Zeit besser, wenn auch keineswegs vollständig ausgeleuchtet und in diesem Kontext auch die Rolle der Architekten diskutiert – nicht zuletzt mit Blick auf die frappierenden personellen Kontinuitäten zwischen »Drittem Reich« und früher Bundesrepublik.20 Weitaus weniger zahlreich sind Studien, die den deutschen Wiederaufbau und damit die Rolle von Architekten mit anderen europäischen Beispielen vergleichen.21 Schließlich ist über die politische Funktion des Wiederaufbaus deutlich seltener als über seine technischen und ästhetischen Aspekte geschrieben worden. Die politische Relevanz des Wiederaufbaus wird beim Blick auf die nahezu vollständig zerstörte polnische Hauptstadt Warschau so deutlich wie für keine andere europäische Stadt. Bereits während des Zweiten Weltkrieges wurde War18 Der Forschungsstand zum Wiederaufbau findet sich bei Wagner-Kyora, Wiederaufbau. 19 Konzise ist dies von Hans Scharoun 1946 für Berlin formuliert worden: »Die mechanische Auflockerung durch Bombenkrieg und Endkampf gibt uns jetzt die Möglichkeit einer großzügigen organischen und funktionellen Erneuerung.« http://www.bpb.de/ gesellschaft/staedte/wiederaufbau-der-staedte/64357/grundlinien-der-stadtplanung [letzter Zugriff: 4.11.2015]. Allgemein zu diesem Zusammenhang: Düwel/Gutschow, »A Blessing in Disguise«. 20 Zur symbolischen Bedeutung des Wiederaufbaus: Thießen, Wiederaufbau. Vgl. auch: Wagner-Kyora/Gleiss, 1945; Diefendorf, Rebuilding und Durth, Utopie. 21 Für Deutschland und Polen: Bingen/Hinz, Schleifung.

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schau zum Symbol des Vernichtungskrieges gegen die Städte.22 Wie nirgendwo sonst kamen hier urbane Zerstörung durch Luftbombardements, Genozid, Auslöschung kultureller Erinnerung und schließlich auch der Frontkrieg zusammen, überlagerten sich vielfach und sind vom Wiederaufbau der Stadt nicht nur materiell kaum zu trennen. Der Wiederaufbau Warschaus zog das Interesse der Zeitgenossen nicht nur deshalb in besonderem Maße auf sich, weil er die am stärksten zerstörte europäische Hauptstadt und die am stärksten zerstörte Stadt Zentraleuropas betraf. Gleichzeitig stand Warschau auch emblematisch für die Exzesse der deutschen Kriegsführung und  – weitaus weniger bekannt  – für die ›negative‹ deutsche Stadtplanung, die gewaltsame Durchsetzung einer neuen Raumordnung im Osten mit dem Ziel der Transformation einer polnischen Millionenstadt in eine deutsche Mittelstadt.23 Der Wiederaufbau Warschaus war aber nicht nur in seinen Dimensionen und seiner Symbolkraft, sondern auch stadtplanerisch einmalig. Warschau war, so schien es, der Möglichkeitsraum, von dem ›Plandiktatoren‹ wie Le Corbusier so lange geträumt hatten.24 Bereits am 26. Oktober 1945 hatte Bolesław Bierut, Chef der polnischen provisorischen Regierung und seit 1947 Präsident Polens, die Nationalisierung des privaten Bodens innerhalb des Warschauer Stadtgebietes  – also nicht nur des Zentrums wie in Rotterdam – verfügt. Das einschlägige Dekret sah dies als Voraussetzung für eine »rationale Durchführung des Wiederaufbaus« der Hauptstadt und deren Gestaltung entlang der »Bedürfnisse der Nation«. Es handelte sich also gewissermaßen um eine Nationalisierung des Stadtbodens im doppelten Sinne des Wortes.25 Zerstörungsgrad und Gestaltungsmöglichkeit machten Warschau zu einem weit über Polen hinaus beachteten städtebaulichen Fallbeispiel. In der 1946 erschienen Broschüre ›Warsaw Lives Again‹, die eine gleichnamige Ausstellung auf ihrer Tour durch die Vereinigten Staaten und zahlreiche europäische Städte begleitete, hatte der amerikanische Kritiker und ›Technointellektuelle‹ Lewis Mumford erklärt: »Warsaw will live again, not by a pious restoration of the past, not by idolizing its dead self, but by taking the leadership in building a new kind of urban community.«26 Mumford schloss damit an eine Argumentation einflussreicher polnischer Avantgardearchitekten wie dem mit Mumford bekannten Szymon Syrkus aus den 1930er Jahren an. Syrkus hatte bereits damals Warschau in der Diskussion um die funktionelle Stadt als diejenige Großstadt Mitteleuropas bezeichnet, in der sich radikale Planungen umsetzen ließen. Über die im Untergrund wirkende Arbeitsgruppe für Architektur und Städtebau (Pracownia Architektoniczno22 Vgl. Huber, Warschau, S. 46 f. 23 Vgl. Gutschow/Klain, Vernichtung und zahlreiche weitere Veröffentlichungen Niels Gutschows zum Thema. 24 Vgl. Eisinger, Stadt. 25 Dekret o własności i użytkowaniu gruntów na obszarze m.st. Warszawy. Art. 1. 26 Stanislaw Albrecht, Warsaw lives again!, hg. v. Committee on Exhibition »Warsaw lives again«, Warschau 1946, S. 2.

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Urbanistyczna (PAU)) gelang es, derartige Planungen im Krieg auszubauen und zunächst eine Kontinuität zwischen Vorkriegsmoderne und Nachkriegsplanung herzustellen.27 Die Planung der PAU betonte  – vor dem Warschauer Aufstand von 1944  – die Chancen, die sich aus den Stadtzerstörungen ergaben. Zudem stellte die PAU mit Blick auf Umgestaltungsmöglichkeiten in einer erhofften sozialistischen Nachkriegsordnung den sozialen Aspekt von Stadtplanung heraus: »Durch einen neuen Siedlungstyp wollten wir einen neuen, vollkommenen Menschen erziehen, vollkommene Formen des gesellschaftlichen Lebens aufbauen und beim Schaffen der neuen Kultur mitwirken.«28 Die Erfahrung des Krieges hatte bei den ohnehin vorwiegend sozialistisch orientierten modernen Architekten in Polen die Bereitschaft für radikale Lösungen eher noch verstärkt.29 Zumindest in den frühen Jahren des Wiederaufbaus gelang es zahlreichen Vertretern der Zwischenkriegsmoderne, in Positionen einzurücken, die weit über die bloße Bauplanung hinausgingen und damit ihre Chancen für die Durchsetzung ihrer architektonischen Visionen erhöhten.30

III. Brüche und Kontinuitäten: Architekten nach 1945 So verschieden die Herausforderungen und auch Lösungen des Wiederaufbaus und die Handlungsspielräume der Architekten in der Bundesrepublik und Polen waren, so ähnlich waren ihre Prägungen, zumindest in der modernen Variante des Berufsfeldes. Die neighbourhood unit galt westlich wie östlich der Oder, zumindest bis Ende der 1950er Jahre, als zentrales Organisationsprinzip.31 Aufgelockerte Stadt und Stadtlandschaft waren ebenso wichtige Orientierungspunkte wie die Neugliederung der Stadt entlang ihrer Funktionen (Verkehr, Wohnen, Arbeit und Freizeit), entlang dem in den 1930er Jahren entwickelten Leitbild der funktionellen Stadt. In beiden Ländern glaubten die Architekten an die enormen Chancen des technischen Fortschritts für Architektur und Städtebau.32 In Westdeutschland lassen sich die prominenten Architekten  – mit einigen signifikanten Abstufungen – in zwei Gruppen einteilen: Diejenigen, die während des »Dritten Reiches« ins Ausland, vornehmlich die USA und die Türkei, emigriert waren und diejenigen Architekten, die sich teils aus politischer, teils aus künstlerischer Überzeugung oder aus Opportunismus im National­sozialismus 27 28 29 30

Syrkus, Pracownia. Zitiert nach: Gutschow/Klain, Vernichtung, S. 59. Vgl. auch: Syrkus, Ku idei, S. 242. Kohlrausch, Szymon Syrkus. Die Architekten Roman Pietrowski, Józef Sigalin und Marian Spychalski, spielten eine erhebliche politische Rolle. Vgl. generell: Jeremi Królikowski, Architekci w odbudowie Warszawy 1945–1949. Architekt warszawski i mazowiecki. Informacje OW SARP, November (2005): I–XII . 31 In der Bundesrepublik dauerte die Konjunktur des Konzepts deutlich länger als in Schweden. Vgl. Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft, S. 227–237. 32 Zum Durchbruch des Modernismus: Wagenaar, Happy Cities, S. 75–80; Gold, Experience.

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engagierten. Die Beispiele Ernst Neuferts und Egon Eiermanns, ersterer überzeugter Bauhausarchitekt und Vorreiter baulicher Normierung, letzterer mit seinem Rückzug in Industriebauten aber auch Beiträgen zur NS -Propaganda, zeigen, wie komplex die Situation war: Neufert hielt während des Nationalsozialismus an seinen Bauhausprinzipien fest, konnte aber in Speers Kriegswirtschaft reüssieren, während andere, weitaus traditioneller denkende und arbeitende Architekten etwa in die Türkei gegangen waren.33 Die überzeugten Nationalsozialisten Hermann Giesler, Wilhelm Kreis und Friedrich Tamms (sämtlich auf der »Gottesbegnadetenliste« jener Künstler, die Goebbels bzw. Hitler als so wichtig galten, dass sie vom Kriegseinsatz freigestellt waren) arbeiteten nach kurzen Unterbrechungen in der Bundesrepublik weiter  – Tamms in einflussreicher Stellung – und stehen damit beispielhaft für zahllose weniger bekannte Architekten. Ein unbelasteter Architekt wie Hans Schwippert, der die Repräsentationsbauten der frühen Bundesrepublik prägte, war eine Ausnahme. Beim Blick auf die intellektuellen Wortführer fällt im Vergleich zu Polen auf, dass in der Bundesrepublik noch beziehungsweise wieder die im Kaiserreich sozialisierte Generation der um 1885 geborenen Architekten den Ton angab, während es in Polen eher die um 1900 geborenen und damit in der Zweiten Republik ausgebildeten Architekten waren. Dies gilt für Otto Bartning, Walter Gropius, Hugo Häring, Ernst May, Ludwig Mies van der Rohe, Max Taut und mit Abstrichen den 1892 geborenen Hans Scharoun – ein Phänomen, das selbstredend auch für andere Funktionseliten der frühen Bundesrepublik bekannt ist. Will man verstehen, warum weder in Polen noch in der Bundesrepublik – trotz der gigantischen Dimensionen des Wiederaufbaus – radikal neue Lösungen, wie sie von Architekten propagiert wurden, zum Tragen kamen, lohnt es sich, sich an das Paradoxon zu erinnern, auf das Lutz Niethammer bereits 1978 aufmerksam gemacht hat. Niethammer verwies darauf, dass es nicht zuletzt die dramatische Zerstörung – und der damit verbundene Verlust an Struktur, Stabilität und Identität – gewesen war, die funktionelle Kontinuitäten schuf. Niethammer argumentierte, dass es aufgrund der überaus dramatischen Folgen der Zerstörung in zahllosen zentraleuropäischen Mittel- und Großstädten keine »Dispositionsmasse« für einen radikalen Neubeginn gegeben habe. Bereits der Mangel an Experten oder die ›Faktizität‹ der unterirdischen Infrastruktur setzten selbst in Warschau, wo ein Neuanfang aufgrund der umfassenden Zerstörungen unumgänglich war, enge Grenzen.34 Das Spannungsverhältnis zwischen »odbudowa«, also dem pragmatischen Wiederaufbau und »przebudowa«, dem visionären Umbau, wurde engagiert diskutiert.35 Entgegen zahlreicher Stimmen, die für eine gänzliche Aufgabe Warschaus oder zumindest von dessen Hauptstadtfunktion plädiert hatten, argumentierte der wiederbegründete Berufsverband polnischer Architekten 33 Zu Neufert: Prigge, Ernst Neufert. 34 Niethammer, Deutsche Stadt, S. 152–154. 35 Chmielewski, Warszawa odbudowana.

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(Stowarzyszenie Architektów Polskich, SARP) bereits im Dezember 1944, dass der Hauptstadtcharakter Warschaus und der Wiederaufbau der Stadt sich gegenseitig bedingten. Ohne die unmittelbare Erklärung Warschaus zur Hauptstadt des wiedergegründeten Polens sei der Wiederaufbau zum Scheitern ver­urteilt. Von Beginn an war der Wiederaufbau der Hauptstadt eine nationale Frage, damit aber auch eine Frage der Bewährung des neuen politischen Regimes, die sich vor allem in der Dimension der zentralen Institution des Wiederaufbaus, des Biuro Odbudowy Stolicy (BOS) zeigte. Lech Niemojewski, einer der führenden Köpfe der polnischen Vorkriegsarchitektur, ermahnte seine Kollegen Anfang 1945, sich im Wiederaufbau Warschaus als »des polnischen Soldaten«, also der als heroisch empfundenen Opferbereitschaft, würdig zu erweisen.36 Trotz der umfassenden Verstaatlichung des Bodens, des enormen Zerstörungsgrads und der gigantischen Planungskörperschaften entstand auch in Warschau kein Mekka der Moderne. Dem entgegen standen nicht nur die üblichen Trägheiten (vor allem mangelnde finanzielle und technische Mittel), sondern die gegenläufige Dynamik des Nationalkommunismus, für den Altstadtrekonstruktion und sozialistischer Realismus vorrangig waren. Selbst Exponenten der modernen Schule – die noch während des Krieges eine teilweise Beseitigung der Altstadt für denkbar hielten – insistierten nach 1945 darauf, dass das alte Warschau den Einwohnern zurückgegeben werden müsse, um diesen eine Identifikation zu ermöglichen.37 Überspitzt formuliert, war der Wiederaufbau der Altstadt als Identitätsanker auch deshalb notwendig, weil die politische Legitimation des neuen Regimes so schwach war. Andererseits waren die Architekten an genau diesem Nexus interessiert und hatten durch Jan Zachwatowicz gegenüber Bierut schon früh die Chancen zur Einigung der polnischen Gesellschaft durch den Wiederaufbau herausgestellt. Selbst Architekten, die  – aus sehr verschiedenen Gründen  – innerhalb des BOS isoliert waren oder in Opposition ausschieden, glaubten an das Potential, aber auch das Recht der Architekten, eine bessere Gesellschaft zu schaffen.38 Es ist offenkundig, dass sich in der nationalen und politischen Aufladung des Wiederaufbaus der Hauptstadt Chancen für Architekten boten. Die Dimension des BOS war in Europa unerreicht. Die in Polen vom aus Moskau zurückgekehrten Architekten Edmund Goldzamt vertretene Devise »national in der Form, sozialistisch im Inhalt« markierte allerdings auch den Preis, der für die Architekten zu entrichten war.39 Die massive Staatsintervention durch die Errichtung umfassender, zentralstaatlich gelenkter Planungsstäbe und die Einbettung des Wiederaufbaus in die Planwirtschaft erwies sich für die Architekten mehr und mehr als einengende Umarmung. Freie Architekten existierten um 1950 fast nicht mehr und kamen erst in der zweiten Hälfte der 1950er wieder auf. 36 37 38 39

Gieysztor/Durko, Warszawa, S. 524 f. Zur Diskussion um den Wiederaufbau der Altstadt: Majewski, Ideologia, S. 50–59. Vgl. Friedrich, » … a better, happier world.«, S. 99–104. Goldzamt, Zagadnienie, S. 15–47.

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In seiner 250 Seiten starken und 1948 erschienenen Reflektion über den Architektenberuf aus dem Jahr 1946 reflektierte Lech Niemojewski die Negativbilanz der nur vordergründigen Idealallianz von Planern und Planwirtschaft und versuchte, durch den Rückbezug auf christliche Deutungsmuster den gefühlten Dilemmata seines Berufes gerecht zu werden.40 Niemojewski, der in den 1930er Jahren noch hypermoderne, nahezu futuristische Entwürfe für das neue Warschau erstellt hatte, prangerte nun die »satanische« Architektur des Nationalsozialismus an, die er als Ausbund urbanistischen Größenwahns und Effizienzglaubens begriff. Albert Speer sei zwar der  – sicherlich nicht normativ verstanden  – »größte Urbanist des 20.  Jahrhundert«, aber habe eben auch das Deutsche Reich in eine Gartenstadt der Peinigungen« verwandelt. Ausschließlich durch die Besinnung auf das Christentum könne der Architekt seine Bestimmung finden: »Nur dann, wenn Du in Deinem Herzen das Licht [des christlichen Glaubens] trägst, wirst Du ein echter Architekt.«41 Während Niemojewski das Buch mit seiner Professur bezahlte, reagierten jüngere Kollegen noch entschiedener durch Auswanderung und ergriffen die Chancen, die sich in Basra, Bagdad oder Accra ergaben und erzwangen so gewissermaßen persönlich eine Internationalisierung ihres Schaffens, die in Polen selbst nicht mehr möglich war.42

IV. Grenzen der Gestaltungskraft: Architekten in der Bundesrepublik. Ernst May Die Situation in Deutschland unterschied sich von der in Polen in zumindest drei wesentlichen Punkten: Die deutlich geringer ausgeprägte utopisch-ideologische Orientierung der re-etablierten bürgerlichen Gesellschaftsordnung, damit zusammenhängend, zweitens, die politische Verhinderung einer Verstaatlichung des innerstädtischen Bodens und schließlich die aus der deutschen Teilung resultierende Abwesenheit eines zentralen hauptstädtischen Wiederaufbauprojekts. All dies hatte erhebliche Implikationen für die Architekten. Die – wenn auch kurzfristige und brüchige – Allianz zwischen Politik und Architekten, die polnischen Experten erlaubt hatte, lange vor dem Kriegsende konzipierte Pläne zur Verstaatlichung des Bodens nach 1945 umzusetzen, fehlte zum Leidwesen der Architekten in Westdeutschland. »Ohne Enteignung gäbe es heute noch keine Eisenbahn«, klagte etwa Ernst May angesichts der aus seiner Sicht kontraproduktiven Bestimmungen des Grundgesetzes zum Schutz des Eigentums.43 Die nicht erfolgte Enteignung des privaten Bodens formte eine unüber40 Niemojewski, Uczniowie Cieśli. 41 Ebd., S. 98 f., 46. 42 Generell: Stanek/Avermaete, Cold War. Zur zunehmenden Eingrenzung des internationalen Blickfeldes polnischer Architekten auf die Sowjetunion vgl. Crowley, Paris, insbesondere S. 781–785. 43 May. Der Plan-Athlet, in: Der Spiegel, 4.5.1955, S. 33.

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windbare Hürde für ambitionierte Pläne wie Hans Scharouns Vision, Berlin in eine Stadtlandschaft umzuformen, oder für den Berliner Kollektivplan von 1945/1946. Anhand des in den vergangenen Jahren wieder stärker in den Blickpunkt der Forschung gerückten Ernst May lassen sich die Erwartungen an Architekten, aber auch die mangelnden Einflusschancen selbst der herausragenden Vertreter des Faches in der Bundesrepublik aufzeigen. May war neben Gropius und wohl stärker noch als Otto Bartning einer jener Architekten, die sowohl vor 1933 als auch nach 1945 erheblichen Einfluss auf die deutsche Architektur ausübten. Der »Spätheimkehrer vom Kilimandscharo« hatte immerhin 25 Jahre nicht mehr in Deutschland gelebt, als er sich ab den frühen 1950er Jahren zum Stichwort­ geber der Architekturdiskussion der jungen Bundesrepublik aufschwang.44 Nach­ Stationen als Frankfurter Stadtbaurat, vier Jahren in der Sowjetunion ab 1930 und dann zwei Jahrzehnten in Ostafrika prägte May bei seinem ersten Besuch in der Bundesrepublik 1950 das anschließend schnell popularisierte Wort von der »verpassten Chance« des Wiederaufbaus.45 May war durch alte Verbindungen – seinen ehemaligen Mitarbeiter und nunmehrigen Hamburger Oberbaudirektor Werner Hebebrand – und eine leitende Funktion in der ›Neuen Heimat‹ extrem schnell und an führender Stelle in die bundesrepublikanische Planungs- und Architekturszene integriert worden. Dabei half May, dass er die biederen »Neue Heimat Monatshefte« nach dem Muster seines früher in Frankfurt erprobten Erfolgsmodells mit der Zeitschrift »Das neue Frankfurt« vollkommen neu konzipierte und zur Durchsetzung seiner Ideen nutzte  – neben Rundfunkbeiträgen und Wochenschaufilmen.46 Mitte 1955 widmete der »Spiegel« ihm die Titelgeschichte und unter dem Titel »Der Plan-Athlet« ein bemerkenswertes Porträt. Präsentiert wurde May hier als »breitschultriger … Riese« im »Mercedes 180 D«, der kleinmütige Hamburger Verwaltungsbeamte über deren »Flickschusterei und Zahnlückenfüllung« belehrte.47 In der Charakterisierung Mays als »1,91 Meter große[r] Koloss mit dem Schädel eines römischen Feldherrn, der Frisur eines Dandys, den Händen eines Athleten und dem naiven Eigensinn eines Kindes als menschlicher Bulldozer« klingt noch etwas von den Architekturheroen der Zwischenkriegszeit an, die wie Gropius im Sturm das intellektuelle Amerika oder wie Le Corbusier das fortschrittliche Europa erobert hatten. May, so der »Spiegel«, werde sich durch nichts beeindrucken lassen, sobald er, »wie weiland Ritter Parzival, den Gral vor Augen« sehe. Gleichzeitig aber illustriert das Beispiel May die engen Grenzen des Gesellschaftsgestalters in der frühen Bundesrepublik. Tatsächlich klagte May, dass »anstatt den Krieg als Zerstörer in den Krieg als großzügigen Schöpfer umzuformen, wir, von wenigen Ausnahmen ab­gesehen, 44 45 46 47

Ebd., S. 31. Voigt, Stratege, S. 237. Seidel, »… aus einer Situation«, S. 222 f. May. Der Plan-Athlet, in: Der Spiegel, 4.5.1955, S. 30–37.

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allgemein auf kleine und kleinste Konzeptionen« stoßen, die der »Dynamitwirkung des Autos«, ein Zitat das auf den ehemaligen Berliner Stadtbaumeister Martin Wagner zurückging, nicht Rechnung getragen hätten. May vermisste den großen Plan, zu dem seine näher an der deutschen Realität der zwölf Jahre verbliebenen Kollegen aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr in der Lage waren oder sein wollten.48 Auch seine Verweise auf leuchtende Vorbilder aus Daressalam und Mombasa waren nicht dazu angetan, die Nachlassverwalter Speers in Deutschland zu überzeugen. Mays Überzeugung, dass alte Grundstücksgrenzen das Hauptproblem des Wiederaufbaus seien, teilten allerdings auch weitaus moderatere Architekten wie Rudolf Schwarz. Ohnehin war auch Mays Ehrgeiz nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs gebremst. Zwar formulierte er, er wolle »noch einmal eine große Sache« machen, konkret aber ging es ihm darum, die neuen gigantischen – und auch tatsächlich gebauten – Siedlungen als Nachbarschaft zu organisieren und so auf menschliches Maß zu reduzieren. Die von Lewis Mumford und vielen anderen vor allem angelsächsischen Planern gepriesene neighbourhood unit galt May als Antidot gegen die von David Riesman 1950 diagnostizierte »einsame Masse« und Garant des »Heimatgefühls« bei Wahrung der Vorteile der Großstadt.49 Gegenüber den »Archikraten« der 1930er und 1940er Jahre, denen die der Nachbarschaftseinheit in vielem ähnelnde Siedlungszelle als Keimzelle der neuen rassisch definierten Volksgemeinschaft galt (nicht zuletzt in den neuen Siedlungen im Osten), war dies eine bescheidene Erwartungshaltung.50 May räumte ein, dass sicher die Intellektuellen über seine leicht spießig wirkenden Visionen die Nase rümpfen würden, hielt aber fest, dass »der Durchschnittsbürger nur glücklich im kleinen Zirkel« sei.51 Wiewohl politisch unverdächtig, war auch für May klar, dass nach den Exzessen des Nationalsozialismus die Eingriffe der Architekten in das Leben des Individuums beschränkt bleiben mussten. Allerdings stand dies für ihn, wie für viele andere Architekten der frühen Bundesrepublik, nicht im Gegensatz zur Forderung nach weitreichenden Planungskompetenzen und Eingriffen in die bestehende Eigentumsordnung.52 Auch dies hatte Scharoun bereits früh, 1946, formuliert: »Wir müssen aus den natürlichen Ge­ gebenheiten, aus den sozialen Bedingungen und aus den menschlichen Unter­ lagen die ›Neue Stadt‹ bauen.«53 48 Ebd., S. 31 f. 49 Riesman, Lonely Crowd. 50 Necker, Konstanty Gutschow, S. 13. Zur Evolution des Konzepts: Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft, S. 117–119. 51 May. Der Plan-Athlet, in: Der Spiegel, 4.5.1955, S. 37. 52 Diese Verschränkung findet sich auch im klassischen Diskussionsbeitrag von Mitscherlich, Unwirtlichkeit. 53 Vortrag in der 9.  Sitzung des Bauwirtschaftsausschusses der Abteilung Planungen des Magistrats der Stadt Berlin am 4. April 1946, in: http://www.bpb.de/gesellschaft/staedte/ wiederaufbau-der-staedte/64357/grundlinien-der-stadtplanung [letzter Zugriff: 4.11.2015].

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V. Die verwirklichte Utopie? Die potentielle Spannung zwischen Planungsanspruch und menschlichem Maß im »technischen Zeitalter« nach der Erfahrung des Weltkrieges und des Nationalsozialismus war allerdings ein europäisches Thema und erklärt die Relevanz des Falles Warschau auch für die westliche Welt.54 Kurz bevor die Abkehr von der Zwischenkriegsmoderne in Warschau fühl- und sichtbar wurde, hatte Max Frisch, seinerzeit noch vorrangig Architekt, bei einem Besuch Warschaus 1948 geradezu euphorisch das herausgestellt, was Ernst May in Deutschland vermisste. Frisch, der die Kriegszerstörungen deutscher Städte gut kannte, betonte die Einzigartigkeit Warschaus, der ersten Stadt, auf die Bomben fielen, der »Silhouette der irren Zerstörung«.55 Vor allem aber strich er die Einzigartigkeit des Wiederaufbaus heraus: »Entscheidend ist natürlich das Gesetz, das, erlassen unmittelbar nach Kriegsende, den ganzen Boden von Warschau als staatliches Eigentum erklärt. … Tabula rasa, damit ist die erste Voraussetzung für wirklichen Städtebau erfüllt, Aufhebung des Grundeigentums, zum ersten Mal hat der moderne Städtebau eine wirkliche Chance, nachdem er seit Jahrzehnten überall gelehrt wird.« Andernorts bleibe der Stadtplaner zum Träumen verdammt – »ein Kampf gegen Parzellen«. Warschau hingegen habe »freie Hand«. Viel spreche dafür, dass »die außerordentliche Chance, eine Stadt unseres Jahrhunderts zu bauen, vollauf begriffen und genutzt wird«. Obgleich er die Warnzeichen für eine andere Entwicklung erkannte, glaubte Frisch, dass die Architekten gegenüber dem Staat die Entwicklung in den Händen behalten würden.56 Frisch schloss sich damit einer ganzen Phalanx ausländischer Besucher an, die äußerst erwartungsvoll und positiv auf Warschau blickten. Als vorbildlich galt vor allem der Fokus auf die Gemeinschaftseinrichtungen. Generell wurde die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse der Gemeinschaft als zentraler Schwerpunkt der Nachkriegsarchitektur anerkannt.57 Der Soziologe David Riesman, der Helena und Szymon Syrkus auf ihrer Amerikareise im Frühjahr 1946 anlässlich der Eröffnung der Warsaw lives-Ausstellung in Chicago getroffen hatte, lobte enthusiastisch die soziale Qualität der Warschauer »community plans« der unmittelbaren Nachkriegsphase.58 Die Konsolidierung des sozialistischen Systems und die zeitgleiche, wenn auch nicht dauerhafte Durchsetzung des sozialistischen Realismus führten allerdings zu einem Bruch, der mit dem weitgehenden Ende internationaler Kontakte polnischer Architekten und der Verdrängung der Zwischenkriegsmoderne einherging. Der zeitgenössische pol54 Zur Kontinuität biologistischer Ideen: Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft, S. 247–251. Zur Idee der Gemeinschaft bei bundesdeutschen Architekten nach 1945: ebd., S. 256–266. 55 Max Frisch, Tagebuch 1946–1949, Frankfurt a. M. 1985, S. 265 (29.8.1948). 56 Ebd., S. 273 f. (3.9.1948). 57 Ministry of Reconstruction (Hg.), Physical planning, Warschau 1946, S. 2, 27. 58 Riesman, Some Observations. Generell: Kohlrausch, Zentralität.

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nische Publizist und studierte Architekt Leopold Tyrmand sprach von einem »Anschlag auf eine wirkliche Internationalisierung« des Wiederaufbaus.59 Für Tyrmand, der die spezifische Leistungsfähigkeit der Planwirtschaft im Wiederbau in einem technischen Sinne anerkannte, bestand ein direkter Zusammenhang zwischen der Einschränkung internationalen Austausches und den in seinen Augen mittelmäßigen Ergebnissen des Wiederaufbaus im architektonischen Sinne.60

VI. Die Deutungskraft der Architekten In Westdeutschland wirkten die Faktoren, die in Polen nach 1948 die städte­ bauliche Entwicklung begrenzten – mangelnde Internationalität und wirtschaftliche Mittel – nicht oder deutlich weniger. Es gibt kaum eine andere Periode der deutschen Geschichte, in der so erhebliche Teile des  – stetig steigenden  – Sozialprodukts in den Bausektor gingen. Über die (Teil-)Rückkehrer aus den USA, Mies und Gropius, deutsche Vorbildbauten etwa von Aalto oder Le Corbusier, eine intensive Diskussion des internationalen Baugeschehens in Fachzeitschriften und diverse Expertenkommissionen mit westdeutscher Beteiligung schlug die internationale Architekturdiskussion schnell und tiefgreifend durch, auch wenn die bundesrepublikanische Architektur internationalen Tendenzen eher nach- als vorauslief. Fraglich bleibt allerdings, warum das utopische und gesellschaftsgestaltende Potential der Zwischenkriegsmoderne kaum mehr zum Tragen kam – zumal angesichts der ungleich größeren Umsetzungschancen radikaler Projekte. Dies ist vor allem durch den Blick auf die Situation und das Selbstverständnis der Architekten zu erklären. Nicht umsonst überschrieb der Bauhausmit­ begründer und Verbandsvorsitzende des Bundes Deutscher Architekten (BDA), Otto Bartning, seine Jahresrede 1953 mit dem Titel »Keine Zeit«.61 Der extrem schnelle Wiederaufbau schuf die Beschäftigungsmöglichkeiten, die in den 1920er Jahren gefehlt hatten. Allerdings hatte der Mangel an Möglichkeiten, Pläne auch umzusetzen vor dem Krieg theoretische Reflektion und abstrakte Planung befördert. In den Erinnerungen Helmut Hentrichs, eines der führenden Architekten der 1950er und 1960er Jahre, fehlt selbst nachträglich jede ideelle Begründung seines Tuns nach 1945 gegenüber ausführlichen Berichten über Auftragsakquise und schnellen Fortschritten der eigenen Karriere.62 Hentrich prägte mit seinen Hochhäusern, Verwaltungsbauten und Konzernzentralen die 1950er und 1960er Jahre wie wenige andere Architekten, während Politik im 59 60 61 62

Tyrmand, Dziennik, S. 203. Ebd., S. 202 ff. Abgedruckt in: Gaber, Entwicklung, S. 279–289. Hentrich, Bauzeit, S. 189–225. Auch Hentrich hatte einen Platz auf der sogenannten »Gottesbegnadetenliste« bekommen.

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Sinne eines erzieherischen und gestalterischen Auftrags für ihn allenfalls von nachrangiger Bedeutung war. Für die Architekten als Profession stand im Vordergrund, die im National­ sozialismus erreichten Privilegien einer berufsständischen Organisation zu wahren und den Einfluss freier Architekten gegenüber den massiv wachsenden – und von den Architekten schnell mit Speer’schen Vorläufern verglichenen – Bau­ bürokratien zu behaupten.63 Ihre Forderungen artikulierten die Architekten über den elitären BDA, der ab 1934 innerhalb der Reichskulturkammer erstmals den Schutz der Berufsbezeichnung Architekt durchgesetzt hatte. Dem neu­gegründeten BDA ging es nicht zuletzt darum, den mit der Auflösung der Reichskulturkammer endenden Status wieder zu erreichen. Gleichzeitig zieht sich durch die Reden des BDA-Vorsitzenden Bartnings von 1950 an ein Drängen auf politischen Einfluss »um so unserem Volk Halt und Gestalt zu geben«. Den »Regierungen« rief Bartning zu: »Darum geht es. Darum braucht ihr uns. – Und Ihr wißt es auch.«64 Bartning bot Politik und Öffentlichkeit die Architekten als ordnende Kraft an, die nach den Verwerfungen des »Dritten Reiches« und des Krieges der neuen Ordnung eine Form geben könnten. Dies und das Beharren auf Eigenständigkeit gegenüber Bauherren und Staat schloss direkt an die Diskussion der 1930er Jahre an – wie in vielem der Baustil und das Führungspersonal in den Verbänden. Obwohl die Protagonisten des Speer’schen Städtebaus allenthalben wieder in einflussreichen Positionen saßen – und etwa das Bauwesen Düsseldorfs geradezu monopolisiert hatten – fehlten nun Forderungen nach monumentaler Umgestaltung der Städte. Was blieb, war das Beharren auf der Autonomie der Experten und der Forderung nach politischem Gehör.65 Wenn die Gestaltungsansprüche der westdeutschen Architekten also weniger aufgegeben wurden als nicht mehr zum Tragen kamen, hatte das viel mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der 1950er Jahre zu tun. Es fehlte nicht nur ein herausragendes Hauptstadtprojekt, sondern es fehlte auch an dis­kursiver Vereinheitlichung, wie sie der Funktionalismus der 1920er gekannt hatte, und vor allem an politischem Willen und Bedarf nach architektonischer Radikalveränderung. Für die von den Architekten eingeforderte Verstaatlichung des Bodens fehlte nicht nur der politische Wille der konservativ-liberalen Führungsschicht, sondern im aufkommenden Kalten Krieg auch die Bereitschaft, gerade in diesem neuralgischen Punkt östlichen Vorbildern zu folgen.66 Anlässlich der Verleihung des Goethepreises 1961 klagte Walter Gropius über Konfusion und Chaos im westdeutschen Bauwesen. Der verlorengegangene 63 Otto Bartning, »Jeder Bau ist ein Bekenntnis« (Hannover 1951), abgedruckt in Gaber, Entwicklung, S. 260–270, hier S. 263. 64 Otto Bartning, Das heilige Bauen mit freien Architekten (Bad Dürkheim 1950), abgedruckt in: ebd., S. 253–259, hier 255 (Rede 1950). 65 Zu den Chancen der Selbstidentifikation als Experte im Systemumbruch vgl. Necker, Konstanty Gutschow. 66 Literarisch verarbeitet wurde dieses Problem bei Wolfgang Koeppen, Das Treibhaus, Stuttgart 1953.

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»Glaube« sei das Hauptproblem. Schließlich seien die Architekten außerwählt, die Gesellschaft als Ganzes zu gestalten. Allerdings könnten sie aus Mangel an Vollmachten ihre Entwürfe nicht durch- und umsetzen. Für Gropius führte dies zu einem Zeitpunkt, als die architektonische Moderne immer stärkere Zweifel hervorrief, zu Zweifeln an der Demokratie und Sympathie für jene Macht­ haber, die sich »zu Recht oder Unrecht, als echte Repräsentanten des Volkes fühlten«, solange diese »die Eingebung und das Können der Architekten durch ihre klare, unbestrittene Autorität in die Tat« umsetzten.67 Bereits 1957 hatte Gropius, als herausragendes persönliches Symbol des besseren Deutschland und »Praeceptor Germaniae« mit enormer Meinungs-, aber nicht Gestaltungsmacht ausgestattet, den Hansischen Goethepreis der Stadt Hamburg entgegengenommen. In seiner Preisrede beklagte Gropius, dass »die Werkzeuge der Zivilisation [uns] allmählich über den Kopf [wuchsen]« und verabschiedete sich damit spektakulär von den radikalen Technikvisionen seiner Bauhauszeit.68 Gropius’ Wortmeldungen, hochgradig schwankend und in sich widersprüchlich, sind damit auch Symptome für das Abhandenkommen einer verbindenden Thematik und Vision der Architekten. In den Darmstädter Gesprächen diskutierte zwar zu Beginn der 1950er Jahre mehrfach eine illustre Mischung aus bundesdeutschen Architekten und Intellektuellen Fragen der gesellschaftlichen Bedeutung von Architektur.69 Allerdings zielte die Diskussion, ausgehend von Martin ­Heideggers Vortrag »Bauen, Wohnen, Denken« (1951) vorrangig auf anthro­ pologische Fragen.

67 Zitiert nach Düwel, Architekt, S. 164. 68 Walter Gropius, Vortrag anlässlich der Verleihung des Hansischen Goethe Preises 1956, in: Gedenkschrift zur Verleihung des Hansischen Goethe-Preises 1956 der gemeinnützigen Stiftung Freiherr von Stein zu Hamburg durch die Universität Hamburg, Hamburg 1956, S.  16–26. Zum Kontrast mit früheren Positionen von Gropius als Bauhausdirektor: Koehler, Bauhaus, S. 28. Vgl. auch die 1956 in der Fischer-Bücherei herausgegebenen Wortmeldungen von Gropius zu aktuellen Anlässen: Gropius, Architektur. Zur GropiusVerehrung in der Bundesrepublik vgl. Betts, Bauhaus-Legende, S. 283–285. 69 Vgl. die in Darmstadt initiierte Diskussion um Martin Heideggers Vortrag »Bauen, Wohnen, Denken«, abgedruckt in: Moravánszky, Architekturtheorie, S. 510–515. Vgl. auch die lakonische Stellungname von Rudolf Schwarz »Das Anliegen der Baukunst«, in: Lampugnani, Architekturtheorie, S. 188 f. An der sehr kontroversen Diskussion beteiligt waren u. a. José Ortega y Gasset, Alfred Weber, Hans Scharoun, Hans Schwippert, Ernst Neufert, Otto Bartning, Paul Bonatz und Max Taut. Zur anthropologischen Richtung insbesondere die Stellungnahme des Architekten Heinrich Lauterbach.

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VII. Die fehlende Zentrale Im Gegensatz zur extrem breiten und positiven Rezeption Warschaus als modernster Stadt Europas in der DDR ,70 lassen sich in bundesrepublikanischen Fachzeitschriften, aber auch in der allgemeinen Presse, zunächst kaum Reaktionen auf die architektonische Entwicklung östlich der Oder finden. Die doppelte Blickverengung überkommener historischer Überlegenheitsvorstellungen und des Kalten Krieges erlaubte es westdeutsche Architekten nur sehr begrenzt, unvoreingenommen auf das Warschauer Beispiel zu sehen.71 Eine Ausnahme bildet ausgerechnet ein ausführlicher Bericht Hans Stephans in der Bauwelt 1958. Hans Stephan, rechte Hand Speers als Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt und seit 1956 Senatsbaudirektor für West-Berlin, beschrieb die Kriegszerstörungen ohne Illusionen, benannte präzise die historischen Traditionen der Entwicklung Warschaus, insbesondere im 20. Jahrhundert, und lobte vor allem den Aufbau der Altstadt, während ihm der gigantische Kulturpalast im Zentrum der Stadt, mit Mitteln der Sowjetunion und nach Moskauer Vorbild errichtet, als jenseits der Proportionen der Stadt erscheint.72 Stephan berichtete über eine eindrucksvolle Wiederaufbauleistung, größtenteils zweckmäßige städtebauliche Lösungen, aber sicher nicht mehr über Warschau als das Monument der und für die Moderne, das Frisch in der frühen Nachkriegszeit zu sehen geglaubt hatte. Bemerkenswert ist weiterhin, dass Stephan trotz der enormen lebensgeschichtlichen und sicher auch weltanschaulichen Unterschiede mit großer Vertrautheit über die Warschauer Lösungen berichtet. Ohne dass dies reflektiert wird, ist für ihn offenbar selbstverständlich, dass Architekten über Grenzen hinweg an den gleichen Problemen arbeiteten. An einem extremen Beispiel tritt hier der europäische Charakter des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg hervor, in dem die Bundesrepublik qua Dimension hervorstach aber sicherlich nicht qualitatives Vorbild war. Nicht zuletzt angesichts der herausgehobenen Position Stephans und des Zeitpunkts seiner Beobachtung ist sein Beitrag signifikant. Er bezeichnet eine Leerstelle, die sich in der konsolidierten Bundesrepublik immer stärker abzeichnete. Städtebauliche Unentschiedenheit und Ausdruckslosigkeit stand in dieser Deutung stellvertretend für die mangelhafte Sinngebung und auch Identitätsangebote des neuen Staates. Indirekt zog Stephan eine Negativbilanz des 70 Neues Deutschland, 22.7.1949. In der Berliner Zeitung und im Neuen Deutschland erschienen beinahe jährlich zum polnischen Tag des Wiederaufbaus am 22.  Juli umfassende Artikel, die die polnischen Beispiele als Vorbilder für den eigenen Wiederaufbau beschrieben. 71 Als Vorbild – siehe die zitierte Arbeit von Kuchenbuch – diente vor allem Schweden, aber interessanterweise als ebenfalls neuer Staat in Teilsegmenten auch Israel. Vgl. Wilhelm/ Gust, Neue Städte. 72 Stephan, Wiederaufbau.

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Wieder­aufbaus, die über Mays Bedauern über den ausgebliebenen großen Wurf hinausging. Stellt man die kritischen Einwürfe von Gropius oder die frühen kritischen Bemerkungen Mays dem positiven Bericht Stephans gegenüber, gerät das Fehlen einer eindeutigen westdeutschen Hauptstadt als Ort politisch-gesellschaftlicher Ambition und Vision in den Blick. Zwar veranschaulichte das Provisorium Bonn früh den Anspruch neuer Nüchternheit und gläserner Transparenz. Aber Bonn lieferte keinerlei Vision gesellschaftlicher Gestaltung. Deutschland fehlte ein zentraler Ort der Rekonstruktion und Vision und des Durchgriffs der zentralen politischen Instanz – die selbstredend ohnehin erst vier Jahre nach Kriegsende etabliert wurde.73 In Polen hingegen spielten Architektur und Architekten als Kollektiv eine Rolle, die weit über das eigentliche Bauen hinausging und etwa in der Bezeichnung des wichtigsten Ordens der Volksrepublik – »Baumeister der Volksrepublik Polen« – anklingt. Der Wiederaufbau war in jeder Hinsicht Staatsaufgabe und Bewährungsprobe des kommunistischen Regimes. Die von den Architekten nahe­zu einhellig begrüßte Verfügungsgewalt über den städtischen Boden als, wie der Architekt Szymon Syrkus urteilte, »Demokratisierung des Raumes« ist hierfür Symptom und war gleichzeitig Grundlage weitreichender Erwartungen.74

VIII. Fazit Nicht nur wegen immer noch virulenter Ost-Stereotype und wegen des Kalten Krieges wäre es sicher zu hoch gegriffen, in Warschau ein Vorbild für bundesrepublikanische Architekten zu sehen. Aber in den wenigen Stellungnahmen westdeutscher Architekten zu Warschau klingt durchaus mehr als pflichtschuldige Anerkennung angesichts eines schlechten historischen Gewissens an. Zwei Punkte stechen in den zeitgenössischen Stellungnahmen hervor: Die Durchführung des Wiederaufbaus als politische, wirtschaftliche und städtebauliche Leistung, aber auch die im Vergleich ungebrochene nationale Tradition mit der Hauptstadt als Abbild historischer Größe und nationaler Aspirationen. Dem standen nur eine Anzahl Berliner Masterpläne gegenüber, deren Scheitern aufgrund der deutschen Teilung und ungeklärten Hauptstadtfrage indirekt auch die westdeutsche Architekturdebatte geschwächt und die Stimmen der Architekten im öffentlichen Diskurs – eben weil ihnen der Fokus fehlte – weniger hörbar gemacht hatte. Die Sinngebungsleerstelle des westdeutschen Wiederaufbaus hatte zweifellos mit den enormen faktischen Anforderungen der Wohnungsnot zu tun, aber auch mit der kleinteiligen und föderalen Struktur des neuen Staates. Sie verweist 73 Die konkurrierenden Ziele – auch in den Bauprogrammen der Alliierten – beklagte Otto Bartning. Vgl. Gaber, Entwicklung, S. 282. 74 Friedrich, Modernitätsbegriff, S. 315–318, Zitat 315.

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jedoch auch auf den Charakter der frühen Bundesrepublik, in der Ernst May mit seinen aus der Zwischenkriegszeit stammenden gesellschaftlichen Gestaltungsansprüchen wenig Resonanz fand. Letztlich bezeichnet dies die durch die Erfahrung des Nationalsozialismus induzierte Leerstelle. Der bekannte Staatsstil der ästhetischen Nüchternheit hatte eine nicht zufällige, wenn auch nicht notwendige Entsprechung in der Weigerung staatlicher Stellen, auf die von vielen Architekten – wenn auch oftmals sehr vage – vorgebrachten Gestaltungsforderungen einzugehen. Dabei spielte sicherlich eine Besonderheit der Bundesrepublik, das immer mitgedachte Urteil des Auslandes, eine wesentliche Rolle.75 In starker Vereinfachung lässt sich diese bauliche Zurückhaltung auch als Skepsis gegenüber den Architekten als Erziehern und Gestaltern als Modernisierung begreifen. In der Bundesrepublik wurde architektonischer Einfluss nicht mehr aufgrund sozialer Visionen der Architekten verteilt  – und wenn dies so war, dann als fernes Echo der Weimarer Republik und der für diese prägenden Figuren wie May oder Gropius. Während in Polen das Charisma des sozialen Architekten in die Planungsbürokratien der Volksrepublik diffundierte, bot der Rückzug auf den Status des technischen Experten in Westdeutschland die vielversprechendste Überlebensstrategie in den 1950er und 60er Jahren. Dies gilt zumindest für die große Mehrheit der Architekten, denen die Aura des Bauhauses und des Exils fehlte. Als dann Ende der 1950er Jahre die Kritik am Wiederaubau nicht mehr nur dessen Formensprache, sondern auch dessen verstärkt negativ wahrgenommene soziale Folgen in den Blick nahm, die sich, aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, in den bekannten Schriften von Alexander Mitscherlich und Wolf Jobst Siedler äußerte, gewann die Architekturdebatte wieder an Fokus.76 Allerdings, auch wenn dies sicher von Mitscherlich so nicht intendiert war, bedeutete die Stoßrichtung auch, dass der Glaube an den Architekten als Gestalter des Sozialen weiter abnahm. Der Blick auf die Architekten in Polen zeigt, bei allen Problemen der Vergleichbarkeit, insbesondere zwei Unterschiede zwischen den beiden Ländern auf: Die Abkehr der Bundesrepublik vom monumentalen Baustil des Nationalsozialismus machte den Weg frei für den insbesondere in der Rückschau positiv erscheinenden nüchternen Stil der neuen westdeutschen Demokratie. Dieser Stil bedeutete aber auch eine – gewünschte – Entkoppelung von Politik und Architektur, und damit Architekten, die von den Zeitgenossen durchaus negativ ge­sehen wurden. Für den »ungeschriebenen Vertrag« der in Polen den Architekten im Austausch für Engagement im Aufbau des sozialistischen Staates weit­reichende Chancen für die Umsetzung der architektonischen Ideen der Vorkriegszeit zusicherte – auch wenn dies nur zeitlich begrenzt funktionierte – gab es in der Bundesrepublik nie eine Entsprechung.77 75 Vgl. Oestereich, Umstrittene Selbstdarstellung. 76 Mitscherlich, Unwirtlichkeit; Siedler, Gemordete Stadt. 77 Friedrich, Modernitätsbegriff, S. 313.

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Neben der bekannten, aus der Erfahrung des Nationalsozialismus abgeleiteten baulichen Zurücknahme und Nüchternheit kennzeichnete die Architekten in der frühen Bundesrepublik – und dies fällt im Kontrast mit Polen besonders auf  – die weitgehende Abwesenheit tiefgreifender sozialer und politischer Gestaltungsansprüche- und Chancen, die in Polen zumindest bis zur Durchsetzung des Sozrealismus existierten. Während sich dies auch als eine eher unbewusste Erfolgsgeschichte der Einhegung der »enthemmten« Sozialingenieure des Nationalsozialismus lesen lässt, verweist es doch auch auf den für die Bundesrepublik typischen Mangel einer politisch-sozialen Vision  – auch aufgrund des problematischen Bezugs zur Nation. Es wäre sicherlich ertragreich, zukünftig die Architekten des europäischen Wiederaufbaus stärker in ihren grenzüberschreitendenden Bezügen  – ideell beziehungsweise in formalen Austauschbeziehungen organisiert – zu untersuchen. Für die Bundesrepublik als Staat aber auch politisches Projekt scheint es dabei bezeichnend, dass es bis weit in die 1960er, wenn nicht 1970er Jahre dauerte, bis ihre Architekten international als typisch bundesrepublikanisch rezipierte Bauten schufen.

Silja Behre

Wo liegt »1968«? Die historische Einordnung der 68er Bewegung in Deutschland und Frankreich

Filmsequenzen und Bilder aus der westdeutschen Nachkriegsgeschichte flimmern über die Wände, während der ehemalige Außenminister Joschka F ­ ischer durch einen dunklen Raum schreitet und kommentiert. Er erzählt von der »kleinen radikalen Minderheit«, der Zuschauer sieht Polizisten, die Demonstranten auseinander jagen; Fischer berichtet von seiner Jugend im »Junge-UnionMilieu« und seiner Entwicklung zum Minister. Die Geschichte der Bundesrepublik ist seine Geschichte. Der Regisseur Pepe Danquart hat mit dem Kinofilm »Joschka und Herr­ Fischer« aus dem Jahre 2011 eine der Meistererzählungen um die 68er Bewegung filmisch umgesetzt. Es ist die Geschichte vom Aufstieg einer Generation, die im als autoritär beschriebenen Nachkriegsdeutschland aufwuchs, gegen diese Atmosphäre rebellierte, dabei fälschlicherweise an die Revolution glaubte, über die Stränge schlug und so – nolens volens – schließlich dazu beigetragen habe, die Bundesrepublik demokratischer und liberaler zu gestalten. Die Bundesrepublik als Geschichte von Generationen und im Falle Joschka Fischers als der sogenannten »68er Generation« zu erzählen, ist eine Version der westdeutschen Nachkriegszeit als Entwicklungs- und, implizit, Erfolgsgeschichte. Und auch wenn die Geschichte der Bundesrepublik nicht als Biographie einer Generation erzählt wird, folgen bisherige zeithistorische Forschungen in ihrer historischen Darstellung der Bundesrepublik einem prozessualen Verlauf aufwärts, westwärts, vorwärts. Unabhängig von der Generationenerzählung hat Andreas Rödder zwei Erfolgsgeschichten unterschieden, die den Blick auf die Bundesrepublik prägen.1 Zum einen die Geschichte von Stabilität und Wachstum, angesiedelt auf »staatlich-politischer Ebene«, eine »politisch eher bürgerliche[…] Lesart«.2 Ihr gegenüber stellt er die Erzählung von »Individualisierung und Pluralismus«, von »Liberalisierung«, »Emanzipation« und »Demokratisierung«, die er auf »soziokulturelle[r] Ebene« verortet, als »tendenziell linke« Version charakterisiert und die in der 68er Bewegung den Motor einer Entwicklung von einer autoritären zu einer liberaleren Gesellschaft sehe.3 Rödder unterscheidet zwei Kategorien  – 1 Vgl. Rödder, »Modell Deutschland«, S. 345–363. 2 Ebd., S. 346. 3 Ebd.

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»staatlich-politisch« und »soziokulturell« –, die nicht nur den Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik prägen, sondern, wie dieser Beitrag zeigen wird, auch Kategorien im Deutungskampf um die 68er Bewegung und ihre Rolle in dieser Geschichte sind. Folgt man Edgar Wolfrum, dann scheint die Rolle der 68er Bewegung für die Geschichte der Bundesrepublik festzustehen: »’68 wird heute gemeinhin ein Doppelcharakter bescheinigt: Politisch sei die Bewegung gescheitert, aber soziokulturell habe sie erhebliche Folgewirkungen gehabt. […] Zugleich hat es sich eingebürgert, von den unintendierten heilsamen Effekten für die Stabilität der Bundesrepublik zu sprechen. […] So war eine Verwestlichung der Bundesrepublik zwar nicht intendiert, trat aber ein.«4

Die Erzählung von politischem Scheitern und kulturellem Erfolg sowie von den unbeabsichtigten, in der Rückschau jedoch als positiv bewerteten vermeintlichen Folgen der 68er Bewegung prägt den zeithistorischen Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte. Diese Interpretation aber ist, so wird im Folgenden argumentiert, das Ergebnis der Deutungskämpfe um die 68er Bewegung in der Bundesrepublik, aber auch in Frankreich.5 Denn auch dort hat sich diese Interpretation für den französischen Mai 1968 etabliert und auch dort prägen die Kategorien »politisch« und »kulturell« die Auseinandersetzungen um seine Bedeutung. Ausgehend von der Frage, inwiefern die historische Vergleichsperspektive den Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik verändert, rekonstruiert dieser Beitrag jene Prozesse, die in der Bundesrepublik und in Frankreich zur Deutung vom politischen Scheitern und kulturellen Erfolg der 68er Bewegung geführt haben. Wie kam es zu dieser Homogenisierung in der Wahrnehmung einer Protestbewegung, die das staatliche und institutionelle Monopol auf Politik infrage gestellt, die Politik jenseits von Parteien und des Parlaments erprobt und die Definition von »Politik« zu erweitern gesucht hatte? Welche Prozesse führten dazu, dass sich ein Urteil etabliert hat, das die 68er Bewegung mit einem traditionellen Politikbegriff misst und bewertet, dessen Revision und Erweiterung Anspruch der intellektuellen Neuen Linken war? In einem ersten Schritt werden die Verortungen der 68er Bewegung in einer Auswahl deutscher und französischer historischer Überblicksdarstellungen zueinander in Beziehung gesetzt, um jene Erzählungen herauszuarbeiten, die sich in beiden Ländern als historische Interpretationen etabliert haben. Anschließend werden in vergleichender Perspektive Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Historisierungsprozessen der 68er Bewegung in beiden Ländern herausgearbeitet. Schließlich steht am Ende die Frage: Inwieweit ermöglicht ein deutsch-französischer Vergleich der um die 68er Bewegung geführten Deutungskämpfe eine veränderte Perspektive auf die Geschichte der Bundesrepublik? 4 Wolfrum, 1968, S. 29. 5 Die Ergebnisse dieses Beitrags basieren auf der Dissertation »Bewegte Erinnerung. Deutungskämpfe um ›1968‹ in deutsch-französischer Perspektive« (2014), die 2016 im Verlag Mohr Siebeck Tübingen erscheinen wird.

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Die 68er Bewegung in den Nachkriegsgeschichten der Bundesrepublik und Frankreichs – ein Überblick

Welchen Platz hat die 68er Bewegung in den historischen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Bundesrepublik und in Frankreich? In den 1980er Jahren gaben Karl Dietrich Bracher, Theodor Eschenburg, Joachim Fest und Eberhard Jäckel eine fünfbändige historische Darstellung der Bundesrepublik als »Erfolgsgeschichte« heraus, die in erster Linie die Stabilität der parlamentarischen Institutionen hervorhob.6 In dem von Klaus Hildebrand verfassten vierten Band wurde die 68er Bewegung aus dieser Perspektive zu einer der »extremistische[n] Herausforderungen«, doch habe ein »erstaunlich anpassungsfähige[s] […] System« die Impulse der Protestbewegung »integriert, bürokratisiert und kommerzialisiert«.7 Dennoch spricht Hildebrand der »Außerparlamentarischen Opposition« Wirkungen zu.8 Sie habe ihr »Ziel, den »liberalen Staat als angeblichen Interessenverwalter des Kapitals und der Repression zu zerschlagen« nicht erreicht. Doch war es gelungen, »mannigfachen politischen und sozialen Wandel von nicht geringem Ausmaß in Gang zu bringen, der zu weitgehenden Veränderungen im öffentlichen und individuellen Bewußtsein führte«.9 Klaus Hildebrand folgt in seiner Einordnung der 68er Bewegung der dichotomischen Einteilung von staatspolitischen Zielen und »sozialem Wandel« auf der Ebene des »Bewußtseins«. Kurze Zeit nachdem der vierte Band der »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« 1984 erschienen war, kam es zum »Historikerstreit« der 1980er Jahre, in dem sich neben anderen auch Klaus Hildebrand und HansUlrich Wehler gegenüber standen. Obwohl beide Historiker in unterschiedlichen historiographischen Traditionen stehen, kontrastiert auch Wehler im fünften Band seiner Gesellschaftsgeschichte den in staatspolitischer Hinsicht vermeintlichen Misserfolg der 68er Bewegung mit dem langfristigen Erfolg in anderen Bereichen. »Politisch ist die deutsche 68er-Bewegung rundum gescheitert«.10 Doch sei »ihr politisches Scheitern« zugleich ein »Erfolg« der von der 68er Bewegung »ebenfalls verkörperten ›Lebensstilrevolution‹«.11 Auch hier erscheint als »politisch« das, was den Staat betrifft. Zugleich spricht sich Wehler gegen die 68er Bewegung als Zäsur und Auftakt einer Reformphase aus, denn diese sei »längst vor 1968 in Gang gesetzt« worden.12 Ganz ähnlich urteilt Edgar­ Wolfrum, der in seiner Geschichte der Bundesrepublik als »geglückter Demo6 Zur historischen Verortung der DVA-Bände in den geschichtspolitischen Entwicklungen der 1980er siehe: Rüdiger, Goldene Fünfziger, S. 160 f. 7 Hildebrand, Erhard, S. 365. Als sechster Band der Reihe erschien 2006: Wirsching, Provisorium. 8 Hildebrand, Erhard, S. 375. 9 Ebd. 10 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 317. 11 Ebd., S. 320. 12 Ebd., S. 311.

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kratie« den Akteuren der 68er Bewegung ihre Rolle in den konstatierten gesellschaftsverändernden Prozessen abspricht: »Die 68er waren nicht die Vorkämpfer von Emanzipation und Partizipation, denn die Dekade des Wandels und der Liberalisierung hatte bereits vor ihnen eingesetzt«.13 Als eigentliche Erfolge erscheinen die nicht-intendierten Folgen der 68er Bewegung: »Was jedoch im Rückblick als Verdienst der 68er erscheinen mochte, war nicht selten vor allem das Ergebnis der Kritik an ihnen oder wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht, wie erwähnt, bereits lange vor 1968 eine fundamentale Liberalisierung von Politik, Kultur und Gesellschaft eingesetzt hätte.«14

Mit dieser Deutung der 68er Bewegung knüpft Wolfrum an Heinrich August Winklers Einschätzung und an Ulrich Herberts Interpretation der »fundamentalen Liberalisierung« an.15 Auch in seiner jüngsten, 2014 erschienenen Überblicksdarstellung zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert schreibt Herbert unter dem Topos von »Reform und Revolte« der 68er Bewegung die Rolle zu, »die zuvor bereits angelegten Entwicklungen hin zu einer weniger autoritären, liberaleren Gesellschaft« beschleunigt und ausgeweitet zu haben.16 Eine Ausnahme, sowohl was den Umfang als auch die Interpretation der 68er Bewegung angeht, stellt die Darstellung von Manfred Görtemaker dar, der die Protestbewegung unter der Kapitelüberschrift »Umgründung der Republik« ausführlich verhandelt.17 Görtemaker sieht im Regierungsantritt Willy Brandts 1969 eine Zäsur des »Neubeginns«, das Aufkommen einer Aufbruchsstimmung, die durch die »Studentenbewegung« und eine »allgemeine Werterevolution« vermittelt worden sei.18 Folgt man seiner Darstellung, so prägte ein »Zeitgeist« die Atmosphäre, der die Grundlagen für den »politischen Umbruch« durch die Kanzlerschaft Brandts legte.19 Mit dem Postulat einer durch die 68er Bewegung vorbereiteten Zäsur am Ende der 1960er Jahre folgt der Potsdamer Historiker der Deutung der Protestbewegung als Beginn einer neuen Phase gesellschaftspolitischer Veränderungen, wie sie in den 1980er Jahren etwa auch Jürgen ­Habermas formuliert hat, als er von der Zäsur von 1968 im Hinblick auf »einen aufgelockerten Zustand der politischen Kultur« und einer »Liberalisierung in den Lebens- und Umgangsformen« sprach.20

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Wolfrum, Demokratie, S. 268. Ebd., S. 270. Winkler, Weg nach Westen, S. 252 f. Herbert, Geschichte, S. 862. Vgl. Görtemaker, Geschichte. Als »bisherige Ausnahme«, was die Darstellung der 68er Bewegung in historischen Überblickswerken betrifft, bezeichnet Henning Marmulla Görtemakers Beitrag in: Marmulla, Kursbuch, S. 381, Anm. 970. 18 Görtemaker, Geschichte, S. 475. 19 Ebd. 20 Jürgen Habermas in einem 1988 geführten Interview mit Angelo Bolaffi, in: Habermas, Revolution, S. 21–28, hier S. 28.

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Zäsur oder keine Zäsur? An dieser Frage scheiden sich die Überblicksdarstellungen zur deutschen Geschichte, auch weil »1968« seit dem Mauerfall 1989 und der Wiedervereinigung 1990 auf halber Strecke zwischen dem Ende der alten Bundesrepublik und ihrer Gründung liegt. In Frankreich herrscht dagegen eine andere Zeitrechnung. Der Blick auf die Zeitgeschichte wird von dem Begriff der »Trente Glorieuses« geprägt, jenen dreißig Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Entwicklung einer Konsumgesellschaft zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Mitte der 1970er Jahre. Wie ordnen französische Geschichtsdarstellungen die Ereignisse um »1968« in die Nationalgeschichte Frankreichs ein? Als der Historiker René Rémond 1988 auf »Notre siècle«, auf »unser Jahrhundert« zurückblickte, das er in seinem Geburtsjahr 1918 beginnen lässt und das so auch »sein« Jahrhundert ist, überschrieb er das Kapitel zur 68er Bewegung mit der Chiffre »68«, ohne Titel, ohne Erklärung.21 Das Datum scheint für sich zu stehen. Für Rémond, der zu den einflussreichen Historikern Frankreichs gehört und immer wieder auch als Zeitdiagnostiker in den Medien auftrat, zeichnet sich »die Krise« durch ihren paradoxen Charakter aus. Auf den ersten Blick habe sie nichts verändert. Auf den zweiten Blick sei nichts mehr so wie vorher.22 Rémond begründet dies mit dem »esprit de mai 68«, dem »Geist« der 68er Bewegung. Diese sei »nicht politisch im eigentlichen Sinne« gewesen, denn sie habe sich nicht für die staatlichen Institutionen, an denen sie stets vorbei marschierte, interessiert.23 Zudem habe sie keinen alternativen Verfassungsentwurf präsentiert. Vielmehr habe die 68er Bewegung auf Veränderungen im Bereich der Kultur und des Sozialen gezielt, wo sie bis in die Gegenwart fortwirke.24 Das Diktum vom politischen Scheitern und kulturellem Erfolg der 68er Bewegung kommt in der Darstellung Rémonds nicht vor. Und es ist doch präsent: Denn­ Rémond folgt einer semantischen Trennung, die die Auseinandersetzungen um die 68er Bewegung auch in Frankreich prägt: »politisch« versus »sozial/ kulturell«.25 Aus dem Umkreis von Rémond am Institut d’Études Politique Paris (­Sciences Po) gingen mit den Darstellungen der Historiker Serge Berstein und Pierre Milza weitere französische Geschichtskompendien hervor. Berstein und Milza verhandelten in ihrer fünfbändigen »Histoire de la France au XXème siècle« die 68er Bewegung auch unter dem Stichwort der »Krise«, die sie in eine studen­tische 21 22 23 24 25

Vgl. Rémond, Notre siècle. Ebd., S. 693. Ebd., S. 694. Ebd., S. 694, 698. Rémond problematisiert zwar die anti-institutionelle Stoßrichtung der 68er Bewegung, deren Projekt der Gesellschaftsveränderung von der Universität ausgegangen sei, ohne sich gegen die Institution und andere staatliche Institutionen an sich zu richten. In seiner Darstellung bleibt das Adjektiv »politisch« semantisch an Institutionen geknüpft. Doch plädiert er im ebenfalls 1988 erschienenen »Pour une histoire politique« für eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Politikgeschichte: Rémond, Histoire.

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und eine soziale Phase unterteilen.26 Der Erzählung der Ereignisse folgt in einem den kulturellen Praktiken und der Massenkultur gewidmeten Kapitel ein Abschnitt zur »Génération 68«, in dem Berstein und Milza den intellektuellen und politischen Horizont der geburtenstarken Jahrgänge der 1940er Jahre zeichnen, der von ihnen so genannten Generation der »baby boomer«.27 Die Autoren lesen die Infragestellung dominierender Norm- und Wertvorstellungen als Ausdruck eines klassischen Generationenkonflikts. Sie folgen mithin jener Generationengeschichte, die sich in der französischen Geschichtswissenschaft auch unter dem Einfluss von Jean-François Sirinelli in den 1980er Jahren als Paradigma etabliert hat.28 Dennoch bleiben Berstein und Milza in ihrer Geschichte Frankreichs weder einer ausschließlich französischen noch rein generationellen Lesart verhaftet. Zum einen schreiben sie einer der zentralen Trägergruppen der deutschen 68er Bewegung, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), einen wichtigen Einfluss auf die Protestgruppen in Frankreich zu und heben mithin den transnationalen Charakter der Proteste hervor.29 Zum anderen verweisen sie auf die Orientierung der »Génération 68« an den Schriften der Neuen Linken. Was das Politische betreffe – »Au chapitre du politique« – konstatieren Berstein und Milza zwei Aspekte: die Infragestellung des politischen und wirtschaftlichen Systems sowie das von der Situationistischen Internationalen inspirierte Streben nach »autonomie« jenseits des Engagements in den politischen Gruppen der traditionellen Linken.30 Das Politische läuft bei Berstein und Milza nicht auf die Erzählung vom politischen Scheitern zu. Gleichzeitig folgen sie der Erzählung der unintendierten kulturellen Folgen der 68er Bewegung: Deren »Ideen« seien in den 1970er Jahren von breiten gesellschaftlichen Schichten aufgenommen worden, wobei ihr innovativer Charakter von jener »Konsumgesellschaft« absorbiert worden sei, die sie doch eigentlich habe zerstören wollen.31 Eine »List der Geschichte«? Zuletzt hat 2010 die Historikerin Michelle Zancarini-Fournel gemeinsam mit dem Historiker Christian Delacroix eine Darstellung der Zeitgeschichte Frankreichs seit 1945 vorgelegt.32 Mit Zancarini-Fournel hat eine Spezialistin der französischen 68er Bewegung eine Zeitgeschichte verfasst, in der es, wie die beiden Autoren in einem Interview erklären, auch darum ging, etablierte Periodisierungen wie die »Trente Glorieuses« aufzubrechen.33 Die 68er Bewegung wird 26 Berstein/Milza, Histoire, S. 80 ff. 27 Ebd., S. 254 f. 28 Siehe: Azéma, La clef, S. 3–10; Sirinelli, Génération, S. 67–80. 29 Berstein/Milza, Histoire, S. 263. 30 Ebd., S. 265 f. 31 Berstein/Milza, Histoire, S. 267. 32 Vgl. Delacroix/Zancarini-Fournel, France. 33 Interview mit Michelle Zancarini-Fournel und Christian Delacroix: http://www.cliocr.clionautes.org/entretien-avec-michelle-zancarini.html.VR2L0ktlvbR [letzter Zugriff: 24.7.2015].

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in dieser Perspektive zum Beginn neuer Möglichkeitsräume. Sie habe, so die Autoren, mit den antiautoritären Protestformen und Forderungen die liberalisierenden Reformen des Abtreibungs- und Scheidungsrechts und der Familien­ politik unter dem gaullistischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing vorbereitet und ermöglicht.34 Keine direkten Auswirkungen der Protestbewegung auf die politischen Institutionen der V. Republik, so auch das Resümee dieses Bandes, doch langfristig habe der französische Mai 68 die Präsidentschaft François Mitterrands ermöglicht und wird als »rupture«, als »Bruch« in den soziokulturellen Normen und der sozialen und politischen Organisation des Landes bewertet.35 Einige der hier vorgestellten Überblicksdarstellungen erwähnten die Rolle der 68er Bewegung in anderen Ländern, die Mehrzahl aber ging über die nationalstaatliche Perspektive nicht hinaus. Dagegen hat die von Michael Werner und Thomas Maissen herausgegebene Reihe zur deutsch-französischen Geschichte eine explizit transnationale Perspektive. Mit Blick auf die geschichtliche Einordnung der 68er Bewegung in Deutschland und Frankreich versteht die Autorin des Bandes zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1963, Hélène Miard-Delacroix, das auf die ehemaligen Akteure der Protestbewegung zurückgeführte Urteil vom politischen Scheitern und kulturellen Erfolg als Ausgangspunkt der weiteren Historisierung: »Der […] Doppelcharakter der 68er Bewegung als politischer Fehlschlag mit tiefgreifenden soziokulturellen Auswirkungen  – insbesondere der sogenannten Verwest­ lichung der Bundesrepublik – führte zur Auffächerung der neueren Forschung in drei Stränge […].«36

In eine deutsch-französischen Darstellung der 68er Bewegung hat diese Deutung Einzug gehalten, ebenso wie in den Überblicksdarstellungen zur deutschen Geschichte. Dagegen findet sich in den Darstellungen zur Geschichte Frankreichs die Rede vom »politischen Scheitern und kulturellem Erfolg« der 68er Bewegung nicht, auch wenn die Kategorien »politisch«, »sozial«, »kulturell« die Inter­pretationen prägen. Nicht die universitären Historiker haben in Frankreich das Diktum vom Scheitern und Erfolg wirkmächtig übernommen und geprägt, vielmehr waren es ehemalige Akteure der 68er Bewegung und ihrer Nachfolge­ gruppierungen, wie im Folgenden gezeigt wird.

34 Delacroix/Zancarini-Fournel, France, S. 444. 35 Ebd., S. 445. 36 Miard-Delacroix, Zeichen, S. 153 f.

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II. Wer macht Geschichte? Historisierungskämpfe um die 68er Bewegung in der Bundesrepublik und Frankreich Die historische Einordnung der 68er Bewegung als politisch gescheitert und kulturell erfolgreich ist das Ergebnis der seit den 1970er und 1980er Jahren geführten Historisierungskämpfe. In ihnen wurde und wird nicht nur das Politische der Protestbewegung anhand der Kategorien »politisch« und »kulturell« ausgehandelt, sondern auch die Frage: Wer schreibt die Geschichte der 68er Bewegung? Sind es die Akteure selbst, die Zeitzeugen? Sind es die Journalisten? Sind es die Historiker als professionelle Deuter und Verwalter der Vergangenheit? Und: Wann beginnt die Historisierung? Ist der zeitliche Abstand zum historischen Ereignis die Bedingung einer als objektiv verstandenen Geschichtsschreibung?37 Versteht man unter Historisierung den Beginn der wissenschaftlichen Objektivierungsbestrebungen durch die Geschichtswissenschaft, dann wird in der Forschungsliteratur zur 68er Bewegung ihr Beginn auf die 1990er Jahre datiert, als universitäre Historiker die ersten Studien zu den 1960er Jahren und der 68er Bewegung vorlegten. Doch reagierten sie auf frühere Historisierungsinitiativen, vorangetrieben von ehemaligen Akteuren der 68er Bewegung sowie von informellen Zirkeln an Universitäten, an Forschungseinrichtungen und in Verlagen, wie im Folgenden skizziert wird. Es besteht ein Zusammenhang, so der französische Politologe Bernard Lacroix, zwischen der Position der Interpreten im Feld, zwischen ihrer Nähe zur staatlichen Macht, deren Monopol über die Definition des Politischen und den Deutungen der Interpreten.38 Das heißt: Wer Politik als Sache traditionell organisierter Parteien und die staatlichen Institutionen als einzig legitimen Ort der Politik versteht, tendiert auch dazu, die Proteste mit einem Politikbegriff zu bewerten, dessen Erweiterung ein Anspruch der antiautoritären 68er Bewegung gewesen war. So haben sich vor allem jene Deutungsakteure als legitime Interpreten etabliert, die die 68er Bewegung mit einem traditionellen, an Parteien und Institutionen gebundenen Politikverständnis bewerteten, dessen Erweiterung gerade ein Anspruch der antiautoritären 68er Bewegung gewesen war. Diese Prozesse lassen sich in den Deutungskämpfen in beiden Ländern beobachten und trugen zur Konstruktion der Interpretation vom politischen Scheitern und kulturellen Erfolg der Proteste bei. Zum einen waren es ehemalige Mitglieder von Gruppen, die sich in Reaktion auf den Zerfall der 68er Bewegung vom erweiterten Politikbegriff der antiauto­ ritären und anti-institutionellen Strömung verabschiedet und sich  – oft nach marxistisch-leninistischem Organisationsmodell  – wieder an einem traditionellen, also institutionengebundenen Politikverständnis orientierten. Nach der

37 Zum Beispiel bei: Claus Leggewie, Die edle Revolte. Bilanz eines Gedenkjahres, in: Frankfurter Rundschau, 17.12.1988. 38 Vgl. Lacroix, 1968, S. 3–6; ders., D’aujourd’hui.

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Selbstauflösung ihrer Gruppierungen gegen Ende der 1970er Jahre neigten sie dazu, diese Erfahrung rückwirkend auf die 68er Bewegung als Ganzes zu projizieren.39 So resümierte 1978 zum Beispiel Alain Geismar, der nach dem Zerfall der französischen 68er Bewegung zur maoistischen Gauche Prolétarienne gestoßen war, gleichsam erleichtert, dass der französische Mai 68 keine politischen Folgen – »pas de prolongements politiques« – gehabt habe.40 1988 schrieb der Journalist Laurent Joffrin, dass es der kulturelle Teil des Mai 68 sei, der leise triumphiere.41 Verschärft wurde die Rhetorik des politischen Scheiterns in Frankreich noch durch die Debatte um die sogenannte Nouvelle Philosophie, die 1977/78, kurz vor dem zehnjährigen Jubiläum des Mai 68, in Frankreich entbrannte. Junge Philosophen, an prominenter Stelle André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy, erteilten dem als totalitär charakterisierten Utopieglauben der 68er Bewegung eine Absage.42 Die Begriffe »politisch« und »die Politik« wurden semantisch mit »totalitär« und »Totalitarismus« verknüpft, und das politische Engagement in maoistischen Nachfolgegruppierungen der 1970er Jahre, von dem sie sich als Nouveaux Philosophes lossagten, geriet zur Folie für die Interpretation der 68er Bewegung. Die 68er Bewegung wurde durch den Filter der marxistisch-leninistischen, nun als »totalitär« beschriebenen Erfahrungen der 1970er Jahre bewertet. In der Bundesrepublik verfuhren ehemalige Mitglieder der sogenannten »K-Gruppen« ganz ähnlich, wenn sie den Utopieglauben der 68er Bewegung ausgehend von ihrem Engagement in marxistisch-leninistischen Parteien retrospektiv als »totalitär« beschrieben, wie etwa 1988 der Publizist Gerd Koenen.43 Zum anderen ist die Re-Traditionalisierung des erweiterten Politikbegriffs in den in beiden Ländern um »1968« geführten Deutungskämpfen nicht nur ein Ergebnis der 68er-Nachgeschichte der 1970er Jahre. Sie lässt sich bis zur Mobilisierungsphase der 68er Bewegung selbst zurückverfolgen. So geht sie auch auf jene Akteure zurück, die sich schon während der Proteste in einer traditionell organisierten Partei engagiert – in Frankreich etwa in der trotzkistischen Jeunesse Communiste Révolutionnaire – oder die dem antiautoritären Politikverständnis skeptisch gegenüber gestanden hatten, wie in der Bundesrepublik Tilman Fichter, der in den1960er Jahren zum inneren Kreis des Berliner Sozia39 In Frankreich haben führende ehemalige Mitglieder der maoistischen Gauche Prolétarienne die Abkehr vom Glauben an die Revolution und »der« Politik, immer mit Blick auch auf »1968«, in autobiographischer Form popularisiert, zum Beispiel: Le Bris, L’homme; Le Dantec, Dangers. 40 Alain Geismar, Le passage du témoin, in: Le Monde, 3. Mai 1978. Das Diktum vom politischen Scheitern und kulturellen Erfolg findet sich zudem bei ehemaligen Akteuren der 68er Bewegung, die in der Kollektivbiographie und dem Bestseller »Génération« zu Wort kommen: Hamon/Rotman, Génération. 41 Joffrin, Mai 68, S. 319. 42 Die Debatte drehte sich vor allem um die folgenden Publikationen: Glucksmann, Köchin; ders., Meisterdenker; Lévy, La barbarie. 43 Koenen, Die totalitäre Versuchung, S. 27.

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listischen Deutschen Studentenbundes (SDS) gehört hatte. Nach dem Zerfall der 68er Bewegung trug Fichter gemeinsam mit Siegward Lönnendonker, der die Proteste in West-Berlin als Student und Mitglied der Deutsch-Israelischen Studiengruppen interessiert verfolgt und ein privates Archiv aus Flugblättern, Plakaten und Publikationen der politischen Gruppen angelegt hatte, den publizistischen Nachlass der Proteste aus privaten Beständen zusammen. Auf diese Weise legten sie die Grundlage für das Archiv APO und soziale Bewegungen, das heute zum Archiv der Freien Universität Berlin gehört.44 Noch während die Protest­bewegung in der Bundesrepublik auf der Straße Geschichte machen wollte, wurde ihre eigene Geschichtswerdung vorbereitet und nach ihrem Zerfall zu einem enjeu. Fichter und Lönnendonker hatten sich mit dieser Archivierungsaufgabe eine institutionell angebundene Position an dem heute nicht mehr existierenden Institut für sozialwissenschaftliche Forschung geschaffen und arbeiteten ihre biographische Protesterfahrung auch zu wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten aus.45 Schließlich initiierten und organisierten sie im Rahmen eines Forschungsprojektes im Juni 1985 ein Symposium zur Geschichte des SDS .46 Dabei sollte es nicht nur um ein Treffen ehemaliger SDS -Mitglieder gehen, sondern auch darum, weitere Privatbestände für das Archiv zu akquirieren und sich im Rahmen eines Forschungsprojektes zugleich als legitime Instanz der wissenschaftlichen Vergangenheitsverwaltung zu etablieren. Unter den Referenten des Symposiums war auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar, der sich seit den 1970er Jahren als Interpret der 68er Bewegung etabliert hatte, zuerst als Lektor des ehemaligen SDS -Verlags »neue kritik« und seit den 1980er Jahren als Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Beiden – der Gruppe um das APO Archiv und Wolfgang Kraushaar – ist eine Strategie der Vergangenheitsverwaltung gemein: die Delegitimierung des erweiterten Politikbegriffs der antiautoritären Strömung der 68er Bewegung. Tilman Fichter hatte noch während der Hochphase der Proteste 1967/1968 in Berlin dem antiautoritären Politikansatz Rudi Dutschkes kritisch gegenübergestanden. Wolfgang Kraushaar konstatierte am Ende der 1970er Jahre mit Blick auf die Alternativszene, die an das antiautoritäre Politikverständnis der 68er Bewegung anknüpfte, »daß das erst vor wenigen Jahren aus der Taufe gehobene antitraditionalistische Konzept einer ›Politik in erster Person‹ vorerst gescheitert« sei.47 Die Delegitimierung des erweiterten Politikbegriffs zeigt sich sprachlich in historischen Darstellungen, wie in der von Fichter und Lönnendonker verfassten »Kleinen Geschichte des SDS«, wenn der Kommune 1 durch die Benennung als

44 Siehe hierzu die Selbstdarstellung auf der Internetseite des Archivs APO und soziale Bewegungen: http://web.fu-berlin.de/APO -archiv/Stuff/Frames.htm [letzter Zugriff: 1.4.2015]. 45 Vgl. Fichter, SDS und SPD; Lönnendonker, Freie Universität Berlin. 46 Die Symposiumsprotokolle erschienen 1998: Lönnendonker, Linksintellektueller Aufbruch. 47 Kraushaar, Thesen, S. 40.

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»Pseudo-Linke« die Legitimation als »linke«, also auch politische Gruppierung abgesprochen wird.48 Die Delegitimierung des erweiterten Politikbegriffs zeigte sich aber auch organisatorisch, wie die Konflikte um Einladungen und Referentenpositionen im Rahmen des im Juni 1985 an der Freien Universität Berlin organisierten­ SDS -Symposiums belegen. So hatten einige der vorgesehenen Referentinnen aus Protest gegen den programmatischen, »traditionellen« Zuschnitt ihre Teilnahme abgesagt. Sie verknüpften den traditionellen Politikbegriff mit Männlichkeit und schlossen damit an ihre am SDS in der Zerfallsphase der 68er Bewegung geübte Kritik an.49 Während der SDS im Laufe des Jahres 1968 interne Richtungskämpfe ausgetragen hatte und dabei immer mehr zu einem traditionellen Politikkonzept zurückgekehrt war, hatten die Frauen an dem erweiterten, von der intellektuellen Neuen Linken geprägten Politikbegriff festgehalten und konnten ihn  – das Private ist politisch!  – zu einem Charakteristikum der sich formierenden Neuen Frauenbewegung machen.50 So forcierten sie das in der feministischen Literatur der 1970er Jahre retrospektiv gezeichnete Bild des SDS und mit ihm der 68er Bewegung als traditionellen Männerclub. Der gleiche Tenor in Frankreich: Auch hier beschrieben Frauen die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in den Trägergruppen der französischen 68er Bewegung im Nachhinein als ungleich. Die Frauen hätten vor allem die organisatorische Arbeit erledigt, während die Männer an exponierter Position die Rolle der »Redner« und »Denker« übernommen hätten.51 Ergänzt wurden diese weiblichen Deutungen durch die männliche Selbstkritik in Form einer Selbstanklage des SDS und ergo der 68er Bewegung als »Chauvi-Club« oder die Erklärung der Frauenbewegung als Reaktion auf den »machisme« der linken Gruppierungen.52 Da ein Politikansatz, der auf Aufklärung durch Wahrnehmungsveränderung, auf Aktion statt Organisation setzt, nicht auf Dauer zu stellen ist und sich den Ordnungs- und Hierarchiestrukturen traditioneller Parteien und politischer Gruppierungen entzieht, konnten andere als die oft nur wenige Monate existierenden antiautoritären Trägergruppen und Strömungen die Verwaltung der Protest­ vergangenheit übernehmen. In den 1980er Jahren verfestigte sich auf diese Weise das Urteil vom poli­ tischen Scheitern und kulturellen Erfolg der deutschen und französischen 68er Bewegung. Diese Erzählung vom Scheitern der ursprünglichen Ideen und dem Erfolg des Nichtindendierten erleichterte eine Perspektivverschiebung, die den 48 Fichter/Lönnendonker, Kleine Geschichte, S.  104; siehe hierzu beispielsweise: Briegleb, 1968, S. 310, Anm. 13. 49 Vgl. Lönnendonker, Freie Universität Berlin, S. 60; Interview mit Sigrid Damm-Rüger, ExSDS -Genossin, Die lieben Chauvis, in: tageszeitung, 28.6.1985. 50 Siehe hierzu: Schulz, Frauenbewegung. 51 Exemplarisch bei: Storti, Un chagrin politique, S. 75. 52 Das Zitat »Chauvi-Club« stammt von Urs Müller-Plantenberg aus Mündemann, Die 68er, S. 59. Das Zitat »machisme« stammt aus: Weber, Vingt ans après, S. 179.

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Fokus von den historischen Akteuren und ihren Vorstellungen weg und hin zu der Einordnung der 68er Bewegung in einen längeren chronologischen Rahmen richtet. Auf der Grundlage der Annahme, dass die eigentlichen Ziele nicht erreicht worden seien und sich stattdessen die unintendierten Folgen der Proteste erfolgreich durchgesetzt hatten, geriet die Analyse der theoretischen Ideen- und Vorstellungswelt der Protestakteure in den Hintergrund – oder, wie die Soziologen Heinz Bude und Martin Kohli über die »Theorien und Programme, die mit der Studentenbewegung in Verbindung gebracht werden« 1988 schrieben: »Deren Irrtum und Scheitern kann man leicht nachweisen.«53 In Frankreich hat der Historiker François Furet am Beispiel der Franzö­ sischen Revolution eine historische Perspektive etabliert, die Akteursdeutungen, die den historischen Bruch eines Ereignisses betonen, zugunsten einer Einordnung in eine längere zeitliche Dauer vernachlässigt. Zugleich verstand er es, zu Beginn der 1980er Jahre an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris einen Kreis junger Philosophen zu versammeln, die sein Historisierungsparadigma der Französischen Revolution nun auf den Mai 68 anwandten. Unter dem Stichwort »La Pensée 68« hatten die jungen Autoren Gilles Lipovetsky, Alain Renaut und Luc Ferry der von ehemaligen Akteuren der Protestbewegung vertretenen Interpretation der 68er Bewegung als »Bruch« und »Bresche« widersprochen. Gegen die Akteursdeutung des Bruches brachten sie die Kontinuität ins Spiel und fragten, wie sich aus den innerhalb der 68er Bewegung formulierten kollektiven Ansprüchen zwanzig Jahre später der »postmoderne Individualismus« der 1980er Jahre entwickeln konnte.54 Die Antwort lieferten sie, orientiert an der politischen Theorie von Alexis de Tocqueville, in der Argumentationsform der »List der Geschichte«. So wie Tocqueville die Französische Revolution nicht als Bruch in der Geschichte, sondern als unfreiwillige Vollenderin des Ancien Régime gedeutet hatte, interpretierten die jungen Philosophen den Mai 68 als ungewollten Katalysator von Veränderungsprozessen, die bereits vorher gesellschaftlich angelegt waren, aber nicht zu den vermeintlichen Zielen der Bewegung gehört hatten, wie der moderne Individualismus seit 1789. Die Auseinandersetzung um »La Pensée 68« ist Teil der Kämpfe im intellektuellen Feld Frankreichs der 1980er Jahre, geführt zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften. Und dennoch geht die Bedeutung der Auseinandersetzung über die Feld­ grenzen hinaus. Die Argumentationsstruktur der »List der Geschichte« hat sich als Erklärungsmodell für die 68er Bewegung in beiden Ländern etabliert, in der Bundesrepublik prägnant bei Claus Leggewie, der die Debatte um »La Pensée 68« in den 1980er Jahren verfolgt hatte, und 2001 von »1968« als »glücklich gescheiterten Revolution« sprach.55 Die Historisierungsstrategien von ehemaligen

53 Bude/Kohli, Normalisierung, S. 17. 54 Vgl. Ferry/Renaut, La Pensée 68; Lipovetsky, L’ère du vide. 55 Leggewie, 1968, S. 5.

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Akteuren der 68er Bewegung und informellen Zirkeln der Vergangenheitsverwaltung wurden zum Ausgangs- und Bezugspunkt der geschichtswissenschaftlichen Historisierung.

III. Die Historiker werden herausgefordert: Reaktionen in der Geschichtswissenschaft Die universitären Historiker knüpften an die Auseinandersetzungen um die historische Verortung der 68er Bewegung, um Zäsuren und um das Politische der 68er Bewegung an. Zugleich etablierte sich in den Konkurrenzkämpfen um die Interpretationshoheit unabhängig von tatsächlichen biographischen Verbindungen eine Dichotomie zwischen »68er Akteur« und »Wissenschaftler«. Als Ingrid Gilcher-Holtey im November 1997 zu einer Tagung zu »1968« als »Ereignis« und »Gegenstand der Geschichtswissenschaft« lud, formulierte sie die Prämisse, die Deutung der 68er-Ereignisse intersubjektiv überprüfbar zu machen.56 Die Perspektive sollte nicht von dem »Blick der Akteure« geleitet werden, sondern »analytischen Kriterien« folgen.57 Dieser Ansatz, der die Teilnahme von Akteuren nicht ausschließt, wurde als Vorwurf »mangelnder Wissenschaftlichkeit« der Zeitzeugen verstanden.58 Siegward Lönnendonker und Jochen Staadt etwa hielten diesen, wie sie schrieben, »Bielefelder Weg« für »ziemlich abwegig«: »Schreibt sachlich und objektiv nur, wer zeitgenossenschaftlicher Teilnahme und Betroffenheit entrückt ist?«59 Sich der 68er Bewegung historisch jenseits von Akteursdeutungen zu nähern, kam ihnen einer Delegitimation ihrer Sprecherrolle gleich. Ihre Reaktion verweist auf ein Spannungsverhältnis, das nicht im Gegensatz zwischen Zeitzeuge und Historiker aufgeht. Mit ihrer 1995 erschienenen Studie über den französischen Mai 68 hatte­ Gilcher-Holtey eine Analyse der französischen 68er Bewegung als »sozialer Bewegung« und mithin einen Bezugsrahmen vorgelegt, der die Rekonstruktion der Formierung und Mobilisierung der Protestbewegung sowie ihrer kognitiven Orientierung ermöglicht.60 »Bewegungsposition« hat Henning Marmulla diesen Pol der 68er-Forschung genannt, um ihn von dem Pol der »Relativisten« abzugrenzen, die »gewisse Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesse« vor der 68er Bewegung, in den 1950er Jahren verorten und die 68er Bewegung mithin weniger als Motor, sondern vielmehr als Folge dieser Prozesse be­ 56 Die Ergebnisse der Tagung sind erstmals erschienen in: Gilcher-Holtey, Vom Ereignis zum Gegenstand. Der Titel rekurriert auf: Furet, 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft; die zweite Auflage erschien im Suhrkamp-Verlag, siehe Anm.  57. Die Autorin dieses Beitrags gehörte zum Mitarbeiterkreis von Ingrid Gilcher-Holtey. 57 Gilcher-Holtey, Vom Ereignis zum Mythos, S. 7. 58 So beschrieben bei Scharloth, 1968, S. 22. 59 Lönnendonker/Staadt, Vorwort, S. VI . 60 Vgl. Gilcher-Holtey, Phantasie.

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trachten.61 Ulrich Herbert etwa ordnet die 68er Bewegung in die »langen sechziger Jahre« und in den Kontext einer »Fundamentalliberalisierung« ein.62 Gegen die Deutung der 68er Bewegung als Zäsur in der Nachkriegsgeschichte, die »als vermuteter Ursprungsort für die Folgen dieser Umbrüche polarisierende Werturteile geradezu magnetisch« anziehe, stellen Christina von Hodenberg und Detlef Siegfried die Frage, wie sich »1968« zu »der weitergefassten Umbruchperiode« der »›langen sechziger Jahre‹« verhalte.63 Der von der Zäsur-Erzählung der 68er Bewegung zugeschriebene gesellschaftliche Wandel habe bereits früher eingesetzt.64 Es gelte, den Blick »von der bisherigen Konzentration auf die studentischen Akteure des Wandels zu lösen«, um ihn »auf breitere gesellschaftliche Formationen zu richten«.65 Historische Interpretationen der 68er Bewegung jenseits der Akteursdeu­ tungen zu entfalten, so die Bielefelder Prämisse, oder die Perspektive von den Akteuren fort- und zu breiteren gesellschaftlichen Prozessen hinwenden, wie von Hodenberg und Siegfried postuliert: Immer mussten sich die universitären Historiker mit den Deutungen der ehemaligen Träger der 68er Bewegung auseinandersetzen. Dabei ist diese Auseinandersetzung nicht nur als Abgrenzung zu verstehen. Vielmehr zeigen die innerhalb der universitären Geschichtswissenschaft geführten Auseinandersetzungen um die historische Verortung der 68er Bewegung und das Besetzen von Begriffen und Periodisierungen  – »Reform und Revolte«, »Fundamentalliberalisierung« oder »Generation« – wie Akteursdeutungen zu geschichtswissenschaftlichen Interpretationen und Analyse­ kategorien werden können.66 Das gilt für die deutsche und die französische Geschichtswissenschaft, wie der Blick nach Frankreich zeigt. Doch definiert sich die französische 68er-Historiographie stärker als in der Bundesrepublik über ihre Abgrenzung von nicht-universitären Deutungsakteuren. Sie richtet sich vor allem gegen die Interpretationen der als medialen Stars der 68er Bewegung geltenden »Medienphilosophen«. Eine besondere Rolle in den Auseinandersetzungen um die Historisierung der 68er Bewegung spielt das 1978 gegründete Institut d’Histoire du Temps Présent (IHTP) in Paris. Auf einer 1988 organisierten Tagung, die sich der Frage nach dem Verhältnis der Sozialwissenschaften und des Mai 1968 widmete und somit auch ein Versuch der Selbstobjektivierung war, verstanden sich die Teilnehmer implizit oder explizit als Kontrapunkt zu den jungen Philosophen des »La Pensée 68«. Sie analysierten den französischen 61 Zu den »Relativisten« zählt Marmulla, der zu Ingrid Gilcher-Holteys Mitarbeiterkreis gehörte, neben der Forschungsgruppe um Ulrich Herbert auch Axel Schildt und Anselm Doering-Manteuffel: Marmulla, Kursbuch, S. 287. 62 Vgl. Herbert, Liberalisierung. 63 Von Hodenberg/Siegfried, Reform und Revolte, S. 7 f. 64 Ebd., S. 10. 65 Ebd., S. 8 f. 66 Zum Begriff »Fundamentalliberalisierung«, siehe: Gilcher-Holtey, War da was, S. ­103–120. Zur Rolle der Kategorie »Generation« in den Deutungskämpfen um »1968« siehe: Behre, Generation, S. 40–55.

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Mai vor allem hinsichtlich seiner Rolle für die Umbrüche im akademischen Feld seit den 1970er Jahren.67 Der Tagungsband erschien in der Reihe des Instituts und blieb ohne die publizistische Resonanz von »La Pensée 68«. In den 1990er Jahren etablierte das IHTP ein der 68er Bewegung gewidmetes Forschungskolloquium mit internationaler Beteiligung, das die Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtete: Akteure wie Frauen und Arbeiter rückten in den Fokus, die Protestereignisse in anderen west- und osteuropäischen Ländern wurden analysiert, die Rolle der Proteste für das Theater, das Fernsehen und die ­Populärkultur wurden zum Thema gemacht.68 Die Ergebnisse erschienen im Jahr 2000 unter dem Titel »Les années 68. Le temps de la contestation«.69 Mit dem Begriff der »68er Jahre« galt es zum einen, eine historische Deutung der französischen 68er Bewegung jenseits des Etiketts von »La Pensée 68« zu etablieren. Zum anderen ging es darum, den Blick von den wenigen Protestwochen des Jahres 1968 zu lösen und die Ereignisse in die Zeitspanne zwischen dem Ende des Algerienkriegs 1962 und dem Beginn der Präsidentschaft François Mitterrands 1981 einzuordnen. Ist das Forschungsprojekt der »68er Jahre« also das französische Pendant zu der Deutung der »langen sechziger Jahre« in der Bundesrepublik? Zwar gibt es in beiden Ländern Bestrebungen, das Ereignis »1968« in einen längeren Zeitraum einzubetten, doch mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Der Titel des Ergebnisbandes der französischen Historiker deutet es an  – die »Zeit des Protests« akzentuiert das subversive Moment der Proteste, das In­ fragestellen der sozialen Ordnung. Trotz der verlängerten chronologischen Perspektive der »68er Jahre« warnen die Herausgeber vor einer deterministischen Kausalbeziehung zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen der 1960er Jahre und der Formierung der 68er Bewegung.70 Sie ordnen »1968« ein, in eine Phase gesellschaftlicher Umbrüche zwischen den 1960er und den beginnenden 1980er Jahren. Neuere französische Publikationen haben den Schwerpunkt der »années 68« sogar auf die 1970er Jahre gelegt – während die deutschen »langen sechziger Jahre« als den Ereignissen des Jahres 1968 vorgelagert beschrieben werden.71 An dem Forschungsprojekt des IHTP zu den »années 68« beteiligt war auch Michelle Zancarini-Fournel. Sie hat sich immer wieder in die historiographischen Debatten um »1968« eingemischt, als Historikerin und als Zeitzeugin72. Nicht nur die von ihr mit verfasste und im Jahr 2010 erschienene Nachkriegs67 Vgl. Bédarida/Pollak, Mai 68. 68 Eine Übersicht über die zwischen 1994 und 1998 organisierten Kolloquien findet sich in: Dreyfus-Armand u. a., Les années 68, S. 503–505. 69 Ebd. 70 Frank, Introduction, in: ebd., S. 16. 71 Vgl. Artous u. a., La France. 72 Vgl. Zancarini-Fournel, Genre et Politique, S. 133–143; dies., mémoires et commémoration; Artières/Zancarini-Fournel, Une histoire collective.

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geschichte Frankreichs, sondern vor allem ihre der 68er Bewegung gewidmete Forschung versteht sie als Intervention in die Deutungskämpfe. Sie richtet sich gegen die »interprétations culturalistes«, die kulturalistischen Deutungen. Zu diesen zählt sie jene historischen Interpretationen der 1960er Jahre, die diese als »Sixties« beschreiben, als Moment der »kulturellen Revolution«, der Jugendund Konsumkultur, wie die historischen Arbeiten der französischen Kultur­ geschichte von Jean-François Sirinelli sowie das 1998 erschienene Buch »The Sixties« des britischen Historikers Arthur Marwick.73 In den von diesen Arbeiten vorgenommenen Periodisierungen, die den Fokus von den Ereignissen des Jahres 1968 fort und hin zu den Entwicklungen der 1960er Jahre rücken, vermutet die Historikerin eine symbolische Strategie, um den Erfahrungsraum unterschiedlicher sozialer Akteure zugunsten einer »kulturalistischen Interpretation« zu vernachlässigen. Diese von ihr als Reduktion wahrgenommene Perspektive drücke sich paradigmatisch in der Deutung von der politischen Niederlage und dem kulturellen Erfolg der 68er Bewegung aus, die die Rolle der Jugend- und Popkultur akzentuiere und das »Politische« der Proteste ausblende.74 Anders als in der Bundesrepublik positionieren sich, so der Eindruck, französische 68er-Historiker eindeutiger gegen eine als Depolitisierung wahrgenommene »kulturalistische« Perspektive. Sie argumentieren aus der Position des Verteidigers und gehen immer schon von einem politischen Charakter der Proteste aus. Wie in der Bundesrepublik kristallisiert sich auch in Frankreich die Debatte um das Verhältnis zwischen Ereignis und Struktur. Während die historio­ graphische Einordnung der 68er Bewegung in der Bundesrepublik bei einer Gruppe von Historikern von der Prämisse geleitet wird, die 68er Bewegung als Ereignis aufgehen zu lassen in den »langen sechziger Jahren«, plädieren französische Historiker, und mit Boris Gobille auch ein Soziologe, für die Rückkehr zum Ereignis. Sich auf die französische Debatte beziehend, wendet sich Gobille gegen eine chronologische, geographische und soziale Reduktion der Ereignisse auf den studentischen Pariser Mai, gegen die Interpretation einer »génération 68« und gegen das Interpretationsschema der auf die Tocqueville’sche Lesart zurückgehenden »List der Geschichte« und plädiert für eine »sociohistoire du temps court«.75 Die 68er-Forschung der universitären Geschichtswissenschaft ist Teil  der Auseinandersetzung um die Deutung der Protestbewegung und die Kämpfe um das Politische der 68er Bewegung sind eine Facette der Deutungskämpfe, an denen sich Konvergenzen zwischen den Debatten in der Bundesrepublik und in Frankreich aufzeigen lassen. Sie verweisen auf die transnationale 68er Bewegung als gemeinsamen Ursprung. Die Deutungskämpfe wurden aber nicht nur

73 Zancarini-Fournel, Le Moment 68, S. 84 f.; Marwick, The Sixties. 74 Siehe: Zancarini-Fournel, Le Moment 68, S. 86, 87, 90; Sirinelli, La France des sixties. 75 Gobille, L’évènement Mai 68.

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innerhalb des nationalen Rahmens geführt, sondern auch mit dem Blick zum »Anderen«. Zum einen verstanden sich zahlreiche Deutungsakteure als Teil einer ehemaligen internationalen Protestbewegung. Zum anderen boten die Debatten im jeweils anderen Land eine Möglichkeit der Abgrenzung. So wurde die Nachgeschichte der RAF für die französischen Deutungsakteure zu einer Folie, um das Bild einer moralischen und gewaltfreien »68er Generation« zu konstruieren.76 Anders als in Deutschland und Italien mit ihren faschistischen Vergangenheiten sei der Generationskonflikt in Frankreich weniger scharf geführt worden, argumentierte etwa Henri Weber 1988.77 In den Deutungskämpfen um »1968« wurde die NS -Vergangenheit für die Akteure in der Bundesrepublik zu einer doppelten Referenz. In der Konstruktion der »68er Generation« seit dem Ende der 1970er Jahre konnten sie sich sowohl von der Väter- und Tätergeneration abgrenzen  – die 68er Bewegung als Auf­ begehren gegen das Schweigen – als auch mit ihr vergleichen. Spätestens mit dem Historikerstreit in den 1980er Jahren etablierte sich bei den ehemaligen Akteuren der 68er Bewegung in Deutschland ein Diskurs der eigenen Vergangenheitsbewältigung. Was die eigene Protestvergangenheit und deren Nachgeschichte betreffe, sei diese, wie bei den von ihnen angegriffenen Vätern, ausgeblieben.78 Götz Alys 2008 erschienenes »Unser Kampf« mit dem Vergleich zwischen »68ern« und »33ern« knüpft daran an. Dies könnte dann erklären, warum zwar in beiden Ländern die Begriffe »politisch« und »kulturell« die Deutungskämpfe strukturieren, aber sich das Diktum vom politischen Scheitern und kulturellen Erfolg ausschließlich in den Überblicksdarstellungen zur deutschen Geschichte wiederfindet. Es fügt sich in die westdeutsche Nachkriegserzählung als Entwicklungsgeschichte, und zwar in doppeltem Sinne. Das politische Scheitern der 68er Bewegung wird im weitesten Sinne als Scheitern eines politischen und utopischen, tendenziell totalitären Idealismus verstanden und bietet Anknüpfungspunkte zur Auseinandersetzung mit der NS -Vergangenheit. Und auch die Interpretation des kulturellen Erfolgs integriert sich in die Nachkriegserzählung einer westlichen kulturellen Modernisierung.

IV. Der Deutungskampf um »1968« im Vergleich: Eine neue Perspektive auf die Geschichte der Bundesrepublik? Die Erzählungen über die Rolle der 68er Bewegung für die Geschichte der Bundesrepublik – sei es als »Umgründung« (Manfred Görtemaker), als eine Episode der »langen sechziger Jahre« (Axel Schildt) oder als »glücklich gescheiterte Re76 Zum Beispiel bei: Liniers, Objections; Geismar, L’engrenage terroriste; kritisch dazu:­ Sommier, La violence politique. 77 Weber, Vingt ans après, S. 74. 78 Vgl. Peter Schneider, Im Todeskreis der Schuld, in: Die Zeit, 27.3.1987.

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volution« (Claus Leggewie) – folgen dem Modell einer Entwicklungsgeschichte. Um diese Entwicklungsgeschichte zu historisieren, galt es, die Begriffe »politisch« und »kulturell« als Kategorien im Deutungskampf zu historisieren. Denn das haben die Beispiele aus den historischen Überblicksdarstellungen gezeigt: Der Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik bleibt dominiert von einem traditionellen Politikbegriff, der als »politisch« versteht, was sich auf den Staat, seine Institutionen und auf das Tagesgeschäft der Parteipolitik bezieht. Aus dieser Beobachtung resultiert eine erste Perspektivverschiebung auf die Geschichte der Bundesrepublik, begreift man, orientiert an einer Neuen Politikgeschichte, die Grenzen des Politischen als variabel.79 Dabei kann es nicht darum gehen, durch die Hintertür des erweiterten Politikbegriffs der 68er Bewegung nachträglich einen Erfolg im »Politischen« zu attestieren. Vielmehr wird so der Blick auf Gleichzeitigkeiten gelenkt, darauf, dass sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften, aber auch jenseits des Wissenschaftsdiskurses, die Grenzverschiebungen des Begriffs des Politischen infolge der Protestbewegungen der 1960er Jahre als Gemeinplatz durchgesetzt haben – noch einmal: das Private ist politisch! –, während in den Deutungskämpfen um »1968« der traditionelle Politikbegriff zurückkehrte und alles, was in den 1960er Jahren als »politisch« re­ definiert worden war, wieder unter »kulturell« subsumierte. Aus dem Vergleich mit den französischen Deutungskämpfen um »1968« ergibt sich eine zweite Perspektivverschiebung. Der Vergleich ermöglicht, die Darstellung der 68er Bewegung und die Bewertung ihrer vermeintlichen Folgen aus nationalen Engführungen, wie etwa der linearen Kausalbeziehung zwischen 68er Bewegung und RAF-Terrorismus oder dem Vergleich von »33ern« und »68ern« zu lösen.80 Die an einem traditionellen Politikbegriff orientierten Nationalgeschichten und Interpretationen historischer Revolutionen – 1789 und 1848 – prägen die Wahrnehmung der 68er Bewegung und haben somit die Rede vom Scheitern, vor allem im Vergleich 1848/1968, noch forciert.81 Eine dritte Perspektivverschiebung ergibt sich aus dem Verständnis der Auseinandersetzungen um die Deutung der 68er Bewegung als, mit Pierre Bourdieu gesprochen, Kämpfe um die Sicht- und Teilungsprinzipien der sozialen Welt.82 Die Kontextualisierung der Auseinandersetzungen in den intellektuellen Feldkämpfen ermöglicht, die Erzählung von einzelnen Persönlichkeiten zu lösen, sie in über sie hinausgehende intellektuelle Debatten einzubetten und die Etikettierungen und Periodisierungen – Zäsur, Revolte, Revolution – als Kategorien im Kampf um die legitime Deutung zu begreifen. Das bedeutet: Es sind Zuschrei-

79 Siehe hierzu: Frevert/Haupt, Neue Politikgeschichte; Gilcher-Holtey u. a., Political History; sowie, aus der im Wallstein Verlag erschienenen Reihe »Das Politische als Kommunikation«: Weidner, Geschichte des Politischen. 80 Siehe hierzu exemplarisch: Kraushaar u. a., RAF; Aly, Unser Kampf. 81 Zum Vergleich mit historischen Revolutionen, siehe: Gilcher-Holtey, Kontroverse, S. ­58–91. 82 Siehe hierzu: Bourdieu, Sozialer Raum; ders., Was heißt sprechen.

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bungen, die wenig über die historische Rolle der 68er Bewegung aussagen und den Blick zurück auf die Frage nach ihren Wirkungen lenken.83 Das an Bourdieu angelehnte Verständnis der Deutungskämpfe betont die Gleichzeitigkeit der Auseinandersetzungen und bricht mithin die Diachronie der Entwicklungsgeschichte auf, die sowohl der historischen Einordnung der 68er Bewegung als auch der historischen Erzählung der Bundesrepublik gemein ist. Schließlich trägt eine vergleichende und transfergeschichtliche Perspektive auf die Deutungskämpfe zu einer Selbstobjektivierung der Geschichtswissenschaft und ihrer Rolle in der Vergangenheitsdeutung bei. Sie wird gefordert, sich als Teil der Auseinandersetzung zu begreifen, ihre Methoden und analytischen Werkzeuge zu reflektieren und die Dichotomie zwischen »Historiker« und »Zeitzeuge« aufzubrechen: eine Möglichkeit, nicht nur die Geschichte der 68er Bewegung und ihrer Deutungskämpfe anders zu betrachten.

83 In der vom Münchner Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Reihe »Zeitgeschichte im Gespräch« sind zwei Bände mit den Ergebnissen von Fallstudien zu den Wirkungen der 68er Bewegung erschienen, die von jeweils zwei Zeithistorikern kommentiert werden. Die Bände gehen von unterschiedlichen Prämissen aus und vermitteln einen Einblick in die geschichtswissenschaftliche Debatte um die Folgen der 68er Bewegung. Siehe: Wengst, Reform und Revolte; Gilcher-Holtey, Wahrnehmungsrevolution.

Verflechtungsprozesse und ihre ambivalenten Folgen

Petra Terhoeven

Politische Gewalt und transnationale Kommunikation Der Linksterrorismus der 1970er Jahre auf europäischer Bühne

I.

New Left Wave und Deutscher Herbst

In einem der einflussreichsten Beiträge der jüngeren Terrorismusforschung hat der amerikanische Politologe David Rapoport kurz nach den Anschlägen des 11.  September darauf hingewiesen, dass der moderne Terrorismus keineswegs erst in der Gegenwart, sondern seit seinen anarchistischen Anfängen in den 1880er Jahren als zyklisch auftretendes, genuin globales Phänomen zu betrachten sei: »Similar activities occur in several countries, driven by a common predominant energy that shapes the participating groups’ characteristics and mutual relationships«.1 Der ersten terroristischen Welle im Zeichen des Anarchismus sei ab den 1920er Jahren der antikoloniale Terrorismus gefolgt, der wiederum von einer New Left Wave und schließlich einer – bis heute nicht abgeebbten – Welle religiöser Gewalt abgelöst worden sei. Die verschiedenen Attribute definierten dabei nur die jeweils wichtigsten, nicht aber die einzigen Triebkräfte eines jeden Zyklus; charakteristisch seien vielmehr ein Ineinandergreifen der Motive und Praktiken sowie eine ständige Spannung zwischen nationalen und internationalen Elementen. Anders als im Falle von positiv konnotierten Übertragungsphänomenen wie etwa der ›Westernisierung‹ ist die inhaltliche und methodische Herausforderung, die diesem Wellenmodell des modernen Terrorismus eingeschrieben ist, in der Geschichtswissenschaft bislang nur unzureichend angenommen worden.2 »The history of European terrorism as a transnational phenomenon in the long twentieth century remains a surprisingly understudied field of historical research«, bilanzieren Robert Gerwarth und Heinz-Gerhard Haupt.3 Dieser Befund ist zweifellos auch für die in den 1960er Jahren einsetzende New Left Wave gültig. Nun bildeten sich auch in den westlichen Staaten Organisationen, die mit dem transnationalen Selbstverständnis als »vanguards for the Third World masses« gegen ihre eigenen politischen Systeme antraten – allen voran die deutsche Rote Armee 1 Rapoport, Four Waves, S. 47. Eine erste Skizze des 2006 publizierten Beitrags erschien im Dezember 2001. 2 Eine Ausnahme stellt allenfalls die Internationale des Anarchismus dar, vgl. Lemmes, Terrorismus, mit zahlreichen weiterführenden Literaturangaben. 3 Gerwarth/Haupt, Introduction, S. 275.

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Fraktion (RAF) und die italienischen Roten Brigaden (BR).4 Zwar hat Timothy Wickham-Crowley die Entstehung und hartnäckige Persistenz von sozialrevolutionär ausgerichteten Guerilla-Gruppen in zahlreichen Staaten Lateinamerikas früh als wesentlich durch die kubanische Revolution ausgelöstes Übertragungsphänomen beschrieben5 – aber weder ist das Auftauchen von ›Tupamaros‹ und ›Stadtguerilleros‹ in den Großstädten Westeuropas ernsthaft im Sinne eines kulturellen Transfers südamerikanischer Modelle in den europäischen Kontext untersucht worden, noch hat man die transnationalen Verbindungen europäischer Linksterroristen untereinander empirisch ausgelotet.6 Etwas besser, aber ebenfalls keineswegs umfassend erforscht sind ihre Beziehungen zu den palästinensischen Befreiungsorganisationen,7 die nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 dazu übergingen, ihre Anliegen getreu dem erfolgreichen Vorbild des algerischen Front de Libération Nationale (FLN) mithilfe terroristischer Praktiken zu internationalisieren.8 Gerade im deutschen Fall hat das Erschrecken über das erste Auftreten organisierter antisystemischer Gewalt nach dem Untergang der Weimarer Demokratie und dem Staatsterror der Nationalsozialisten im Ergebnis zu stark selbstreferentiellen Deutungen geführt. Für viele Beobachter markierte der Verlauf der Konfrontation zwischen der RAF und dem Staat vor allem nach ihrer dramatischen Eskalation im – nicht zufällig so genannten – Deutschen Herbst so deutlich einen nationalen Sonderweg, dass sich die Frage nach transnationalen Verflechtungen und Wechselwirkungen ebenso zu erübrigen schien wie die Verifizierung bzw. Explikation dieser These im empirischen Vergleich.9 Erst mit dem wachsenden Unbehagen an rein nationalen Deutungsmustern konnten sich in den letzten Jahren verstärkt komparative Perspektiven etablieren, die die beiden gängigen Narrative von den deutschen Terroristen als nachholenden Widerstandskämpfern einerseits und einer auf den Spuren des nationalsozialistischen Maßnahmenstaats wandelnden, hoffnungslos überreagierenden Bonner Demokratie andererseits erheblich differenziert haben.10 Dennoch ist die Frage danach, wie die ungleiche Auseinandersetzung zwischen bundesrepublikanischem Staat und linkem Terrorismus nicht nur in die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts und die Nachgeschichte des »Dritten Reichs«, sondern eben auch in eine global zu denkende New Left Wave einzuschreiben ist, noch keines4 5 6 7 8

Rapoport, Four Waves, S. 56. Wickham-Crowley, Guerrillas. Vgl. allerdings Juchler, Studentenbewegungen. Skelton Robinson, Im Netz verheddert. Für den entscheidenden Einfluss des algerischen Vorbilds auf Arafats PLO vgl. Hoffman, Terrorismus, S. 77. 9 Als frühe Ausnahme vgl. Musolff, Krieg. Gegenstand des Vergleichs ist die Militarisierung der Terrorismusdebatte in der Bundesrepublik und im Nordirlandkonflikt. 10 Vgl. Della Porta, Social Movements; Varon, Bringing the War Home; Tolomelli, Terrorismo. Zur Terrorismusbekämpfung: Dahlke, Demokratischer Staat; De Graaf, Evaluating; Hürter, Terrorismusbekämpfung.

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wegs umfassend beantwortet. Naturgemäß hängt sie eng mit der Ver­ortung des deutschen »1968« innerhalb der internationalen Protestbewegung zusammen, als deren Zerfallsprodukte die sozialrevolutionären bzw. anti-imperialistischen Terrorismen im Westen gelten. Waren die deutschen 68er in erster Linie »Kinder der Verdrängung«?11 Waren Teile der Bewegung latent antisemitisch?12 Oder ist, wie Quinn Slobodian moniert hat, der Anteil, den Studierende aus Ländern der südlichen Hemisphäre an der Mobilisierung und Radikalisierung ihrer deutschen Kommilitonen besessen haben, zugunsten einer rein deutschen bzw. einer deutsch-amerikanischen Erzählung aus der Geschichte herausgeschrieben worden?13 Andere betrachten den Eurozentrismus, den Slobodian der Forschung vorwirft, als ein Charakteristikum der Neuen Linken selbst, die sich zwar in »wohlfeiler Fernstenliebe« gefallen, ansonsten aber eine rein westliche Agenda verfolgt habe.14 Angesichts dieses Forschungsstandes ist es an der Zeit, eine Lesart vorzu­ schlagen, die deutsche, europäische und globale Perspektiven enger als bislang üblich miteinander verbindet.15 Die wichtigste Grundannahme dieses Beitrags lautet daher, dass Genese und Langlebigkeit des sozialrevolutionären Terrorismus weder für die Bundesrepublik noch für Italien aus einer rein nationalen Logik heraus zu erklären sind.16 Obwohl beide Länder nicht – wie etwa Groß­ britannien, Belgien oder Frankreich – in die teilweise höchst blutig verlaufenen Dekolonisierungsprozesse der Nachkriegsjahrzehnte involviert gewesen waren, forderte die Parole, den »imperialistischen« Krieg der »Ersten« gegen die »Dritte Welt« zurück in die Metropole zu tragen, nirgendwo sonst auch nur annäherungsweise so viele Opfer: Starben in der Bundesrepublik zwischen 1970 und 1983 infolge linksterroristischer Anschläge 41 Menschen, so waren es in Italien sogar 179.17 Der transnationale Blick erlaubt dabei nicht nur, »mehr« und »anderes« zu sehen, er verändert die Sicht auf das Ganze. Das bedeutet auch, dass ein rein komparativer Zugriff, der nicht auch Verflechtungs- und Beziehungsgeschichte ist, Differenzen und Parallelen der untersuchten Vergleichsfälle  – gerade innerhalb ein und derselben terroristischen Welle  – oft nur schwer gewichten und 11 Frei, 1968, S. 79. 12 Vgl. Kraushaar, »Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?«. Mit guten Argumenten kritisch dazu: Koenen, Mutmaßungen. 13 Slobodian, Foreign Front. 14 »We should not forget that for all the protests and rhetoric in support for the Third World or immigrant poor, 1968 remained predominantly Eurocentric«, Jobs, Travel, S.  395. Gomsu, Wohlfeile Fernstenliebe. 15 Am meisten verdankt diese Lesart Gerd Koenens autobiographisch geprägtem Essay Das rote Jahrzehnt. Anregend ebenfalls: Hauser, Deutschland. Wenig ergiebig dagegen Lütnant, Im Kopf der Bestie. 16 Vgl. ausführlich Terhoeven, Deutscher Herbst. 17 Vgl. Della Porta, Social Movements, S. 128. Dazu kamen südlich der Alpen die noch zahlreicheren Opfer des ›schwarzen Terrors‹, der zwischen 1969 und 1984 199 Menschenleben forderte, vgl. Jansen, Italien, S. 162–165.

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unter Umständen nicht adäquat erklären kann.18 Die gängige Überbetonung der ideologischen und strategischen Unterschiede zwischen deutschem und italienischem Linksterrorismus ist dafür ein gutes Beispiel, da sie mit einer beinahe vollständigen Ausblendung der deutsch-italienischen Radikalisierungsdynamik einhergeht.19 In Wirklichkeit kommt dem transnationalen Feld auch in diesem Falle eine ganz eigene Logik zu, die sich »nicht in der Kombination und Neukonfiguration von Nationalem erschöpft«, sondern »neue Räume, neue Aktions­felder« und »genuin neue Verkehrsformen« erzeugt.20 Solchen Arbeiten, die davon ausgehen, die Beziehungen deutscher und italienischer Linksterroristen hätten »auf tönernen Füßen« gestanden, seien eher »dürftig« und durch einen »ideologischen Graben« bestimmt gewesen, liegt denn auch meist ein sehr eng gefasster Kooperationsbegriff zugrunde, welcher der komplexen Verflechtungsgeschichte westeuropäischer »subcultures of violence« nicht gerecht werden kann.21 Sie übersehen Übertragungsphänomene, die sich als Inspiration, Imitation und Solidarität beschreiben lassen, aber auch Konkurrenz und Rivalität implizieren. So haben die Politologen Christopher Daase und Alexander Straßner in wichtigen Pionierarbeiten der »ersten Generation« der RAF zwar eine »Vielzahl unterschiedlicher internationaler Kontakte« bescheinigt. Diese sind nach Daase jedoch »durchweg schwierig und nicht besonders erfolgreich« gewesen.22 Erst die Nachfolger der Schleyer-Entführer hätten, so Straßner, »die ideologische Grundlage für eine Internationalisierung des Terrorismus auf westeuropäischer Grundlage« gelegt und dabei erstmals die »Bildung grenzüberschreitender terroristischer Strukturen« im Sinn gehabt.23 Dass die Gründer der RAF bereits vor dem Gang in den Untergrund einem transnationalen radikalen Milieu an­ gehört und sich seitdem in einer grenzüberschreitenden Sympathisantenszene mit fließenden Übergängen zum bewaffneten Kampf bewegt hatten, die auch Unterstützer in Frankreich und in der Schweiz einband, wird hier weitestgehend ausgeblendet.24 Durch diese Engführung wird nicht nur der sogenannte »Euroterrorismus« der 1980er Jahre zum weitgehend geschichtslosen Phänomen. Unterschätzt wird auch die Bedeutung internationaler, vor allem südamerika­ 18 Vgl. dazu allgemein Conrad/Conrad, Wie vergleicht man Historiographien. 19 So wird bisweilen sogar behauptet, nach 1972 habe es zwischen deutschen und italienischen Terrorgruppen »keinerlei Verbindung« gegeben, Scheiper, Innere Sicherheit, S. 352. Hinsichtlich der transnationalen Bezüge wiederholt erratisch Locher, Bleierne Jahre. 20 Werner/Zimmermann, Vergleich, S. 630. 21 So etwa Straßner, Dritte Generation, S. 310. Vgl. aber auch Wunderle, Roten Brigaden, hier bes. S. 783; Jansen, Brigate Rosse, hier bes. S. 483. Auf die Gemeinsamkeiten der Gruppen verweisend, aber insgesamt wenig analytisch Lucchesi, RAF. Für den Begriff der »sub­ cultures of violence« Gerwarth/Haupt, Introduction, S. 276. 22 Daase, RAF, S. 908. 23 Straßner, Dritte Generation, S. 299. 24 Zum Konzept des radikalen Milieus vgl. Malthaner/Waldmann, Radikale Milieus, vor allem die Einleitung der Herausgeber.

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nischer Handlungsmodelle für den europäischen Kontext, die wiederum den ersten wichtigen Impuls für die ab 1967 zu beobachtende deutsch-italienische Annäherung geliefert hatten. Geht man stattdessen von Peter Waldmanns Definition terroristischer Gewalt aus, wonach diese als destruktiver Kern eines komplexen Kommunikations­ prozesses zu verstehen ist, so nähert man sich implizit bereits dem Wellenmodell von Rapoport an, der auf die Bedeutung leistungsfähiger Kommunikationstechnologien, expandierender Medienmärkte und erhöhter Mobilität für den modernen Terrorismus hingewiesen hat. Waldmann definiert Terrorismus als »planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund«, die »vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen« sollen.25 Der Raum, in dem diese binär strukturierten Botschaften zumindest potentiell Resonanz finden, wird in der Moderne mitnichten durch nationale Grenzen definiert, auch wenn im Rahmen interkultureller Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener Nationen die Differenzwahrnehmung stets bestehen bleibt. Dies gilt für die interpersonale Interaktion genauso wie für medialisierte Formen der Kommunikation.26 Jenseits der kriminalistischen Ermittlung von Täter-Namen und objektiven Sachverhalten kommen aus dieser Perspektive auch die westeuropäischen Öffentlichkeiten als Resonanzboden terroristischer Gewalt in den Blick, einschließlich der potentiell sympathisierenden Szenen der Nachbarländer mit ihren Milieus und Medien. Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und des nationalsozialistischen Besatzungsterrors spielte die NS -Vergangenheit auch in diesen transnationalen Öffentlichkeiten eine wichtige Rolle, wenn auch naturgemäß nicht dieselbe wie im Land der Täter.

II. Kein Selbstgespräch Was den westdeutschen Kontext angeht, so ist in diesem Zusammenhang zunächst analytisch zu unterscheiden zwischen tatsächlich fortwirkenden autoritären Traditionen und personellen Kontinuitäten, wie sie etwa Dominik Rigoll an der Wurzel des sogenannten Radikalenerlasses ausmachen zu können glaubt,27 und dem braunen Schatten, der sich mit dem Ende des »kommunikativen Beschweigens« der NS -Zeit (Hermann Lübbe)  gerade in den Augen einer jüngeren und aufgeklärten Gegenöffentlichkeit im Laufe der 1960er Jahre über die westdeutsche Gesellschaft gelegt hatte. In der linksalternativen Szene wirkte er über Jahrzehnte hinweg als umfassender Wahrnehmungsfilter. Gerade das Beispiel des Radikalenerlasses kann eben auch, wie Sven Reichardt gezeigt hat, als 25 Waldmann, Terrorismus, S. 12. 26 Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation, hier bes. S. 8. 27 Rigoll, Staatsschutz.

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Prüfstein für die Frage gelten, »wie realitätstüchtig bzw. maßlos das Selbstbild einer Minderheit war, die sich ständig verfolgt wähnte.« Gemessen an den tatsächlichen Schlechterstellungen war etwa die Apostrophierung der Regelanfrage beim Verfassungsschutz als »politischer Ariernachweis« laut Reichardt nicht nur »anmaßend und schamlos«: sie lief auf eine grobe Missachtung der tatsächlichen Verfolgungserfahrungen jüdischer Deutscher im Nationalsozialismus hinaus.28 Andererseits ist die Skandalisierung solcher Fälle beamtenrechtlicher Diskriminierung, die auch die Nachkommen von bereits im »Dritten Reich« verfolgten Kommunisten oder Juden betrafen, keineswegs per se als unlautere Instrumentalisierung des braunen Erbes zu betrachten. Die in »Anti-Berufsverbotskomitees« organisierten Gegner des Erlasses trugen solche Fälle – etwa den der entlassenen hessischen Lehrerin Silvia Gingold – sehr gezielt ins Ausland, wo sie auf große Resonanz trafen.29 Inzwischen gilt die zunehmende Kritik aus den Nachbarländern, welche bereits bestehende Unstimmigkeiten in der Regierungspartei SPD verstärkte, als wichtiger Faktor für die Aufweichung und letztliche Abschaffung der Bestimmung.30 Gleichwohl war das Bild von der Demokratie ohne Demokraten, das die Bundesrepublik zeitweise jenseits der Landesgrenzen abgab, zweifellos ein Ergebnis politischer Instrumentalisierungen und irrationaler Ängste, die mindestens so viel mit den innenpolitischen Verwerfungen innerhalb der jeweiligen Nachbarländer zu tun hatten wie mit dem Geschehen in der Bundesrepublik selbst. Am Anfang des Polarisierungsprozesses, in dem die NS -Vergangenheit immer mehr zur bewusst eingesetzten Waffe im tagespolitischen Geschäft wurde, stand die »generationelle Tradierungskrise« der in der Nachkriegszeit vorherrschenden Selbstwahrnehmung der Deutschen als nationaler Opfergemeinschaft.31 Die ebenso ernsthaft empfundene wie berechtigte Empörung vieler Jüngerer über die ausgebliebene Sühne der Verbrechen des »Dritten Reiches« mündete unter dem Eindruck des Theorieangebots der Neuen Linken, aber auch der verbreiteten Abwehrreaktionen der Älteren zunehmend in eine Fundamentalkritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, deren Strukturen, wie man überzeugt war, letztlich nach Auschwitz geführt hatten. Ging es den deutschen 68ern immer wieder darum, die braunen Karrierewege staatlicher Funktionsträger zu enttarnen und auf diese Weise die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik möglichst nachhaltig zu erschüttern,32 reagierten die Eliten mit einer Mischung aus Indignation und der rituellen Beschwörung, aus der Vergangenheit die richtigen Konsequenzen gezogen zu haben. Nicht von ungefähr war es das Verhältnis zu den USA, das sich zum neuralgischen Punkt dieses Konflikts entwickelte. Vor 28 29 30 31 32

Reichardt, Authentizität, S. 208, 216. Braunthal, Politische Loyalität, S. 85 f. Rigoll, Demokratie, S. 173–177. Knoch, Tat, S. 899 f. Dabei lieferte die DDR nicht selten das notwendige Material, vgl. etwa das berüchtigte Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin, Berlin (Ost) (Staatsverlag der DDR) 1968.

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dem Hintergrund der komplexen historischen Tiefendimension der deutschamerikanischen Beziehungen im 20. Jahrhundert barg die Frage, wie viel Kritik an dem verhängnisvollen antikommunistischen Kreuzzug der Führungsmacht des Westens in Vietnam die deutsch-amerikanische Freundschaft vertrug und in welcher Form diese zu äußern sei, reichlich politischen Zündstoff. Durch sein betretenes Schweigen angesichts der evidenten Kriegsverbrechen des Verbündeten leistete es sich jedenfalls das deutsche Establishment, »die wachsende Schar der moralisch Sensibilisierten in der jungen Generation fortwährend vor den Kopf zu stoßen, anstatt sie von den politisch Radikalen zu trennen«.33 Letztere, namentlich die späteren RAF-Gründer Andreas Baader und Gudrun Ensslin, legten im April 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern Feuer – nach eigenem Bekunden »aus Protest gegen die Gleichgültigkeit, mit der die Menschen dem Völkermord in Vietnam zusehen«.34 Die Skandalisierung amerikanischer Verbrechen gegen die Menschlichkeit über den Vergleich mit nationalsozialistischen Praktiken, wie sie unter dem­ Slogan »USA-SA-SS« für die Kritik am Vietnamkrieg charakteristisch wurde, war allerdings keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der deutschen Neuen Linken: Schon das Russell-Tribunal von 1967 hatte bei seinem fiktiven Prozess gegen die Vereinigten Staaten immer wieder die NS -Analogie bemüht, um das Vorgehen der Amerikaner in Südostasien möglichst publikumswirksam an den Pranger zu stellen.35 Es handelte sich noch nicht einmal um ein Novum der späten 1960er Jahre, denn bereits im Algerienkrieg hatten kritische Intellektuelle beiderseits des Rheins die systematische Anwendung der Folter zur Bekämpfung des FLN als Gestapo-Praxis angeprangert und die Zustände in algerischen Internierungslagern mit denen in deutschen Konzentrationslagern verglichen: So galt die angebliche »Befriedung« Algeriens durch die französische Armee nicht nur der französischen Linken, sondern auch der deutschen Szenezeitschrift »konkret« als »Euphemismus für einen zweiten Holocaust«.36 Allerdings machte es sowohl in politischer als auch in psychologischer Hinsicht einen erheblichen Unterschied, ob man das absolut Böse, an dem die Gegenwart gemessen wurde, im eigenen Land oder in dem des ehemaligen Kriegsgegners suchen und eben auch finden musste. Bei vielen jungen Deutschen musste das Erschrecken über die Taten der Elterngeneration und die evidenten personellen Kontinuitäten, die vom »Dritten Reich« in die Bundesrepublik führten, nicht nur in ein extrem negatives Bild der eigenen Staatlichkeit münden. Psychologisch lag auch der Weg vom Wunsch nach möglichst rigoroser Abgrenzung von »diesen« Deutschen hin zur Selbstviktimisierung als Opfern »dieses« Systems besonders nahe. Während in Frankreich die Verstrickung des Vichy-Regimes in die Shoah bis Ende 33 Frei, 1968, S. 109. 34 Ensslins Aussage vor Gericht zitiert nach Proll/Dubbe, Wir kamen vom anderen Stern, S. 32. 35 Vgl. Duffett, Against the Crime. 36 Kalter, Entdeckung, bes. S. 143–155; ders., Eigene, S. 157.

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der 1960er Jahre noch kein Thema war, konnte man in der Bundesrepublik zwar auch andere Nationen schlimmster Verbrechen bezichtigen oder auf die eigenen Leiden hinweisen – den Mord an den europäischen Juden vermochten die Deutschen jedoch niemand anderem anzulasten als nur sich selbst.37 Christoph Kalter lässt es mit gutem Grund offen, ob die projektive Identi­ fikation der frühen Neuen Linken in der Bundesrepublik mit Opfern und Helden des algerischen Befreiungskampfes als Akt nachholenden Widerstands zu deuten ist oder vielmehr als Versuch, deutsche Schuld mit dem Hinweis auf französische Verbrechen zu relativieren: »Wie immer die Funktion dieser NS -Bezüge gedeutet werden mag, ihre Virulenz belegt in jedem Fall, wie sehr das Sprechen über die algerischen Fremden zugleich  – oder vor allem?  – ein Selbstgespräch über Geschichte, Gegenwart und Zukunft des deutschen Eigenen war.«38 Die vorliegenden Überlegungen wollen den Blick dafür schärfen, dass junge deutsche Linke seit den 1960er Jahren gerade nicht nur ein Selbstgespräch führten, wenn es um die Deutung von »Geschichte, Gegenwart und Zukunft« ging. Gerd Koenen hat in seinem Rückblick auf das ›rote Jahrzehnt‹ an den »geheimen Bonus« erinnert, der jungen Deutschen seit den 1950er Jahren im Ausland zuwuchs. Die Ressentiments, auf die sie vielerorts noch trafen, mussten ihr Bedürfnis nach »Distanzierung und Neuerfindung« als ›neue Deutsche‹ noch steigern, wofür sie im Ergebnis »großen Applaus« ernteten. »Gerade die Verbrechen und Feindseligkeiten von gestern, denen wir so demonstrativ abschworen, bildeten unser unsichtbares moralisches Negativkapital, das unseren Status deutlich erhöhte, das ›Pfund‹ mit dem wir wucherten.« Als Deutscher immer wieder im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen, »erzeugte Angst und Beklommenheit, aber auch ein Gefühl von Bedeutung«.39 »Eigenartig, wie ernst wir überall genommen wurden«, erinnert sich auch Ulrich Enzensberger an die mehrwöchige Reise, die er Ende 1969 gemeinsam mit den auf der Flucht vor den deutschen Behörden befindlichen Kaufhausbrandstiftern Baader und Ensslin durch Italien unternahm. »Eine lange Reihe von Künstlern, Schriftstellern und Politikern wurde besucht. … Die Sympathie, die den Brandstiftern entgegenschlug, war enorm.«40 Für Baader und Ensslin wurde die Erfahrung, dass ihnen die Aura der anti-imperialistischen Widerstandskämpfer, die sie dank ihrer vermeintlich »avantgardistischen« Tat und des dafür ergangenen Urteils deutscher Richter umgab, ganz selbstverständlich die Türen der linken Intelligenz öffnete, zum Schlüsselerlebnis. Zugespitzt formuliert: Das spezifische, zwischen Helden- und Opferidentifikation schwankende Lebensgefühl deutscher Links­ radikaler an der Schwelle zum bewaffneten Untergrund entstand ebenso wie das ausgeprägte Empfinden, gerade als Deutscher eine ganz besondere Mission im Kampf gegen den ›Faschismus‹ zu haben, erst im Dialog mit ausländischen 37 38 39 40

Vgl. Judt, Geschichte, S. 941. Kalter, Eigene, S. 160. Koenen, Jahrzehnt, S. 97. Enzensberger, Jahre, S. 372.

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Genossen. »Wir hatten die Hoffnung, einen qualitativen Sprung durchzusetzen, weil alle sagten (in Italien und Frankreich): Wenn ihr das nicht schafft, passiert nichts« – so beschreibt auch Karl Heinz Roth die Stimmung unter den Mitgliedern der von ihm mitbegründeten, einem militanten Operaismus nahestehenden Proletarischen Front.41 Auch wenn Moro-Entführer Valerio Morucci seinen Gesinnungsgenossen von der RAF im Nachhinein vorwarf, »ein deutsch-nationalistisches Gefühl« kultiviert zu haben:42 In der Kriegserklärung der Gruppe an den weltweiten‹ Faschismus‹ vermischten sich »heroische Identifikation und authentisches Mitleiden mit den ›Verdammten dieser Erde‹ … ununterscheidbar mit narzisstischer Anmaßung und aggressiver Enthemmung«. Die RAF-Gründer »wollten etwas ›wiedergutmachen‹ – und unterlagen tatsächlich einem blinden Wiederholungszwang«.43 Dabei hatten sie sich ebenso vor sich selbst wie virtuell vor der ganzen Welt beweisen wollen.

III. Zwei Faschismen, zwei Vergangenheiten Obgleich es auch in die französische Szene hinein gute Verbindungen gab, waren es doch die deutsch-italienischen Kommunikationsräume, in denen eine besonders intensive Radikalisierungsdynamik entstand. Diese Entwicklung war vor dem Hintergrund der faschistischen Vergangenheit beider Gesellschaften kein Zufall, auch wenn sich diese südlich der Alpen anders auswirkte als im Norden. In Italien waren die jugendlichen Vertreter der Neuen Linken ganz konkret mit den Erben des historischen Faschismus konfrontiert, mit denen man sich auf der Straße handfeste Auseinandersetzungen lieferte – nicht umsonst waren die ersten Opfer der BR zwei Mitglieder des Movimento Sociale Italiano, des parlamentarischen Arms der neofaschistischen Subkultur.44 Spätestens seit dem von Neofaschisten verübten Bombenanschlag auf der Mailänder Piazza Fontana, der im Dezember 1969 17 Menschen das Leben kostete und 88 weitere verletzte, galt der italienische Staat für die kritische Linke als Komplize der rechten Gewalt.45 Was weiter zurückliegende Kollektiverfahrungen anging, partizipierten die italienischen 68er an der in der Gesamtgesellschaft üblichen Verdrängung des Fa41 Gespräch mit Karl Heinz Roth, in: Frombeloff, … und es begann die Zeit der Autonomie, S. 299. 42 »›Die RAF und wir  – feindliche Konkurrenten‹. Der gefangene Moro-Entführer Valerio Morucci über das Verhältnis zwischen Roten Brigaden und RAF«, in: Der Spiegel, 28.7.1986, S. 106–114, hier S. 110. Das Interview, das oft zur Untermauerung der These einer ideologischen Inkompatibilität von RAF und BR herangezogen worden ist, spiegelt ganz im Gegenteil, wie intensiv die Gruppen einander beobachteten und dass sie ständig aufeinander Bezug nahmen. 43 Koenen, Jahrzehnt, S. 390. 44 Panvini, Ordine nero; Conti, L’anima. 45 Vgl. zum Attentat auf der Piazza Fontana und seinen Auswirkungen auf die Linke­ Giannuli, Stragismo.

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schismus, waren dessen Verbrechen doch bis zu diesem Zeitpunkt kaum öffentlich thematisiert worden. Wie unter anderem Filippo Focardi gezeigt hat, war die faschistische Vergangenheit ganz im Gegenteil maßgeblich über die Selbstabgrenzung vom »Dritten Reich« entsorgt worden.46 Die Glaubwürdigkeit der Konstruktion des »guten Italieners« (bravo italiano) hing vor allem von seinem Gegenbild des »bösen Deutschen« (cattivo tedesco) ab, dessen Grausamkeit man während der Besatzungszeit am eigenen Leib kennengelernt hatte. Tatsächlich standen stets die antifaschistischen Triumphe der letzten Kriegsund frühen Nachkriegsjahre im Zentrum der Erinnerung: Im Zuge des militärischen Vormarschs der Alliierten hatte eine an Größe und Schlagkraft bis Kriegsende sukzessive anschwellende Widerstandsbewegung seit 1943 die deutschen Besatzer und die mit ihnen kollaborierenden Funktionsträger der Republik von Salò schrittweise aus dem Land vertreiben bzw. ihrer Strafe zuführen können.47 War die Fokussierung auf die Brutalität der Besatzungszeit und die Aufwertung des italienischen Anteils am Sieg über den ehemaligen deutschen Verbündeten common sense, interpretierte die radikale Linke den antifaschistischen Widerstand dennoch anders als die meisten ihrer Landsleute: Für sie war die Resistenza eine steckengebliebene, letztlich von den Amerikanern verhinderte kommunistische Revolution, die es in der Gegenwart – sei es mit oder ohne Unterstützung der parlamentarisch »domestizierten« kommunistischen Partei (PCI) – möglichst bald zu vollenden galt. Im so genannten »Heißen Herbst« des Jahres 1969 schien sich diese Hoffnung durch den Schulterschluss von Arbeiter- und Studentenbewegung beinahe zu erfüllen.48 Auch wenn die vermeintlich revolutionäre Situation spätestens mit dem im Mai 1970 erlassenen Arbeiterstatut als entschärft gelten konnte, blieb das Konfliktniveau auch in den Folgejahren so hoch, dass die Gruppen links des PCI noch lange der Illusion anhingen, mit entsprechenden Interventionen, über deren mehr oder weniger gewaltsamen Charakter man erbittert stritt, den ersehnten Umsturz herbeiführen zu können. Einen umso dringlicheren Charakter nahmen solche Gedankenspiele nicht nur unter dem Eindruck der Bombe auf der Piazza Fontana an, sondern auch angesichts der Nachrichten über im letzten Moment verhinderte oder abgesagte neofaschistische Putschversuche. Schon seit dem Staatsstreich in Griechenland im April 1967 hatten italienische Studenten auf Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg die Parole »Vietnam – Grecia – Italia!« skandiert, um auf die vermeintlich analogen Bedrohungssituationen in den drei Ländern aufmerksam zu machen.49 46 Focardi, Falsche Freunde. 47 Vgl. zum antifaschistischen Widerstand in Italien Pavone, Guerra civile, zur politischen ›Säuberung‹ Woller, Abrechnung, zur Erinnerungskultur nach 1945 Klinkhammer, Resistenza-Mythos. 48 Zur Geschichte der italienischen Studentenbewegung aus komparativer Perspektive vgl. Tolomelli, Repressiv getrennt. 49 Kurz, Universität, S. 127.

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Verglichen damit waren die Konflikte in der Bundesrepublik »eher diskursiv als praktisch«, wurden jedoch »durch die Opfer der Aggression schnell in hoch dramatisierenden Ausdrücken und Bildern gedeutet«.50 Auf diese Weise konnten der Tod des unbewaffneten Studenten Benno Ohnesorg und die ausgebliebene Verurteilung des Schuldigen durchaus zur vorweggenommenen Piazza Fontana werden – dass es sich bei Karl-Heinz Kurras um einen Informellen Mitarbeiter der Stasi handelte, hätte seinerzeit niemand vermutet.51 Aus dem unterschiedlichen Verlauf von »1968« ergaben sich mithin in beiden Ländern unterschiedliche Anknüpfungspunkte für eine etwaige Perpetuierung der Revolte, die sich wiederum unterschiedlicher vergangenheitspolitischer Ressourcen bedienen konnte. In der Bundesrepublik bildete vor allem die »Provokationsthese«, »derzufolge man das System zwingen musste, seine Maske der »repressiven Toleranz« fallenzulassen, um die nötige Kampfbereitschaft bei sich und den anderen zu erzeugen, die zentrale idée fixe …, die das politische Kernpersonal der 68erBewegung mit den terroristischen Gruppen verband.«52 Die seit 1972 durch die RAF ausgeführten Terroranschläge gegen ausgewählte Repräsentanten des deutschen Establishments und die amerikanische Militärpräsenz auf deutschem Boden vermochten den dem »System« angeblich inhärenten Faschismus für die allermeisten Beobachter jedoch noch nicht überzeugend »hervorzukitzeln«. Erst mit der Inhaftierung der Führungsriege ergab sich eine im Sinne der Werbung von Sympathisanten und Mitkämpfern effektivere Möglichkeit, das ihrer Gewaltpraxis eingeschriebene Verhältnis von Tätern und Opfern diskursiv und performativ in sein Gegenteil zu verkehren. Das Mittel dazu waren in erster Linie mörderische Hungerstreiks, mit denen die Untersuchungshäftlinge die schon in der Studentenbewegung angelegte Tendenz zur Selbstviktimisierung auf die Spitze trieben: »Hunger allowed RAFprisoners to inscribe their own bodies in its conception of a belated Nazi resistance and anti-colonialist struggle.«53 Wie schon in den Jahren zuvor entfaltete sich dieser Diskurs keineswegs als deutsches Selbstgespräch. Ganz im Gegenteil nutzten die Inhaftierten die europäische public sphere gezielt als »appellatives Ersatzforum«, wobei sie weitgehend auf die Unterstützung ihrer Strafverteidiger angewiesen waren.54 Die mit dem Verweis auf »Isolationsfolter« und »Vernichtungshaft« konstruierte Legende, man kämpfe letztlich aus Notwehr gegen einen Polizeistaat, der seine Gegner in modernen KZs erbarmungslos ihrer Vernichtung zuführe, entwickelte gerade im europäischen Ausland »einen ungeheuer suggestiven Sog«.55 Ebenso wie führenden 68ern ging es der RAF-Führungsriege zunächst nicht um einen Durchbruch in der Sache, sondern um die 50 51 52 53 54 55

Della Porta, Politische Gewalt, S. 42, 55. Vgl. zur Aufdeckung dieses Sachverhalts Müller-Enbergs/Jabs, Der 2. Juni 1967. Koenen, Jahrzehnt, S. 362. Passmore, Art, S. 58. Vgl. Requate/Schulze Wessel, Europäische Öffentlichkeit, S. 11–42. Koenen, Jahrzehnt, S. 400.

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Generierung öffentlicher Aufmerksamkeit als solcher: »Man spürte sich plötzlich selbst  – und hatte einen Ansatzpunkt für neue Aktionen.«56 Andererseits sicherte die Existenz von Sympathisanten im Ausland der nachwachsenden »zweiten Generation« ganz konkret Flucht- und Ruheräume außerhalb der Zugriffsmöglichkeiten der deutschen Fahnder. Um einen solchen »Erfolg« im doppelten Sinne handelte es sich etwa bei dem Besuch der linken Ikone Jean-Paul Sartre bei dem hungerstreikenden Baader, der nicht umsonst ins kollektive Gedächtnis der Bundesrepublik eingegangen ist.57 Angesichts des letztlich unauflösbaren Widerspruchs, auf dem Feld der Öffentlichkeitsarbeit nur als Opfer »siegen« zu können, kämpfte die deutsche Stadtguerilla jedoch von vornherein auf verlorenem Posten. Für die »Stammheimer« ergab sich aus dieser Konstellation schließlich die Bereitschaft, für ihren größten publicity-Erfolg in Europa – die Suggestion eines Mordes der westdeutschen Staatsschützer an wehrlosen Gefangenen – mit dem Preis ihres eigenen Lebens zu bezahlen. Andererseits hätte die RAF nach der Niederlage des Deutschen Herbstes ohne den Stammheim-­ Mythos wohl nicht weiterexistieren können.58 Die Spezifika des deutschen Falls ergeben sich ebenso wie die Grenzen der Sonderwegsdeutung erst im Vergleich mit Italien, wo die Rotbrigadisten ihre Themen lange Zeit in der Tradition des »roten Widerstands« fanden, statt wie die Deutschen allzu viel Aufhebens um die eigene Befindlichkeit zu machen. So schrieb etwa 1974 der kurz zuvor festgenommene BR-Gründer Renato Curcio in einem Brief aus der Haft: »Was mir passiert ist, ist keine Tragödie, sondern eine einigermaßen unvermeidliche Etappe im Leben eines jeden, der in dieser Gesellschaft für die Freiheit kämpft. … Das Gefängnis war für Kommunisten nie eine Tragödie. Eine Tragödie ist das Regime der Ausbeutung und der Unterdrückung, dem die Mehrheit des Volkes immer gewaltsamer unterworfen wird … und die Wiederkehr des faschistischen Terrorismus, der Tote ohne Ende sät.«59 Bezeichnenderweise verzichtete die Führungsriege der BR mit der Begründung, der Revolution könne man nicht den Prozess machen, in den großen Turiner Terroristenverfahren der zweiten Hälfte der 1970er Jahre prinzipiell auf den Beistand eines Anwalts und verteidigte sich selbst.60 Trotz der ursprünglich größeren gesellschaftlichen »Bodenhaftung« der BR , die in den ersten Jahren ihrer Existenz ausschließlich innerhalb des Kosmos »Fabrik« operierte, stellten 56 57 58 59

Frei, 1968, S. 103. Terhoeven, Deutscher Herbst, S. 275–297. Elter, Propaganda, S. 182 f. Zitiert in: Tessandori, BR , S. 237. Auch wenn die Haftbedingungen für die Untersuchungshäftlinge der RAF zumindest anfangs außergewöhnlich hart sein konnten, erklären sich die beschriebenen Unterschiede keinesfalls durch objektiv gegebene Härten des Vollzugs. Spätestens in Stuttgart-Stammheim kam die Haftsituation einer präzedenzlosen Privilegierung gleich, während sie in Italien in den betreffenden Jahren fast überall problematisch blieb. Für die Bundesrepublik vgl. Jander, Isolation, für Italien von Tangen Page, Prisons. 60 Hof, Prozess, S. 63–72.

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sich im Laufe der Zeit immer deutlichere »Angleichungstendenzen« zur deutschen RAF ein.61 Da es den Italienern ebenfalls nicht gelingen wollte, das Proletariat in den bewaffneten Aufstand zu treiben, wurde der post- und vermeintlich präfaschistische Staat als Werkzeug des amerikanischen Kriegsimperialismus mehr und mehr zum transnationalen Feindbild  – auch deshalb, weil deutsche Kräfte dieses Gedankengut gezielt exportierten. Parallel mit der wachsenden Angst vor der »Germanisierung« des eigenen Staates in der italienischen Linken näherten sich die BR sowohl den in der Bundesrepublik bereits erprobten terroristischen Praktiken als auch den mitgelieferten Begründungen an: In der Repression der Stadtguerilla selbst lag jetzt der Beweis für den mörderischen Charakter des Staats und damit – so der Zirkelschluss – die Rechtfertigung für den Kampf zugleich. Der aus dem historischen Antifaschismus rührende Vorbehalt gegen alles Deutsche nahm dabei in den BR-Kommuniqués der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geradezu hassvolle Züge an.62

IV. »Eine nicht zu unterschätzende Faszination«. Gewalt als gemeinsamer Tabubruch in der New Left Wave Die beschriebene Entwicklung der BR war aber auch deshalb kein Zufall, weil sie sich ebenso wie die RAF von Anfang an am Voluntarismus eines Che G ­ uevara und am Terrorismus eines Carlos Marighella orientiert hatten. Insofern gibt es auch keinen Anlass, die »romantischen« BR der Frühzeit von ihren »brutalen« Nachfolgern kategorial zu unterscheiden. Hatte Guevara seine als »FokusTheorie« berühmt gewordene Überzeugung formuliert, dass man auf die Bedingungen für die Revolution nicht zu warten brauche, sondern diese durch einen »Fokus« kampfeswilliger Guerilleros selbst herstellen könne, so war der brasilianische Revolutionär Carlos Marighella Verfasser einer praktischen Anleitung des städtischen Guerilla-Kampfes, die mit einer expliziten Aufwertung genuin terroristischer Aktionsformen einherging.63 Die Tradition des militanten Antifaschismus der Jahre 1944/1945, die die »Seele« der Roten Brigaden bildete, erfuhr damit eine folgenschwere Neubearbeitung mit großem Eskalationspotential. Diese zweite Wurzel des italienischen Linksterrorismus, die er mit dem deutschen teilte, wird gerade aus deutscher Perspektive häufig zu Unrecht übersehen. Laut dem intellektuellen Kopf der Gruppe, Renato Curcio, habe sich seine Truppe »weniger von den Partisanenaktionen und der traditionellen Arbeiterbewegung, auch nicht der revolutionären, inspirieren lassen, wie immer wieder behauptet wird. Wir schauten vielmehr auf die Black Panthers, die Tupamaros, nach Kuba und auf Che Guevaras Fokus in Bolivien, auf das Brasilien von 61 Jansen, Brigate Rosse, S. 498. 62 Dossier Brigate Rosse II 1976–1978. Le BR sanguinarie di Moretti: documenti, comunicati e censure, hg. v. Lorenzo Ruggiero, Mailand 2007. 63 Che Guevara, Guerilla; Marighella, Minimanual.

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Marighella. Daher weckten die Erzählungen von Feltrinelli, der durch die ganze Welt reiste und direkte Beziehungen zu Führern verschiedener Guerillas unterhielt, zweifellos großes Interesse und übten eine nicht zu unterschätzende Faszination auf uns aus.«64 Tatsächlich hatte das Einsickern südamerikanischer Guerilla-Theorien um 1968 das Denken und Sprechen sowohl in Italien als auch in der Bundesrepublik entscheidend radikalisiert. Nicht zufällig waren mit dem vermögenden Verleger Giangiacomo Feltrinelli und dem charismatischen Studentenführer Rudi Dutschke diejenigen Akteure, die als die wichtigsten gate­ keepers lateinamerikanischer Guerillatheorien in ihren jeweiligen nationalen Kontext gelten können, auch diejenigen, die zueinander den Kontakt suchten, um einen weiteren, davon unterscheidbaren Radikalisierungsprozess anzustoßen. Denn erst die Dynamik zwischen europäischen Akteuren, so die hier vertretene These, führte zur Überschreitung der Grenze zur organisierten Gewalt in einem eigentlich unwahrscheinlichen Kontext – dem der parlamentarischen Demokratie. Diese Grenzüberschreitung wurzelte weniger in Theorien denn in der praktischen Erfahrung eines gemeinschaftlich vollzogenen Tabubruchs. Bereits seit der kubanischen Revolution war der italienische Verleger immer wieder auf die Karibik-Insel gereist, wo er enge persönliche Kontakte zu F ­ idel Castro und Ernesto »Che« Guevara aufgebaut hatte. Die Persönlichkeitsveränderung, die er in folgenden Jahren durchlief, spiegelte sich anfangs in erster Linie in seinem Verlagsprogramm. So gab er unter anderem die italienische Ausgabe der kubanischen Zeitschrift »Tricontinental« heraus, die unter dem Motto »Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zu machen« die Errungenschaften der südamerikanischen Guerillas glorifizierte. Nach dem Tod Guevaras druckte er nicht nur dessen »Bolivianisches Tagebuch«, sondern schenkte der internationalen Protestbewegung mit der Verbreitung der berühmt gewordenen Porträtaufnahme des »Che« von Alberto Kordas eine Ikone, die das Scheitern der Fokus-Theorie im lateinamerikanischen Dschungel wirkungsvoll überschrieb und eine erhebliche Mobilisierungskraft entfaltete. »Das Bild von dunkelhäutigen Guerilleros inmitten von tropischer Vegetation«, so das Urteil Eric Hobsbawms, der selbst im Januar 1968 am Kulturkongress in Havanna teilnahm, »hatte einen wesentlichen, vielleicht sogar den entscheidenden Anteil an der Radikalisierung der Ersten Welt in den sechziger Jahren«.65 Feltrinelli selbst jedenfalls sann nach »Ches« Tod mit neuer Dringlichkeit darüber nach, wie sich der Auftrag seines Idols zur Schaffung von »zwei, drei, vielen Vietnam« in die Tat umsetzen ließ. Kurz zuvor, im September 1967, hatte er Besuch von Rudi Dutschke erhalten, der nicht nur seinen Erstgeborenen mit dem zweiten Vornamen »Che« bedacht, sondern mit seinem chilenischen Freund Gaston Salvatore seinerseits Guevaras berühmten Appell ins Deutsche übertragen hatte. Die nicht 64 Curcio, Mit offenem Blick, S. 48. 65 Hobsbawm, Zeitalter, S. 550. Für den Havanna-Aufenthalt Hobsbawms, aber auch Dutschkes Rolle während der ›Inkubationszeit‹ des Terrorismus vgl. Kraushaar, Rudi Dutschke, S. 238.

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persönlich angetretenen Reisen in die Karibik kompensierte Dutschke durch Diskussionen mit den südamerikanischen Kommilitonen seines Westberliner Umfelds, in denen es um Guerillataktik und den Weg zur sozialistischen Weltrevolution ging. Unmittelbar nach der Präsentation seines berühmt-berüchtigten »Organisationsreferats«, das zwar nicht als Handlungsanleitung zu terroristischen Praktiken gemeint war, aber von entsprechend disponierten Gesinnungsgenossen unschwer als eine solche interpretiert werden konnte, brach er nach Mailand auf, wo er in Feltrinelli einen politischen Seelenverwandten fand.66 Als wichtigste Voraussetzung für die Realisierung ihres gemeinsamen Traums von der Revolution erschien den beiden die grenzübergreifende Vernetzung möglichst vieler Gesinnungsgenossen im Zeichen des von Guevara beschworenen »proletarischen Internationalismus« – ein Vorhaben, das im von Dutschke organisierten und von Feltrinelli finanzierten Internationalen Vietnam-Kongress rasch konkrete Gestalt gewann. Die als deutsch-italienisches Gemeinschaftsunternehmen zustande gekommene West-Berliner Veranstaltung vom Februar 1968 ist vor allem als große Kontaktbörse zu interpretieren, bei der die radi­ kalsten Kräfte der westeuropäischen Länder miteinander auf Tuchfühlung gehen konnten. Gleichzeitig war das Treffen ein Schritt zur weiteren »Revolutionierung der Revolutionäre«, bei dem hinter den Kulissen bereits die Gründung kleiner Guerilla-Zellen ins Auge gefasst wurde, um im Zeichen des VietnamProtests »Gewalt gegen Sachen« zu verüben. Stand im Februar 1968 also Westberlin im Zentrum einer globalen ­imagined community anti-imperialistischer Kämpfer, wurde nach dem lebensbedrohlichen Attentat eines rechtsextremen Gewalttäters auf Dutschke und dem rasch verebbten Pariser Mai spätestens mit dem »Heißen Herbst« das immer noch unruhige Italien zum neuen Traumland der Revolution. Nach dem Zerfall der deutschen 68er-Bewegung ergoss sich ein Strom deutscher Revolutionspilger in das traditionelle Sehnsuchtsland ihrer Landsleute – unter ihnen fast alle zukünftigen Protagonisten der ersten Stadtguerilla-Experimente in der Bundesrepublik. Anhand von zahlreichen Quellen lässt sich belegen, dass die italienische Erfahrung auf die Deutschen keine Ernüchterung im Sinne einer realistischeren Einschätzung der eigenen Möglichkeiten bewirkte, sondern die eigene revolutionäre Ungeduld erheblich wachsen ließ. Wahrscheinlich fühlten sich auch die Italiener – von den Besuchern aus dem Norden bewundert und beneidet – stärker, als sie tatsächlich waren. Die Faszination für den Kampf der italienischen Genossen im Zeichen des Antifaschismus wird ganz besonders in Bernward Vespers autobiographisch geprägtem Romanessay »Die Reise« greifbar, in dem der Vater von Gudrun Ensslins Sohn Felix von einer mit den RAF-Gründern im Frühsommer 1970 angetretenen Oberitalienreise berichtet, die in Teilen geradezu rauschhafte Züge besitzt.67 Hatte sich der Plan, von Mailand aus in die militärischen Ausbildungslager der Palästinenser weiterzureisen, für eine Gruppe deutscher 66 Für das Folgende vgl. Terhoeven, Deutscher Herbst, Kap. 2.2. 67 Vesper, Reise, hier bes. S. 270 f.

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Revolutionstouristen um Dieter Kunzelmann im Vorjahr noch mehr oder weniger spontan ergeben, war die italienische Verbindung nach Jordanien, von der Baader, Ensslin und Meinhof profitierten, zu diesem Zeitpunkt längst etabliert. Feltrinelli, auf den der Kontakt zurückging, war unmittelbar nach der Bombe auf der Piazza Fontana selbst in den Untergrund gegangen – knapp sechs Monate vor seiner engen Freundin Meinhof. Mit den sogenannten Gruppi di Azione Partigiana (GAP) rief er in Norditalien eine paramilitärische Formation ins Leben, die den Anspruch erhob, als Vorhut einer revolutionären Volksbewegung zu agieren; zur gleichen Zeit taten die von ihm finanziell großzügig unterstützten Tupamaros Westberlin um Kunzelmann das gleiche. Der programmatische Schritt entschlossener Kleingruppen in die Gewalt, die man als einen demonstrativen Akt zur »Erziehung« der Massen verstand, erfolgte in Italien und der Bundesrepublik mithin nicht nur zur gleichen Zeit, die Verfechter und Träger dieses Programms standen auch in enger Verbindung und gewährten einander praktische Hilfeleistung. Als der ehemalige Erfolgsverleger im Jahre 1972 bei einem missglückten Sprengstoffanschlag auf einen Strommast in der Mailänder Peripherie ums Leben kam, fanden seine Mitkämpfer aus den GAP eine neue Heimat bei den BR . Diese Verflechtungsgeschichte des deutsch-italienischen Terrorismus ließe sich im Detail weiter fortschreiben.68 Entscheidend ist hier nur, dass sich die seit 1967 schleichend verlaufene Radikalisierung zu einer Konstante der Folgejahre entwickelte, die einerseits in gegenseitigem peer reinforcement, andererseits in dem Wunsch wurzelte, die Militanz der anderen zu überbieten. So beruhte die einzige wirklich »erfolgreiche« Unternehmung deutscher Stadtguerilleros, die Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz durch die Bewegung 2.  Juni, die zur Freilassung von elf inhaftierten Genossen führte, auf dem Transfer einer ausgefeilten italienischen Kommunikationsstrategie in die Bundesrepublik: Direktes Vorbild des Lorenz-Coups war die Verschleppung des Untersuchungsrichters Mario Sossi durch die Roten Brigaden, auch wenn die Berliner Entführer diesen Umstand in ihrem Stolz auf diesen »Meilenstein in der Geschichte der linksradikalen Militanten in der BRD« in der Rückschau nicht mehr offenlegen mochten und sich lieber auf das »heroischere« Vorbild der Tupamaros bezogen.69 Vor allem aber ist der Deutsche Herbst als eine Eskalationsstufe in die Vorgeschichte der Moro-Entführung einzuschreiben. Der Tod von Baader, Ensslin und Raspe wurde von kaum einem Beobachter in Italien als der als Staatsmord getarnte Selbstmord durchschaut, der er war – am allerwenigsten von den Genossen der BR , von denen viele inzwischen selbst hinter Gefängnismauern einsaßen. Er führte in Italien zu einer Welle der Gewalt – darunter einem gezielten Mord70 – 68 Vgl. hierzu im Einzelnen Terhoeven, Deutscher Herbst. 69 Reinders/Fritzsch, Bewegung, S. 61. Vgl. Terhoeven, Opferbilder. 70 Das Opfer war der Journalist Carlo Casalegno, dem die BR aufgrund seiner StammheimBerichterstattung nicht wie geplant in die Beine, sondern ins Gesicht schossen, Terhoeven, Deutscher Herbst, S. 630–633.

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und schürte bei den BR und ihren Sympathisanten das Rachebedürfnis gegenüber einem als transnationalen Feind wahrgenommenen Staat. Mit der Befreiungsaktion der entführten ›Landshut‹ in Mogadischu durch die GSG 9 wuchs ihre Angst vor der Effizienz einer international einsatzfähigen Anti-Terror-Einheit nach deutschem Vorbild oder gar unter deutscher Führung. Die SchleyerEntführung in Köln hatte ihnen dagegen gezeigt, dass es einer gut vorbereiteten Stadtguerilla-Truppe durchaus möglich war, sich auch einer rundum bewachten Geisel zu bemächtigen, wenn sie nur skrupellos genug dabei vorging. Mit einem gemäß der RAF-Methode durchgeführten Schlag gegen die fünf Bewacher ­Moros gelang es den Roten Brigaden im Frühjahr 1978, dort anzukommen, wo die RAF im vorausgegangenen Herbst bereits gewesen war: in den Schlagzeilen der europäischen Medien. Es ist bezeichnend für die Selbstbezogenheit dieser Gruppenlogik, dass sich der militärische Triumph der Moro-Entführung nicht in politisches Kapital ummünzen ließ, sondern die Unsicherheit über die zukünftige Strategie zur Spaltung führte. Gleichzeitig spielte bei der neuen Perspektivlosigkeit eine Rolle, dass »die Entführungs-Tragödie des Jahrhunderts«71 auch als Medienereignis kaum mehr zu überbieten war. Vor diesem Hintergrund ist die Deutung des »Euro­ terrorismus« der 1980er Jahre als Degenerationsphänomen, in dem die beteiligten Gruppen die Isolation in der eigenen Gesellschaft durch interna­tionale Zusammenarbeit zu konterkarieren bemüht waren, zweifellos gerechtfertigt. Gleichzeitig ist die Kooperation ohne die vorausgegangenen grenzübergreifenden Erfahrungen der 1970er Jahre nicht adäquat zu erfassen, denn die Märtyrologie um die Stammheimer Toten bildete das wichtigste symbolische Startkapital dieses nun endgültig ›eurozentrischen‹ Projekts. Dass sich auch in Frankreich mit der »Action Directe« eine im weitesten Sinne als »sozialrevolutionär« zu bezeichnende terroristische Gruppierung formierte, ist nicht mehr als Adaption eines lateinamerikanischen Modells, sondern vielmehr als ein innereuropä­ ischer Transfer zu verstehen. Zuvor war die französische radikale Linke lediglich zur Unterstützung der deutschen und italienischen Genossen, nicht aber zu gewalttätigen Übergriffen gegen die eigene Staatsmacht bereit gewesen.72 Es gilt also, der dynamischen Wechselwirkung von terroristischer Mobilisierung und Vergangenheitspolitik eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, selbstverständlich nicht in der Absicht einer pauschalen Rehabilitierung der Terrorismusbekämpfung in der Ära Schmidt. Die Darstellung der Bundesrepublik als »verfolgte Unschuld« verbietet sich schon angesichts einer Archivpolitik, die der Forschung nach wie vor den unbeschränkten Zugang zu wichtigen Quellen verwehrt. Gerade bei der »Todesnacht von Stammheim« scheint es sich um ein regelrechtes bundesrepublikanisches Trauma zu handeln. Der u. a. von S­ tefan Aust wiederholt geäußerte Verdacht, die Stammheimer Zellen könnten abgehört 71 »Italien: Bachab in Richtung Bangladesch?«, in: Der Spiegel, 15.5.1978, S. 140–150, hier S. 140. 72 Vgl. immer noch Paas, Frankreich sowie Sommier, Violenza rivoluzionaria.

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und der kollektive Selbstmord bewusst nicht verhindert worden sein, kann jedenfalls bis heute nicht durch das Studium der relevanten Akten bestätigt oder aber zweifelsfrei ausgeräumt werden.73 Mindestens genauso problematisch ist die Unterdrückung der Verstrickung der Geheimdienste in das Geschehen, die bis heute unter anderem einer befriedigenden Aufklärung des Mordes an Siegfried Buback im Wege steht.74 Dennoch gilt: Trotz der zweifellos berechtigten Kritik an vielen ad-hoc-Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung der 1970er Jahre erscheint die bloße Reproduktion zeitgenössischer linker Unterdrückungsszenarien zum Zweck der historischen Analyse wenig zielführend.75 Es zeigte sich vielmehr eine Gesellschaft im Griff einer neuartigen, bis heute beunruhigend vertrauten terroristischen Bedrohung, für die eine »Überreaktion«, wie Martha Crenshaw betont hat, gerade charakteristisch ist: »A lack of proportion between resources deployed and effects created, between the material power of actors and the fear their a­ ctions generated, is typical.«76 Auch auf dieser Seite des terroristischen Kommunikationsprozesses waren die Regierungen Europas auf eine transnationale Kooperation angewiesen und mussten sich zudem an den in den transnationalen Gegenöffentlichkeiten kolportierten Vorwürfen messen lassen. Schon die Reaktionen auf die Moro-Entführung zeigen, dass der italienische Staat über die in der Bundesrepublik getroffenen Maßnahmen eher hinausging, obwohl der P ­ CI-Vorsitzende noch am Tag des Anschlags selbst vor einer »Germanisierung« der Terrorismusbekämpfung gewarnt hatte.77 Seinen spezifischen historischen Ort erlangt der bundesdeutsche Linksterrorismus mithin erst vor den Augen eines europäischen Publikums, das alles Deutsche noch lange nach Ende des »Dritten Reiches« als eine Wiederaufnahme der eigenen Befindlichkeiten in Widerstand und Kollaboration betrachtete. Bei den zahlreichen Projektionen und Gegenprojektionen, die mit dem Terrorismusproblem verbunden waren, war dieser Resonanzboden vielleicht zum letzten Mal in der Geschichte der alten Bundesrepublik so weit gespannt wie bei der Kampagne der RAF-Gründer, sich als Wiedergänger der »Opfer des Faschismus« zu inszenieren. Als Kommunikationsstrategie hing die Bekämpfung des Terrorismus jedenfalls auch davon ab, ob es der Regierung und der deutschen Öffentlichkeit gelingen würde, diese Befürchtungen ernst zu nehmen und sie gleichzeitig zu zerstreuen. Sowohl für die Radikalisierungsdynamik der terroristischen Gewalt als auch für die Effektivität der staatlichen Anti-Terrorismus-Performance gilt mithin: Der Deutsche Herbst fand auf europäischer Bühne statt.

73 74 75 76 77

Aust, Baader-Meinhof-Komplex, S. 860–869. Moser, Angeklagt. Für eine Gesamtbewertung vgl. Terhoeven, Im Ausnahmezustand. Crenshaw, Thoughts, S. 4. Terhoeven, Deutscher Herbst, S. 526. Für eine vergleichende Einordnung der Reaktionen auf die Moro-Entführung vgl. Hof, Anti-Terrorismus-Gesetze sowie Hürter, Regieren.

Rüdiger Graf

Die Bundesrepublik in der Welt des Öls Internationale Zusammenhänge der Energie- und Souveränitätspolitik in den 1970er Jahren

I. Einleitung Die Frage, wo die Bundesrepublik liegt, kann nicht beantwortet werden, wenn der Blick nur auf sie selbst gerichtet wird. Schon die Bestimmung ihrer geo­ graphischen Lage ist nur unter Bezugnahme auf die Nachbarländer oder zumindest auf ein über das Land hinausgehendes, abstrakteres Koordinatensystem möglich. Historische Untersuchungen über die Position der Bundesrepublik in der Welt beschränken sich aber nicht auf die Geographie, sondern versuchen das Land auch in den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungsnetzen zu verorten, die über seine Grenzen hinausreichten. In diesem Sinne ist die Lage der Bundesrepublik durch internationale Verträge und Ordnungssysteme, wirtschaftliche Verflechtungen und Güterflüsse, durch Migration und transnationale kulturelle Entwicklungen bestimmt. Vergleichen ist eine gedankliche Grundoperation zur Identifizierung von Objekten, ohne die auch Historikerinnen und Historiker nicht auskommen.1 Inwiefern allerdings zur genauen Lagebestimmung der Bundesrepublik »vergleichende Perspektiven« oder ein systematischer historischer Vergleich nötig sind, ist die Grundfrage, die dieser Aufsatz in Bezug auf die Energie- und Souveränitäts­politik in den 1970er Jahren diskutiert. Kaum eine andere Methodenfrage der Geschichtswissenschaft ist in den vergangenen zwanzig Jahren in Deutschland so intensiv diskutiert worden wie der historische Vergleich und seine Bezüge zu Transferstudien sowie zur transnationalen Geschichte.2 Nachdem der historische Vergleich zunächst ein­ geführt worden war, um die Sozialgeschichte aus ihrer nationalstaatlichen Verengung zu befreien und die Validität ihrer Thesen zu überprüfen, erhob sich schnell der Vorwurf, der häufig nationalstaatlich vorgenommene Vergleich verstärke im Gegenteil die Fixierung des Analyserahmens auf die Nationalstaaten.3 Um Phänomene in den Blick zu nehmen, die nationale Grenzen überschreiten, wurde stattdessen vorgeschlagen, sich auf interkulturelle Transferprozesse zu konzentrieren oder Verflechtungsgeschichten im Sinne einer »histoire 1 Haupt/Kocka, Historischer Vergleich, S. 10 f. 2 Siehe einführend Welskopp, Vergleichende Geschichte; Kaelble, Historischer Vergleich. 3 Welskopp, Stolpersteine; Patel, Transatlantische Perspektiven, S. 638.

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croisée« zu erzählen.4  Führende Vertreter einer dezidiert vergleichenden Geschichtsbetrachtung erkennen die Notwendigkeit des Einbezugs von Transferprozessen inzwischen zwar an, betonen aber zugleich, dass der historische Vergleich nicht in einer Verflechtungsgeschichte aufgehen könne, weil diese nicht »systematisch nach Ähnlichkeiten und Unterschieden« frage. Demgegenüber sei die Transfer- und Verflechtungsgeschichte auf die Operation des Vergleichs angewiesen.5 Die inzwischen umfangreiche Einführungsliteratur zur Methode des historischen Vergleichs beginnt gemeinhin mit der Definition, dass bei einem Vergleich zwei oder mehr historische Gegenstände auf »Ähnlichkeiten und Unterschiede« hin befragt werden, um sie besser »beschreiben, erklären oder verstehen« zu können.6 Auch meine Untersuchung der Öl- und Energiepolitik in den USA und Westeuropa – hier vor allem der Bundesrepublik Deutschland – in den 1970er Jahren hat das Ziel, die politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Veränderungen im Zeichen der ersten Ölkrise zu erklären und verstehen und daraus zugleich allgemeinere Schlussfolgerungen für die Transformationsprozesse der 1970er Jahre in der Bundesrepublik und den westlichen Industrienationen insgesamt abzuleiten.7 Obwohl die Arbeit davon ausgeht, dass die Energieproblematik im nationalen Rahmen nicht adäquat untersucht werden kann und daher die Reaktionen auf die Ölkrise in den Vereinigten Staaten, der Bundesrepublik und anderen europäischen Ländern in den Blick nimmt, verfährt sie doch nicht vergleichend in dem Sinne, dass systematisch nach Ähnlichkeiten und Unterschieden der nationalen Strategien gesucht würde. Derartige vergleichende Untersuchungen der energiepolitischen Auswirkun­ gen der Ölkrise in den verschiedenen Industrieländern wurden in den Wirtschafts- und Politikwissenschaften bereits im unmittelbaren Umfeld der Ölkrise und seitdem immer wieder erstellt.8 Obwohl oder gerade weil diese Studien oft mit dem Ziel entstanden, politische Handlungsanweisungen zu geben, haben sie vielfältige und wichtige Einsichten in die Gestaltung der Energie­ politik in Westeuropa und den USA in den 1970er Jahren hervorgebracht. Sie belegen zum einen, dass sich die Regierungen aller Industrieländer intensiv

4 Paulmann, Internationaler Vergleich; Middell, Kulturtransfer; Werner/Zimmermann, Vergleich. 5 Haupt/Kocka, Comparison; Kaelble, Historischer Vergleich. 6 So die Definition bei Haupt/Kocka, Comparison, S. 4; siehe aber auch Kaelble, Der historische Vergleich. Die Binnendifferenzierungen gehen dann viel weiter und unterscheiden zum Beispiel: synchrone und diachrone, symmetrische und asymmetrische, konvergente und divergente sowie Total- und Partialvergleiche. Siehe Osterhammel, Sozialgeschichte. 7 Die folgenden Ausführungen basieren ganz wesentlich auf Graf, Öl und Souveränität, ohne dass dies im Detail immer genau ausgewiesen würde; siehe auch Bösch/Graf, Reacting. 8 Siehe exemplarisch Mendershausen, Coping; Darmstadter u. a., Industrial Societies; Cowhey, Problems; Lucas/Papaconstantinou, Western European Energy Policies; Ikenberry, Irony; Baumgartner/Midttun, Politics; Licklider, Political Power; Kilian, Comparison.

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darum bemühten, die Energiesicherheit durch die Diversifizierung von Energieträgern und Importländern sowie durch Sparmaßnahmen zu erhöhen. Zum anderen unterscheiden sie nationale Wege der je verschiedenen Ausgestaltung und Mischung dieser energiepolitischen Strategien. Im Anschluss an diese Arbeiten, aber zugleich in Differenz zu ihnen, soll meine Untersuchung die Energiepolitik in Westeuropa und den USA in den 1970er Jahren nicht systematisch vergleichen, sondern vielmehr die Bedeutung der ersten Ölkrise als transnationales und letztlich globales Ereignis in der Geschichte der westlichen Industrienationen genauer konturieren, indem sie diese als souveränitätspolitische Herausforderung begreift. Das Erkenntnisziel liegt also weniger darin, einen Beitrag zur Geschichte der Bundesrepublik oder der Vereinigten Staaten zu leisten, als vielmehr darin, den Zusammenhang von ölbezogenem Wissen und energiepolitischem Handeln in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten zu untersuchen. Um die Auswirkungen der Ölkrise auf die Bundesrepublik Deutschland und die Strategien der Bundesregierung zu ihrer Überwindung zu verstehen, darf die Analyse nicht im nationalen Rahmen verbleiben – genauso wenig wie sie es bei einem der anderen westeuropäischen Länder dürfte. Die Wahl der transnationalen Bezugspunkte ist jedoch nicht beliebig. Abgesehen von den Förderländern ist vielmehr der Einbezug der Vereinigten Staaten unerlässlich, weil diese sowohl in der internationalen Ölwirtschaft eine wichtige als auch im westlichen Bündnissystem eine Führungsposition einnahmen, so dass eine Betrachtung der westeuropäischen Energiepolitik ohne die Berücksichtigung der USA unvollständig bleibt.9 Ein systematischer Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten im Bereich der Öl- und Energiepolitik wäre aber aufgrund der fundamental verschiedenen Ausgangsbedingungen wenig ertragreich. Denn die ölpolitischen Unterschiede zwischen den USA als dem Mutterland der industriellen Ölförderung, das zu Beginn der 1970er Jahre sowohl der größte Ölproduzent als auch der größte Ölkonsument war, in dem fünf der sieben größten, weltweit agierenden Ölfirmen ihren Hauptsitz hatten, und der Bundesrepublik, die über keine nennenswerte eigene Ölförderung verfügte, sondern fast vollständig von den Lieferungen der multinationalen Ölkonzerne abhängig und zudem energiepolitisch in europäische Bündnisstrukturen eingebunden war, könnten größer kaum sein. Diese Differenzen erzeugten für die beiden Länder am Vorabend der ersten Ölkrise eine grundverschiedene Ausgangslage: Während die USA 1972 etwa 29 Prozent des im Land verbrauchten Öls importierten, das 14 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs darstellte und nur zu einem geringen Teil  aus dem Mittleren Osten stammte, machte importiertes Öl über 50 Prozent der bundesrepublikanischen Energieversorgung aus und dieses Öl stammte ganz überwiegend aus Ländern, die vom Nahostkonflikt

9 Beispiele für diese europäische Beschränkung sind Hohensee, Erste Ölpreisschock oder Tauer, Störfall.

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betroffen waren.10 Die Analyse kann also nicht ohne den Bezug auf die USA auskommen, die systematische Auflistung der energiepolitischen Differenzen zwischen den USA und der Bundesrepublik in einem kontrastierenden Vergleich würde aber im Wesentlichen das triviale Ergebnis produzieren, dass Verschiedenes verschieden war und je verschiedene Konsequenzen nach sich zog. Gewinnbringender ist es demgegenüber, nach strukturellen Gemeinsamkeiten zu fragen, die sich aus dem transnationalen oder globalen Charakter der ersten Ölkrise ergaben. Denn angesichts der grundsätzlich verschiedenen Ausgangsbedingungen in Westdeutschland und den USA, liegt die Vermutung nahe, dass diese Gemeinsamkeiten für die Geschichte der westlichen Industrienationen insgesamt charakteristisch sind, was dann für andere westeuropäische Länder bestätigt werden müsste.11 Ein Vergleich zwischen historischen Phänomenen ist kein Selbstzweck, sondern nur dann sinnvoll, wenn zunächst aus einer bestimmten Fragestellung ein Tertium Comparationis gewonnen wird.12 Fragt man nach der Bedeutung der Ölkrise für die Geschichte der westlichen Industrienationen, liegt ein mögliches Tertium Comparationis in der nicht nur energie-, sondern auch souveränitätspolitischen Herausforderung, die die Ölpreissteigerungen und Lieferbeschränkungen im Oktober 1973 für Westeuropa und die USA bedeuteten. Schon bei deren genauer Beschreibung im folgenden Abschnitt (II.) zeigt sich, dass die einzelnen Länder in einer Welt des Öls agierten, die selbst transnational strukturiert war: Multinationale Konzerne organisierten den globalen Fluss des Rohstoffs, ohne dabei nationalen Handlungslogiken zu entsprechen, und eine Reihe internationaler Organisationen versuchten, die Welt des Öls mitzugestalten, wie z. B. die Organization of Petroleum Exporting Countries (OPEC) und die Organization of Arab Petroleum Exporting Countries (OAPEC), die Organization for Economic Cooperation and Development (OECD), die United Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) oder die Europäischen Gemeinschaften (EG). Eine wesentliche Gemeinsamkeit der Krisenwahrnehmung bestand in der Diagnose eines Mangels an öl- und energiebezogenem Wissen – an »Petroknowledge«13  – dessen Ausbau dann tatsächlich vergleichend unter10 NSSM 174: National Security and U. S. Energy Policy, August 1974, Nixon Library, Yorba Linda, California [im Folgenden zitiert als Nixon Library], NSC , Inst. Files (»H-Files«), Box H-197; Quantitative und qualitative Daten zur Frage der Versorgungskontinuität, 1.6.1970, Bundesarchiv, Koblenz [im Folgenden zitiert als: BArch] B 102/282309, Bd.  2: 1970–73. 11 Der Begriff »global« ist hier immer mit der Einschränkung zu verstehen, dass die Länder des Ostblocks im Energiebereich relativ autark waren und Veränderungen der internationalen Ölwirtschaft hier nur vermittelt und unter anderen Bedingungen wirkten, so dass sie in diesem Zusammenhang ausgeklammert werden. Siehe dazu aber ausführlicher die Beiträge in Bösch/Graf, Energy Crises. 12 Herbst, Komplexität, S. 76–98. 13 Der Begriff stammt von Timothy Mitchell, wird von ihm aber anders und eingeschränkter definiert. Mitchell, Carbon Democracy, 2007, S. 417.

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sucht werden kann (III.). Über die nationale oder vergleichende Betrachtung der Souveränitätspolitik im Zeichen der Ölkrise müssen aber auch die Interaktionen und Kooperationen mit anderen Ländern untersucht werden. Denn einzig die USA konnten ein energiepolitisches »Project Independence« formulieren, das nicht vollkommen unrealistisch, jedoch auch nicht besonders praktikabel war. Die westeuropäischen Länder mussten demgegenüber mit den globalen Interdependenzen umgehen, die allerdings auch die US -Regierung betonte (IV.). Abschließend (V.) werden dann die Implikationen dieser Analyse der Souveränitätspolitik im Zeichen der Ölkrise für den Charakter der 1970er Jahre als Transformationsphase in der Geschichte der westlichen Industrienationen entwickelt.

II. Öl und Souveränität Mit der Expansion der Ölwirtschaft im Verlauf des 20. Jahrhunderts, der Bedeutungssteigerung des Öls als Treibstoff und Heizmittel sowie als Grundstoff der chemischen Industrie wurde der ausreichende Zugang zu Öl­reserven zu einer immer essenzielleren Bedingung für die Funktionsfähigkeit moderner Volkswirtschaften. Insofern wirtschaftliche Prosperität die Legitimität und Stabilität staatlicher Ordnungen beeinflusste, verband sich der Zugang zum Öl auch mit Fragen nationaler Souveränität.14 Explizit bemerkten den allgemeinen Zusammenhang von Rohstoff- und Souveränitätsfragen allerdings zunächst die rohstoffreichen Länder der sogenannten Dritten Welt: Seit Beginn der 1960er Jahre und verstärkt seit ihrem Ende waren sie vor allem im Rahmen der UNCTAD darum bemüht, permanente Souveränität über die auf ihrem Territorium vorhandenen natürlichen Ressourcen zu gewinnen.15 An der Spitze dieser Bewegung standen die Ölförderländer, in denen Ölkonzerne aus den USA und Westeuropa, auf der Basis von Konzessionen die Förderung kontrollierten.16 Mit der Gründung der OPEC im Jahr 1960 versuchten sie durch eine koordinierte Politik die Kontrolle über den Ölpreis und die Ölförderung zu erlangen. Nachdem sie hier Ende der 1960er Jahre erste Erfolge erzielt und sich die Gewichte in der internationalen Ölwirtschaft zu Beginn der 1970er Jahre zu ihren Gunsten verschoben hatten, ließen sie im Oktober 1973 die Verhandlungen mit den Ölfirmen über den Ölpreis scheitern.17 In der Folge setzten die Förderländer einseitig in wenigen Monaten eine Vervierfachung des Ölpreises durch. Gleich­

14 Siehe zur Geschichte des Öls als Überblicksdarstellungen Yergin, Prize und kritischer Mitchell, Carbon Democracy, 2011. 15 Anghie, Imperialism, S. 196–244. 16 Garavini, After Empires. 17 Organization of the Petroelum Exporting Countries (Hg.), Official Resolutions and Press Releases. 1960–1980, Oxford 1980; dazu Venn, Oil Crisis; Graf, Making Use.

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zeitig, aber unabhängig davon, beschlossen die arabischen Förderländer allgemeine Produktions- und Lieferbeschränkungen und verhängten ein Embargo gegen die USA und die Niederlande, um die arabische Seite im Jom-KippurKrieg mit Israel zu unterstützen und die westlichen Länder zu einer pro-arabischen Positionierung zu bewegen. Diese beiden Prozesse, die zeitgenössisch als »Ölkrise« zusammengefasst wurden, führten in aller Deutlichkeit vor Augen, was Energieexperten und aufmerksame Beobachter seit den späten 1960er Jahren immer wieder festgestellt hatten: In Westeuropa, Nordamerika und Japan hingen Wachstum und Wohlstand und damit letztlich auch die Stabilität der demokratischen Institutionen von einer Grundlage ab, die diese selbst nicht garantieren konnten, nämlich von der preisgünstigen und unbegrenzten Verfügbarkeit von Energieträgern, vor allem von Öl. Die Beanspruchung und Übernahme wirtschaftlicher Souveränitätsrechte durch die Förderländer stellten also auch die Souveränität der westlichen Industrienationen in Frage. Dies erschien umso gravierender, als die Kategorie der »nationalen Souveränität« angesichts der zunehmenden ökonomischen Globalisierung  – die Zeitgenossen sagten »Interdependenz«  – sowie der wachsenden Bedeutung multinationaler Konzerne, aber auch internationaler Organisationen und Vereinbarungen ohnehin als gefährdet, wenn nicht gar als obsolet galt.18 Zur genaueren Bestimmung der souveränitätspolitischen Herausforderung durch die Förderländer ist eine begriffliche Unterscheidung von Stephen D. Krasner hilfreich: Die Handlungen von OPEC und OAPEC gefährdeten zwar nicht die sogenannte »westfälische Souveränität« der westlichen Industrienationen – sie waren keine Einmischung auf ihrem Territorium –, wohl aber ihre »Interdependenz-Souveränität«, das heißt ihre Fähigkeit, den Fluss von Gütern, Menschen und Ideen über ihre Grenzen zu regulieren. Darüber hinaus griffen die arabischen Förderländer auch die »internationale Souveränität« der westlichen Demokratien an, indem sie diese zwingen wollten, eine bestimmte außenpolitische Position einzunehmen. Diese Drohung ging davon aus, dass fortgesetzte Lieferausfälle auch die »innenpolitische Souveränität« der Staaten beeinträchtigen und ihre jeweiligen Regierungen, wenn nicht gar ihre politischen Ordnungen insgesamt, gefährden könnten.19 In dieser Form ist die Beschreibung der Ölkrise als souveränitätspolitische Herausforderung zwar eine nachträgliche Konstruktion, sie wurde aber bereits von den Zeitgenossen in diesem Sinne wahrgenommen. So stieß der britische Oppositionsführer Harold Wilson im November 1973 in inoffizieller Runde mit der Äußerung auf Zustimmung, die britische Souveränität sei seit dem Däneneinfall vor über tausend Jahren nicht mehr unter derartigen Druck geraten wie

18 Siehe zur Kritik aus unterschiedlichen Richtungen zum Beispiel Keohane/Nye, Transnational Relations; Forsthoff, Staat. 19 Siehe zur Unterscheidung von »Westphalian«, »international legal«, »domestic« und »interdependence sovereignty« Krasner, Sovereignty, S. 3.

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jetzt durch die Politik der Förderländer.20 Zeitgleich erklärte der liberale Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs vor dem Deutschen Bundestag, die Ölkrise sei »eine Herausforderung an uns alle, die wir in dieser Gesellschaft weitgehend in Wohlstand und Überfluß leben …. An der Energie hängen in unserer Volkswirtschaft eben nicht nur ein bißchen Bequemlichkeit mehr oder weniger, nicht nur warmes Wasser, Fernsehen oder Autofahren, sondern letztendlich alle Arbeitsplätze, um nicht zu sagen: das Leben der Menschen in diesem Lande.«21 Dass die Legitimität der demokratischen Ordnung gerade im Systemwettstreit des Kalten Krieges von ihrer Fähigkeit zur Lebensstandardsteigerung abhing, verstand sich von selbst. Ebenfalls im November 1973 verkündete der amerikanische Präsident Richard Nixon eine nationale Kraftanstrengung im Stile des »Manhattan«- oder »Apollo-Projects«, um die USA bis zum Jahr 1980 unabhängig von Energieeinfuhren zu machen. Er hob damit die Herausforderung durch die Ölkrise nicht nur auf eine Stufe mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kalten Krieg, sondern bezeichnete das Programm im Geiste der anstehenden 200-Jahr-Feiern auch noch als »Project Independence«, denn im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts werde die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten, mit anderen Worten ihre nationale Souveränität, von ihrer Fähigkeit abhängen, den Energiebedarf selbst zu decken.22 Mit der Beschreibung der ersten Ölkrise als souveränitätspolitische Herausforderung für die westlichen Industrieländer ist zugleich klar, dass ihre Analyse nicht im nationalstaatlichen Rahmen verbleiben kann. Schließlich bezeichnet der Souveränitätsbegriff die Anerkennung eines Staates im Staatensystem und weist damit immer über das einzelne Land hinaus, auch wenn er sich nicht nur auf die Außenpolitik beschränkt, sondern sich gerade dadurch auszeichnet, diese mit der Innenpolitik zu verbinden.23 Die Unzulänglichkeit einer rein nationalen Perspektive verdeutlicht auch die Untersuchung der Reaktionen auf die Handlungen von OPEC und OAPEC im Oktober 1973. Die erste Ölkrise gilt gemeinhin als ein unerwartetes Ereignis, das den politisch Verantwortlichen und der breiten Öffentlichkeit schockartig die Abhängigkeit der Industrienationen vom Öl aus der Golfregion verdeutlicht habe.24 Wenn die Ölkrise plötzlich und unerwartet kam, ist allerdings schwer zu erklären, warum die westlichen Industrienationen so schnell und ähnlich auf die Krise reagierten: In den 20 Karl-Günther von Hase, Bericht über den Besuch Abdessalams und Yamanis in London, 30.11.1973, PA AA , B 36 (Referat 310), 104992. 21 Hans Friderichs, Beitrag zur zweiten und dritten Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Mineralöl oder Erdgas, in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 7. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Bd. 85, Bonn 1973, S. 3837–3840, hier: S. 3838. 22 Richard Nixon, Energy Speech, November 25, 1973, Nixon Library, WHSF, Pres. Pers.­ Files, Box 89; siehe mit transnationaler Perspektive auch Campbell u. a., Energy. 23 Biersteker/Weber, State Sovereignty. 24 Yergin, Prize, S. 588; Umbach, Globale Energiesicherheit; Rifkin, Third Industrial Revolution, S. 10.

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meisten Ländern bestanden 1973 Notfallvorräte und gesetzliche Möglichkeiten zum Eingriff in die Energiewirtschaft bei Versorgungsengpässen. Wo letztere noch nicht vorhanden waren, wurden sie in Windeseile erlassen, wie in der Bundesrepublik Deutschland das sogenannte Energiesicherungsgesetz, das in einer Woche den Bundestag passierte.25 Gegen die Lesart der Ölkrise als plötzlicher Schock spricht auch, dass die meisten Länder bereits mit der Umstrukturierung ihrer Öl- und Energiepolitik begonnen hatten, als die OPEC im Oktober 1973 den Ölpreis erhöhte und die OAPEC die Fördermenge drosselte: Schon im April 1973 hatte Präsident Nixon John A. Love, der vorher Gouverneur von Colorado gewesen war, den souveränitätspolitisch interessanten Titel des »Energie­zaren« verliehen und ihn mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet; Frankreichs sechster Plan zur wirtschaftlichen Entwicklung für den Zeitraum von 1971 bis 1975 war zwar noch von einer weiter zunehmenden Dominanz des Öls im Energiebereich ausgegangen, hatte aber bereits einen deutlichen Ausbau der Kernenergie beabsichtigt; und auch das erste umfassende Energieprogramm der Bundesregierung war kurz vor Beginn der ersten Ölkrise verabschiedet worden.26

III. Petroknowledge als Souveränitätsgarant Die Synchronizität und Gleichförmigkeit von Gefahrendiagnosen und Re­ aktionsstrategien ist nicht darauf zurückführen, dass Regierungsmitarbeiter unabhängig voneinander zu gleichen oder zumindest ähnlichen Ergebnissen gekommen wären, sondern vielmehr auf den transnationalen Austausch der Ölund Energieexperten aus den relevanten Ministerien im Rahmen der OECD. Seit der Suez-Krise 1956 hatte die wachsende Abhängigkeit der westeuropäischen Wirtschaften von Öllieferungen aus dem Mittleren Osten Grund zur Sorge gegeben, und das Ölkomitee der OEEC bzw. OECD war darum bemüht, die Gefahr von Lieferunterbrechungen abzuschätzen und zu minimieren.27 Hier wurden 25 Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung bei Gefährdung oder Störung der Einfuhren von Mineralöl oder Erdgas (Energiesicherungsgesetz), Bundesgesetzblatt, Teil 1, Nr. 89, 10. November 1973. 26 Office of the White House Press Secretary, Statement by the President, June 29, 1973,­ Nixon Library, WHCF, SMOF, EPO, Box 24; VIe plan de développement économique et social 1971–1975. Rapport général:  Les objectifs généraux et les actions prioritaires du VIe plan et annexes au rapport général: Programmes d’actions détaillées, Paris 1971, S. 301. Noch 1969 hatten sich die französischen Planer darauf verlassen, dass das Öl die gesamten nötigen Energieverbrauchssteigerungen ermöglichen werde, kurz darauf wurden sie aber skeptischer; Comité professionnel du pétrole, Pétrole 1969. Elements statistiques – áctivité de l’industrie pétrolière, Paris 1970; Unterrichtung durch die Bun­desregie­ rung. Die Energiepolitik der Bundesregierung, in: Deutscher Bundestag. Drucksachen 1972–1976 7/1057 (1973). 27 OEEC Oil Committee, Europe’s need for oil. Implications and Lessons of the Suez Crisis, Paris 1958; OEEC Oil Committee, Oil, recent developments in the OEEC area, Paris 1961; siehe dazu ausführlich Graf, Öl und Souveränität, S. 51–66; sowie auch Türk, Oil Crisis.

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die Wahrnehmungen des internationalen Ölmarktes harmonisiert sowie Krisen­ reaktionsmechanismen diskutiert und koordiniert. Obwohl das Ölkomitee den Embargoversuch im Kontext des Sechstagekrieges 1967 nicht antizipiert hatte, war es bis zum Ende der 1960er Jahre zuversichtlich, dass das Risiko von Lieferunterbrechungen gering war und diese notfalls leicht überwunden werden könnten. Denn die Vereinigten Staaten verfügten über ausreichende zusätzliche Förderkapazitäten, um den Westeuropäern im Notfall unter die Arme zu greifen.28 Diese Einschätzung änderte sich schlagartig, als die Delegation der Vereinigten Staaten ihren Verbündeten im Januar 1970 mitteilte, dass ihre Nettoimporte die zusätzlichen Förderkapazitäten auf den amerikanischen Ölfeldern überstiegen und sie in zukünftigen Krisen mit den Europäern um Öl konkurrieren würden.29 Der Verlust der US -amerikanischen Reserveproduktionskapazität veränderte die Kräfteverhältnisse auf dem internationalen Ölmarkt grundlegend und diente Ulf Lantzke, dem Ölexperten des Bundeswirtschaftsministeriums, fortan als Begründung für die Notwendigkeit einer Umstrukturierung auch der bundesdeutschen Energiepolitik.30 In der komplexen und global strukturierten Ölwirtschaft waren es also inter- und transnational abgestimmte Wahrnehmungen, die den Ausgangspunkt für nationale Politikformierungen bildeten. Gerade der Aufstieg der OECD ist hier entscheidend, die auch in anderen Bereichen immer stärkeren Einfluss auf die nationale Politikgestaltung ausübte, obwohl sie über keinerlei Sanktionsmöglichkeiten verfügte, ihre Empfehlungen durchzusetzen.31 Trotz der in Expertenkreisen aber auch darüber hinaus verbreiteten Problemwahrnehmung, die zu Beginn der 1970er Jahre durch erste von den Förderländern durchgesetzte Preissteigerungen und Beteiligungsausweitungen bestätigt wurde, und der sich seit dem Frühjahr 1973 verdichtenden Anzeichen für eine politische Instrumentalisierung des Öls durch die arabischen Förderländer wurde der konkrete Zeitpunkt der Ölkrise nicht antizipiert. Denn mit seinem auslösenden Moment, dem ägyptischen Angriff auf Israel und dem Jom-Kippur28 Special Committee for Oil. Summary Record, 11th Session, June 12, 13, 1967; OECD Council, Report of the Oil Committee, June 13, 1967; Special Committee for Oil, 13th Session, July 20, 21, 1967; Special Committee for Oil, General Working Group, 12th Session, July 21, 1967; National Archives of the United Kingdom (im Folgenden NA UK), POWE 63/111; OECD Council, Prospects for Oil Supply and Demand. Report by the Special C ­ ommittee for Oil, Paris 3 July 1970; Supplementary Report by the Special Committee for Oil on Oil Supply and Demand Prospects to 1975; NA UK , POWE 63/280. 29 Greenwald (US Mission OECD), Meeting of High Level Group of OECD Oil Committee, January 16, 1970, National Archives and Records Administration, College Park, RG 59, Box 1481 from PET 1 to PET 3 OECD; Kling (OECD), Kurzbericht Nr. 14 über die Sitzung der High Level Group des Mineralölausschusses der OECD am 8.1.1970, BArch, B 102/131405. 30 Ulf Lantzke an StS Dr. Rohwedder, Sicherung der Rohölversorgung Europas in Krisenzeiten, 19.1.1970, in: BArch B 102/131404 Bd. 1 1966–70; Lantzke (Abt. III) an BM über Rohwedder, Sicherung der Rohölversorgung Europas in Krisenzeiten, Bericht über Sitzung der High Level Group am 28. Mai 1970, 2. Juni 1970, BArch B 102/131405, Bd. 2 1970–72. 31 Mahon/McBride, Introduction; Schmelzer, Crisis.

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Krieg, war im Westen nicht gerechnet worden.32 Die koinzidierenden Handlungen von OPEC und OAPEC im Oktober 1973 zerstörten etablierte Interaktionsund Kommunikationsroutinen und schufen auch aufgrund ihrer intentionalen Vagheit zunächst einmal ein hohes Maß an Unsicherheit in den westlichen Regierungen, wie auf sie zu reagieren sei. Begonnene energiepolitische Umgestaltungen mussten offenkundig beschleunigt werden, aber die Art, in der das geschehen sollte, hing von einer Reihe von Fragen ab: Wie lange würden die Förderländer ihre Produktion beschränken? Wie groß würde der Lieferausfall sein und durch welche Maßnahmen konnte er substituiert werden? Wie hoch würde die OPEC den Preis steigern können, bevor die Nachfrage wegbrechen und das Kartell kollabieren würde? Welche wirtschaftlichen Auswirkungen würden der höhere Ölpreis und die Lieferbeschränkungen zeitigen? Dies waren Fragen, auf die es keine oder nur widersprüchliche Antworten gab, deren Klärung aber zur Energiepolitikgestaltung unbedingt nötig erschien. Die Krisenwahrnehmung in den westlichen Industrieländern wurde nun dadurch verstärkt, dass die Regierungen anscheinend über nicht genügend Expertise im Öl- und Energiebereich verfügten, um diese Fragen zu beantworten. Allenthalben wurde ein Mangel an ölbezogenen Wissensstrukturen beklagt, der die politische Handlungsfähigkeit einzuschränken schien und daher zu überwinden gesucht wurde. So eröffnete der demokratische Senator Henry A. ­Jackson im Januar 1974 die Senatsanhörungen zum Regierungshandeln in der Ölkrise mit den Worten: »The first conclusion that we have drawn from the first three days of hearings is that we still do not have the facts we need to make sound national economic and energy policy. […] We don’t have accurate or reliable figures on stocks, on demand, on costs, on imports, or virtually anything else. Today, no one, I repeat no one, has access to accurate current information on energy reserves or resources.«33 Vor dem Deutschen Bundestag erklärte Willy Brandt im November 1973 in einer Aktuellen Stunde zu Fragen der Energie­ politik, dass sich die »Wahrheit […] allein im Lauf der letzten drei, vier Wochen fast von Tag zu Tag verändert« habe, worauf Franz Josef Strauß ironisch entgegnete, nach so langer »zeitplanmäßiger Vorbereitung in Ihrem Planungsstab« könne man doch wohl eine »wissenschaftlich fundierte, substantiierte Analyse der technischen und wirtschaftlichen Fakten und ihrer sozialen Auswirkungen« erwarten.34 Zu den Informationsdefiziten bemerkte aber ex-post auch Helmut Schmidt, er habe sich »ziemlich hilflos gefühlt angesichts der Tatsache, daß zum 32 Painter, Oil; Madureira, Waiting. 33 U. S. Congress. Senate. Commitee on Government Operations, The Federal Energy Office. Hearings before the Permanent Subcommittee on Investigations, Washington D. C. 1974, S. 597. 34 Willy Brandt, Erklärung der Bundesregierung zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- und Energiepolitik, in:  Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 7.  Wahlperiode. Stenographische Berichte, Bd. 85, Bonn 1973, S. 3908–3913, hier: S. 3908; Franz Josef Strauß, Beitrag in der Debatte zur Erklärung der Bundesregierung zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- und Energiepolitik, in: ebd., S. 3913–3923, hier: S. 3914.

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Beispiel der Informationsstand der deutschen Bundesregierung in der Ölkrise zeitweise allein vom guten Willen einiger Öldirektoren abhing.«35 Im Rahmen der Strategien zur Herstellung von Handlungsfähigkeit bzw. letztlich zur Souveränitätssicherung wurde dem Ausbau der Wissens- und Expertenstrukturen daher überall hohe Bedeutung beigemessen. Dieser Prozess, der nur vor dem Hintergrund des allgemeinen Aufstiegs der Expertise und verwissenschaftlichten Politikgestaltung im 20. Jahrhundert zu verstehen ist, bildet wiederum ein Tertium Comparationis, dessen Ausprägungen in den verschiedenen Ländern genauer beschrieben werden kann, was hier nur andeutungsweise möglich ist.36 In den Vereinigten Staaten erfolgte mit der Gründung des Energy Policy Office, des Federal Energy Office und der Federal Energy Administration im Zeichen des »Project Independence« eine Zusammenfassung energiepolitischer Kompetenzen, die zwar unvollständig blieb, aber schließlich unter Präsident Carter in die Gründung des Departement of Energy mündete.37 In Frankreich und Großbritannien waren die staatlichen Planungs- und Steuerungskompetenzen ohnehin größer gewesen, wurden aber auch hier im Zeichen der Ölkrise ausgebaut: In Frankreich wurde Jean Blancard, der zuvor im Verteidigungsministerium für die Rüstung zuständig gewesen war, zum Bevollmächtigten für Energiefragen ernannt, und in Großbritannien wurden die energie­politischen Kompetenzen, die 1969 aus dem Department of Power in das Ministry of Technology bzw. das Department of Trade and Industry eingegliedert worden waren, 1974 erneut in ein eigenständiges Department of Energy überführt. In der Bundesrepublik blieben die Umstrukturierungen demgegenüber vergleichsweise gering: Zwar wurde das Energiereferat des Wirtschaftsministeriums ausgebaut, ansonsten verließ man sich aber im Bund wie auch in den Ländern auf externe Expertise vor allem des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität zu Köln.38 Im Vergleich mit den USA verblüfft aus heutiger Perspektive vor allem der deutlich marktliberalere Ansatz der Bundesregierung, die nur mit »leichter Hand« steuern wollte, während in den Vereinigten Staaten ein System der »mandatory allocation« eingeführt, Nixons Preiskontrollen erst unter dem Demokraten Carter beseitigt und die energiepolitischen Anstrengungen rhetorisch als autarkiepolitisches Projekt verkauft wurden.39 So unterschiedlich die Ausprägungen auch waren, lag dem Ausbau der Energieexpertise überall die Auffassung zu35 Helmut Schmidt, Die Energiekrise – Eine Herausforderung für die westliche Welt. Vortrag vor der Roosevelt University in Chicago am 13.3.1974, in: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung 35 (1974), S. 325–330, hier: S. 329 f. 36 Zur Verwissenschaftlichung und Bedeutung von Experten einführend Raphael, Verwissenschaftlichung; Ericsson u. a., Cambridge Handbook. 37 Graf, Claiming Sovereignty. 38 Liebrucks u. a., Sicherung; Wolfgang Hoffmann, Bonner Expertenstäbe – Die Verwalter der Krise, in: Die Zeit, 30.11.1973. 39 Als detaillierte Darstellung der Preiskontrollen siehe Vietor, Energy Policy, S. 236–271.

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grunde, dass einzig korrekte Daten die Grundlage für eine solide Energiepolitik sein könnten. Die Inflation der Energieexpertisen, die jeweils entworfen wurden, um das politische Handeln auf eine sichere Grundlage zu stellen, hatte jedoch im Gegenteil einen verunsichernden Effekt. Indem Vertreter der Ölindustrie eine Intensivierung der einheimischen Förderung durch die Lockerung von Umweltauflagen und Investitionsanreize forderten, die Kohle- und Atom-Lobbys ihre jeweiligen Energieträger anpriesen und Experten der Umweltbewegung durch Sparmaßnahmen das Energieverbrauchswachstum eindämmen oder ganz abschaffen wollten, verdeutlichten sie zugleich die Interessengeleitetheit ihrer jeweiligen Expertisen. Die mit der Verwissenschaftlichung der Politik einhergehende »Politi­sierung der Wissenschaft« brachte daher den Versuch, konkrete energiepolitische Entscheidungen auf exakten Daten zu basieren, wie auch die Idee der wissenschaftlichen Politikfundierung im Allgemeinen in Misskredit.40 Obschon es möglich ist, die nationalen Transformationen der Öl- und Energieexpertise zu untersuchen, erfasst ein solcher Vergleich doch nur einen Teil der souveränitätspolitischen Strategien der Länder wie auch nur einen Teil der Veränderungen des Petroknowledge in den 1970er Jahren. Denn neben den staatlichen Institutionen blieben die Daten der multinationalen Ölkonzerne wichtige Quellen ölbezogenen Wissens, von denen die staatlichen Stellen abhingen. Darüber hinaus wurde mit der Gründung der Internationalen Energieagentur (IEA) eine inter- oder transgouvernementale Institution geschaffen, deren Funktion ganz wesentlich in der Schaffung und Bereitstellung von Petroknowledge bestand.41 Auch die IEA war Teil  der souveränitätspolitischen Strategien, mit denen die westlichen Industrieländer der Herausforderung durch OPEC und OAPEC begegneten. Diese hatten also von Beginn an eine internationale Dimension, die auch auf internationaler Ebene und nicht im nationalen Rahmen untersucht werden muss.

IV. Nationale Souveränitätspolitik unter den Bedingungen globaler Interdependenz Unter dem Eindruck von Preissteigerungen und Lieferbeschränkungen ent­ warfen regierungsamtliche und unabhängige Energieexperten in den 1970er Jahren in rascher Folge Konzepte zur Erhöhung der nationalen Energiesicherheit. Nur in den USA wurden diese Strategien zu einem »Project Independence«, das allerdings auch hier nicht erreicht und von vielen zeitgenössischen Beobachtern kritisiert wurde. Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten konnten die europäischen Länder aufgrund ihrer fast vollständigen Ölimportabhängigkeit keine Autarkieansprüche formulieren, sondern mussten inter- und multinatio40 Wildavsky, Politics, S. 18; Weingart, Stunde. 41 Keohane, International Energy Agency; zur Gründungsgeschichte jetzt Türk, Oil Crisis.

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nale Strategien zur Sicherung der Energieversorgung entwickeln. Diese Versuche koordinierter Antwortstrategien, auf die im Übrigen auch die USA setzten, sind essenziell für das Verständnis der Souveränitätspolitik im Zeichen der Ölkrise. Zudem war die Bundesregierung nicht nur im Rahmen der Ölwirtschaft auf die Lieferungen der multinationalen Konzerne und die Kooperation mit Förder- und anderen Verbraucherländern angewiesen, sondern auch in internationale Strukturen eingebunden, die mit der nationalen Souveränitätsentfaltung in Einklang gebracht werden mussten bzw. ihr Grenzen setzten. Schon anlässlich der Aufnahme der Bundesrepublik in die Vereinten Nationen hatte Willy Brandt im September 1973 vor der Generalversammlung erklärt, die Nation finde in der Gegenwart ihre »Sicherung nicht mehr in der isolierten Souveränität«, sondern nur in größeren Gemeinschaften.42 Auch für seine Regierungserklärung zur Energiepolitik in der Ölkrise wollte Brandt keinen »nationalen« Einstieg, sondern vielmehr »die europ. + weltweiten Zusammenhänge von Anfang an klarmachen.«43 Denn die »Probleme der Rohölverknappung« seien von keinem Verbraucherland – vor allem aber nicht von der Bundesrepublik – allein zu lösen, sondern nur auf dem Wege internationaler Kooperation, wobei den Europäischen Gemeinschaften eine Schlüsselstellung zukomme.44 Die europäische Integration war insofern wichtig, als nach der Aufnahme Großbritanniens und unter dem Eindruck des von Henry Kissinger verkündeten »Year of Europe« tatsächlich versucht wurde, im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit auch in der Außenpolitik gemeinsame Positionen zu formulieren.45 Die außenpolitischen Strategien, mit denen die westeuropäischen Länder der Ölkrise begegneten, hatten eine europäische und transatlantische Dimension, die erst in internationalen Verhandlungen bestimmt wurde. In Antizipation geringerer Öllieferungen formulierten die Länder der Europäischen Gemeinschaften in der Nahostdeklaration am 6. November 1973 tatsächlich zum ersten Mal überhaupt eine gemeinsame außenpolitische Position, mit der sie den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten forderten und mit dem bestimmten Artikel die Ambivalenz der UN-Deklaration 242 beseitigten, in der nur unbestimmt von besetzten Gebieten die Rede gewesen war.46 Ihr folgte im Dezember die Deklaration der 42 Willy Brandt, Address to the United Nations General Assembly. 2128th Plenary Meeting, 26 September 1973, in: United Nations. General Assembly (Hg.): Twenty-Eighth Session. Plenary Meetings. Verbatim Records of Meetings 18 September–18 December 1973 and 16 September 1974, New York 1983, S. 1–5. 43 Erklärung vor dem Deutschen Bundestag, 29.11.1973, BArch B136, 7683. 44 Willy Brandt, Erklärung der Bundesregierung zu aktuellen Fragen der Wirtschafts- und Energiepolitik (29.11.1973), in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 7. Wahlperiode. Stenographische Berichte, Band 85, Bonn 1973, S. 3908–3913, hier: S. 3908, 3911. 45 Zur europäischen Integration und den transatlantischen Beziehungen im Year of Europe erschienen in den letzten Jahren eine Reihe diplomatiegeschichtlicher Arbeiten. Siehe dazu als Überblick Graf, Transatlantische Beziehungen; sowie Gfeller, Building a European Identity. 46 Möckli, European Foreign Policy.

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europäischen Identität, in der die EG ihren Ort in der Welt zu bestimmen suchte und unter dem Eindruck der Ölkrise den Beziehungen zu Nordafrika und dem Mittleren Osten symbolischen Vorrang vor den transatlantischen Beziehungen einräumte.47 Während diese Prozesse in der diplomatiegeschichtlichen Forschung oft als Hochphase der europäischen Integration und Überwindung nationaler Strategien gewertet werden, erscheinen sie in einem anderen Licht, wenn man sie in die gesamte Energiepolitik der europäischen Länder einbettet. Zum einen scheiterten die Bemühungen, eine weitergehende Koordination der europäischen Energiepolitik zu erreichen, und zum anderen versuchten die westeuropäischen Länder weiterhin unabhängig von- und in Konkurrenz zueinander, ihre Energieversorgung durch bilaterale Deals mit den Förderländern zu sichern.48 Die britische und die französische Regierung verweigerten Solidaritätsbekundungen mit den vom Vollembargo betroffenen Niederlanden, um ihre relativ privilegierte Stellung im Produktions- und Lieferbeschränkungsregime nicht zu verlieren. Zudem verfolgte die britische Regierung, die auf die Verbesserung ihrer energiepolitischen Situation durch das Nordseeöl hoffte, zunächst eine »Britain first«-Strategie, deren Ziel es war, »to safeguard full supplies to the UK even at the expense of our partners«.49 Schon die Experten der britischen Regierung erkannten jedoch, dass eine egoistische Politik zwar kurzfristig erfolgreich sein könne, aber zu einer Verschlechterung der Beziehungen innerhalb Europas führen werde, deren negative Effekte langfristig schwerer wögen als ein Mangel an Öl.50 Rein nationalstaatliche Analysen der Regierungspolitik sind für die 1970er Jahre also auch deshalb unzureichend, weil die Regierungen selbst erkannten, dass ihre Gestaltungsmacht auf wesentlichen Politikfeldern wie der Energie- und Wirtschaftspolitik nicht ausreichte, sondern Kooperation nötig war. Es wäre aber zu einfach, nationale Strategien zur Herstellung von Energiesicherheit – und damit auch zur Souveränitätssicherung – und die Bemühungen um internationale Kooperation in einen Gegensatz zu bringen. Beide schlossen einander nicht aus, sondern ergänzten sich vielmehr wechselseitig.51 Aufgrund der global interdependenten Struktur der Ölwirtschaft auf der einen Seite und der innereuropäischen wirtschaftlichen Verflechtungen auf der anderen war keines der europäischen Länder dazu in der Lage, seine Energieversorgung im 47 The Declaration of European Identity, in: Bulletin of the European Communities 12 (1973), online unter: http://www.cvce.eu/obj/Declaration_on_European_Identity_Copenhagen_ 14_December_1973-en-02798dc9–9c69–4b7d-b2c9-f03a8db7da32.html [letzter Zugriff: 20.9.2012]; Möckli, European Foreign Policy, 219–224. 48 Bilateral Deals. Everbody’s Doing It, in: Middle East Economic Survey 17,13 (18.1.1974), S. 1; Paper Prepared in the Office of Economic Research, Central Intelligence Agency, Washington, February 4, 1974, in: Qaimmaqami/Keefer, Energy Crisis, S. 840–844. 49 Document 356: Fenn to Parsons, 1.11.1973, in: Hamilton, Year. 50 Permanent Under-Secretary’s Planning Committee, Oil and Europe, 11.12.1973 (PC 73 (17)), NA UK , FCO 30/1944. 51 Anders Venn, International Co-operation.

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Alleingang zu sichern, sondern sie mussten kooperieren. Diese Kooperation schränkte nationale Souveränitätsspielräume aber nicht ein. Ganz im Gegenteil erweiterte die Europäische Politische Zusammenarbeit und konkret die Nahostdeklaration der EG die außenpolitischen Verhandlungsmöglichkeiten beispielsweise der Bundesregierung, die nun auf die offizielle europäische Position verweisen konnte. In der Ölkrise agierten die westeuropäischen Länder gegenüber den Förderländern, aber auch gegenüber den USA sozusagen doppelt, indem sie eine nationale und eine europäische Strategie verfolgten. Gerade die französische Regierung versuchte, die EG zum Instrument einer eigenständigen, auch gegen die USA gerichteten, französischen Außenpolitik zu machen. Mit dieser Strategie erlitt sie allerdings auf der Washingtoner Energiekonferenz im Februar 1974 Schiffbruch, als die britische und die bundesdeutsche Regierung sich gegen die europäische Solidarität und für die transatlantische Kooperation mit den USA entschieden.52 Denn obwohl sie als einziges Land zu einer unilateralen Krisenlösung fähig gewesen wären, wählten auch die Vereinigten Staaten einen multilateralen Weg, indem sie mit der Internationalen Energieagentur (IEA) eine Organisation der Ölimportländer schufen, die deren Politik im Konflikt mit der OPEC koordinieren sollte. Dabei war die US -Regierung durchaus zum Souveränitätsverzicht bereit, indem sie einem Ölverteilungsmechanismus zustimmte, der in Krisenfällen automatisch ausgelöst und von ihnen nicht gestoppt werden konnte. Allerdings geschah dies wohl weniger wegen der von Kissinger immer wieder betonten globalen Interdependenz, die internationale Kooperation erfordere und nationale Lösungen unmöglich mache, als vielmehr, um eine eigenständige europäische Kooperation ohne die USA zu verhindern und deren Hegemonie im westlichen Bündnis zu stabilisieren. Genau wie die europäischen Länder waren sie also dort zum Souveränitätsverzicht in internationalen Kooperationen oder auch Organisationen wie der IEA bereit, wo sie sich davon Souveränitätsgewinne an anderer Stelle versprachen.  Insofern die Regierungen ihre eigenen Handlungsspielräume eingeschränkt sahen und zu deren Erweiterung nach internationaler Kooperation strebten, deren sichtbarstes und dauerhaftestes Ergebnis die Schaffung der IEA war, bleiben also auch im Energiebereich alle Vergleichsanordnungen unvollständig, die die Ebene der transnationalen Kontakte wie in der OECD oder der internationalen Verhandlungen zwischen den Regierungen wie auf der Washing­ toner Energiekonferenz ausblenden.53

52 Siehe dazu allerdings mit pro-französischem Bias Gfeller, Building a European Identity. 53 Siehe die Verweise in Anm. 8.

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V. Fazit: Die Ölkrise und die Transformationsprozesse der 1970er Jahre In der internationalen und vor allem in der bundesdeutschen Historiographie gelten die 1970er Jahre als wichtige Transformationsphase in der Geschichte der westlichen Industriegesellschaften: als Wende vom ökonomischen Boom zur Krise, von der Vollbeschäftigung zur Massenarbeitslosigkeit, von der industriellen zur »postindustriellen« Gesellschaft, von einer Zeit anscheinend unbegrenzter Möglichkeiten zur Erkenntnis von Grenzen, von euphorischen Hoffnungen zu dunklen Befürchtungen des Niedergangs und von der Idee ökonomischer und gesellschaftlicher Planung durch rationale Experten hin zu pragmatischem Krisenmanagement.54 Während in vielen dieser Zusammenhänge die Ölkrise der Jahre 1973/1974 als wichtiger Faktor oder auch nur als besonders signifikanter Indikator der Veränderungen angeführt wird, deutet die Untersuchung der souveränitätspolitischen Strategien in Westeuropa und den USA in eine andere Richtung. Auch wenn die Ölkrise in vielen Bereichen sicher geglaubte Zukunftserwartungen zerstörte und die ökonomische Krise die Hoffnung zerstörte, durch Planung und Globalsteuerung Wachstum stabilisieren und Krisen grundsätzlich vermeiden zu können, erhöhte sich doch im Ölbereich zunächst einmal der Bedarf an Planungen und Prognosen. Die durch die Handlungen von OPEC und OAPEC erzeugte Unsicherheit sollte durch die Ausweitung des Petroknowledge und der Energieexpertise kompensiert werden, die verschiedene Energiezukünfte modellieren und verfügbar machen sollte. In diesem Sinne öffnete sich in den 1970er Jahren der Zukunftshorizont für alternative Energiezukünfte noch einmal dramatisch. Dabei ging es nicht nur um kurzfristige Prognosen für das unmittelbare Krisenmanagement, sondern es wurde zunehmend argumentiert, dass zur sinnvollen Gestaltung der Energiepolitik langfristige Prognosen und Planungen nötig seien, die bis zum Jahr 2000 reichen müssten.55 Zudem erzeugte die neue Volatilität des Ölpreises einen Prognosebedarf, der so vorher nicht bestanden hatte. Auf internationaler Ebene entstand mit der IEA eine neue Institution, deren wesentliche Funktion in der Sammlung energiebezogener Daten und der Bereitstellung von Energieprognosen lag. In der Bundesrepublik werden die politischen Veränderungen der 1970er Jahre, die mit dem Wechsel von Brandt zu Schmidt koinzidierten, meist als Abkehr von einem visionären, aber auch unrealistischen Politikstil hin zum pragmatischen Krisenmanagement beschrieben. Dies war jedoch ganz wesentlich eine zeitgenössische Legitimations- und Abgrenzungsrhetorik, die die Verän54 Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004): Rahmenthema »Die siebziger Jahre«; Hobsbawm, Age, S. 248–286; Judt, Postwar; Raithel u. a., Auf dem Weg; Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom; Jarausch, Ende; Ferguson, Shock; Rodgers, Age, S. 9. 55 Siehe zum Beispiel: Report of the Working Group on the Planning, Price of Oil. Longer Term Energy Problems, 1975, NA UK , CAB 184/291.

Die Bundesrepublik in der Welt des Öls

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derungen zumindest im Energiebereich nur unzureichend beschreibt: Die Planungen zum Ausbau der Atomenergie waren hier nicht weniger gestaltungseuphorisch oder pragmatischer als der Glaube an die unbegrenzte Verfügbarkeit von fossilen Energieträgern. Auch die angebliche Abkehr vom Wachstumsdenken fand, wenn überhaupt, nur im eng begrenzten Milieu der Ökologiebewegung statt, während der politische Mainstream von Franz Josef Strauß bis zu den Gewerkschaften weiter die Notwendigkeit des Wachstums betonte. Noch die bedingte Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute für die Zweite Fortschreibung des Energieprogramms im Jahr 1977 ging nach der Vorgabe der Regierung davon aus, dass das Wirtschaftswachstum bis zum Jahr 1985 im Schnitt 4 und danach 3,5 Prozent betragen würde, weil dies für den Erhalt des Beschäftigungsstandes und der Sozialsysteme notwendig sei.56 Insofern relativiert die Analyse der energiepolitischen Strategien in Westeuropa und den USA in den 1970er Jahren deren Transformationscharakter im Bereich des Planungsdenkens und legt stattdessen eher eine längerfristige Kontinuität und Ausweitung der energie­ politischen Planungs- und Prognosetätigkeit von der Herausbildung des Politikfeldes in den 1970er Jahren bis zu den gegenwärtigen Diskussionen um eine »Energiewende« nahe. Diese Ergebnisse können durch eine Untersuchung der bundesrepublikanischen Energiepolitik nahegelegt, aber erst durch die internationale Analyse­ anordnung bestärkt und validiert werden. Während ein systematischer Vergleich mit den USA angesichts der grundverschiedenen Ausgangsbedingungen wenig ertragreich ist, kann die Geschichte der Energiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren doch nicht ohne Bezug auf die USA geschrieben werden. Die Kommunikation mit den Ölexperten der Vereinigten Staaten und anderer OECD -Länder in der High-Level-Group Oil war der Auslöser für eine systematischere Energiepolitik, die die Bundesregierung schon vor der eigentlichen Ölkrise einleitete. In deren Verlauf hingen ihre Handlungsmöglichkeiten von den Entwicklungen auf dem transnationalen Ölmarkt, dem Verhalten der multinationalen Konzerne und der Förderländer genauso wie der Vereinigten Staaten und der europäischen Partnerländer ab. Diese trans- und internationalen Verbindungen müssen im Fokus der Untersuchung stehen, um die Energiesicherheits- oder Souveränitätspolitik der Bundesregierung im Zeichen der Ölkrise zu verstehen. Hierbei zeigt sich zugleich, dass in den 1970er Jahren die wirtschaftliche und politische Integration der Bundesrepublik in transund internationale Strukturen so intensiv war, dass ihre genaue Lagebestimmung immer schwieriger wird. Nicht nur eine Geschichte der Ausprägung dieser Strukturen in der Bundesrepublik muss also über deren Grenzen hinausgehen, sondern auch eine Geschichte der Bundesrepublik selbst, die sich allein auf diese konzentrierte, wäre folglich immer defizitär. 56 Unterrichtung durch die Bundesregierung. Zweite Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung, in: Deutscher Bundestag. Drucksachen 1976–1980 7/1357 (1977), S. 12.

Malte Thießen

Vergleichende, verfeindete und verflochtene Gesellschaften Transnationale Zusammenhänge einer bundesdeutschen Geschichte der Gesundheit

Vergleiche und Verflechtungen sind en vogue. Seit langem spüren Historiker den Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Wechselwirkungen verschiedener Gesellschaften nach. Auch die deutsche Zeitgeschichte hat dank dieser Spurensuche neue Erkenntnisse gewonnen, wie die Befunde des vorliegenden Sammelbandes unterstreichen: Dank komparativer und transnationaler Zugriffe lassen sich westdeutsche Entwicklungen in größere Zusammenhänge einordnen, scheinbare »Sonderwege« der Bundesrepublik differenzieren und nationale Wurzeln oder Pfadabhängigkeiten für soziale Wandlungsprozesse aufzeigen.1 Während vergleichs- und verflechtungsgeschichtliche Studien also seit langem mit großen Schritten die Bundesrepublik durchschreiten, steckt eine Zeitgeschichte der Gesundheit noch in den Kinderschuhen. Obgleich es nichts Existenzielleres gibt als Gesundheit und Krankheit oder Leben und Tod, schenken zeithistorische Forschungen diesem Untersuchungsfeld wenig Beachtung. Auf den ersten Blick lässt sich die Zurückhaltung mit einer disziplinären Aufgabenteilung erklären. Schließlich haben sich mittlerweile Medizinhistoriker auch der Bundesrepublik zugewandt. Unter Zeithistorikern könnte daher der Eindruck entstehen, dass dieses Forschungsfeld bereits gründlich beackert wird und sich weitere Erkundungen nicht mehr lohnen. Dieser Eindruck ist richtig und falsch zugleich. Einerseits können wir durchaus auf medizingeschichtliche Forschungen zur Bundesrepublik zurückgreifen. Andererseits konzentrieren sich diese Forschungen meist auf Medizin im engeren Sinne. Im Mittelpunkt der bundesdeutschen Medizingeschichte stehen die Geschichte einzelner Institutionen oder Ärzte, insbesondere aber die Nachwirkungen der NS -Medizin und ihre »Vergangenheitspolitik« nach 1945. Dieser Fokus ist leicht zu verstehen, entspricht er doch dem Auftrag medizinischer Fakultäten, nämlich der Ausbildung von Ärzten, und eben auch einer kritischen Selbstverortung des Fachs. Gleichwohl führt diese Perspektive zu einer thematischen und methodischen Engführung: Eine breit angelegte Zeitgeschichte der Gesundheit ist für die Bundesrepublik noch nicht geschrieben.2

1 Vgl. als Forschungsüberblick neben der Einleitung zu diesem Band die konzeptuellen Überlegungen u. a. bei Werner/Zimmermann, Vergleich; Arndt u. a., Vergleichen. 2 Vgl. Schlich, Zeitgeschichte; Thießen, Medizingeschichte.

Vergleichende, verfeindete und verflochtene Gesellschaften

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Genau darum geht es in diesem Essay: um eine bundesdeutsche Zeit­geschichte der Gesundheit in vergleichs- und verflechtungsgeschichtlicher Perspektive. Diese erschöpft sich nicht in der Beziehungs- oder Globalgeschichte medizinischer Entwicklungen. Vielmehr untersucht sie ebenso gesellschaftliche Wandlungsprozesse wie Veränderungen individueller Lebensstile oder Voraussetzungen und Folgen sozialer Ungleichheit, die sich in Gesundheitskonzepten und -maßnahmen besonders deutlich abzeichnen.3 Eine Zeitgeschichte der Gesundheit nimmt zudem Deutungsmuster unterschiedlicher Akteure in den Blick, die anhand von Gesundheitskonzepten soziale Normen, soziale Beziehungen und soziale Hierarchien verhandeln. In diesem Blickwinkel lassen sich sowohl Aushandlungsprozesse sozialer Ordnungen als auch der Alltag sozialer Praktiken erforschen. Schließlich sagen Konzepte der »gesunden Gesellschaft« zugleich etwas aus über das alltägliche bzw. »gesunde Leben« – und umgekehrt.4 Kurz gesagt, verstehe ich Gesundheit als Seismograph des Sozialen, mit dem sich Tiefenbohrungen in die westdeutsche Gesellschaft vornehmen lassen. Ein komparativer und verflechtungsgeschichtlicher Zugriff verspricht für dieses Vorhaben aus drei Gründen neue Erkenntnisse. Erstens macht der Vergleich deutlich, dass Gesundheitskonzepte sowohl von globalen Entwicklungen als auch vom spezifischen soziokulturellen Kontext abhängig sind.5 Durch Ländervergleiche lassen sich folglich Besonderheiten oder Gemeinsamkeiten präziser bestimmen. Zweitens kann eine Zeitgeschichte der Gesundheit Debatten zur »Systemkonkurrenz« und zur »asymmetrisch-verflochtenen« deutsch-deutschen Geschichte aufgreifen, um unseren Blick für Beziehungen zwischen Bundesrepublik und DDR zu schärfen.6 Und drittens macht uns eine Zeitgeschichte der Gesundheit darauf aufmerksam, dass wir den Vergleich nicht nur als methodischen Zugriff von Historikern, sondern ebenso als Ordnungs­konzept und -praxis historischer Gesellschaften ernst nehmen sollten. Aus diesen Vorüberlegungen ergeben sich Zielsetzungen und Vorgehen des Aufsatzes, der drei Schwerpunkte setzt. In einem ersten Schritt werde ich »Gesundheit« als zeitgenössischen Ordnungsbegriff und als Selbstbeschreibungskategorie untersuchen. Zweitens gehe ich der Frage nach, inwiefern Gesundheit eine Arena im deutsch-deutschen Systemwettbewerb und im transnationalen Konkurrenzkampf des Kalten Krieges eröffnete. Drittens geht es mir um eine Differenzierung dieses Konkurrenzverhältnisses, indem ich Verflechtungen der Bundesrepublik gen Westen und Osten aufzeige, dank denen sich nationale Gesundheitskonzepte sukzessive globalisierten. Zur Veranschaulichung der drei Schwerpunkte greife ich auf meine Befunde zur Geschichte des Impfens zurück. Dieser Fokus hat nicht nur pragmatische 3 Vgl. Hockerts, Vorsorge. 4 Vgl. Briesen, Gesunde Leben. 5 Vgl. die konzeptuellen Bemerkungen zum Vergleich von Gesundheitskonzepten bei Lindner, Gesundheitspolitik; Thomaschke, In der Gesellschaft. 6 Vgl. dazu die Überlegungen bei Tümmers, AIDS und die Mauer.

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Gründe. Darüber hinaus wird an dieser Geschichte »Gesundheit« als sozialer Aushandlungsprozess besonders gut nachvollziehbar. »Der Staat«, so brachte das Bundesgesundheitsministerium die soziale Tragweite von Impfungen in den 1960er Jahren treffend auf den Punkt, »ist gerade auf dem Gebiete der Impfungen besonders interessiert, weil diese nicht nur das einzelne Kind, sondern die Allgemeinheit schützen.«7 Darüber hinaus waren und sind Infektionskrankheiten per se transnationale Phänomene, die sich weder von Staatsgrenzen noch vom »Eisernen Vorhang« aufhalten lassen. Selbstverständlich erschöpft sich eine Zeitgeschichte der Gesundheit nicht in einer Geschichte des Impfens. Insofern beziehe ich in diesem Beitrag weitere Studien zu Gesundheitsthemen mit ein, um die Bandbreite dieses Zugriffs zu unterstreichen.

I.

Vergleichende Gesellschaften: »Gesundheit« als Ordnungsinstrument

Gesundheit ist relativ. Dieser Befund gilt in diachroner ebenso wie in synchroner Hinsicht. Zum einen dient »Gesundheit« als Relationsbegriff, weil Gesellschaften ihre gegenwärtigen Verhältnisse ins Verhältnis zu anderen Zeiten setzen. Die Feststellung, dass es einem heute gesundheitlich besser bzw. schlechter geht, fußt auf Rückblicken, mit denen Bestandsaufnahmen und Zukunftserwartungen formuliert werden, wie ich im Folgenden zeige (1). Zum anderen vergleichen sich Gesellschaften miteinander, indem sie sich in Relation zu anderen setzen. Auch dieser synchrone Vergleich diente zeitgenössischen Gesellschaften für Bestandsaufnahmen, aus denen sich soziale Diagnosen und Prognosen speisten, die im zweiten Teil dieses Kapitels im Mittelpunkt stehen (2). (1) Retrospektiven dienen sozialen Inventuren. Das gilt nicht zuletzt bei Gesundheitsthemen und insbesondere für die Westdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Anstieg der Lebenserwartung, der Rückgang der Kindersterblichkeit und das Verschwinden von »Volkskrankheiten« wurden erst durch Rückblicke sichtbar. Im diachronen Vergleich stand die Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse in der Nachkriegszeit gewissermaßen für den »Aufstieg aus dem Nichts« nach der »Stunde Null«. Mit ihrem Weg aus »Hunger, Not und tödlicher Vereinsamung« gab daher die CDU in ihren Wahlprogrammen der 1950er Jahre »Rechenschaft von dem Geleisteten« und das Versprechen »eines weiteren Ausbaues« des Gesundheitswesens, »um die Volkskrankheiten wirksam zu bekämpfen.«8 Auf den Oppositionsbänken stellte man naturgemäß andere Vergleiche an. So nutzte die SPD die Entwicklung der Gesundheitsverhält7 Bundesarchiv Koblenz (im Folgenden BAK), B 189/14102, Schreiben des BMGes, 29.6.1967. 8 Konrad-Adenauer-Stiftung, Archiv für christlich-demokratische Politik, 07–001–22011, Hamburger Programm der CDU, Bonn 1953, S. 3, 14. Vgl. dieselben Zitate im Wahlprogramm der CDU von 1957: http://www.kas.de/upload/ACDP/CDU/Programme_Bundestag/ 1957_An-das-Deutsche-Volk_NEU.pdf [letzter Zugriff: 30.1.2015].

Vergleichende, verfeindete und verflochtene Gesellschaften

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nisse immer wieder zur Generalkritik für eine verfehlte Sozialpolitik der Union. Im Bundestagswahlkampf 1961 brachte Willy Brandt dieses Motiv mit dem Grundsatz »Wir wollen ein gesundes Volk in einem gesunden Staat« in eine kritische Bestandsaufnahme, die er aus düsteren Rückblicken ableitete: »Es ist bestürzend, daß diese Gemeinschaftsaufgabe, bei der es um die Gesundheit von Millionen Menschen geht, bisher fast völlig vernachlässigt wurde.«9 Als Regierungspartei wiederum verwiesen die Sozialdemokraten auf stetige Verbesserungen der Gesundheitsverhältnisse und auf »eine bessere Qualität des Lebens« als spezifische sozialdemokratische Errungenschaften: »Unsere Leistungen für die Gesundheit der Menschen« standen im SPD -Programm zur Bundestagswahl 1972 auf der sozialpolitischen Habenseite sogar an erster Stelle.10 Nun lassen sich solche Vergleiche ebenso für andere Wahlkampfschlager wie Wirtschaftswachstum oder Wohnungsbau nachweisen. Und doch ist Gesundheit eine besondere Vergleichsgröße. Zum einen sind Gesundheitsfragen moralisch besonders stark aufgeladen, weil es in ihnen um die Grundlage menschlicher Existenz geht. Zum anderen bleibt Gesundheit in der bundesdeutschen Geschichte ein Dauerbrenner, während Debatten um Arbeitslosigkeit, Wohnungsbau, Integration von Vertriebenen oder Migranten konjunkturellen Schwankungen unterliegen. »Gesundheit« avancierte in der Bundesrepublik zu einem beständigen Fortschrittsversprechen und der Rückblick auf Gesundheitsverhältnisse zu einem schlagenden Argument: Im diachronen Vergleich machten Parteien deutlich, was man geleistet hatte bzw. was versäumt worden war. Die Legitimität des Sozialstaats speiste sich also nicht nur aus dem Gefühl seiner Bürger, dass ihre Gesundheit geschützt werde. Wichtiger noch war die Gewissheit, dass es ihnen besser gehe als früher. Dieses sozialstaatliche Fortschritts­ versprechen überdauerte sogar die »Grenzen des Wachstums« bzw. die »Grenzen der Planbarkeit«11 seit den 1970er Jahren. Im Grunde übersetzte »Gesundheit« das Fortschrittsparadigma in die »Zweite« bzw. Postmoderne, wie Philipp Sarasin und Jakob Tanner gezeigt haben: »Inzwischen wird der ›pursuit of happiness‹, den die Aufklärung und die Industrielle Revolution in Aussicht stellten, durch einen ›pursuit of perfection‹ überholt«.12 Man könnte auch sagen: nach 1945 verwandelte sich der »pursuit of happiness« in Europa und den USA zu einem »pursuit of healthiness«.13 Für staatliche Akteure war dieses Fortschrittsparadigma Segen und Fluch zugleich. Einerseits legitimierten bessere Gesundheitsverhältnisse den Sozialstaat. Schließlich schienen Gegenüberstellungen von früheren und heutigen Lebens9 Willy Brandt, Das Regierungsprogramm der SPD, in: Regierungsprogramm der SPD. Außerordentlicher Kongress der SPD, Bonn 1961, S. 19–42, hier S. 22 und 25. 10 Wahlprogramm der SPD. Mit Willy Brandt für Frieden, Sicherheit und eine bessere Qualität des Lebens, Dortmund 1972, Zitat S. 29. 11 Van Laak, Planung. Für die Bundesrepublik vgl. v. a. Ruck, Von der Utopie. 12 Tanner, Historische Anthropologie; vgl. Purtschert u. a., Editorial. 13 Vgl. Thießen, Gesundheit.

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erwartungen, von Sterblichkeits- oder Erkrankungszahlen statistisch »harte« Belege für die staatliche Leistungsfähigkeit zu liefern. In diesem Zusammenhang spielten Impfungen als Legitimationsmedium eine Hauptrolle. Die »Ausrottung« der Pocken und Tuberkulose, das Verschwinden von »Kinderkrankheiten« wie Polio und Diphtherie oder der Rückgang von Masern, Röteln und Keuchhusten stellte dem Sozialstaat ein besonders gutes Zeugnis aus. Andererseits zwang der gesundheitliche Fortschritt den Staat und seine Bürger zu einer kontinuierlichen Optimierung.14 Ulrich Bröckling hat diesen Zusammenhang als konstitutives Problem von Vorsorge benannt und die Praxis des ständigen Vergleichens als Folge dieses Problems beschrieben: »Der unabschließbare Perfektibilisierungsdruck wiederum verpflichtet die Menschen auf das Diktat des Komparativs und bestimmt sie als stets nur vorläufiges Ergebnis von Regimen der (Selbst)Rationalisierung.«15 Impfprogramme galten als einfache Lösung dieses Optimierungsdrucks. Zwar hatte die Steigerung der »Impfquoten« schon lange vor 1945 ganz oben auf der politischen Agenda gestanden. So war die Ausrottung der Pocken während des 19. Jahrhunderts in ganz Europa zum Aktivposten des Interventions- und »Vorsorgestaats« avanciert.16 Nach englischem Vorbild hatte das Kaiserreich 1874 eine allgemeine Impfpflicht gegen Pocken ausgerufen, die notfalls auch mit Polizeigewalt durchgesetzt wurde. Zudem waren im Gesundheitsprogramm des Nationalsozialismus neue Impfungen gegen Diphtherie und Scharlach aufgenommen worden.17 In der Bundesrepublik erweiterten sich die Schutzmöglichkeiten indes erheblich. Neben die Pocken- und Diphtherieschutzimpfungen traten nun die Polio-, Keuchhusten-, Tetanus-, Tuberkulose-, Masern- und Rötelnimpfungen, für die der Bundesbürger gewonnen werden sollte. Für diese Anrufung des »präventiven Selbst«18 war der diachrone Vergleich ein schlagendes Argument. In Hamburg versandte die Gesundheitsbehörde Mitte der 1950er Jahre beispielsweise ein Merkblatt an alle Eltern, um durch einen Rückblick an die Auffrischungs-Impfung gegen die Pocken zu erinnern: »Vor allgemeiner Einführung der Schutzimpfung sind jährlich Tausende von Menschen in Deutschland an dieser Seuche gestorben, weit mehr blieben zeitlebens durch Pockennarben entstellt oder wurden durch die Krankheit blind oder taub. Wenn diese früher allgemein verbreitete Seuche in Deutschland unbekannt geworden ist, so verdanken wir diesem Erfolg der Durchführung des Impfgesetzes«.19 Vergleiche zwischen Vergangenheit und Gegenwart appellier14 15 16 17

Barrett/Amelagos, Unnatural History. Bröckling, Vorbeugen, S. 42. Baldwin, Contagion and the State. Zum Konzept des »Vorsorgestaats« vgl. Ewald, Vorsorgestaat; zur Etablierung des »Vorsorgestaats« im Kaiserreich vgl. Thießen, Vom immunisierten »Volkskörper«. 18 Vgl. Lengwiler/Madarász, Präventionsgeschichte. 19 Staatsarchiv Hamburg (im Folgenden StAHH), 361–2 VI, 2764, Merkblatt der Hamburger Gesundheitsbehörde, »über die Pockenschutz-Wiederimpfung«, o.Dt. [ca. 1954/55].

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ten also an individuelle Ängste, um den kollektiven Schutz zu erhöhen. Das gilt nicht nur für die Pockenschutzimpfung. Auch für neue Kampagnen wie jene gegen die Kinderlähmung, die seit den 1960er Jahren vorangetrieben wurde, waren diachrone Vergleiche das Mittel der Wahl. So erinnerte das Niedersächsische Sozialministerium die Bevölkerung Mitte der 1960er Jahre an frühere Erfolge der Immunisierung, damit die Impfbeteiligung nicht nachlasse: »Der durch die Impfaktion in den Jahren 1962 bis 1964 erreichte Impfschutz der Bevölkerung bleibt nicht für immer erhalten. Er wird besonders von den natürlichen Impflücken durchbrochen, die durch die nachgeborenen ungeschützten Kinder entstehen. Diese Impflücken gilt es zu schließen, wenn der bisher erzielte Erfolg für die Zukunft gesichert bleiben soll.«20 Der diachrone Vergleich zielte also auf zwei Dinge: Zum einen waren Rückblicke der Versuch, aus der Gegenüberstellung von früheren und heutigen Gesundheitsverhältnissen staatliche Interventionen zu legitimieren. Zum anderen untermauerten düstere Prognosen Appelle an den Einzelnen, sein Gesundheitsverhalten in eine rationale Fortschrittsgeschichte einzuschreiben. Mitte der 1960er Jahre brachte eine Broschüre des »Deutschen Grünen Kreuzes« dieses Motiv treffend auf den Punkt: »Impfschutz ist heute nur möglich, wenn das gemeinschaftliche Bemühen aller Verantwortlichen ein fruchtbares Echo in der Verantwortung aller findet. Die Geschichte der Impfung beweist durch Erfolg des bisher erreichten Schutzes menschlicher Gesundheit die Richtigkeit dieser Forderung.«21 Im Vergleich zielte »Gesundheit« damit auf eine doppelte Normierung: zum einen auf die Normierung kollektiver Gesundheitsverhältnisse, zum anderen auf die Normierung individuellen Gesundheitsverhaltens. (2) Zweitens fungierte »Gesundheit« als Relationsbegriff auf der synchronen Ebene. Die Bundesdeutschen verglichen sich nicht nur mit ihren Vorgängern, sondern ebenso mit- und untereinander. Auch in dieser Hinsicht herrschte das von Bröckling genannte Diktat, zumindest aber ein großer Druck zum Komparativ. Auf die Frage, »wie hältst Du es mit dem Impfen?«, erhielt man meist Antworten, die weniger über medizinische als über soziale Einstellungen des Befragten Auskunft gaben. Weil Ungeimpfte eine potenzielle Gefahr für andere darstellten, verschärfte sich das Spannungsverhältnis zwischen Impf­skeptikern und Geimpften seit der Ausweitung des Impfschutzes in der Bundesrepublik. Welche Formen dieses Spannungsverhältnis annehmen konnte, zeigen Äußerungen wie die eines Wiesbadeners, der sich 1967 beim Bundesgesundheitsministerium über die Zurückhaltung seiner Nachbarn bei der Polio-Impfung beschwerte: »Warum besteht nicht auf Bundesebene für alle Bundesländer Impfzwang  …? Oder verstößt in diesem Fall der Zwang gegen das Grundgesetz?

20 Staatsarchiv Oldenburg (im Folgenden StAOL), Rep. 630, 242–3/205, Rundschreiben des Niedersächsischen Sozialministers an alle Regierungspräsidenten, 13.10.1966. 21 BAK , B 189/14089, Broschüre des DGK , »Moderner Seuchenschutz durch Impfprophylaxe«.

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Meines Erachtens geht in diesem Fall die Volksgesundheit vor die Freiheit des einzelnen Bürgers.«22 Derartige Vergleiche zwischen Geimpften und Ungeimpften standen nicht nur in der Tradition des »Vorsorgestaats«, der den Schutz des Allgemeinwohls schwerer gewichtete als individuelle Freiheiten. Darüber hinaus waren sie Folge eines wachsenden »Bewusstseins, in einer Zeit neuer Unsicherheit zu leben«, das mit einer Pluralisierung von Gesundheitsstilen einherging.23 Vergleiche waren somit Folge einer »Versicherheitlichung« von Gesundheit: Je mehr der Traum vom gesunden Leben im Alltag Wirklichkeit wurde, desto mehr wuchsen die Ansprüche an Vorsorgemaßnahmen und Gesundheitspolitiker.24 Und nicht zuletzt waren Vergleiche zwischen Geimpften und Ungeimpften im Interesse staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure  – von der Pharmaindustrie ganz zu schweigen –, wie Merkblätter, Zeitungsmeldungen und Aufklärungsfilme unterstreichen, in denen gesundheitliche Bedrohungen, die von »Impfmüden« ausgingen, in kräftigen Farben ausgemalt wurden: »Jeder«, so warnte ein Rundschreiben der Hamburger Schulbehörde zur Polio-Impfung, »der an der Impfung nicht teilnimmt, wird mitverantwortlich daran, dass uns fortlaufend eine Seuche bedroht, die man verhüten könnte.«25 Seit den 1960er Jahren erhöhten solche Bedrohungsszenarien Immunität also nicht nur zur Pflicht des verantwortungsbewussten Staatsbürgers. Sie stellten zudem dem Verantwortungsbewusstsein ein fahrlässiges Verhalten gegenüber. »Die von Jahr zu Jahr geringer werdende Impfbeteiligung«, so erklärte der nordrhein-westfälische Innenminister in einem Aufruf zur Polio-Impfung 1969, »hat es den Polioviren ermöglicht, sich wieder bei uns einzunisten. Wenn wir unsere Kinder vor dieser grausamen Krankheit schützen wollen, ist das nur durch eine möglichst vollständige Schließung der Impflücken zu erreichen. … Für verantwortungsbewusste Eltern sollte es deshalb selbstverständlich sein, dafür zu sorgen, dass der fehlende Impfschutz bei ihren Kindern so bald wie möglich nachgeholt wird!«26 Als Relationsbegriff war Gesundheit offenbar ein Medium sozialer Distinktion. Vergleiche zwischen gesundem und ungesundem bzw. verantwortungs­ bewusstem und »asozialem«27 Verhalten dienten zur Verhandlung und Etablierung sozialer Normen. In der Gegenüberstellung von Impfbefürwortern auf der einen Seite und »Impfmüden«, Impfskeptikern oder Impfkritikern auf der anderen ging es um Grundsätzliches: um die sozialen Bindekräfte der bundes­ 22 BAK , B 189/14117, Schreiben an das Bundesgesundheitsministerium, 1967. 23 Geyer, Rahmenbedingungen, S. 47. Zur »Pluralisierung und Individualisierung von Milieus und Lebensstilen bei gleichzeitiger Entkopplung von den objektiven Lebensbedingungen« als Kontext neuer Sicherheitsvorstellungen vgl. ebd., S. 71. 24 Vgl. Conze, Securitization. 25 StAHH, 361–2 VI /1312, Elternbrief zur Polio-Schluckimpfung. 26 BAK , B 208/975, Rundschreiben Innenminister Nordrhein-Westfalen, 28.8.1969. 27 Tatsächlich fiel dieses Wort während der 1950er und 1960er Jahre in mehreren Zuschriften an das Bundesgesundheitsministerium, in denen besorgte Bundesbürger auf Impf­ lücken hinwiesen. Vgl. BAK , B 189/14117.

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deutschen Gesellschaft, um das Verantwortungsgefühl der Bundesbürger und eben nicht zuletzt um ihr Vertrauen in staatliche Maßnahmen. Damit ordnete Gesundheit das Verhältnis zwischen Individual- und Gemeinwohl. Dass Bundesministerien und Bundesgerichtshof im Streit um die Impfpflicht nicht nur die »Volksgesundheit« und »Volksgesamtheit«, sondern mitunter sogar die »Volksgemeinschaft« als Argument einbrachten,28 spricht in diesem Zusammenhang für erstaunliche Traditionsbezüge solcher Ordnungsvorstellungen. Darüber hinaus hatten die Ordnungsversuche aber auch ökonomische Gründe, insbesondere in den Jahren »nach dem Boom«:29 »Vorbeugen«, so brachte der Freiburger Hygieniker Richard Haas dieses Motiv in einem Festvortrag 1975 auf den Punkt, »ist also nicht nur besser als Heilen, Vorbeugen ist auch billiger als Heilen.«30 Für »vergleichende Gesellschaften« war Gesundheit also immer beides: eine Selbstbeschreibungskategorie, an der die Deutschen festmachten, wer sie waren bzw. wer sie sein wollten; und ein Ordnungsbegriff, mit dem soziales Verhalten normiert werden sollte. Beispiele für »vergleichende Gesellschaften« finden sich selbstverständlich nicht nur für Impfungen. So weisen Studien zur Geschichte des Rauchens oder zum Übergewicht nach, dass es auch bei diesen Gesundheitsrisiken nie nur um die Betroffenen, sondern immer auch um die Bundesrepublik als Ganzes ging.31 An den Bedrohungen der »Volksgesundheit« und Volkswirtschaft, an Vergleichen zwischen gesunden und ungesunden Lebensstilen und an deren Kosten für die Allgemeinheit verhandelten die Bundesdeutschen Menschen- und Gesellschaftsbilder, Bedrohungsszenarien und Zukunftsentwürfe.32 Insofern hat eine Zeitgeschichte der Gesundheit mit »vergleichenden Gesellschaften« zu tun, weil die Deutschen ihren Status quo im diachronen und synchronen Vergleich verhandelten. »Vergleichende Gesellschaften« eröffnen daher Einblicke in bundesdeutsche Konzepte von Sicherheit und Bedrohungen, von sozialen Ordnungen und sozialer Ungleichheit. Sie weisen uns darauf hin, dass wir den Vergleich nicht nur als heuristisches Mittel und wissenschaftliche Methode, sondern ebenso als zeitgenössisches Instrument und Praxis sozialen Ordnens unter­ suchen sollten.

28 So in dem Gutachten des Bundesgerichtshof (BGH) zur Beibehaltung der Impfpflicht gegen die Pocken: BGH, VRG 5/51, 25.1.1952, S. 5. 29 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom. 30 Haas, Impfungen und Impfpolitik, S. 268. 31 Vgl. u. a. Thoms, Dicke Körper; Briesen, Gesunde Leben. 32 Bröckling, Dispositive, bes. S. 99 f.

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II. Verfeindete Gesellschaften: Transnationale Kooperationen als Katalysator für deutsch-deutschen Wettbewerb Sehr viel »klassischer« operiert eine historische Komparatistik, wenn man Gesundheit im Ländervergleich betrachtet. Für eine Zeitgeschichte der Gesundheit drängt sich der deutsch-deutsche Vergleich geradezu auf, standen sich mit der Bundesrepublik und DDR doch zwei gegensätzliche gesundheitspolitische Konzepte gegenüber.33 Während im Westen das Impfen als Geburtshelfer des »präventiven Selbst« fungierte, avancierten Impfprogramme im Osten zu einem Lackmustest des sozialistischen Gesellschaftsmodells.34 Hohe Impfquoten wurden in der DDR gar als Gradmesser für gesellschaftspolitische Einstellungen propagiert. »Das sozialistische Bewusstsein«, so erklärte das ostdeutsche Ministerium für Gesundheitswesen Mitte der 1960er Jahre, »festigt die Einsicht der Bürger, dass den … Impfungen nicht nur im eigenen Interesse, sondern auch aus der Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, im Interesse des Gesundheitsschutzes der gesamten Bevölkerung nachzukommen ist.«35 Diese unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Gesundheit hatten Konsequenzen für die Praxis. Während in der Bundesrepublik eine schleichende »Privatisierung« des Impfens festzustellen ist,36 erlebten DDR-Bürger eine zunehmende Verstaatlichung. Hier schossen seit Ende der 1950er Jahre »Dauerimpfstellen« aus dem Boden, seit den 1960er Jahren fanden alljährliche Wettbewerbe aller Kreise und Bezirke um die beste Impfquote statt. Den wichtigsten Unterschied in der Praxis des Impfens zeigt der Vergleich jedoch in Bezug auf ihren Zwangscharakter: Während im Westen fast alle Impfungen freiwillig blieben, war im Osten ein Großteil der Impfungen obligatorisch. Prävention nach Plan lautete hier die Devise, dank der die »neue Gesellschaft« als »immunisierte Gesellschaft« Wirklichkeit werden sollte. Nun sind solche Unterschiede im Ost-West-Vergleich wenig überraschend. Neben dem »klassischen« Ländervergleich halte ich daher einen anderen Zugriff auf die deutsch-deutsche Vergleichsgeschichte für gewinnbringend, der an obige Überlegungen zu »vergleichenden Gesellschaften« anknüpft. Schließlich verglichen sich die West- und Ostdeutschen mit Vorliebe untereinander. Der Vergleich war seit den 1950er Jahren in beiden Gesellschaften eine beliebte Praxis, die vier Funktionen erfüllte. Erstens ließ die Gegenüberstellung verschiedener Staaten Rückschlüsse über die Wirksamkeit medizinischer Maßnahmen zu. Dieser Rückschluss war für Mediziner umso bedeutsamer, weil die Wirksamkeit vieler Impfungen erst seit 33 Vgl. Arndt, Gesundheitspolitik. 34 Thießen, Vorsorge. 35 Bundesarchiv Berlin (im Folgenden BAB), DQ 1/23661, Bericht OMR Spengler zu den Schutzimpfungen, o.Dt. [1965/66]. 36 Vgl. Thießen, Immunisierte Gesellschaft.

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den 1970er Jahren im Labor nachgewiesen werden konnte. So kam das Bundesgesundheitsamt (BGA) mit Hilfe eines Vergleichs über Polio-Impfprogramme in Europa 1963 zu der beruhigenden Erkenntnis, dass das bundesdeutsche­ Polio-Impfprogramm erfolgreich gewesen sei: »der Vergleich« ergebe demnach den »von der Epidemiologie zu erbringenden Beweis des großen Erfolgs der Lebendimpfung.«37 Am genauesten beobachtete man im Westen Entwicklungen in der DDR , da diese nach Ansicht von Experten eine besonders exakte Vergleichsgröße darstelle. Dass ostdeutsche Gesetze und Vorschriften über Impfungen im Westen ausgewertet und veröffentlicht wurden, zeigt die Intensität dieser »Feindbeobachtung«.38 Angesichts solcher Vergleichsmöglichkeiten sprachen westdeutsche Gesundheitsexperten von der DDR mitunter sogar wörtlich als »Großversuch« mit idealen Testbedingungen, so bei einer Tagung im Oktober 1973. Hier stellten Vertreter der Bundes- und Länderministerien konsterniert fest, dass »die Kindertuberkulose in der DDR unter Auswirkung einer konsequenten allgemeinen BCG -Impfung stärker zurückgegangen sei als in der BRD«. Die Ergebnisse des Vergleichs seien umso stichhaltiger, als in gesundheitlicher Hinsicht »für das Gebiet der DDR und der BRD die gleichen Voraussetzungen bestanden« hätten.39 Noch schärfer formulierte der saarländische Vertreter auf dieser Tagung den Systemgegensatz, der im Ländervergleich hervortrete: demnach liege »das Erkrankungsrisiko bei Kindern in Bayern 30 Mal höher … als in der DDR«.40 Immunität wurde also im Regionen- und Ländervergleich sichtbar. Die Praxis des Vergleichens ersetzte im Grunde experimentelle Beweisführungen im Labor, die im Falle vieler Impfungen erst ab den 1970er und 1980er Jahren gelang. Zweitens gerieten Ländervergleiche zu einem Gradmesser für das Gesundheitsverhalten des Deutschen. Gesundheitsexperten zogen aus der Gegenüberstellung nationaler und regionaler Impfquoten Erkenntnisse über die Akzeptanz staatlicher Maßnahmen in ihrer Bevölkerung.41 1962 bezeichnete beispielsweise der Präsident des Verwaltungsbezirks Oldenburg die hohe Beteiligung an der Polio-Impfung als einen »Volksentscheid«: »Mit Aufgeschlossenheit kommt Jung und Alt zur Impfung, um sich selbst gegenüber der eigenen und gegenüber der Gesundheit anderer verantwortlich zu fühlen. … Die Oldenburger Bevölkerung hat sich entschieden und damit gezeigt, dass sie die gesundheitspflegerischen Maßnahmen des Staates versteht und anerkennt. … Die Beteiligung der Bevölkerung ist ein gesundheitspolitischer Volksentscheid«.42 Dass Diagno37 Werner Anders, Die Poliomyelitis-Schluckimpfung und ihre Auswirkungen, in: Ärztliche Mitteilungen 60 (1963), S. 1072–1075. 38 Vgl. BAK , B 189/14117, Ausschnitt aus BGBl., 18.3.1966; Kopie des BGA des Gesetzblattes der DDR , Teil II, 30.12.1962, S. 878 f. 39 BAK , B 189/14071, Protokoll der Sitzung des DZK , 17.10.1973. 40 Ebd. 41 Vgl. u. a. BAK , B 189/14117, Bericht des BMGes über die »Impfbeteiligung in der Bundesrepublik, hier: Vergleich mit dem Durchimpfungsgrad in anderen Staaten« von 1967. 42 StAOL, Rep. 630, 242–4/28, Rundschreiben des Präsidenten des Verwaltungsbezirks­ Oldenburg.

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sen zum Sozialverhalten der Bundesbürger nicht immer derart positiv ausfielen, belegt ein weiteres Beispiel aus demselben Jahr. 1962 präsentierte der »Spiegel« besorgniserregende Zahlen zur Kinderlähmung. Demnach »erkrankten in der Bundesrepublik 50- bis 60mal soviel Menschen an Poliomyelitis wie in Holland, Schweden oder Dänemark, mehr als zehnmal soviel wie in England.« Damit liege Westdeutschland gar auf einem Niveau mit Italien, wie der »Spiegel« warnte. Auch die Ursachen dieses Problems wies das Magazin im Ländervergleich nach. Schließlich hatten sich bislang »nur insgesamt 3,7 Prozent aller Westdeutschen impfen lassen[,] … in Holland: 87 Prozent, in Dänemark: 98 Prozent, in Schweden: 70 Prozent.«43 Gesundheitsexperten wie Gerhard Joppich, Präsident der »Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Kinderlähmung« (DVK), nutzten solche Vergleiche als Mahnung an die Bundesbürger. Schließlich habe »die spritzenscheue Bevölkerung der Bundesrepublik … selbst dafür gesorgt, daß die­ Poliomyelitis nach ihrer Vertreibung aus anderen Ländern bei ihr eine Zuflucht besitzt, in der sie wenig behelligt wird.«44 Im Ländervergleich schien also das bundesdeutsche Gesundheitsverhalten diagnostizierbar und therapierbar. Damit war der Vergleich drittens ein Argument, die Beteiligung an Impfprogrammen zu erhöhen. So formulierte die Hamburger Gesundheitsbehörde in einem »Elternbrief« von 1961 in diesem Muster einen schweren Vorwurf an die Bundesbürger: »4604 Polio-Erkrankungen mit 3379 Lähmungs- und 271 Todesfällen gab es im Jahre 1961 in der Bundesrepublik. Diese Zahlen besagen: Das Vermeidbare wurde nicht vermieden. Das in gut durchgeimpften anderen Ländern Erreichte wurde bei uns nicht erreicht.«45 Ebenso deutliche Vergleiche zog zu diesem Anlass ein »Elternbrief« des hessischen Ministerpräsident Georg Zinn: »Wissen Sie, daß im Jahre 1960 in der Bundesrepublik die doppelte Anzahl Menschen am Kinderlähmung erkrankt ist, als im Jahre 1959? Wissen Sie, daß die Bundesrepublik damit nach Italien an 2ter Stelle in der Welt mit Kinderlähmungserkrankungen steht? Wissen Sie, daß die Schutzimpfung gegen Kinderlähmung in der Bundesrepublik (aus Mangel an Beteiligung!) in weit geringerem Maße als in den benachbarten europäischen Ländern durchgeführt werden konnte?«46 Viertens diente der Ländervergleich als Ausweis für die staatliche Leistungsfähigkeit. In Relation zu anderen zeichneten sich nationale Erfolge besonders deutlich ab. Auch dieses Motiv tritt im deutsch-deutschen Vergleich besonders gut hervor. Schließlich mutierte »Gesundheit« seit den 1960er Jahren zu einer Waffe, mit der sich Propaganda-Schlachten des Kalten Krieges schlagen ließen. Dass die Impfquote in diesem Kampf eine beliebte Vergleichsgröße bildete, lag an ihrer politischen Aufladung in der DDR , die oben skizziert worden 43 44 45 46

Aktion Brunhilde, in: Der Spiegel, 21.2.1962. Zitiert nach ebd. StAHH 361–2 VI /1312, »Elternbrief« der Hamburger Gesundheitsbehörde, April 1962. Archiv der Behringwerke Marburg, Liste 12–001/1016, Elternblatt der hessischen Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitserziehung, o.Dt. [Ende 1960].

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ist. Ostdeutsche Gesundheitsexperten und -politiker ergriffen im deutsch-deutschen Wettbewerb folglich gern die Initiative. Schließlich mutierte die Bundesrepublik in der Gegenüberstellung zwischen West- und Ostdeutschland zu einer Art Kontrastmittel, an dem sich Impferfolge der DDR umso klarer abzeichneten. Berichte aus dem ostdeutschen Ministerium für Gesundheitswesen beschränkten sich daher selten auf Erkrankungszahlen aus dem Osten. Relevant wurden die Zahlen erst durch den Vergleich mit dem »Systemgegner« wie in jenem Bericht des Gesundheitsministeriums von 1967, der in der DDR nur 128 Erkrankte und sechs Todesfälle an Polio verzeichnete, diese Zahlen jedoch umgehend einordnete: »In Westdeutschland stehen de[m] 3.271 Erkrankungen [und] 196 Todesfälle, davon 2.550 Kranke mit schweren oder schwächeren Lähmungen gegenüber.«47 Entsprechende Bilanzen gaben bis in die 1980er Jahre Ausdruck von einer ostdeutschen Überlegenheit gegenüber der Bundesrepublik, deren Vorsorgedefizite genüsslich hervorgehoben wurden:48 »Es ist doch beschämend«, bilanzierte beispielsweise eine ostdeutsche Arbeitsgruppe »Impfwesen« Anfang 1970, dass »die Bundesrepublik es nicht fertig bringt, Polio­ erkrankungen zu verhindern, und dies bei den hohen moralischen Prinzipien, die die Führung dieses Landes immer wieder für sich in Anspruch nimmt«. Die Beteiligung an Impfprogrammen sei demnach eine Frage der politischen Einstellung und hohe Impfquoten somit »nur bei einer Bevölkerung zu realisieren, deren Verantwortungsbewusstsein durch die gesellschaftlichen Verhältnisse gegeben ist«.49 Auf westdeutscher Seite hatte man solchen Vergleichen meist wenig entgegenzusetzen. Zwar wehrte sich die Bundesregierung mit scharfen Worten gegen das »große Getöse« der »Ulbricht-Propagandisten«,50 wie die »Zeit« entsprechende Vergleiche von Impfquoten kommentierte. So warf man dem Osten eine rigide Impfpolitik vor, die selbst vor versteckten Impfstoffen in Kinderbonbons nicht zurückschrecke. Auch die mangelhafte Prüfung ostdeutscher Impfstoffe und die vorschnelle Einführung sowjetischer Impfungen seien Beweis genug, dass Gesundheit in der DDR nur um den Preis persönlicher Freiheit zu haben sei,51 während im Westen Eigenverantwortlichkeit groß geschrieben würde. Die »grotesken Impfkalender« der DDR und UdSSR gäben ein bezeichnendes Beispiel für eine »totalitäre Gesundheitspolitik«, wie eine Besprechung westdeutscher Experten im Hessischen Innenministerium ergab.52

47 BAB , DQ 1/23652, Vermerk des MfGes, Impfprogramm für das Jahr 1961. 48 Vgl. u. a. BAB , DQ 1/2438; DQ 1/5839, Abschlussberichte und Ausstellungskonzepte des MfGes. 49 BAB , DQ 1/23652, Bericht der AG Impfwesen Halle für Gesundheitsminister Mecklinger, 02.02.1970. 50 Es beginnt: Impfen mit Zucker, in: Die Zeit, 19.1.1962. 51 Polio-Impfung. Aus dem Schnapsglas, in: Der Spiegel, 19.7.1961. 52 BAK , B 189/14102, Protokoll der Sitzung des Arbeitsausschusses IV ›Immunisierung‹, 6.11.1959.

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Unter den Westdeutschen selbst stießen Gesundheitskonzepte der DDR hingegen durchaus auf Resonanz. Henri Nannen beklagte im »Stern« Ende 1961 gar einen »makabren Weltrekord«,53 den die Bundesrepublik wegen ihres schlechten Impfstatus gegen Polio halte. Solche Meldungen warfen unter Bundesbürgern Nachfragen an Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt auf, ob diese »grobfahrlässige Verstümmelung« der Westdeutschen nicht eines der »unerhörtesten Verbrechen« sei und »welche Pläne« entwickelt würden, »um dieser Notlage und Gefahr Herr zu werden.«54 Ein anderer Bundesbürger fand es angesichts der Erfolge der DDR geradezu menschenverachtend, dass ostdeutsche Impfungen nicht im Westen angewendet wurden: »Wurde hier nicht die Gesundheit unzähliger Menschen politischen Ressentiments geopfert? Dabei steht die DDR beispielgebend im Gesundheitswesen dar.«55 Immer wieder forderte der Ost-West-Vergleich die Bundesrepublik heraus. Im Gegensatz zu anderen Feldern der Systemkonkurrenz56 standen die Westdeutschen beim Thema Gesundheit lange Zeit keineswegs als Sieger fest. Vielmehr sah es bis in die 1980er Jahre danach aus, dass die DDR die Bundesrepublik nicht nur eingeholt, sondern sogar überholt hatte. Zumindest in dieser Hinsicht wäre die These zu hinterfragen, dass die westdeutsche Gesellschaft nicht »durch Vorbilder der DDR beeinflusst worden sei.«57 Vielmehr machen zeit­ genössische Pressemeldungen über die Vorzüge des ostdeutschen Gesundheitssystems darauf aufmerksam, dass die Westdeutschen im Ost-West-Vergleich eigene Schwachstellen aufdeckten.58 Eine Zeitgeschichte der Gesundheit schärft damit unseren Blick für westdeutsche Selbstbilder jenseits bekannter »Erfolgsgeschichten« und für Probleme, die der Bundesrepublik im transnationalen Zusammenhang erwuchsen. Im Rennen um die »gesündere« und »bessere Gesellschaft« stand der Sieger sehr viel später fest, als wir heute meinen. Ähnliche Befunde haben auch zeithistorische Studien zur Geschichte einer ganz anderen medizinischen Maßnahme, dem Schwangerschaftsabbruch, gewonnen.59 Und auch auf dem Feld der »Entwicklungshilfe« war der Ausgang des Systemwettbewerbs lange Zeit offen, ja mehr noch: Über weite Strecken behielt die DDR die Nase vorn, konstatierte man im Westen doch mit Erschrecken, dass der Staatssozialismus in Form von Krankenhäusern,

53 54 55 56 57 58

Der Stern, 24.12.1961, S. 6. BAK , B 142/23, Schreiben einer Bundesbürgerin an BMGes, 10.2.1962. BAK , B 142/55, Schreiben eines Bundesbürgers an BMGes, 17.11.1961. Wengst/Wentker, Das doppelte Deutschland. Schildt, Fünf Möglichkeiten, S. 1234. So stellte eine Serie »So leben sie drüben – so leben wir hier« der Tageszeitung »Die Welt« im Vergleich West- und Ostdeutschlands die sozialpolitischen Schwächen der DDR zwar insgesamt stark heraus. Im vierten Teil der Serie räumte die »Welt« indes ein, dass sich die DDR bei der Gesundheitspolitik durchaus mit der Bundesrepublik messen könne. Die Welt, So leben sie drüben – so leben wir hier, 11.5.1966. 59 Vgl. Schwartz, Liberaler als bei uns.

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Ärzteausbildungen und Impfstoffen in Afrika auf starke Resonanz stieß.60 Das westdeutsche »Ärzteblatt« kommentierte das Zurückfallen der Bundesrepublik mit beißendem Sarkasmus: »Die Mauer zu loben lohnt sich. Dafür verschenkt Ostberlin Krankenhäuser in Entwicklungsländer«.61

III. Verflochtene Gesellschaften: Globale Gesundheit als transnationales Projekt Es wäre zu einfach, eine Zeitgeschichte der Gesundheit auf die Systemkonkurrenz zu reduzieren. Zum einen brachte der Wettbewerb um die gesündere Gesellschaft neue Verflechtungen mit sich, die ich im Folgenden untersuchen werde. Dabei wird es sowohl um engere Kooperationen innerhalb der zwei Machtblöcke als auch um eine Transnationalisierung von Gesundheitskonzepten im Kontext der WHO gehen. Zum anderen knüpften die Bundesrepublik und die DDR seit den 1970er Jahren auf dem Feld der Gesundheit direkte Beziehungen, aus denen enge Kooperationen erwachsen sollten. Diese deutsch-deutschen Kooperationen stehen im zweiten Teil dieses Kapitels im Fokus. Dass die »Systemkonkurrenz« neue Beziehungen hervorbrachte, ist eine grundsätzliche Erkenntnis des Kalten Krieges. Gerade der Wettbewerb um die gesündere Gesellschaft förderte den Austausch innerhalb beider Macht­ blöcke. Folglich gerieten die USA für die Westdeutschen und die Sowjetunion für die DDR auch in gesundheitlicher Hinsicht zu engen Kooperations­partnern. Allerdings provozierten solche Kooperationen mitunter ganz neue Konflikte. Zwar wuchs in der Bundesrepublik angesichts ostdeutscher Erfolge bei der Vorsorge vor Infektionskrankheiten das Interesse an amerikanischen und britischen Impfstoffen.62 Gleichwohl pflegten westdeutsche Experten lange Zeit schwere Vorbehalte gegen »ausländische« Impfstoffe und Sicherheitsstandards. Diese Vorbehalte waren nicht immer aus der Luft gegriffen. So platzte Mitte der 1950er Jahre in westdeutsche Vorbereitungen zur Einführung einer neuen Polioimpfung die »erschreckende Meldung«,63 dass in den USA hunderte Kinder von schweren Nebenwirkungen eines Polio-Impfstoffes des US -amerikanischen Unternehmens Cutter betroffen seien. Dieses »Cutter-Unglück« schlug in der Bundesrepublik »wie eine Bombe ein«,64 wie der hessische Regierungsdirektor­ Ludwig von Manger-Koenig in einem »Spiegel«-Interview bekannte. Schließlich machte der Fehlschlag in den USA die Westdeutschen auf Risiken des Impfens aufmerksam. Transatlantische Kooperationen brachten also nicht nur amerikanische Produkte, sondern ebenso amerikanische Probleme in die Bundesrepu60 61 62 63 64

Vgl. die deutsch-deutschen Befunde bei Büschel, Hilfe. Deutsches Ärzteblatt, Die Mauer zu loben lohnt sich, 27.2.1965, S. 501 f. Vgl. Lindner/Blume, Vaccine Innovation. Kinderlähmung – die große Prüfung, in: Der Spiegel, 18.5.1955. Kinderlähmung – impfen oder nicht?, in: ebd., 24.4.1957.

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blik, was Kooperationen und die Einführung neuer Impfprogramme mit­unter um Jahre verzögerte.65 Dass sich der Präsident des Bundesgesundheitsamts anlässlich des Cutter-Unglücks dazu hinreißen ließ, US -amerikanischen Impf­ programmen wegen ihrer nachlässigen Prüfung »eine KZ -Philosophie«66 vorzuwerfen, spricht für solche Kooperationsschwierigkeiten Bände. Trotz solcher Probleme lässt sich an der Geschichte des Impfens eine lang­ fristige Transnationalisierung und Globalisierung bundesdeutscher Gesundheitskonzepte nachvollziehen. Das wichtigste Forum für diese Globalisierung bot die WHO. Sie sorgte seit den 1950er Jahren für einen Erfahrungsaustausch über Impfprogramme, der selbst den »Eisernen Vorhang« überwand. Auf Konferenzen der WHO fanden auch West- und Ostdeutsche zusammen, was einerseits die Systemkonkurrenz noch forcierte: Schließlich machten Statistiken der WHO auf »Impflücken« und »Impfquoten« in Europa aufmerksam, dokumentierten sie so Fortschritt und Versagen einzelner Staaten. Andererseits erweiterte dieser Austausch den Blickwinkel westdeutscher Experten erheblich. Diese hatten in der Nachkriegszeit zunächst eine streng nationale Perspektive verfolgt. Eine möglichst vollständige »Durchimmunisierung« der Westdeutschen stand auf der gesundheitspolitischen Agenda ebenso oben wie eine konsequente Abschottung der Außengrenzen. Erst seit den 1960er Jahren machte sich ein Umdenken bemerkbar. Dass internationale Kooperationen dringend notwendig wurden, bemerkten Experten auf internationalen Tagungen. So stellte der Direktor des R ­ obert Koch-Instituts Georg Henneberg nach einer Tagung über­ Polio-Impfungen in Oxford 1961 mit Erschrecken fest, dass die Bundesrepublik im internationalen Vergleich weit hinterherhinke: »So war es besonders eindrucksvoll, feststellen zu müssen, daß die Bundesrepublik absolut und relativ sowohl im Hinblick auf die epidemiologische Lage als auch in Bezug auf den Durchimpfungsgrad gegen Poliomyelitis am schlechtesten abschnitt. Wir Deutsche haben uns also aus der Gruppe der anderen Völker isoliert«.67 Anstöße zur Intensivierung des internationalen Austausches kamen auch aus dem bundesdeutschen Alltag. Angesichts neuer »Reisewellen« und des Anstiegs der Arbeitsmigration schienen internationale Standards und trans­natio­ nale Kooperationen einen besseren Schutz zu verleihen als nationale Konzepte. Ein Beispiel für diese Globalisierung von Gesundheitskonzepten bietet eine Quelle, die heute fast alle Bundesbürger ihr Eigentum nennen: der internationale Impfpass der WHO. Seiner Einführung in den 1970er Jahren waren jahrzehntelange Debatten über deutsche Impfzeugnisse und -scheine vorausgegangen, in denen Befürchtungen über eine Auflösung deutscher Sicherheitsstandards ebenso laut wurden wie Hoffnungen auf eine Abschottung der

65 Vgl. Lindner, Gesundheitspolitik. 66 SZ , Koblenz tritt die Rücktrittbremse, 4.10.1955. 67 BAK , B 142/55, Bericht Hennebergs über das VII . Europäische Poliomyelitis-Symposium, 6.12.1961.

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»Einfallstore« für Krankheiten. In letztgenannte Richtung zielte übrigens die Einführung von »Infektionsschleusen« und »Impfstellen« an bundesdeutschen Flughäfen seit den 1960er Jahren, die einer »Immigration« von Krankheiten vorbeugen sollten.68 An diesen Entwicklungen kann eine Zeitgeschichte der Gesundheit die Globalisierung westdeutscher Sicherheits- und Risikovorstellungen nachzeichnen.69 In der Konzeption und Praxis internationaler Impfprogramme fanden nationale Sonderwege ihr Ende und internationale Sicherheitsmaßnahmen in den Alltag der Westdeutschen. Der geweitete Blick auf Gesundheit und ihre transnationalen Bedrohungen machte sich im Alltag bemerkbar, in denen die Westdeutschen immer häufiger den Impfschutz zu ihrer eigenen Sache machten. Kooperationsbeziehungen bestanden allerdings nicht nur innerhalb der Machtblöcke und im Rahmen der WHO. Selbst die beiden »Systemgegner« fanden beim Thema Impfungen seit den 1970er Jahren an den Verhandlungstisch. Einen großen Schritt für diese Kooperation machte das deutsch-deutsche Gesundheitsabkommen von 1976. Als erstes Folgeabkommen des Grundlagenvertrags verpflichtete es beide deutsche Staaten auf einen Austausch70 über Gesundheitsgefährdungen und Impfmaßnahmen.71 Auf ostdeutscher Seite gab das Abkommen den Startschuss ab für weitere Kooperationen, die Gesundheits­ minister Ludwig Mecklinger für die 1980er-Jahre forderte: »Wissenschaftsbeziehungen zur WHO … sowie zu kapitalistischen Ländern sind im Interesse der Stärkung der DDR … zu entwickeln.«72 Tatsächlich wurden in den 1980erJahren nicht nur Erfahrungen, sondern ebenso Impfstoffe ausgetauscht. Seit 1983 importierte die DDR Rötelnimpfstoffe eines britischen Pharmaunternehmens,73 wenig später nahm man sogar Kontakt mit den bundesdeutschen Behringwerken auf. Vom »Klassenfeind« erhielt man Mitte der 1980er-Jahre Röteln-­ sowie Mehrfach-Impfstoffe gegen Röteln, Mumps und Masern.74 Angesichts der »Rückkehr zur Konfrontation«75, die dem Kalten Krieg seit den späten 1970erJahren eine neue Eiszeit bescherte, sind derartige Verflechtungen ein besonders 68 Vgl. u. a. Pocken sollen am Flughafen abgefangen werden. ›Infektionsschleuse‹ in Düssel­ dorf-Lohausen eröffnet – mit Isolierstation und Impfräumen, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 12.3.1964. 69 Franklin, Politics of Risk Society; Harremoës u. a., Precautionary ­Principle. 70 Vgl. die Protokolle zur Erarbeitung des Abkommen in BAB , DQ 1/13174 sowie zur Umsetzung BGBl., Teil II, Nr. 68, 22.11.1975; Gesetzblatt der DDR , Teil II, Nr. 13, 19.12.1975; BAB , DQ 1/12219, Weisung des MfGes Nr. 3/76 zur Informationspflicht bei übertrag­baren Krankheiten. 71 BAB , DQ 1/12219, Telex des Rats des Bezirks Cottbus an MfGes zur Weiterleitung an die Bundesrepublik, 9.7.1976. 72 BAB , DQ 1/12219, Orientierung des Ministers für Gesundheitswesen, 5.2.1976. 73 Vgl. BAB , DQ 1/12291, Rückblick im Protokoll des MfGes zur Rötelnimpfstrategie der DDR , 27.8.1986. 74 BAB , DQ 1/12291, Aktennotiz des MfGes, 11.8.1987. 75 Stöver, Kalte Krieg, S. 410.

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eindringlicher Beleg, dass eine Zeitgeschichte der Gesundheit deutsch-deutsche Verflechtungen und Kooperationen noch einmal genauer in den Blick nehmen sollte.76

IV. Fazit Was also trägt eine Zeitgeschichte der Gesundheit zur Standortbestimmung der Bundesrepublik bei? Welche Potenziale bietet in diesem Zusammenhang eine vergleichs- und verflechtungsgeschichtliche Perspektive? Ich möchte meine Antworten auf diese Frage in fünf Punkten bündeln, mit denen sich zugleich die Ergebnisse dieses Beitrags zusammenfassen lassen. Erstens machen zeithistorische Forschungen zu Gesundheit deutlich, dass der Vergleich nicht nur als Methode für Historiker, sondern ebenso für die Bundesbürger selbst diente. Für eine Zeitgeschichte der Bundesrepublik ist die vergleichs- und verflechtungsgeschichtliche Perspektive also schon deshalb sinnvoll, weil wir es mit »vergleichenden Gesellschaften« zu tun haben. In diesem Sinne ist der historische Vergleich eben auch eine Methode zur Historisierung zeitgenössischer Vergleiche als Praxis sozialer Selbstverortung. Zweitens macht eine Untersuchung »vergleichender Gesellschaften« auf unterschiedliche Dimensionen des Vergleichs aufmerksam, die der Geschichtswissenschaft unterschiedliche Sichtachsen eröffnen. Unter den Deutschen waren nicht nur regionale und Ländervergleiche üblich, die der historischen Komparatistik besonders nahe liegen. Darüber hinaus verglichen sich die Bundesbürger ebenso untereinander und mit vergangenen Zeiten. Der Vergleich war und ist demnach eine soziale Operation, mit der sich der status quo von Gesellschaften ebenso diskutieren lässt wie Risiken, Bedrohungen und Zukunftserwartungen. Damit ist der Vergleich drittens ein Instrument sozialen Ordnens: Einerseits diente die Praxis des Vergleichens dazu, Gesundheitsverhältnisse und Gesundheitsverhalten zu diagnostizieren und zu normieren. Andererseits gab der Vergleich von Gesundheiten immer auch Gelegenheit, soziale Ordnungen zu verhandeln, Gesellschaftsmodelle und Menschenbilder zu hinterfragen.77 Zwar ließe sich einwenden, dass auch auf anderen Handlungsfeldern der Vergleich als Ordnungsinstrument dient. Denn selbstverständlich geht es in Strafrechtsoder Bildungsdebatten, in Wirtschafts- oder Sicherheitsfragen immer auch um die Grundsätze der Gesellschaft. Und doch ist Gesundheit ein besonders grund­ sätzliches Gut, das besonders existenzielle Fragen aufwirft, wie Dorothy ­Porter gezeigt hat: Gesundheit geriet im 20. Jahrhundert zu der Grundlage eines Ge-

76 Vgl. jetzt auch den Appell für neue Forschungen zu Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Bundesrepublik und DDR bei Bösch, Geteilte Geschichte. 77 Vgl. dazu auch die Überlegungen zum europäischen Vergleich von Seuchenbekämpfung und sozialen Ordnungsmustern bei Lindner, Umgang.

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sellschaftsvertrags, den die Europäer jeden Tag neu verhandelten.78 Welch existenzielle Folgen diese Verhandlungen für den Einzelnen haben konnten, zeigen nicht zuletzt neuere zeithistorische Studien zur Humangenetik.79 Viertens ist eine Zeitgeschichte der Gesundheit ein Plädoyer für Forschungen zur deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte. Nicht nur die Einführung, Etablierung und Erweiterung von Impfprogrammen machen darauf aufmerksam, dass die Bundesrepublik und DDR trotz des Wettbewerbs um das bessere Gesellschaftsmodell eng miteinander verbunden blieben. Studien wie die von Christian Sammer über gesundheitspolitische Kooperationen in den 1950er oder von Henning Tümmers zur deutsch-deutschen AIDS -Prävention in den 1980er Jahren weisen darauf hin, dass beim Thema Gesundheit die Mauer durchlässiger war, als sie auf den ersten Blick scheint.80 Schon deshalb sollte eine Zeit­ geschichte der Bundesrepublik nicht an staatlichen Grenzen enden. Und fünftens spricht eine Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte der Gesundheit für Längsschnitte. Zwar sind insbesondere die »braunen Wurzeln« der Bundesrepublik mittlerweile hervorragend erforscht. Insbesondere die Medizingeschichte hat dieses Thema seit Jahrzehnten fest im Blick, so dass zur Kontinuität von Medizinern und Gesundheitspolitikern wohl wenig Neues zu sagen ist. Neue Erkenntnisse verspricht hingegen der Blick auf längere Traditionslinien von Gesundheitskonzepten und Gesundheitsverhalten, wirkten in der Bundesrepublik doch Entwicklungen der Weimarer Zeit, ja des Kaiserreichs nach. Dass das individuelle Selbstbestimmungsrecht über den Körper in Deutschland bereits in den 1870er Jahren anhand der Impfpflicht debattiert wurde oder Anrufungen des »Volkskörpers« bis in die 1970er en vogue waren,81 sind für solche Traditionslinien nur zwei Beispiele. Eine Zeitgeschichte der Gesundheit ist damit auch ein Plädoyer für eine Geschichte der Bundesrepublik in der longue durée, die abseits bekannter Politikfelder nach Konjunkturen und Kontinuitäten von Lebensstilen und Praktiken, von Menschenbildern und Gesellschafts­ modellen fragt.

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Porter, Social Contract. Vgl. Schenk, Behinderung; Thomaschke, Gesellschaft der Gene. Vgl. zuletzt u. a. Tümmers, »GIB AIDS KEINE CHANCE«; Sammer, Ziel. Thießen, Praktiken der Vorsorge.

Westlich? Demokratisierung, Partizipation und Menschenrechtspolitik

Claudia Christiane Gatzka

»Demokratisierung« in Italien und der Bundesrepublik Historiographische Narrative und lokale Erkundungen

»Demokratisierung« ist in den vergangenen zwanzig Jahren zu einer Signatur der deutschen Zeitgeschichte avanciert. Das Wissen um antiparlamenta­ rische Traditionen und die Sensibilität für historische Kontingenz ließen es nicht selbstverständlich, sondern erklärungsbedürftig erscheinen, dass sich die Westdeutschen im Verlauf der Nachkriegszeit zu Demokraten wandelten. Dem­gemäß wird dieser Wandel einhellig als Lernprozess beschrieben und untersucht.1 Auf der Schulbank der Demokratie hatte die Bundesrepublik einen Mitschüler, der als »ferner Nachbar« (Christof Dipper) und faschistisches Vorbild den Vergleich mit Deutschland schon häufig herausgefordert hat: Italien.2 Systematische Zugänge zu einer vergleichenden Geschichte demokratischen Lernens in den beiden Staaten sind jedoch bislang rar gesät.3 Dabei könnte ein solcher Vergleich erhellen, wie spezifisch der westdeutsche Weg in die Demokratie war und inwiefern nationale Traditionen auch nach 1945 die politischen Kulturen Westeuropas überformten.4 Italien ist aber nicht nur als empirischer, sondern auch als historiographischer Vergleichsfall interessant, hat doch die italienische Forschung sehr eigene Perspektiven auf die Nachkriegsdemokratie entwickelt. Daraus ergibt sich die Frage, ob wir unter »Demokratisierung« einen einheitlichen, nach ähnlichen Prinzipien funktionierenden Entwicklungsprozess verstehen können, oder ob es sich

1 Vgl. Bauerkämper u. a., Demokratiewunder und die dort zitierte Literatur. Ein aktuelles Forschungsprogramm formuliert Nolte, Jenseits des Westens. 2 Vgl. u. a. Dipper u. a., Faschismus; Nolzen/Reichardt, Faschismus. Jüngst vor allem die Transfers betonend: Bernhard, Metropolen. Grundlegend zum deutsch-italienischen Vergleich und die Persistenz nationaler Traditionen aus dem 18. und 19. Jahrhundert betonend: Dipper, Ferne Nachbarn; ders., Uguali e diversi. 3 Für problematisierende Aufrisse vgl. Raphael, Konzept; Woller, Italien; Maier, Italien. Einschlägige Beiträge diskutieren institutionelle und strukturelle Rahmensetzungen, nicht aber Prozesse der »inneren Demokratisierung«. Vgl. Pombeni, Politische Stabilisierung; Jansen, Transizione. Zur komparatistischen Kurzsichtigkeit vgl. Gassert, Bundesrepublik. Die italienische Zeitgeschichtsforschung ist zudem bislang kaum an deutsch-italienischen Vergleichen interessiert gewesen, vgl. Schieder, Angst; Focardi, Unsitte. 4 Vgl. Gatzka, Auftritt.

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bei solchen Paradigmata nicht eher um nationale Narrative handelt, die aus den Blickweisen und Erfahrungen der Zeithistoriker erwachsen. Der folgende Beitrag will zunächst die historiographischen Entwürfe der beiden Nachkriegsdemokratien vergleichend diskutieren (I) und methodische Anregungen darlegen, die eine westdeutsche Demokratiegeschichte aus den Ansätzen der italienischen (Zeit-)Geschichte ziehen kann (II).5 Sodann erkundet er ein lokales Untersuchungsfeld für den deutsch-italienischen Vergleich. Dazu widmet er sich schlaglichtartig dem lokalen Aufeinandertreffen von Bürgern und Politik in Zeiten nationaler Wahlkämpfe (III). Abschließend diskutiert er die deutsche Signatur der »Demokratisierung« im Lichte des italienischen Vergleichsfalls.

I.

»Demokratisierung« als deutsche Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven im Vergleich

Wer die These von der »geglückten« westdeutschen Demokratie (Edgar Wolfrum) untermauern will, braucht eigentlich nur den Vergleich mit Italien anzustellen. So sehr sich die Bundesrepublik vor allem nach 1990 ihres eigenen Erfolges versichert hat, so sehr beschreiben italienische Historiker und Politologen ihre Nachkriegsdemokratie im Modus des Scheiterns.6 Mit Blick auf die Ereignisse ist dies nicht verwunderlich: Während die Bundesrepublik 1990 erfolgreich nach Osten »expandierte«, ging die sogenannte Erste Republik Italiens mit der Verfassungsreform Anfang der 1990er Jahre unter – und mit ihr auch der von einer linken Historikerströmung getragene Resistenza-Mythos. Als anti­ faschistischer Gründungsmythos hatte er die Frage nach dem »ob« und dem »wie« demokratischen Lernens in Italien scheinbar überflüssig gemacht: Anti­ faschisten galten per se als Demokraten.7 Seither sind beide Lager der italienischen Historikerzunft darin vereint, die Ursachen für die »Anomalie« Italiens in der Geschichte zu suchen. Während auf der Linken vor allem die fehlenden demokratischen Traditionen Italiens betont werden,8 problematisiert das liberalkonservative Lager eher das schwierige Verhältnis der Italiener zur Nation und die Frage ihrer Einheit – eine Debatte, die letztlich um das unverarbeitete Trauma des Bürgerkrieges von 1943–1945 kreist.9 5 Zur Methode vgl. Conrad/Conrad, Wie vergleicht man Historiographien. Vgl. auch vom Lehn, Westdeutsche und italienische Historiker. Leider keine systematischen Überlegungen in dieser Hinsicht liefert Behring, Italien. 6 Vgl. für diese Deutung u. a. Lanaro, Storia. Bezeichnenderweise akzentuieren deutsche Blicke auf die italienische Nachkriegsgeschichte stärker ihre Erfolge. Vgl. Woller, Geschichte; Jansen, Italien. 7 Vgl. u. a. Petersen, Ort, insb. S. 564; Scoppola, Repubblica, S. 130 f. 8 Vgl. etwa Tranfaglia, Prima guerra, S. 655 f., 673. Die italienischen Anomaliegeschichten problematisiert anschaulich: Caracciolo, Italia. 9 Vgl. Klinkhammer, Novecento, S. 123. Zur Beschäftigung mit der Nation vgl. Rusconi, Se cessiamo; Di Nucci/Galli della Loggia, Due nazioni.

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Es mag daher kaum überraschen, dass »Demokratisierung« nicht zum Signum der italienischen Zeitgeschichte avanciert ist. Zwar begegnet die Entsprechung democratizzazione bisweilen im Fließtext italienischer Nachkriegsstudien, doch bezeichnet sie hier eher die kurze Implementierungsphase demokratischer Institutionen denn einen langwierigen Prozess der »inneren Demokratisierung« (Konrad Jarausch).10 Ganz im Gegensatz zu den Interpretationen deutscher Historiker, die den demokratischen Lernprozess bis in die 1970er Jahre hinein beobachten und dabei die gesellschaftlichen Wandlungsdynamiken der »langen 1960er Jahre« betonen, erscheint in der italienischen Optik die strukturelle »Transition« zur Demokratie und die mentale »Aneignung« der republikanischen Verfassung Ende der 1950er Jahre abgeschlossen.11 In der Folgezeit nimmt dann das Schicksal seinen Lauf: Die 1960er Jahre läuten die Ära der Regierungskrisen ein, und eine immer noch wesentlich auf die Führungsebene der Parteien fokussierte italienische Politikgeschichte beschreibt die Republik seither als fragil und mit sich selbst überfordert. Der gesellschaftliche Wandlungsdruck durch das »Wirtschaftswunder« (miracolo economico), 1968 und die neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre passen sich in diese Lesart ein, indem sie – je nach politischer Couleur – eher als zusätzliche Belastung oder Herausforderung interpretiert werden, dem das politische System nicht mit einem ausreichenden Maß an Reformen oder Gegendruck geantwortet habe. Als Motoren der Liberalisierung und damit der Demokratisierung gelten sie ganz im Gegensatz zu Westdeutschland nicht.12 »Krise« ist dann auch die am häufigsten gebrauchte Signatur für die italienische Nachkriegsdemokratie, und erst mit den neueren Forschungen zu den 1970er Jahren und dem Terrorismus lassen sich ähnliche historiographische Beschreibungen und Semantiken der beiden Demokratien finden, die sich auch in empirisch vergleichenden Studien niederschlagen.13 Die wissenschaftlichen Reflexionen über die italienische Anomalie sind im Grunde eine Geschichte der ausgebliebenen »Ankunft im Westen« (Axel Schildt). Vor allem Großbritannien und Frankreich dienen der italienischen Politikg­eschichte als Referenzpunkt westlicher »Normalität« gegenüber einem italienischen »Sonderweg«.14 Zwar erfährt die Amerikanisierung als kulturel10 Vgl. bspw. Baldissara, Democrazia, S. 25. 11 Vgl. Barbera u. a., Apprendimento; Salvati, Fondazione. 12 Vgl. etwa Crainz, Storia; ders., Il paese mancato; Baldissara, Radici. Eine erfrischend andere Lesart präsentiert der Politikwissenschaftler LaPalombara, Democracy. 13 Zur Prominenz des Terminus ›crisi‹ für die 1970er Jahre vgl. u. a. die Tagungsbände: L’Italia repubblicana nella crisi degli anni Settanta, 4 Bde., Soveria Mannelli 2003. Zu Deutschland vgl. u. a. Jarausch, Ende; Gotto u. a., Nach Achtundsechzig. Für komparatistische Studien vgl. Tolomelli, Terrorismo sowie vereinzelte Beiträge in Cornelißen u. a., Decennio rosso; Hürter/Rusconi, Bleiernen Jahre. 14 Vgl. Pombeni, Roots. Kernpunkt der italienischen ›Sonderwegs‹-These ist die späte Nationalisierung der Massen, die nicht auf demokratischem, sondern auf faschistischem Wege erfolgte, mit entsprechend katastrophalen Folgen für die Entwicklung der Republik. Vgl. Scoppola, Repubblica, S. 76 f.; Tranfaglia, Prima guerra, S. 655 f.; Salvati, Cittadini.

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ler, vor allem über Massenmedien und Konsumkultur vollzogener Transfer auch die Aufmerksamkeit der italienischen Zunft, häufig angeregt durch angelsächsische Forschungen.15 Jedoch mangelt es noch an Versuchen, solche aus trans­ atlantischer Verflechtung und selektiver Aneignung amerikanischer Kulturmuster hervorgegangenen Wandlungsprozesse systematisch mit der Geschichte der Demokratisierung Italiens zu verknüpfen, wie es für die Bundesrepublik geschehen ist.16 Stattdessen wird der gesellschaftliche und kulturelle Wandel der Nachkriegsdekaden gern in den Rahmen des Ost-West-Konflikts eingepasst: Konsumkultur, Fernsehen oder Kino erscheinen so als langer Arm Amerikas oder der Sowjetunion.17 Was deutsche Historiker als Foren der Demokratisierung entdecken  – insbesondere mit Blick auf Massenmedien und Öffentlichkeit  –, beschreiben Italiener als kulturelle Kampffelder im Kalten Krieg. Das mag viel damit zu tun haben, dass Italien die größte Kommunistische Partei in Westeuropa hervorbrachte, die in den 1970er Jahren imstande war, über dreißig Prozent der Wahlstimmen zu gewinnen.18 Zudem aber lassen sich darin auch unterschiedliche Konzepte vom (politischen) Konsumenten ablesen, die selbst Ausdruck unterschiedlicher politischer Kulturen sind. So sehr die historische Zunft in Italien politisiert war und ist, so schwer tat und tut sie sich, in ihren Nachkriegsnarrativen den Bürgern eine von den großen nationalen Organisationen und internationalen Machtblöcken unabhängige Deutungshoheit und agency zuzugestehen. Auch der andere Erzählstrang in der deutschen Demokratisierungsgeschichte, die transnationalen personellen Netzwerke und Diskussionszusammenhänge sowie die grenzüberschreitenden biographischen Erfahrungen von Meinungsführern, sind in Italien bislang kaum auf Interesse gestoßen, sieht man einmal von den Kontakten führender italienischer Kommunisten nach Moskau ab, die akribisch untersucht werden.19 Für die Bundesrepublik prägende Konzepte wie »Westernisierung« (Anselm Doering-Manteuffel) oder »Liberalisierung« (Ulrich Herbert), welche die transnationalen Einflüsse betonen, sind daher ebenso wenig in der italienischen Zeitgeschichte anzutreffen wie die Rede von »transatlantischen Mittlern« (Bauerkämper u. a.).20 Zweifellos kann der kulturelle Einfluss von Besatzern oder Remigranten angesichts der kürzeren Besatzungsdauer, des fehlenden Horizonts der Reeducation und der bescheideneren Zahl an Re­ migranten nicht so hoch veranschlagt werden wie für Westdeutschland.21 So 15 Vgl. Capuzzo, Genere; Forgacs/Gundle, Mass Culture; Scarpellini, Material Nation. 16 Vgl., auch für weitere Literatur, Stephan, Americanization. Zur selektiven Aneignung amerikanischer Kommunikationsmuster vgl. Mergel, Wahlkampf. 17 Vgl. D’Attorre, Nemici; Crapis, Frigorifero; Cavazza, Consumi. Vgl. aber Ellwood, Containing Modernity. 18 Zur prominenten Figur des ›inneren Feindes‹ vgl. Ventrone, Nemico interno. 19 Vgl. Aga-Rossi/Zaslavsky, Togliatti. 20 Zu weiterer Literatur vgl. Bauerkämper, Demokratisierung. 21 Eine neue Studie lässt aber erkennen, dass die Präsenz der Besatzer gerade für die kulturelle Selbstvergewisserung der Italiener nicht unwesentlich war. Vgl. Porzio, Arrivano.

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steht zu vermuten, dass die transnationalen Kontakte italienischer Parteien, Gewerkschaften oder Schulen im Vergleich zu Westdeutschland eine geringere Intensität aufwiesen. Kurse über die US -amerikanische Kultur und Geschichte etwa richteten sich nur an Frauen, die als Ehefrauen von Besatzungssoldaten in die USA übersiedeln wollten.22 Die fehlende transnationale Grundierung der italienischen Demokratie­ geschichte ist dennoch erstaunlich, denkt man an die hohe Nachkriegsmobilität der Italiener. Die Arbeitsmigration ins europäische oder überseeische Ausland bei gleichzeitig weitgehender Stabilität der Heimatbindungen bedeutete eine transnationale Erfahrung, deren Einfluss auf die italienische Demokratie bislang nicht erforscht worden ist. Dass es ihn gab, zeigt sich beispielsweise an der Intervention italienischer USA-Auswanderer anlässlich des ersten Parlamentswahlkampfes 1948, die auf Initiative der amerikanischen Regierung ihren Verwandten auf der Halbinsel mit Brief-, Paket- und Geldsendungen die Wohltaten der westlichen Demokratie schmackhaft und die kommunistische Alternative abspenstig zu machen versuchten.23 Fälle wie diese werden als Fußnoten des Kalten Krieges, nicht aber als Teil eines grenzüberschreitenden Demokratiediskurses untersucht. Insgesamt hat die transnationale Geschichte, die mit einiger Verspätung in der italienischen Forschungslandschaft angekommen ist, noch viel zu tun; die Frage nach der Demokratisierung der italienischen Nachkriegsgesellschaft stellt dabei eines der größten unbestellten Felder dar  – hier könnte die italienische Zeitgeschichte durchaus vom Blick deutscher Zeithistoriker lernen.24

II. Der andere Blick. Italienische Perspektiven auf die Nachkriegsdemokratie Obwohl es in Italien keine mit der deutschen Diskussion um die »Neue Politikgeschichte« vergleichbare historiographische Debatte gibt, haben italienische Historiker seit geraumer Zeit innovative Blickweisen auf die politische Kultur Italiens entwickelt. Sie profitieren dabei von der im Vergleich zur deutschen Forschung stärkeren Neigung, die Geschichte der Republik in die longue durée italienischer politischer Kultur einzuordnen und nationale Traditionen seit dem 19. Jahrhundert herauszuarbeiten, wobei auch der Faschismus inzwischen mit guten Argumenten unter den Kontinuitäten des politischen Italiens seinen Platz findet, anstatt als Bruch oder Betriebsunfall interpretiert zu werden.25 Dies 22 Ebd., S. 172 f. 23 Vgl. Ventresca, From Fascism, S. 240 f. 24 Sie tut dies bereits, insofern germanophile Historiker als »transkulturelle Mittler« historiographischer Ansätze auftreten. So etwa Cavazza, Rinascita. Für den Terrorismus der 1970er Jahre hat Petra Terhoeven jüngst Italien in den transnationalen Horizont eingebunden. Vgl. Terhoeven, Deutscher Herbst. 25 Zu dieser Deutungslinie vgl. jüngst Corner, Fascist Party.

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spiegelt sich darin wider, dass die Nachkriegsgeschichte als integraler Bestandteil der mit der Französischen Revolution einsetzenden storia contemporanea behandelt wird und »Zeitgeschichte« als eigene Disziplin nicht existiert.26 Es sei konzediert, dass dadurch die Auswirkungen des sozialen und generationalen Wandels auf die politische Kultur in der (medialisierten) Nachkriegsgesellschaft bisweilen unterschätzt werden. Dessen unbenommen sollen vier Aspekte der italienischen Forschung herausgestellt werden, die für die Geschichte auch der westdeutschen Nachkriegsdemokratie methodisch anregend erscheinen. Erstens hat die Kategorie »Raum« in Italien die Aufmerksamkeit empirischer Forschung gefunden, ohne dass sie methodologisch so intensiv diskutiert würde, wie das in Deutschland momentan der Fall ist. Die piazza als Alltagsraum wie als emblematischer Ort italienischer Politik und die an sie gebundenen Konflikte, Riten und Machtinszenierungen standen dabei im Mittelpunkt.27 Vergleichbare longue-durée-Studien zu den Gepflogenheiten der politischen Nutzung des öffentlichen Raums, seiner Umkämpftheit und seiner funktionellen Beschreibung durch Bürger und politische Akteure stehen für Deutschland im Allgemeinen und die Bundesrepublik im Speziellen noch aus.28 Gerade im Hinblick auf die räumlichen Repräsentationsweisen des Nationalsozialismus und die Demonstrationstraditionen vor 1933 könnte eine Demokratiegeschichte der Bundesrepublik von raum- und performanzaffinen Blicken profitieren, um auszuloten, inwiefern sich die Sichtbarkeit und »Sinnlichkeit« der Nachkriegs­demokratie von der Diktatur und der ersten Demokratieerfahrung in der Zwischenkriegszeit unterschied. Eng mit dem Sinn für Räumlichkeit verbunden ist, zweitens, das Interesse der italienischen Historiographie für »Mobilisierung« und »Massen« – Begriffe, die aus deutscher Perspektive für die Nachkriegszeit einigermaßen anachronistisch anmuten und erst jüngst wieder Eingang in die Fachterminologie finden,29 wobei »Mobilisierung« bis in die 1980er Jahre einen durchaus verbreiteten Quellenbegriff darstellt, während die »Masse« in der Bundesrepublik bekanntlich bereits unter zeitgenössischen Beobachtern diskreditiert war.30 Ursächlich dafür ist eine zeitlich verschobene Verortung der Massenpolitisierung, die in Italien erst im faschistischen Ventennio einsetzte. Demzufolge erscheint die Geschichte der Republik als eine Geschichte der Vollendung des »politischen Massenmarkts« unter demokratischen Auspizien, wohingegen dieses Konzept für die Geschichte der Bundesrepublik keine Rolle mehr spielt.31 Es sind deshalb auch andere Akteure und andere Praktiken, die in der italienischen Zeitgeschichte in den 26 27 28 29 30 31

Vgl. Klinkhammer, Novecento. Vgl. u. a. Isnenghi, Italia; Cavazza, Costituzione. Vgl. aber Schregel, Atomkrieg; Betts, Ästhetik; Jarausch, Umkehr, S. 211–216. Vgl. Livi u. a., 1970er Jahre. Herbert, Liberalisierung, S. 25. Zur Begriffsprägung vgl. Rosenberg, Depression, S. 123. Zur Massenpolitisierung im Faschismus, als deren Erben sich die demokratischen Parteien nach 1945 verstanden, vgl. Ventrone, Cittadinanza, S. 30.

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Vordergrund rücken. Während die deutsche Forschung sich vornehmlich den wichtigen Impulsgebern der Demokratisierung nach dem Zivilisations­bruch, nämlich den Intellektuellen und Publizisten sowie ihren Deutungsangeboten zugewandt hat,32 interessiert sich die italienische Zeitgeschichte für die politischen Parteien als Mobilisierer und »Erzieher« der Bürger, die symbolischen und interaktiven Formen ihrer politischen Kommunikation und Propaganda sowie die soziokulturellen, politischen und regionalen Milieus und deren Wertehimmel.33 Stefano Cavazza hat die italienische Republik mit Weimar verglichen;34 ebenso treffend aber erscheint der Vergleich mit dem deutschen Kaiserreich. Margaret Andersons Practicing Democracy, eine Studie über die Einübung der Deutschen in die wilhelminische Wahlkultur, über die Kontakte von Wählern an der Periphe­rie mit dem professionellen Politikbetrieb und seinen Vertretern, könnte in ähnlicher Form auch für die italienische Nachkriegsdemokratie geschrieben werden. Auf die bundesrepublikanische Gesellschaft hingegen scheint ein solcher Zuschnitt nicht mehr zu passen, werden die deutschen »Lehrjahre der Demokratie«, so der übersetzte Titel von Andersons Werk, doch zwischen 1871 und 1933 verortet.35 Ein dritter Forschungsstrang der italienischen Zeitgeschichte richtet seinen Fokus auf eine Figur des politischen Massenmarktes, den militante, den Parteisoldaten, und damit auf die Kultur (partei-)politischer Zugehörigkeit.36 Man könnte dies – und darin läge ein Mehrwert auch für die Geschichte der westdeutschen Demokratie – unter der Frage verhandeln, wie Partizipation und Aktivismus in der Praxis aussahen und welche Vorstellungen etwa mit der Parteimitgliedschaft verbunden waren. Insbesondere die Stärke des kommunistischen Milieus, das als das Fremde im eigenen Land imaginiert wurde, hat die historische Forschung zu innovativen Ansätzen angeregt. Die kommunistische Moral, Disziplin und Lebensweise sowie ihre Grenzen innerhalb einer pluralistischen Demokratie sind Gegenstand zeitgeschichtlicher Studien geworden, die auch über Italien hinaus methodische Anregungen liefern können für die Frage, welche »Modell[e] des partizipierenden Menschen«37 die Nachkriegsdemokratien hervorbrachten und welche lebensweltlichen Organisationskulturen damit verbunden waren.38 Kollektive politische Selbstwahrnehmungen, Fremdbilder und Lebenswelten in der Bundesrepublik zu suchen und zu analysieren wäre ein­ 32 Dies gilt insbesondere für die Rede von der sogenannten zweiten Gründung der Bundesrepublik. Vgl. Kersting u. a., Zweite Gründung; Forner, Erneuerung. 33 Vgl. u. a. Ridolfi, Propaganda; Ventrone, Cittadinanza. 34 Vgl. Cavazza, Delegittimazione. 35 Vgl. Anderson, Lehrjahre. Erst jüngst wird auch die Geschichte der Bundesrepublik aus dem Blickwinkel des Aufeinandertreffens von professionellem Politikbetrieb und Bürgern betrachtet und als »Lehrzeit« der Demokratie konzipiert. Vgl. Mergel, Propaganda; Borup, Demokratisierungsprozesse. 36 Vgl. u. a. Ventrone, Cittadinanza; Lupo, Partito; Kertzer, Comrades. 37 Knoch, Mündige Bürger, S. 37. 38 Vgl. u. a. Kertzer, Politics; Bellassai, Morale; Casalini, Famiglie; Gatzka, Neue Mensch.

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lohnendes Projekt, das die bislang noch sehr auf außerparlamentarische Partizipation fokussierte Forschung zur »aktiven Bürgerschaft« ergänzen könnte.39 Viertens hat die italienische Forschung dort, wo die deutsche allzu plaka­ tiv vom »unpolitischen Deutschen« spricht, tiefer gebohrt und ist den Erscheinungsformen von »Anti-Politik« nachgegangen.40 Häufig lassen diese Studien nicht auf »unpolitische« Haltungen im normativ-demokratietheoretischen Sinne, sondern schlicht auf unterschiedliche Vorstellungen von demokratischer Legitimität schließen, die je nach Region oder Milieu sowie insbesondere entlang des Nord-Süd- und des Stadt-Land-Gegensatzes variierten und durch die traditionelle Staatsferne der Italiener noch genährt wurden. Die Verhandlung von Demokratie als einer Herrschaftsform, die an der gesellschaftlichen Basis kursierenden Konzepte von »Volk« oder politischer Gemeinschaft, aber auch lokal, personal und materiell gebundene Spielarten von Gefolgschaft und Loyalität in der Demokratie sind am italienischen Fall – wenngleich bislang nur in Ansätzen – untersucht worden.41 Für die Bundesrepublik erscheinen solche Perspektiven gerade angesichts der bis in die Gegenwart hineinwirkenden Debatten um die »Bürgernähe« von Politik ebenso erkenntnisträchtig; erste, interessanterweise kulturwissenschaftlich inspirierte Studien haben sich dieser Problematik jüngst anhand von Bürgerbriefen gewidmet.42 Man kann der italienischen Forschung entgegenhalten, dass sie aufgrund ihres einigermaßen konventionellen Fokus auf die Parteien den Blick verliert für Demokratisierungsprozesse, die jenseits des politischen Massenmarktes abliefen, und die für die Bundesrepublik etwa im Hinblick auf die Diskussionskultur herausgearbeitet worden sind.43 Zugleich aber hat sie damit zwei wesentliche Probleme der Nachkriegsdemokratie ins Visier bekommen, denen für die Bundesrepublik noch nicht allzu viel Beachtung geschenkt wurde: zum einen die konkrete politische Konfliktkultur, zum anderen das Problem der Legitimität einer Demokratie, die auch und vor allem in der Wahrnehmung ihrer Bürger in erster Linie eine Parteiendemokratie war. Gerade in den damit verbundenen Prinzipien, Parteienpluralismus und repräsentative Demokratie, unterschied sie sich von den faschistischen Konzepten von (Volks-)Gemeinschaft und organischer Einheit der Führer und Geführten. Für die Geschichte der »Demokratisierung« als eines Prozesses der Legitimierung einer politischen Form, die in Deutschland lange Zeit in Verruf stand, können die Ansätze der italienischen Historiographie also durchaus Impulse geben. Die folgenden vergleichenden Erkundungen verorten sich in diesem Kontext und profitieren dabei von beiden zeitgeschichtlichen Perspektiven. 39 Einschlägig sind Kössler, Abschied; Reichardt, Authentizität. Zur »aktiven Bürgerschaft« vgl. Knoch, Bürgersinn. 40 Vgl. van Laak, Zivilisierung. Für Italien vgl. Imbriani, Vento; Baldassini, Ombra. 41 Vgl. LaPalombara, Democracy; Musella, Clientelismo. 42 Vgl. u. a. Zimmermann, Stimmen; Fenske, Demokratie. 43 Vgl. Verheyen, Diskussionslust.

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III. Wahlkampf vor der Haustür in Italien und der Bundesrepublik – Erkundungen zu Demokratieverständnis und Konfliktkultur bis in die siebziger Jahre Nationale Wahlkämpfe boten Gelegenheiten, sich in die Demokratie einzuüben. In höherem Maße als der Alltag brachten sie den politischen Konflikt und die Frage der Legitimität der demokratischen Ordnung aufs Tapet und involvierten dabei nicht nur Eliten, sondern auch den »kleinen Mann«. In solchen Phasen lässt sich in besonders dichter Form die demokratische Kultur untersuchen, die sich in den beiden postfaschistischen Republiken ausbildete: die Vorstellungen von Demokratie und die politikbezogenen Praktiken und Diskurse, die in der face-to-face-Kommunikation vor Ort sowie in der massenmedialen Öffentlichkeit zirkulierten.44 Welche politischen Verhandlungsformen bildeten sich zu diesen Gelegenheiten in den beiden postfaschistischen Demokratien aus; inwiefern wurde insbesondere die Gefahr politischer Gewalt, die jedem Wahlkampf innewohnt, eingehegt und durch »demokratische« Spielregeln ersetzt? Befragt man die gängigen historiographischen Narrative, erscheint Westdeutschland in dieser Hinsicht wie so oft als Musterschüler, Italien als schwieriger Fall: Die ersten italienischen Wahlkämpfe waren im Gegensatz zu den westdeutschen von zahlreichen Zusammenstößen gekennzeichnet, und häufig wird die politische Fragmentierung Italiens, die sich auf nationaler und territorialer Ebene beobachten lässt, als Ursache ins Feld geführt.45 Doch wie sah die Konfliktkultur vor Ort konkret aus? Die folgende Analyse richtet sich schwerpunktmäßig auf die beiden gleichermaßen roten wie bürgerlichen Städte Hamburg und Bologna und fragt durch die Linse der Wahlkampfkultur danach, wie die Demokratie und ihre Spielregeln verhandelt wurden. 1. Mobilisierung und Parteilichkeit

Wahlkämpfe imprägnierten die lokalen Räume Italiens stärker als die der Bundes­republik. Die politischen Repräsentationspraxen einmal beiseitegelassen, hing dies vor allem damit zusammen, dass die Italiener sich nach Ende des Faschismus in viel größerem Umfang für die neuen politischen Großorganisationen mobilisieren ließen. Dabei entwickelte sich eine Rekrutierungsdynamik, die sowohl auf der politischen Linken als auch auf Seiten des katholischen Milieus von der Idee getragen war, dass Massenmitgliedschaft die politische Legitimität der eigenen Organisationen bezeugte und zugleich dazu dienen konnte,

44 Vgl. Mergel, Wahlkampf, S. 384 f. 45 Zu Italien vgl. Cavazza, Comunicazione. In der Bundesrepublik kam es nur 1949 zu nennenswerten Auseinandersetzungen. Vgl. Mergel, Propaganda, S. 140–142.

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die Italiener zu einer neuen demokratischen Moral zu erziehen – so wie Mussolini gemeint hatte, sie zu Faschisten erziehen zu können.46 Der italienischen Linken gelang es vor allem auf zwei Wegen, binnen weniger Jahre über zwei Millionen Menschen zu rekrutieren: Durch die Resistenza in ihrem Machtanspruch legitimiert, schwangen sich Sozialisten und Kommunisten in vielen Orten zu neuen Herrschern auf und verbanden diesen Neuanfang – im Süden wie im Norden des Landes – mit dem Narrativ einer demokratischen Neuordnung von unten, an der dieses Mal das »wahre« Volk aktiv mitwirken sollte.47 Diese Suggestion radikalisierte sich vielerorts zu revolutionären Stimmungen; bestimmend gerade für junge Italiener war aber, dass sie darin einen demokratischen Aufbruch gegen die »Reaktion« erblickten, der oft im Zeichen lokaler politischer Autonomie stand.48 Eng damit verbunden war die Praxis lokaler Selbsthilfe, die sich in der Nachkriegszeit unter dem Rubrum der assistenza ausbildete. Die faschistischen Strukturen imitierend, konnten Italiener in der Nachkriegsdemokratie beinahe alle sozialen Bedürfnisse über die Zugehörigkeit zur Partei und zu ihren Vorfeldorganisationen stillen. Gerade die Kommunistische Partei wurde zu einer Art lokaler Sozialagentur, komplementär zur katholischen Kirche.49 Die Integration ins christdemokratische Milieu funktionierte nach sehr ähnlichen Logiken, wobei die Kirche hier die Funktionen der assistenza übernahm und die Christdemokratische Partei, von den Mobilisierungserfolgen der linken Parteien unter Druck gesetzt, ihre Organisation vor allem durch Pfründe und Patronagestrukturen stärkte.50 Der namentlich im Mezzogiorno verbreitete Klientelismus der »Staatspartei« Democrazia Cristiana (DC) vermittelte Politik nach alter Tradition eher über personelle Kanäle denn über abstrakte Ideen und schuf dabei eine Art »Bürgernähe«, die der Nachkriegsdemokratie durchaus Legitimität verschaffte.51 Die politischen »Subkulturen« im Nachkriegsitalien gingen mithin nicht so sehr auf stabile alte Milieus zurück, sondern waren von den Nachkriegs­a kteuren hochgradig produziert.52 Ihre Homogenität sollte nicht überschätzt werden: Alljährlich hatten die Italiener ihr Parteibuch zu »erneuern«; dementsprechend hoch war die Fluktuation. So hatte der Partito Comunista Italiano (PCI) 46 Vgl. Bellassai, Morale; De Giorgi, Cattolici. 47 Verbale del congresso d’organizzazione delle sezioni del Partito comunista della Provincia di Bari, 23/25 ottobre 1944, Bl. 6, in: Fondazione Gramsci di Puglia [FGPU], Archivio del PCI, Comitato provinciale di Bari [PCI Bari], Serie 2, Sottoserie 1, UA 36. Vgl. Ventrone, Cittadinanza. 48 Hobsbawm/Napolitano, Auf dem Weg, S. 36 f. Zur Bedeutsamkeit kommunaler Autonomiemodelle vgl. Ballini, Autonomie. Zur Resistenza vgl. Pavone, Guerra civile. 49 Vgl. den Erfahrungsbericht bei Mafai, Apprendistato sowie die anthropologische Studie von Kertzer, Comrades. 50 Capperucci, Partito. 51 Vgl. Bevilacqua, Breve storia, insb. S. 68 f., 72, 119 f., 126 f., 171 f.; Briquet, Scholarly Formulations. 52 Zur Rede von vermeintlich naturwüchsigen »Subkulturen« im Nachkriegsitalien vgl. Parker, Political Identities. Zu einer Kritik und weiterer Literatur vgl. Agnew, Place and Politics.

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z­ wischen 1951 und 1953 bei 400.000 Neuzugängen knapp 375.000 Austritte zu verzeichnen; der opportune Wechsel von einer Partei in eine andere war gerade in der Südhälfte des Landes eine gängige Praxis.53 Viele Italiener hatten also gute Gründe – vor allem sozialer Natur –, sich nach dem Ende des Faschismus rasch wieder einer politischen Großorganisation anzuschließen. Demgegenüber beharrten die Parteien auf der Deutungslogik, dass sich in der Zugehörigkeit zu ihnen gleichsam der Faschismus überwinden ließe. Wer ein »guter« Demokrat sein wollte, war – so die Suggestion – parteipolitisch organisiert. Umstritten war nur, welches Lager die wahren Demokraten versammelte. Nach kommunistischer Logik war die numerische Stärke bereits ein hinreichender Ausweis dessen. In seiner Bologneser Wochenzeitung schrieb der PCI 1945: »Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass die Kommunistische Partei, nachdem sie im Kampf gegen den Faschismus […] und im Krieg für die nationale Befreiung die meisten Opfer gebracht hat, heute die mitgliederstärkste Partei Italiens ist. Aus einem streng demokratischen Blickwinkel müssten ihr und ihrem Leiter deshalb die Führung des Staates zustehen.«54 In Westdeutschland hingegen war die im ersten Bundestagswahlkampf 1949 von der Deutschen Partei (DP) ventilierte Parole »Nie wieder in eine Partei!« durchaus Programm. Wähler und Pressebeobachter verhandelten Parteizugehörigkeit vor allem als Makel und betrachteten Parteien häufig als notwendiges Übel.55 Zwei delegitimierende Argumentationsstränge lassen sich dabei erkennen: Zum einen konnte man darauf verweisen, dass die »Partei« im National­ sozialismus omnipräsent gewesen und das Organisiertsein zum Zwang erhoben worden war, was viele Westdeutsche – auch vor der Negativfolie der neuerlichen gesellschaftlichen Durchmobilisierung im Ostteil des Landes  – dazu bewog, die Freiheit von der Organisation nach 1945 hochzuschätzen.56 Zum anderen knüpfte man an alte, aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik überkommene Ressentiments an, die Parteien mit Bonzentum und der Spaltung der Na53 Die lokalen Parteiakten sind voller Fälle des Parteiwechsels, der Veruntreuung von Parteimitteln und anderer disziplinarischer Vergehen wie der Spionage. Siehe etwa: FGPU, PCI Bari, Serie 6, Sottoserie 5, UA 139 [1964/65]; ebd., Sezione di Canosa di Puglia, Serie 7, UA 42–45 [1944–1978]. Für die Democrazia Cristiana siehe die chaotischen Zustände in Teramo 1946/47: Istituto Luigi Sturzo, Archivio della Democrazia Cristiana, Segreteria Politica, Sc. 3, fasc. 1, sottofasc. 1. Zu den Zahlen siehe Poggi u. a., Organizzazione. 54 L’esempio di Togliatti, in: La Lotta, 23.6.1945. Zur selben Logik auf christdemokratischer Seite siehe: Affluenza di giovani nella Democrazia cristiana, in: Il Popolo, 8.6.1944; Il piano di propaganda, in: Bollettino organizzativo della Direzione Centrale della Democrazia Cristiana, 15.1.1948. Zur Legitimation der Parteien über ihre Massenmitgliedschaft vgl. Focardi, Unsitte, S. 125 f. 55 Archiv der sozialen Demokratie [AdsD], Abt. III, SPD -Landesorganisation Hamburg I [SPD -LO HH I], Mp. 107. Zur Pressebeobachtung siehe etwa: Fängt’s schon wieder an?, in: Schwäbische Donauzeitung, 8.5.1946; Ernst Friedlaender, Die CDU hat das Wort, in: Die Zeit, 18.8.1949. 56 So erinnert sich August Hanz, der sich schließlich 1950 überwand, im kleinen Ort Montabaur im Westerwald in die CDU einzutreten. Vgl. Hanz, Leben, S. 122.

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tion in Verbindung brachten. Solche durchaus widersprüchlichen Zuschreibungen brachten Bürger in Zuschriften an Bundestagskandidaten zum Ausdruck. Der Hamburger SPD -Vorsitzende Karl Meitmann durfte 1949 in einem Brief eines westfälischen Wählers lesen: »Ihre Partei lehne ich ab, weil sie Partei ist.« Was Parteien zu sagen hätten, sei ihm egal. Alle schrien jedenfalls gegeneinander, und das sei »Schund«. Charakteristisch für solche Haltungen war, dass nicht etwa Demokratie und Diktatur einander gegenübergestellt wurden, sondern dass man Parteien und Wahlen einem politischen Prinzip zuordnete, das per se schlecht und im »Dritten Reich« schließlich pervertiert worden sei. Im Brief an Karl Meitmann kulminierte diese Kontinuitätskonstruktion in dem Vorwurf: »Sie sind ja ein … schwarz-rot-goldner Parla-Ment-Arier«.57 Die Vorstellung, dass der Nationalsozialismus nur der Kulminationspunkt einer nach 1918 einsetzenden »Parteiwirtschaft« sei, die man für die Nachkriegszeit als diskreditiert ansah, prägte bekanntlich auch das Denken vieler Intellektueller und Politiker, die statt dessen ein berufsständisches System als die »rechte« demokratische Ordnung für die Bundesrepublik betrachteten.58 Solche Ressentiments gab es freilich auch in Italien, namentlich im Süden, wo sie in der frühen Nachkriegszeit im Uomo Qualunque ein politisches Sprachrohr fanden. Ein wichtiger Faktor für die bundesdeutsche Mobilisierungsmüdigkeit war daher das relativ passive Verhalten der deutschen Sozialdemokratie. Während die politische Linke in Italien alles daran setzte, die faschistische Partei in der Organisation der »Massen« zu beerben und sich dabei des ResistenzaMythos bediente, der im Sinne einer Generalexkulpation das einfache Volk von jeder faschistischen Verstrickung freisprach und zur Front von Widerstandskämpfern stilisierte, hatten die deutschen Sozialdemokraten keinen republikanischen Gründungsmythos zur Verfügung, der ihnen das Weitermachen nach dem Nationalsozialismus ermöglichte. Dort, wo sie nicht über ein dichtes, gewerkschaftlich abgesichertes Arbeitermilieu verfügten, zeigten sich die Sozialdemokraten häufig mit der neuen Situation überfordert. Misstrauen und Lethargie bestimmten nicht nur die innere Parteikultur, sondern auch den Umgang mit den deutschen Wählern.59 Auch die umtriebigen Linkssozialisten, die sich

57 Willy Stenvers (Gronau) an Karl Meitmann, 19.11.49. AdsD, Abt. III, SPD -LO HH I, Mp. 184. Vgl. Mommsen, Lange Schatten, S. 570. 58 Vgl. u. a. Ullrich, Weimar-Komplex; Bailey, Continuities. Vgl. auch Borup, Demokratisierungsprozesse, S. 87 f. 59 An der SPD -Basis verbreitet waren ratlose Feststellungen wie diese: »Die Zeit zeigt uns immer wieder, daß gerade in den Jahren des Hitlerismus vieles verloren gegangen ist, die Gelegenheiten fehlten, in illegaler Arbeit uns für die danach folgenden Jahre der Freiheit vorzubereiten. Vieles hat sich nach 1933 verändert, wir müßen uns der Gegenwart anpaßen [sic] um die Aufgaben zu meistern, die sich nach 1945 aufgetan haben. Es ist eine gemeinsame Verpflichtung aller, einen schlagkräftigen Funktionärskörper zu schaffen, der die Fähigkeiten in sich birgt, unser Ideengut in die Mitgliedschaft und in die breite Masse hineinzutragen.« Günther Ohle, Kreisorganisationsleiter im Hamburger SPD -Kreis XIV

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der SPD zuwandten, wurden sich rasch der Grenzen der Mobilisierungsfähigkeit bewusst. So schilderte Hugo Röhrig 1949 aus Solingen: »Wenn wir z. B. zu den jungen Menschen hier in unserer alten Terminologie sprechen, so ist das fast so, als sprächen wir in einer ihnen fremden Sprache, und es fällt ihnen vor allem schwer, wenn sie uns schon verstehen – nach allem was geschehen ist –, an unsere Aufrichtigkeit zu glauben.« Agile Genossen blickten häufig mit einer gehörigen Portion Verachtung auf die »Indifferenten« und deuteten die NS -Zeit als Phase »zwangsläufiger Entpolitisierung fast aller Menschen in Deutschland«. Der »unpolitische« Deutsche war vor allem eine zeitgenössische Zuschreibung, die »politisch« mit »parteipolitisch« gleichsetzte.60 Im christdemokratischen Sprachgebrauch zeigte sich dieselbe Logik darin, dass sie zur Kontaktaufnahme mit den Wählern häufig auf den »vorpolitischen Raum«, also die Vereine und Verbände setzten.61 Wenn westdeutsche Bürger sich in der frühen Nachkriegszeit hilfesuchend an Parteien (häufig an mehrere zugleich) wandten, fühlten sie sich nicht selten bemüßigt, zu Beginn des Briefes zu erklären: »Ich bin weder Mitglied einer politischen Partei, noch hänge ich sonst irgendwelchen dogmatischen Grundsätzen nach.«62 Die Zugehörigkeit zu einer Partei wurde häufig unter dem Rubrum von Dogmatismus oder Fanatismus verhandelt. Demgegenüber konstruierten sich die deutschen Bürger als »einfache Leute« mit einem »klaren« Blick auf die sozialen Realitäten ihrer Lebenswelt. Diese ideologische Indifferenz und das Desinteresse an (politischer) Organisation war freilich eine Folge des Krieges und des Elends der Nachkriegszeit. Doch der Vergleich mit Italien, das ebenso von sozialer Deprivation gezeichnet war, zeigt, dass dies allein nicht als Erklärung für die politische Apathie herhalten kann. Genauer besehen handelte es sich bei den »unpolitischen« Deutschen nach 1945 um Bürger, die der Parteipolitik überdrüssig waren, sich aber durchaus weiterhin als politische Subjekte verstanden. Ihren politischen Ort fanden viele gerade darin, sich außerhalb des Parteienspektrums zu verorten und den Parteien als politischer Form abzuschwören. Die CDU/CSU kapitalisierte diese Ressentiments im Wahlkampf, indem sie immer wieder auf die Rolle der­ (Eimsbüttel), an die Distrikts- und Bezirksvorstände des Kreises XIV, 31.1.1949. AdsD, Abt. I, Nachlass Peter Blachstein [NL Blachstein], Mp. 22. Vgl. auch: Emil Brune an Joseph Lang, 16.2.1949, in: Grebing, Lehrstücke, S. 114. 60 Hugo Röhrig an Joseph Lang, 15.5.1949, in: Grebing, Lehrstücke, S. 122; Irmgard Enderle (Köln) an Joseph und Erna Lang, 2.4.1948, in: Grebing, Entscheidung, S. 90. Zur Gleichsetzung von »politischer« mit »parteipolitischer« Tätigkeit vgl. Interview mit Annegret Petri (Name geändert), 1987, abgedr. in: von Plato/Leh, Unglaublicher Frühling, S. 305. 61 Zu Aktivitäten im »vorpolitischen Raum« siehe etwa: Aktennotiz, gez. Davidts [CDUKreisverband Hamburg-Nord], 26.5.1965. Archiv für Christlich-Demokratische Politik [ACDP] 02-155-002/1. Noch 1975 gab die CDU ein internes Regiebuch mit dem Titel »Vorpolitischer Raum« heraus. Siehe: ACDP 07–001–7125. 62 Hermann Menzel (Hamburg) an den Hamburg-Block [CDU, FDP, DP], die SPD Hamburg und die Schulbehörde Hamburg, 25.10.1953. AdsD, Abt. III, SPD -LO HH I, Mp. 214.

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»Persönlichkeit« gegenüber den Parteioligarchien verwies und sich geradezu als Nicht-Partei präsentierte.63 Die Sozialdemokraten hingegen definierten sich als die einzigen verbliebenen »politischen« Menschen und blickten zuweilen arrogant auf die Wähler als »unpolitische« Objekte. Eine profunde Distanz zwischen »Volk« und Vertretern zeichnete mithin die politische Kommunikation der frühen Bundesrepublik aus.64 2. Konfliktkultur und demokratische Spielregeln

Für den Wahlkampf und die dort ventilierten Demokratiediskurse hatten diese unterschiedlichen Bedingungen weitreichende Folgen. Die italienische Kommunikationskultur war viel körperlicher als die westdeutsche; durch die Kulturkampfatmosphäre des Kalten Kriegs gedieh der Wahlkampf zu einem Kampf um Menschen als neue »Rekruten«. So war im ersten Parlamentswahlkampf 1948 jeder siebte Wahlberechtigte in einer der drei prägenden (Partei-)Organisationen eingeschrieben – ein in der Bundesrepublik undenkbar hoher Anteil an Organisierten.65 Die Präsenz der Wahlkämpfer auf den Straßen und Plätzen, in den Hausfluren und Bars war ungleich stärker, und diese numerische Potenz führte dazu, dass der Kampf um parlamentarische Repräsentation vor Ort zugleich als Wettkampf um lokale Hegemonie ausgefochten wurde. Nationale Wahlkämpfe verhandelten in Italien immer auch die Frage, wer die lokale community kontrollierte.66 Vor diesem Hintergrund sind die Zusammenstöße zu deuten, die in den 1940er und 1950er Jahren Teil der Wahlkampfkultur waren, sich jedoch nach 1953 spürbar abschwächten.67 Das hatte vor allem damit zu tun, dass die Körperlichkeit des Straßenwahlkampfes und die Drohung der Gewalt lokale Debatten um demokratische Spielregeln hervorbrachte, die in engem Zusammenhang mit den Legitimierungsstrategien der großen Parteien im Schatten des Kalten Krieges standen und »Demokratie« zum Kampfbegriff erhoben. Gerade die Bipolarität und hohe Konfliktbereitschaft der politischen Kultur Nach63 CDU-Bundesgeschäftsstelle: Die Bundestagswahlen vom 6. September 1953 [interner Bericht, 1953], Bl. 6. ACDP 07–001–5010. Diese Strategie beobachteten auch aufmerksame SPD -Genossen selbst. Siehe etwa: Werner Riedel (Hamburg) an die SPD Hamburg, Pressehaus, 8.10.1953. AdsD, Abt. III, SPD -LO HH I, Mp. 214. 64 Sichtbar wird dies beispielsweise in den Kandidatenbriefen der SPD an die Wähler. Siehe: Peter Blachstein an die Jungwähler, Hamburg, 5.8.1949, in: AdsD, Abt. I, NL Blachstein, Mp. 27; Helmut Schmidt: »An die vielen jungen Menschen«, August 1953, in: AdsD, Abt. III, SPD -LO HH I, Mp. 114. 65 PCI, PSI, DC und die katholischen, für die DC wahlkämpfenden Comitati Civici hatten 1948 zusammen mehr als vier Millionen Mitglieder, wahlberechtigt waren 29,1 Millionen. Zahlen nach Novelli, Elezioni, S. 88. 66 Vertiefend dazu: Gatzka, Auftritt. 67 Vgl. Cavazza, Comunicazione. Die Gewaltepisoden im Wahlkampf führten bis auf 1948 selten zu Todesopfern, sondern waren vor allem Delikte der Körperverletzung, Sach­ beschädigung und Bedrohung.

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kriegsitaliens brachte in Verbindung mit dem hohen Mobilisierungsrad früh einen regen Demokratiediskurs hervor, der nicht in abstrakten Höhen angesiedelt, sondern vor allem eine Form der lokalen Selbstbeobachtung war. Am Beispiel Bolognas, der kommunistischen Hochburg Italiens, lässt sich dies gut illustrieren. Schlägereien, Plakatabrisse und Störungen gegnerischer Kundgebungen wurden hier seit 1948 lagerübergreifend als »intolerantes« Verhalten verurteilt. Lokalzeitungen und überparteiliche Gremien, an denen auch der christdemokratische Präfekt und der kommunistische Bürgermeister beteiligt waren, verhandelten, oft auf Grundlage von Beschwerden aus der Bürgerschaft, »zivile« Spielregeln im politischen Kampf, über die sie anschließend aufmerksam wachten.68 In einer bis 1958 dauernden Inkubationszeit gedieh so zunächst die Codierung des gegnerischen Verhaltens als »undemokratisch« zu einem Mittel im Kampf um politische Legitimität, wurde aber zugleich zu einer Selbst­ verpflichtung, die binnen kurzer Zeit den Wahlkampf befriedete. Denn im spezifisch postfaschistischen (in den zwanziger Jahren unbekannten) Wettstreit der politischen Antagonisten darum, wer die »wahren« Demokraten waren, musste man sich auch im Verhalten vor Ort als »demokratisch« erweisen. Weil das gegenseitige Wachen und Mahnen und die Fixierung von Wählerschaft und Polizei auf die Einhaltung »ziviler« Verhaltensregeln aber schnell zu einem signifikanten Rückgang der Gewaltepisoden führte, sprach man bereits 1948 von einem außerordentlich »demokratischen Geist«, der die politische Kultur der Stadt umwehe.69 Das traf für die Kommunisten, die sich als gute Kommunalverwalter einen Ruf zu verdienen hatten, ebenso zu wie für die Katholiken, deren Bologneser Lokalblatt 1958 verkündete: »Im Italien des Jahres 1958 gibt es keinen Platz mehr für Leute, die mit Brutalität Recht haben wollen. Die Einschüchterung hat sich überlebt; die Demokratie ist stark und will und muss und weiß sich bei allen Respekt zu verschaffen. Wer versucht, zu alten, übergriffigen Methoden zurückzukehren, findet heute das Gesetz und seine friedvolle Herrschaft.«70 68 Non fu il candidato  a strappare i manifesti, in: L’Unità. Edizione bolognese, 9.4.1953; Il nostro Partito invita a vigilare contro i soprusi di oggi e i brogli di domani, in: ebd., 10.4.1953; Tutte le dodici liste ufficialmente approvate, in: Giornale dell’Emilia [Bologna], 1.5.1953; Compagnarderie: Al valor civile, in: L’Avvenire d’Italia [Bologna], 21.5.1953. Zu den überparteilichen Kommissionen zur Verregelung des Wahlkampfes siehe die Protokolle in: Archivio Comunale di Bologna, Atti del Gabinetto del Sindaco 1953, nn. ­700–1100, Fasz. Comitato per le elezioni 1953. Diese Gremien bildeten sich auch in anderen Städten und wurden auch in späteren Wahlkämpfen eingerichtet, obwohl 1956 ein Wahlkampfgesetz verabschiedet worden war. Zur »guten Tradition« dieser Institution in Bologna siehe: Commissione Interpartitica per le discipline nella propaganda elettorale, Verbale n° 1 (seduta del 15/3/68). Archivio di Stato di Bologna, Democrazia Cristiana,­ Comitato Comunale, Elettorale 7, Fasz. »Comm. Interpartitica«. 69 I bolognesi danno prova di alto spirito democratico, in: L’Unità. Edizione dell’Italia settentrionale, 13.4.1948; I riflettori puntati sul rosso della città, in: L’Unità. Edizione bolognese, 12.5.1986. 70 Identificati gli aggressori dei propagandistici del ›Civico‹, in: L’Avvenire d’Italia ­[Bologna], 17.5.1958.

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Zentral bei diesem lokalen Demokratiediskurs war, dass sich »undemokra­ tisches« Verhalten zugleich in sozial deviantes Verhalten übersetzte: Wer gewalttätig wurde, verging sich an der lokalen communitas. Über diese die politischen Gräben transzendierende Logik vollzog sich die Befriedung der italienischen Wahlkampfkultur, die erst in den 1970er Jahren durch außerparlamentarische, einer anderen Generation angehörende Akteure aufgebrochen wurde.71 In Deutschland hingegen war es nicht schwer, dem politischen Konflikt, wie er sich in Wahlkämpfen repräsentierte, vollkommen aus dem Weg zu gehen. Die Präsenz von Wahlkämpfern auf den Straßen war gering; direkter Kontakt mit den Wählern war selten. So gingen sozialdemokratische Wahlkämpfer »instinktiv an den meisten Türen vorbei …, z. B. wenn der Mann vielleicht früher einmal Nazi war oder sonst ein Grund vorliegt, ihn nicht zu besuchen«, wie ein Hamburger Genosse 1949 beklagte.72 Auf dem Land boten die Wahlversammlungen in den Dorfkrügen dem Austausch zwischen Direktkandidaten und Wählern durchaus Gelegenheit, wobei selbst hier die Wähler die Gelegenheit nutzten, es in der Aussprache den Politikern »dort oben« mal richtig zu zeigen.73 In der Stadt hingegen dienten die Wahlversammlungen in erster Linie der guten Selbstdarstellung der veranstaltenden Partei, weshalb aus berechtigter Furcht vor leeren Sälen die eigene Parteibasis die Stuhlreihen füllte. Bei den anschließenden Diskussionen waren sie es, die Redebeiträge vorbereitet hatten, oder gegnerische Parteimitglieder, die Co-Referate hielten.74 Den Wahlkampf beobachteten die meisten Wähler daher nicht vor der Haustür, sondern durch die Massenmedien, vor allem die Tageszeitungen. Im Fokus standen dabei die nationale und regionale Politprominenz und ihre rhetorischen Wahlkampfbeiträge. Diese Aufmerksamkeitsstruktur führte dazu, dass lokale Beobachter ein übersteigertes Maß an Hitzigkeit konstatierten, wo die Wahlkampfkultur faktisch friedlicher war als die italienische. Exemplarisch für diese Deutung war die Stimme einer Hamburgerin, die 1961 in einem Leserbrief schrieb: »Es ist doch entsetzlich, mit welchen Mitteln so eine Wahlkampagne 71 Vgl. Gatzka, Kommunisten. 72 Rudolf Fischer an Willy [Schmedemann], o. D. [Juli 1949]. AdsD, Abt. III, SPD -LO HH I, Mp. 104. 73 Deutscher Bundestag (Hg.), Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erinnerungen, Bd. 16: Walter Althammer, Boppard am Rhein 2002, S. 13. 74 SPD -Landesorganisation Hamburg, Kraftfahrzeugssachbearbeiter: Rundschreiben an alle Kraftwagenbesitzer, Juni 1949. AdsD, Abt. III, SPD -LO HH I, Mp. 108; Vorstandssitzung des Kreisvorstandes [CDU-Kreisverband Hamburg-Nord] mit den Wahlkampf­leitern und den Bundestagskandidaten am 5.6.1961. ACDP 02–155–006/3; Alfred ­Brockhagen [CDU-Kreisverband Hamburg-Nord] an die Parteifreunde, 24.8.1965. ACDP 02-155002/1. Zur Diskussionskultur siehe: Aktenvermerk. Betr.: CDU-Kundgebung am 14. November 1948 im Winterhuder Fährhaus, 16.11.[1948]. AdsD, Abt. III, SPD -LO HH I, Mp. 367; O. V. [SPD -Parteivorstand Hamburg]: Betr.: Ablauf eigener Wahlversammlungen, o. D. [1961]. AdsD, Abt. III, SPD -LO HH I, Mp. 132.

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bestritten wird! Muß man sich nicht eigentlich schämen, seinen Nächsten schlechtzumachen? Von Moral ist doch bei diesen Rededuellen oft keine Spur zu merken! Also, meine Herren Parteigenossen, wollen Sie sich nicht ein bißchen mäßigen?«75 Es war bis in die 1960er Jahre hinein charakteristisch für die bundesdeutsche Wahlkampfbeobachtung, dass sich eine explizit als neutral verstehende Öffent­ lichkeit anschickte, demokratische Spielregeln außerhalb oder geradezu gegen den etablierten Politikbetrieb nicht nur zu verteidigen, sondern überhaupt erst zu setzen. Als im ersten Bundestagswahlkampf im niederbayerischen Hengersberg ein Kommunist bei einer Wahlversammlung von einem Flüchtling erstochen worden war – für lange Zeit der einzige Fall von Totschlag im bundesdeutschen Wahlkampf –, sah sich etwa die Ulmer Schwäbische Donauzeitung dazu veranlasst, von einer kaum noch steigerungsfähigen »Intoleranz« zu sprechen: Während die erste Garde der Wahlkämpfer sich wenigstens auf rhetorische Angriffe beschränke, herrsche vor Ort Ausnahmezustand. Man fühle sich an die »Kampfzeit« zurückerinnert, der Ton sei unter aller »Sau«. »Dabei fehlen dieser Sorte von Versammlungsrednern [gemeint sind jene, die für den schlechten Ton verantwortlich waren, C. G.] meist die elementarsten politischen Kenntnisse«, so das niederschmetternde Verdikt der (SPD -nahen) Ulmer Lokalredaktion.76 Diese frühen Beobachtungen der westdeutschen Versammlungskultur richteten sich (mit Recht) in erster Linie gegen die Angehörigen der zahlreichen Splitterparteien und ihre »radikalisierten« Anhänger, häufig Flüchtlinge und Heimatvertriebene oder eben Kommunisten, stellten aber die Gesamtheit der Parteileute unter den Generalverdacht, nicht »fair« und anständig zu kämpfen und recht eigentlich nur eine Truppe mediokrer Lumpen zu sein. Auch als die Splittergruppen verschwunden und vor Ort so gut wie keine Zusammenstöße mehr zu verzeichnen waren, beklagten Bürger und Lokalblätter »Entgleisungen« verbaler Art, die sie jetzt vor allem den führenden Politikern attestierten.77 Seither gedieh die lokale Wahlkampfatmosphäre in Absetzung von den Redeschlachten auf den massenmedialen Bühnen zu einem Hort der zivilen Kultur. Wenn etwa das Hamburger Abendblatt den Wahlkampf in der Stadt als »durchaus gemessen, tolerant und… hanseatisch« lobte, sprach es von einem Verdienst der Hamburger selbst, die den politischen Konflikt von unten zivilisiert hätten.78 Die Deutschen, so schien es, erschufen sich eine neue politische Kultur im Medium ihrer lokalen communities  – »hanseatisch« als Synonym für »demokratisch«  – und ihrer bürgerlichen moralischen Codes  – Anstand, Fairness, Moral – geradezu in Absetzung vom politischen Establishment: Sie »erzogen« sich 75 Die Meinung der Leser: Mäßigung!, in: Hamburger Abendblatt, 8.9.1961. 76 Bemerkung, in: Schwäbische Donauzeitung, 3.8.1949. 77 Vor der letzten Runde im Wahlkampf, in: ebd., 4.9.1957. Umfassend dazu: Mergel, Propaganda, Kap. 8. 78 Die Meinung der Leser: Fairneß, in: Hamburger Abendblatt, 9./10.9.1961; Viele junge Menschen kommen in die Wahlversammlungen, in: ebd.

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ihre Politiker. »Demokratie« war in diesen Debatten kein einflussreicher Begriff, »Fairness« spielte eine größere Rolle, ebenso die »Kampfzeit« als Negativfolie – »demokratisches« Handeln schien nicht, wie in Italien, automatisch redliches Handeln zu bedeuten. Während »Demokratie« in Italien zu einem Kampfbegriff wurde, den alle Parteien für sich reklamierten und der zum Fixpunkt der Debatten um politische Spielregeln avancierte, stellte sie in der Bundesrepublik keinen zentralen Topos dar, wo es um einen guten politischen Stil ging. Die Erfahrungen der Weimarer Republik hatten den Demokratiebegriff seiner Tugendhaftigkeit beraubt.79 Vor Ort begann die junge deutsche Demokratie erst in den späten 1960er Jahren über sich zu sprechen, und zwar nachdem die Wahlkampfkultur harmoniebetonter geworden war. Willy Brandt oder Kurt Georg Kiesinger hatten Kanzler(-kandidaten) abgegeben, die sich charmant, wohlerzogen und bürgernah zeigten, und sie standen symbolisch für Wahlkampagnen, die insgesamt konsensbetont und unterhaltungsorientiert konzipiert waren.80 Als die Tugenden des Anstands und der Redlichkeit im Establishment angekommen zu sein schienen, wagten sich auch die Bürger weiter vor aufs parteipolitische Feld, getragen von dem Bewusstsein, selbst am besten zu wissen, wie Demokratie funktionierte. Diese Attitüde spiegelte sich in den Kommunikationsformen, die den lokalen Wahlkampf seit 1969 prägten: In Straßendiskussionen und Kaffeekränzchen, offenen Aussprachen und Frühschoppen mit den Direktkandidaten traten die Wähler den Politikern selbstbewusst entgegen, und die Parteien spielten mit bei der Vision, dass Wähler und Politiker einander auf Augenhöhe begegneten.81 Die Besonnenheit und Anständigkeit, die sich die westdeutschen Bürger im Zusammenspiel mit der Presse seit der Demokratiegründung selbst zugeschrieben hatten und die dann Ende der 1960er Jahre in der Rede von »demokratischer Reife« aufgingen, fungierten auch als Stoßdämpfer gegenüber den Regelbrüchen, die von der außerparlamentarischen Opposition ausgingen: Als Kurt Georg Kiesinger 1969 von »bürgerkriegsähnlichen Zuständen« sprach, blieb die Lokalpresse vergleichsweise ruhig, denn sie konnte darauf verweisen, dass die Bürger schon wüssten, den Wahlkampf vor ihrer Haustür ruhig und friedlich zu halten.82 In Italien hingegen hatten sich die Parteien und ihre lokalen Vertreter seit den 1950er Jahren selbst und in gegenseitiger Beobachtung zu den Schöpfern und Ordnungshütern demokratischer Spielregeln ernannt. Dies funktionierte 79 Vgl. Ullrich, Weimar-Komplex. 80 Vgl. Mergel, Propaganda, S. 142, 296–301. 81 Der Kanzler grüßt die Damen von St. Pauli, in: Hamburger Morgenpost, 20.9.1969; Ab und zu eine Tasse Kaffee, in: Hamburger Abendblatt, 16.11.1972; Hamburger Bürger fragen. Dietrich Rollmann steht Rede und Antwort, in: ebd. Umfassend dazu: Mergel, Propaganda, S. 145–156. 82 Siehe etwa: Schlägertrupps werden nicht geduldet, in: Badische Zeitung, 5.9.1969; Hitziger Wahlkampf unter sonst gemächlichen Leuten, in: ebd., 23.9.1969.

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so lange, wie die Bürger ihnen politische Legitimität zusprachen und ihren Mobilisierungslogiken folgten – Voraussetzungen, die bereits mit der gesellschaftlichen Modernisierung während des Booms an ihr Ende kamen. Mit dem Ausbrechen der politischen Gewalt seit 1969 sah sich dann eine parteipolitisch gefärbte Öffentlichkeit – Christdemokraten wie Kommunisten gleichermaßen – genötigt, eine Demokratie, deren Werteordnung sie geprägt hatten, gegen Angriffe von außen zu verteidigen.83 Die durch die Regelbrüche außerparlamentarischer und terroristischer Gruppierungen gestörte öffentliche Sicherheit stand symbolisch für die gestörte Demokratie – ein Zusammenhang, der auf die Frühphase der Republik zurückging, als »Demokratie« explizit im Sinne von »zivilem« und »toleranten« Verhalten definiert worden war. Ein Journalist, der 1975 eine Kompilation besorgter Leserbriefe herausgab, sprach bezeichnenderweise von einem »unzivilen Land«.84 Das credo dieses italienischen Krisenbewusstseins lautete, dass es die Parteien waren, die Demokratie sicherzustellen hatten. Die Westdeutschen hingegen hatten sich im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre langsam eines politischen Selbstbewusstseins versichert, das von sehr bürgerlichen Moralvorstellungen getragen war und sich außerhalb des Parteibetriebs entfaltet hatte. Aus dieser Distanz wurde um 1968 dann eine Begegnung »auf Augenhöhe«, wobei der nunmehr von den Wählern und Pressebeobachtern entdeckte Demokratiebegriff ein Bild entwarf, das Bürger und Parteipolitiker an einem Tisch sah – beide gleichermaßen sich der demokratischen Spielregeln bewusst. Vor diesem Hintergrund rückten viele westdeutsche Beobachter angesichts der außerparlamentarischen Herausforderung der Demokratie näher an ihre parteipolitischen Volksvertreter heran.85 Die Italiener hingegen verstärkten noch den Legitimationsdruck auf das System, der von den radikalen Protestbewegungen ausging, je weniger sie der Ansicht waren, dass jenes den Herausforderungen begegnen konnte.86 Ähnliche politische Entwicklungen – die außerparlamentarische Mobilisierung, die politische Polarisierung und die Protestbewegungen – wurden 83 Zur Verteidigung des »Geistes der zivilen und demokratischen Auseinandersetzung« rief der Stadtrat 1976 die ganze Bologneser Bevölkerung auf. Siehe: Atti del Consiglio Comunale di Bologna, 147, 1976, Verbale N. 40, Seduta del 7 maggio 1976, S. 477–89; I comunisti condannano il teppismo e la rissa, in: L’Unità. Edizione bolognese, 12.4.1972; Appello agli elettori, in: Due Torri Speciale [Bologna], 3.5.1972. Zur politischen Gewalt der 1970er Jahre vgl. u. a. Ventrone, I dannati della rivoluzione. 84 Bergonzoni, Lettere, S. XIV. 85 Siehe etwa: Frau G. Snicks [Hamburger Bürgerin] an Heinrich Gewandt [ihren Direkt­ kandidaten], 10.9.1969. ACDP 02–155–018/1. Sinnfällig dafür sind auch die Wählerinitiativen, die in den 1970er Jahren aufblühten. Vgl. Abromeit/Burkhardt, Wählerinitiativen. Zur öffentlichen Marginalisierung der APO im Rahmen des etablierten demokratischen Regelsystems vgl. Vogel, »Außerparlamentarisch oder antiparlamentarisch?« 86 Um einen Eindruck davon zu gewinnen, genügt ein Blick in die Leserbriefspalten der führenden Bologneser Tageszeitung Il Resto del Carlino während des Parlamentswahlkampfs im Mai/Juni 1976.

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so von unten sehr unterschiedlich gedeutet: als Aufbruch in der Bundesrepublik, als Krise in Italien.87

IV. Fazit Bei der Frage nach »Demokratisierung« handelt es sich um eine sehr deutsche Perspektive, die in der italienischen Historiographie kaum begegnet. Das alliierte Programm der Reeducation hat der deutschen Zeitgeschichtsforschung offenbar einen Pfad der Beobachtung vorgegeben und den Blick für transnationale Einflüsse geschärft. Liberalisierung, Amerikanisierung oder Westernisierung, die Jugendkulturen der 1960er Jahre oder die Protestbewegungen werden so als Faktoren der Demokratisierung gewertet, während sie in der italienischen Forschung eher als Motoren der politischen Legitimitätskrise gelten, die der italienischen Republik seit Ende der 1960er Jahre attestiert wird. Die historiographischen Urteile einer »geglückten« und einer »missratenen« Demokratie erwachsen mithin aus unterschiedlichen Beobachtungsweisen. Die deutsche Zeitgeschichte sucht und findet Demokratisierung außerhalb des konventionellen politischen Feldes, während die italienische Historiographie diesem verhaftet bleibt und die Pathologie der italienischen Demokratie aus der Pathologie seines Parteiensystems herleitet. Interessanterweise, so geht aus den empirischen Erkundungen hervor, reproduzieren diese zeithistorischen Perspektiven den Blick der Zeitgenossen, die das Werden und Vergehen von Demokratie an ihre institutionellen Träger, insbesondere die politischen Parteien, koppelten – wie in Italien – oder außerhalb des professionellen Politikbetriebs suchten  – wie in der Bundesrepublik. Dies zeigt, wie sehr Geschichten der Nachkriegsdemokratie nationale Narrative darstellen, die aus den jeweiligen politischen Kulturen erwuchsen. Versucht man die zeitgenössischen und die historiographischen Beobachtungen vergleichend zu deuten, lässt sich die These formulieren, dass sich in der »dezentrierten« Perspektive der Deutschen auf Politik und Demokratisierung die relative Offenheit der Bundesrepublik als politischer Gesellschaft gegenüber externen Einflüssen und Dynamiken widerspiegelt – eine Offenheit, die der italienischen Republik abging, weil sie durch die früh einsetzende Politisierung und Mobilisierung im Zeichen der jungen Demokratie einen Legitimationsdruck schuf, der auf den internen politischen Akteuren lastete und jegliche gesell­schaftliche Dynamik als Bedrohung erscheinen ließ.

87 Zu ähnlichen »Basisprozessen« in Italien und Deutschland und verschiedenen Weisen, diese »sinnhaft zu verstehen«, vgl. Raphael, Konzept, S.  107 f., Zitat S.  98. Der Diskurs um die Krise des Staates, der auch im Westdeutschland der 1970er Jahre anzutreffen ist, fand in der politischen Kommunikationskultur vor Ort – jedenfalls bis zum Deutschen Herbst – keine Resonanz. Vgl. Geppert/Hacke, Streit um den Staat. Zu Italien vgl. Kurz, Universität; De Bernardi u. a., Anni Settanta.

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Jenseits dieser Unterschiede lassen die lokalen Erkundungen zweier postfaschistischer Demokratien auch ähnliche Grundmuster der Einübung demokratischer Spielregeln und Beobachtungsweisen erkennen. Zum einen wurde politische Gewalt – im Gegensatz zu den Demokratierfahrungen der Zwischenkriegszeit – schnell delegitimiert. Zum anderen diente die lokale politische community mit ihren sozialen Normen und moralischen Codes nördlich wie südlich der Alpen als Exerzierfeld »guter« Politik und gewissermaßen als Medium der Einübung demokratischer Spielregeln. Die Demokratie musste sich in beiden Ländern vor allem vor Ort erweisen, wo die Bürger wohnten. In der Bundes­ republik gelang dies im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre zunehmend besser, in der italienischen Republik zunehmend schlechter.

Christine G. Krüger

Weibliche Dienstbarkeit und (post-)koloniale Abenteuerlust Ein deutscher und ein britischer Weg zum Ideal der »aktiven Bürgergesellschaft«

Seit etwa einem Vierteljahrhundert ist das Ideal der »aktiven Bürgergesellschaft« oder der »active citizenship« in der deutschen wie in der britischen Öffentlichkeit zu einer gesellschaftspolitischen Leitvorstellung avanciert. Als beispielhafte Musterinstitution der hierfür angestrebten Kultur des »bürgerschaftlichen Engagements« werden immer wieder die Jugendfreiwilligendienste angeführt, an denen in beiden Ländern seit den 1950er Jahren Hunderttausende Jugendliche teilgenommen haben. Die Intentionen, mit denen diese Dienste gegründet wurden, und die Geschichte ihres Wandels sind allerdings kaum bekannt. Hier sollen sie aus der Gender-Perspektive untersucht werden, die nationale Spezifika besonders deutlich zum Vorschein bringt. These ist, dass die Vorstellung, Freiwilligenarbeit im sozialen Sektor sei ein weibliches Feld, in der Bundesrepublik persistenter war als in Großbritannien. Wenngleich auch dort Pflegedienste seit dem 19.  Jahrhundert als weibliche Aufgabe galten, herrschte bereits im beginnenden 20. Jahrhundert bei der geschlechterbezogenen Definition von sozialer Freiwilligenarbeit ein gradueller Unterschied zwischen beiden Ländern.1 Dieser verstärkte sich nach 1945 infolge des Nationalsozialismus und in der Abkehr von diesem. Darin schlagen sich teilweise allgemeine Unterschiede in den Geschlechterdefinitionen beider Länder nieder, die sich ebenfalls während und nach dem Zweiten Weltkrieg profilierten. Dem Thema der »Freiwilligenarbeit« hat die historische Forschung zur Geschichte der Bundesrepublik bislang nur eine spärliche Aufmerksamkeit geschenkt. Im scharfen Kontrast dazu widmen sich britische Historiker und Historikerinnen der Geschichte von »Voluntary Action« und speziell von­ »Volunteering« seit den 1990er Jahren ausgiebig. Derzeit boomt die Geschichte des Freiwilligensektors in Großbritannien geradezu. Nur zwei Beispiele seien hier angeführt: Seit 1995 gibt es eine Voluntary Action History Society, seit 2005 eine umfassende Datenbank zu den Archiven von Freiwilligenorganisationen und seit kurzem auch ein spezielles Archiv zum »Voluntary Sector«.2 1 Dies beobachteten bereits zeitgenössische deutsche Englandreisende, z. B. Schreiber, Settlements, S. 14. 2 http://www.vahs.org.uk; http://www.dango.bham.ac.uk; http://www.vahs.org.uk/archives [letzter Zugriff: 22.9.2014].

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Die hohe Wertschätzung, die das Thema in Großbritannien genießt, ist vor allem wohl auf die große Bedeutung zurückzuführen, welche »voluntary s­ pirit« traditionell für das britische Selbstverständnis besaß und besitzt. Sowohl in Bezug auf die Wehrverfassung als auch auf die soziale Wohltätigkeit stilisierten Briten die Bereitschaft zur Freiwilligkeit gern als Nationaltugend.3 Dass man in Deutschland vielfach eher zu Pflicht und Zwang griff, sollte allerdings nicht zu dem Umkehrschluss verleiten, Freiwilligkeit sei hier geringgeschätzt worden. Für die Zeit vor 1945 lassen sich durchaus ähnliche Selbstzuschreibungen auf deutscher Seite finden, wenngleich hier eher von »Idealismus« oder »Hingabe« die Rede war, in deren Umfeld aber durchaus auch der Wert der »Freiwilligkeit« hochgehalten wurde. Auch die Nationalsozialisten beschworen gern das Ideal der Freiwilligkeit. Die Überhöhung der »freiwilligen Hingabe« im Dienste »idealistischer« Ziele, die freilich in Konformität mit der nationalsozialistischen Ideologie zu stehen hatten, diente dem Zweck, diktatorische Zwangsmaßnahmen legitim erscheinen zu lassen und Freiheitsberaubung zu kaschieren. Freiwilligkeit wurde zur »Blüte und Krone der Disziplin« erklärt, »die Freiwilligkeit des Dienens« als »das höchste Gesetz des Nationalsozialismus« gepriesen.4 Vor allem im militärischen Kontext stand Freiwilligkeit hoch im Kurs, aber sie wurde etwa auch für den weiblichen Arbeitsdienst in Anspruch genommen. Im Gegensatz zum männlichen Pendant war die Teilnahme am weiblichen Reichsarbeitsdienst bis zum Kriegsbeginn noch nicht verpflichtend und es gab durchaus freiwillige Meldungen.5 Eine juristische Dissertation konnte daher 1939 betonen: Die »weibliche Jugend, obwohl jetzt überall gebraucht, strömt freiwillig in so großer Zahl zu den Meldestellen, daß nicht alle aufgenommen werden können!«6 Obwohl die Werte »Opferbereitschaft« und der »Hingabe« nach 1945 vielfach mit dem Nationalsozialismus assoziiert wurden, lebten sie vor allem in konservativen Kreisen noch bis in die 1960er Jahre fort.7 Die britische Forschung hat gezeigt, zu welch facettenreichen Ergebnissen die Untersuchung des Freiwilligensektors führen kann.8 Sie hat vor allem dessen Rolle im entstehenden Wohlfahrtsstaat in den Blick genommen und heraus­ gearbeitet, dass Freiwilligenarbeit entgegen einer verbreiteten Annahme keineswegs zur Bedeutungslosigkeit verkam, sondern – wenngleich sie ihre Gestalt 3 Vgl. hierzu u. a. Waddington, »Not for ourselves«. 4 Graff, Über das Soldatische, S. 50; Bayer, SA , S. 31. 5 Wie viele der »Arbeitsmaiden« dies betraf, lässt sich nicht ermitteln. 6 Kallsperger, Nationalsozialistische Erziehung, S. 22. 7 Beispiele für die geläufige Assoziation dieser Werte mit dem Nationalsozialismus z. B. bei Reichmann, Disziplin. Appellierte man vor allem im konservativen Lager nach 1945 weiterhin an diese Werte, so qualifizierte man sie nun gern als »echte Hingabe« oder »echte Opferbereitschaft«. Die damit bezweckte Abgrenzung gegenüber dem Nationalsozialismus zeigt ebenfalls, dass die Werte vielfach mit diesem in Verbindung gebracht wurden, z. B. Blättner, Gegenwärtige Lage, S. 16–18. 8 Vgl. z. B. Prochaska, Voluntary Impulse; Finlayson, Citizen; sowie die Beiträge in Hilton/ McKay, Ages.

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veränderte  – für die Bereitstellung sozialer Dienste weiterhin wichtige Funktionen erfüllte. Überdies galt freiwilliges Engagement zum einen weithin als förderlich oder gar notwendig für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, zum anderen wurde an ihm gern die Identifikationskraft mit dem Gemeinwesen gemessen. Die Entwicklung des Freiwilligensektors spiegelt somit in vielerlei Hinsicht die Transformationen des gesellschaftlichen Selbstverständnisses sowie der Bestimmungen des Verhältnisses von Individuum und Allgemeinheit. Im Folgenden werden zunächst die deutschen Freiwilligendienste der ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte behandelt. Der zweite Abschnitt widmet sich den britischen Diensten der 1960er Jahre. Der dritte Abschnitt fragt nach deutschbritischen Transfers. Im vierten und letzten Abschnitt wird schließlich die Zeit nach 1968 betrachtet, in der sich die Jugendfreiwilligendienste in beiden Ländern konzeptionell stark annäherten. Als Quellen dienen der Untersuchung vor allem Materialien aus staatlichen und Organisationsarchiven, Motivationsschreiben, Erfahrungsberichte und Briefe von Freiwilligen sowie Medienerzeugnisse. Ein Schwerpunkt liegt auf längerfristigen Freiwilligendiensten, aber auch die Workcampbewegung wird mit berücksichtigt.

I.

Bundesdeutsche Jugendfreiwilligendienste

Die Idee freiwilliger Jugenddienste stammt aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Realisiert wurde sie erstmals in der Zwischenkriegszeit in Europa und den USA .9 Das war nicht zufällig eine Zeit, in welcher der Jugend im öffentlichen Diskurs eine wachsende Aufmerksamkeit zukam.10 Im beschleunigten gesellschaftlichen Wandel wurde sie mehr und mehr zur Projektionsfläche für Zukunftsentwürfe, aber auch für Zukunftsängste. Einerseits galten Jugendliche als besonders idealistisch, andererseits als besonders gefährdet. Die Arbeitsdienste sollten aus dem Idealismus der Jugend gesellschaftlichen Nutzen ziehen und damit gleichzeitig der Gefährdung vorbeugen. Pate stand dem Arbeitsdienst­ gedanken außerdem der Militärdienst, den die Jugenddienste ergänzen oder ersetzen sollten wie etwa der Freiwillige Arbeitsdienst der Weimarer Republik.11 Auch in der Nachkriegszeit stand die Einrichtung von Jugenddiensten in engem Zusammenhang mit gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen. In den 1950er und 1960er Jahren war sie vor allem eine Reaktion auf den Ausbau des Sozialstaats, den wirtschaftlichen Aufschwung und die gewachsenen Konsummöglichkeiten, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Dies gilt für die Bundesrepublik und für Großbritannien. In Westdeutschland wurde im ersten Nachkriegsjahrzehnt zunächst sehr viel über die Wiedereinführung eines staatlichen Arbeitsdienstprogramms zur Min9 Vgl. Dudek, Erziehung; Patel, »Soldaten der Arbeit«. 10 Vgl. Speitkamp, Jugend; Davis, Youth. 11 Vgl. Krüger, Dienstethos, Kapitel 1.

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derung der Arbeitslosigkeit diskutiert, für die sich bei einer EMNID -Umfrage aus dem Jahr 1951 64 Prozent der Befragten aussprachen.12 Aus den späten vierziger und frühen 1950er Jahren finden sich zahlreiche Entwürfe für ein solches Programm. Da man die Aufgabe der Frauen gemeinhin nicht in der Berufstätigkeit, sondern im Haushalt und in der Kindererziehung erblickte, wurde die Erwerbslosigkeit vor allem für die männliche Jugend als problematisch angesehen, und dementsprechend nahmen solche Planungen in erster Linie sie in den Blick.13 Politisch war die Arbeitsdienstforderung allerdings aufgrund der Assoziation mit dem nationalsozialistischen Reichsarbeitsdienst kaum mehr durchsetzbar. Es entstand zwar eine Vielzahl arbeitsdienstähnlicher »Jugendaufbauwerke«, doch unterschieden sich diese, wie die Zeitgenossen immer wieder betonten, durch drei Kriterien deutlich vom Reichsarbeitsdienst: Erstens wurde die freiwillige Teilnahme als notwendige Bedingung angesehen, zweitens sollten diese Dienste tariflich entlohnt werden, drittens sollten sie der beruflichen Weiterbildung dienen.14 Als die Jugendarbeitslosigkeit zu Beginn der 1950er Jahre nachließ, wurden die meisten Jugendaufbauwerke eingestellt und spätestens mit der absehbaren Wiedereinführung der Wehrpflicht verhallten die letzten Forderungen nach einem Arbeitsdienst für die männliche Jugend. Die Möglichkeit, einen Wehrersatzdienst zu leisten, schuf zwar in gewisser Weise in kleinem Rahmen einen neuen männlichen Arbeitsdienst. Doch wie bei den Aufbauwerken waren die Entscheidungsträger bei der Konzeption und Durchführung des Zivildienstes peinlich darauf bedacht, diesen deutlich von der Tradition der Arbeitsdienste abzusetzen.15 Ohnehin wollten sie den Ersatzdienst nur in Aus­nahmefällen zulassen, um ihn in kleinem Rahmen zu halten. Und tatsächlich verweigerten bis 1968 nur sehr wenige Jugendliche den Militärdienst.16 12 Arbeitsdienst verpönt?, in: Die Welt, 11.1.1952, S. 2. 13 Vgl. Krüger, Dienstethos, Kapitel 2.3. 14 Historisch sind die Jugendaufbauwerke noch wenig erforscht, für einen zeitgenössischen Überblick vgl. Landesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk für die drei Länder in Württemberg und Baden (Hg.): Selbsthilfewerke und Wohnheime für die heimatvertrie­ bene und existenzlose Jugend, Tübingen 1950. Vgl. auch Krüger, Dienstethos, Kapitel 2.3.4. 15 Vgl. Bernhard, Zivildienst, S. 12–42. Vor allem sollten die Einsatzfelder des Arbeitsdienstes der dreißiger Jahre gemieden werden, d. h. Ödlandkultivierung, Forstarbeit, Deichbefestigung und Straßenbau. In Anlehnung an das anglo-amerikanische Modell des Ersatzdienstes wurden die Zivildienstleistenden stattdessen vor allem im Pflegesektor eingesetzt. Dies förderte in den frühen 1960er Jahren allerdings noch nicht die Akzeptanz von männlichen Arbeitskräften im Pflegedienst. Allgemein stießen die Zivildienstleistenden in der deutschen Öffentlichkeit in dieser Zeit noch auf wenig Verständnis, und selbst unter den Befürwortern des Zivildienstes war der Einsatz im Pflegesektor umstritten. Dies zeigen Diskussionen der Mitglieder des deutschen Zweiges des Service Civil International zu Beginn der 1960er Jahre, z. B. Peter Keller an den AA , Anmerkungen zum Ersatzdienst 1962, 12.6.1961, S. 2, Service Civil International, International Archives (SCIIA), 31003.2. 16 Vor 1968 überstieg die Zahl der Einberufungen zum Zivildienst nur zweimal knapp die Zahl von 1000, http://www.bafza.de/fileadmin/redaktion/downloads/Abt2/201/Zahl_ der_Einberufungen_Stand_2012.pdf [letzter Zugriff: 22.9.2014].

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Zur gleichen Zeit, als der Gedanke an einen männlichen Arbeitsdienst aufgegeben wurde, begann allerdings die Ära der freiwilligen Sozialdienste, die in erster Linie für die weibliche Jugend konzipiert waren. 1954 wurde mit dem Diakonischen Jahr ein erster freiwilliger Jahresdienst eingeführt, der dauerhaft erfolgreich blieb.17 Wenig später folgten die Caritas und das Deutsche Rote Kreuz mit ähnlichen Angeboten. 1964 wurden die Initiativen dann im staatlich geförderten Freiwilligen Sozialen Jahr gebündelt. Alle diese Dienste richteten sich, obwohl sie zumeist beiden Geschlechtern geöffnet waren, vor allem an junge Frauen.18 Die »Ideale schrumpfen im gleichen Grade, wie andererseits unsere Wohl­ habenheit steigt«, so und ähnlich begründeten die Zeitgenossen die Einführung des Sozialdienstes.19 Das deutsche Volk werde in der Wohlstandsgesellschaft »entarten«, prophezeite 1962 die Präsidentengattin Wilhelmine Lübke in einem Plädoyer für das Sozialjahr.20 Die Werbung für den Freiwilligendienst kam in den 1950er und 1960er Jahren selten ohne eine scharfe Materialismus-, Wohlstands- und Konsumkritik aus. Häufig zielte diese Kritik gleichzeitig auf die steigende Frauenerwerbstätigkeit. »Die sittliche Kraft oder Schwäche einer Nation liegt vorwiegend in der Hand der Frauen«, schrieb etwa der christdemokratische Leiter der Staatsbürgerlichen Bildungsstelle Nordrhein-Westfalens, Hermann Josef Nachtwey. In der Wirtschaftswundergesellschaft sei jedoch nicht mehr zu erkennen, inwiefern »die Mädchen außerhalb von Berufsausbildung und Geldverdienen einen Dienst für die Gemeinschaft und die Mit­menschen« leisteten. Dieser Mangel entwickele sich zur nachhaltigen Gefahr, denn es trete »eine langsame seelische und sittliche Verarmung ein, die wiederum zur see­lischen und sittlichen Verarmung der Nation führt, ein Vorgang, der in der Geschichte immer schon zum Nieder- oder sogar Untergang geführt hat.«21 Das Sozialjahr sollte Abhilfe leisten. Die Werbeschriften appellierten immer wieder, den »Materialismus« durch »Idealismus« zu überwinden. Verstanden wurden darunter Dienst- und Opferbereitschaft und die Fähigkeit zur Unter­ ordnung. Diese sollten die jungen Frauen im Sozialjahr erlernen und mit ihnen gerüstet zurück an den Herd finden. Von der Mitte der 1950er bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre betrachteten viele Befürworter den Freiwilligendienst als 17 Vgl. Krüger, Dienstethos, Kapitel 3.1. 18 Bis in die 1960er Jahre hinein lag der Anteil männlicher Teilnehmer bei etwa zehn­ Prozent. 19 Kreisamtmann Karl Straub an Frau Bundestagsabgeordnete Pietz, Geislingen, 25.10.1960, Archiv des Deutschen Caritasverbandes (ADCV), 921.9 065, Fasz. 1, FSD/FSJ, Grundsätzliches. 20 Frau Lübke appelliert an junge Mädchen, Bonner Generalanzeiger, 13.1.1965, Archiv für Diakonie und Entwicklung (ADE), HGSt, III 251, 4860 FSJ. Lübke übernahm hier eine Formulierung des unten zitierten Hermann Josef Nachtweys. 21 Dr. H. J. Nachtwey, Diskussionsdenkschrift Freiwilliger sozialer Hilfsdienst für Mädchen, [Januar 1962], ADCV, 921.9 Freiwilliges Soziales Jahr, freiwilliger sozialer Dienst, +232.01 Gesetz zur Förderung des freiwilligen sozialen Jahres.

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»Vorschule für die Ehe«.22 Die Organisationen konzipierten ihr Dienstjahr als eine »Anleitung zum fraulichen Schaffen«.23 Damit knüpften sie unmittelbar an die Konzeptionen des weiblichen Arbeitsdienstes an, die seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert entwickelt und im Nationalsozialismus ideologisch zugespitzt weitgehend übernommen worden waren.24 Und anders als bei den vor allem für junge Männer eingerichteten Jugendaufbauwerken des ersten Nachkriegsjahrzehnts waren hier weder eine tarifliche Entlohnung noch der Erwerb berufsqualifizierender Fähigkeiten vorgesehen – im Gegenteil: Sie widersprachen dem Grundanliegen der Dienste, die den Teilnehmerinnen dabei helfen sollten, »vom Tarifdenken abzukommen«.25 Der einzige längerfristige Jugendfreiwilligendienst, der in der Bundesrepublik von Beginn an eine deutlich andere Ausrichtung verfolgte, war die 1958 ins Leben gerufene Aktion Sühnezeichen, die in den 1960er Jahren im Spektrum der längerfristigen Jugenddienste etwa fünf Prozent aller Freiwilligen stellte.26 Das auf einem deutschen Schuldbekenntnis basierende Ziel der Organisation war für diese Zeit sehr ungewöhnlich: Die Freiwilligen sollten in Ländern, die unter den nationalsozialistischen Verbrechen gelitten hatten, mit Wiederaufbauprojekten Sühne leisten. Die Aktion Sühnezeichen rekrutierte für diese Bau­projekte ursprünglich vorwiegend männliche Jugendliche. Die wenigen Teilnehmerinnen in den Anfangsjahren führten den Haushalt für die Freiwilligengruppen. Traditionelle Geschlechterrollen wurden also auch hier nicht durchbrochen, aber im Gegensatz zum Sozialjahr zielte der Dienst nicht darauf, sie einzuüben. Allgemein mag es angesichts des der Organisation zugrunde liegenden Sühnegedankens überraschen, dass erzieherische Zielsetzungen und die Forderung nach Idealismus für den Sühnezeichen-Dienst viel weniger ausgeprägt waren als zur gleichen Zeit für das Sozialjahr. Da die Aktion Sühnezeichen in ihren ersten Jahren große Rekrutierungsprobleme hatte, sind hierfür wohl vor allem pragmatische Ursachen verantwortlich. Die anfänglichen Schwierigkeiten der Aktion Sühnezeichen, Jugendliche zu finden, die bereit waren, an ihrem Dienst teilzunehmen, sind vermutlich darauf zurückzuführen, dass die vergangenheitspolitischen Ziele der Organisation in der bundesdeutschen Gesellschaft der frühen 1960er Jahre allgemein noch auf wenig Verständnis stießen.27 Im Gegensatz dazu hatten die Wohlfahrts­ verbände keine Schwierigkeiten, Teilnehmerinnen für ihre Dienste zu finden. 22 Niederfüllbach, 12.3.1955, Zentralarchiv Diakonie Neuendettelsau (ZADN), Bestand D – Einrichtungen Schulreferat – Diakonisches Jahr, I D5/2–2. 23 Betr. Sozialer Werkdienst, 26.10.1958, ADCV, 921.9 065, Fasz. 1, FSD/FSJ Grundsätzliches. 24 Vgl. Bajohr, Weiblicher Arbeitsdienst; Dammer, Mütterlichkeit; Morgan, Weiblicher Arbeitsdienst. 25 Protokoll über den Erfahrungsaustausch in Bad Godesberg am 9./10.2.1967, ADE , ADW, HGSt III 252 Diakonisches Jahr, 4844 Erfahrungsaustausch. 26 Vgl. zur »Aktion Sühnezeichen« Kammerer, Aktion Sühnezeichen; Legerer, Tatort: Versöhnung. 27 Vgl. Krüger, Dienstethos, Kapitel 3.3.4.

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Auch wenn das Freiwillige Soziale Jahr sich erst seit den 1980er Jahren zu einem Massenphänomen entwickelte, bauten die Trägerorganisationen ihr Angebot von Beginn an stetig aus.28 In der Anfangszeit entschieden sich überwiegend junge Frauen für ein Sozialjahr, die bereits im Berufsleben standen. Viele von ihnen hatten auf Wunsch ihrer Eltern einen Bürojob ergriffen. Während ihres Freiwilligeneinsatzes hofften sie aus ihrem als langweilig empfundenen Alltag ausbrechen und, wie sie es oft formulierten, einmal »mit Menschen« arbeiten zu können. Viele nannten auch das Gefühl, selbst in Wohlstand und finanzieller Sicherheit zu leben, als Motivation, anderen zu helfen.29 Der zeit­ genössischen Vorstellung, dass in der Wohlstandsgesellschaft die Bereitschaft zur Freiwilligenarbeit sinke, widersprechen solche Aussagen. Tatsächlich wurde die verbreitete negative Sicht auf die Jugend in den 1960er Jahren langsam durch eine weitere Perspektive ergänzt: In der Bundesrepublik setzte sich das Bild einer »nüchternen« oder, wie Helmut Schelsky formulierte, »skeptischen« Jugend durch, die dem Idealismus abgeschworen habe.30 Damit ging oftmals die Hoffnung einher, der Nachkriegsjugend könne ein ideologiefreier Neuanfang gelingen.31 Auch im Freiwilligen Sozialen Jahr kam dieses Jugendbild allmählich in Mode. Dies war ein Anzeichen dafür, dass die Liberalisierungstendenzen, die diese Zeit prägten, auch den Sozialdienst erfassten. Die Trägerorganisationen ließen allmählich davon ab, von den Freiwilligen eine idealistische Grundeinstellung zu fordern, und begannen zu akzeptieren, dass die Teilnahme am Sozialdienst oft mit dem Wunsch einer beruflichen Orientierung verbunden war. Vorangetrieben wurde diese pragmatische Wende auf Seiten der Trägerorganisationen 1964 durch die Einführung des staatlich geförderten Freiwilligen Sozialen Jahres. Das »Gesetz zur Förderung des Freiwilligen Sozialen Jahres« war aus einer Initiative des Bundesministeriums für Familie hervorgegangen, zugrunde lag ihr ebenfalls die konservative Überzeugung, dass die weibliche Jugend wieder stärker zur Gemeinwohlorientierung erzogen werden müsse. Wenngleich es nicht der ursprünglichen Intention entsprach, beschleunigte das Gesetz letztlich die Liberalisierung der Konzeption des Sozialjahrs. Denn mithilfe der nun fließenden finanziellen Unterstützung baute das Deutsche Rote Kreuz seinen sozialen Jahresdienst deutlich aus und die beiden anderen großen 28 1964, im Jahr der Einführung des Freiwilligen Sozialen Jahres, absolvierten knapp 1.500 Jugendliche ein solches. Seit Mitte der 1970er Jahre wurden mehrere Tausend Plätze angeboten, wobei die Nachfrage nun höher lag als das Angebot. Seither wurde das Angebot massiv ausgebaut: 2010 absolvierten in der Bundesrepublik etwa 40.000 Jugendliche einen freiwilligen Jahresdienst. Arbeitskreis Freiwilliger Sozialer Dienst/Freiwilliges Soziales Jahr: Das freiwillige soziale Jahr, S.  51; Bundesarbeitskreis FSJ: Herausforderungen und Perspektiven für das FSJ im Kontext des gesellschaftlichen Wandels, Berlin 2010, S.  8. http://www.b-b-e.de/fileadmin/inhalte/aktuelles/2010/10/nl20_doku_bakfsj2010.pdf [letzter Zugriff: 22.7.2015]. 29 Vgl. Krüger, Dienstethos, Kapitel 3.5.1. 30 Schelsky, Skeptische Generation. 31 Vgl. Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation«.

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nicht-konfessionellen Wohlfahrtsverbände, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und die Arbeiterwohlfahrt, führten einen solchen ein. Sie waren es, die mit den beschriebenen konzeptionellen Veränderungen vorangingen. Für die Jugendlichen besaß ihr Angebot größere Attraktivität als dasjenige der konfessionellen Träger. Der Konkurrenzdruck trieb schließlich auch bei Letzteren Veränderungen voran. Seit Mitte der 1960er Jahre wurden die Forderungen nach »Dienstethos«, »Hingabe« und »Unterordnung« im Kontext des Freiwilligendienstes allmählich fallengelassen.32 Dennoch ist auffällig, dass deren geschlechterspezifische Implikationen weiterhin nicht diskutiert wurden. Die Akzeptanz berufsorientierender Motive bedeutete, dass auch der Wunsch der Mädchen, eine Erwerbstätigkeit zu ergreifen, in Kauf zu nehmen war. Doch brachte keine der Trägerorganisationen den mit dieser Billigung verbundenen Einstellungswandel offen zur Sprache. Auch das Ziel, mit dem Dienst die Auf­gaben der Hausfrau und Mutter einzuüben, geriet nicht explizit in die Kritik. Die Trägerorganisationen propagierten es bis in die frühen 1970er Jahre.33

II. Die britischen Freiwilligendienste Britische und bundesdeutsche Diskussionen über die Jugend hatten in den 1950er und 1960er Jahren viel gemein, wichen aber in anderen Punkten sehr wesentlich voneinander ab.34 Die erste größere Organisation, die in Großbritannien längerfristige Jugendfreiwilligendienste vermittelte, entstand 1962 mit den Community Service Volunteers. Die Organisation blieb bis in die 1980er Jahre in Großbritannien die einzige ihrer Art und ihre Dienste wurden nicht wie in der Bundesrepublik in einem staatlichen Programm eingefasst. Dementsprechend lag die Teilnehmerzahl  – trotz stetigem Wachstum  – Ende der 1960er Jahre deutlich niedriger als beim Freiwilligen Sozialen Jahr insgesamt, wenngleich sie höher lag, als bei der Diakonie, der größten deutschen Trägerorganisation. Leisteten im Gründungsjahr 1962 ca. 150 Jugendliche einen Dienst bei den Community Service Volunteers, waren es sechs Jahre später bereits etwas über 1000.35 32 Siehe z. B. Protokoll [Bericht über den Erfahrungsaustausch 1961 über das Diakonische Jahr vom 22.2.1961 in Bad Hersfeld], ADE , ADW HGSt, III 252 Diakonisches Jahr, 4844 Erfahrungsaustausch; Elisabeth Weisser: Freiwillige Soziale Dienste, [ca. 1966], S. 2, ADE , ADW, HGSt, III 251, 2475 Pflichtjahr. 33 Z. B. Werbebroschüre Freiwilliges Soziales Jahr in Bayern 1970, 2665/29/21, Allg. Programm Freiwillige Soziale Dienste; Werbebroschüre des Deutschen Roten Kreuzes, Wer lieben will, muß helfen lernen, 1970, Archiv des Deutschen Roten Kreuzes, Werbebroschüren. 34 Vgl. zur deutschen Nachkriegszeit u. a. Janssen, Jugendforschung; zu Großbritannien­ Osgerby, From the Roaring Twenties. 35 Brief Alec Dicksons an P. P., 30.11.1965 Community Service Volunteers Archives, AGD/ B2/18; Broadening the Scope of Service, CSV Annual Report 1968/69, S. 3, CSVA , AGD/ B1/39.

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Auch die Gründung der Community Service Volunteers fiel nicht zufällig in die Zeit des Wirtschaftsbooms, die Premierminister Harold Macmillan 1957 mit der berühmten Formel charakterisierte: »most of our people have never had it so good«. In Großbritannien schürte der zunehmende Wohlstand ebenfalls kulturkritische Ängste. Macmillans Ausspruch etwa wurde als Ausdruck einer um sich greifenden materialistischen Gesinnung kritisiert.36 Auch in Groß­britannien wurde die Idee von Freiwilligendiensten teilweise aus der Überzeugung heraus begrüßt, die im Wohlfahrtsstaat und im wachsenden Wohlstand aufwachsende Jugend, kenne nur noch materialistische Werte. Den Anstoß für die Gründung der britischen Jugendfreiwilligendienste lieferte hier jedoch ein anderes Motiv. Anstatt des Bildes einer »nüchternen« oder­ »skeptischen« Jugend ohne Ideale findet sich in der britischen Öffentlichkeit der fünfziger und sechziger Jahren häufig die Vorstellung, die Jugend trauere dem Heroismus vergangener Zeiten nach. Ihr fehle es an wahren Herausforderungen. Im Wohlfahrtsstaat sei daher nicht mehr Armut die größte gesellschaftliche Gefahr, sondern Langeweile. Charakteristisch für diese Vorstellung war etwa John O ­ sbornes ungemein erfolgreiches Theaterstück »Look back in Anger« aus dem Jahr 1957, in dem eine der Hauptpersonen, der junge Jimmy Porter, bedauert, dass sich seiner Generation keine Gelegenheit mehr biete, Heldenmut zu beweisen.37 Die Gründung des Freiwilligendienstes knüpfte an solche Vorstellungen an. Ihr Ziel war es, den Jugendlichen eine Möglichkeit zu schaffen, »to flex their muscles to the benefit of the community«.38 Hier wird noch ein weiterer Unterschied zu den bundesdeutschen Diensten deutlich: Blickten konservative Kulturpessimisten im Rahmen der Debatten um die Freiwilligendienste angesichts des Wirtschaftswunders eher auf das weibliche Geschlecht, richtete der Gründer des britischen Freiwilligendienstes, der in Oxford ausgebildete ehemalige Kolonialbeamte Alec Dickson, seine Sorgen auf die männliche Jugend. Ihr böten sich keine Gelegenheiten, zu »manhood« heranzuwachsen, so seine Diagnose.39 Die Abschaffung der während des Krieges eingeführten Wehrpflicht verschlimmere diese Situation noch. In diesem Kontext bemühte sich der Organisationsgründer, den Jugenddienst als Abenteuer zu konzipieren: Schon bevor er seinen innerbritischen Freiwilligendienst gründete, hatte er 1958 die Organisation Voluntary Service Overseas ins Leben gerufen, einen der ersten »Entwicklungsdienste« weltweit.40 Mit dem Ziel der »Entwicklungshilfe« ließen sich in fernen, exotischen Ländern Aben36 Wiener, English Culture, S. 126. 37 Vgl. Osborne, Look back, S. 15, S. 84. 38 Zit. nach Marjorie Orr, Using Young People in New Patterns of Community ­Service, in: The Glasgow Herald, 19.8.1967, S. 7. 39 Dickson, Chance to Serve, S. 84. 40 Vgl. zu den Community Service Volunteers Bailkin, Afterlife, S. 55–94; Cobbs Hoffmann, All You Need, S. 73–81.

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teuer erleben, ohne damit die nach dem Suezdebakel angeschlagene Kolonialmacht Großbritannien weiter in Misskredit zu bringen. 1962 änderte Voluntary Service Overseas allerdings den Kurs und begann dem globalen Trend in der »Entwicklungshilfe« entsprechend, nicht mehr nur Schulabgänger, sondern verstärkt Universitätsabsolventen und Fachkräfte zu rekrutieren. Dickson, der sich gegen diese Neuausrichtung ausgesprochen hatte, verließ die Organisation daraufhin und gründete die Community Service Volunteers. Er definierte auch diesen Dienst als Abenteuer und übernahm in der Konzeption viele Elemente von Voluntary Service Overseas.41 Obwohl die britischen Jugendfreiwilligendienste aus der Sorge um den Verfall eines traditionellen Männlichkeitsideals gegründet wurden, standen sie auch Frauen offen. Ihnen eröffneten sie Spielräume, sich über hergebrachte Rollenzuschreibungen hinwegzusetzen. Die Community Service Volunteers machten zwar bei der Stellenzuweisung anfänglich noch oft einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Männer vermittelte die Organisation zunächst eher in Jugendstrafanstalten oder Schwererziehbarenheime, Frauen in Kinder- und Säuglingsheime. Nie propagierte sie jedoch das Ziel, Mädchen auf die Hausfrauenund Mutterrolle vorzubereiten. Auch bemühte sich die Organisation bereits Mitte der 1960er Jahre explizit, traditionelle Geschlechterrollen zu durchbrechen. Um zu illustrieren, wie positiv sich ein Rollentausch auswirken könne, schilderte Dickson in der Presse gern den erfolgreichen Einsatz einer freiwilligen Helferin in einer Jugendstrafanstalt: »It is amazing the impact a woman can have [in approved schools for boys]. She’s not so much regarded as being part of a­ set-up and she brings out things that wild horses wouldn’t drag.«42 1967 bezeichnete der Jahresbericht der Organisation die von ihr verfolgte Politik, weibliche Freiwillige in Institutionen einzusetzen, in denen das Personal üblicherweise rein männlich war – und umgekehrt – als »cross posting«.43 Die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem britischen Konzept der Jugendfreiwilligendienste erklären sich nicht allein daraus, dass das Sozialjahr in der Bundesrepublik als Pendant zum Militärdienst explizit für die weibliche Jugend entworfen worden war. Sie lassen sich auch als ein Anzeichen für eine Tendenz zu einer allgemein rigideren Geschlechterpolitik in der Bundesrepublik lesen. Zwar bestand die traditionelle Geschlechterordnung in den 1950er Jahren auch in Großbritannien fort, sie war aber offenbar teilweise schon durch­

41 Z. B.: Alec Dickson: More to service than flag days and logs for the old, [Zeitungs­ ausschnitt, ohne Herkunftsangabe, 1967], CSVA, AGD/B1/11, Press articles re CSV ­1962–9¸ Alec Dickson: A Domestic Development Service for West Germany? [ohne Datum], S. 2, CSVA , AGD/H1/17, Articles re Gap year… voluntary service in West Germany… 1970s; Alec Dickson, [Manuskript ohne Titel, ohne Datum], S. 6, CSVA , AGD/C9/77, papers re united nations study on domestic youth services, reports on different countries including UK volunteer questionnaires, 1972. 42 Jeremy Bugler, The Volunteer Upsurge, New Society 6, 14.10.1965, S. 20. 43 Community Service Volunteers Annual Report 1966/67, S. 10, CSVA , AGD/B1/39.

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lässiger als in der Bundesrepublik.44 So sträubten sich in der internationalen Workcamporganisation Service Civil International 1947 vor allem die deutschen Teilnehmer dagegen, Männern und Frauen die gleichen Aufgaben zu übertragen.45 Demgegenüber beklagten sich junge Britinnen, die etwa zur selben Zeit an einem deutschen Workcamp einer anderen Organisation teilgenommen hatten: »The ›Hausfrau‹ view of women in the German mind dies hard! So while the men and boys proceeded with the building, the girls cooked and scrubbed tables and washed clothes.«46

III. Der Reichsarbeitsdienst als negative Referenz: britische und deutsche Unterschiede Es mag auf den ersten Blick naheliegend erscheinen, die Unterschiede zwischen den deutschen und den britischen Freiwilligendiensten als Bestätigung eines »deutschen Sonderwegs« zu deuten. Doch sollen die teleologischen und normativen Vorannahmen der Sonderwegsthese hier nicht geteilt werden. Vielmehr ist es das Ziel, auszuloten, in welchem Verhältnis Vorkriegstraditionen, fortbestehende nationalsozialistische Prägungen, die bewusste Abkehr von ihnen und andere Nachkriegsentwicklungen zueinander standen und wie sich nationale und transnationale Entwicklungen vermischten.47 So griff der britische Freiwilligendienst zwar in der Tat mit seinem Abenteuerideal Pfadfindertraditionen auf, während das deutsche Freiwilligenjahr viele Elemente der Arbeitsdiensttradition aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts übernahm. Wichtiger als diese Traditionen scheinen indes die jeweiligen Erfahrungen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 gewesen zu sein. Dies macht ein transfergeschichtlicher Blick auf die Entwicklung der Freiwilligendienste beider Länder deutlich. Die Gestalt der britischen Dienste wurde maßgeblich mitbestimmt durch eine entschiedene Abgrenzung von der Hitlerjugend und dem nationalsozialistischen Arbeitsdienst, und zwar vor allem in drei Aspekten: dem Gemeinschaftsideal, der Frage der 44 Zu Großbritannien vgl. Holloway, Women, S. 179–207; Shapira, Psychoanalysts; Tracey, Reconstructing the Familiy; sowie zahlreiche Beiträge in Zweiniger-Bargielowska, Women. Zur Bundesrepublik vgl. Moeller, Protecting Motherhood; Oertzen, Teilzeitarbeit; Paulus Familienrollen; sowie viele Beiträge in Dies., Zeitgeschichte. Explizit deutsch-­ britische vergleichende Arbeiten zur Geschlechtergeschichte nach 1945 liegen nicht vor. 45 Heinrich Carstens, Entwurf. Bericht über die Tätigkeit des IFDF Oktober 1946 bis Oktober 1947, 16.9.1947, SCIIA , 31001.3; ähnlich The International Delegates’ Meeting, in: International Voluntary Service for Peace, News Bulletin (Mai 1947), Nr. 35, S. 2, SCIIA , 30305.1; International Voluntary Service for Peace, Post-Service Conference, 24./25.9.1949, SCIIA , 30302.2. 46 Friends Service Council, Monthly Report No 5 Youth work, Library and Archives of the Religious Society of Friends, FSC/GE/18/2. 47 Vgl. die einflussreiche Kritik von Blackbourn/Eley, Peculiarities; zur Debatte um die Sonder­wegsthese vgl. auch Kocka, German History. Seither haben sich zahlreiche komparative Studien zur deutschen Geschichte an der Sonderwegsthese abgearbeitet.

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Freiwilligkeit und dem Geschlechterverhältnis. In der Zwischenkriegszeit und bis in die nationalsozialistische Zeit hinein hatten viele Briten den deutschen Arbeitsdienst mit Interesse und Wohlwollen beobachtet.48 Doch spätestens der Kriegsbeginn bereitete solchen Sympathien ein Ende. Ein Zeugnis dafür ist Alec Dickson, der Gründer der britischen Jugenddienste. Als neunzehnjähriger Student hatte er im Juli 1933 ein nationalsozialistisches Arbeitslager in Deutschland besucht. In einem Artikel in der Yorkshire Post warb er nach seiner Rückkehr nach Großbritannien für die Arbeitslageridee. Freilich beeilte er sich, gleich im ersten Satz seines Artikels zu betonen, dass Arbeitslager »by no means an innovation of National Socialism« seien.49 Während er bestritt, dass die Lager dem militärischen Drill dienten, stellte er sie als geeignetes Mittel gegen Arbeitslosigkeit, Demoralisierung und Klassenkampf dar. Besonders positiv bewertete er den Gemeinschaftsgeist der Arbeitsmänner, der etwa durch gemeinsamen Gesang und Sport gefördert werde. Angesichts des nationalsozialistischen Terrors dämpfte sich Dicksons Begeisterung für diesen Gemeinschaftsgeist allerdings bald. Keinen der beiden später von ihm in Großbritannien gegründeten Frei­ willigendienste ließ er in Gruppenform durchführen. Zur Freiwilligkeit: Als sich die britische Regierung während des Zweiten Weltkrieges bemühte, auch die noch nicht militärpflichtige Jugend für die natio­ nale Sache zu mobilisieren, stand außer Zweifel, dass dies auf freiwilliger Basis zu geschehen habe.50 In Abgrenzung zur nationalsozialistischen Diktatur betonte man umso stärker die lange britische Freiwilligentradition im Militär wie im­ zivilen Leben. Auch nach dem Krieg und zumal, nachdem die Militärpflicht wieder abgeschafft worden war, konnte der Gedanke eines zivilen Pflichtdienstes in Großbritannien bis in die 1970er Jahre hinein kaum mehr Interesse w ­ ecken. In der Bundesrepublik hingegen wurde ein Frauenpflichtjahr immer wieder lebhaft diskutiert.51 Zu den Genderrollen: Im Zuge der Mobilisierung der Jugend während des Krieges gab es auch in Großbritannien Diskussionen, Mädchen im Rahmen eines nationalen Freiwilligendienstes unter anderem auf die Aufgaben in Haushalt und Kindererziehung vorzubereiten.52 Doch weil Konsens herrschte, dass sich die Gestalt des Dienstes nicht den NS -Jugendorganisationen annähern dürfe, setzte sich die Haltung durch, dass die Vorbereitung der Mädchen auf ihre Hausfrauentätigkeit in erster Linie Sache der Familie und nicht des Staates sei. Schon im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hatte sich das deutsche Hausfrauenideal im Vergleich zu Großbritannien als besonders starr ausgenommen. Britische Beobachter identifizierten es als Grund für die 48 Schwarz, Reise, S. 223–242. 49 Vgl. Alec Dickson, Germany’s way with the unemployed. British Visitor’s Experiences in a Work Camp for Youth, in: Yorkshire Post, 28.9.1933. 50 Vgl. Tinkler, Sexuality. 51 Vgl. Krüger, Dienstethos, Kapitel 3.6.1. 52 Vgl. Tinkler, Sexuality.

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Schwäche der deutschen Frauenbewegung.53 Die Abgrenzung vom Nationalsozialismus bestärkte das Selbstbild einer im Hinblick auf die Stellung der Frau fortschrittlichen Nation. Die nationalsozialistische Frauenpolitik erschien aus britischer Perspektive als Rückschlag für die deutsche Frauenemanzipation: »[T]he ­opportunities for women in every direction are diminishing daily«, stellte beispielsweise ein Korrespondent des Manchester Guardian in seinem »Back to the Home« überschriebenen Artikel über die nationalsozialistischen Frauen­ organisationen fest.54 Dass Briten die Definition von Männerarbeit und Frauenarbeit mit dem Nationalsozialismus in Verbindung brachten, zeigt auch das bereits erwähnte Sitzungsprotokoll von Service Civil International von 1947. Darin verspottete man das deutsche Beharren auf der traditionellen geschlechterspezifischen Aufgabenverteilung in den Workcamps als »Arbeitsdienst-prejudice«.55 Nicht nur die britischen Freiwilligendienste distanzierten sich allerdings vom nationalsozialistischen Modell, sondern auch die westdeutschen Nachkriegsdienste. Bei ihnen traten jedoch andere Abgrenzungsaspekte in den Vordergrund. Das Gemeinschaftsideal etwa wollten die deutschen Freiwilligenorganisationen in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nicht aufgeben. Immer wieder wurde betont, dass die Freiwilligen das Leben in einer »Gemeinschaft« kennenlernen sollten, entweder indem sie in die Schwesterngemeinschaften integriert wurden oder aber indem die Freiwilligendienste selbst in Gruppenform organisiert wurden. Beim Jugendsozialwerk etwa lebten die Freiwilligen in Gemeinschaftsunterkünften und verbrachten somit auch große Teile ihrer Freizeit miteinander. Dieter Danckwortt, der Gründer der größten deutschen Workcamporganisation, begründete 1947 das Festhalten vieler Deutscher am Gemeinschaftsideal damit, dass es als bewahrenswerte Alternative zur ungeliebten parlamentarischen Streitkultur erschien.56 Wichtiger noch waren in den 1960er Jahren Zweifel an der Selbständigkeit der Jugendlichen: Das Leben in der Gruppe schien Schutz zu bieten und ermöglichte eine stärkere Kontrolle.57 Einig waren sich die deutschen Freiwilligenorganisationen in der Ablehnung eines Pflichtdienstes, was sie oft explizit mit den Erfahrungen des nationalsozialistischen Arbeitsdienstes und des Pflichtjahres begründeten. Die Einführung 53 Budde, Des Haushalts »schönster Schmuck«. 54 Vgl. Women in Germany: »Back to the Home«. Losses they have suffered. The New Organisations, in: The Manchester Guardian, 26.10.1935, S. 13; vgl. auch den frühen Protest britischer Frauenorganisationen gegen die nationalsozialistische Frauenpolitik: Nazi Treatment of Women, in: The Times, 2.6.1933, S. 9. 55 Basil Eastland, Report, I. V. S. P., Hannover Conference, 26./27.10.1946, SCIIA , 461027B, online: http://www.service-civil-international.org/archives/scid/pdf/46_10_27_1.pdf [letzter Zugriff: 6.12.2013]. 56 Nachlass Dieter Danckwortt, Rundbrief, 7.6.1948, Archiv der Sozialen Demokratie, 1/DDAB000002. 57 Noch 1972 wurden aus solchen Gründen Vorbehalte gegen Einzeleinsätze laut, ErgebnisProtokoll der 6. Sitzung des Arbeitskreises am 16. Febr. 1972 in Frankfurt, Dominikanerkloster, ZADN, D5/2 11–15.

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eines zivilen Pflichtjahres, wurde öffentlich intensiv diskutiert, konnte sich politisch aber nicht durchsetzen. Dass die Westdeutschen auf das Prinzip der Freiwilligkeit pochten, motivierte sich vor allem aus der Abgrenzung vom Nationalsozialismus, aber auch aus dem Ost-West-Konflikt – beides ging oft miteinander Hand in Hand.58 Ähnlich verhielt es sich mit der Materialismuskritik: Den Materialismus identifizierten viele Westdeutsche in der Nachkriegszeit gleichermaßen als Wesensmerkmal des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Mitunter wurde die Materialismuskritik auch in anti-amerikanischer Stoßrichtung verwendet.59 Hinsichtlich der Genderrollen wirkte sich die Distanzierung vom National­ sozialismus in der Bundesrepublik vor allem auf das Männlichkeitsbild aus. Militärische Männlichkeit war in Westdeutschland nach 1945 kein akzeptables Ideal mehr. Auch Abenteuerlust war im öffentlichen Diskurs problematisch geworden. Zwar war die Vorstellung, dass junge Männer in gewissem Maße Abenteuerlust ausleben sollten, nicht völlig verschwunden.60 Doch waren hier enge Grenzen gesetzt. Im militärischen Kontext war der Begriff des Abenteuers eindeutig negativ besetzt. Andernorts Ersatz zu finden, fiel in der Bundesrepublik offenbar ebenfalls nicht leicht: Bei der Aktion Sühnezeichen und den deutschen »Entwicklungsdiensten« wurden zwar einige Stimmen laut, die Abenteuerlust als Motiv zur Teilnahme billigten. Doch im Gegensatz zu Großbritannien war dies der hoch umstrittene Standpunkt einer Minderheit.61 Wichtige Elemente herkömmlicher Männlichkeitsdefinitionen lösten sich damit in Westdeutschland nach 1945 abrupt auf oder befanden sich zumindest außerhalb des öffentlich Sagbaren. Dass konservative und kirchliche Kreise traditionelle Weiblichkeitsvorstellungen umso vehementer zu fixieren suchten, ist als Reaktion darauf zu deuten.

58 Vgl. Krüger, Dienstethos, Kapitel 3.6. 59 Vgl. ebd., Kapitel 3.1. 60 Ell, Junge, S.  103–111. Der Pubertätsratgeber verdeutlicht auch die geschlechtsspezifische Konnotation des Abenteuerbegriffs, wenn er betont, es sei »notwendig, zwischen der Abenteuerlust der Buben und der Mädchen zu unterscheiden« (S. 103): Das Mädchen »ersehnt Abenteuer ›in Richtung Mann‹«, was auf einer halben Seite ausgeführt wird (S. 104). Die Jungen hingegen »suchen das, was man gewöhnlich unter Abenteuer versteht«. Der männlichen Abenteuerlust, die gespeist werde durch die »Sehnsucht nach der Ferne, nach fremden Erdteilen, fremden Lebensweisen, nach der ›lockenden Wildnis‹«, widmen sich sieben Seiten. 61 Für die Aktion Sühnezeichen: Brief Müller an Lothar Kreyssig, Joure, 5.6.1961, Evange­ lisches Zentralarchiv (EZA), 97/734 Korrespondenz und Tagebücher von Freiwilligen in Israel 1961–64; Brief von K. P. an Lothar Kreyssig, 12.10.1965, EZA , 97/932 Lothar­ Kreyssig, Korrespondenz mit Freiwilligen, 1964 f.; für den Entwicklungsdienst vgl. Maß, »Eine Art sublimierter Tarzan«, S. 82 f.

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IV. Angleichung seit den siebziger Jahren Während konzeptionelle Unterschiede beim westdeutsch-britischen Vergleich der Freiwilligendienste bis zum Ende der 1960er Jahre hervorstechen, lässt sich für die 1970er Jahre eine deutliche Angleichung beobachten. Sie ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die Konzeption des deutschen Sozial­jahres im transnationalen Diskurs der Neuen Linken umgeformt wurde. Im Zuge der Studentenproteste um 1968 wurde in beiden Ländern vermehrt Kritik an der Idee von Freiwilligendiensten geübt. Diese kurierten allenfalls Symptome, hieß es, und stabilisierten damit das System, anstatt es zu verändern und Missstände an der Wurzel anzugehen. Prompt sanken zwischen 1968 und 1970 in der Bundesrepublik zum ersten und einzigen Mal seit der Einführung des Freiwilligen Sozialen Jahres die Teilnehmerzahlen, und zwar vor allem bei den Abiturientinnen und Abiturienten. »Die ›unruhige Jugend‹ kommt nur ganz vereinzelt«, diagnostizierte eine Verantwortliche für das Diakonische Jahr.62 In der Reaktion auf die rückläufigen Zahlen bestimmten sämtliche Träger­ organisationen das Konzept ihres Sozialdienstes neu. Sie bemühten sich, ihr Angebot mit den Zielen des gemäßigteren Teils der Protestbewegung in Einklang zu bringen. Im Kontext des Freiwilligen Sozialen Jahres bedeutete »1968« somit einen deutlichen Bruch. Wenngleich sich schon zuvor ein Wandel angedeutet hatte, wurden erst im neuen politischen Klima einige der ursprünglichen konzeptionellen Grundzüge endgültig aufgegeben. Zu nennen sind hier vor allem das Dienstideal und das Ziel der Ehevorbereitung. Immer wieder bezogen sich die Trägerorganisationen nun etwa auf ein Referat, das der Pädagogik-Professor Hermann Giesecke 1968 auf dem Jugendhilfetag gehalten hatte. In ihm beschrieb er die staatliche Förderung der Jugendfreiwilligendienste als »einen Versuch, den kritischen Anfragen der jungen Generation an unsere Gesellschaft ein Feld zuzuweisen, bei dem folgenlose Gesinnung wichtiger ist als folgenreiches Nachdenken«.63 Im Zuge dieser Neudefinition begannen die Trägerorganisationen, das Freiwilligenjahr als Anleitung »zur Entwicklung eines demokratischen Lebensstils« zu begreifen.64 Der Bund der Katholischen Jugend etwa definierte das Bildungskonzept für den Freiwilligendienst als »emanzipatorische Arbeit«, die »auf gesellschaftliche Veränderung: Abbau von Abhängigkeiten und Unterprivilegierung zugunsten eines Zuwachses an Demokratie« ziele.65 1973 hieß es in einer gemeinsamen Broschüre aller Träger des Freiwilligen Sozialen Jahres, 62 Christa Heckel, Bericht über die Arbeit im Diakonischen Jahr in der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, 11.9.1969, ZADN, D5/2–9. 63 Giesecke, Freiwillige Soziale Dienste, S. 443. 64 Das Freiwillige Soziale Jahr im DPWV, Jahresbericht 1971, S. 9, (BAK), 2665–459-(22). 65 Entwurf für die Fortschreibung eines Bildungskonzeptes für das Freiwillige Soziale Jahr im BDKJ, ADVC , 921.9.065, Fasz. 1, 1969–1973.

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dieses fordere zur »Reflexion der eigenen Rolle« heraus und werde dadurch der Forderung eines »demokratischen Staates nach mündigen Bürgern besonders gerecht«.66 Wurde der Freiwilligendienst hier als Institution demokratischer Partizi­ pation verstanden, so bestand ein Unterschied zu dem von der Politik propagierten Zivilgesellschaftskonzept der Jahrtausendwende: Als demokratisch galt in den 1970er Jahren nicht allein die Partizipation an sich, sondern die durch sie angestoßene gesellschaftskritische Reflexion und Verringerung sozialer Ungleichheiten.67 Die Partizipation sollte staatliche Politik kontrollieren, nicht aber staatliche Sozialleistungen ersetzen, wie das der politische Diskurs über die Zivilgesellschaft seit den 1990er Jahren oft impliziert. Durch diese politische Deutung verlor die Konzeption des Freiwilligenjahres ihre geschlechtsspezifische Ausrichtung.68 Ob die Neudefinition des Freiwilligen Sozialen Jahres in den Augen der politisierten Jugend glaubwürdig erschien, bleibt allerdings fraglich. Dagegen spricht, dass die Teilnehmerzahlen erst Mitte der 1970er Jahre wieder signifikant stiegen, also just in dem Moment, als der Zugang zu Ausbildungs- und Studienplätzen schwieriger wurde und das Freiwilligenjahr den Ruf einer sinnvollen Überbrückung von Warte­ zeiten erlangte. Das Konzept der Community Service Volunteers geriet durch die Kritik der Neuen Linken viel weniger ins Wanken als dasjenige des deutschen Sozialjahres, und die Teilnehmerzahlen der Organisation stiegen 1968 sogar um das Drei­ einhalbfache. Dies ist nicht allein damit zu erklären, dass die Studentenproteste in Großbritannien schwächer ausgeprägt waren als in der Bundesrepublik. Wichtiger ist, dass die britischen Freiwilligendienste der Kritik der Neuen Linken weniger Angriffsfläche boten:69 Die Organisation hatte von Anfang an vehement gegen das »Lady Bountiful«-Image einer traditionellen paternalistischen Wohlfahrtspflege bürgerlicher Prägung angekämpft und die Freiwilligen schon früh nicht nur in der Pflege, sondern auch an sozialen Brennpunkten eingesetzt, etwa bei Hilfsprojekten für Schwererziehbare, Straftäter, Alkoholiker, Obdachlose, »Gypsies« oder in »Race Relations«-Programmen.70 Freiwilligenarbeit 66 Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge, Das Freiwillige Soziale Jahr, S. 78. 67 Etwa Arbeitskreis freiwilliger sozialer Dienst/freiwilliges soziales Jahr, Das Freiwilige Soziale Jahr, S. 30; Entwurf für die Fortschreibung eines Bildungskonzeptes für das Freiwillige Soziale Jahr im BDKJ, ADVC , 921.9.065, Fasz. 1, 1969–1973. 68 Gleichzeitig wuchsen Prestige und Zahlen der Zivildienstleistenden und halfen nun auch dabei, soziale Arbeit auch für junge Männer akzeptabel werden zu lassen. 69 Dies war nicht zuletzt eine Konsequenz aus seinen Erfahrungen mit dem »Entwicklungsdienst«: Ihm waren aufgrund des Einsatzes unausgebildeter Schulabgänger in der »Entwicklungshilfe« koloniale Arroganz und Paternalismus vorgeworfen worden, vgl. z. B.­ David Wainwright, Voluntary Service Overseas, in: The Guardian, 12.10.1962, S. 15. 70 Community Service Volunteers Annual Report 1966/67, ACSV, AGD/B1/39 Annual reports 1966–69.

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erklärte die Organisationsleitung zum Recht aller Bevölkerungsschichten und verwendete große Mühe darauf, gesellschaftlich benachteiligte Gruppen für ihren Dienst zu gewinnen. Sie legte großen Wert darauf, dass die Organisation keine Selektion vornahm und allen Bewerbern einen Platz anbot. »Youngsters who would once have been on the receiving end of other people’s charity are encouraged to go out and help«, so formulierte ein Zeitungsartikel 1967 das Motto der Organisation.71 Dass die Konzeption des britischen Dienstes für politisierte Jugendliche attraktiver erschien als das Freiwillige Soziale Jahr, gestand man auch auf deutscher Seite ein. 1977 lud Bundespräsident Walter Scheel Dickson nach Deutschland ein, um zu diskutieren, wie sich jugendlicher Veränderungswille so kanalisieren lasse, dass er nicht im Terrorismus münde.72 Deutsche Jugendliche allerdings, die der Protestbewegung nahe standen, hielten die britische Organisation für zu systemkonform: Ein in Großbritannien arbeitender Freiwilliger der Aktion Sühne­zeichen kritisierte beispielsweise die unpolitische Haltung der Community­ Service Volunteers. Sie ersetzten lediglich bezahlte Arbeitskräfte, dies erschwere die »Bildung des Klassenbewußtseins« und reproduziere Elend, anstatt es zu bekämpfen.73 Dass in der Wahrnehmung der Zeitgenossen noch deutliche Unterschiede zwischen den britischen und den bundesdeutschen Diensten fortbestanden, kann nicht über die konzeptionelle Annäherung in den 1970er Jahren hinwegtäuschen. Zu ihr trug auch der im Zuge der voranschreitenden europäischen Integration zunehmende internationale Austausch zwischen den Freiwilligenorganisationen bei.

V. Fazit Zusammenfassend ist zunächst ein Trend hervorzuheben, der beide Länder prägte: Die Jugendfreiwilligendienste, die im zweiten Nachkriegsjahrzehnt entstanden, gingen von der Vorstellung aus, dass soziales Engagement und Partizipation im Wohlfahrtsstaat nicht eine bürgerliche, sondern eine staatsbürgerliche Pflicht seien. Ungeachtet des großen Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten staatlicher Wohlfahrtsversorgung überzeugte diese Vorstellung viele. In der Bundesrepublik dachte man bei einer solchen staatbürgerlichen Pflicht an ein weibliches Pendant zum Militärdienst der Männer. Dass Freiwilligenarbeit im 71 Dickson’s private army in shackles, in: Western Mail, 29.9.1967. 72 So jedenfalls Alec Dicksons Interpretation: Annual Report, 1977/78, S.  2, ACSV, AGD/ C1/9, Annual Reports 1968–80. Die kurze Notiz über den Besuch Dicksons, die sich im Archivbestand des Bundespräsidialamtes findet, bestätigt diese Zielsetzung nicht, schließt sie aber auch nicht aus, BAK , B 122/23876. 73 Brief eines Freiwilligen, Iona, 14./15.8.1976; ähnlich: Brief eines Freiwilligen, 22.7.1976, beide Briefe EZA , 97/494, Großbritannien, Briefe von Freiwilligen.

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sozialen Sektor hier eine geringere Wertschätzung genoss als in Großbritannien, ist nicht zuletzt auch hierdurch zu erklären.74 Bis Ende der 1960er Jahre waren die Jugendfreiwilligenorganisationen in der Bundesrepublik und in Großbritannien konzeptionell stark nationalen Denkmustern und Traditionen verhaftet. In beiden Ländern verfolgten sie dabei in gewisser Hinsicht restaurative Zielsetzungen, da sie Elemente eines traditionellen Wertesystems zu bewahren suchten. Der britische Dienst erwies sich allerdings bis etwa 1968 sozialem und kulturellem Wandel gegenüber offener. In der Bundesrepublik war die Anfangszeit des Sozialjahres vor allem von dem konservativen Bemühen geprägt, die traditionelle Geschlechterordnung und insbesondere weibliche Rollenvorstellungen aufrechtzuerhalten. Für die männliche Jugend hingegen stieß der Rückgriff auf ältere Traditionen an seine Grenzen: Der Arbeitsdienstgedanke ließ sich nicht wiederbeleben, da sich die politischen Entscheidungsträger eindeutig von der Vergangenheit absetzen wollten. Die Erfahrung des Nationalsozialismus spielte in einem Gemisch aus Anknüpfung und Abgrenzung für die Entwicklung der deutschen Freiwilligendienste zweifellos eine wichtige Rolle. Es zeigt sich allerdings auch, dass er als Referenzpunkt nicht allein in Deutschland wirkmächtig war, denn die Distanzierung vom Nationalsozialismus prägte auch britische Diskurse. Der bloße Hinweis auf die Abkehr vom Nationalsozialismus reicht also als Erklärungs­ ansatz für die Entwicklungen auf bundesdeutscher Seite nicht aus. Der transnationale Vergleich legt nahe, nach verschiedenen Varianten solcher Distanzierungsbemühungen zu fragen. Dass gemeinwohlorientiertes Engagement in der Nachkriegszeit aufgrund der nationalsozialistischen Überhöhung des »Dienstes an der Volksgemeinschaft« in Westdeutschland teilweise problematisch erschien, während »voluntary spirit« in der britischen Öffentlichkeit durch die kollektiven Kriegs­anstrengungen eher an Wertschätzung gewonnen hat, ist ein solcher Unterschied. Trotzdem fordert der deutsch-britische Vergleich der Freiwilligendienste auch dazu auf, die verbreitete These des Rückzugs ins Private, der die deutsche Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre hinein geprägt habe, zu hinterfragen. Dass vor allem die Jugend immer weniger Bereitschaft zeige, sich für das Gemeinwohl zu engagieren, war ein bereits unter Zeitgenossen beliebtes und transnational einflussreiches Deutungsmuster, das von der Geschichtsforschung vielfach übernommen wurde. Als Ursachen für diesen wahrgenommenen Privatismus sah man den steigenden Wohlstand und die zunehmende wohlfahrtsstaatliche Absicherung, in Westdeutschland außerdem die Erfahrung des Nationalsozialismus. Ebenso wie die jüngere britische Forschung diese These als ideologisch 74 Als Konsequenz ließe sich damit auch der unterschiedliche Stellenwert deuten, den die Historiographie beider Länder dem Thema beimisst. Auffällig ist überdies, dass die Geschichte der Freiwilligenarbeit in Großbritannien kein Frauenthema ist: Viele der Standardwerke zum Thema wurden von männlichen Historikern verfasst, etwa Prochaska, Voluntary Impulse; Finlayson, Citizen; Hilton/McKay, Ages.

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motivierte Fehldeutung ablehnt, sollte sich auch die Forschung zur Bundes­ republik davor hüten, bei ihrem Urteil über die Jugend der 1950er und frühen 1960er Jahre die verbreitete zeitgenössische Wahrnehmung zu übernehmen, verfolgte doch, wie sich hier zeigte, die Kritik am mangelnden Idealismus der Jugend in konservativen und kirchlichen Kreisen ebenfalls ideologische Ziele: Im Falle des freiwilligen Sozialjahrs diente sie dem Kampf gegen die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit.75

75 Neuere Studien zur britischen Geschichte widersprechen dem älteren Forschungsstandpunkt, dass Freiwilligenarbeit in den 1950er und 1960er Jahren schlecht beleumundet und im Niedergang begriffen gewesen sei. Sie fordern dazu auf, die Zeit vielmehr als Phase des Übergangs und Wandels zu verstehen. Vgl. etwa Brewis, New Understanding; Hilton/ McKay, Ages.

Jan Eckel

Menschenrechte und der Wandel der Außenpolitik in den 1970er Jahren Die Bundesrepublik im internationalen Vergleich

In den 1970er Jahren gewannen Menschenrechte in der Außenpolitik westlicher Staaten eine neue Bedeutung – und eine größere, als sie jemals zuvor besessen hatten. Im Verlauf weniger Jahre begannen zahlreiche Regierungen, erstmals systematisch darüber nachzudenken, welchen Stellenwert sie dem Menschenrechtsschutz in ihren auswärtigen Beziehungen einräumen sollten. Hatten menschenrechtliche Fragen bis dahin ganz überwiegend ein außenpolitisches Unterthema dargestellt, mit dem sich die Staaten praktisch ausschließlich im Rahmen internationaler Organisationen beschäftigten, rückten sie nunmehr prinzipiell ins Zentrum des auswärtigen Regierungshandelns. Darin lag eine wichtige Verschiebung, die zwar bei weitem nicht den einzigen, aber doch einen wesentlichen Grund dafür bildete, dass Menschenrechtspolitik in der internationalen Arena während dieses Zeitraums einen so erheblichen Aufschwung zu verzeichnen hatte.1 Von Ferne erscheinen diese Vorgänge wie eine Kettenreaktion: Als habe nur eine Regierung anfangen müssen, damit alle anderen erkannten, dass hier eine politische Notwendigkeit der Zeit lag. Und tatsächlich spielte der zwischenstaatliche Austausch eine Rolle. Die westeuropäischen Staaten stimmten sich in Einzelfragen ab, vor allem im Rahmen der EWG und der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Zudem waren alle Augen auf das Experiment der amerikanischen Regierung unter Jimmy Carter gerichtet, der westlichen Supermacht erstmals eine institutionalisierte Menschenrechts-Außenpolitik zu verschaffen. Trotz der gegenseitigen Beobachtung vollzog sich die Ankunft des Menschenrechtsgedankens in der westlichen Außenpolitik jedoch als ein ungleichmäßiger und vielgestaltiger Prozess. Je nachdem, welche politische Konstellation in einem Land vorherrschte, in welchen historischen Traditionen es sich bewegte und welche Position es im internationalen System einnahm, unterschied sich der außenpolitische Umgang mit dem Menschenrechtsgedanken: Die Art, in der Regierungen ihn adaptierten, die Entschlossenheit, mit der sie sich zu ihm bekannten, und seine Konsequenzen für die Praxis variierten beträchtlich. Für die amerikanische Regierung des Präsidenten Carter, der von 1977 bis 1981 regierte, und für die zwischen 1973 und 1977 amtierende niederländische 1 Vgl. zur Bedeutung der 1970er Jahre: Moyn, Last Utopia; Eckel, Neugeburt.

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Linkskoalition unter Joop den Uyl stellten Menschenrechte das Emblem einer grundlegenden außenpolitischen Neuorientierung dar. Die Substanz dieser Neuorientierung war allerdings jeweils eine andere: Suchten die USA eine rettende Vision, die das Land aus einer tiefgreifenden politischen Krise herausführen könnte, so versuchten sich die Niederlande zur Avantgarde einer neulinken Umprägung der internationalen Politik aufzuwerfen. Die britische Labour-Regierung von James Callaghan, der Harold Wilson 1976 als Premier gefolgt war und 1979 abgewählt wurde, fügte Menschenrechte ihren Außenbeziehungen als integrale Komponente hinzu, lud sie aber nicht mit einer ähnlich tragenden Bedeutung auf. Eher erwuchs der britische Ansatz aus dem Bewusstsein eines prekären, aber gestaltbaren Übergangs, in dem die Regierung internationales Verantwortungsbewusstsein demonstrieren wollte  – der Staatengemeinschaft, aber auch den Briten selbst. Die 1972 an die Macht gelangte sozial-liberale Regierung in der Bundesrepublik schließlich stellte menschenrechtliche Erwägungen eher situativ an. Als eine wichtige Dimension ihrer Außenpolitik begriff sie den Menschenrechtsschutz nicht. Sie verlieh ihm keinen programmatischen Stellenwert und entwickelte nicht einmal eine übergreifende konzeptionelle Leitlinie. Betrachtet man den Ort der Bundesrepublik in diesem Prozess, geht es im Kern also darum, einen negativen Befund zu erklären: zwar nicht die Abwesenheit einer menschenrechtlichen Außenpolitik, aber doch ihre vergleichsweise begrenzte Reichweite. Dennoch lassen sich dem Bild der internationalen Politik in den 1970er Jahren erklärungskräftige Facetten hinzuzufügen, wenn man die westdeutsche Politik in den Vergleich einbezieht. Aus einer menschenrechtshistorischen Perspektive lässt sich so – zum einen – aufzeigen, dass und warum sich kein unwiderstehlicher Diffusionsprozess entfaltete, der in westlichen Staaten etwa eine einheitliche außenpolitische Moral hervorgebracht hätte. Eine »Konvergenz« ergab sich allenfalls in dem eingeschränkten Sinn, dass sich die meisten Regierungen einig waren, menschenrechtliche Fragen nicht länger völlig aus dem Netz ihrer bilateralen Beziehungen ausklammern zu können. Mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik erlaubt es eine solche Betrachtung – zum anderen  –, Rahmenbedingungen, Motive und Praxis der westdeutschen Außenpolitik schärfer zu fassen. Sie enthüllt eine distinkte außenpolitische Logik, die auch das menschenrechtspolitische Feld prägte. Die Vorstellung, die west­ deutsche Außenpolitik sei hinter dem Standard anderer westlicher Staaten zurückgeblieben, lässt sich damit indes nicht belegen. Ein solcher Standard bildete sich in den 1970er Jahren gar nicht heraus. Einige grundlegende Prozesse des außenpolitischen Wandels, die sich in anderen Ländern bemerkbar machten, betrafen auch die Bundesrepublik; in manchen Bereichen dagegen setzte die Bundesregierung aus einem spezifischen Kalkül heraus eigene Akzente. Staatliche Außenpolitik lässt sich in einem solchen Zugang als Sonde nutzen, um gesellschaftlichen Wandel zu untersuchen. Das ist ein Pfad, den die Historiographie bislang selten beschritten hat, die amerikanische und niederländische noch eher, die britische und die deutsche kaum. Die übergreifenden historischen Interpretationen der Bundesrepublik, die in den letzten etwa zwanzig Jahren

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entwickelt worden sind, beziehen sich in ihrem Kern nicht auf die Außenpolitik. Die Deutungen einer »Modernisierung im Wiederaufbau«, der »Westernisierung« und »Liberalisierung« von Politik und Lebensweisen während der langen 1960er Jahre, des Übergangs in eine postindustrielle und postmoderne Konstellation »nach dem Boom« – diese Deutungen haben sich in allererster Linie an politik-, gesellschafts- und wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungen festgemacht.2 In allen vier Ländern, die dieser Aufsatz betrachtet, ist die Außenpolitikgeschichtsschreibung überhaupt noch nicht sehr tief in die 1970er Jahre vorgestoßen. In den nationalen Historiographien finden sich derzeit kaum Narrative, die es erlauben würden, die Außenpolitik des Zeitraums interpretatorisch zu verdichten. Der Aufsatz, so viel sei abschließend vorweggeschickt, stellt einen Vergleich an, der auf eine eigentümliche Weise »asymmetrisch« ist. Denn er beruht auf den überwiegend archivalischen Forschungen, die ich zu den USA, Großbritannien und den Niederlanden angestellt habe  – nicht aber zur Bundesrepublik. Was die westdeutsche Menschenrechtspolitik betrifft, so stütze ich mich auf die Unter­suchungen, die jüngst zum Thema erschienen sind – vor allem auf diejenigen von Philipp Rock, Matthias Peter und Tim Szatkowski. Sie haben wichtige Grundlagenarbeitet geleistet, wenngleich der Gegenstand derzeit noch nicht flächendeckend erschlossen ist.3 Ihre Befunde ordne ich zum Teil allerdings anders ein oder ziehe eigene interpretatorische Schlüsse aus ihnen, die sich gerade im vergleichenden Blick ergeben.

I.

Genesen: Die Ankunft der Menschenrechte in der westlichen Außenpolitik

Wenn das neue Menschenrechtsbewusstsein in der westlichen Außenpolitik auch vergleichsweise rasch Konturen gewann, war seine Entstehung doch ein komplexer Prozess. Überall speiste es sich aus mehreren Motivschichten: Es wuchs aus gewandelten Leitbildern, reagierte auf akute Probleme und als neuartig empfundene Handlungszwänge. Blickt man auf die Genese der Menschenrechts-Außenpolitik in den Niederlanden, den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik, zeichnen sich dabei einige wichtige übergreifende Muster ab. Diese waren allerdings national recht unterschiedlich ausgeprägt. In allen vier Ländern setzten sich zunächst zivilgesellschaftliche Reformbestrebungen in das auswärtige Regierungshandeln hinein fort, wobei sich die außenpolitischen Entscheidungsträger dem öffentlichen Druck aus Überzeugung, Kalkül oder Notwendigkeit beugten. Am ungebrochensten vollzog sich 2 Vgl. Schildt/Sywottek, Modernisierung; Herbert, Wandlungsprozesse; Doering-­Manteuffel, Wie westlich; ders./Raphael, Boom. 3 Vgl. vor allem Rock, Macht; Peter, Konferenzdiplomatie; ders., Sicherheit; und Szatkowski, Sihanouk.

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dieser Prozess in den Niederlanden. Dort erlangte 1973 eine von der Arbeiterpartei angeführte links-konfessionelle Koalition die Regierungsmacht, deren führende Mitglieder die außenpolitischen Umkehrappelle, die in der öffentlichen Diskussion erschallten, überwiegend teilten.4 In den 1960er Jahren war die außenpolitische Orientierung der Niederlande – erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – zum Gegenstand eines Grundsatzstreits geworden. Innerund außerhalb des Parlaments regte sich zunehmend Kritik an dem überkommenen Kurs, den die Regierungen der Nachkriegszeit eingeschlagen hatten. Er hatte auf einer bisweilen geradezu überloyalen Zugehörigkeit zum westlichen Bündnis, vor allem zur NATO, und auf dem Bekenntnis zur wirtschaftlichen (weniger dagegen der politischen) Integration Westeuropas beruht. Proteste entzündeten sich insbesondere an der niederländischen Unterstützung der USA im Vietnamkrieg, an der wohlwollenden Haltung gegenüber der Apartheidregierung in Südafrika und gegenüber Portugal, das in seinen Kolonien langwierige Kriege führte, oder an der Zurückhaltung gegenüber der griechischen Militärdiktatur. Getragen wurden diese Proteste von der rasant wachsenden DritteWelt-Bewegung, von kirchlichen Aktivisten, von Menschenrechts­gruppen  – aber eben auch von Abgeordneten der Linksparteien. Nachdem das links-konfessionelle Parteienbündnis seine Amtsgeschäfte aufgenommen hatte, verlängerten sich die Forderungen, die außenpolitischen Leitlinien zu revidieren, gleichsam in die Regierungspolitik.5 Der neue Außenminister Max van der Stoel hatte sich zuvor bereits als Kritiker einer Außenpolitik hervorgetan, die er als moralisch unsensibel empfand. Entwicklungsminister Jan Pronk war ein glühender Exponent neulinken Denkens und hatte sich selbst in der Dritte-Welt-Bewegung und der kirchlich-ökumenischen Entwicklungszusammenarbeit engagiert. Ministerpräsident Joop den Uyl schließlich verkörperte eine strikt antitotalitäre Haltung, die eher aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs herrührte. Wie Pronk, so war auch den Uyl Anfang der 1970er Jahre in den Bann von Allendes »friedlichem Weg« zum Sozialismus geraten. Ganz auf diesen Linien rückte die Regierung zwei Projekte in das Zentrum einer erneuerten Außenpolitik: das Streben nach einer fairen weltweiten Wohlstandsverteilung, ja einer gleichberechtigten Teilhabe der »Entwicklungsländer« am internationalen System, und den weltweiten Einsatz für den Schutz der Menschenrechte.6 Beides hing miteinander zusammen, und das verlieh der niederländischen Menschenrechtskonzeption eine besondere Signatur. Die Regierung 4 Vgl. zum Folgenden: Kennedy, Babylon; Wielenga, Niederlande; Hellema, Nederland, S. 304–348; Kersten, Nederland; Kuitenbrouwer, Ontdekking, S. 64–108. 5 Vgl. zum Folgenden Wielenga, Niederlande, S. 305–337; Kuitenbrouwer, Ontdekking; Malcontent, Kruistocht. 6 Vgl. Rijksbegroting voor 1974, unter: http://resourcessgd.kb.nl/SGD/19731974/PDF/SGD_ 19731974_0003387.pdf [letzter Zugriff: 4.11.2015]; Rijksbegroting voor 1976, unter: http:// resourcessgd.kb.nl/SGD/19751976/PDF/SGD_19751976_0003186.pdf [letzter Zugriff: 4.11. 2015].

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begriff diese nämlich, anders als etwa die amerikanische und die britische, als Bestandteil einer Politik, der es um wirtschaftliche und soziale Gerechtigkeit in weltweitem Maßstab ging. In den USA waren die Auswirkungen des zivilen Protests auf die staatliche Außenpolitik ungleich dramatischer. Die amerikanische Kriegführung in Vietnam trieb Hundertausende Demonstranten auf die Straße, erzeugte tiefes Misstrauen gegen die Regierungspolitik und spaltete die amerikanische Gesellschaft überdies in zwei unversöhnliche Lager.7 Im Zuge dessen löste sich – wie auch in den Niederlanden, doch eruptiver und politisch schmerzhafter  – der »foreign policy consensus« auf, in dem sich die politischen Kräfte des Landes überwiegend einig gewusst hatten. Er hatte eine Außenpolitik getragen, die ihre Handlungslogik geradezu unbeirrbar aus den Imperativen des Kalten Kriegs bezog und dafür hohe Kosten in Kauf nahm. Mit dem schmählichen Ende des amerikanischen Engagements in Indochina jedoch, ferner mit den Enthüllungen über den Watergate-Skandal und die geheimen Auslandsinterventionen des CIA war diese Politik in tiefen Misskredit geraten. Hierin fand der Demokrat Jimmy Carter, der 1976 für viele überraschend zum Präsidenten gewählt wurde, einen seiner wichtigsten Ansatzpunkte.8 Seine Präsidentschaft stand für eine grundlegende Umkehr und eine umfassende Erneuerung. Anstand und Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, Prestige und Konsens neu erstehen zu lassen – das war, ebenso grundlegend wie verschwommen, Carters Versprechen an die Amerikaner und die Welt. Menschenrechte entwickelten sich dabei seit der Endphase des Wahlkampfs zum Symbol dieser Ambitionen.9 Dabei konnte der vormalige Gouverneur von Georgia an kritische Impulse aus dem Kongress anschließen, wo demokratische Abgeordnete Menschenrechte schon seit den frühen 1970er Jahren zu einem wichtigen Feld gemacht hatten, auf dem sie der in ihren Augen skrupellose Außenpolitik Nixons und Kissingers entgegentraten.10 Demgegenüber erschien der britische Umgang mit der gewandelten außer­ parlamentarischen Landschaft kalkulierter und kontrollierter. Es war vor allem David Owen, vom Labour-Premier James Callaghan 1977 zum jüngsten Außenminister seit gut vierzig Jahren berufen, der den Menschenrechtsschutz zu einem wichtigen Element der britischen Außenpolitik zu machen versuchte.11 Damit hatte er eingestandenermaßen im Sinn, neue politische Strömungen aufzu­ nehmen.12 Das mochte darauf zielen, das gewachsene Protest- und Oppositions7 Vgl. DeBenedetti, American Ordeal; Wells, War. 8 Vgl. Carter, Why Not the Best?, S. 9. Aus der Literatur: Schmitz, United States, S. 143–193; Moyn, Last Utopia, S. 120–175; Keys, Reclaiming. Vgl. allgemein zu Carters Außenpolitik u. a.: Smith, Morality; Dumbrell, Carter; Glad, Outsider. 9 Vgl. etwa Jimmy Carter: Foreign Policy Address before the Foreign Policy Association, 23.6.1976, in: Breitinger, Presidential Campaign, S. 154–162. 10 Vgl. Keys, Reclaiming. 11 Die britische Außenpolitik dieser Jahre ist wenig erforscht. Vgl. allgemein etwa Lane,­ Policy; Turner, Britain. 12 Vgl. programmatisch vor allem Owen, Menschenrechte.

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potential möglichst zu entschärfen. Noch grundlegender ging es indes darum, die britische Außenpolitik zu vitalisieren und neu zu legitimieren. Der Konnex von gesellschaftlicher Unzufriedenheit und außenpolitischer Neujustierung erwies sich schließlich auch in der Bundesrepublik als bedeutsam. Denn dass die Große Koalition und die von Helmut Schmidt geführte sozial-liberale Regierung überhaupt menschenrechtliche Erwägungen in ihre Entschei­ dungsbildung aufnahmen, lag in hohem Maße daran, dass sie auf ein gesellschaftliches Bedürfnis zu reagieren versuchten, das sich in diesen Jahren immer stärker Bahn brach. Vor dem Hintergrund einer kritischen Medienbericht­ erstattung begannen in den späten 1960er Jahren Teile der SPD, Gewerkschaften, Kirchen, Amnesty International und andere NGOs, aber auch »betroffene« Einzelne, gegen staatliche Repressionen im Ausland zu protestieren, etwa in Griechenland und Südafrika – und bald schon gegen die Untätigkeit, die die Bundesregierung in diesen Fragen an den Tag legte. Das Auswärtige Amt wurde mit Briefen und Unterschriftenlisten geradezu überschüttet; im Januar 1970 unterzeichneten 30.000 Menschen, darunter 120 Bundestagsabgeordnete, eine Petition, in der sie die Freilassung der politischen Häftlinge in Griechen­land forderten.13 Der öffentliche Unmut schien der Bundesregierung einige begrenzte Schritte regelrecht aufzunötigen. Tatsächlich bemühte sie sich wiederholt darum, die­ innenpolitischen Kritiker mit symbolischen Konzessionen zu besänftigen. Doch stellte der zivilgesellschaftliche Unmut über eine als verengt und veraltet empfundene Außenpolitik lediglich eine Quelle dar, aus der dem Menschenrechtsgedanken eine neue Bedeutung zufloss. Hinzu kam die unter außenpolitischen Experten in diesen Jahren geradezu ubiquitäre Wahrnehmung, die »Interdependenz« im Staatensystem habe dramatisch zugenommen.14 Sie mag in vielen Fällen in ähnlichen lebensweltlichen Erfahrungen verwurzelt ge­wesen sein wie denen, die auch im zivilen Aktivismus dieser Jahre eine wichtige Rolle spielten, in vermehrten Reisen und Auslandskontakten, in dem Gefühl beschleunigter und weiter ausgreifender Kommunikation. Die Experten selbst beschrieben jedoch immer wieder die sogenannte »Ölkrise« von 1973/1974 als den Moment, in dem sich die globale Schicksalsgemeinschaft unausweichlich erwiesen habe.15 Die Diagnosen einer zusammenwachsenden Welt, von zunehmender »Verflechtung« und »wechselseitiger Abhängigkeit« beschränkten sich aber keineswegs auf den Energiesektor, sondern betrafen das internationale System als Ganzes. Dabei fielen die Einschätzungen in den USA, den Niederlanden und Großbritannien erstaunlich ähnlich aus.16 Der britische Außenminister Owen 13 Vgl. Rock, Macht, S. 18. 14 Zum Kontext vgl. Ferguson, Shock. 15 Vgl. dazu auch das Kapitel von Rüdiger Graf. Für zeitgenössische Wahrnehmungen etwa Rijksbegroting voor 1975, unter: http://resourcessgd.kb.nl/SGD/19741975/PDF/SGD_19 741975_0002945.pdf, S. 2 [letzter Zugriff: 4.11.2015]. 16 Vgl. zum Folgenden für die Niederlande: ebd.; für die USA : Jimmy Carter: Our Foreign Relations, 15.3.1976, in: The Presidential Campaign 1976, Volume One, Part One, Jimmy Carter, Washington 1978, S. 109–119; Vance, Hard Choices, S. 27 und 441–463.

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sprach von dem »Modewort ›Interdependenz‹«, und distanzierte sich damit bis zu einem gewissen Grad von der neuen Denkkonjunktur.17 Dennoch teilte er deren Befunde und zog daraus dieselben Schlussfolgerungen wie die außenministeriellen Beamten in anderen Ländern. Demzufolge zeichneten sich die internationalen Realitäten durch einen neuen Grad der Komplexität aus, der die Außenpolitik auf eine tiefgreifend gewandelte Grundlage stellte. Das Ordnungsmuster, dessen Werden die Regierungsvertreter beobachteten, beschrieben sie in den Begriffen einer multipolaren Ordnung, regionaler Konfliktlogiken und weltweiter Diversität. Vor allem erschien es ihnen dringlich, gemeinsame Lösungen für grenzüberschreitende Probleme zu entwickeln, die letztlich die Staatengemeinschaft insgesamt bedrohten: für Hunger, Migrationen, Bevölke­ rungswachstum, Umweltverschmutzung oder die Weitergabe von Nukleartechnologie. Auch repressive Herrschaftsstrukturen fügten sich in diese Reihe. Politisches Unrecht in anderen Staaten, zwischenstaatliche Konflikte in entfernten Regionen, Armut und Instabilität in der »Dritten Welt« ließen sich in einem interdependenten System nicht länger lokalisieren. Sie konnten dieses System destabilisieren und somit potentiell den Weltfrieden bedrohen. Menschenrechte im Ausland zu schützen, so eine wichtige Denkfigur dieser Jahre, sei daher entscheidend, um Krisenherde gar nicht erst entstehen zu lassen, und damit eine Voraussetzung des friedlichen Zusammenlebens. In diesem Aspekt enthielten die außenpolitischen Bestandsaufnahmen also auch den Kern einer neuen Inter­ pretation von internationaler Sicherheit. Es erscheint kaum vorstellbar, dass sich solche Wahrnehmungen in der westdeutschen Politikformulierung nicht niedergeschlagen haben sollten  – wenn es ein uniformes Muster in der westlichen Außenpolitik der 1970er Jahre gab, dann dieses. Die vorliegenden Untersuchungen lassen darüber jedoch keine Schlüsse zu. Ob der Grund darin liegt, dass sich in den menschenrechtspolitischen Überlegungen der sozial-liberalen Regierung tatsächlich keine Inter­ dependenzannahmen finden, oder darin, dass Historiker nicht nach ihnen gesucht haben, muss einstweilen offen bleiben. Da die Vorstellung einer zunehmenden globalen Verflechtung in der Energiepolitik oder bei der Bekämpfung des Terrorismus durchaus ins Gewicht fiel, erscheint es unwahrscheinlich, dass es sich in der Menschenrechtspolitik anders verhielt. Gleichwohl klafft für deren Verständnis hier einstweilen eine nicht unerhebliche Lücke. Was auch immer weitere Untersuchungen zutage fördern mögen, verband sich mit der veränderten Wahrnehmung der internationalen Politik doch noch eine weitere bedeutsame Konsequenz. Denn die Beobachtung einer zunehmenden »Interdependenz« ließ die Überzeugung reifen, der ideologische Wettbewerb zwischen westlicher Demokratie und östlichem Kommunismus sei nicht länger die Konfliktlinie, die das internationale Geschehen dominiere. Jimmy Carter sprach kurz nach seinem Amtsantritt in einer seiner berühmtesten (und für seine Gegner berüchtigsten) Formeln von der »inordinate fear of commu17 Owen, Menschenrechte, S. 34 f.

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nism«, von der es sich zu befreien gelte.18 Die Fixierung auf den Systemgegner, so glaubten die meisten Regierungsvertreter, habe den Manövrierraum der amerikanischen Politik bedenklich eingeschränkt. Sie habe den Blick auf langfristig folgenschwere Probleme wie auch auf neue Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten verstellt, die jenseits der Ost-West-Konfrontation heraufzogen. Auch die niederländische Führung glaubte Politikformen entwickeln zu müssen, die das Nullsummenspiel des Kalten Kriegs überwinden würden. In den Niederlanden trug diese Auffassung einen besonderen Akzent, ging es der Linksregierung doch darum, sich von der traditionellen Bündnispolitik des Landes abzugrenzen – und damit eben auch von der westlichen Supermacht selbst. Der britische Außenminister Owen hingegen konnte sich nicht dazu durchringen, den Kalten Krieg ähnlich entschlossen für sekundär zu erklären, wie es Jimmy Carter getan hatte. Immerhin aber verschrieb er sich, ebenso wie die beiden anderen Regierungen, einem vermeintlich über-ideologischen Universalismus. Auch die britische Regierung visierte eine Menschenrechtspolitik an, die keinen Unterschied zwischen den Ländern oder Systemen machen würde. Owen wollte gegen die Verbrechen rechter Diktaturen wie der chilenischen ebenso vorgehen wie gegen die kommunistischer Staaten, sich auf die Seite der schwarzen Be­völkerung im südlichen Afrika stellen, aber »auch nicht zögern, die schwarzen Länder dazu aufzufordern, Ausschreitungen eines anderen schwarzen Landes, wie etwa Uganda, zu kritisieren.«19 Genau hierin, im Verhältnis von Menschenrechtspolitik und Systemwettbewerb, lag auf konzeptioneller Ebene der entscheidende Grund dafür, dass die Bundesregierung Menschenrechte nicht zum Angelpunkt einer neuen Außenpolitik machte. Das außenpolitische Kalkül der sozial-liberalen Regierung war und blieb von dem Wunsch nach entspannungspolitischer Stabilität beherrscht.20 Diese glaubte die Bundesregierung, und nicht zuletzt Bundeskanzler Helmut Schmidt selbst, mühsam genug hergestellt zu haben, und sie galt wichtigen Regierungsvertretern als ein schlichtweg existentielles Interesse der Bundes­ republik. Ein kritischer Umgang mit der Menschenrechtssituation in Osteuropa erschien aus dieser Sicht als kontraproduktiv und sogar gefährlich. Denn er drohte, die stets prekären Grundlagen der Verständigung zu unterhöhlen und die Ausgangslage der Bundesrepublik international wie auch im deutsch-deutschen Verhältnis empfindlich zu verschlechtern. Tatsächlich standen die entspannungs- und die menschenrechtspolitischen Prämissen während der 1970er Jahre allerorten in einer merklichen Spannung. 18 Jimmy Carter: Address at Commencement Exercises at University of Notre Dame, 22.5.1977, in: Public Papers of the Presidents, Jimmy Carter, Bd. 1977, I, Washington 1977, S. 954–962, hier S. 956. 19 Owen, Menschenrechte, S. 159. 20 Vgl. allgemein zur westdeutschen Außenpolitik hier und im Folgenden: Haftendorn, Deutsche Außenpolitik; Hacke, Außenpolitik; Conze, Suche. Ferner aufschlußreich: Wiegrefe, Zerwürfnis, S. 123–254.

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Die Carter-Regierung hatte das bemerkenswerterweise nicht voraus­gesehen und glaubte anfänglich, beide Linien ließen sich parallel verfolgen.21 Dass es die sowjetische Führung nicht so sah, musste sie erst schmerzlich erfahren: So dauerte es nicht lange, bis sich Leonid Breschnew und andere hochrangige Sowjet­ politiker zornig darüber beschwerten, dass die USA sowjetische Dissidenten unterstützte.22 Das britische Foreign Office hingegen hatte die Schwierigkeiten von Anfang an antizipiert.23 In der Praxis entging die Regierung Callaghans dem Dilemma, zwischen menschenrechtlicher Kritik und entspannungspolitischen Signalen zu lavieren, freilich ebenfalls nicht. Anders als die Bundesregierung wollte jedoch keine der drei Regierungen gänzlich auf Menschenrechtskritik verzichten; die Niederlande verfolgten sogar einen denkbar robusten Kurs gegenüber der Sowjetunion, der das Verhältnis merklich belastete. Wie sehr sich der westdeutsche Kurs unterschied, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass die Bundesrepublik ihren entspannungspolitischen Ansatz sogar im Forum der KSZE geltend machte.24 Anders als die Niederlande und Großbritannien verstand sie den KSZE-Prozess gerade nicht im Sinne einer langfristigen Unterminierungsstrategie, sondern als eine Möglichkeit, ihre Ostpolitik zu multilateralisieren. Schließlich begriffen die Regierungen in den USA, Großbritannien und den Niederlanden ihre Bekenntnisse zum weltweiten Menschenrechtsschutz auch als Teil einer moralischen Erneuerung ihrer Außenpolitik – darin lag ein weiterer wichtiger Ursprung der transnationalen Konjunktur der 1970er Jahre. Dass es eine Verpflichtung gebe, anderen Ländern zu helfen, dass auswärtiges Handeln das Wohl der einfachen Bürgerinnen und Bürger im Blick haben müsse, dass Außenpolitik einer idealistischen Grundierung bedürfe – dieser Glaube zeichnete sich in den konzeptionellen Überlegungen deutlich ab. Die konkreten politischen Funktionen und Aspirationen, die sich mit solchen ethischen Postulaten verbanden, unterschieden sich dann jedoch wieder von Land zu Land. Das moralpolitische Programm der Carter-Regierung hob dezidiert darauf ab, menschliches Leid in der Welt zu lindern, Verfolgten zu helfen und staatliche Gewalt einzudämmen. Es reichte aber noch deutlich darüber hinaus. Diktaturen die Unterstützung zu entziehen, den Ländern des globalen Südens aufrichtig zu begegnen, militärische Interventionen und Geheimdienstoperationen aus dem Arsenal außenpolitischer Mittel zu verbannen – all das waren weitere Elemente einer ethisch begründeten Neuausrichtung der amerikanischen Poli-

21 Vgl. Jimmy Carter Presidential Library, Atlanta, Georgia [im Folgenden: JCPL], Staff Office Counsel – Lipshutz, Box 19, Fo. Human Rights PRM, 7/77, PRM on Human Rights, 8.7.1977, S.  20; ebd., Staff Offices, Office of Staff Secretary, Handwriting File, Box 9, Fo. 2/22/77, Jody Powell an Carter, Re. Soviet Dissidents, 21.2.1977. 22 Vgl. etwa JCPL , Brzezinski Donated Material, Geographic File, Box 18, Breschnew an Carter, 27.2.1977. 23 Vgl. National Archives, Kew [im Folgenden: NAK], FCO 58/1147, Human Rights and­ Foreign Policy, o. Dat. [vor Juli 1977]. 24 Vgl. Peter, Konferenzdiplomatie; ders., Sicherheit.

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tik in der Welt.25 Geboren aus den Krisen der späten Nixon-Ära, verfolgte dieser Ansatz einen doppelten Zweck. Er sollte dazu beitragen, der Supermacht nach dem beschriebenen tiefgreifenden Reputationsverlust, den sie Anfang der 1970er Jahre erlitten hatte, wieder zu internationaler Glaubwürdigkeit zu verhelfen – und damit auch, ihren Einfluss in der Welt neu zu begründen. Gleichzeitig stellte er einen Versuch dar, die Nation im Zeichen einer idealistischen Mission zu einen. Insofern war er auch darauf angelegt, die innenpolitischen Wunden zu heilen, indem er das Vertrauen in die amerikanische Politik und den Glauben an die eigene Führerschaft und Stärke restituierte. Auch in den Verlautbarungen der niederländischen Regierung war die moralische Emphase greifbar – das »geheven vingertje« des Außenministers van der Stoel war sprichwörtlich, und Entwicklungsminister Pronk gerierte sich bisweilen gar als gerechtigkeitssuchender Feuerkopf. Für beide bedeutete Außen­politik mehr als nationale Interessenvertretung, nämlich einen tätigen Ausdruck internationaler Solidarität und die sichtbare Verkörperung eines sozialistischen Idealismus. Politisch gänzlich selbstlos war der auswärtige Moralismus gleichwohl auch in den Niederlanden nicht. In ihm verbarg sich nämlich auch ein Führungsanspruch: Die Niederlande sollten sich an die Spitze des Strebens nach einer besseren Welt setzen und durch ihr gutes Beispiel andere Staaten anleiten, ebenso gut zu handeln.26 Gerade als wenig einflussreicher, verwundbarer Staat, so glaubten die außenpolitischen Protagonisten, seien die Niederlande besser befähigt zu erkennen, wie es um die Welt stand, und etwas dagegen zu tun. Das lief letztlich darauf hinaus, machtpolitische Marginalität in moralische Superiorität umzumünzen, um den Niederlanden so eine bedeutsamere Rolle auf dem internationalen Parkett zu verschaffen. Dazu gesellte sich schließlich noch ein Motiv, das für die Niederlande spezifisch war. Denn auch ein Schuldgefühl darüber, als Kolonialmacht lange Zeit Unrecht begangen zu haben, beseelte die moral­politische Umkehr, wenn auch vielleicht nicht an erster Stelle. »Schuld und Buße« des vormaligen Kolonisators, so gab Jan Pronk rückblickend zu Protokoll, seien wichtige Motive gewesen, aus denen sich seine Sympathie für die Länder des globalen Südens gespeist habe.27 In der britischen Außenpolitik ließen sich ähnliche Bewusstseinslagen nicht erkennen. Das mag insofern nicht überraschen, als die wenigsten in der britischen Regierung die vormalige Kolonialpolitik als Unrecht begriffen. Doch wurde offenbar nicht einmal darüber reflektiert, dass postkoloniale Staaten die menschenrechtskritische Einmischung als Ausdruck neoimperialer Herrschaftsambitionen denunzieren könnten.28 Ohnehin waren die ethischen Im25 Vgl. etwa Jimmy Carter on Foreign Policy at the Convention of B’nai B’rith, 8.9.1976, in: Breitinger, Presidential Campaign, S.  145–149; ders., At Notre Dame University, 10.10.1976, in: ebd., S. 993–997; 26 Vgl. Kennedy, Babylon, S. 77–81; Wielenga, Niederlande, S. 305–337; Hellema, Nederland, S. 261–303; de Gaay Fortman, Vredespolitiek. 27 Vgl. Pijpers, Dekolonisatie. 28 Vgl. als eine der wenigen Ausnahmen: NAK , FCO 31/1783, Hennessey an Ewans, 3.7.1974.

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pulse in der britischen Rhetorik vergleichsweise am schwächsten ausgeprägt. Zwar bekannte sich auch Owen entschlossen dazu, Großbritannien sei verpflichtet, Unrecht überall auf dem Globus zu ahnden.29 Doch jedenfalls in der Programmbildung war der Menschenrechtsgedanke keineswegs stark missionarisch aufgeladen – eine Weltheilung strebte der britische Außenminister mit ihm nicht an. Vor diesem Hintergrund scheint die vielleicht wichtigste Frage darin zu liegen, warum die sozial-liberale Bundesregierung das moralische Legitimierungspotential der Menschenrechtsidee, das anderen westlichen Regierungen in diesen Jahren als so vielversprechend erschien, nicht ebenfalls anzuzapfen versuchte. Zweifellos hatte die Bundesrepublik in der allerjüngsten Vergangenheit kein ähnliches innen- und außenpolitisches Desaster erlebt wie die USA im Vietnamkrieg. Zweifellos brachte das Kabinett Schmidt keinen ähnlichen neulinken Reformeifer auf wie das Regierungsbündnis in den Niederlanden und beabsichtigte nicht, ebenso grundlegend mit den überkommenen außenpolitischen Parametern zu brechen. Einige Besonderheiten ihres Platzes im internationalen System erwiesen sich aber als noch bedeutsamer. Weltpolitisch war die Bundesrepublik gerade erst dabei, sich zu positionieren.30 Einen wichtigen Einschnitt stellte der Beitritt zu den Vereinten Nationen im Jahr 1973 dar, durch den sie mit einer gewissen Plötzlichkeit in die Diskussion über zahlreiche weltweite Probleme einbezogen wurde. Die westdeutsche Außenpolitik wuchs nur langsam in diese Rolle hinein. Vollmundige Leitbilder globaler Humanität zu formulieren, lag ihr dabei fern. Das Verhalten anderer Staaten kritisch zu kommentieren, was eine systematische Menschenrechtspolitik erforderlich gemacht hätte, mag ihr sogar als kontraproduktiv erschienen sein. Denn das hätte das Bemühen kompromittieren können, die Bundesrepublik weiterhin als das seriöse, konstruktive Mitglied der Staatengemeinschaft zu präsentieren, das sie erst vor kurzem wieder geworden war. Überhaupt stand das Regierungshandeln des Kabinetts Schmidt, das gleichsam in politischer Katerstimmung aus der Reformeuphorie der langen 1960er Jahre erwacht war, prononciert im Zeichen des realpolitischen Pragmatismus und verzichtete auf idealistische Überhöhungen.31

II. Menschenrechte in der außenpolitischen Praxis Ebenso wie die Genese menschenrechtspolitischer Konzeptionen trotz gemeinsamer Grundmuster national unterschiedlich beschaffen war, wichen auch die Formen, in denen die westlichen Regierungen sie in die Praxis umsetzten, voneinander ab. Die amerikanische Regierung brachte menschenrechtspolitische Kriterien gegenüber nahezu allen Staaten in Anschlag, mit denen sie nennens29 Vgl. etwa Owen, Menschenrechte, S. 8. 30 Vgl. Jäger/Link, Republik, S. 383–410. 31 Vgl. Rödder, Bundesrepublik, S. 130–148.

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werte Beziehungen unterhielt. Sie bildeten aber, bei allem moralischen Erneuerungspathos, lediglich ein Element in einem wesentlich breiteren Geflecht nationaler Interessen. Dass es gar nicht denkbar war, anders zu verfahren, war den außenpolitischen Experten bewusst geworden, als sie einmal damit begonnen hatten, die hehren Zielproklamationen des neuen Präsidenten zu operationalisieren. Je nachdem, wo in diesem Interessengeflecht die Prioritäten lagen, kam Menschenrechtserwägungen in den bilateralen Beziehungen ein ganz unterschiedlicher Stellenwert zu. Wie bereits angedeutet, verfolgte die Regierung gegenüber der Sowjetunion anfänglich eine markant kritische Linie, vor allem indem sie sich symbolisch der Sache der sowjetischen Dissidenten annahm. Von dieser Linie ruderte sie aber zurück, nachdem sie das Verhältnis zur kommunistischen Supermacht erheblich belastet hatte.32 Auch autoritäre Verbündete verschonten die Amerikaner nicht und versuchten darauf hinzuwirken, dass sie ihre innere Herrschaft liberalisierten. Doch achteten sie sorgsam darauf, die wichtigen sicherheitspolitischen Beziehungen dabei nicht auf die Probe zu stellen. So setzte die Carter-Regierung im Austausch etwa mit Südkorea oder dem Iran ihre menschenrechtlichen Bedenken auf die Agenda, versuchte ihre Kritik aber zu dosieren.33 Wie schon bei ihrem (misslungenen) Versuch, Menschenrechtskritik und Entspannungspolitik zu balancieren, begab sie sich auch hier auf eine schwierige Gratwanderung. Am stärksten prägten menschenrechtspolitische Sensibilitäten die ameri­ kanische Politik gegenüber Südafrika und südamerikanischen Ländern. Hier rückte die Carter-Regierung ihre Kernforderungen konsequent ins Zentrum und nahm in Kauf, dass sich die Beziehungen darüber beträchtlich verschlechterten. All die Gründe, die etwa Südafrika seit Jahrzehnten zu einem wichtigen Partner der USA gemacht hatten  – der unwandelbare Antikommunismus der Kapregierung, die Versorgung mit strategischen Mineralien, der Schutz der Öllieferungen aus dem Nahen Osten  – fielen schlicht nicht mehr ins Gewicht.34 Der Präsident und seine Mitarbeiter verurteilten die Apartheid in nie gehörter Schärfe.35 Zu wirtschaftlichen Sanktionen konnten sie sich gleichwohl nicht entschließen – und so zeigte das amerikanische Vorgehen gegenüber Südafrika schließlich par excellence, wie ein lediglich rhetorischer Druck ins Leere 32 Vgl. etwa JCPL , Donated Historical Material, 7B Collection, Subject File, Box 34, Fo. [NSC – Accomplishments – Human Rights 1/81], Lincoln Bloomfield, The Carter Human Rights Policy: A Provisional Appraisal, 11.1.1981, S. 22. 33 Zu Südkorea vgl. etwa JCPL , NSA 3 Brzezinski Material, President’s Correspondence with Foreign Leaders, Box 12, Fo. Korea, Republic of: President Park Chung Hee, 2/77–12/78, Carter an Park, 14.2.1977. Zu Iran vgl. Schmitz, United States, S. 171–181. 34 Vgl. JCPL , Donated Hist. Material, Zbigniew Brzezinski Collection, Subject File, Box 24, Fo. [Meetings PRC 3: 2/8/77], Brzezinski an Carter, PRC Meeting on Southern Africa – PRM 4, 9.2.1977. 35 Vgl. JCPL , Donated Historical Material, Zbigniew Brzezinski Collection, Geographical File, Box 14, Fo. Southern Africa [5/77–5/79], Vice President: Memorandum for President, Objectives During Visit to Europe for Talks with Vorster and European Leaders, 10.5.1977.

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lief. Der amerikanische Umgang mit China schließlich illustrierte, wie groß das Missverhältnis zwischen menschenrechtspolitischen Forderungen und staatlichen Repressionen äußerstenfalls sein konnte. Die Beziehungen zu der asiatischen Großmacht zu normalisieren, stellte eines der außenpolitischen Hauptprojekte der Carter-Regierung dar.36 Damit verfolgte sie das doppelte Ziel, die von Nixon inaugurierte Dreiecksdiplomatie fortzuführen und China irreversibel in die Staatengemeinschaft einzubeziehen – auch hier ergänzte sie das Kalkül des Kalten Kriegs also um ein globalistisches Motiv. Um dieses Projekt nicht zu gefährden, brachte sie ihre menschenrechtlichen Mahnungen lediglich pro forma vor. Die chinesische Führung unter Deng Xiaoping zeigte sich davon ostentativ unbeeindruckt.37 Die niederländische Regierung setzte nicht selten auf einen unmissverständlichen menschenrechtspolitischen Konfrontationskurs. So strich sie Chile nach dem Militärputsch vom September 1973 von der Liste der entwicklungspolitischen »Schwerpunktländer« und ging in internationalen Organisationen besonders aktiv gegen das Regime vor. Entwicklungsminister Pronk nannte die neuen Machthaber eine »Folter- und Mordjunta« und handelte sich dafür geharnischte Repliken ein.38 Auch Südafrika trat die Regierung den Uyls resolut entgegen. Sie übte deutliche Kritik an der Apartheid, kündigte ein bilaterales Kulturabkommen und stellte keine neuen Exportgarantien aus.39 Mit ihrer Menschen­rechtskritik an der kommunistischen Herrschaft in Osteuropa verfolgte sie eine dezidiert subversive Strategie, die darauf ausgerichtet war, die innere Stabilität der Diktaturen zu unterminieren.40 Sie war allerdings abgestuft; Staaten wie Polen und Jugoslawien, die die Regierungsvertreter innen­politisch als vergleichsweise liberal einstuften und außenpolitisch um ein Maß an Unabhängigkeit von der Sowjetunion bemüht sahen, sollten gerade nicht unter Druck gesetzt werden. Gegenüber Indonesien, der bis zur Unabhängigkeit 1949 wichtigsten niederländischen Kolonie, fanden sich den Uyl und seine Mitstreiter in einem Dilemma. Gab der menschenrechtliche Imperativ vor, die Verbrechen eines autoritären Regimes entwicklungspolitisch zu ahnden, so wirkte das koloniale Schuldbewusstsein hemmend.41 Es nährte nämlich den Wunsch, die Hilfsbeziehung fortzusetzen, um das historische Unrecht an der indonesischen Bevölkerung wenigstens ansatzweise wiedergutzumachen. 36 Vgl. zum Folgenden JCPL , NSA 5 Brzezinski Material, VIP Visit File, Box 3, Fo. China, Cables and Memos, 1/25/79–2/1/79, Cyrus Vance: Memorandum for the President, Scope Paper for the Visit of Vice Premier Deng Xiaoping, 26.1.1979; ebd., NLC -128-7-1-1-1, The US -China Relationship, o. Dat. [1980]. Aus der Literatur vgl. etwa Kirby u. a., Normalization. 37 Vgl. JCPL , NLC -26–39–6-17–7, Far East an Brzezinski, Evening Report, 30.3.1977;­ Zbigniew Brzezinski: Power and Principle. Memoirs of the National Security Adviser, ­1977–1981, New York 1983, S. 407. 38 Vgl. Malcontent, Kruistocht, S. 145–178. 39 Vgl. De Boer, Sharpeville. 40 Vgl. Baudet, »Het heeft onze aandacht«. 41 Vgl. Malcontent, Kruistocht, S. 126–144.

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Im Ergebnis transportierte die niederländische Regierung tatsächliche eine Art neulinke Moralpolitik in die weltpolitische Arena, vielleicht sogar mehr, als sie es beabsichtigt hatte: In der Pinochet-Diktatur bekämpfte sie den alten »faschistischen« Feind in seiner jüngsten Verkleidung, im Apartheidregime die letzten Relikte des westlichen »Imperialismus«, in der Sowjetunion die monströse Missgeburt des kommunistischen Traums. Das entrückte Kuba dagegen, »fernes Paradies« mit seiner noch jungen Revolution, identifizierte sie mit dem humanitären Fortschritt.42 Kuba wurde zu einem entwicklungspolitischen »Schwerpunktland« erklärt, und wenn es in den bilateralen Kontakten an Mahnungen auch nicht gänzlich fehlte, so wurden diese doch zumeist wohlwollend drapiert. Die Karibikinsel zu unterstützen bedeutete für die Regierung den Uyls, zentrifugale Bewegungen im sozialistischen Lager zu stimulieren, »egalitär« regierte Entwicklungsländer zu stärken und amerikakritischen Tendenzen im Staatensystem Auftrieb zu verschaffen. So ließ sich ein außenpolitischer Wertewandel dokumentieren, der in der Dritte-Welt-Bewegung seit längerem vor­ gedacht war. Mit alledem schrieben die USA und die Niederlande Menschenrechte jedenfalls unübersehbar in ihr außenpolitisches Handeln ein. Die britische Regierung unter James Callaghan nahm Menschenrechte im Unterschied dazu stärker zurück. Im äußersten Fall ergriff sie folgenreiche Eigeninitiativen. Dafür stand etwa ihr Umgang mit dem genozidalen Regime Pol Pots in Kambodscha. Der neue Außenminister Owen hatte die außenministeriellen Beamten angewiesen, die Menschenrechtssituation in allen Ländern der Welt zu klassifizieren, und Kambodscha landete dabei in der sogenannten untersten Gruppe. Folglich begann die für Südostasien zuständige Abteilung, Gedanken zu entwickeln, wie man auf die Verbrechen reagieren könne.43 Ende 1977 billigte Owen dann den Vorschlag, alle verfügbaren Informationen über die kambodschanischen Verbrechen zusammenzustellen und auf dieser Grundlage ein Vorgehen in der UN-Menschenrechtskommission anzuregen.44 Damit hatte Großbritannien die einzige nennenswerte Initiative gegen die Verbrechen der Roten Khmer angestoßen, die sich in der internationalen Politik überhaupt regte. Doch war dies eher eine Ausnahme, und der neue moralpolitische Impetus blieb aufs Ganze gesehen begrenzt. Der Menschenrechtsschutz bildete zu keinem Zeitpunkt eine Hauptstoßrichtung der Außenpolitik und verlieh der auswärtigen Praxis der Labour-Regierung keine eigene Signatur. Sie agierte fast nie voraus­greifend, indem sie etwa ihren Beziehungen zu erwiesenermaßen repressiven Staaten von vornherein eine kritische Wendung gab. Ihr Vorgehen blieb stark anlassgebunden. Sie verschärfte den Kurs erst dann, wenn akute Verschlechterungen zu beobachten waren oder sich aufsehenerregende Verbrechen ereigneten. Das galt etwa für die Haltung gegenüber Südafrika, die die Briten 42 Vgl. ebd., S. 179–204; Aarsbergen, Verre paradijzen. 43 Vgl. NAK , FCO 15/2348, A. M. Simons an A. E. Donald, 31.8.1977. 44 Vgl. NAK , FCO 15/2341, A. M. Simons: Violations of human rights in Cambodia, 9.1.1978.

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verschärften, nachdem Pretoria 1977 die Black Consciousness-Bewegung blutig hatte verfolgen lassen, oder für die kritische Entschlossenheit, die sie der sowjetischen Führung nach den Dissidentenprozessen von 1978 zu demonstrieren versuchte.45 Überdies setzte die britische Regierung in den Fällen, in denen sie auf den Plan trat, konsequent auf ein multilaterales Vorgehen. Im Rahmen der EWG bemühte sie sich zuweilen darum, die europäischen Partner mitzuziehen. So alarmierte sie die Gemeinschaft über die Terrorherrschaft Idi Amins in Uganda und drängte auf entwicklungspolitische Sanktionen.46 Manchmal agierten die Briten aber auch als Bremser, etwa wenn sie alles daran setzten, die EWG von ökonomischen Strafmaßnahmen gegen Südafrika abzuhalten.47 Somit stellte das Forum der Vereinten Nationen letztlich das wichtigste Handlungsfeld der britischen Menschenrechtspolitik dar. Die Durchschlagskraft des britischen Einsatzes gegen ausländische Staatsverbrechen stand und fiel folglich damit, welche Ergebnisse sich in den UN-Verhandlungen erzielen ließen – und diese Ergebnisse waren selten sehr weitreichend. Zumeist sorgten die Mechanismen innerhalb der Weltorganisation dafür, dass die britischen Ambitionen schnell an Grenzen stießen. Das zeigte sich gerade in den beiden Fällen, in denen sich die Briten am stärksten engagiert hatten. Denn sowohl in Kambodscha als auch in Uganda blieben die Vereinten Nationen weitgehend wirkungslos.48 In der Außenpolitik der Bundesregierung schließlich spielten Menschenrechte die vergleichsweise farbloseste Rolle. Menschenrechtliche Erwägungen stellte sie vor allem dann an, wenn sie glaubte, es nicht vermeiden zu können. Somit betrieb sie zumeist eine reaktive Politik. Am meisten exponierte sich die Regierung in ihrem Umgang mit der chilenischen Militärdiktatur. Sie äußerte ihr Missfallen über den gewaltsamen Sturz Salvador Allendes und die brutale Verfolgung vermeintlicher oder tatsächlicher politischer Feinde. Dem ließ sie sogar Taten folgen, indem sie bereits zugesagte Entwicklungshilfe einfror – es war überhaupt erst das zweite Mal, dass eine Bundesregierung einen solchen Schritt unternahm.49 Dass sich die Bundesrepublik in diesem Fall weiter vorwagte als gewöhnlich, lag daran, dass Chile nichts aufbieten konnte, was das Land wirtschaftlich oder geostrategisch unentbehrlich gemacht hätte. Überdies folgte die Positionierung der Bundesregierung eben nicht ausschließlich einer humanitären Logik, sondern in erster Linie einer Logik der politischen Gegnerschaft. 45 Vgl. NAK , FCO 45/2115, Background Note, South Africa, o. Dat. [wohl Ende 1977]; ebd., FCO 28/3527, K. B. A. Scott: Western Reaction to Human Rights Violations in Soviet Union, 25.5.1978. 46 Vgl. NAK , FCO 58/1146, Human Rights and Foreign Policy: Progress Report, o. Dat. [wohl Herbst oder Ende 1977]. 47 Vgl. NAK , FCO 45/2443, R. T. Fell an Bonn, Study of measures, o. Dat. [1978]. 48 Vgl. zu Uganda etwa NAK , FCO 58/1176, UKMIS an FCO, 14.3.1977; zu Kambodscha ebd., FCO 58/1411, B. Smith: UK Initiative on Cambodia, 4.10.1978. 49 Vgl. Aufzeichnung Ministerialdirektor Lautenschläger, 22.3.1976, in: Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1976, II, München 2007, S. 402–409.

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Die deutschen Sozialdemokraten hatten Allendes sozialistisches Experiment offiziell gutgeheißen, und die sozial-liberale Koalition war Chile nicht zuletzt finanziell stark entgegengekommen. SPD -Abgeordnete hatten zudem die Radikale Partei, das chilenische Mitglied der Sozialistischen Internationale, unterstützt, und nach dem Umsturz engagierten sie sich dann besonders nachdrücklich dafür, Angehörige dieser Partei vor Misshandlung zu bewahren.50 Der Einsatz für die Opfer des Regimes bedeutete also auch, weltanschaulich nahestehenden Politikern zu helfen. Dass sich die Bundesregierung in den späten 1960er und den 1970er Jahren menschenrechtspolitisch ansonsten stark zurückhielt, war unterschiedlich bedingt. Gegenüber dem griechischen Militärregime sah sie Vorsicht ge­boten, weil Griechenland ein wichtiger NATO -Partner war.51 Zwar stoppte sie bald die Militärhilfe, doch glaubte sie kurze Zeit darauf, moderatere Offiziere würden innerhalb des Regimes an Einfluss gewinnen und hielt es daher für geboten, sich dem Land wieder anzunähern. Als Griechenland schließlich aus dem Europarat austrat, weil es danach aussah, als sollte seine Mitgliedschaft wegen der Menschenrechtsverletzungen suspendiert werden, setzte das Auswärtige Amt seinen Verständigungskurs verstärkt fort. Im Verhältnis zu Südafrika spielten die blühenden Wirtschaftsbeziehungen eine wesentliche Rolle.52 Am Ende der 1960er Jahre setzte sich das Diktum Willy Brandts, »Handel und Politik nicht ohne Not koppeln«, als außenpolitische Verhaltensmaxime durch. »Wir machen unsere Beziehungen zu anderen Ländern nicht davon abhängig«, so fasste der Außenminister die Orthodoxie zusammen, »ob uns ihre Regierungsform zusagt«.53 Als die Kritik am Apartheidsystem Anfang der 1970er Jahre im In- und Ausland immer stärker anschwoll, wuchs im Außenministerium das Bewusstsein, dass gute Beziehungen zu Südafrika nur um den Preis einer moralischen Selbstisolierung in der internationalen Gemeinschaft zu haben seien. Nennenswerte Konsequenzen zog die Regierung daraus allerdings vorerst nicht. Das Regime des persischen Shahs Reza Pahlavi schließlich nahm die Bundesregierung von Kritik weitgehend aus, weil der Iran als Öllieferant wichtig und, seit dem Beginn der Ölkrise, geradezu in eine Schlüsselposition gerückt war. Bundeskanzler Brandt sprach die Menschenrechtssituation bei einem Besuch 1972 lediglich für das Protokoll an. Sein Nachfolger Helmut Schmidt tat auf einer Reise in den Iran drei Jahre später nicht einmal das.54

50 Vgl. zu alledem: Bericht der Bundesregierung über die Lage in Chile, 19.9.1973, in: Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1972–1976, Erster Halbband, Düsseldorf 2010, S. 289–304; Aufzeichnung des Vortragenden Legationsrats I. Klasse Marré, 29.11.1974, in: ebd., S. 1529–1537; Parteitag der SPD vom 11. bis 15. November 1975 Mannheim. Protokoll der Verhandlungen, Bonn 1976, S. 1228 f. 51 Vgl. Rock, Macht, S. 45–119. 52 Vgl. ebd., S. 121–182. 53 Zitiert nach ebd., S. 145. 54 Vgl. ebd., S. 183–216.

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Nun waren einträgliche Wirtschaftsbeziehungen und wichtige Bündnispartnerschaften auch für die anderen westlichen Staaten Hemmfaktoren, gerade auch im Verhältnis zu den drei genannten Ländern. Sie ließen auch menschenrechtspolitisch entschlossenere Regierungen wie die amerikanische oder die niederländische davor zurückschrecken, zu den äußersten Maßnahmen zu greifen. Doch verdammte sie das eben nicht im gleichen Maße zur Untätigkeit wie die Bundesrepublik. Tatsächlich war die westdeutsche Regierung besonders stark darauf bedacht, die bilateralen Beziehungen nicht durch humanitär begründete Proteste zu belasten.

III. Schluss Die Initiativen, die westliche Regierungen in den 1970er Jahren ergriffen, hatten zur Folge, dass sich Menschenrechtspolitik als ein scharf umrissenes Feld der bilateralen Beziehungen zu etablieren begann. Dieser Prozess, so macht die Analyse deutlich, vollzog sich jedoch nicht isoliert. Er führt im Gegenteil mitten hinein in einen breiteren Wandel, der die westliche Außenpolitik in diesen Jahren zu erfassen begann. Reduziert man die Geschichte der Entstehung und Umsetzung menschenrechtlicher Leitbilder abschließend auf ihren abstrakten Kern, so spiegeln sich in ihr vier Basisprozesse, die die Voraussetzungen und Formen des auswärtigen Staatshandelns tiefgreifend umgestalteten. Die Regierungen formulierten ihre menschenrechtspolitischen Aspirationen auch, um den Forderungen von Interessengruppen und betroffenen Einzelnen nachzukommen. Darin zeigte sich, erstens, dass die Außenpolitik für gesellschaftliche Anliegen und Problemwahrnehmungen durchlässiger wurde. Dass sich beide Sphären stärker verzahnten, bedeutete eine fundamentale Verschiebung in der Politik der 1960er und 1970er Jahre. Sie erstreckte sich auch auf andere Themenfelder wie den Humanitarismus, die Entwicklungs- oder die Umweltpolitik, prägte gerade den menschenrechtspolitischen Aufschwung aber besonders stark. Diesem Prozess konnte sich auch die Bundesrepublik nicht entziehen. Die westdeutsche Regierung sah sich, ebenso wie die anderen, gezwungen, dem gesellschaftlichen Protest in ihrer Außenpolitik mindestens symbolisch Raum zu geben. Die westlichen Regierungen begannen aber auch deshalb, Menschenrechtsverletzungen zu einem Kriterium ihrer bilateralen Beziehungen zu machen, weil sie das auswärtige Handeln auf einen neuen Grad der weltweiten Verflochtenheit einstellen wollten. Es galt, die Außenpolitik für die Herausforderungen eines, wie es den Verantwortlichen schien, neuen Zeitalters der internationalen Beziehungen zu wappnen. Darin lag eine zweite wichtige Veränderung. In dieser Dimension, das sollte man nicht übersehen, folgte Menschenrechtspolitik also gar nicht humanitären oder idealistischen Impulsen. Sie war vielmehr strikt sach­ logisch begründet, als ein Versuch, die außenpolitische Steuerungsfähigkeit aufrecht zu erhalten.

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Drittens bemühten sich die Regierungen mit erheblicher intellektueller und politischer Energie darum, die Grundlagen ihrer politischen Legitimität zu renovieren. Waren diese auch aus national recht unterschiedlichen Gründen löchrig geworden, so lautete die Konsequenz einmütig, es sei nötig, das staatliche Auftreten in der Welt auf ein Fundament moralischer Prinzipien zu stützen. Diese beiden letztgenannten Prozesse scheinen sich in der Bundesrepublik deutlich weniger ausgewirkt zu haben. Auch wenn hier Forschungsbedarf bleibt, zeichnet sich doch ab, dass die entscheidende Umstellung der westdeutschen Außenpolitik im ostpolitischen Aufbruch der späten 1960er und frühen 1970er Jahre lag. Bedeutete dieser Aufbruch einerseits, von den langen 1950er Jahren aus betrachtet, eine epochale Zäsur, so brachte er andererseits mit sich, dass die Bundesrepublik den Schritt zu einer »post-Cold War foreign policy«, den andere Staaten machten, nicht mitging.55 Für sie blieben die Parameter der Systemauseinandersetzung, für sie blieb nicht zuletzt das deutsch-deutsche Verhältnis bestimmend, wenngleich nicht länger in dem konfrontativen Modus, der die ersten Nachkriegsjahrzehnte dominiert hatte, sondern in der entspannungspolitischen Form einer langfristigen Annäherung. Wie immer die Regierungen den Menschenrechtsgedanken auch praktisch umsetzten, ob er prominent war oder nachgeordnet, ob missionarisch auf­ geladen oder nicht, ob er in effektiven Druck mündete oder in leere Gesten: Für alle Regierungen verkomplizierte der menschenrechtliche Ansatz das auswärtige Handeln beträchtlich. Das war ein vierter wichtiger Prozess. Die politische Lebenssituation ausländischer Bürgerinnen und Bürger in das außenpolitische Kalkül einzubeziehen provozierte Zielkonflikte – zwischen humanitären Ambitionen einerseits und wirtschaftlichen Verbindungen, Ressourcenbedarf, strategischen Notwendigkeiten, entwicklungspolitischen Prioritäten, kulturellen Kooperationen andererseits. Überdies schuf Menschenrechtspolitik zusätzliche Spannungsquellen. Proteste gegen Repressionen in der Sowjetunion gefährdeten die Entspannungspolitik, Kritik an der politischen Unterdrückung in Ländern des globalen Südens rief Neokolonialismus-Vorwürfe hervor. Schließlich brachte das Bekenntnis zum weltweiten Menschenrechtsschutz neue Glaubwürdigkeitsprobleme mit sich. Es ließ sich nicht annähernd in allen Fällen gleichermaßen umsetzen, und doch war gerade das universalistische Versprechen, sich um Unrecht überall auf der Welt zu kümmern, ganz gleich welcher Staat es beging, ein entscheidender Kern der legitimatorischen Erneuerung, um die sich die Regierungen mit ihrer Menschenrechtspolitik bemühten. Daher brachen politische Gegner im Ausland  – aber auch im Inland  – zornige Diskussionen über die »Selektivität« des menschenrechtspolitischen Vorgehens vom Zaun, die sich kaum wegdiskutieren ließ.56 Doch fanden skeptische Beobachter noch wei55 Auf Carter gemünzt, findet sich der Begriff etwa bei Brinkley, Rising Stock, S. 523. 56 Vgl. zur amerikanischen Debatte: Lefever, Morality; Schlesinger, Human Rights; Muravchik, Uncertain Crusade. Als interne Bilanz der Regierung vgl. Bloomfield, The Carter Human Rights Policy.

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tere Nahrung: Manche menschenrechtspolitische Maßnahmen erschöpften sich nach einiger Zeit, andere waren die Regierungen nicht bereit zu ergreifen, wieder andere hatten politische Effekte, waren aber öffentlich nicht sichtbar.57 Menschenrechtspolitik war denkbar offen für Kritik – sowohl von politischen Akteuren, denen sie zu weit ging, als auch von solchen, denen sie nicht weit genug ging. Beides kam sogar oft zusammen, ob nun im Fall Chiles, Südafrikas oder der Sowjetunion. All das musste mindestens ansatzweise auch die Bundesregierung erfahren, die sich auch dadurch nicht prinzipiell schützen konnte, dass sie darauf bedacht war, äußerst zurückhaltend zu agieren. In der Etablierungsphase der 1970er Jahre machten Menschenrechte den zwischenstaatlichen Verkehr schwieriger überschaubar, schwieriger kontrollierbar, sie führten neue Irritationen und Dilemmata in ihn ein. Am Ende bestand darin, jenseits des moralpolitischen Bemühens um grenzübergreifenden Schutz und der zukunftsgerichteten Suche nach globalen Problemlösungen, die wohl grundlegendste Veränderung, die das neue Politikfeld mit sich brachte.

57 Vgl. etwa für die amerikanischen Beziehungen zu Südkorea: JCPL , NSA 6 Brzezinski Material, Country File, Box 43, Donald Fraser an Richard Moe, 1.4.1977; ebd., Fraser an Brzezinski, 11.4.1977; ebd. Mike Armacost, Memorandum for Brzezinski, 20.4.1977.

Arbeit und sozialer Wandel: Transnationale Prozesse, nationale Spezifika und die Rolle der Akteure

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Industriearbeit(er) nach dem Boom Bundesrepublikanische Entwicklungen im westeuropäischen Vergleich

I.

Westeuropäischer Industriekapitalismus »nach dem Boom«: Arbeitswelten und Arbeitsbeziehungen in der Makroperspektive der Politischen Ökonomie

Die »alten« Industrien, ihre Arbeiter, Techniker und Ingenieure gehörten zu den Verlierern des krisenbeschleunigten Strukturwandels, den Westeuropas produzierendes Gewerbe in den 1970er und 1980er Jahren erlebte. Spätestens mit den Revolutionen von 1989 und dem Zusammenbruch der schwerindustriellen Sektoren der sozialistischen Planwirtschaften in der Transformationsphase vollzogen, so die gängige Position der Zeithistoriker, Europas »Industriegesellschaften« den »krisenhaften« Übergang zu sogenannten Dienstleistungsgesellschaften: Großbritannien ist das extremste Beispiel, weil dort der »Übergang« der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung und Beschäftigung vom sekundären zum tertiären Sektor so tiefgreifend war. Nicht nur war bis 1960 die Mehrzahl der Briten in der Industrie beschäftigt, sondern zugleich hielt dieser industrielle Sektor einen stolzen Anteil von 16,3 Prozent des Welthandels mit Industriegütern (1960). Der Absturz war entsprechend tief: 1990 war der britische Anteil am internationalen Austausch von Industriegütern auf 8,4 Prozent gesunken, zwischen 1966 und 1994 nahm die Zahl der industriell Beschäftigten um mehr als die Hälfte von 8,5 auf 4 Mio. ab.1 Andersherum: Großbritannien, das Mutterland der »Industriellen Revolution« hat nach langer krisenhafter Stagnation seiner alten Industrien in den letzten zwei Jahrzehnten des 20.  Jahrhunderts den Sprung in die neue Entwicklungsphase fortgeschrittener Volkswirtschaften »geschafft«: Es war zu einer ›modernen‹ Dienstleistungsgesellschaft mit einem international führenden Finanzdienstleistungssektor geworden. So lautete die regierungsamtliche Lesart, die wiederum von zahlreichen Ökonomen bestätigt wurde. Die Transformationen der übrigen westeuropäischen Länder weisen bei weitem nicht so spektakuläre Umbrüche aus, folgen aber dem gleichen Trend. Überall verlor der industrielle Sektor relativ an Gewicht, und vielerorts gingen auch die Beschäftigtenzahlen in diesem Sektor zurück. Viele der in der Industrie Entlassenen fanden nur mühsam oder gar keine neue Stelle mehr; die Arbeitslosenquoten in Westeuropa stiegen seit den späten 1970er Jahren entsprechend an. 1 Zahlen in Turner, Economy, S.1.

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Gleichzeitig aber vollzogen die westeuropäischen Gesellschaften einen tiefgreifenden Wandel in ihren Zukunftsorientierungen: Sie verabschiedeten sich von ihren industriellen Zukünften, die um 1970 noch die kollektiven Fantasien beflügelten, und entwarfen sich neu als Dienstleistungsgesellschaften. Daran beteiligt waren viele, vorneweg Sozialwissenschaftler, Politikberater und Journalisten. Prompt setzte eine Selbsthistorisierung der Industriegesellschaft als eine abgeschlossene »Phase« der westeuropäischen »Moderne« ein: Die Einrichtung bzw. der Ausbau von Museen und Denkmälern der ersten Industrialisierung, die Musealisierung ganzer Regionen begleiteten den Strukturwandel. Kulturell kam das einer Aufwertung bislang eher vernachlässigter Aspekte der industriellen Alltagskultur und ihrer vielen Helden gleich, mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft der westeuropäischen Gesellschaften gehörte Industrie eindeutig zu dem nicht mehr Zeitgemäßen. Auf kaum einem anderen Feld wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung Westeuropas während der letzten fünfzig Jahre scheinen also die Trendbefunde so eindeutig und einheitlich wie auf dem Gebiet der industriellen Arbeit. Deindustrialisierung, definiert als absoluter und/oder relativer Rückgang des industriellen Sektors (in Beschäftigung und Wertschöpfung) im Vergleich zum Bereich der Dienstleistungen,2 gehört im westlichen Europa zu den historischen Basisprozessen, die im einzelnen graduell oder disruptiv verlaufen konnten, sich jedoch wechselseitig verstärkten zu jenem »Strukturbruch nach dem Boom«, der die Jahrzehnte seit 1970 zur Vor-und Problemgeschichte unserer Gegenwart machen.3 Die sozialgeschichtliche Beschäftigung mit diesem Basisprozess hat in den letzten Jahren zahlreiche Anregungen aus den Nachbardisziplinen erhalten. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass in Wirtschaftswissenschaften und Soziologie der historischen Genese gegenwärtiger Problemlagen größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Für den Zeithistoriker lohnt es sich also, sich mit diesen Modellen, voran mit politökonomischen Ansätzen sozialwissenschaftlicher Provenienz auseinanderzusetzen. Dies hängt ganz wesentlich mit der Wiederentdeckung des Forschungsgegenstands »Kapitalismus«4 zusammen. Sie beschert dem »Varieties of capitalism«5Ansatz unter Zeithistorikern neue Aufmerksamkeit, macht aber auch die PostFordismus-Modelle der Regulationstheorie6 und jüngst die dezidiert historisch argumentierenden Ansätze von Wolfgang Streeck7 und anderen Soziologen zu wichtigen Bezugspunkten der zeithistorischen Debatte. Vieles spricht für die Ausgangshypothese, dass mit der Etablierung des »Finanzmarkt-Kapitalismus« 2 Diese Definition folgt Turner, Economy, S. 10. 3 Reitmayer/Schlemmer, Anfänge; Doering-Manteuffel/Raphael, Boom. 4 Kocka, Geschichte. 5 Hall/Soskice, Varieties. 6 Boyer/Saillard, Régulation Theory. 7 Streeck, Re-forming.

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ein neues Kapitel in der Geschichte des Kapitalismus begonnen habe.8 Die Institutionalisierung internationaler Finanzmärkte führte zu neuartigen Verwertungsbedingungen vor allem für Großunternehmen, veränderte gleichzeitig die Spielräume und Rahmenbedingungen nationalstaatlichen Handelns und internationaler politischer Regulierung von Märkten. Der Weg zur Etablierung einer solchen neuen historischen Phase des Kapitalismus steht denn auch für zahlreiche aktuelle polit-ökonomische Modelle im Mittelpunkt des Interesses. Die Aufmerksamkeit gilt dabei der politisch-rechtlichen Regelung der Arbeitsmärkte und industriellen Arbeitsbeziehungen, Form und Ausmaß der kollektiven Organisation von Kapital und Arbeit, den sozialpolitischen Rahmenbedingungen und Kosten kapitalistischer Unternehmungen und den Verflechtungen der Kapitalinteressen, insbesondere von Banken und Großunternehmen.9 Auf internationaler Ebene wird dabei ein eindeutiger Trend hin zur Freisetzung von Kapitalvermögen und Unternehmen aus marktfernen korporativen Bindungen und eine Machtverschiebung zu Lasten von Gewerkschaften und nationalstaatlichen Akteuren festgestellt. Die Pfadabhängigkeiten der »varieties of capitalism« scheinen nicht zuletzt auch unter dem Einfluss der neuen technologischen Bedingungen kapitalistischer Produktion erodiert zu sein. An die Stelle der alten Modelle, so die These etwa Streecks und vieler anderer Sozialwissenschaftler, sind neue regionale oder nationale Varianten eines international vernetzten Finanzmarktkapitalismus getreten. Die »Besonderheiten« der bundesrepublikanischen Variante des »digitalen Finanzmarktkapitalismus« seit Mitte/Ende der 1990er Jahre lassen sich, so die hier aufgenommene polit-ökonomische Arbeitshypothese, besser verstehen, wenn man die Spezifika dieser Übergangsperiode »nach dem Boom« analysiert hat.10 Blickt man als Zeithistoriker industrieller Arbeit in (West)Europa auf die letzten drei Jahrzehnte des 20.  Jahrhunderts, so drängen sich grundsätzlich zwei Perspektiven auf, die jeweils von makroökonomischen oder -soziologischen Modellen beeinflusst sind. Zum einen kann man versuchen, die Vorgeschichte gegenwärtiger Problemlagen und Konstellationen zu entdecken: Wichtige Trends auf dem Weg in die sogenannte Dienstleistungsgesellschaft waren schrumpfende Beschäftigtenzahlen in der Industrie, eine weiter wachsende Zahl von Arbeits8 Windolf, Finanzmarkt-Kapitalismus. 9 Siehe Ahrens, Deutschland AG ; Streeck, Re-forming, S. 33–148. 10 Das Datum 1998 böte sich als symbolisches Anfangsjahr der neuen Ära des digitalen Finanzmarktkapitalismus als des dominanten polit-ökonomischen Rahmens für die BRD an: Der Vollzug weiterer finanzkapitalfreundlicher Regulierungen nach den Prinzipien des Washington Konsensus und der neuen Doktrinen von New Labour durch die rotgrüne Regierung räumte wichtige politisch-rechtliche Barrieren für die Durchsetzung eines nunmehr den rheinischen Kapitalismus ablösenden Regulierungsmodells des digitalen Finanzmarktkapitalismus beiseite. Aber man darf nicht vergessen, dass bereits seit 1994/95 sich Veränderungen auf den unterschiedlichsten Ebenen häuften, welche eine solche Verschiebung hin zu einem sich wechselseitig verstärkenden Sog der Regulierung und Neuorganisation bewirkten; zum europäischen Kontext siehe Ther, Ordnung.

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plätzen im öffentlichen Sektor (v. a. Verwaltung und Bildung), im Bereich privater Dienstleistungen sowie dem boomenden Gesundheitssektor. Begleitet wurden diese Verschiebungen in der sektoralen Beschäftigungsstruktur von der wachsenden Kluft zwischen prekärer bzw. schlecht bezahlter Arbeit für unqualifizierte Dienstleister und Hoch- und Höchstlöhne für akademisch qualifizierte Professionals. Vor allem die gegenwartsbezogenen Disziplinen, voran eine kritische Soziologie, geht im Augenblick diesen Weg, darin gefolgt von Zeithistorikern, die sich an die intellektuellen und politisch-moralischen Erträge einer litterature engagée erinnern.11 Zu entdecken gibt es hier vieles bislang Übersehenes: die Etablierung prekärer, schlecht bezahlter Jobs für Frauen in den verschiedensten Dienstleistungsbranchen,12 die Kontinuität (prekärer) Niedriglohnsektoren und deren Weiterentwicklung bis hin zu ihrer arbeits- und sozialrechtlichen Entfesselung seit der Mitte der 1990er Jahre und dann im Zuge der HartzReformen.13 Aber die Ergebnisse dieser Suche sind im Fall der Bundesrepublik für den Zeitraum zwischen 1975 und 2000 begrenzt. Sie zeigen primär, dass mit der Feminisierung der Arbeitswelten jenseits der Industrie auch die Sektoren der Prekarität wuchsen, während in der schrumpfenden Welt der industriellen Arbeit hohe Löhne und eher stabile bzw. sinkende Einkommensgefälle bis zum Ende des 20.  Jahrhunderts die Statistik prägten. Für die Bundesrepublik Deutschland erscheint die Archäologie der Gegenwartskrise in den Jahrzehnten vor 1995 deshalb weniger aussichtsreich als für andere kapitalistische Länder, auch in Westeuropa, wie gleich zu zeigen sein wird. Der vergleichende Blick wird dementsprechend häufig nationale Unterschiede betonen. Zum anderen kann man den Weg einer radikalen Historisierung dieser Übergangsphase »nach dem Boom« gehen, einer Phase, deren Signum in einer solchen Sichtweise eher ihre »Janusköpfigkeit« ist, in der also ältere Strukturen und die klassischen Akteure der Industriegesellschaft (noch) eine große Beharrungskraft besaßen und vielfach die großen Trends (Verlagerung von Industrien in andere Regionen der Weltwirtschaft, voran Asien, wachsende Bedeutung internationaler Märkte, multinationaler Unternehmen und schließlich der Finanzmärkte) eher zu Anpassungen denn zu Umbrüchen führten. Jüngst hat Wolfgang Streeck mit dem suggestiven Bild von der »gekauften Zeit« diese Periode als eine Periode des Aufschubs und des Zeitgewinns für die bundesrepublikanische Gesellschaft und vor allem ihre Demokratie interpretiert.14 Im Folgenden wird für die Bundesrepublik vor allem die Tragfähigkeit dieser zweiten Perspektive geprüft. Doch anders als es Streeck in seinem politökonomischen Makromodell vor allem mit Blick auf die Schuldenkrise der großen westlichen Demokratien und die Macht der internationalen Finanzmärkte als generellen Trend formuliert, handelt es sich nicht, so meine These, um ein schlichtes »Nachhinken« der 11 Priemel, Littérature engagée. 12 Mayer-Ahuja, Wieder dienen lernen. 13 Groh-Samberg, Armut. 14 Streeck, Gekaufte Zeit.

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BRD auf dem Weg in eine neoliberal deregulierte Dienstleistungsgesellschaft mit Demokratiedefizit. Stattdessen öffneten sich auch die Gestaltungsspielräume im Feld der industriellen Produktion. Diese Übergangsphase war dementsprechend von einer zunehmenden Vielfalt von »Produktionskonzepten« und ganz unterschiedlichen betrieblichen Situationen gekennzeichnet. Wenn man die Mikroebene der industriellen Akteure anschaut, also die Handlungsoptionen von Unternehmensbesitzern, Managern, Betriebsräten, Gewerkschaftlern, aber auch Produktionsarbeitern und Ingenieuren untersucht, wird eine industrielle Welt der Experimente, Improvisationen und Unsicherheiten sichtbar Die Rezessionen, Konjunkturschwankungen, technologischen Innovationen und die Etablierung neuer Informationstechnologien verdichteten sich ökonomisch für diese Akteursgruppen mit ganz unterschiedlichen Interessen zu einer zeittypischen Gesamtlage. Sie machte die schlichte Fortsetzung bestehender Produktionsroutinen (sowohl bei den Produkten als auch bei deren Fertigung und Vermarktung) unmöglich und stellte zugleich die etablierten Kompromisse und Handlungsmaxime in den Arbeitsbeziehungen in Frage.

II. Ein zweiter Blick: Ambivalenzen der Deindustrialisierung Die eingangs zitierten Beschreibungen der Deindustrialisierung verbergen mehr als sie offenlegen: Sie verraten viel über die Selbstbeschreibungen, Vergangenheitskonstruktionen und Zukunftsbilder der westeuropäischen Gesellschaften »nach dem Boom«, aber weniger über die tatsächlichen Veränderungen, welche sich in diesen Gesellschaften in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhundert vollzogen. Blickt man genauer hin, so treten erstens Ambivalenzen statt Eindeutigkeiten und zweitens regionale und nationale Differenzen immer klarer hervor. Dies gilt sowohl für die ökonomische als auch für die sozialen Realitäten. Weder lässt sich das Schema eines eindeutigen und einheitlichen »Übergangs« – quasi nach Art des »demographischen Übergangs« – von der Industrie- in die Dienst­ leitungsgesellschaften in ganz Westeuropa beobachten, noch sind die sozialen Begleiterscheinungen der Veränderungen in der industriellen Produktion Westeuropas uniform. Nimmt man die drei immer wieder wegen ihrer historischen Konkurrenz und vergleichbaren Größe gern verglichenen Länder Großbritannien, Frankreich und die Bundesrepublik als Vergleichsfälle, so lässt sich bereits an ihnen zeigen, dass die Veränderungen der industriellen Produktion nur wenig Gemeinsamkeiten aufweisen, obwohl Konjunkturverlauf und Marktentwicklungen gleiche bzw. vergleichbare Problemlagen generierten. In allen drei Ländern standen die verschiedenen industriellen Branchen unter erheblichem Anpassungsdruck angesichts der Entstehung des europäischen Binnenmarktes sowie der wachsenden Konkurrenz europäischer, zugleich jedoch auch neuer außereuropäischer, vor allem ostasiatischer Anbieter. Europäisierung und Globalisierung schufen unter

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den neuen weltwirtschaftlichen Bedingungen nach der Krise 1973/1974 erhebliche Zwänge zu Kostensenkung, Produktivitätssteigerung und Produktinnovation. Aber diese für ganz Westeuropa feststellbare, branchen- und projektspezifische Zunahme des Konkurrenzdrucks führte zu ganz unterschiedlichen Antworten. Hierbei spielten nicht zuletzt die Unterschiede in den währungspolitischen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen eine erhebliche Rolle für die Verschärfung der nationalstaatlichen Differenzen. So vollzog sich in Großbritannien ein auch wirtschaftspolitisch beschleunigter Prozess der Marktbereinigung industrieller Unternehmen, der bereits Mitte der 1980er Jahre in eine regelrechte Deindustrialisierung der gesamten Volkswirtschaft einmündete, deren Ausmaß vor allem vor dem Hintergrund der langen industriellen Tradition der britischen Volkswirtschaft gesehen werden muss. In Großbritannien gingen zwischen 1972 und 1982 1,89 Mio. Arbeitsplätze in der Industrie verloren, das waren 24 Prozent der dort 1972 besetzten Arbeitsplätze. Der Trend hielt auch weitere zehn Jahre an: Bis 1992 verschwanden nochmals 1,457 Mio. Arbeitsplätze (wiederum 24 Prozent), erst in den 1990er Jahren schwächte sich dieser langfristige Trend ab: Zwischen 1992 und 2002 ging die Beschäftigtenzahl im Industriesektor nur noch um 544.000 Beschäftigte zurück (13 Prozent).15 Die britische Industrie schrumpfte in erheblichem Ausmaß, bevor es in einem zweiten Schritt (in den 1990er Jahren) zur Wiederanlage vor allem ausländischen Kapitals in britischen Industrieunternehmungen kam. Kaum eine Industriesparte blieb von dieser Zäsur verschont, nicht nur die sogenannten »traditionellen« oder »alten« Industrien wie Textil, Bergbau, Stahl und Schiffsbau verschwanden, sondern auch typische Branchen des Nachkriegsbooms wie die Automobilbranche und die Konsumgüterindustrie waren von dieser umfassenden Deindustrialisierung betroffen. In Frankreich war der industrielle Sektor niemals so dominant wie in Großbritannien gewesen. Auf dem Höhepunkt der vor allem in der Nachkriegszeit und in der Fünften Republik betriebenen Industrialisierungspolitik waren 38,6 Prozent der Beschäftigten in der Industrie tätig.16 Der industrielle Sektor schrumpfte zwischen 1972 und 1982 deutlich langsamer als nördlich des Ärmelkanals: in Frankreich gingen in diesem Zeitraum 394.000 Arbeitsplätze verloren (7,2 Prozent), dieser Prozess beschleunigte sich aber in den 1980er Jahren (1982–1992:  – 754.000 Arbeitsplätze = 15 Prozent) zwischen 1992 und 2002 dann 401.000 (9,4 Prozent).17 Frankreich nimmt im europäischen Tableau industriewirtschaftlicher Bilanzierung eine mittlere Stellung ein: Nicht zuletzt aufgrund staatlicher Industrie- und Technologie­ 15 Eigene Berechnungen auf der Basis der ILO -Datenbank zur industriellen Beschäftigung. Die dortigen Zahlen beruhen auf amtlichen Schätzungen. 16 Diese Zahl stammt aus dem europäischen Statistikamt. Die entsprechenden (vergleich­ baren) Zahlen für das Jahr 1975 lauten 54,7 Prozent für die Bundesrepublik und 40,4 Prozent für Großbritannien. EC Commission, Employment, S. 117–132. 17 Eigene Berechnungen auf der Basis der ILO -Datenbank zur industriellen Beschäftigung. Ebenfalls amtl. Schätzungen, vgl. auch: Dayan, Emploi, S. 20.

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investitionen kam es dort zu einer sektoral sehr unterschiedlichen Deindustrialisierung. Während die französische Stahlindustrie nach 1982 einen erheblichen Rückgang an Kapazitäten und Arbeitsplätzen hinnehmen musste, blieben die Automobil-, Chemie- und Pharmabranche erhalten. Im Ergebnis vertiefte sich die bereits vor 1970 erkennbare dualistische Struktur der Industrie: auf der einen Seite eine v. a. auch staatliche bzw. mit öffentlichem Kapital ausgestattete Großindustrie, auf der anderen Seite eine vor allem mittelständische Privatindustrie, die weit anfälliger als ihre deutsche Konkurrenz für die internationale Kon­kurrenz war.18 Wie in Großbritannien liegen die relativen Ausgangszahlen industrieller Beschäftigung in der Bundesrepublik höher und auch hier kam es zunächst zu einem dramatischeren Verlust industrieller Beschäftigungsangebote als im weniger industriell geprägten Nachbarland links des Rheins: Zwischen 1972 und 1982 gingen in der Bundesrepublik 1,235 Mio. Arbeitsplätze verloren (= 13,5 Prozent), die Verluste in den 1980er und 1990er Jahren lagen dann bei elf bzw. zwölf Prozent und damit auf einem mit Frankreich vergleichbaren Niveau.19 Wie im Nachbarland kann man bestenfalls von einer Teilkrise des industriellen Standorts, umfassender jedoch von einem beschleunigten und krisengetriebenen Strukturwandel aller Branchen sprechen. Nur wenige Branchen und Standorte verschwanden dabei fast vollständig: Textil, Schiffsbau, Bergbau und Stahlerzeugung sind die am meisten betroffenen Branchen; typisch für die BRD war jedoch, dass andere Branchen wie der Automobilbau, die Chemie-, Pharmaund Maschinenbauindustrie in den 1970er und 1980er Jahren einen tiefgreifenden Umstrukturierungsprozess durchliefen, aber dabei insgesamt ihre Positionen in der sich globalisierenden industriellen Arbeitsteilung stärkten. Offensichtlich haben nationalstaatliche Wirtschafts-, Währungs- und Technologiepolitiken eine Rolle bei der Bewältigung dieses Schrumpfungsprozesses gespielt. Im internationalen Vergleich steht Großbritannien an der Spitze ver­ lorener Arbeitsplätze im industriellen Sektor: absolut und relativ sind dort im Vergleich mit anderen OECD -Ländern die meisten Stellen abgebaut worden. Damit verbunden ist auch die zweite qualitative Besonderheit der britischen Deindustrialisierung: Sie betraf eine Vielzahl von Branchen – weit über den Kern der sogenannten »traditionellen« bzw. »alten« Industrien hinaus. Im Ergebnis wurde die traditionelle Exportstärke der britischen Industrie nachhaltig geschwächt. Auffällig ist auch der Verlauf der Deindustrialisierung. Vor allem während der beiden Rezessionen 1979–1982 und 1989–1993 verschwand der Hauptteil der Arbeitsplätze: Dahinter verbergen sich wirtschaftspolitische Grundentscheidungen der Thatcher Regierung. Die Rezession 1979–1982 wurde durch den Schwenk 18 Vgl. als Überblick: Schild/Uterwedde, Frankreich, S. 138–218; Ferrandon, Vingt ans. 19 Die Vergleichszeiträume der französischen und britischen Datenreihen der ILO können wegen der Wiedervereinigung für die Bundesrepublik nicht herangezogen werden. Eigene Berechnungen auf der Grundlage der der ILO -Datenbank für 1972 und 1982 und des statistischen Bundesamts für 1980, 1990 und 2000.

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zur monetaristisch inspirierten Währungspolitik für viele britische Industrieunternehmen zu einer existenzbedrohenden Krisensituation. Die marktliberale Schocktherapie der konservativen Regierung führte zu einer Marktbereinigung, die Lücken in der nationalen Industriestruktur hinterließ, die in der Folge nicht mehr geschlossen, sondern durch ausländische Importe gefüllt wurden. Die Wirtschaftskrise 1979–1982 war zugleich auch der Beginn eines Rückzugs britischen Kapitals aus industriellen Unternehmungen. Auch hier setzte die britische Regierung selbst die wichtigsten Signale, als sie sowohl die nationale Kohleals auch die Stahlindustrie trotz bereits erheblicher Neuinvestitionen in Produktionsanlagen abwickelte.20 Kurz, in Großbritannien war Deindustrialisierung nicht allein das Ergebnis von Marktentwicklungen, sondern wurde entscheidend vorangetrieben durch strategische Entscheidungen der Wirtschaftspolitik, welche die Zukunft des Landes in Dienstleistungen, vor allem im Bereich der internationalen Finanzwirtschaft sah. Am Ende der 1990er Jahre galt denn auch Großbritannien dem ökonomischen Mainstream als Musterland post-industrieller Ökonomien mit fantastischen Wachstumsraten, sinkenden Arbeitslosigkeit und einer »modernen« Branchenstruktur. Demgegenüber bremste in Frankreich und der Bundesrepublik staatliche Industriepolitik die De-Industrialisierungsprozesse in zentralen Sektoren der Volkswirtschaft ab, indem erhebliche Subventionen in die betroffenen Branchen geleitet wurden. Neben dieser rein defensiven, vielfach nur kurz- bzw. mittel­ fristig wirksamen Abwehr von Werksschließungen bzw. Massenentlassungen investierten die Regierungen beider Länder wiederum erhebliche Summen in die Förderung industrieller Technologieprojekte und unterstützten vermeintliche »Zukunfts«-Technologien aus nationalem ökonomischen Interesse. Insofern erweist sich der allgemeine Trend »Deindustrialisierung« bei näherer Betrachtung bereits als ein Trend, der im Untersuchungszeittraum keineswegs zur Konvergenz in Richtung auf das vermeintliche telos einer post-industriellen Dienstleistungsgesellschaft führte, sondern der die nationalen Unterschiede zwischen den hier betrachteten drei Volkswirtschaften verstärkte. Mit Blick auf die Bundesrepublik, um die es hier hauptsächlich geht, lässt sich bis 1990 bestenfalls von einer sektoralen Deindustrialisierung, also dem Verschwinden spezifischer Sektoren sprechen. Andere Bereiche bleiben am Standort als international wettbewerbsfähige Anbieter erhalten, steigerten ihr Output, bauten aber nur noch in seltenen Fällen ihre Personalbestände aus. Die ökonomische, politische aber auch die soziale Bedeutung der Industrie blieb im Untersuchungszeitraum weiterhin erhalten, ein Tatbestand der sich auch sehr gut an der Aufrechterhaltung der engen Verflechtung von Banken und industriellen Großunternehmen, also der Weiterführung der sogenannten Deutschland AG bis in die späten 1990er Jahre einerseits, der relativen Stabilität gewerkschaft20 Pemberton, Transformation; Wild/Jones, De-industrialization; Bazen/Thirwall, De-industrialization.

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licher Verhandlungsmacht und der Konservierung eines branchenweiten industriellen Tarifsystems andererseits ablesen lässt.21 Abschließend sei auf eine übergreifende Gemeinsamkeit jenseits wirtschaftspolitischer Besonderheiten hingewiesen: überall verschwanden zahlreiche weibliche Arbeitsplätze in der Industrie. Die Geräuschlosigkeit, mit der vor allem angelernte Textilarbeiterinnen, aber auch Arbeiterinnen in der Möbel- oder Nahrungsindustrie in den drei Ländern ihre Arbeitsplätze verloren, ist frappierend und wirft ein grelles Licht auf die anhaltende Diskriminierung von Frauen in den industriellen Arbeitswelten Westeuropas. Sie stellt eine der überraschenden Kontinuitäten langer Dauer dar. Im Ergebnis blieben die schrumpfenden industriellen Arbeitswelten mehrheitlich männlich geprägt – der Anteil weiblicher Beschäftigter nahm sogar ab (in Großbritannien von 1972 29,75 Prozent auf 2002 27,7 Prozent, in der Bundesrepublik von 1976 31,3 Prozent auf 2002 29,5 Prozent, in Frankreich von 1972 31 Prozent auf 2002 ebenfalls 29,5 Prozent).22

III. Deindustrialisierung: das unterschiedliche Beharrungsvermögen von Branchen und Unternehmen Verlässt man nun die Makroebene volkswirtschaftlicher Gesamtbilanzen und schaut genauer auf die Auswirkungen in den verschiedenen Industriebranchen, ergeben sich wiederum interessante Vergleichsergebnisse: – In allen drei Ländern verloren die drei traditionellen Branchen Textil, Stahlproduktion und Kohle ihre wichtige Rolle für die Wirtschaftsleistung des Landes und für die Beschäftigungsstruktur. In Großbritannien und der Bundesrepublik verschwand zugleich auch der regional hoch konzentrierte Schiffsbau als eine weitere traditionell wichtige Branche. Nur für diese Branchen gilt eigentlich das Stereotyp des »Abschieds vom Malochers«. – In allen drei Ländern behaupteten sich die vor allem für den Binnenmarkt produzierenden Branchen: Nahrungsmittelindustrie, (mit Abstrichen) Elektrogerätehersteller, Druck- und Möbelindustrie. – Die in den 1960er und 1970er Jahren boomende Automobilbranche geriet in allen drei Ländern in eine Phase erheblicher Konjunkturschwankungen, in denen es zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung der »Produk­tionskonzepte«, aber auch der Produktpalette und des Marketings kam. Der Ausgang dieses Anpassungsprozesses war denkbar unterschiedlich: Die britische Automobilindustrie verschwand, aber Großbritannien blieb ein wichtiger Standort für die sich internationalisierende Automobilkonzerne, als neben den amerikanischen Konzernen Ford und GM nun auch Nissan, Toyota und BMW dort produzierten. In Frankreich verlor die vor allem auf dem Binnenmarkt erfolgreiche heimische Automobilbranche erhebliche Marktanteile an die japanische 21 Ahrens, Deutschland AG. 22 Eigene Berechnungen nach ILO -Datenbank industrielle Beschäftigung.

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und deutsche Konkurrenz. Die bundesrepublikanische Automobilindustrie behauptete sich deutlich besser und baute erst jetzt ihre international führende Stellung im Hochpreissegment des Marktes vor allem in Konkurrenz zu den japanischen Automobilkonzernen aus. – In allen drei Ländern behaupteten sich die Branchen Chemie, Pharmazie und die Luftfahrtindustrie, letztere nicht zuletzt auch in enger Verbindung mit staatlichen Aufträgen und Direktinvestitionen, die schließlich zur Gründung eines europäischen Großunternehmens führten. – Nur in der Bundesrepublik überstand der Sektor des Maschinen- und Anlagenbaus die Konjunkturkrisen und den verschärften internationalen Wettbewerb. Die britische und französische Konkurrenz verlor erhebliche Marktanteile und viele Unternehmen und Arbeitsplätze verschwanden bereits in der zweiten Ölpreiskrise 1979–1982. – In allen drei Ländern, wichtigen Mitgliedern der NATO, behauptete sich die Rüstungsindustrie nicht zuletzt durch staatliche Aufträge, aber auch Exportgeschäfte. Im Ergebnis kam es also zu einer erheblichen Verschiebung der relativen Gewichte zwischen Branchen in den einzelnen Ländern. In Großbritannien behaup­teten sich vor allem die Konsumgüterindustrien, insbesondere jene Branchen und Unternehmen, die Produkte mittlerer oder niedrigerer »technologischer Dichte« herstellten, während in der BRD die Branchen Chemie, Pharmazie, Maschinenbau und Automobil nunmehr endgültig eine sich bereits in den 1960er Jahren abzeichnende führende Rolle in der Industrieproduktion über‑ nahmen. Ein weiteres Ergebnis der Umbrüche und Neuorientierungen dieser Jahrzehnte kam für einige zeitgenössischen Beobachter überraschend. In allen drei Ländern nahm das Gewicht mittlerer und kleiner Unternehmen für die industrielle Beschäftigungsstruktur zu. Die Ursachen für diese Verschiebungen sind vielfältig. Kleinere und mittlere Unternehmen fanden passende Nischen durch schnellere und geschmeidigere Anpassung an eine sich verändernde Nachfrage. Dies gilt für die Möbel-, Textil- und Bekleidungsindustrie; Branchen mit traditionell hohem Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen gewannen relativ an Bedeutung. Dies gilt etwa für den Maschinenbau in der Bundesrepublik. Drittens schließlich ließen die Managementstrategien der Großunternehmen mit ihren Konzepten der lean production und des outsourcing die Zahl bzw. den Umfang von Zuliefererbetrieben anwachsen. Die Automobilbranche lieferte hier den statistisch sichtbarsten Effekt. In allen drei Ländern arbeiteten am Ende der 1990er Jahre mehr Menschen als zu Anfang der 1970er Jahren in Industriebetrieben mit weniger als 500 Beschäftigten. Welche Auswirkungen dies wiederum für die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen und der Arbeitsbedingungen hatte, ist gerade für die Sozialgeschichte industrieller Arbeit in den drei Ländern von größtem Interesse. Klein- und Mittelunternehmen sind notorisch vernachlässigte Untersuchungs-

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objekte der Industriesoziologie, aber auch die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte tappt hier vielfach noch oder auch dauerhaft im Dunkeln, da die Überlieferungslage generell schlechter ist als im Fall der Großunternehmen. Ein zweites Problem tritt hinzu. Die Vielfalt der »betrieblichen Sozialordnungen« ist erheblich und macht auch vor Branchengrenzen nicht halt. Dieser von Herrmann Kotthoff in die industriesoziologische Debatte eingeführte Begriff bezeichnet das Ensemble von sozialen Beziehungen zwischen Unternehmern und Beschäftigten eines Betriebs, welche die formalen Kontroll- und Herrschaftsmechanismen bzw. Produktionsverhältnisse in einem »spannungsreichen Wechselspiel«23 in konkrete soziale Realität übersetzen. Die breit angelegten Studien von Herrmann Kotthoff haben für die späten 1980er Jahre für die alte Bundesrepublik unterschiedliche Sozialordnungen in Betrieben verschiedenster Größe und unterschiedlichen Branchen (u. a. Metall, Chemie, Möbel, Textil/Bekleidung, Holz, Nahrung und Fahrzeugbau) in unterschiedlichen Regionen untersucht.24 Die Befunde dieser Studien zeigen ein enormes Spektrum konkreter Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbeziehungen in den Unternehmen, unabhängig von den ihrerseits erheblichen Differenzen in den Marktlagen, Gewinnspannen und Produktionsformen der Betriebe. Für die zeithistorische Betrachtung sind jedoch einige übergreifende Tendenzen bzw. Problemkonstellationen aufschlussreich. Erstens waren viele der Betriebe unternehmergeführte Familienbetriebe, in denen es zu einem Generationenwechsel in der Unternehmensleitung kam. Daraus resultierten meist Veränderungen in den betrieblichen Sozialordnungen, zuweilen auch energische Anpassungen an neue Marktlagen mit Umstellung der Produktpalette, technologischen Innovationen in der Produktion und/oder Veränderungen der sozialen Betriebsorganisation. Zweitens musste sich die Mehrheit der Unternehmer mit dem Tatbestand arrangieren, dass die Belegschaften über gewerkschaftlich beratene und besetzte Betriebsräte Einfluss auf Entscheidungen nahmen. Die Frage der Mitbestimmung bzw. institutionell regulierter Kooperation war in westdeutschen Unternehmen seit Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 auch für Unternehmen dieses Typs und dieser Größe relevant geworden. Auch darauf reagierten die untersuchten Unternehmen ganz unterschiedlich, aber auffällig ist, dass ein relevanter Anteil vom paternalistisch geprägten »Herr im Haus«-Standpunkt abrückte bzw. abrücken musste und im Laufe der 1970er/1980er Jahre unterschiedliche Formen der betrieblichen Kooperation eingeführt wurden. Während Mitte der 1970er Jahre nur in einem Drittel der untersuchten Betriebe ein funktionsfähiger Betriebsrat anzutreffen war, war dies am Ende der 1980er Jahre in zwei Dritteln der Unternehmen der Fall.25 Diese Befunde zeigen Trends, dies sei nochmals betont, die erst noch einer systematisch vergleichenden Untersuchung bedürfen, aber mit aller Vor23 Kotthoff, Betriebsräte, S. 24 24 Ebd. und Kotthoff/Reindl, Soziale Welt. 25 Kotthoff, Betriebsräte, S. 39–41.

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sicht hier in vergleichender westeuropäischer Perspektive aus gedeutet werden sollen.26 Der gleiche Trend hin zu industriellen Betrieben kleinerer und mittlerer Größe produzierte – soweit erkennbar – in Frankreich und Großbritannien keineswegs dieselben Folgen. Während die Frage des Generationenwechsels im Management sich in beiden Ländern in ähnlicher Weise stellte, verschoben sich mit Blick auf betriebliche Mitbestimmung und Kooperation die Gewichte in beiden Ländern schneller und eindeutiger als im westdeutschen Fall zugunsten der Unternehmensleitungen. Gerade in Unternehmen dieser Größenordnung verloren Gewerkschaften in beiden Ländern während dieser Jahrzehnte an Einfluss. Die Einbeziehung von Beschäftigten erfolgte vor allem informell und individualisiert. Für Großbritannien wie Frankreich verstärkten insofern diese Verschiebungen in den betrieblichen Größenklassen den Gesamttrend hin zur Schwächung von Gewerkschaften. In Frankreich wurde der Unterschied zwischen den institutionell verankerten gewerkschaftlichen Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechten in privaten und öffentlichen Unternehmen (in der übergroßen Mehrzahl Großunternehmen) weiter vertieft. Pointiert formuliert ließ sich das in der Arbeitskampfkonjunktur der frühen 1970er Jahren so moderat erscheinende Modell betrieblicher Mitbestimmung der bundesdeutschen Industriegewerkschaften erheblich leichter auch unter den verschärften Konjunkturlagen seit 1979 noch auf Klein- und Mittelbetriebe ausweiten als die weniger auf institutionalisierte Kooperation denn auf Gegenmacht und eigene Unabhängigkeit setzenden Gewerkschaftsstrategien in Frankreich und Großbritannien.

IV. Krise und Wandel von Industrieregionen Die Ballung sozialer Problemlagen in einzelnen Stadtteilen, schließlich die Häufung von Exklusionsrisiken wie Arbeitslosigkeit und schlechter sozialer Versorgungslage in ganzen Regionen gehört zu den sichtbarsten Erbschaften der Deindustrialisierung »nach dem Boom«. In Großbritannien leitete die Krise 1979–1982 einen lang anhaltenden Niedergang der Industrieregionen des nördlichen und nordwestlichen England, in Wales und Schottland ein. Deindustrialisierung bedeutete, dass die regionalen Arbeitslosenzahlen, insbesondere der Anteil von Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit, markante Unterschiede aufwiesen und auf den Arbeitsmärkten erst in den 1990er Jahren eine Wiederannäherung der regionalen Situationen zu beobachten war. Häufig blieben im Norden und Nordwesten Großbritanniens nur Enklaven des Wirtschaftswachstums und der Vollbeschäftigung erhalten, während der Süden und Südosten Englands »Gewinner« der Entwicklungsdynamik waren: Hier entstanden die meisten der neuen Arbeitsplätze in den Finanzdienstleistungen, der Verwaltung und den medizinisch-pharmazeutischen Branchen und Berufsfeldern. Die zweitgrößte 26 Britische Befunde in: Greene, Lost Narratives; Gallie, Employment Regimes; Millward, All Change at Work; zu Frankreich siehe Paugam, Salarié; Coutrot, Entreprise.

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Stadt Großbritanniens, Birmingham, ist ein sprechendes Beispiel: Die Stadt verlor zwischen 1971 und 1993 195.000 Arbeitsplätze in der Industrie, konnte aber nur 15.000 neue Stellen im Dienstleistungssektor schaffen.27 Die regionale Entwicklung in Frankreich ist bereits weniger eindeutig: Während der Norden und Lothringen als alte schwer- und textilindustrielle Zentren dramatisch an Bedeutung verloren und zu Peripherien hinabsanken, behaupteten sich andere Industrieregionen wie Lyon, Grenoble oder Toulouse. Im Pariser Raum verschwand ein Großteil der dortigen Industrie, aber der Großraum wurde als Wirtschaftsstandort noch zentraler für die französische Wirtschaftsgeographie als zuvor.28 In der Bundesrepublik entwickelten sich bis 1990 die Regionen nicht so spektakulär auseinander wie in Großbritannien, aber auch hier hatte sich bis zur Wiedervereinigung ein deutliches Nord-Südgefälle etabliert. Am dramatischsten waren bis 1990 die industriell geprägten Küstenregionen des Nordens von der Krise der dortigen Industrien getroffen, vor allem die Großregion Hamburg und auch Kiel profitierten aber nach 1990 von der Wiedervereinigung und der Öffnung der osteuropäischen Märkte. Erst seit 1990 entwickelte sich mit den wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung und der Abwicklung der früheren Industriestandorte der DDR ein regionales Strukturgefälle zwischen alten, nunmehr zu Krisenzonen gewordenen und neuen Industrieregionen bzw. Dienstleistungsregionen. Wichtiger ist jedoch eine zweite Beobachtung, welche generell für die ver­ schiedenen Industriereviere in den drei Ländern zu gelten scheint: In unterschiedlichem Maße reproduzierten diese Regionen unter den neuen Marktbedingungen jene industriellen Standortvorteile, die aus der räumlichen Verdichtung von Kapital, Arbeit und Produktionswissen bzw. Know how resultierten. Diese »territoriale Dimension wirtschaftlichen Handelns«29 hat, wie die regionale Wirtschaftsgeschichtsforschung gezeigt hat, eine ganz wesentliche Rolle im Prozess der Industrialisierung gespielt, und es zeigte sich, dass der sozial- und wirtschaftsräumlichen Verdichtung der »Faktoren« Arbeit, Kapital und Wissen erhebliche Bedeutung für den Erfolg der Umstrukturierungen zukam, die auf Unternehmensebene zu beobachten waren.30 Im Vergleich wiesen die westdeutschen Industriereviere eine deutlich größere Resilienz auf als ihre britischen und französischen Pendants. Das gilt sowohl für die kriselnden als auch die stabilen bzw. weiter wachsenden Reviere, wenn auch in deutlich unterschiedlichem Maße. Es kam bei den von schwächelnden Branchen geprägten Regionen selten zum sogenannten, immer wieder beschworenen Kahlschlag. Eine kritische Schwelle wurde erreicht, wenn die Netzwerke zwischen Unternehmen zusammenbrachen, die für erfolgreiche Auftragserledigung wichtig waren, oder wenn 27 28 29 30

Daniels, Geography, S. 219; Turner, Economy, S. 199–217. Schild/Uterwedde, Frankreich, S. 206–218; Ferrandon, Vingt ans, S. 26–31. Streeck, Klasse, S. 19. Daumas, Districts; Eck/Chiélini, PME ; Lescure, Mobilisation.

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Kreditbeziehungen, welche für das nötige Kapital für Neuinvestitionen sorgten, nicht länger aufrechterhalten werden konnten. Ein weiterer kritischer Punkt ist das Verschwinden jenes fachlichen Wissens, das für die Ansiedlung neuer Betriebe bzw. neue Produktionen nötig war. In der zeitgenössischen industriesoziologischen Forschung ist der Faktor »Industriedistrikt« neu entdeckt worden und geradezu zum entscheidenden Faktor bei der Umsetzung des angeblich zukunftsträchtigen Modells »flexibler Qualitätsproduktion« stilisiert worden.31 Die empirischen Befunde fallen häufig nüchterner aus, bestätigen jedoch die Bedeutung informell, nur in sozialräumlicher Verdichtung nutzbarer Ressourcen (Vertrauen zwischen konkurrierenden Unternehmen, betriebszentrierte Identitäten von Belegschaften und Unternehmen/ Managern).32 Gleichzeitig verweisen sie auf institutionelle Vorteile der föderal verfassten Bundesrepublik gegenüber den zentralistisch regierten Ländern Frankreich und Großbritannien, wenn es darum ging, staatliche Hilfen erfolgreich, d. h. nachhaltig und effektiv zu platzieren. Die unterschiedlichen Geschichten dieser Regionen können als eine genuin europäische Geschichte von Industrierevieren in dieser Phase der Neuausrichtung und des strukturellen Wandels industrieller Produktion und Arbeitsbeziehungen im immer stärker verflochtenen gemeinsamen Wirtschaftsraum der EU interpretiert werden. So ergeben sich erheblich größere grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten zwischen sich herausbildenden neuen erfolgreichen Industrierevieren in Baden-Württemberg, in der Region Rhône-Alpes oder der Emilia-Romagna, aber auch zwischen Wales und dem Ruhrgebiet, Yorkshire und Lothringen, als im nationalen Vergleich. Gerade nach 1990 lässt sich auf dem Territorium der Bundesrepublik das gesamte Spektrum industrieräumlicher Krisenbewältigung bzw. -katastrophen beobachten.

V. Strukturen langer Dauer? Bildungssysteme und Industriearbeit In den industriesoziologischen Erweiterungen polit-ökonomischer Modelle spielten seit den 1980er Jahre typischerweise Bildungssysteme eine immer wichtigere Rolle: Der Aufstieg des Humankapital-Modells in den Wirtschaftswissenschaften (und seine praktische Nutzanwendung im Human Ressource Management) hat das Interesse für Vermittlungswege produktionsrelevanten Wissens, voran industrieller Facharbeit geweckt. Rasch entdeckte man international den »Sonderweg« des deutschen (und ebenso schweizerischen und österreichischen) dualen Systems, wenn man die Zusammenhänge zwischen Industriearbeit und Bildungssystem in den Umbrüchen industrieller Produktion der 1980er und 1990er Jahre untersuchte. Das duale System betriebsnaher beruflicher Bildung und dessen Weiterentwicklung spielen, so die einhellige Mei31 Sabel, Flexible Specialization. 32 Glassmann, Ordnung; Grebing, Wirtschaftsregionen; Cooke, Innovation.

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nung zeitgenössischer Experten, eine ganz wesentliche Rolle dabei, dass auf der Mikroebene der Unternehmen zahlreiche Experimente unternommen wurden und auch erfolgreich waren, sich den veränderten internationalen Marktbedingungen durch die Spezialisierung auf flexible Qualitätsproduktion anzupassen.33 Eine wesentliche Voraussetzung dafür war die Verfügbarkeit einer breiten Schicht hochqualifizierter Facharbeiter und Techniker, die im eigenen Betrieb oder aber in vergleichbaren Unternehmen ausgebildet worden waren. Dabei galt das duale System lange Zeit als ein Auslaufmodell und der Chor der zeitgenössischen Kritiker war ebenso laut wie professionell. Defizite vor allem der von Handwerksbetrieben geleisteten Ausbildung, Veraltern der Ausbildungsberufe und Lehrinhalte, schließlich Fehlen von Ausbildungsplätzen und nachlassende Übernahmebereitschaft der Betriebe für ihren eigenen Nachwuchs gehörten zu den häufig genannten Kritikpunkten.34 Vor allem Pädagogen, Bildungspolitiker und ein Teil der Sozialwissenschaftler plädierten für eine Überführung des dualen Systems in ein System schulischer Berufsausbildung in öffentlicher Hand. Diese nicht zuletzt von der OECD und ihren Experten als Norm und Zukunftsvision präsentierte Pfadwechsel fand aber in der Bundesrepublik nicht statt – weil es zu einer Abwehrkoalition der für das duale System korporativ verantwortlichen Gewerkschaften, Industrie- und Handwerkskammern und Industrieverbände kam.35 So überlebte ein korporativer Klassenkompromiss der späten 1960er und frühen 1970er Jahre die Gegenkräfte einer Bildungsreform, deren Hauptaugenmerk darauf gerichtet war, eine immer größere Zahl von Jugendlichen mit Abschlüssen des allgemeinbildenden Schulsystems zu versorgen und ihnen Zugang zur tertiären Bildung in Form eines Studiums an (Fach) Hochschulen oder Universitäten zu verschaffen. Gerade die Krise industrieller Beschäftigung galt dabei als zusätzliches Argument für den Abschied vom dualen System. Der französische Vergleichsfall lässt in aller Schärfe die ungewollten Nebenwirkungen dieser als Demokratisierung gefeierten Öffnung des allgemeinen Bildungssystems erkennen. Dass am Ende des Jahrhunderts fast achtzig Prozent eines Altersjahrgangs das französische Abitur (bac) erlangten, bedeutete keineswegs, dass Frankreich eine erfolgreichere Industriestrategie entwickelte.36 Ganz im Gegenteil: Bildungsabschlüsse waren dort umso höher bewertet, je ferner sie den Orten industrieller Produktionspraxis mit dem Geruch von Handarbeit und Schmutz waren. Angesichts der starren Hierarchien nach dem Kriterium schulischer bzw. allgemeinbildender Diplome waren die Betriebshierarchien französischer Betriebe in der Regel länger und das mittlere Management in der Regel viel zahlreicher als in vergleichbaren westdeutschen Unternehmen. Vor allem der Weg hin zu neuen Formen betriebsinterner Kooperation zwischen den 33 34 35 36

Soskice/Franz, Apprenticeship; Lane, Management; Mayer/Solga, Skill. Baethge, Glanz; ders./Baethge-Kinsky, Jenseits von Beruf. Busemeyer, Sozialpartner; Greinert, System. Beaud, 80 % au bac.

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unterschiedlichen Rangklassen und Berufsgruppen der Beschäftigten, voran zwischen Angestellten des Vertriebes, Technikern, Ingenieuren und den Produktionsarbeitern wurde trotz vergleichbarer Management-Konzepte in Frankreich viel länger und steiniger als in der BRD. Das meritokratische Ideal des allgemeinen Bildungserfolges entfremdete im französischen Fall viele Jugendliche der Berufswelt industrieller Produktion. Gleichzeitig verfestigte es unternehmerische Strategien, durch neue Formen taylorisierter Arbeit im internationalen Wettbewerb zu bestehen. Die Versprechungen einer demokratischen Bildungsoffensive verbanden sich mit der Zukunftsvision post-industrieller Beschäftigung und lassen sich aus der Rückschau als ein Element erkennen, das seinerseits die Handlungsoptionen industrieller Weiterentwicklungen an französischen Standorten zusätzlich einschränkte. Einen besonders radikalen Weg ging Großbritannien. Dort erfolgte die Öffnung der tertiären Bildungsabschlüsse für Kinder der Unter- und unteren Mittelschichten relativ spät, ohne dass die Ansätze betrieblicher Berufsausbildung (wie etwa zeitgleich in der Bundesrepublik) ausgebaut worden wären. In der Ära Thatcher wurden die Formen korporatistischer Ausbildungsinitiativen weiter abgebaut und allein auf die privatwirtschaftliche Initiative der Unternehmen vertraut: training on the job wurde zum dominanten Format der Ausbildung unterhalb des Qualifikationsniveaus von Technikern, Ingenieuren und Managern, mit dem Ergebnis, dass sich Großbritannien seit den 1980er Jahren tendenziell zu einem Niedriglohnland industrieller Fertigung entwickelte.37 Britische Industrieunternehmen produzierten in den 1970er und 1980er Jahren durchschnittlich mit weniger Fachkräften als etwa ihre deutsche Konkurrenz.38 Erst in den 1990er Jahren vollzog dann New Labour mit einer dramatischen Öffnung der Universitäten und Hochschulen den Weg nach, der von den meisten OECD Ländern ein oder zwei Jahrzehnte vorher beschritten worden war. In der hier gewählten Perspektive erweist sich die Institution der dualen Ausbildung der Bundesrepublik als ein besonders wirksames Element der Beharrung, der Resilienz gegen zwei Tendenzen: zum einen die wachsende Dis­ krepanz von allgemeinem Bildungssystem und Arbeitsmärkten, zum andern als Korrektiv weiterhin eklatanter Ungleichheit der Erfolgschancen im allgemeinen Bildungssystem. Gerade in den 1970er und 1980er Jahren funktionierte 37 Einen Hinweis auf den Bedeutungsverlust der auch in Großbritannien traditionsreichen Facharbeiterausbildung liefert eine vergleichende Studie, welche die Zahl der in lokalen und privaten Lehrinstituten ausgebildeten Jugendlichen mit den Ausbildungszahlen in der Bundesrepublik vergleicht. Der Anteil der Teilnehmer an der Alterskohorte der 20jährigen lag in Großbritannien in dem Jahrzehnt zwischen 1985 und 1994 konstant bei etwa 4 Prozent, in der BRD stieg er von knapp 14 auf 16,6 Prozent (nur industrielle Berufsausbildung). Steedmann, Decade, S. 80. 38 Eine Vergleichsstudie gibt für die britische Industrie (Vergleichszahlen für die Bundesrepublik in Klammern) folgende Zahlen an: unqualifizierte Arbeitskräfte 1978: 71 Prozent (35,1 Prozent), 1989: 56,8 Prozent (26,4 Prozent). O’Mahony/Wagner, Changing Fortunes, S. 65 f.

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das betriebsnahe Ausbildungssystem als Vehikel für die Weiterqualifikation bildungsferner v. a. männlicher Jugendlicher. Die Zahl der Industriemeister, Techniker schließlich Ingenieure mit Facharbeiterabschluss wuchs in diesen Jahrzehnten erheblich an und lieferte den westdeutschen Industriebetrieben ein ebenso aufstiegsorientiertes wie leistungsbereites mittleres technisches Management, das in enger sozialer und z. T. personeller Verbindung mit den sogenannten Stammbelegschaften der Facharbeiter stand.39

VI. Zwischenfazit Im westeuropäischen Vergleich treten einige Besonderheiten des westdeutschen Wegs im Umbau industrieller Produktion »nach dem Boom« deutlich hervor. Der hohe Facharbeiteranteil wurde als Potential für die Entwicklung neuer Pro­ duktionskonzepte flexibler Qualitätsproduktion genutzt, vor allem informelle Standortvorteile in gewachsenen Industrierevieren eingesetzt und drittens er­ öffneten die Institutionen der betrieblichen Mitbestimmung Wege zur Stärkung betrieblicher Produktionsgemeinschaften. Schließlich funktionierte staatliche Industrie- und Technologieförderung im föderalen System der BRD offensichtlich besser als in den zentralistischen Systemen Großbritanniens und Frankreichs trotz gegenläufiger Bemühungen um Regionalisierung. All dies lässt sich zusammenfassend als Bündel von Faktoren begreifen, welche die Beharrungskraft und Anpassungsfähigkeit westdeutscher Industrieunternehmen gerade in einer international vergleichenden Perspektive erklären können. Die Resilienz von Unternehmen, Branchen, Industrierevieren beruhte – so die Hypothese – im Wesentlichen auf der Weiterentwicklung etablierter Institutionen, welche vor allem genutzt wurden, um Zeit, Vertrauen, Arbeitsvermögen und Kapital für die vielfach nur kurzfristigen, häufig eher pragmatisch inkrementell vorgehenden Experimente mit neuen Produktionsformen, Betriebsorganisationen und internen Arbeitsteilungen zu nutzen. Nicht übersehen werden darf dabei, dass externe Faktoren – wie Abhängigkeit von schwankenden Marktentwicklungen, von dominanten Großunternehmen – immer wieder zu Kurskorrekturen und erneuten Anpassungen zwangen. Die auffällige Kontinuität auf politisch-institutioneller Ebene muss vor dem Hintergrund eines im gesamten Zeitraum zunehmenden ökonomischen Zwangs zur Flexibilität gesehen werden. Im britischen und französischen Vergleichsfall verliert dieser Faktor institutioneller Stabilität an Gewicht. In beiden Ländern überlebte das Mitte der 1970er Jahre noch geltende polit-ökonomische Institutionengefüge bereits die Krise 1979–1982 nicht und es kam  – parallel zu marktinduzierten Anpassungsprozessen auf betrieblicher Ebene zu politischen Interventionen, die auf einen Umbau der indus­triellen Ar39 Einen statistischen Beleg liefern die IAB -Befragungen: 1979 bzw. 1991/92 waren 30,6 bzw. 34 Prozent der Facharbeiter als Angestellte bzw. Beamte beschäftigt: von Henninges, Umverteilung, S. 14.

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beitsbeziehungen, aber auch des Industriemanagements zielten. Im britischen Fall wurde der Zusammenbruch alter Industrieunternehmen als Befreiung und Chance für einen Neuanfang kapitalistischer Unternehmungen in Großbritannien aufgefasst und dabei der Erhaltung industrieller Standorte und Arbeitsplätze nur nachrangige Bedeutung eingeräumt. Im französischen Fall löste die Krise industrieller Produktion Ende der 1970er Jahre eine industriepolitische Abwehrstrategie aus, die vor allem auf die Stärkung der Staatsbetriebe setzte und gleichzeitig einen grundsätzlichen Kurswechsel weg von den konfrontativen Arbeitsbeziehungen im privaten Sektor anstrebte. Auch hier ist kaum von einer Weiterentwicklung etablierter Strukturen, sondern eher von dem Versuch zu sprechen, die industriellen Arbeitsbeziehungen und Produktionsstrukturen »von oben« umzubauen. Dabei war der Blick lange Zeit eher auf das »Modell Deutschland« als auf den britischen Weg der Deregulierung und Privatisierung gerichtet.

VII. Vom Ende der Proletarität zur Segmentierung und Prekarität? Welche sozialen Folgen hatten diese wirtschaftlichen Entwicklungen? Westeuropa hatte in den Nachkriegsjahrzehnten das »Ende der Proletarität«40 erlebt. Die industrielle Arbeiterschaft hatte als größte Gruppe der industriell Beschäftigten Anschluss gefunden an die besseren Standards sozialer und arbeitsrechtlicher Absicherung der Mittelschichten, dank ihrer gewerkschaftlichen Organisationsmacht sich mit höheren Löhnen zugleich auch wachsende Anteile am volkswirtschaftlichen Einkommen gesichert. Kontinuität von Beschäftigung, wachsender Anteil am gesellschaftlichen Konsum und  – deutlich langsamer und widersprüchlicher – auch verbesserter Zugang zu den höheren Bildungsabschlüssen für die eigenen Kinder gehören zu dieser Ausgangslage am Beginn der 1970er Jahre. Der Befund vom Ende der Proletarität bezieht sich vor allem auf die männliche Arbeiterschaft und ihre Haushalte, er galt bereits nur mit Abstrichen für Arbeitsmigranten oder alleinerziehende Frauen in einfachen Industriejobs. Für diese Gruppen waren Einkommensabstände zu mittleren und höheren Einkommensgruppen nach wie vor erheblich, Beschäftigungsrisiken größer und betriebliche Aufstiegsmöglichkeiten viel begrenzter. Aber es handelte sich auch hier in den meisten Fällen um Situationen relativer Armut, die industrielle Arbeitswelt war immer weiter abgerückt von den Zonen absoluter Armut. »Integration« bzw. »Inklusion« der industriellen Arbeiterschaft gehörte in Westeuropa Anfang der 1970er Jahre zu den noch neuen Grundtatsachen gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Ordnung. Die Rückkehr der Sozialfigur des »working poor«, nunmehr als E ­ nsemble relativ Armer mit Lebenssituationen, die durch deutlichen Abstand zu den wachsenden Durchschnittseinkommen und Konsumstandards, häufig prekären Beschäftigungslagen und Vermögenslosigkeit definiert werden, gehört heute 40 Mooser, Arbeiterleben, S. 224–235.

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dagegen zum Alltag aller drei Länder. Dies hat gerade die eingangs zitierte kritische Forschung zu Anfängen und Entstehungsfaktoren dieses Phänomens beflügelt. In diesem Kontext taucht die Frage auf, welchen Anteil bei der Genese dieses Phänomens dem industriellen Sektor zukam und zukommt. Auch hier lässt der Vergleich deutliche Unterschiede sichtbar werden. In Teilen der französischen und britischen Industrie, vor allem in den mittelständischen Betrieben der Konsumgüter- und Lebensmittelbranchen etablierte sich ein regelrechter Niedriglohnsektor. Hier waren vielfach Löhne unterhalb bzw. an der Grenze zum gesetzlichen Mindestlohn (in Frankreich) bzw. im unteren Lohnniveau üblich.41 Ein zweiter wichtiger Faktor für die Ausbreitung eines Niedriglohnsektors war die Ausbreitung befristeter Beschäftigungsverhältnisse und von Leiharbeit. In Frankreich nahmen diese Formen von Beschäftigung in der Industrie für die Hauptkategorie der »ouvriers« kontinuierlich von 3,5 (1982) über 7 (1991) auf 11,2 Prozent (1998) zu.42 Auffällig ist nun, dass in der BRD der industrielle Sektor bis in die jüngste Vergangenheit weitgehend ohne Niedriglöhne funktioniert hat. Hier lag der Anteil solcher Beschäftigungsverhältnisse im industriellen Sektor vor der Jahrtausendwende deutlich niedriger: 1994 waren es 5,1 Prozent. Diese markanten Unterschiede in den Kernbereichen industrieller Beschäftigung dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in allen drei Ländern relative Armut und Prekarität erneut in den Horizont industrieller Arbeitsverhältnisse eintraten. Die Sorge um Arbeitsplatz, Sicherung des Lebensstandards und der sozialen Absicherung bestimmte die Lebenswelten einer wachsenden Zahl von Industriebeschäftigten in allen drei Ländern seit den späten 1970er Jahren. Werkschließungen und Entlassungen bewirkten, dass in allen drei Ländern drei Kategorien von Beschäftigten in besonderem Maße von auch länger anhaltender Arbeitslosigkeit bzw. instabilen Beschäftigungsverhältnissen betroffen waren: un- bzw. angelernte Arbeiter und Angestellte, Jugendliche und Ältere. Die größte Zahl der Entlassenen stellte in allen drei Ländern die Gruppe der ungelernten Arbeiter. Der Anteil der Arbeitslosen kletterte in dieser Gruppe dauerhaft auf weit über zehn Prozent, vor allem mussten sich viele dieser Beschäftigten auf längere Phasen instabilerer Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse einlassen, in denen befristete Beschäftigung von Zwischenzeiten der Arbeits­ losigkeit abgelöst wurde und sich die Chance dauerhafter Beschäftigung vielfach gar nicht mehr oder erst nach langen Jahren ergab. Instabile Erwerbsverläufe waren und sind gleichbedeutend mit wachsenden Exklusionsrisiken (z. B. niedrige Altersrenten, schlechtere Gesundheitsversorgung und Wohnbedingungen), mit denen diese Kategorie von Beschäftigten seit den 1970er Jahren in wachsendem Maße konfrontiert war. Deindustrialisierung bedeutete auch, dass eine ganze Alterskohorte von Industriearbeitern vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden musste: Industriearbeiter über fünfzig gehörten seit den späten 1970er Jahren zu den ersten, 41 Paugam, Condition; ders., Salarié. 42 Bihr/Pfefferkorn, Déchiffrer, S. 33.

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welche der neuen sozialstatistischen Kategorie der Langzeitarbeitslosen zuzurechnen sind, auch wenn viele von ihnen bald sozialpolitisch abgefederte Existenzen als Frührentner oder Invaliditätsrentner führen konnten. Der Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt war für viele dieser älteren männlichen Industriearbeiter, zumal wenn sie keine Facharbeiter waren, endgültig; einige Zahlen mögen das illustrieren. Besonders hart traf es die britischen Bergarbeiter. 1991, gut zehn Jahre nach der ersten größeren Entlassungswelle »nach dem Boom«, hatte nur einer von vier ehemaligen Bergleuten wieder einen Vollzeitjob gefunden. In den Bergbaurevieren Großbritanniens stieg seit den 1980er Jahren die Zahl dauerhaft krankgeschriebener bzw. invalider früherer Bergleute dramatisch an.43 Aber auch Durchschnittswerte sozialwissenschaftlicher Paneluntersuchungen sprechen eine deutliche Sprache: Zwischen 1985 und 1995 nahm der Anteil nicht mehr erwerbstätiger Arbeiter (aller Qualifikationsstufen) in der Altersgruppe der über sechzig Jährigen von knapp 40 Prozent auf knapp 64 Prozent, bei den 56–60jährigen von 14 auf 32 Prozent zu.44 Die Verdrängung vom Arbeitsmarkt führte jedoch keineswegs zwangsläufig oder gar als Regelfall in die Armut oder zum Ausschluss aus anderen sozialen Bezügen. In allen drei Ländern vollzog sich dieser »Abschied vom Malocher« aufgrund der erheblichen sozialen Transferzahlungen überraschend geräuschlos. Dies ist umso überraschender, als in allen drei Ländern mit erheblichem Einsatz und unter Anteilnahme der Öffentlichkeit um den Erhalt dieser klassischen industriellen Arbeitsplätze gekämpft worden ist. Aber diesen in der Regel nur begrenzt erfolgreichen, wenn nicht erfolglosen Abwehrkämpfen folgte dann ein Rückzug vor allem der älteren Arbeiterschaft, der von Resignation, aber auch partieller Zufriedenheit mit den materiellen Entschädigungen geprägt war. Vorruhestandsregelungen für die älteren Beschäftigten wurden fester Bestandteil der Sozialpläne, die zwischen Gewerkschaften und Unternehmensleitungen vereinbart und durch Zuschüsse der öffentlichen Sozialkassen mitfinanziert wurden. Besonders in der Bundesrepublik waren die Vorruhestandsregelungen vielfach großzügig, die Situationen älterer Arbeiter in Großbritannien vielfach prekärer. Entsprechend schärfer ausgeprägt war das Absinken der Berufstätigkeit rentennaher Jahrgänge daher in der BRD.45 In den alten Industriezentren wurde dies zu einem »Massenschicksal« mit einer wiederum spezifischen sozialen Nebenfolge: vielerorts entstanden so lokale G ­ ruppenzusammenhänge, in denen die individuellen Ausschlüsse aus dem Arbeitsmarkt kompensiert wurden durch die Kontinuität sozialer Verbindungen und die sozial kultureller Gemeinsamkeiten auf lokaler Ebene. Diese Gemeinschaften älterer Industriearbeiter waren nicht nur »Verlierer«gemeinschaften 43 McIvor, Working Lives, S.  242. Insgesamt schrumpfte die Zahl beschäftigter Bergleute von 1985 noch 185.000 auf 10.000 im Jahr 2000. 44 SOEP, eigene Datenbank: Arbeiterhaushalte in Westdeutschland; 1985–2000 eigene Berechnungen, 1995 nur alte Bundesländer. 45 Schmid/Oschmiansky, Arbeitsmarktpolitik.

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sondern zugleich auch Erinnerungsgruppen, die wiederum einen erheblichen­ Beitrag zur soziokulturellen Abfederung der zeitgenössisch einsetzenden Musealisierungs- und Historisierungstrategien in den Industriezentren Westeuropas leisteten. Sozioökonomische Voraussetzung für diesen quasi geordneten »Rückzug« war jedoch die Flexibilität der Arbeiterhaushalte, welche vielfach die Ein­ kommensverluste der Väter kompensierten durch Arbeitseinkommen der Kinder und Mütter. In allen drei Ländern nahm die Berufstätigkeit der Frauen, auch der älteren verheirateten Frauen, zu. Viele von ihnen waren dabei in Teilzeit beschäftigt. Wie viele frühere Industriearbeiterinnen fanden sie neue Beschäftigungen im Dienstleistungssektor – als Verkäuferinnen, Pflegekräfte usw.  Neben dem Schicksal der älteren (männlichen) langzeitarbeitslosen Industriebeschäftigten erregte die Jugendarbeitslosigkeit die Gemüter der Zeitgenossen. In diesem Fall unterschieden sich unsere drei Vergleichsländer in erheblichem Maße voneinander. In Großbritannien und Frankreich fielen erwartete bzw. familiär einkalkulierte Einstiegsjobs in den lokalen Industrien gewissermaßen ersatzlos aus, Deindustrialisierung ging einher mit dem Rückgang oder dem gänzlichen Verlust industrieller Ausbildungsangebote. Entsprechend hohe Arbeitslosenzahlen Jugendlicher finden sich in den industriellen Krisen­regionen beider Länder. Besonders dramatisch war die Entwicklung in Großbritannien: Dort waren am Ende der 1980er Jahre die Hälfte der 16–18jährigen arbeitslos oder befanden sich in öffentlichen Berufsvorbereitungsmaßnahmen.46 Der Wegfall industrieller Beschäftigungsmöglichkeiten wurde regional so gut wie gar nicht, auf nationaler Ebene aber ebenfalls nur teilweise und sozial sehr selektiv durch neue Arbeitsplätze für Berufsanfänger im Dienstleistungsbereich kompensiert. In der Bundesrepublik funktionierte das duale Berufsausbildungssystem über den gesamten Zeitraum als Puffer angesichts des Wegfalls alter industrieller Arbeitsplätze und als Türöffner für neue Beschäftigungs­ möglichkeiten in der Industrie. In der Bundesrepublik gehörten junge Fach­ arbeiter in den 1980er und 1990er Jahren sogar zu typischen Gewinnern in den sich technologisch und organisatorisch dramatisch verändernden industriellen Arbeitswelten: Sie wurden bevorzugt an neuen Anlagen und Maschinen eingesetzt, ihre hochwertige Ausbildung auf dem neuesten Stand eröffnete ihnen innerbetriebliche Aufstiegs- und Weiterqualifikationswege. Insgesamt wurden qualifizierte jüngere Berufsanfänger vielfach als Pioniere für neue kooperative Arbeitsformen eingesetzt und ihnen wurden häufig weiterreichender Zuständigkeiten am Arbeitsplatz übertragen als ihren Vorgängern. Hinter den Bestandszahlen der Industriebeschäftigung verbirgt sich also auch eine nicht minder dramatische interne Verschiebung: So verlor die bundesdeutsche Stahlindustrie in der Phase der Schrumpfung und Umstrukturierung zwischen 1974 und 1988 knapp die Hälfte ihrer Beschäftigten (− 46,9 Prozent); dramatischer noch sind die Zahlen der Abgänge und Neueinstellungen. 387.000 Abgängen entsprachen 46 McIvor, Working Lives, S. 260.

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247.000 Neuzugänge. Im Ergebnis verschob sich die interne Zusammensetzung der Belegschaften deutlich zugunsten der Facharbeiter und höher qualifizierten Beschäftigten: Der Anteil der Facharbeiter in der Stahlbranche stieg von 1976 36,9 Prozent auf 46,6 Prozent im Jahre 1986.47 Grundsätzlich spielt dieser generationelle Aspekt auch in der britischen und französischen Industrie eine Rolle, betraf dort aber eine viel kleinere Anzahl von Personen und Arbeitsplätzen, da die Deindustrialisierung insgesamt viel größere Ausmaße annahm und zudem das Fehlen betrieblicher Ausbildungssysteme Jugendlichen den Zugang zu qualifizierten industriellen Arbeitsplätzen erheblich erschwerte. Während für Frankreich und Großbritannien die sozialräumliche Verdichtung von Exklusionsrisiken vor allem für arbeitslose Jugendliche in den alten Industrieregionen typisch wurde und dort neben bzw. in Verbindung mit der Exklusion aufgrund von Zuwanderung und Hautfarbe erhebliche Relevanz gewann, entwickelte sich eine solche Exklusionsdynamik in der Bundesrepublik nur in wenigen Regionen und in größerem Stil erst nach 1990, als die Industrieregionen der ehemaligen DDR zusammenbrachen. Das Bild einer durch prekäre Lebenslagen geprägten Gruppe von Arbeiterinnen und einfachen Angestellten in den alten Industrieregionen der drei Länder gehört also zum sozialpolitischen Befund der 1990er Jahre und ist Teil des Transformationsprozesses. Diese neue Prekarität kennzeichnet aber eher ein Randphänomen unter den Beschäftigten des industriellen Sektors. Hier arbeiteten vor allem Männer, die, qualifiziert oder nicht, eher längerfristig beschäftigt wurden und durch interne Aufstiegsmöglichkeiten ihre materielle Lage verbessern konnten. Anteil an den neuen prekären Arbeitslagen hatte aber auch diese »respektable« Industriearbeiterschaft »nach dem Boom« in Gestalt der weiblichen und jüngeren Familien- und Haushaltsmitglieder, die vielfach in den neuen eher schlecht bezahlten Jobs der Dienstleistungsbranchen Arbeit fanden.

VIII. Soziale Konstellationen und »Produktionskonzepte« Zu fragen ist schließlich, in welchem Maße die geschilderten sozialen Konstellationen ihrerseits Faktoren wurden, welche die industriellen Entwicklungswege in den drei Ländern beeinflusst haben. In der hier gewählten Perspektive erweisen sich die sozialen Folgen des dualen Ausbildungssystems als ein besonders wirksames Element der Beharrung, der Resilienz gegen zwei Tendenzen der Deindustrialisierung: zum einen gegen den Rückzug von Unternehmen aus der industriellen Produktion, zum anderen gegen die Einführung neuer taylorisierter Arbeitsabläufe bei Produktionsumstellungen. Eine vergleichende Untersuchung aus den späten 1980er Jahren verdeutlicht die unterschiedlichen Ausgangslagen industrieller Unternehmensstrategien in 47 Jürgenhake/Winkler, Neue Produktionskonzepte, S. 36, 58–64.

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den drei Ländern: In der Bundesrepublik war der Anteil der in der Produktion direkt oder indirekt beschäftigten Arbeitskräfte nicht nur am höchsten (mit 71,8 Prozent – gegenüber 58,4 Prozent in französischen und 63 Prozent in britischen Unternehmen), sondern zugleich auch viel höher qualifiziert: gut sechzig Prozent verfügten über eine fachliche Ausbildung gegenüber unter dreißig Prozent im britischen Vergleichsfall und noch niedrigen Zahlen für französische Industriebetriebe. Entsprechend länger und starrer waren die Hierarchien in britischen und französischen Industriebetrieben.48 Diese Unterschiede veränderten erkennbar die strategischen Optionen in den Umbrüchen und Anpassungs­ krisen seit den späten 1970er Jahren. Auf betrieblicher Ebene ergaben sich in der Bundesrepublik unter den Bedingungen des dualen Systems vielfältige Handlungsoptionen für die Weiterentwicklung etablierter betrieblicher Kooperationen: Die fachliche Weiterqualifikation der Belegschaften erfolgte kontinuierlich durch laufende Neueinstellungen jüngerer Fachkräfte, die wiederum überwiegend aus (Fach-)Arbeitermilieus stammten und sich aufgrund ihres Habitus viel leichter in die betrieblichen Sozialordnungen »hineinfanden« als Jugendliche aus sozial fremden Milieus. Dies galt übrigens auch für die Söhne von häufig noch unqualifizierten Arbeitsmigranten, die, sofern sie eine Berufsausbildung absolvierten, davon profitieren konnten, dass die Gruppe der Facharbeiter in der Bundesrepublik insgesamt erheblich schwächer von den Arbeitsplatzverlusten in der Industrie betroffen waren und vor allem jüngere Facharbeiter Anstellungen fanden, auch wenn sie typischerweise in den 1980er Jahren eine längere Phase des ungesicherten prekären Einstiegsphase in die eigenen Berufskarrieren hinnehmen mussten.49 Der Facharbeiter wurde »nach dem Boom« für die westdeutsche Industriearbeit zu einer immer wichtigeren Figur. Seine Kompetenzen am Arbeitsplatz, aber auch sein Tariflohn hingen primär ab von seiner Ausbildung. Sie machte ihn auch weniger abhängig vom jeweiligen Betrieb, zuweilen sogar relativ unabhängig von der Branche. Die Verberuflichung der industriellen Arbeitswelt gehört zu den Strukturen langer Dauer der deutschen Industrieentwicklung im 20. Jahrhundert. Dieser Trend ist in den Turbulenzen der Konjunkturkrisen und der technologischen Innovationen seit 1973 nochmals verstärkt worden. Je jünger die Alters­ kohorte der Industriearbeiter, umso höher wurde der Anteil der Facharbeiter: Daten des sozio-oekonomischen Panels aus dem Jahr 1995 machen dies deutlich. Während in der Gruppe der älteren Arbeiter, die vor 1975 ihre berufliche Laufbahn begonnen haben, der Anteil der Facharbeiter bei ca. dreißig Prozent lag, stieg deren Anteil unter denen, die seit 1975 ihre berufliche Laufbahn begonnen hatten, deutlich an: er lag bei 42,8 Prozent50.

48 Die Daten stammen aus unterschiedlichen Untersuchungen und sind zusammengefasst in: Lane, Management, S. 41, 43, 81 f. 49 Lappe, Berufsperspektiven. 50 SOEP eigene Auswertung, Zahlen 1995 nur für die alten Bundesländer ohne Berlin.

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Man darf nicht aus dem Auge verlieren, dass die westdeutsche Industrie­ arbeiterschaft der 1960er und frühen 1970er Jahre eine sozial sehr heterogene und mobile soziale Klasse darstellte: Die Jahre des Booms hatten dazu geführt, dass ihre Reihen durch den ständigen Zufluss neuer Quereinsteiger aus anderen Berufen und sozialen Milieus aufgefüllt und erweitert worden waren. Viele neue Arbeiter kamen aus der Landwirtschaft bzw. dem selbständigen Mittelstand bzw. Kleingewerbe, vor allem jedoch dem traditionellen Handwerk. Der ländliche Erfahrungshintergrund war auch bei den Arbeitsmigranten aus dem Mittelmeerraum sehr stark. In dieser Hinsicht unterschieden sich die französischen und westdeutschen Arbeiterklassen deutlich von ihrem britischen Pendant: Hier war die Reproduktion der Arbeiterschaft aus den eigenen Reihen bereits in den 1960er Jahren viel höher, nur der Zuzug irischer und vor allem dann von Arbeitsmigranten aus der Karibik und dem indischen Subkontinent sorgte für größere Heterogenität.

IX. Schlussbemerkung Selbstverständlich vollzogen sich diese hier unter eher strukturgeschichtlichen Aspekten analysierten Veränderungen industrieller Arbeit nicht im politik- und kulturfreien Raum. Mit E. P. Thompson ist daran zu erinnern, dass aber kein direkter Weg von solchen Analysen zur Erfahrungsgeschichte industrieller Arbeit und zur politischen Geschichte von Gewerkschaften und Parteien führt. Die Ausbildung bzw. Weiterentwicklung gemeinsamer politischer Ziele bzw. soziokultureller Zugehörigkeiten eröffnet ein eigenes Untersuchungsfeld. Daran sei abschließend nur erinnert. Gerade die Entwicklung der kollektiven Interessenvertretung durch Gewerkschaften verlief in allen drei Ländern sehr unterschiedlich, bestätigte aber insgesamt eher die längerfristigen nationalspezifischen Muster. In der Bundesrepublik und Großbritannien konnten die Industriegewerkschaften trotz widriger Arbeitsmärkte und bei sinkender Verhandlungsmacht ihre Mitgliederzahlen stabilisieren, verloren in Frankreich die traditionell organisationsschwachen Gewerkschaften dramatisch an Mitgliedern und an Einfluss. Während im britischen und westdeutschen Fall von Machtverlust und langsamer Erosion gewerkschaftlicher Organisationen gesprochen werden kann, kam es in Frankreich zu einer Existenzkrise gewerkschaftlicher Vertretung und Repräsentation.51 Größere Ähnlichkeiten ergeben sich hingegen, wenn man die Formen politischer Repräsentation betrachtet. In allen drei Ländern büßten die bis dahin traditionell die Industriearbeiterschaft repräsentierenden Linksparteien nicht nur einen Teil  ihrer Wählerbasis ein, sondern sie verloren seit den 1980er Jahren mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Konsequenz einen Teil  der Unterstützung ihrer Stammwählerschaft. Ganz anders als noch 1970 51 Martin/Ross, New World, S. 26–74, 75–124, 167–216.

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trat eine sozial homogener gewordene, aber deutlich in der Defensive stehende Arbeiterschaft in den beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts immer seltener auf der Bühne der politischen Ereignisse auf. Spektakuläre Streiks markieren die große Ausnahme und bestätigen diesen Trend. In allen drei Ländern »verschwand« die Industriearbeiterschaft zusehends als kollektiver Akteur von der nationalpolitischen Ebene.

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Wohlstand verpflichtet oder die Internationale der Moralisten Urbane Armut und translokaler Aktivismus in den 1960er Jahren

Segregation, Ghettoisierung und soziale Polarisierung gelten heutzutage als Entwicklungen, die sich auf vergleichbare Weise in unterschiedlichen Städten beobachten lassen. Sie gelten als weltweit erfahrbare Begleiterscheinungen von Urbanisierung und Globalisierung. Sie sind damit beides zugleich: konkrete lokale Prozesse ebenso wie globale Phänomene. Nicht zuletzt deshalb ist das urbane Lokale zu einem bevorzugten Bezugspunkt aktueller Analysen von Globalisierung, Deindustrialisierung und sozialen Spannungen geworden. Neu ist das nicht an sich: Schließlich bildeten Städte schon im späten 19.  Jahrhundert exemplarische Untersuchungsfelder der Industrialisierung und ihrer sozialen Folgen, und dementsprechend eng ist die Entwicklung der frühen Soziologie und Sozialreform mit der Geschichte der Städte verknüpft. Welche Rolle der Nahraum Stadt aber für den Umgang mit sozialer Ungleichheit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte, diese Frage hat die historische Forschung  – zumal in Deutschland – bisher weitgehend ausgespart.1 Dabei spricht viel dafür, dass urbane und soziale Entwicklungen, soziales Wissen und urbane Settings auch nach dem Zweiten Weltkrieg eng miteinander verwoben waren. Schließlich lebte infolge der voranschreitenden Urbanisierung ein Großteil der Bevölkerung in städtischen oder stadtnahen Räumen. Auch wiesen Ungleichheitsstrukturen trotz der ambitionierten staatlichen Wohnungspolitik der Nachkriegszeit räumliche Dimensionen auf.2 Und nachdem sich noch in den 1950er Jahren an die »Integrationsmaschine Stadt« umfangreiche Hoffnungen auf bessere Lebensverhältnisse für alle banden, veranlasste zeitgenössische Beobachter oft gerade das Fortbestehen urbaner Problemzonen dazu zu fragen, wie gleich oder ungleich die eigene Gesellschaft – auch im Vergleich zu anderen Gesellschaften – war oder sein sollte.3 1 Das gilt für die französische Forschung allerdings weniger. Vgl. v. a. Topalov, Divisions sowie speziell mit Blick auf die französischen Vorstädte Tissot, L’état. 2 Zu der aktuellen soziologischen Auseinandersetzung mit urbanen Ungleichheiten vgl. die Beiträge in Berger u. a., Urbane Ungleichheiten. Für eine in Teilen auch historische Perspektive auf urbane Armut im 20. Jahrhundert siehe Häußermann u. a., An den Rändern. 3 Die Geschichte urbaner Ungleichheit sowie insbesondere der Problematisierung von Segregation und Marginalität ist das Thema meines Habilitationsprojekts, aus dem die vorliegenden Überlegungen hervorgehen und das den Arbeitstitel »Badlands oder die moralische Ökonomie der Wohlstandsgesellschaft. Urbane Marginalität in Frankreich und Westdeutschland« trägt.

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Der Frage, wo Geschichte stattfindet, schenken Historikerinnen und Historiker seit einigen Jahren vermehrt Beachtung. Während sich die Forschung mehr und mehr vom Nationalstaat als quasi gesetzter Einheit löst, wächst ihr Interesse an der räumlichen Rahmung historischer Entwicklungen. Alternative Untersuchungsräume, die grenzüberschreitende Mobilität von Akteuren, Praktiken und Ideen sowie die Wechselbeziehungen zwischen Lokalem, Nationalem und Globalem rücken stärker in den Fokus.4 Das heißt offenkundig nicht, dass der Nationalstaat und das Handeln und Denken innerhalb nationalstaatlicher Grenzen als Gegenstand der Forschung ausgedient hätten. Doch interessieren sich Historikerinnen und Historiker nun mehr dafür, wie zeitgenössische Akteure bestimmte Phänomene als lokal, national oder global relevant wahrnahmen, in welchen räumlichen Bezügen sie agierten und welche Handlungsräume sie auf diese Weise stabilisierten. Im Rahmen der westeuropäischen Zeitgeschichte kann auf diese Weise  – und darauf zielt die vorliegende Analyse ab  – stärker historisiert werden, wie die in der Nachkriegszeit zunehmend gängige Selbstbeschreibung der französischen und westdeutschen als westliche Wohlstandsgesellschaften diskursiv überhaupt erst konstituiert wurde und in welchen Zusammenhängen sie handlungsleitend wurde – oder gerade nicht. Konkret orientieren sich die folgenden Überlegungen an der Frage, welche Bedeutung lokale, nationale und transnationale Handlungsräume für den Umgang mit sozialer Ungleichheit hatten und wie bedeutsam sie insbesondere für die (Wieder-)Entdeckung von Armut waren, die sich in den 1960er und 1970er Jahren in zahlreichen fortgeschrittenen Industriegesellschaften, darunter der Bundesrepublik und Frankreich, vollzog. Die folgende Analyse konzentriert sich dabei auf die Wissensproduktion in medialen, wissenschaftlichen und politischen Zirkeln und argumentiert, dass es maßgeblich die Lebensverhältnisse in bestimmten urbanen Räumen waren, die zeitgenössische Beobachter in den 1960er Jahren dazu veranlassten, sich mit Formen der räumlichen Benachteiligung zu befassen – und allgemein nach den Grenzen der etablierten Sozialpolitik und des erreichten Wohlstands der eigenen Gesellschaften zu fragen. Lokale Aktivisten, kommunalpolitische Akteure und Sozialforscher gleichermaßen bedienten sich in diesem Zusammenhang zunehmend einer Sprache der Moral und nahmen lokale Missstände zum Ausgangspunkt, um für eine solidarischere Politik und Gesellschaft zu werben.5 4 Zum  – ungeachtet des viel zitierten spatial turn  – Mangel an historischen Raum-Unter­ suchungen siehe Dipper/Raphael, ›Raum‹. Zur Auseinandersetzung mit der räumlichen Dimension von Geschichte in der transnationalen Geschichtsschreibung vgl. zudem Arndt u. a., Europäische Geschichtsschreibung. 5 Welche Bedeutung Moralität als »politischer Ressource« im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert zukam, beschäftigt derzeit viele Forschende. Zu der These, dass eine »Politik aus dem Geist der Moral« in der Menschenrechtspolitik der 1970er Jahre an Bedeutung gewann, vgl. Eckel, Neugeburt. Zu dem Versuch, die normativen Ansprüche, die an wohlfahrtsstaatliche Arrangements gestellt werden, über den Rückgriff auf das Konzept der »moral economy« zu fassen, vgl. Mau, Welfare Regimes, sowie überhaupt zur produktiven Neuwendung des

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Was jeweils als Ausdruck »sozialer Ungleichheit« und damit als ein Zuviel an Unterschieden in der Verfügung über oder dem Zugang zu Ressourcen und Chancen gilt, unterliegt generell einem Wandel. Aus der Sicht der historischen Forschung ist Ungleichheit damit ebenso ein vergangenes soziales Phänomen wie ein Element vergangener Problembeschreibungen. Im Folgenden ist es der zweite Aspekt, der im Mittelpunkt steht: die Repräsentation von Benachteiligung oder Privilegierung als Teil gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf der Frage, welche Raumvorstellungen sich in der Darstellung sozialer Probleme niederschlugen. Denn anhand welcher Orte über gesellschaftliche Entwicklungen gesprochen und in welchen räumlichen Bezügen Ungleichheit dargestellt wurde, beeinflusste, so die zentrale These, ebenso das Verständnis von Ungleichheit selbst wie den politischen Umgang damit. Die aktuelle Ungleichheits- und Armutsforschung bringt mit dem Aufstieg von Transnationalität und Globalisierung zu sozialwissenschaftlichen Schlüsselwörtern eine wachsende Zahl von Arbeiten hervor, die sich mit der Trans­ nationalisierung sozialer Ungleichheit befassen.6 Als Ausgangspunkt dient den Autorinnen und Autoren meist der Verweis auf einen bisher dominierenden methodologischen Nationalismus der soziologischen Forschung. In einer sich global vernetzenden Welt, in der nationale Grenzen an Bedeutung verlieren, schreibt etwa der Soziologe Ulrich Beck, muss die Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit eine Neuverortung erfahren. Weil Risiken und Benachteiligungen nicht entlang nationaler Grenzen verlaufen, fordert er eine globalisierte Auseinandersetzung mit Ungleichheitsverhältnissen. Bisher, argumentiert der Soziologe, sei soziale Ungleichheit aber stets in nationalstaatlichen Rahmen gedacht und untersucht worden. Und Sozialwissenschaftler hätten zu dieser Entwicklung maßgeblich beigetragen, indem sie ihren Gegenstand stets vom Standpunkt einer nationalen Wir-Soziologie verstanden hätten.7 Zwar habe die Ungleichheitssoziologie alles Mögliche in Frage gestellt (Klassen, Schichten, Milieus) – aber nicht die territoriale Referenz, die Bindung an den Boden, die nationalstaatliche Rahmung sozialer Ungleichheit.8 Dass soziale Ungleichheit bis dato allein in nationalen Bezügen gedacht und diskutiert wurde, ist eine Behauptung, die eine historische Überprüfung lohnt. Tatsächlich hat sich die für das fortgeschrittene 20.  Jahrhundert noch eher dünne historische Forschung zu sozialer Ungleichheit bisher auf die Geschichte

Konzepts Fassin, Les économies morales. Für eine sehr anregende Diskussion der Bedeutung von Moral, moralischen Leidenschaften und Praktiken für die Formierung der westdeutschen Demokratie siehe zudem van Rahden, Clumsy Democrats. 6 Vgl. etwa Beck/Poferl, Große Armut; Bayer u. a., Transnationale Ungleichheitsforschung; Berger/Weiß, Transnationalisierung. 7 Beck, Remapping, S. 168 f.; ders., Risikogesellschaft. 8 »In the sociology of inequality everything has been questioned – classes, strata, lifestyles, milieus and individualization  – but not the territorial reference, the ties to the soil, the­ nation-state framing of social inequality.« Beck, Remapping, S. 168.

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des Wohlfahrtsstaates und sozialpolitischer Setzungen konzentriert.9 Und ­sicher gibt es gute Gründe dafür, sich bei der Historisierung sozialer Ungleichheit im nationalstaatlichen Rahmen zu bewegen, denn im Laufe des 20.  Jahrhunderts waren es mit der fortschreitenden Etablierung sozialer Sicherungssysteme maßgeblich national verfasste Wohlfahrtsregime, die auf die Einhegung sozialer Ungleichheiten abzielten.10 Allerdings hat die Forschung gezeigt, dass städtische Verwaltungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige sozialpolitische Akteure darstellten. Wie viel von diesem Einfluss kommunale Akteure und ihre »Wohlfahrtsstädte« nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen behielten, ist eine Frage, der Historikerinnen und Historiker bis dato zu wenig nachgegangen sind.11 Die vor allem in Großstädten herrschende Wohnungsnot stellte nach dem Ende des Kriegs in jedem Fall eines der zentralen sozialen Probleme dar.12 Dementsprechend wichtig waren der soziale Wohnungsbau und die Sanierung der Städte für die westeuropäische Sozialpolitik, wobei gerade die mit der Stadtentwicklung und ihren Folgen befassten Akteure sich stark an den Entwicklungen in anderen Ländern orientierten.13 Mit Blick auf diese vielfältigen Zusammenhänge von Lokalem und Transnationalem erscheint es produktiv, den Begriff der Translokalität aufzu­greifen, der in jüngerer Zeit in die Debatten zur transnationalen Geschichte eingebracht wurde.14 Zwar changiert dessen Verwendung und lässt mitunter an Trenn9 Noch verstärkt durch die große Aufmerksamkeit, die den Thesen des französischen Ökonomen Thomas Piketty in den Medien zu Teil werden, interessieren sich neuerdings wieder mehr Historikerinnen und Historiker auch in Deutschland für Fragen sozialer Ungleichheit. Siehe dazu Lenger/Süß, Soziale Ungleichheit. Zu dem Buch von Piketty, Capital siehe zudem die Besprechungen von Hartmut Kaelble, Jochen Streb, Gisela Hürlimann und Marc Buggeln in dem Review-Symposium unter: http://www.hsozkult.de/publication review/id/rezbuecher-22841?title=review-symposium-piketty-das-kapital-im-21-jahr hundert [letzter Zugriff: 27.7.2015]. 10 Für eine von der Geschichte des Sozialstaats ausgehende Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit siehe etwa Hockerts, Einführung. Für stärker theoriegeleitete Über­ legungen hinsichtlich der Analyse sozialer Ungleichheit und Gerechtigkeit vgl. hingegen Mergel, Gleichheit sowie Torp, Gerechtigkeitsprinzipien. Für eine vergleichende  – und weniger wohlfahrtsstaatlich ausgerichtete – Analyse der »Images« von Armut in den beiden Deutschland vgl. zudem die Dissertationsschrift von Lorke, Armut. 11 Zur Geschichte der »Wohlfahrtsstadt« und der kommunalen Sozialpolitik vgl. Rudloff, Wohlfahrtsstadt. Im Rahmen des an der Universität Freiburg angesiedelten DFG -Projekts zu »Armut in Deutschland« bearbeitet Dorothee Lürbke derzeit ein Dissertationsprojekt, das sich Armut und Armutspolitik auf kommunaler Ebene widmet. 12 Siehe dazu auch Kaelble, Abmilderung. 13 Rodgers, Atlantic Crossings. Zur transnationalen Stadtplanungsdiskussion der Nachkriegszeit siehe v. a. Klemek, Transatlantic Collapse. 14 Freitag, Translokalität. Für eine kritische Auseinandersetzung mit der oft unterkomplexen Verwendung des Lokalitätsbegriffs in der Geschichtswissenschaft vgl. Epple, Lokalität. Für eine ähnliche, an der Actor-Netzwerk-Theorie orientierte Herangehensweise siehe Lanzinger, Lokale.

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schärfe zu wünschen übrig. Doch rücken mit der Rede von translokalen Beziehungen zum einen die Vielfalt der räumlichen Kategorien und Handlungshorizonte der Akteure selbst in den Fokus, die bei klassischen Vergleichsstudien mitunter aus dem Blick geraten, sowie zum anderen die Möglichkeit, unterschiedliche Betrachtungsmaßstäbe systematisch miteinander zu verknüpfen. Die folgende Analyse fragt daher nach der Bedeutung lokaler, nationaler und globaler Handlungsräume für die zeitgenössische Wahrnehmung sozialer Probleme und die Praktiken von Aktivisten, Politikern und Experten. Um die enge Verknüpfung zwischen lokalen Problemzonen und der sich in den 1960er Jahren etablierenden Vorstellung einer für die westlichen Wohlstandsgesellschaften spezifischen Armut aufzuzeigen, geht die Analyse dabei in einem ersten Teil von der Auseinandersetzung mit Barackenlagern in Frankreich aus, um sich dann in einem zweiten Teil der Kritik an randstädtischen Notunterkünften in Westdeutschland zu widmen. Der abschließende dritte Teil dient dazu, einige vergleichende Überlegungen zur Bedeutung des Lokalen – als Ort der Benachteiligung, der Wissensproduktion und der politischen Praxis – anzustellen. Dass die Analyse dabei von einem französischen Beispiel einerseits und einem westdeutschen Beispiel andererseits ausgeht, hängt maßgeblich damit zusammen, dass sich beide Länder in ihrer Wohnungs- und Stadtpolitik zunächst erstaunlich parallel entwickelten.15 In beiden Fällen sahen sich die Regierungen bis weit in die 1960er Jahre mit einer ausgeprägten Wohnungsnot konfrontiert, beide investierten ähnlich ambitioniert in den Neubau von Wohnungen und in beiden Ländern waren die zuständigen Stadtplaner eng in ein internationales Netzwerk moderner Planer und Experten eingebunden, das sich in der Zwischenkriegszeit herausgebildet hatte.16 Zudem machten beide Länder ähnliche wirtschaftliche Boom-Erfahrungen, und sowohl in Frankreich als auch in Westdeutschland waren es gerade die Städte, in denen sich die in den Wirtschaftswunder-Jahren rasch wachsende migrantische Bevölkerung bemerkbar machte. Allerdings waren in Frankreich diese Migrationsverläufe eng mit Prozessen der Dekolonisation verknüpft. Zudem liegt es angesichts der stark zentralistischen Struktur und des universalistischen französischen Nationsverständnisses auf den ersten Blick nahe, dass lokale Bezüge und ein im städtischen Nahraum verankertes politisches Handeln dort eine geringere Rolle spielten. Zugleich ist gerade für die französische Sozialpolitik wiederholt auf die besondere Bedeutung verräumlichter Politiken und eine ›Hyperlokalisierung der sozialen Frage‹ im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert verwiesen worden.17 Auch war »Raum« als 15 Zum Wohnungsbau der Nachkriegszeit in Frankreich und Westdeutschland vgl. Diefendorf, In the Wake; Flagge, Geschichte des Wohnens; Voldman, La Reconstruction; Tellier, Le Temps; Newsome, French Urban Planning. 16 Zur Entstehung des »internationalen Stils« in der modernen Architektur siehe vor allem Mumford, Defining sowie Hall, Cities, v. a. S. 218–261. 17 Fourcaut, Pour en finir, S. 103. Soziologen wie Historiker haben die Bedeutung verräumlichter Politiken in Frankreich gerade im Zusammenhang mit dem Aufstieg der »banlieue als soziales Problem« verfolgt. Vgl. u. a. Tissot, L’état; Dikeç, Badlands.

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analytische Kategorie für die französischen Sozialwissenschaften lange ungleich bedeutsamer als für die westdeutsche. Trotz der Parallelen in ihrer Wohnungspolitik läge es damit eigentlich nahe anzunehmen, dass westdeutsche und französische Akteure soziale Probleme anders rahmten, dass sie in unterschiedlichen räumlichen Bezügen agierten und »das Lokale« für ihr poli­tisches Engagement unterschiedlich wichtig war.

I.

Die Entdeckung der vierten Welt

Der US -Ökonom John Kenneth Galbraith, erklärte die Journalistin Ursula Vogel 1971 unter der Überschrift »Inseln des Elends« in einer umfangreichen Buch­ besprechung in der Wochenzeitung »Die Zeit«, habe vor zwölf Jahren als erster auf das Paradox aufmerksam gemacht, dass »mitten in der reichsten und mächtigsten Gesellschaft der Welt und im Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis ›Inseln des Elends‹« existierten.18 Allerdings betreffe diese Armut nicht mehr die Masse der Bevölkerung – und die übrige Gesellschaft leiste es sich im Glauben an einen unbegrenzten Aufschwung, die vorhandenen Armen zu übersehen. Neben der Studie von Galbraith zur »Gesellschaft im Überfluss« führte die Rezensentin noch ein weiteres Werk an: den Besteller »The Other America«, mit dem der Publizist Michael Harrington in den 1960er Jahren maßgeblich dazu beigetragen hatte, Armut in den Vereinigten Staaten auf die politische Agenda zu setzen.19 Harringtons 1962 publizierte Studie hatte in den USA in den Medien Aufmerksamkeit erregt und dazu beigetragen, dass Sozialwissenschaftler sich wieder verstärkt für die Erforschung von Armutsphänomenen interessierten. Zudem setzte dort eine breite politische Debatte ein, die unter Präsident Lyndon B. Johnson in ein Regierungsprogramm zur Bekämpfung von Armut mündete. Vorangetrieben wurde die dortige Auseinandersetzung durch die Rassenunruhen, die Mitte der 1960er Jahre in verschiedenen Städten ausgebrochen waren. Sie festigten im öffentlichen Bewusstsein die Assoziation von Armut und innerstädtischen Ghettos und lenkten den Fokus auf eine spezifisch urbane Armut; eine Entwicklung, die wiederum in der französischen und deutschen Presse aufmerksam verfolgt wurde. In ihrer Besprechung eines Bandes zur Armutsforschung folgte die »Zeit«-Rezensentin damit dem gängigen Duktus zeitgenössischer Analysen. Denn in Westdeutschland – ebenso wie in Frankreich – dienten bis weit in die 1970er Jahre die USA und die Werke von Galbraith und Harrington als Einstieg, um sich mit Armut im eigenen Land zu befassen. In den Sozialwissenschaften und Medien verwiesen Autoren oft auf US -amerikanische Forschungen und politische Projekte, um eine Debatte im eigenen Land zu fordern. Und beinahe durchgehend unterstrichen sie damit, dass es sich bei Armut um ein geteiltes Phänomen westlicher 18 Ursula Vogel, Inseln des Elends, in: Die Zeit, 10.9.1971, S. 22. 19 Zur Entwicklung dieser Debatten vgl. Katz, Undeserving Poor, v. a. S. 16–60.

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Industriegesellschaften oder schlicht »des Westens« handelte. Allgemein präsentierten sich die westeuropäischen Gesellschaften seit den 1950er Jahren zunehmend selbstbewusst als Gesellschaften, die sozialen Aufstieg versprachen.20 Demgegenüber galt Armut als ein marginales Phänomen, das die Regierungen mit Hilfe ihrer elaborierten Sozialpolitiken in den Griff bekommen hätten. Die in den 1960er Jahre zögerlich einsetzende Auseinandersetzung mit Armut muss vor der Folie dieser Selbstbeschreibung verstanden werden. Denn westdeutsche ebenso wie französische Beobachter sahen darin kein alt hergebrachtes Problem. Sie gingen vielmehr von einer für die Überfluss­gesellschaften der Nachkriegszeit neuen Form der Armut aus, die mit dem umfassenden Sicherheitsversprechen der westeuropäischen Staaten brach. Meist waren es dabei städtische »Inseln des Elends« und damit sichtbar schlechte Wohnbedingungen, an denen sich derartige Bedenken entzündeten. Und in der Regel waren es zunächst lokal agierende Wohlfahrtsverbände sowie Kommunalpolitiker und die Mitglieder städtischer Verwaltungen, von denen die Problematisierung solcher urbaner b­ adlands ausging.21 Ergänzt durch das Foto einer in eine enge Küche gedrängten kinderreichen Familie, war die »Zeit«-Rezension zu den »Inseln des Elends« eigentlich einem Tagungsband gewidmet, den der britische Armutssoziologe Peter Townsend herausgegeben hatte und der 1970 unter dem Titel »The Concept of Poverty« erschien. Der Band versammelte die Beiträge zu einer internationalen Tagung, die Armutsforscher aus den USA, West- und Nordeuropa 1967 im britischen Essex zusammengeführt hatte. Der Blick auf die Hintergründe dieser Konferenz hilft zu verstehen, wie die Armutsforschung seinerzeit als ein Feld etabliert wurde, in dem sich zahlreiche Akteure engagierten, die ursprünglich in einem lokalen Kontext – im Auftrag von städtischen Sozialverwaltungen oder in Kooperation mit lokal agierenden Wohlfahrtsverbänden – auf die Thematik aufmerksam geworden waren. So war kennzeichnend für die Verflechtungen in diesem Feld, dass als Organisator der Essex-Konferenz zwar Peter Townsend auftrat, der zu den wichtigsten Vertretern der britischen Armutssoziologie zählte, die eigentlichen Initiatoren des Treffens aber in Frankreich saßen: Die zunächst in Frankreich, bald international operierende humanitäre Organisation Aide à toute détresse (später ATD Quart Monde) hatte in den späten 1950er Jahren ihre Arbeit aufgenommen. 20 Zur These einer lange Zeit ausbleibenden Thematisierung von Armut in Westdeutschland siehe Leisering, Verdrängung. Zum kritischen Hinweis darauf, dass de facto die Reduzierung der sozialen Ungleichheit in den 1950er und 1960er Jahren nicht alle sozialen Bereiche in gleicher Weise betraf, vgl. Kaelble, Abmilderung. 21 In seinen an Foucault orientierten theoretischen Betrachtungen benutzt Kevin Hethering­ ton den Begriff der »badlands« synonym zu dem der Heterotopien, die er als »places of an alternate ordering« beschreibt: »Heterotopia organize a bit of the social world in a way different to that which surrounds them. That alternate ordering marks them out as Other and allow them to be seen as an example of an alternative way of doing things.« Hetherington, Badlands, S. viii.

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Anfänglich vor allem im Pariser Raum aktiv, entwickelte sie sich beeindruckend schnell zu einem einflussreichen Akteur in der internationalen Armutsbekämpfung und humanitären Hilfe. Die Organisation hatte bereits Anfang der 1960er Jahre zwei internationale Konferenzen organisiert, die in Paris im Unesco-­Palais stattgefunden hatten.22 Sie führte dort Sozialwissenschaftler aus Westeuropa und Nordamerika zusammen, die sich mit der Erforschung extremer Armut befassten. Bei den Unesco-Konferenzen präsentierten sie Untersuchungen und Projekte, die Anfang der 1960er Jahre meist noch in den Anfängen steckten. Dennoch betrachtete der Soziologe Jules Klanfer die in seinem Konferenzband vorgestellten Präsentationen als Teil eines internationalen Trends: Er sah darin den Ausdruck einer erst kürzlich erfolgten ›Entdeckung der Armen im Zeit­ alter des Überflusses‹ (»découverte des pauvres à l’âge de l’opulence«), die in den USA begonnen hatte und sich nun ausbreitete.23 Alwine de Vos van Steenwijk als Generalsekretärin von ATD Quart Monde und der katholische Priester Joseph Wresinski als deren Führungsfigur waren seit der Gründung der Organisation bemüht, ein Netzwerk von Experten zu etablieren, die in regelmäßigem Kontakt zueinander standen. Infolgedessen trafen viele der bei den Unesco-Konferenzen versammelten Experten in den folgenden Jahren regelmäßig bei internationalen Konferenzen zusammen: bei einem von der OECD organisierten Seminar zu Niedrigeinkommen, in der Armutssektion des vom Internationalen Soziologenverbandes organisierten World Congress of Sociology und anlässlich einer von der britischen Regierung in Kooperation mit der UN veranstalteten Tagung zu »Community Development and Urban Deprivation«.24 Peter Townsend gehörte ebenso zu diesem Kreis wie eine Reihe anderer einflussreicher Soziologen und Psychologen aus den USA und Westeuropa.25 Auch die eingangs erwähnte Armutskonferenz in Essex war ein Ergebnis dieser Kooperation, die maßgeblich durch de Vos van Steenwijk voran getrieben wurde. Tatsächlich versuchte de Vos – in enger Zusammenarbeit 22 Die beiden Konferenzen wurden vom Bureau de Recherches Sociales organisiert, einer Teilorganisation von ATD Quart Monde. Bureau de Recherches Sociales (Hg.), Familles inadaptées et relations humaines. Compte rendu du colloque international sur les familles inadaptées, 12.–14. Mai 1961, Paris 1961. 23 Klanfer, L’Exclusion, Vorwort (ohne Seitenangaben). 24 Die Gruppe trat dabei wiederholt als »International Committee on Poverty Research« auf. Townsend, Acknowledgements, in: ders., Concept; OCDE , Les groupes; International Sociological Association, Transactions, Bd. II, S. 173–185; Bd. IV, S. 478 f. 25 Dazu gehörten u. a. Otto Klineberg (1899–1992), der als einer Gründerväter der nordamerikanischen Sozialpsychologie gilt; der einflussreiche US -amerikanische Armutssoziologe S. M. Miller; Lloyd E. Ohlin (1918–2008), der mit Arbeiten zu den soziologischen Ursachen jugendlicher Delinquenz bekannt wurde, der Direktor des dänischen Nationalen Instituts für soziale Forschung, Henning Friis (1911–1999), sowie der norwegische Rechtssoziologe Vilhelm Aubert (1922–1988). Vgl. dazu die Briefwechsel in ATD Quart Monde, Centre Joseph Wresinski, Archiv, Ordner: BRS: Colloques et études, années 1960. Comité international de recherche sur la pauvreté, 1962–1970 ; Ordner: BRS: Correspondance de l’institut, 1969–1977.

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mit Joseph Wresinski – auf unterschiedlichen Wegen, Forschungen zur Situation »armer« Familien anzustoßen. Sie gab Studien in Auftrag, schrieb Forschende mit Vorschlägen für Studien an und war in die Organisation meist internationaler Konferenzen involviert.26 Man könne wenig tun – außer, die Politiker mit deren eigenen Waffen schlagen und kämpfen, schrieb sie 1966 an Peter Townsend. Für sie, fuhr sie fort, sei die Verbindung zwischen Sozialforschung und Sozialpolitik der »kämpfende Flügel« ihrer Organisation.«27 Bei ihrer Zusammen­arbeit mit wissenschaftlichen Experten orientierten sich die Aktivisten dabei stets an der eigenen Arbeit mit wohnungslosen Familien, mit der sie Ende der 1950er Jahre in Noisy-le-Grand, einem Lager im Osten von Paris, begonnen hatten.28 Das Essen sei ein Problem gewesen, das Wasser auch, erinnerte sich später Bernard Jährling, der mit seiner Mutter und seinen Geschwistern dort untergekommen war, nachdem das Lager, in dem sie zuvor gelebt hatten, geräumt wurde.29 Wasser habe es nur aus einer zentralen Pumpe gegeben und wenn der Winter kam, sei die Situation dort zu einem Martyrium geworden. Auch berichtete Jährling über beengte Wohnverhältnisse und ständige Konflikte. Gewalt, erinnerte er sich, sei eine alltägliche Erfahrung gewesen. Zudem hätten die Bewohnerinnen und Bewohner in der ständigen Angst gelebt, dass die Sozialfürsorge ihre Kinder in Heimen unterbrachte, was oft passiert sei. Das Lager, in dem Jährling aufwuchs, beherbergte 1956 etwa 250 meist kinderreiche Familien, die dort auf einem nicht befestigten Terrain am Rande der Stadt Noisy-le-Grand lebten, die sich wiederum bei Paris befand. Verhältnisse, wie Jährling sie für Noisy beschrieb, existierten in den 1950er und 1960er in einer Vielzahl von Barackenlagern, sogenannten bidonvilles, sowie öffentlich verwalteten Notunterkünften an den Rändern französischer Städte. Denn ungeachtet ihrer ambitionierten Wohnungsbaupolitik gelang es der französischen Regierung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur schleppend, die Wohnungsnot zu beseitigen. Der Mangel an Wohnraum blieb bis in die 1970er Jahre hinein ein zentrales Problem. Besonders Migrantinnen und Migranten, die aus den ehemaligen Kolonien und aus Südeuropa neu in das Land kamen, sowie ältere Menschen mit einem geringen Einkommen und kinderreiche einkommensschwache Familien kämpften damit, dass es an erschwinglichen Wohnungen mangelte. Ihre Lage wurde dadurch erschwert, dass es schon vor dem Krieg versäumt worden war, die bestehenden Altbauten zu sanieren und neue Gebäude zu errichten. Hinzu kam, dass in Frankreich in den 1950er Jahren ein später Urbanisierungsschub einsetzte. Die Zahl derer, die schließlich gezwungen waren, in Barackenlagern unterzukommen, war beachtlich. 1966, nachdem die Regierung wiederholt Versuche unternom26 Die Studie von Jean Labbens, Le Quart-Monde, erschien im Auftrag von ATD Quart Monde. 27 ATD Quart Monde, Centre Joseph Wresinski, Archiv, Ordner : BRS: Colloques et études, années 1960. Comité international de recherche sur la pauvreté, 1962–1970, Brief von de Vos an Townsend, 18.2.1966. 28 Gueslin, Histoire, S. 219–29 ; de la Gorce, L’espoir; dies., Peuple. 29 Jährling, Pierre, S. 59.

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men hatte, die bestehenden bidonvilles aufzulösen, lebten offiziellen Schätzungen zufolge noch 75.000, de facto aber wohl deutlich mehr Personen in solchen Lagern. Hinzu kamen die Bewohner öffentlich verwalteter Notunterkünfte und sogenannter Übergangslager. Bei einem Großteil handelte es sich um Migranten. Hinzu kamen – wie in Noisy, wo sie den Großteil der Bevölkerung stellten – einkommensschwache französische Familien.30 Für ATD Quart Monde bildete Noisy in den Anfangsjahren eine Art Laboratorium für die Entwicklung eigener Ansätze der sozialen Arbeit. Die stark im katholischen Milieu verhaftete Organisation etablierte früh ein System von internationalen Volontären, die mit den Familien im Lager lebten. Eng verknüpft mit einem christlichen Wohltätigkeitsverständnis wurde das enge Zusammenleben der Freiwilligen mit Familien, die in extremer Armut lebten, zu einer zentralen Maßgabe der Organisation. Ihre Aktivisten übertrugen die in Noisy erprobten Praktiken bald auf die Arbeit in vergleichbaren Räumen; zunächst in Frankreich und Belgien, dann in einer wachsenden Zahl anderer Länder. Den Ausgangspunkt bildeten stets spezifische räumliche Settings: lagerähnliche Strukturen wie in Noisy oder nicht sanierte innerstädtische Gebiete, in denen sichtbar schlechte Lebensverhältnisse herrschten und sich Haushalte konzentrierten, deren Benachteiligung in der Regel nicht allein in begrenzten Ressourcen bestand, sondern auch in einer mangelnden Bildung, in prekärer Beschäftigung und sozialer Isolation. Dementsprechend unterhielten Wresinski und de Vos van Steenwijk, die zuvor als Diplomatin bei der Unesco tätig gewesen war, nicht nur Kontakte zu einem sich rasch verdichtenden internationalen Netzwerk an Soziologen und ehemaligen Volontären, sondern auch zu einer Vielzahl lokal aktiver Initiativen. Bereits 1961 verfügte die Organisation über Büros in sechs Ländern.31 Eine Folge dieser Einbettung der eigenen sozialen Arbeit in internationale Netzwerke war, dass Noisy für Forschende und Aktivisten aus den USA und Westeuropa zu einem beliebten Besuchs- und Anschauungsort für »das Leben in Armut« wurde. Der Brite Peter Townsend schickte wiederholt Studierende nach Frankreich, damit sie in den von ATD betreuten Lagern mehr über soziale Arbeit mit »armen Familien« lernten. Auch unterhielt die Organisation enge Kontakte zu dem amerikanischen Soziologen Lloyd E. Ohlin (1918–2008). Neben seiner Tätigkeit an der Columbia Universität betreute Ohlin in der Lower East Side in Manhattan ein Armutsprogramm, das sich an Jugendliche richtete und der Prävention von Straftaten dienen sollte. Vermittelt über ATD kam Bernadette Cornuau, die als eine der ersten Volontärinnen in Noisy-le-Grand gearbeitet hatte, 1964 nach Manhattan und übertrug die in Frankreich entwickelten moralischen 30 Gastaut, Bidonvilles, S. 241. Zur Geschichte der bidonvilles allgemein siehe v. a. Nasiali, Slum; Lyons, Bidonvilles; Cohen/David, Cités. 31 De la Gorce, L’espoir, S.  187. Anfang der 1960er Jahre zählte die in westdeutschen Obdachlosensiedlungen in Köln und Bonn operierende Organisation Kinder in Not dazu, in Großbritannien das Frimhurst Recuperative Home. In Brüssel war ATD unter anderem in Community-Projekte im innerstädtischen Les Marolles involviert, in New York kooperierte sie mit einem Präventionsprojekt in der Lower East Side.

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Leitlinien der Solidarität mit Familien der »Vierten Welt« auf die dortige Arbeit. Zahlreiche weitere Freiwillige folgten.32 Auch erweiterte sich das Aktionsfeld ATDs rasch über Westeuropa und die USA hinaus. Damit verknüpfte die Organisation lokale, an einen einzelnen Ort gebundene Erfahrungen mit einer Strategie der Internationalisierung. In ihrem Bemühen um internationale Kooperation überlagerten sich letztlich drei Zielsetzungen: erstens, jene Probleme, die sich bei der alltäglichen Arbeit in Notunterkünften stellten, wissenschaftlich zu durchdringen; zweitens über die Zusammenarbeit mit bekannten Sozialwissenschaftlern Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen; sowie drittens über den internationalen Austausch zu unterstreichen, dass es sich bei Armut um ein universales Problem und eben nicht um das Problem einzelner Staaten handelte. Aus Sicht der Aktivisten ließ das Leben in Barackensiedlungen und inner- oder randstädtischen Slums die Betroffenen zu Angehörigen einer »Vierten Welt« werden. Ihrer translokalen Strategie entsprach ein Verständnis von Armut als einer Kultur, einem spezifischen Lebensstil und einer stigmatisierenden Erfahrung, die die Betroffenen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften an urbane Problemzonen band und sie in jeweils ähnlicher Weise von der übrigen Gesellschaft ausschloss.33 Dementsprechend sprach Wresinski von »millions of families who, throughout the industrialised Western world, are excluded from our cultures and rejected from all systems of redistribution within our affluent societies.«34 Die Rede von einer separaten Welt der Armut, die sie bei ihrer Arbeit in westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern entwickelten, begannen die Aktivisten allerdings bald auf andere Regionen zu übertragen. »Nachdem wir in industrialisierten Ländern begonnen haben, mit Familien zusammen zu wohnen, die inmitten des Überflusses in extremer Armut leben (die ›underclass‹ oder das ›Subproletariat‹)«, fasste Joseph Wresinski die Arbeit seiner Organisation 1979 in einem Brief an die staatliche US Agency for International Development zusammen, »entdeckten wir schnell, dass Entwicklungspolitik und sozialer Wandel auch in der Dritten Welt beinah ohne Ausnahme die Ärmsten zurück lassen.«35 Was die »extrem armen Familien« (»families in hard-core poverty«), mit denen sie in der Lower East Side von New York, in London oder Rotterdam zusammen arbeiteten, mit jenen gemeinsam hätten, die in den schlimmsten­ 32 ATD Quart Monde, Centre Joseph Wresinski, Archiv, Ordner : BRS: Colloques et études, années 1960. Comité international de recherche sur la pauvreté, 1962–1970, Brief von de Vos an Ohlin, 17.2.1966. Der Austausch wurde auf amerikanischer Seite anfänglich von der Organisation Mobilization for Youth betreut, die in der Lower East Side Projekte der sozialen Arbeit initiierte. 1968 gründete ATD dann ein »children’s centre«, um mit der Arbeit fortzufahren. Fanelli, Human Face. 33 Siehe etwa Joseph Wresinski, Préface, in: Labbens, Le quart-monde, S. 22 f. 34 Joseph Wresinski, The Rights of the Fourth World, Vortrag bei einem von der ­Association pour le Développement du Droit Mondial organisierten Symposium, Paris, 30.11.–1.12.1973. 35 ATD Quart Monde, Centre Joseph Wresinski, Archiv, Ordner: State Dept. of Health, Education and Welfare (USA), Brief von Wresinski an Harold Lubell, 23.05.1979.

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favelas um Rio de Janeiro (…) lebten, sei, erklärte Wresinski, dass sie keine Fürsprecher mehr hätten (»they are no longer spoken for«). Umso notwendiger erschien ihm die Arbeit der eigenen Organisation. Etwaige Unterschiede in der Herkunft oder den Gründen für die wirtschaftlichen Problemlagen traten gegenüber dieser vermeintlichen gemeinsamen Exklusionserfahrung der Vierten Welt in den Hintergrund. Dass etwa in Frankreich die Geschichte der bidonvilles und ihrer Auflösung, die Ende der 1950er Jahre den Ausgangspunkt für die Arbeit der Organisation bildete, kaum zu denken war ohne die französische Migrationspolitik, die wiederum stark geprägt war von der kolonialen Vergangenheit Frankreichs, problematisierten die »Vierte Welt«-Aktivisten kaum. Dabei stellten Migrantinnen und Migranten aus den ehemaligen nordafrikanischen Kolonien gemeinsam mit Arbeitsmigranten aus Südeuropa den größten Teil der Lagerbevölkerung. Auch folgte die Regierung bei ihrer Räumung und Umsiedlung der Lagerbewohnerinnen und -bewohner einer ethnischen Hierarchie, in deren Folge insbesondere algerische Familien als besondere »Problembevölkerungen« klassifiziert wurden. Derartige Probleme und Differenzierungen ließ der von ATD und einer Reihe anderer Akteure angestoßene Armutsdiskurs indes weitgehend außen vor.36 Die moralische Rede von einer »Vierten Welt« der Armen und die damit verknüpfte Vorstellung einer von der übrigen Gesellschaft ausgeschlossenen Gruppe, die auf bestimmte Räume zurückgeworfen war, fand weit über Frankreich hinaus Verbreitung. Die Mitglieder von ATD waren erstaunlich erfolgreich darin, das eigene Armutsverständnis nicht nur in der französischen Politik, sondern auch in internationalen Zirkeln zu etablieren. Dass im zuständigen Komitee der Europäischen Kommission und im Rahmen ihres Ersten Armutsprogramms bis in die frühen 1980er Jahre eine Unesco-Definition von Armut verwendet wurde, die de facto auf die von ATD organisierten Konferenzen Anfang der 1960er Jahre zurückging, war dafür charakteristisch.37 Das Gleiche galt für die transnationale Karriere der Rede von einer »Quart Monde«, bei der sich Analyse und Mobilisierung vermischten, indem auf die Evokation einer »Vierten Welt« stets der moralische Appell an ein humaneres, solidarischeres Handeln folgte; ein Appel, der sich scheinbar – ähnlich des Menschenrechtsdiskurses – an alle Gemeinwesen und nicht an einen einzelnen Staat richtete.

36 Dafür charakteristisch ist die Bemerkung Klanfers zu den Debatten bei der Unesco-Konferenz von 1964, dass Migranten bei der Analyse ›schlecht angepasster Familien‹ bis dato weitgehend außen vor gelassen worden seien, da davon ausgegangen wurde, dass sie das Land wieder verließen. Klanfer, L’Exclusion, S. 216–219. 37 Maurice Brugnon, Poverty in Europe. Report. Explanatory Memorandum, in: Council of Europe. Parliamentary Assembly, 32. Sitzung, 21.–25.4.1980. Documents. Working­ Papers, Vol. I, Doc. 4508, S. 4 f.

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II. Lokaler Aktivismus und das Lernziel Solidarität Auch Westdeutschland, schrieb der Journalist Neal Ascherson 1965 in der britischen Wochenzeitung »The Observer«, entkomme nicht vollkommen jenem Übel, das derzeit in der gesamten westlichen Welt erkannt werde – dem »Phäno­ men der ›neuen Armen‹«.38 Obwohl es dem Land ausgesprochen gut gehe und es mit einem normalen sozialen Sicherungssystem ausgestattet sei, gebe es dort Inseln des Elends und der Obdachlosigkeit (»pockets of misery and homelessness«). Als Beispiel führte Ascherson Obdachlosenunterkünfte in Bonn und Köln an und wies darauf hin, dass die Zahl der dort beherbergten, meist kinderreichen einkommensschwachen Familien wuchs  – ungeachtet der umfang­ reichen Neubaupolitik der westdeutschen Regierung. Im Zuge des wachsenden Interesses, das die britische Presse Mitte der 1960er Jahre an der Obdachlosigkeit von working-class-Familien im eigenen Land zeigte, machte Ascherson damit auf ein Phänomen aufmerksam, das aus Sicht der westdeutschen Sozialverwaltungen ein zentrales Problem darstellte und auch in Deutschland schrittweise eine weitere Öffentlichkeit zu beschäftigen begann. Und wenngleich die Debatten in beiden Ländern auf unterschiedliche soziale Milieus Bezug nahmen, ist auffallend, dass die Wohnungslosigkeit junger Familien dort jeweils zum In­ begriff für soziale Verhältnisse wurde, die dem Wohlstand der eigenen westlichen Gesellschaft nicht angemessen waren. In Großbritannien war es in erster Linie Ken Loachs von der BBC produzierter Film »Cathy Come Home« über den sozialen Abstieg einer jungen Mutter, der in den Massenmedien und im Parlament eine rege Debatte zu den sozialen Härten auslöste, die mit der herrschenden Wohnungsnot verknüpft waren39. Dass am Ende der 1960er Jahre auch in Westdeutschland eine rasch wachsende Zahl von Reportagen die Lage wohnungsloser Familien in der Bundesrepublik kritisierte, war wiederum in erster Linie auf das Engagement kommunalpolitischer Akteure und lokaler Initiativen zurückzuführen.40 »Die Obdachlosensituation«, schrieb bereits 1960 der Kölner Sozialdezernent Ulrich Brisch, »hat einen bedrohlichen Umfang angenommen. Die Obdach­ 38 Neal Ascherson, New Homes – But not for the New Poor, in: The Observer, 21.3.1965, S. 4. 39 Crowson, Revisiting. 40 Siehe u. a. Albert Müller, Wiedersehen mit der Baracke, in: Die Welt, 10.2.1965; Edith­ Zundel, Die Gesellschaft der Obdachlosen, in: Die Zeit, 2.6.1967; Ernst Klee, Ne Alkohol­ fahne wie’n Heiligenschein, in: Die Zeit, 3.4.1970; »Hier wurde die Marktwirtschaft zum Fluch«. Spiegel-Report über sozial benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik, Teil I: Obdachlose, in: Der Spiegel, 28.9.1970; Ulla Hofmann, Fünf Menschen in einem Zimmer ohne Wasseranschluss, in: FAZ , 6.2.1970; Vilma Sturm, Bedrängnisse derer, die am Rande leben, in: FAZ , 6.12.1970; Siegfried Diehl, Schwere Wege aus dem Getto, in: FAZ , 15.4.1972; Petra Michaely, Warum sammelt Frau Schumann Tabletten?, in: FAZ , 22.9.1973; Warum soll ich keine Chance haben?, in: FAZ , 30.6.1973; Dokumentarfilm »Siedlung Eulenkopf« von Horst Eberhard Richter und Manfred Lisson, ARD, 27.7.1972.

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losenfürsorge ist gezwungen, zur Unterbringung der andrängenden Obdach­ losen Hotelzimmer anzumieten und die Obdach suchenden Familien ausein­ ander zu reißen, d. h. die Frauen mit Kleinstkindern in Mütterheime, die älteren Kinder in Waisenhäuser und die Ehemänner in Obdachlosenledigenheimen unterzubringen.«41 Tatsächlich verzeichneten vor allem größere Städte im Laufe der 1960er Jahre eine steigende Zahl an sogenannten »Obdachlosen«: Einzelstehenden oder Familien, die in kommunal verwalteten Notunterkünften und Lagern wohnten. Die Kölner Verwaltung etwa, die besonders früh mit einer systematischen Erfassung der in die kommunale Zuständigkeit fallenden Obdachlosen begann, registrierte zwischen 1955 und 1961 einen Anstieg von 6.563 auf 16.363 und dann bis 1965 auf 18.713 Personen.42 Für die Bundesrepublik insgesamt gingen Schätzungen um 1970 von 800.000 oder 1.000.000 als obdachlos Betreuten aus.43 Nachdem in den ersten Nachkriegsjahren vor allem Flüchtlinge und Bombenopfer in städtischen Notunterkünften untergekommen waren, hatte die wachsende Obdachlosigkeit in den 1960er Jahren andere Ursachen. Sie betraf in erster Linie kinderreiche Familien, die aufgrund von Mietschulden oder städte­ baulichen Maßnahmen ihre frühere Wohnung verlassen mussten und daraufhin in die Zuständigkeit der lokalen Sozialverwaltungen fielen, die sie wiederum in kommunale Unterkünfte einwiesen.44 Dass einkommensschwache Haushalte im wachsenden Maße mit Zwangsräumungen zu kämpfen hatten, hing maßgeblich mit Verschiebungen auf dem Mietmarkt zusammen. Trotz der ambitionierten öffentlichen Baupolitik der Nachkriegszeit mangelte es an preiswertem Wohnraum, und die Wartelisten für neu gebaute Sozialwohnungen waren lang. In den innerstädtischen Altbaugebieten wiederum stiegen die Mieten, seitdem die Bundesregierung die bestehenden Mietpreisbindungen für immer mehr Gebiete aufhob.45 Dass die Zahl derjenigen, die in kommunalen Notunterkünften wohnten, seit den 1950er Jahren stieg und erst in den 1970er Jahren zurückging, war damit Ausdruck einer Politik, die zwar für einen Großteil der Bevölkerung bessere Wohnbedingungen schuf, besonders einkommensschwache Haushalte aber ausließ. Während die kommunale Verwaltung von Obdachlosigkeit in einer langen ordnungspolizeilichen Tradition stand, reagierten die meisten Städte auf die Wohnungsnöte der Nachkriegsjahre, indem sie ihr Verwaltungshandeln änder41 Brisch, Denkschrift, S. 4. 42 Höhmann, Zuweisungsprozesse, S. 29. Zu den steigenden Zahlen allgemein siehe Haag, Wohnungslose, S. 16; Deutscher Städtetag, Hinweise, S. 5. 43 Deutscher Städtetag, Hinweise; Christiansen, Obdachlos, S.  29; Schulz, Rechtsstellung, S. 12. Lediglich Nordrhein-Westfalen erfasste Obdachlose systematisch, viele Kommunen veröffentlichten dazu keine Statistiken. 44 Haag, Wohnungslose, S. 12, 16 f.; Schulz, Rechtsstellung, S. 11; Krebs, Anwendung, S. 8, 12 f. 45 Zur Geschichte der staatlichen Wohnungspolitik in dieser Zeit vgl. Kühne-Büning u. a., Angebot, hier v. a. S. 158–162.

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ten, aber grundsätzlich an einer Politik der Disziplinierung festhielten.46 Das dreistufige System zur Unterbringung Obdachloser, das Köln Mitte der 1950er Jahre etabliert hatte, führten in den kommenden Jahren alle westdeutschen Großstädte ein. Im Rahmen dessen unterschieden die Verwaltungen zwischen »nicht förderungswürdigen« und »förderungswürdigen« Obdachlosen und sahen unterschiedliche Lösungen für diese Gruppen vor: Die als »nicht förderungswürdig« klassifizierten Familien verblieben in besonders einfach aus­gestatteten Obdachlosenunterkünften. Die als »förderungswürdig« Eingestuften wurden in besser ausgestattete Übergangshäuser überführt, die zu ihrer ­»Hebung« beitragen und sie auf das Leben im sozialen Wohnungsbau vorbereiten sollten, das die dritte Stufe in diesem System darstellte. Auch weil die Wartelisten für neue Sozialwohnungen lang waren, verblieb indes der Großteil der Bewohner jahrelang in den Lagern und Übergangshäusern. Die Unterkünfte befanden sich meist in isolierter Lage in der Nähe von Bahndämmen, Fabrikgeländen und Müllkippen. Die Wohnverhältnisse waren beengt, zumal kinderreiche Familien einen Großteil der Bewohnerschaft ausmachten. Zudem brachte es ihre betont einfache Bauweise mit sich, dass die Baracken sich sichtbar von der umgebenden Bebauung abhoben und damit einen eigenen Raum markierten, dem die übrige Stadtbevölkerung in der Regel ablehnend gegenüber stand. »Die Szene ist grau,« schrieb die Redakteurin Vilma Sturm 1971 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Blick auf Kölns größte Obdachlosenunterkunft, die Hacketäuerkaserne, und berichtete von »Gettos in den ärmlichen Außenbezirken«, in denen »viele Menschen auf geringstem Raum zusammengepfercht, einer strengen Hausordnung unterworfen« lebten.47 Sturm war eine von vielen Journalisten, die um 1970 die Beschreibung der Unterkünfte zum Ausgangspunkt nahmen, um auf die Marginalisierung der Bewohner aufmerksam zu machen. Dass gerade kinderreiche Familien gezwungen waren, dauerhaft in Notunterkünften zu wohnen, da es an günstigem Wohnraum fehlte, stand für sie im Kontrast zum Wohlstand der westdeutschen Gesellschaft. Auch warnten viele mit Blick auf die lange Verweildauer der dort Untergebrachten davor, dass sie auf diesem Weg Teil eines benachteiligten Milieus wurden, aus dem sie sich nicht mehr zu lösen vermochten. Dass die Medien die Verhältnisse in den randstädtischen Lagern als Skandalon entdeckten, hing dabei maßgeblich damit zusammen, dass zuvor lokale Verbände und Verwaltungen darauf aufmerksam gemacht hatten – und in den späten 1960er Jahren immer mehr dazu übergingen, wissenschaftliche Studien in Auftrag zu geben, die sich mit den dort lebenden Familien befassten.48 Um ihre Kritik an den geschildeten Zuständen zu unter46 Zu dieser Politik und ihren Effekten siehe ausführlicher Reinecke, Disziplinierte Wohnungsnot. 47 Vilma Sturm, Die Leute aus der Hacketäuerkaserne, in: FAZ , 18.12.1971. 48 Zu den Studien, die im Auftrag von städtischen Kommunen oder dort engagierten lokalen Initiativen entstanden oder aus solchen Auftragsarbeiten hervorgingen, zählten u. a. Blume, Die Obdachlosen; Christiansen, Obdachlos; Haag, Wohnungslose; Krebs, Anwendung; Forschungsgruppe Gemeindesoziologie, Obdachlosigkeit; Direktorium Investi­

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mauern, beriefen sich die Autorinnen und Autoren der Sozialreportagen beinah durchgehend auf diese Studien und führten zusätzlich Kommunalpolitiker sowie lokale Aktivisten und Sozialarbeiter als Experten für die geschilderten Probleme an.49 Beinahe ebenso kennzeichnend wie die Kritik der beengten Unterkünfte war die Art und Weise, auf die Vilma Sturm in der FAZ jene charakterisierte, die sich in der Hacketäuer Kaserne engagierten, um dort, wie Sturm schrieb, helfend einzugreifen: »Wir gewahren einen Koloß von Kunsthändler und einen schlanken Juden aus London; einen Inder und einen Benediktinermönch; eine zum Aufruhr blasende Sozialarbeiterin und eine ökumenische Hausgemeinschaft, einen Arzt und verschiedene Pfarrer (…) dazu zahlreiche Studenten und Leute vom Republikanischen Club, im Hintergrund Heinrich Böll, Yehudi Menuhin, Marcel Marceau, ein Universitätsinstitut und ein Amt«.50 Wenngleich ihre Aufzählung wild klingen mag, zählte Sturm durchaus treffend jene Akteure auf, die sich um 1970 in Köln für die Bewohnerinnen und Bewohner der kommunalen Obdachlosenunterkunft einsetzten. Dass deren Lage weit über Köln hinaus Aufmerksamkeit erregte, hing primär damit zusammen, dass sich neben dem Sozialdezernenten Brisch dort seit den späten 1950er Jahren eine private Initiative erfolgreich engagierte. Mit ihren Empfehlungen für die Arbeit mit obdachlosen Familien wurde die Förderergemeinschaft Kinder in Not in den 1960er Jahren weit über den Köln-Bonner Raum hinaus bekannt. Die meisten der von Vilma Sturm aufgezählten Akteure waren von der Initiative auf die Lager aufmerksam gemacht worden; unter anderem, indem deren Initiator, Johannes Wasmuth, Künstler wie Chagall, Kokoschka, Picasso oder eben Menuhin und Marceau anschrieb, auf die Verhältnisse in den Siedlungen aufmerksam machte und sie davon überzeugte, der Gemeinschaft Bilder oder Konzertgagen zur Verfügung zu stellen.51 Das sicherte der Initiative die Aufmerksamkeit der Medien. Ähnlich wie die Akteure von ATD Quart Monde bemühte sich die 1959 gegründete Förderergemeinschaft bei ihrer Arbeit in sozialen Brennpunkten früh um eine auch internationale Zusammenarbeit mit Sozialpädagogen und Soziologen. 1962 nahm sie Kontakt zu dem britischen Soziologen Richard Hauser auf und lud ihn nach Köln ein. Umgekehrt fuhren Aktivisten nach London, um gemeinsam mit Hauser alternative Modelle der aktivierenden Betreuungsarbeit zu tionsplanungs- und Olympiaamt, Wohnungen; Heil, Modell. Die Studie von Adams, Nachhut, entstand in enger Zusammenarbeit mit der Förderergemeinschaft Kinder in Not, das gleiche gilt für Iben, Randgruppen. Die Studie von Vaskovics, Segregierte Armut, ging aus einer Auftragsstudie für das Bundesfamilienministerium hervor. 49 Vgl. etwa Hans-Joachim Noack, Begraben in Baracken. Eine Studie zeigt, wie Obdachlose sich abkapseln, in: Die Zeit, 3.3.1972 sowie die Angaben in Fußnote 40. 50 Sturm, Die Leute. 51 Zu dieser Praxis vgl. Aich/Bujard, Soziale Arbeit, S.  25–36, 65, 68 mitsamt einer Liste der involvierten Künstler, ebd., S. 182; sowie Terence Prittie, The Rich Turn a Blind Eye. Young Generation Tackles Duesseldorf’s Slums, in: The Guardian, 28.12.1959; Auriol Stevens, The Robin Hood of Bonn, in: The Guardian, 7.8.1968.

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entwickeln.52 Im Rahmen angeleiteter Gruppendiskussionen sollten die Bewohnerinnen und Bewohner sich gemeinsam ihrer Situation bewusst werden, um dann selbst Strategien zu entwickeln, die politische wie persönliche Veränderungen anstoßen sollten.53 Die Aktivisten von Kinder in Not unterfütterten dabei ihr Plädoyer für lokales Engagement, indem sie erklärten, dass es sich bei Armut nicht um ein individuell verschuldetes Schicksal, sondern um das Problem einer immer dynamischeren Leistungs- und Wohlstandsgesellschaft handelte, das nicht allein in Deutschland, sondern international Handlungsbedarf erforderte. Dass die Förderergemeinschaft das eigene Bemühen um eine Integration innergesellschaftlicher Randgruppen mit Formen der Friedensarbeit im Ausland gleichsetzte, war da folgerichtig.54 1967 gründete die Initiative gemeinsam mit ATD und weiteren Organisationen aus England, Belgien und Holland eine sogenannte internationale Föderation, kurz FIDAD, deren Mitglieder sich 1970 zu einem Kongress in Köln trafen.55 Politisch hatte die Föderation wenig Einfluss, dennoch zeugt sie von dem verbreiteten Interesse auch kleiner nicht-staatlicher Organisationen an einer internationalen Kooperation und Lobbyarbeit. Das Bemühen um internationale Kooperation war auch für die Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler kennzeichnend, die mit der Förderer­ gemeinschaft zusammen arbeiteten. Als der Marburger Erziehungswissenschaftler Gert Iben sich 1967 in einem Brief an ATD Quart Monde wandte, war er dabei, gemeinsam mit der Kölner Förderergemeinschaft Erziehungshilfen für die Familien in Notunterkünften zu erarbeiten. Er sei, erklärte Iben, an der Arbeit ATDs sehr interessiert, zumal er sich gerade in einem Forschungsprojekt mit der Hilfe für »Kinder in Slums« befasse und dabei versuche, ausländische Erfahrungen einzubeziehen. Die Publikationen zur Arbeit der französischen Organisation griff Iben dankbar auf.56 Zudem blieb er in den folgenden Jahren in Kontakt, berichtete wiederholt über die eigene Forschung zu sozial benachteiligten Familien und fuhr schließlich 1973 selbst nach Noisy, um sich vor Ort über das Lager zu informieren. Derartige Formen der Kooperation verdeutlichen, wie die Wissensproduktion zu urbaner Armut sich in der Bundesrepublik zunächst an den Rändern der etablierten Sozialforschung etablierte: indem sie größtenteils auf akademischen Expertisen basierte, die in Auftrag gegeben wurden, indem sie sich an der wenig angesehenen Maxime der Praxisnähe orientierte und indem die Suche nach Gesprächspartnern die jeweiligen Forscher früh an den Hierarchien des eigenen wissenschaftlichen Feldes vorbei ins Ausland führte. In der historischen Forschung ist bis dato übersehen worden, wie breit das Interesse an Obdachlosigkeit in der Bundesrepublik war. Die gängige Behauptung, 52 Kelm, Faß, S. 18, 28–30; Schlichting u. a., Erster Bericht; Aich/Bujard, Soziale Arbeit, S. 70. 53 Schlichtung u. a., Erster Bericht. Siehe dazu auch Iben, Randgruppen; Adams, Nachhut. In Köln ging u. a. die Interessengemeinschaft Obdachlosigkeit, die wiederum vorübergehend eine Obdachlosenzeitung herausgab, aus diesen Bemühungen hervor. 54 Kelm, Faß, S. 117–127, v. a. 125 f. 55 FIDAD für »Fédération Internationale d’Aide à Toute Détresse«. Kelm, Faß, S. 66–76. 56 Vgl. etwa die Angaben in Iben, Kinder.

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dass eine nennenswerte Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen von Armut in der westdeutschen Soziologie, Politik und Öffentlichkeit erst in den späten 1970er Jahren einsetzte, übersieht etwas zu bereitwillig, dass es eine solche Auseinandersetzung durchaus gab, sie aber in einem unerwarteten Kontext stattfand: in kommunalpolitischen Zirkeln, nicht-staatlichen Organisationen und im Rahmen einer anwendungsorientierten Sozialforschung, deren Ergebnisse nur in Teilen veröffentlicht wurden.57 In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren gaben die Sozialverwaltungen fast aller westdeutschen Großstädte Gutachten in Auftrag, die sich mit der Situation sogenannter Obdachloser befassen sollten. Dementsprechend zählte der Soziologe Laszlo Vaskovics 1975, nachdem er vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit den Auftrag erhalten hatte, eine Bestandsaufnahme der Forschung zu Obdachlosigkeit zu machen, »30–40 größere empirische Erhebungen, Fallstudien, Beobachtungen, Befragungen und sekundärstatistische Auswertungen«, die seit Beginn der 1960er Jahre in der Bundesrepublik durchgeführt wurden, und erfasste bis 1978 rund 600 Veröffentlichungen zum Thema, wobei die meisten dieser Arbeiten in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren erschienen.58 Bei allen Unterschieden in der konkreten Ausrichtung war den zahlreichen Studien gemein, dass sie an der konkreten räumlichen Situation der Notunterkünfte ansetzten und auf dieser Basis Beobachtungen zur Lage »armer« oder »sozial schwacher« »Problemfamilien«, »Randgruppen« oder schlicht »der Unterschicht« anstellten. Den Bezugspunkt bildeten beinah durchgehend deutsche kinderreiche Familien, die über ein unterdurchschnittliches Einkommen verfügten. Indes machten Aktivisten wie Experten das zentrale Problem dieser Familien nicht in ihrer wirtschaftlichen Lage aus, sondern in der Kumulation unterschiedlicher Formen der Benachteiligung, wie mangelnder Bildung, begrenzten Ressourcen, einem beschränkten Zugang zu öffentlichen Infrastrukturen und gesellschaftlicher Teilhabe – vor allem aber in ihrer sozialer Isolation.59 Für die meisten der damit befassten Soziologinnen und Soziologen waren Obdachlosigkeit und urbane Armut Ende der 1960er Jahre Ausdruck einer sozialen Ungleichheit, die maßgeblich strukturelle Ursachen hatte. Durchaus vorangetrieben durch die Studentenbewegung, aber keineswegs auf linke Kreise beschränkt, dominierte dabei die Forderung nach einer Selbstorganisation der Betroffenen einerseits und einer inklusiveren Politik andererseits. Auch wurde das Leben in den städtischen Problemzonen zum Bezugspunkt einer vor allem im alternativen Milieu, aber nicht nur dort, wachsenden Skepsis gegenüber der 57 Siehe dazu u. a. die Angaben in Fußnote 48 sowie Schulz, Rechtsstellung; Höhmann,­ Zuweisungsprozesse. 58 Vaskovics, Stand, S. 41, 17. Zum Hintergrund dieser Forschungsarbeit selbst siehe die Unterlagen in Barch, B/189/22000. 59 Siehe dazu etwa Höhmann, Zuweisungsprozesse, S. 104 f. Höhmanns Studie entstand im Rahmen eines größeren DFG -geförderten Projekts zur »Integration marginaler Gruppen«. In ähnlicher Weise siehe auch Haag, Wohnungslose; Krebs, Anwendung; Christiansen, Obdachlos.

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eigenen »Leistungs-« oder »Wohlstandsgesellschaft«. Als der Spiegel 1972 eine mehrteilige Artikelserie zu sozialer Benachteiligung mit einer langen Reportage zu Obdachlosigkeit einleitete, bemühte sich das Blatt dementsprechend, gängige Stereotype des asozialen und arbeitsunwilligen Wohnungslosen mit Expertenmeinungen zu kontrastieren, die deutlich machen sollten, dass deren Probleme maßgeblich auf die herrschende Wohnungspolitik zurückzuführen seien – und dass der Umgang mit den Betroffenen in erster Linie Schwächen der eigenen Gesellschaft offenbarte. Die Ächtung der Obdachlosen, erklärte das Magazin, füge sich in das Bild einer Gesellschaft »die kommerziellen Erfolg zur moralischen Maxime erhoben hat (…) und dabei allemal eine menschliche Bruchquote einkalkuliert wie bei der Herstellung von Einwegflaschen«.60 Nachdem es zu Beginn der 1960er Jahre noch üblich gewesen war, die Schuld für urbane Armut bei den Betreffenden selbst und in deren abweichendem Verhalten zu suchen, festigte sich Ende der 1960er Jahre damit ein neuer mora­ lischer Konsens. Immer häufiger suchten Beobachter die Ursache für deren Lage in der Politik (in städtebaulichen Maßnahmen, der Aufhebung der Wohnungszwangswirtschaft oder einer zu wenig sozial verträglichen Wohnungspolitik) – oder in den gesellschaftlichen Verhältnissen allgemein (in einer zu schnelllebigen, zu leistungs- oder zu konsumorientierten Gesellschaft). Wenige gingen so weit wie der Psychologe und spätere Friedensaktivist Horst Eberhard Richter, der mit Blick auf die gruppentherapeutische Arbeit mit dem »modernen Subproletariat in unseren städtischen Slums« von einem »Lernziel Solidarität« sprach und die Arbeit in den Obdachlosensiedlungen als eine Form der Selbstfindung und existentiellen Erfahrung feierte.61 Nicht alle Zeitgenossen verstanden die Hilfe für Wohnungslose ähnlich emphatisch als eine Form der Selbstverwirklichung, doch stilisierte eine wachsende Zahl an Journalisten, Aktivisten und Forschenden die Obdachlosensiedlungen zu Orten, die Solidarität und integrative Arbeit erforderten – und beriefen sich dabei auf den Wohlstand der eigenen Gesellschaft, der neue moralische Imperative mit sich brachte.

III. Urbane Armut translokal: Fazit In Frankreich wie in Westdeutschland banden sich an die staatliche Neubau­ politik der Nachkriegszeit umfassende Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellschaft. Doch kämpften beide Länder bis in die 1970er Jahre, zumal in den Großstädten, mit einem Mangel an Wohnraum für einkommensschwache Haushalte. Zwar schuf die staatliche Wohnungspolitik insgesamt mehr und besseren Wohnraum, doch minderte sie die Zahl an besonders billigen Wohnungen eher, 60 »Hier wurde die Marktwirtschaft zum Fluch«. Spiegel-Report über sozial benachteiligte Gruppen in der Bundesrepublik, Teil I: Obdachlose, in: Der Spiegel, 28.9.1970. 61 Richter, Gruppe, sowie dazu Tilmann Moser, Selbstheilung im Obdachlosen-Getto, in: Spiegel, 11.3.1974.

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als sie zu heben. Im französischen Fall noch bestärkt durch einen späten Urbanisierungsschub, wurden die mit der Wohnungsnot verbundenen sozialen Probleme in den Barackenlagern an den Rändern französischer Städte besonderes augenscheinlich. Ähnliches galt für die kommunal verwalteten Notunterkünfte in den Randlagen westdeutscher Großstädte. Die Lebensverhältnisse in den randstädtischen Lagern wurden in beiden Ländern im Laufe der 1960er Jahre zunehmend skandalisiert und lokale Aktivisten ebenso wie sozialwissenschaftliche Experten nahmen die »Armut« und »Randständigkeit« der dort Lebenden zum Anlass, um eine solidarischere Gesellschaft zu fordern. In der Regel orientierten sie sich bei diesen Forderungen an dem Leitideal einer »Gesellschaft der Gleichen«,62 wenngleich in das Plädoyer für eine gerechtere Gesellschaft – bei genauerem Hin­sehen – nicht alle Gruppen gleich einbezogen wurden. Neu war eine solche Moralisierung der Sozialpolitik nicht an sich, schließlich hatten frühere Sozialreformer ihre Kritik an urbanen Elendsvierteln ebenfalls mit einem Appell an die Wohltätigkeit der Nation im Allgemeinen und des Bürgertums im Besonderen verbunden. Neu war allerdings, dass die politischen Akteure in den 1960er Jahren die Zustände am Stadtrand als skandalös empfanden, weil sie mit dem verbreiteten Glauben brachen, das starke wirtschaftliche Wachstum der Boomjahre würde, gepaart mit einem expandierenden Wohlfahrtsstaat und einer ambitionierten Stadtplanungspolitik, Armut endgültig beseitigen. Dass Beobachter unterschiedlicher politischer Lager von einer »neuen Armut der Wohlstandsgesellschaft« sprachen, war eine Folge dieser verschobenen Erwartungshorizonte. Im französischen wie im westdeutschen Fall wurde der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit als maßgeblicher Bruch mit früheren Entwicklungen wahrgenommen. In die dominante Selbstbeschreibung beider Gesellschaften als Aufstiegsgesellschaften ließen sich Armut und ausgeprägte soziale Benachteiligung lange nur schwer integrieren. Die zögerlich einsetzende Auseinandersetzung mit Armut und Marginalität muss vor dieser Folie der Selbstbeschreibung als Wohlstandsgesellschaft verstanden werden: Denn die damit befassten Akteure stellten die gegenwärtigen Problemlagen selten in eine Kontinuitätslinie mit früheren. Sie setzten sie vielmehr in Bezug zu dem neu erworbenen Wohlstand westlicher Industriegesellschaften. Auffallend an der Auseinandersetzung mit urbaner Armut ist dabei, dass zum einen immer mehr Akteure Ende der 1960er Jahre die Beschreibung des wohlhabenden Westens mit einem moralischen Imperativ verknüpften und das alte Diktum vom Reichtum, der verpflichtet, auf die gesamte Gesellschaft angewandt sehen wollten. Zum anderen ist auffallend, dass sich  – merklich beeinflusst durch politische Ideale aus dem weiteren Umfeld der Neuen Linken – die Beschreibung sozialer Benachteiligung verschob und immer weniger um den Gegensatz von oben und unten denn um die Gegenüberstellung von drinnen und draußen, Teilhabe oder Ausschluss gruppiert wurde.63 Nachdem es um 62 Rosanvallon, La société des égaux. 63 Siehe zur Geschichte dieser Verschiebung allgemein auch Ziemann, Metamorphorik.

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1960 noch üblich gewesen war, die Schuld für urbane Armut bei den wohnungslosen Familien selbst und in deren »Asozialität« zu suchen, hoben Aktivisten wie Experten Ende der 1960er Jahre häufig hervor, dass es sich bei der sozialen Isolation der Betroffenen und ihrem Ausschluss von Teilhabe um ein gesellschaftlich produziertes, durch die Politik verstärktes Problem handelte.64 Während sich der Großteil der Gesellschaft in Lebensstil wie Selbstverständnis an der expandierenden Mittelschicht orientierte, wuchsen die Bedenken hinsichtlich der Angehörigen einer »Vierten Welt«, die sich keiner Schicht oder Klassen zuordnen ließen, die auf sich gestellt waren und die eigenen Interessen nicht zu vertreten vermochten. Die gruppenbasierten Praktiken, für die sich Aktivistinnen und Aktivisten sowie eine wachsende Zahl an Sozialarbeitern und Forschenden im Umgang mit dieser Gruppen einzusetzen begannen, zielten dementsprechend auf Prozesse der Solidarisierung innerhalb der Problem-Communities ab und bauten auf die Selbstorganisation und -artikulation der Betreffenden.65 Bemerkenswert ist dabei, dass sich die Sorge vor urbaner Armut und das darauf bezogene Plädoyer für eine solidarischere Gesellschaft durchgehend auf die »eigene« Bevölkerung bezog. Obschon sie etwa in den französischen bidonvilles den Großteil der Bevölkerung stellten, wurden die Wohnprobleme von Migrantinnen und Migranten in Frankreich separat und meist unter (post)kolonialen Vorzeichen verhandelt.66 Das gilt selbst auf der Ebene der involvierten Aktivistinnen und Aktivisten, indem die mit der Situation zumal algerischer Migranten befassten Initiativen bei ihrer Arbeit andere Probleme und Formen der Diskriminierung in den Blickpunkt rückten als eine armutsorientierte Initiative wie ATD Quart Monde es tat.67 In Westdeutschland wiederum war der post­ koloniale Rahmen weniger bedeutsam, doch gruppierte sich dort die um 1970 einsetzende Ausein­andersetzung mit der Wohnsituation migrantischer Familien maßgeblich um die Warnung vor einer Herausbildung von »Ausländerghettos« in innerstädtischen Sanierungsvierteln.68 In das Werben für eine solidari-

64 Auch im französischen Fall begannen Ende der 1960er Jahre immer mehr Soziologinnen und Soziologen in ihren Studien zu den bidonvilles sowie zu dem in Frankreich etablierten System von öffentlich verwalteten Übergangssiedlungen und »einfacheren« Sozialwohnungen auf die politisch und gesellschaftlich produzierte marginalité der betroffenen Familien zu verweisen. Siehe u. a. Tricart, Genèse; Chévallier, Une cité; Liscia/Orlic, Les­ Cités; Liscia, L’enfermement; Pialoux, Etat. 65 In Westdeutschland setzten sich Aktivisten  – unterstützt von Sozialarbeitern  – häufig für eine an US -amerikanischen und britischen Beispielen orientierte, gruppenbasierte Gemeinwesensarbeit ein. Im französischen Fall leiteten community-basierte Modelle weniger die öffentliche Sozialarbeit an, prägten aber durchaus die Praktiken einer Organisation wie ATD Quart Monde. Siehe dazu auch Haag, Wohnungslose, v. a. S. 141 f.; Deutscher Städtetag, Hinweise, S. 21 f. 66 House/Thompson, Decolonisation. Siehe dazu auch Nasiali, Slum; Lyons, Bidonvilles;­ Cohen/David, Cités. 67 Vgl. als Beispiel etwa Hervo, Bidonvilles. 68 Siehe dazu ausführlicher Reinecke, Auf dem Weg.

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schere Gesellschaft wurden Migrantinnen und Migranten in dieser Zeit selten einbezogen. Ungeachtet dieser Unterschiede rückt eine komparative Sicht auf den Umgang mit urbanen Armutszonen in Westdeutschland und Frankreich für die 1960er und 1970er Jahre in erster Linie die Gemeinsamkeiten in deren Entwicklung in den Blick. Maßgeblich dürfte das damit zusammenhängen, dass gerade die Wohnungs- und Stadtplanungspolitik traditionell stark durch internationale Austauschbeziehungen geprägt sind. Hinzu kommt, dass die Angehörigen der beiden Milieus, in denen die Problematisierung urbaner Armut in den 1960er Jahren vornehmlich angesiedelt war – das entstehende linksalternative und das (in Frankreich einflussreichere) linkskatholische Milieu – insgesamt stark von internationalen Entwicklungen geprägt bzw. in ihren Wertsetzungen und Praktiken tendenziell universalistisch orientiert waren. Dass sich die Problematisierung sozialer Benachteiligung zunehmend auf Fragen der Teilhabe, der Marginalität und des Ausschlusses verlagerte, war schließlich in beiden Fällen einer noch jungen Generation von Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern geschuldet, die Ende der 1960er Jahre im weiteren Umfeld der Studentenbewegung zu promovieren begannen und die in ihren theoretischen Leidenschaften, ihrer Staats- und Gesellschaftskritik starke Ähnlichkeiten aufwiesen. Indes vermag eine komparative Analyse, die sich in starren nationalen Rahmen bewegt, nicht oder nur bedingt die permanent wechselnden Wahrnehmungshorizonte, an denen sich zeitgenössische Akteure orientierten, sowie ihre quer zu nationalen Kontexten liegenden Kontakte und Strategien zu erfassen. Nachdrücklicher als der Begriff der Transnationalität weist der der Trans­ lokalität darauf hin, dass sie den eigenen sowie den Handlungsraum derer, mit denen sie in Kontakt standen, nicht notwendigerweise national rahmten. Beispielsweise interessierten sich im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit und urbaner Armut viele Aktivisten und Forschende weniger für den nationalen als für den spezifisch urbanen Kontext, in dem andere Projekte entstanden. Dem entsprach das verbreitete Verständnis von extremer Armut als einer Kultur des Ausgeschlossenseins, die sich in urbanen Problemzonen weltweit, oder doch zumindest in den »Inseln des Elends« der westlichen Wohlstandsgesellschaften ähnelte. Zwar dienten nationale Wohlfahrtsregime als Bezugspunkte dieser Diskussion, doch waren es maßgeblich lokal agierende, nicht-akademische Akteure, die den Prozess einer »Entdeckung von Armut« vorantrieben. Während das Thema auf nationalstaatlicher Ebene in Frankreich und zumal der Bundesrepublik lange Zeit kaum Interesse weckte, erregte die Sichtbarkeit unterdurchschnittlicher Wohnverhältnisse im städtischen Nahraum eher Aufmerksamkeit. Die Bekämpfung von Wohnungsnot und Armut verstanden die involvierten Aktivisten, kommunalpolitischen Akteure und wissenschaftlichen Experten dabei in der Regel als ein neu zu formierendes Handlungs- und Forschungsfeld, das genau deswegen den Vergleich mit anderen lokalen Erfahrungen erforderte. Gerade in der Anfangszeit spielten Vernetzung und Transfer eine zentrale Rolle,

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weil die Betreffenden überall auf der Suche nach neuen Ansätzen der sozialen Arbeit und Forschung waren. Dementsprechend bildete sich in den 1960er Jahren über Konferenzen, Veröffentlichungen und individuelle Kontakte ein internationales Netzwerk von Aktivisten und Experten aus, die Armut als ein ge­ teiltes Problem westlicher Wohlstandsgesellschaften verstanden. Unter Bezug auf das gemeinsame Leben in »Einer Welt« setzte in den 1970er und 1980er Jahren – das hat David Kuchenbuch kürzlich überzeugend beschrieben – gerade im alternativen Milieu eine »Glokalisierung der Moral« ein – und damit eine Rückbesinnung auf den »lebensweltlichen Nahbereich« unter dem Vorzeichen einer Globalisierung, die ein verändertes lokales Handeln erforderlich machte.69 Die translokale Vernetzung im Bereich der Armutsbekämpfung folgte um 1970 noch einer anderen Logik. Sie stand weniger im Zeichen eines globalen Interdependenzbewusstsein als dass sie davon ausging, dass die Städte fortgeschrittener Industriegesellschaften mit parallelen Problemlagen konfrontiert waren, die gleiche Lösungen erforderten. Vor allem aber diente die inter­ nationale Vernetzung lokalen Initiativen als eine Lobbyingstrategie, indem sie über die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und wissenschaftlichen Experten den eigenen Einfluss zu erhöhen versuchten. Solche Dynamiken lassen sich besser über eine translokale Perspektive er­ fassen. Überhaupt rücken mit der systematischen Verknüpfung unterschiedlicher Betrachtungsebenen oftmals übersehene Entwicklungen in den Fokus. Im Falle der Bundesrepublik etwa schärft die translokale Perspektive den Blick dafür, dass kommunalpolitische Akteure dort in Teilen durchaus erfolgreich Strategien entwickelten, um über die eigene Stadt hinaus Einfluss auf die Formulierung sozialpolitischer Agenden und Leitlinien zu nehmen. Auch wird aus der translokalen Perspektive deutlich, dass das bisher in der deutschen Forschung vor allem als eine Reaktion auf die wachsende Arbeitslosigkeit der 1970er Jahre und als Folge ökonomischer Umbrüche gedeutete Interesse an Neuer Armut und Neuer sozialer Frage auf weiter zurückreichende Forschungstraditionen und Debatten aufbaute.70 Ähnlich wie im Übrigen auch in Frankreich stellte die frühe Armutsarbeit eine Art Laboratorium dar: nicht nur für die Erarbeitung neuer Praktiken der sozialen Arbeit und des Verwaltungshandelns gegenüber sogenannten Problemfällen, sondern auch für die Entwicklung eines neuen Verständnisses von sozialer Ungleichheit, die in urbanen Zusammenhängen auf­ fallend früh als Form der Marginalisierung und des Ausschlusses von Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen aufgefasst wurde.

69 Kuchenbuch, ›Eine Welt‹. Zum Gemeinschaftsideal des westdeutschen linksalternativen Milieus in den 1970er und frühen 1980er Jahren siehe in diesem Zusammenhang auch Reichardt, Authentizität. 70 Zur Auseinandersetzung mit den politischen Kontexten der Rede von einer »Neuen Armut« in den späten 1970er Jahren siehe indes: Boldorf, »Neue Soziale Frage«; Süß, Armut.

Jenny Pleinen

Ein Europa von Sonderfällen? Überlegungen zu einer Migrationsgeschichte der Bundesrepublik in europäischer Perspektive

Angaben des Statistischen Bundesamtes zufolge hat aktuell jeder fünfte Einwohner der Bundesrepublik einen »Migrationshintergrund«– ist also entweder selbst seit Anfang der 1950er Jahre eingewandert oder hat mindestens einen Eltern- bzw. Großelternteil, auf den das zutrifft.1 Eine Zeitgeschichte, die sich als Vorgeschichte der Gegenwart versteht, steht angesichts der gesellschaftlichen Relevanz von Migrationsprozessen für die Bundesrepublik vor der Aufgabe, deren Geschichte in ihrer Vielfalt stärker in ihre Erzählung zu integrieren, statt sie lediglich auf eine demographische Veränderung oder eine Quelle innen­ politischer Konflikte zu reduzieren.2 Eine solche Integration ist bisher nur für die Geschichte der Vertriebenen erfolgt, allerdings aus einer Perspektive, die sie – zeitgenössischen Deutungsmustern folgend – als von der Geschichte anderer M ­ igrationen getrennt betrachtet.3 Zusätzlich zur relativen Isolation von der restlichen Zeitgeschichte ist die Migrations­geschichte der Bundesrepublik auch noch verhältnismäßig wenig mit den Migrationsgeschichten anderer Länder verknüpft. Statt ein Desiderat vergleichender Forschung dafür verantwortlich zu machen, wird von Teilen der Forschung wie der kürzlich erschienenen Dissertation von Alexander Clarkson die These eines westdeutschen Sonderfalles formuliert, der drei miteinander verknüpfte Spezifika aufweise: Erstens das Erbe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges. Zweitens das Fehlen eines Empire-Gedankens, der in Frankreich und Großbritannien außereuropäische Zuwanderung legitimierte. Drittens das Fehlen eines Multikulturalismus nach Art der USA oder Kanadas.4 Kaum etwas demonstriert das Fehlen einer integrierten westeuropäischen Migrationsgeschichte wohl besser als der Umstand, dass nicht nur die Zuwan1 Angabe des Statistischen Bundesamts für das Jahr 2013: https://www.destatis.de/DE/Zahlen Fakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund/ Migrationshintergrund.html [letzter Zugriff: 10.3.2015]. Der Begriff Migrationshintergrund wird seit dem Mikrozensus von 2005 in der Bundesrepublik für statistische Er­ hebungen genutzt. Siehe für seine genaue Definition und die empirische Umsetzung: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2005. 2 Siehe zur Konzeption der Zeitgeschichte als Vorgeschichte der Gegenwart Hockerts, Zeit­ geschichte. 3 Esch/Poutrus, Zeitgeschichte. 4 Clarkson, Fragmented Fatherland, S. 178 f.

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derungsgeschichte der Bundesrepublik, sondern auch die der anderen großen Einwanderungsländer, Frankreich und Großbritannien, von ihren jeweiligen Nationalhistoriographien als Sonderfälle geschrieben werden. Die »exception française« zeigt darüber hinaus, welchen Umdeutungen ein solches Label unterliegen kann: Darunter wird zum einen die lange Tradition der  – erstmals auch außereuropäischen – Zuwanderung und des Asyls verstanden.5 Zu diesem Narrativ gehört eine für Fremde offene politische Gemeinschaft, deren Institutionen (vor allem die Schulen) einen Assimilationsprozess vermittelten, durch den Migranten französische Werte und Ideen übernahmen.6 Seit den 1990er Jahren besteht jedoch noch eine andere Lesart des französischen Modells, der zufolge gravierende Exklusionsprozesse vor allem von Einwanderern aus dem Maghreb sowie eine starke Polarisierung der Einwanderungspolitik, durch die sich eine rechtspopulistische Partei etablieren konnte, den französischen Fall prägen.7 Auch die britische Migrationsgeschichte wird als Pendeln zwischen zwei sehr verschiedenen »Sonderfällen« geschrieben: Als konstituierend wird hierbei zunächst die Einmaligkeit eines uneingeschränkten Zugangs zum »Mutterland« gesehen, den das Staatsangehörigkeitsrecht von 1948 allen Untertanen der Krone explizit garantierte und der bis in die 1960er Jahre die ungesteuerte Zuwanderung jährlich zehntausender Migranten aus Indien, Pakistan, der Karibik und Afrika ermöglichte.8 Seit den 1960er Jahren entzog Großbritannien seinen (ehemaligen) Kolonien schrittweise den privilegierten Status und wandelte sich vom formal liberalsten Einwanderungsland zu einem der undurch­ lässigsten Migrationsregime Westeuropas.9 Ermöglicht wird ein solches Nebeneinander angeblicher Sonderfälle in Europa durch einen relativen Mangel an vergleichenden Studien, die systematisch nach europäischen und auch internationalen Gemeinsamkeiten und Unter­schieden

5 Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts lebten allein über 200.000 Algerier im französischen »Mutterland«. Sayad, La double absence, S. 419. 6 Lindemann, Sans-Papiers-Proteste, S. 27–29. 7 Manfrass, Einwanderungspolitik in Frankreich, S. 147; Godin, Does it, S. 74. Siehe zu den aktuellen Problemlagen in Frankreich Mbembe, The Republic. 8 Hansen, Citizenship, S. 3–124. 9 Seit der grundsätzlichen Novellierung von 1971 unterschied das britische Einwanderungsrecht zwischen »patrials« und »non-patrials«: Nur Nachkommen eines in Großbritannien geborenen Elternteils (ab 1973 auch Großelternteils) besaßen das unbeschränkte Einreiserecht. Einwohner (ehemaliger) Kolonien, auf die dies nicht zutraf, konnten zwar noch britische Staatsbürger sein, waren aber ebenso wie Drittstaatsangehörige auf Visa angewiesen. Schain, Politics, S. 139; Torpey, Invention, S. 151. Großbritannien war unter anderem das einzige Land der europäischen Gemeinschaft, das sich selbst nicht dazu verpflichtete, Sozialleistungen an Asylbewerber auszubezahlen. Messina, The Impacts, S. 260; Dörr/Faist, Institutional Conditions, S. 407. Erst angesichts von Schließungsprozessen bisher aufnahmewilligerer Migrationsregime wurde auch Großbritannien während der 2000er Jahre wieder verstärkt Ziel von Flucht- und anderen Migrationsbewegungen. Siehe zur aktuellen Entwicklung des britischen Migrationsregimes Hansen, Great Britain, S. 207.

Ein Europa von Sonderfällen?

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fragen.10 Betrachtet man diese »Sonderfälle« nicht isoliert voneinander, sondern gemeinsam, so kann die Vorstellung des implizit unterstellten Normalfalls, von dem die Bundesrepublik abwich, kaum überzeugen.11 Der folgende Beitrag versucht, die Blindstellen aufzuzeigen, die durch eine solche Engführung der Perspektive entstehen, und schlägt eine Periodisierung der bundesrepublikanischen Migrationsgeschichte vor, die die vielfältigen Verflechtungen auf europäischer Ebene stärker berücksichtigt.

I.

Das europäische Erbe des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges

Die Vorstellung eines migrationsspezifischen deutschen Sonderfalls verdeckt die vielfältigen und tiefgreifenden Auswirkungen, die der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg auf die anderen europäischen Migrationsregime hatten. Eine offensichtliche Folge bestand in der Flucht NS -Verfolgter, von denen 150.000 allein in Großbritannien Aufnahme fanden.12 In den besetzten Gebieten Westeuropas nutzte die nationalsozialistische Besatzungsmacht das Aus­ länderrecht, um Juden, die während der Zwischenkriegszeit aus Polen und anderen Ländern Osteuropas eingewandert waren und noch die Staatsangehörigkeit ihres Herkunftslandes besaßen, aufzuspüren und seit dem Sommer 1942 in die Vernichtungslager zu deportieren. In Belgien erzwangen die deutschen Besatzer zu diesem Zweck die Einführung eines Aufenthaltstitels, der eine zweiwöchige Meldung bei der Polizei zur Auflage hatte. Nach der Befreiung nutzte die belgische Fremdenpolizei dieses Instrument noch fast vier Jahre lang, um den Aufenthalt der Displaced Persons (DPs) und anderer als verdächtig angesehenen Migrantengruppen zu kontrollieren. Aufgegeben wurde diese Regelung nicht wegen ihres Ursprungs, sondern wegen des hohen Personalaufwands für die Polizeibehörden.13 Andere Regelungen aus der Besatzungszeit waren noch langlebiger, wie etwa die Schwierigkeiten der französischen provisorischen Regierung sowie der vierten Republik beim Umgang mit den Staatsbürgerschaftsregelungen des Vichy-Regimes zeigen.14 In den ehemals besetzten Gebieten Ostund Südosteuropas waren die Auswirkungen der brutalen NS -Rassepolitik noch 10 Oltmer, Migration, S.  92. Dieses Desiderat verschärft das methodische Grundproblem, das ein nationaler Zugang zu einem seinem Wesen nach grenzüberschreitenden Phänomen aufwirft. 11 Darüber hinausgehend lässt sich allgemein nach dem analytischer Mehrwert der Konstruktion solcher Normalfälle fragen – vor allem angesichts dessen, dass die geschichtswissenschaftliche Debatte um den »deutschen Sonderweg« letztlich zu einer weit­gehenden Abkehr von solchen simplifizierend linearen und Konflikte sowie Alternativen ausblendenden Narrativen geführt hat. Iggers, Geschichtswissenschaft, S. 440. 12 Panayi, Evolution, S. 130 f. 13 Pleinen, Migrationsregime, S. 28–36. 14 Weil, Français, S. 138–141.

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Jahrzehnte nach Kriegsende spürbar: Sie verschärfte Konflikte zwischen den Nationalitäten nachhaltig und erschwerte auf vielfältige Weise die Situation ethnischer Minderheiten und anders markierter Fremder.15

II. Das Fehlen eines Empire-Gedankens Der Zweite Weltkrieg beschleunigte die Auflösung der europäischen Kolonialreiche, obwohl sowohl Großbritannien als auch Frankreich versuchten, diesen Prozess aufzuhalten: Zum einen, indem sie den Rechtsstatus ihrer kolonialen Untertanen verbesserten und ihnen Freizügigkeit zubilligten – im britischen Fall eine empireweite formale Gleichstellung, während die französische Verfassung von 1947 dies nur für die integral zum Staatsgebiet gehörenden Territorien wie Algerien vorsah. Zum anderen ging die koloniale Metropole in beiden Fällen auch mit militärischer Gewalt gegen Unabhängigkeitsbewegungen vor: Die lange dominierende Darstellung, Großbritannien habe seine Kolonien im Gegensatz zu Frankreich weitgehend friedlich in die Unabhängigkeit entlassen, wird durch neuere Forschung vor allem zum Krieg gegen die »Mau-Mau« in ­Kenia bestritten oder zumindest relativiert.16 Die Folgen des Zweiten Weltkrieges für das französische Kolonialreich waren aufgrund der deutschen Besatzung des »Mutterlandes« besonders tiefgreifend: Der Krieg hatte den Besitz Algeriens so stark mit dem Selbstverständnis der Vierten Republik verknüpft, dass ein Rückzug trotz der wachsenden antikolonialen Gegenwehr für die politischen Eliten Frankreichs nicht in Frage kam.17 Frankreich führte daher den letzten großen Kolonialkrieg der europäischen Geschichte ausgerechnet gegen das Herkunftsland seiner wichtigsten Einwanderergruppe (1962 16 Prozent; 1975 21 Prozent).18 Verglichen mit anderen Kolonialkonflikten fand der Algerienkrieg – und der Einsatz »schmutziger« Methoden wie Folter durch die französische Armee – viel stärker im Licht einer neuen internationalen Öffentlichkeit statt.19 Er vergiftete das Verhältnis der algerischen Einwanderer zum französischen Staat nachhaltig und wurde innerhalb der französischen Gesellschaft noch bis in die 1990er Jahre tabuisiert.20 15 Mazower, Kontinent; Pohl, Herrschaft; Sundhaussen, Jugoslawien. 16 Klose, Menschenrechte, S. 291–298. 17 Algerische Soldaten hatten nicht nur fast ein Viertel der französischen Armee gestellt, sondern die Rückeroberung des Mutterlandes insgesamt war von Nordafrika aus erfolgt. Klose, Menschenrechte, S. 41. 18 Siehe zu den Einwanderungsmustern der Nordafrikaner nach Frankreich Losego, Fern von Afrika, S. 154 und zur Situation der algerischen Einwanderer während des Krieges Spire, Etrangers. 19 Der Algerienkrieg wurde auch im »Mutterland« selbst ausgetragen, etwa durch Terror­ anschläge der unionistischen OAS oder als die französische Polizei bei einer Pariser Demonstration der FLN im Oktober 1961 über 200 Aktivisten tötete. House/MacMaster, Paris. 20 Amir-Moazami, Muslime im Spiegel, S. 139; Renken, Frankreich, S. 462–466.

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Wenn also die Zuwanderung aus aktuellen und ehemaligen Kolonien, wie sie in Großbritannien, Frankreich, Belgien und den Niederlanden vorkam, als Bestandteil eines europäischen Normalfalls gesehen wird, kann der Empire-Gedanke nicht auf ein Motiv der Öffnung gegenüber dauerhafter Zuwanderung reduziert werden. Der »we are here because you were there«-Faktor ermöglichte zwar innerhalb eines bestimmten Zeitfensters die Einwanderung außereuropäischer Migranten in einem Ausmaß, das andernfalls blockiert worden wäre.21 Die rechtliche Zugehörigkeit zum Mutterland war jedoch stets verbunden mit der Erinnerung an koloniale Unterdrückung und rassistische sowie religiöse Diskriminierungserfahrungen, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch häufig das Leben der nichteuropäischen – und damit »sichtbaren« – Einwanderergruppen prägten.22 Zudem verlor der Empiregedanke als Zugangslegitimation bereits während der 1950er Jahre an Überzeugungskraft, als etwa die Einwanderung aus den »New-Commonwealth«-Ländern in Großbritannien zunehmend auf rassebezogene Überfremdungsängste stieß.23

III. Das Fehlen eines Multikulturalismus nach Art der USA oder Kanadas Ein idealtypisches Merkmal der Einwanderungsnationen besteht darin, dass sie die Verleihung ihrer Staatsangehörigkeit  – und vor allem das Recht auf volle politische Teilhabe – nicht als Endpunkt eines einseitigen Assimilations­ prozesses, sondern als Teil  der Nationsbildung sehen.24 Dazu gehörte sowohl eine Einbürgerungspraxis mit relativ niedrigen Anforderungen, als auch eine automatische Verleihung der Staatsbürgerschaft an Migranten der zweiten Generation. Einwanderungsnationen wie die USA haben jedoch bereits früh versucht zu verhindern, dass auch Migranten aus Afrika und Asien durch eine legale Einreise von dieser Öffnung profitieren konnten.25 Hier lässt sich seit dem Zweiten Weltkrieg daher wie in allen wohlhabenden Ländern eine steigende Zahl »illegaler« Migranten feststellen.26 Obwohl das Thema Migrationskontrolle 21 Das Zitat stammt aus einem Theaterstück des in der Karibik geborenen britischen Dramatikers Caryl Phillips und fand in den aus dem »neuen Commonwealth« eingewanderten Communities weite Verbreitung. Patteson, Caribbean Passages, S. 116. 22 Siehe zur ethnischen Differenzierung innerhalb des britischen und französischen Empires Gammerl, Untertanen und Merle, L’État; Roberts, Law für eine vergleichende Perspektive auf die Sondergerichtsbarkeiten für »Eingeborene« in den Kolonien Afrikas sowie zur Anwendung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts in den Kolonien Nagl, Grenzfälle. Siehe zur Fremdheitskategorie der »Français musulmans«, die als Mischung aus religiöser und rassistischer Fremdheitskategorie innerhalb der französischen Kolonialverwaltung für die indigene Bevölkerung Algeriens gebräuchlich war: Losego, Fern von Afrika, S. 242. 23 Panayi, Evolution, S. 134. 24 Puhle, Multikulturalismus, S. 82. 25 Martin, United States, S. 56 f. 26 De Genova, Migrant.

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zunehmend politische Aufmerksamkeit erhielt, gingen die Staaten nicht systematisch gegen die Beschäftigung illegaler Migranten vor, deren Arbeitskraft in Wirtschaftszweigen mit unattraktiven Arbeitsbedingungen wie der Land- oder Bauwirtschaft häufig dringend benötigt wurde.27 Das Ignorieren unerlaubter Einwanderung lässt sich als Strategie sehen, das von James Hollifield beschriebene »liberale Dilemma« zu umgehen:28 Wenn Rechtsstaaten Einwanderung, die sie grundsätzlich nicht völlig verhindern können und wollen, einmal offiziell anerkennen, ergeben sich daraus rechtliche Selbstverpflichtungen, denen sie sich nicht mehr gänzlich entziehen können. Eine solche Selbstverpflichtung besteht im Zugang zu privilegierten Aufenthaltstiteln und – häufig daran anknüpfend – auch zur Staatsbürgerschaft des Einwanderungslandes. »Illegale« Migranten hingegen können selbst nach sehr langer Aufenthaltsdauer keine solchen Ansprüche geltend machen.

IV. Das Label »(k)ein Einwanderungsland« Die Weigerung der Bundesrepublik, sich selbst trotz einer steigenden Ausländerquote als Einwanderungsland zu sehen, ist auf den ersten Blick sicherlich das stärkste Argument für einen deutschen Sonderfall. Bei näherer Betrachtung entspricht allerdings auch kein anderes europäisches Land dem Idealtypus eines Einwanderungslandes, wenn darunter das Paradigma einer staatlichen Akzeptanz und Förderung der dauerhaften Ansiedlung ausländischer Staatsbürger verstanden wird.29 Selbst in Ländern wie Frankreich oder Belgien, in denen Zuwanderung bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit als möglicher Ausgleich einer zu niedrigen Geburtenquote diskutiert und die Einbürgerung phasenweise erleichtert wurde, gab es keine politische Mehrheit dafür, dauerhaft zu einem Einwanderungsland in diesem Sinne zu werden.30 Die Migrationsforschung unterscheidet daher die europäischen de-facto Einwanderungsländer von den selbsterklärten Einwanderungsnationen USA, Kanada und Australien.31 Der restriktive Charakter der deutschen Staatsbürgerschaft ist eine zentrale Komponente des Narratives eines deutschen Sonderfalls. Prägend waren dabei Rogers Brubakers Thesen zum Zusammenhang zwischen nationaler Identitätskonstruktion und Staatsbürgerschaft: Das französische Ius Soli, bei dem die Staatsbürgerschaft durch Geburt auf dem Staatsgebiet erlangt wird, sei inhärent inkludierend gegenüber Fremden und aus dem voluntaristischen Nations­ 27 Schätzungen des US -amerikanischen Landwirtschaftsministeriums zufolge war 2009 zum Beispiel jeder zweite Erntearbeiter in den USA »undocumented«, also Ausländer ohne gültige Aufenthaltserlaubnis. Zahniser, Potential Impact. 28 Siehe dazu Hollifield, Emerging. 29 Thränhardt, Europe. 30 Siehe zu Belgien Rea, Immigration, S. 380 und zu Frankreich Losego, Fern von Afrika, S. 145. 31 Siehe als Beispiel die Einteilung in Hollifield, Controlling Immigration.

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verständnis heraus entstanden. Demgegenüber charakterisierte Brubaker das deutsche Ius Sanguinis, bei dem die Staatsbürgerschaft über die Eltern vererbt wird, als eine Folge des ethnisch-kulturellen Nationsverständnisses, das vor der Reichsgründung den fehlenden deutschen Nationalstaat ersetzt habe.32 Seine Typologisierung übersah jedoch zentrale Aspekte der historischen Entwicklung der modernen Staatsbürgerschaft: So implementierte Frankreich gerade wegen seines neuen Selbstverständnisses während fast des gesamten 19.  Jahrhunderts das als modern interpretierte Ius Sanguinis-Prinzip, während das Ius Soli als Verkörperung der traditionellen  – und nun überkommenen  – Beziehung zwischen dem Monarchen und seinen Untertanen gesehen wurde.33 Ähnlich im deutschen Fall: Wie Andreas Fahrmeir gezeigt hat, basierte das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht im 19.  Jahrhundert weitgehend auf dem Domizilprinzip, während die Verleihungspraxis in den Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes sehr unterschiedlich gehandhabt wurde  – zu einer klaren Dominanz des Abstammungsprinzips kam es erst nach der Reichsgründung, als die unterstellte Ersatzfunktion für einen deutschen Staat gar nicht mehr nötig war.34 Statt die These einer ideologisch determinierten Verleihung von Zugehörigkeiten durch die europäischen Staaten zu bestätigen, hat die durch Brubaker angeregte Forschung zur Staatsangehörigkeit eine komplexe Gemengelage aus rassistischen, ethnischen und religiösen Fremdheitszuschreibungen und variierenden Interessen des Staates als ausschlaggebende Faktoren herausgearbeitet. Häufig spielte die Zuwanderung von Fremden und die politische Entscheidung über ihre rechtliche In- oder Exklusion auch gar nicht die entscheidende Rolle bei der Ausgestaltung des Staatsbürgerschaftsrecht: So nutzten Kolonialmächte eine Mischung aus Ius soli und Ius sanguinis, um den Einwohnern ihrer Kolonien das volle Bürgerrecht trotz rechtlicher Zugehörigkeit vorzuenthalten.35 Die Verleihung der Staatsangehörigkeit durch Abstammung konnte im Europa des 19. Jahrhunderts angesichts der Auswanderungswellen auch ein Instrument sein, um die Verbindung mit den Emigranten aufrechtzuerhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte das mit der DDR geteilte deutsche Staatsangehörigkeitsrecht den Anspruch auf eine eventuelle (Wieder-)Vereinigung untermauern.36 32 Brubaker, Citizenship. 33 Weil, Zugang, S. 94; Althammer, Verfassungsstaat, S. 317. 34 Fahrmeir, German Citizenships. Siehe für eine alternative Deutung des Kaiserreichs als Empire Ther, Deutsche Geschichte. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Rolle sozialer Rechte: Brubaker sieht die »sozialen Konsequenzen« der Staatsangehörigkeit als einen wichtigen Aspekt dieser Zugehörigkeit (Brubaker, Einwanderung, S. 6.), obwohl die Verankerung sozialer Rechte wesentlich später datiert als die Ausprägung des modernen­ nationalen Staatsangehörigkeitsrechts. Lutz Raphael hat dazu die These aufgestellt, dass gerade die stärkere Ausprägung sozialer (Bürger-)Rechte zu einer restriktiveren Vergabe von Zugehörigkeitsrechten an Fremde geführt hat. Raphael, Königsschutz. 35 Althammer, Verfassungsstaat, S. 317 f. 36 Die Bundesrepublik hielt auch dann noch am gesamtdeutschen Staatsangehörigkeitsrecht fest, als die DDR 1967 ein eigenes Staatsangehörigkeitsrecht einführte. Gosewinkel, Wie wird man Deutscher?, S. 111.

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Die rechtliche Grundlage für Einbürgerungen in der Bundesrepublik war – und ist auch heute nach mehreren Reformen noch – das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuSt AG) aus dem Jahr 1913. Die Einbürgerungspraxis der Bundesrepublik bestätigt die von Dieter Gosewinkel formulierte These, dass politische Entscheidungen für die Offenheit des Migrationsregimes entscheidend waren und nicht etwa die der Staatsbürgerschaft zugrundeliegende Rechtskonstruktion. Entgegen politischer Rechtfertigungen, die zum Teil  in wissenschaftliche Darstellungen übernommen wurden, stand das Gesetz selbst einem inkludierenden Umgang mit Zuwanderern nicht entgegen.37 Es sah zwar die »Vererbung« der deutschen Staatsbürgerschaft über den Vater oder (bei unehe­ lichen Kindern) über die Mutter vor und keinen automatischen Erwerb der Staatsbürgerschaft für im Inland geborene Kinder von Ausländern.38 Die formalen Hürden für eine (Ermessens-)Einbürgerung waren im Gesetz jedoch vergleichsweise niedrig angesetzt: Antragsteller, die geschäftsfähig waren, einen »unbescholtene[n] Lebenswandel« sowie einen festen Wohnsitz aufwiesen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienten, konnten grundsätzlich eingebürgert werden.39 Anspruchseinbürgerungen standen zunächst nur ehemaligen deutschen Staatsbürgern zu, die ihre Staatsbürgerschaft durch Eheschließung oder »Entlassung« verloren hatten.40 Nach dem Zweiten Weltkrieg kam zunächst der Anspruch »deutschstämmiger« Vertriebener und mit der rot-grünen Reform des RuSt AG im Jahr 1999 auch ein Einbürgerungsanspruch für Ausländer hinzu, wenn sie länger als acht Jahre in Deutschland lebten und eine Reihe von Bedingungen erfüllten.41 37 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 43. 38 § 4, Reichs­und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22.7.1913, RGBl 1913, S. 583. Seit 1999 erhalten Kinder von Ausländern automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft, wenn ein Elternteil länger als acht Jahre in Deutschland lebt und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt. Artikel 1, Satz 3, Gesetz über die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15.7.1999, veröffentlicht im BGBl I 1999, S. 1618. 39 § 8, RuStAG 1913. Die in § 9 vorgesehene Vetomöglichkeit für andere Bundesstaaten gegen eine Einbürgerung konnte genutzt werden, um die Inklusion unerwünschter Minderheiten wie Juden und »Ostausländer« zu verhindern. (Gosewinkel, Einbürgern, S. 318) Das Gesetz berücksichtigte bereits die Situation von Migranten der zweiten Generation, indem es sie von dieser zusätzlichen Hürde ausnahm. Für Einbürgerungen in der Bundesrepublik spielte das föderale Veto im Verwaltungsalltag keine Rolle mehr. 40 § 10, RuStAG 1913. 41 Erst durch § 6 des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit vom 22.2.1955 (veröffentlicht im BGBl. I 1955, S. 65.) erhielten »Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit«, denen Art. 116 (1) des Grundgesetzes bereits den Status »Deutsche« (nicht aber automatisch »deutsche Staatsangehörige«) verliehen hatte, einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung. Wer genau sich darauf berufen konnte, definierte der Gesetzgeber im Bundesvertriebenengesetz vom 19.5.1953 (veröffentlicht im BGBl. I 1953, S.  201.). Siehe zur rot-grünen Reform des RuStAG Artikel 2, Satz 1, Gesetz über die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15.7.1999, veröffentlicht im BGBl I 1999, S. 1618.

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Aufgrund der während der 1950er und 1960er Jahre noch geringen Zentrali­ sierung des Migrationsregimes existieren für diese Zeit weder bundes- noch länderweite Einbürgerungsstatistiken.42 Stichproben weisen ebenso wie das politische Klima der jungen Bundesrepublik daraufhin, dass praktisch keine Ermessenseinbürgerungen vorgenommen  – allerdings von den Gastarbeiter­ nationalitäten auch nicht beantragt  – wurden.43 Damit unterschied sich die Bundesrepublik deutlich von zum Beispiel Frankreich, das während der gesamten Nachkriegszeit eine signifikante Zahl von Einbürgerungen vornahm.44 Erste Angaben des Statistischen Bundesamtes zu Einbürgerungen datieren aus dem Jahr 1973 und geben die Zahl der bundesweiten Ermessenseinbürgerungen mit fast 10.000 an, während die französischen Statistiken für dieses Jahr 18.000 Naturalisationen verzeichnen.45 Trotz der angesichts einer Ausländerzahl von fast vier Millionen geringen Einbürgerungsquote von 0,2 Prozent hielt das Bundesinnenministerium die zuständigen Behörden im Jahr 1977 nachdrücklich  – wenn auch nicht rechtsverbindlich – dazu an, Ausländer nicht allein deswegen einzubürgern, weil sie die im RuSTAG definierten Voraussetzungen erfüllten. Vielmehr sollten sie sich an einer Wahrung des »öffentlichen Interesses« orientieren, das nur in Ausnahmefällen in einer Öffnung gegenüber Fremden bestehe – allgemein sei davon auszugehen, dass die Bundesrepublik die Zahl ihrer Staatsbürger nicht durch Einbürgerung vermehren wolle.46 Vor allem die Einbürgerung von Staatsangehörigen aus »Entwicklungsländern« – im Anhang definiert als alle außereuropäischen Länder außer Südafrika, den USA, Kanada, Japan, Australien und Neuseeland  – sei aufgrund von »entwicklungspolitischen Belangen« zu unterlassen.47 Die Einbürgerungsrichtlinie senkte die ohnehin bereits niedrigen Einbürge­ rungszahlen während der späten 1970er und 1980er Jahre nicht weiter ab.48 Ihr Zweck war es nicht, eine politisch missbilligte Öffnung durch die Kommunen zu unterbinden, sondern den letztlich von allen Ebenen des Staates praktizierten Status-quo zu bestärken. Erst während der 1980er und 1990er Jahre verschob sich der politische Konsens in der Bundesrepublik allmählich hin zu einer Akzeptanz der dauerhaften Präsenz von Ausländern und damit einhergehend auch 42 Die Entscheidungskompetenz war je nach Art der Einbürgerungsanträge (Ermessen/ Anspruch) und auch von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Dornis, Einbürgerung, S. 69–71. 43 Eine u. a. nach dem Einreisezeitpunkt gewichtete Stichprobe von 500 Einzelfallakten der Kreisausländerbehörde Wesel (NRW) enthielt zum Beispiel für den Zeitraum vor 1990 keine erfolgreiche Ermessenseinbürgerung und nur einen abgelehnten Antrag. Pleinen, Migrationsregime, S. 226. 44 Die französischen Einbürgerungszahlen zeigen starke Schwankungen, zwischen knapp unter 11.000 im Jahr 1961 und fast 70.000 im Jahr 1947. Spire, Etranger, S. 373. 45 Tabelle 3, Thränhardt, Reform. 46 Abschnitt 1 und 2, Einbürgerungsrichtlinien vom 1.7.1977, veröffentlicht im GMBl 1977. 47 Abschnitt 5 und Anhang, Einbürgerungsrichtlinien vom 1.7.1977, veröffentlicht im GMBl 1977. 48 Tabelle 3, Thränhardt, Reform.

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zu einer liberaleren Einbürgerungspraxis.49 Seit Beginn der 2000er Jahre zeigt sich unter den EU-Ländern – darunter auch Deutschland – ein Trend, die Verleihung der Staatsangehörigkeit unter die Bedingung zu stellen, dass Antragsteller einen Wissenstest bestehen.50 In der bisher noch primär politikwissenschaftlichen Forschung dazu ist umstritten, ob es sich bei diesem Trend um eine Konvergenz nationaler Migrationspolitiken hin zu einem europäischen Modell handelt.51 Ein markanter Unterschied blieb weiterhin die Rolle der Sprache: Während die meisten Länder, darunter neben Deutschland auch Frankreich, Dänemark und die Niederlande, eine gute Beherrschung der Landessprache (zum Teil  auch bereits für die Einreise)  verlangen, spielen diese Kenntnisse in Belgien, Großbritannien und der Schweiz aus Rücksicht auf die eigene kulturelle Fragmentierung nur eine untergeordnete Rolle.52

V. Zäsuren einer erweiterten Migrationsgeschichte der Bundesrepublik Eine auf »Ausländer« beschränkte Zuwanderungsgeschichte der Bundesrepublik setzt Mitte der 1950er Jahre mit dem Abschluss des deutsch-italienischen Anwerbevertrags ein. Die historische Migrationsforschung zur Bundesrepublik hat sich intensiv mit dem Zustandekommen der Anwerbeverträge beschäftigt, und auch in der breiteren Öffentlichkeit haben sich die Verträge mit Italien und später der Türkei als bevorzugter – vielleicht sogar als einzig allgemein akzeptierter – Erinnerungsort der Migrationsgeschichte etabliert.53 Die Bundesrepublik kam aufgrund der Vertriebenenbeschäftigung als eine Nachzüglerin auf den sich erneut etablierenden europäischen Arbeitsmarkt: Zwischen Kriegsende und den späten 1950er Jahren deckten »deutschstämmige« Vertriebene, Flüchtlinge aus der SBZ/DDR sowie die weniger beachteten »heimatlosen Ausländer« (ehemalige DPs) den Arbeitskräftebedarf der jungen Bundesrepublik und vor allem den ihrer vergleichsweise schlecht entlohnenden Landwirtschaft.54 Kriegsbedingte Migrationen waren auch für die Arbeitsmärkte der anderen westeuropäischen Ländern in der Nachkriegszeit wichtig: Im Land verbleibende Flüchtlinge und aus Ost- nach Westeuropa verschleppte Zwangsarbeiter, von denen nach Kriegsende viele nicht in ihre Herkunftsländer zurückzukehren wollten, sowie Zu­wanderer aus den Kolonien wurden hier allerdings früher von einer mehr oder weniger

49 Meier-Braun, Integration und Rückkehr. Die CDU sperrte sich allerdings nachhaltig dagegen, die Option einer doppelten Staatsangehörigkeit zu akzeptieren. 50 Van Oers, Mapping. 51 Siehe dazu Jacobs, The End versus Joppke, Beyond National. 52 Van Oers, Mapping. 53 Rass, Institutionalisierungsprozesse; Osses, Perspektiven, S. 81. 54 Herbert, Geschichte, S. 192–201.

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offiziell durch die Staaten begünstigten Arbeitsmigration flankiert.55 Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Situation in der Bundesrepublik und der in Belgien, Frankreich oder Großbritannien bestand darin, dass die Vertriebenen aufgrund ihrer »Deutschstämmigkeit« rechtlich privilegiert waren.56 Anders die eurokoloniale Zuwanderung: Sie wurde gerade nicht durch ethnische Gleichheit, sondern durch eine zwar streng hierarchisierte, aber Rassen und Ethnien überspannende Empire-Zugehörigkeit legitimiert. Dennoch führten so unterschiedliche Konzepte wie der Kolonialismus und die »deutsche Volkszugehörigkeit« zu einem ähnlichen Ergebnis: eine privilegierte Zuwanderung, die die Bevölkerungszusammensetzung nachhaltig prägte und von der Notwendigkeit der für die Lebenswelt von Gastarbeitern und späteren Flüchtlingen aus Drittstaaten prägenden Steuerungsinstrumente wie Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen entbunden war. Wenn es in Westeuropa so etwas wie einen Normalfall überhaupt gab, dann bestand er im Nebeneinander von privilegierter und nichtprivilegierter Zuwanderung, dessen jeweilige Ausgestaltung und Zählung den Vergleich, etwa über Statistiken, jedoch erschwert.57 Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, ob die zeitgenössische Trennung zwischen Vertriebenenzuwanderung und Gastarbeiterzuwanderung in dieser Form von der Forschung übernommen werden sollte. Als die ersten »Gastarbeiter« in die Bundesrepublik kamen, wurde jede Zuwanderung von Politik und Medien als Novum und als eine hoffentlich nur kurzfristige Notlösung behandelt. Zahlreiche Studien haben jedoch die Vorstellung, die Integration der Vertriebenen sei aufgrund einer ethnischen/kulturellen Ähnlichkeit zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen unproblematisch verlaufen, widerlegt, auch wenn die in der Bevölkerung weiterhin verbreitete NS -Ideologie einer »Volks­ 55 Die Grenzen zwischen den Typen verschwammen häufig, etwa wenn sich Flüchtlinge und ehemalige Zwangsarbeiter statt eines eher unberechenbaren Asylverfahrens oder der Gefahr einer Repatriierung durch die International Refugee Organization (IRO) für die in dieser Phase relativ sichere Option entschieden, sich offiziell als Arbeitsmigranten registrieren zu lassen und auf den Status des Flüchtlings zu verzichten. Pleinen, Migrations­ regime, S. 177 f.; Caestecker, Reintegration, S. 84; Messina, The Logics, S. 107. 56 Bundesvertriebenengesetz vom 19.5.1953 (veröffentlicht im BGBl. I 1953, S. 201.) 57 Der Zuzug der Arbeitsmigranten und ihrer Familien brachte die Bundesrepublik bis 1970 mit knapp 5 Prozent Ausländeranteil ungefähr auf den westeuropäischen Durchschnitt, zwischen den Extremen der Niederlande mit 1,8 Prozent und der Schweiz mit 15,8 Prozent (Zahlen entnommen aus Castles, Migration, S. 86). Die Schweiz zählte dabei alle Einwanderer als Ausländer, während die niederländischen Statistiken nur die Arbeitsmigranten aus den Mittelmeeranrainerstaaten berücksichtigten, nicht aber die halbe Million eurokolonialer Einwanderer aus Indonesien, Surinam, von den Antillen sowie den Molukken. Hinzu kam die unterschiedliche Verleihung der Staatsbürgerschaft: Sie führte dazu, dass die Kinder sämtlicher Einwanderer in den französischen Statistiken nicht mehr auftauchten, während in der Bundesrepublik teilweise auch noch die sogenannte dritte oder gar vierte Generation der »Gastarbeiter« als Ausländer gezählt wurden. Siehe zu weiteren methodischen Problemen beim Vergleich nationaler Statistiken Fassmann, European­ Migration.

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gemeinschaft« zusammen mit der bald einsetzenden Prosperität einige Konflikte entschärfte.58 Eine Historisierung des Narratives verschiedener nach Staatsbürgerschaft getrennter Migrationsgeschichten bedeutet letztlich, von einer BRD spezifischen Periodisierung abzusehen und ihre Migrationsgeschichte – wie die der übrigen westeuropäischen Einwanderungsländer – bereits mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beginnen zu lassen. Die Anwerbephase

Die Bundesrepublik bewegte sich (ähnlich wie die Schweiz) mit ihrer starken Rolle des Staates an einem Ende des Spektrums von Anwerbepraktiken, während etwa Großbritannien semilegale Arbeitsmigration duldete, ohne sie offiziell anzuerkennen oder gar eine aktive Anwerbepolitik zu betreiben und so das andere Ende des Spektrums belegte.59 Doch auch im stark durch den Staat geprägten Migrationsregime der Bundesrepublik fluktuierte die Bedeutung der Anwerbeabkommen (sogenannter erster Weg) und war je nach Nationalität der »Gastarbeiter« unterschiedlich ausgeprägt: So kamen beispielsweise im Jahr 1963 84 Prozent der türkischen Arbeitsmigranten über den Anwerbevertrag, 1967 hingegen nur 49 Prozent. Italienische Staatsbürger nutzten die für sie schrittweise erleichterten Zugangsbedingungen während der 1960er Jahre zunehmend für eine individuelle Einreise: 1967 wurden nur noch 8 Prozent der einreisenden Italiener angeworben.60 Die übrigen Migranten reisten mit individuellen Arbeitsvisa ein, die die Bundesrepublik wie die übrigen westeuropäischen Staaten in großem Umfang ausstellte. Viele Migranten zogen diese Möglichkeit vor, da sie so die strenge Gesundheitsprüfung in den Anwerbestellen umgehen konnten.61 Außerdem stand es ihnen dann frei, sich von bereits in der Bundesrepublik lebenden Verwandten einen Arbeitsplatz vermitteln zu lassen und ohne die

58 Die Soziologin Anette Treibel hat in Anlehnung an die Arbeiten von Norbert Elias vorgeschlagen, Migrationsprozesse nicht unter dem von der Einwanderungsgesellschaft vergebenen Label zu untersuchen, sondern als spezifische Spielart der Gruppenbeziehungen zwischen Etablierten und Außenseitern. Siehe Treibel, Migration, S. 7–19. Siehe zur Integration der Vertriebenen Dettmer, Konflikte; Grottendieck, Zwischen Integration; Beer, Rezension. Salewski, Verweh(r)te Heimat. 59 Die Aufnahme von Arbeitskräften aus Süd- und Osteuropa wurde während der späten 1940er und 1950er Jahre von den britischen Regierungen durchaus gewünscht und von einigen Politikern der beiden großen Parteien auch als »weiße« Alternative zur Zuwanderung aus den Kolonien gesehen. Panayi, Evolution, S. 131 f. Auch das traditionelle Migrationssystem zwischen Irland und England trug dazu bei, den britischen Arbeitskräftebedarf zu decken, solange er bestand. 60 Angaben entsprechend der Erfahrungsberichte der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, ausgewertet in Mattes, Gastarbeiterinnen, S. 139. 61 Siehe zum Unterschied zwischen der Gesundheitsprüfung beim ersten und zweiten Weg Hunn, Nächstes Jahr, S. 88–91.

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Einschränkungen des Familiennachzugs in deren Nähe zu leben.62 Der bundesrepublikanische Fall unterschied sich insofern von den anderen westeuropäischen Einwanderungsländern, als der westdeutsche Staat die Visumspflicht rigoros umsetzte und nicht – wie etwa Frankreich oder Belgien – auch »Touristen« nachträglich ein temporäres Bleiberecht einräumte, wenn sie einen Arbeitsplatz gefunden hatten und sich an die Meldepflicht hielten.63 Eine häufig praktizierte Möglichkeit, die Anwerbephase zu unterteilen, besteht in einer Orientierung am nationalen Ausländerrecht. Für die Bundesrepublik resultiert eine solche Perspektive meist darin, die Bedeutung des Ausländergesetzes von 1965 herauszustellen, was sich weitgehend mit der Wahrnehmung der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit deckt.64 Als Rechtsgrundlage für die Ausländerverwaltung hatte die Bundesrepublik zunächst auf eine Verordnung des Jahres 1938 zurückgegriffen, die für alle erwerbstätigen Ausländer die Pflicht einer behördlichen Erlaubnis für Einreise, Aufenthalt und Arbeitsaufnahme vorsah.65 Im Gegensatz zu den Ausländerverordnungen, die der NS Staat während des Zeiten Weltkrieges erließ, war die Ausländerpolizeiverordnung (APVO) noch kein eindeutiges Instrument zur rassistischen Verfolgung (ausgebürgerter) Minderheiten.66 Sie entsprach weitgehend den gängigen Regelungen, mit denen die westeuropäischen Staaten während der Weltwirtschaftskrise ihre einheimischen Arbeiter gegen unerwünschte Konkurrenz abzuschirmen versucht hatten:67 Vor allem die Koppelung von Aufenthaltserlaubnissen und Arbeitserlaubnissen ermöglichte es den Behörden, den Aufenthalt von Ausländern von den Bedürfnissen des Arbeitsmarkts abhängig zu machen und missliebige Migrantengruppen wie Maghrebiner bei steigender Arbeitslosigkeit zuerst abzuschieben. Nach einigen Konflikten zwischen dem Bundesinnenministerium und den mit der Durchführung des Ausländerrechts beauftragten Bundesländern stellte 62 Bis 1969 hatte bei der Anwerbung in der Türkei ein Primat für Bewerber, deren Brüder bereits in der Bundesrepublik beschäftigt waren, gegolten, das auf Drängen der türkischen Regierung abgeschafft wurde. Hunn, Nächstes Jahr, S. 82. 63 Pleinen, Zwischen Zentralisierung; Spire, Etrangers. 64 Schönwälder, Liberalisierung 65 Ausländerpolizeiverordnung vom 22.8.1938 (APVO), veröffentlicht im Reichsgesetzblatt  I 1938, S. 1053. 66 Wie die Massenausweisung meist jüdischer Polen (»Polenaktion«) bereits im Oktober 1938 zeigte, wurden sowohl die in der APVO vorgesehene Einzelfallbegründung von Ausweisungen als auch die Einspruchsmöglichkeit der Ausgewiesenen durch die Einschüchterung und Entrechtung von Juden im NS -Staat konterkariert. Siehe zur »Polenaktion« Tomaszewski, Auftakt. Explizite Bezüge zur NS -Ideologie wie der Begriff »Volksgemeinschaft« wurden bereits durch das Erste Kontrollratsgesetz aus der APVO gestrichen. Heinevetter/Hinzen, Ausländerrecht, S. 19. 67 Siehe für Frankreich Loi du 10 août 1932 protégeant la main d’œuvre nationale, Journal Officiel du 12 août 1932 und für Belgien Arrêté royal complétant et coordonnant les dis­ positions relatives à l’emploi de la main-d’œuvre étrangère » vom 31.3.1936, Moniteur Belge vom 7.4.1936 sowie Caestecker, Alien Policy.

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das Bundesverfassungsgericht 1955 die Verfassungskompatibilität der APVO fest und räumte Ausländern erstmals den Rechtsweg gegen Verwaltungsentscheidungen ein.68 Die eher provisorisch den Gegebenheiten der Bundesrepublik angepasste Verordnungslage blieb bis 1965 bestehen, als Bundestag und Bundesrat das erste Ausländergesetz verabschiedeten. Auslöser war jedoch nicht etwa ein Unbehagen angesichts der nationalsozialistischen Vergangenheit der APVO, sondern vor allem das in ihr fehlende explizite Verbot für Ausländer, sich politisch zu betätigen.69 Diese bisher bereits durch behördliche Praxis durchgesetzte Einschränkung für Migranten erhielt nun Gesetzesrang  – gleichzeitig führte das Ausländergesetz von 1965 aber auch erstmals die Möglichkeit unbefristeter Aufenthaltserlaubnisse ein.70 Der Zäsurcharakter des Ausländergesetzes von 1965 war dennoch eher gering: Das Gesetz sah ebenso wie die APVO keinen Rechtsanspruch für den Erhalt einer Aufenthaltserlaubnis vor und beide zielten letztlich darauf ab, den Ausländerbehörden einen möglichst weiten Ermessensspielraum einzuräumen.71 Das nun formal mögliche unbefristete Aufenthaltsrecht wurde für die Gastarbeiternationalitäten ebenso wie die Einbürgerung erst während der 1980er Jahre zu einer realisierbaren Option.72 Darüber hinaus bedeuteten augenscheinliche Veränderungen wie die Strafbarkeit der illegalen Einreise, mit der etwa Knuth Dohse seine Diagnose einer Zäsurwirkung des Gesetzes begründet, keine Neuerung des Migrationsregimes als Ganzes: Das Ausländergesetz fasste hier lediglich Regelungen zusammen, die bisher in APVO und Passverordnungen getrennt enthalten gewesen waren.73 Nachhaltigere Veränderungen für das Migrationsregime der Bundesrepublik brachte während der 1960er Jahre die zehn Jahre zuvor initiierte europäische Integration mit sich. Die 1958 in Kraft getretenen Römischen Verträge sahen als einen wichtigen Schritt zur Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes auch die Freizügigkeit für Arbeitskräfte aus den Mitgliedsstaaten vor. Die zukünftige Bedeutung dieser Öffnung wurde in der Bundesrepublik jedoch kaum diskutiert. Im Zentrum der Debatten um den Beitritt stand – auch und vor allem innerhalb der regierenden CDU/CSU – die Frage, wie weit die Bundesrepublik den »französischen Sonderwünschen« (Staatssekretär Hallstein) nachkommen sollte. Dazu gehörte eine gemeinschaftsinterne Angleichung an französische Sozialstandards sowie Ausnahmeregelungen für die überseeischen französischen

68 Urteil des BVerwG vom 15.12.1955, BVerwGE 1955 Bd. 3, S. 58. 69 Schönwälder, Liberalisierung, S. 130. 70 § 6 und § 7, Ausländergesetz vom 28.4.1965, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt I 1965, S. 353. 71 Schönwälder, Einwanderung, S. 237–240. 72 Pleinen, Migrationsregime, S. 188–218. 73 Dohse, Ausländische Arbeiter, S. 182 f; Artikel 3, Verordnung über Reiseausweise als Paßersatz und die Befreiung vom Paß- und Sichtvermerkszwang vom 17. Mai 1952, veröffentlicht im BGBl I 1952, S. 295.

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Territorien.74 Italien hatte als einziges Netto-Auswanderungsland der EWG für seine im Ausland arbeitenden Staatsbürger die arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung durchgesetzt und damit einen wichtigen Bestandteil der bilateralen Anwerbeverträge in Gemeinschaftsrecht überführt. Als der Rat der EWG Anfang der 1960er Jahre dann darauf drängte, die Freizügigkeit auch tatsächlich umzusetzen, waren die Innenpolitiker der Bundesrepublik ähnlich wie in Belgien, Frankreich und den Niederlanden – den anderen großen Einwanderungsländern der Gemeinschaft  – weitgehend unvorbereitet.75 Nach einigen Verzögerungsversuchen lief die Übergangsfrist im Dezember 1968 ab: Innerhalb der EWG benötigten Migranten nun weder Visa zur Einreise noch Arbeitserlaubnisse.76 Für die Bundesrepublik mit ihrer Verweigerung, eine dauerhafte Einwanderung offiziell zu akzeptieren, war von noch größerer Bedeutung, dass diese nun privilegierten Migranten auch ein einklagbares Recht darauf hatten, ihre Familien nachkommen zu lassen und im Einwanderungsland wohnen zu bleiben, wenn sie das Rentenalter erreichten. Sie mussten zwar immer noch Aufenthaltserlaubnisse beantragen – die Behörden konnten Anträge von EWG Migranten jedoch nur noch aus einer beschränkten Reihe von Gründen (hauptsächlich Straffälligkeit) verweigern. Einmal etablierte Migranten dieser Gruppe waren somit weitgehend der wirtschaftspolitischen Steuerung entzogen. Neu Einreisende mussten das Einwanderungsland aber wieder verlassen, wenn sie innerhalb von drei Monaten keinen Arbeitsplatz fanden. Die Durchsetzung der EWG -Freizügigkeit stellte für alle Mitgliedsstaaten eine wichtige Zäsur dar, die in der Migrationsgeschichtsschreibung jedoch häufig nicht oder nicht angemessen berücksichtigt wird.77

74 Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, Stenografischer Bericht der 200. Sitzung der 2. Wahlperiode (21.3.1957), S. 11327–11383. Siehe zu den Verhandlungen über den EWG Vertrag Küsters, Die Gründung, S. 294–334 sowie zur Durchsetzung der Ratifizierung gegen Kritiker innerhalb der CDU Küsters, Die Gründung, S. 423. 75 Siehe Verordnung Nr. 15 des Rats vom 16. August 1961 über die ersten Maßnahmen zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft sowie Richtlinie des Rats vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (64/221/EWG); Schönwälder, Einwanderung, S. 183. 76 Richtlinie vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (68/360/EWG). 77 Siehe als Beispiel den Literaturbericht in Oltmer, Migration. Nachdem Großbritannien 1973 der Gemeinschaft beigetreten war, galt die Visumsfreiheit und Öffnung des euro­ päischen Arbeitsmarktes auch hier, während sich das Land den Schengen-Regelungen der 1990er Jahre entzog.

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Der Anwerbestopp

Auch der Anwerbestopp von 1973 als nächste Etappe der bundesrepublikanischen Migrationsgeschichte hatte bei näherer Betrachtung keinen einzelstaatlichen, sondern weitgehend (west-)europäischen Charakter. Die Gastarbeiterphase des westdeutschen Migrationsregimes endete im November 1973, als das Bundesarbeitsministerium den sogenannten Anwerbestopp verfügte. Er bestand zum einen in der Anweisung an die Auslandsstellen der Bundesagentur für Arbeit, die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte einzustellen. Seine einschneidende Wirkung erhielt der Anwerbestopp jedoch erst dadurch, dass auch die kommunalen Arbeitsämter keine neuen Arbeitserlaubnisse – und damit auch die Ausländerbehörden keine Visa – mehr an Drittstaatsangehörige ausstellen sollten.78 Die Verwaltungsanweisung von Bundesminister Walter Arendt führte als Begründung für den Politikwechsel an: Die Preissteigerung für Erdöl aufgrund des Jom-Kippur-Krieges im Herbst 1973 habe wirtschaftliche Probleme aus­ gelöst, angesichts derer ein weiterer Import von Arbeitskräften aus dem Ausland nicht mehr vertretbar sei. Dieser politischen Rechtfertigung folgend wurde der sogenannte »Ölschock« sowohl von der zeitgenössischen Pressebericht­erstattung als auch von zahlreichen wissenschaftlichen Darstellungen als entscheidendes Motiv für die Schließung des westdeutschen Migrationsregimes übernommen.79 Ulrich Herbert hat demgegenüber auf die zunehmend negativen Debatten hingewiesen, die in der westdeutschen Öffentlichkeit während der 1960er Jahre über die Arbeitsimmigration geführt wurden.80 Aus dieser Perspektive war der »Ölschock« eher ein Vorwand, mit dem die Bundesregierung die bereits länger geplante Abschottung – vor allem gegenüber den Herkunftsländern der wichtigen bisherigen Gastarbeitergruppen  – begründen konnte.81 Neuere Forschungen wie die Dissertation von Marcel Berlinghoff haben daran anknüpfend den europäischen Charakter des Anwerbestopps herausgearbeitet: Der Anwerbestopp zog sich als eine Art panische Kettenreaktion der Regierungen auf zunehmende Überfremdungsängste und Xenophobie durch alle Einwanderungsländer Europas (Schweden 1972, Benelux und Frankreich 1974). Vorreiter dieser Entwicklung war nicht etwa die Bundesrepublik, sondern die Schweiz (1970). Diese Schließung war kein Projekt der EWG, da sich die Mitgliedsstaaten noch 78 Fernschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit vom 23.11.1973, BArch B 149/54458 fol. 9–10. 79 Siehe zur Presseberichterstattung Herbert, Geschichte, S. 229 und zu Beispielen der Übernahme in wissenschaftliche Darstellungen Luft, Kategorien, S.  581; Oltmer, Migration, S. 52. Anders hingegen Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5, S. 42. 80 Mit diesem Argument verbunden ist die Vorstellung, dass die Arbeitsimmigration in der Bundesrepublik erst seit Mitte der 1960er Jahre öffentlich diskutiert wurde. Karen Schönwälder zeigt demgegenüber, dass die »Gastarbeiter« bereits vor der Wirtschaftskrise von 1966 kontinuierlich Gegenstand von Presseberichterstattung, Meinungsumfragen und politischen Debatten waren. Schönwälder, Einwanderung, S. 177–185. 81 Herbert, Geschichte, S. 228 f.

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bis Anfang der 1990er Jahre beharrlich gegen eine Vergemeinschaftung der Zuwanderungspolitik sperrten. Dennoch war der Anwerbestopp ein Nebenprodukt der zunehmenden europäischen Verflechtung – und vor allem der ritualisierten intergouvernementalen Kommunikation – im Rahmen der EWG und des Europarates, die hier hauptsächlich in einer gegenseitigen Bestätigung und Verstärkung zuwanderungskritischer Haltungen bestand.82 Der Anwerbestopp verfehlte überall das Ziel, den ausländischen Bevölkerungsanteil zu senken: Klaus J. Bade hat den paradoxen Effekt dieser Politik mit der zutreffenden Metapher eines Bumerangs beschrieben, da Arbeitsmigranten aus Drittstaaten nun entscheiden mussten, ob sie sich dauerhaft in der Bundesrepublik niederlassen oder in ihr Heimatland zurückkehren wollten. Die verwehrte Option einer erneuten Einreise in das Einwanderungsland bewegte einen großen Teil der türkischen Arbeitsmigranten als wichtigste vom Anwerbestopp betroffene Nationalität dazu, ihre Familienangehörigen so weit wie möglich nachzuholen und Aufenthalte in der Türkei auf unter drei Monate zu beschränken. Bei längeren Auslandsaufenthalten erlosch ihr bisheriges Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik. Die Versuche der Regierung Kohl, türkische Migranten durch finanzielle Anreize zur Rückkehr zu bewegen, waren letztlich ebenfalls erfolglos.83 Der »Asylkompromiss«

Auch der sogenannte »Asylkompromiss« zwischen CDU und SPD, durch den der Asylartikel des Grundgesetzes 1993 geändert wurde, war keine isolierte westdeutsche Entwicklung, sondern entstand im Kontext einer Europäisierung der Migrationspolitik.84 Seit der Abschaffung der Visapflicht innerhalb der EWG hatte das Thema Freizügigkeit auf europäischer Ebene politisch weitgehend brachgelegen. Während der 1980er Jahre stieg – beginnend mit der politischen Instabilität der Türkei – jedoch der Migrationsdruck an der Peripherie der europäischen Gemeinschaft zunehmend an, was die Mitgliedsstaaten empfänglicher für eine Harmonisierung dieses Politikbereichs machte. Die Kommission nutzte die Gelegenheit, in der Einheitlichen Europäischen Akte einen verbindlichen Zeitplan (bis 1992) für eine vollständige Umsetzung des europäischen Binnenraums festzulegen.85 Dazu gehörte zum einen der Abbau der einzelstaatlichen Grenzkontrollen, um so nach innen einen »Raum der Freiheit« zu schaffen, dessen Umsetzung durch den Abschluss der beiden Schengen-Abkommen und den Aufbau einer gemeinsamen Personendatenbank (cSIS) bis März 1995 in Anspruch nahm. 82 Berlinghoff, Das Ende. 83 Bade, Europa, S. 336 f. 84 Siehe für eine auf die westdeutsche Innenpolitik beschränkte Darstellung Muench, Asylpolitik, S. 134–137. 85 Angenendt, Gibt es, S. 68 f.

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Zum anderen sollte die Kontrolle von Zuwanderung an die Außengrenzen der Gemeinschaft verlagert und ein gemeinsames Asylsystem geschaffen werden. Durch das Dubliner Übereinkommen verankerte die EWG 1990 (in Kraft getreten 1997) ein bereits vorher in bilateralen Übernahmeverträgen zwischen den Mitgliedern vorhandenes Verursacherprinzip als Grundpfeiler der gemeinsamen Asylpolitik:86 Das Land, über das Drittstaatsangehörige einreisten, verpflichtete sich, ihren Asylantrag zu prüfen und in der Folge alleinig für sie zuständig zu sein  – ein weiterer Antrag in einem anderen Mitgliedsland war nach einer Ablehnung nicht mehr möglich.87 Ein Verfahren zur Verteilung von Flüchtlingen unter den Mitgliedsstaaten war dabei nicht vorgesehen, sodass die im Rahmen der »Süderweiterungen« der 1980er Jahre aufgenommenen Mittelmeeranrainer Griechenland, Spanien und Portugal als neue Grenzstaaten zu den wichtigsten Asylländern der Gemeinschaft wurden. Angesichts des während der letzten Jahre stark zunehmenden Einwanderungsdrucks aus Afrika und Vorderasien sowie der prekären wirtschaftlichen Lage vor allem Griechenlands hat diese Regelungslücke zunehmend zu einer Aushöhlung des Asylrechts der Gemeinschaft geführt. Die zweite wichtige Komponente des neuen Asylsystems implementierten die EG -Innenminister 1992 in der »Londoner Entschließung«: Die Mitgliedsstaaten einigten sich auf eine erweiterbare Positivliste sogenannter »sicherer Dritt­ staaten«, die nicht als Verfolger im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention – der bis dato wichtigsten rechtlichen Selbstverpflichtung der westeuropäischen Einwanderungsländer – gelten sollten. Migranten, die aus diesen Ländern einzureisen versuchten, sollten von den Mitgliedsstaaten bereits beim Grenzübertritt ohne Asylverfahren zurückgewiesen werden können. Der von der Kommission angestrebten Überführung der Migrationspolitik in die »erste Säule« der Gemeinschaftsaufgaben verweigerten sich die Mitgliedsstaaten allerdings auch weiterhin. An diese Übereinkunft auf europäischer Ebene knüpfte der westdeutsche Asylkompromiss an und nach seiner Verabschiedung zog das Bundesinnen­ ministerium die Notwendigkeit einer Harmonisierung als politische Rechtfertigung heran, etwa als das Bundesverfassungsgericht 1996 über die Verfassungskonformität der »sichere Drittstaaten«-Regelung zu entscheiden hatte.88 Mit der Änderung des Grundgesetzes wurde letztlich vor allem ein Konflikt zwischen der Verfassungsnorm und den rechtlich abgestützten Verwaltungspraktiken bei86 In diesen Verträgen verpflichteten sich die Staaten, sowohl die eigenen Staatsbürger als auch Ausländer, denen sie ein Visum erteilt hatten, im Falle einer Ausweisung zurückzunehmen. Siehe als Beispiel das Übernahmeabkommen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik, veröffentlicht im BAnz Nr. 63/1960. 87 Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags  – Dubliner Übereinkommen, veröffentlicht im Amtsblatt Nr. C 254 vom 19/08/1997, s. S. 1–12. Seit 2000 führte die EU eine Fingerabdruckdatenbank für Asylbewerber (EURODAC), die Doppelanträge innerhalb der Gemeinschaft verhindern soll. 88 BVerfGE 94, 49.

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gelegt: Bereits seit 1978 hatte der Gesetzgeber das Asylverfahren schrittweise zulasten der Antragsteller vereinfacht und verkürzt, während per Flugzeug einreisende Flüchtlinge häufig bereits am Flughafen nach einem Minimalverfahren zurückgewiesen wurden.89 Der »Asylkompromiss« war jedoch zweifellos ein Kristallisationspunkt für von Xenophobie und Abwehr geprägte Debatten über die Zuwanderung von Nichteuropäern in die Bundesrepublik. Außerdem kann eine Betonung des europäischen Charakters solcher Schließungsprozesse nicht mit einem Verwischen der unterschiedlichen politischen Haltungen der Mitgliedsstaaten einhergehen, wie sie etwa bei den Beratungen über das europäische Asyl beim EU-Ratsgipfel in Tampere im Herbst 1999 zum Ausdruck kamen: Die skandinavischen Länder und Frankreich warnten, eine konsequent auf Abschirmung ausgerichtete europäische Migrationspolitik hebele letztlich die Genfer Flüchtlingskonvention und damit einen zentralen Bestandteil des internationalen Rechts aus.90 Währenddessen vertrat die rot-grün-geführte Bundesregierung bei den Beratungen eine Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention, der zufolge nur staatliche Verfolgung und Repression zum Asyl berechtigen sollte.91 Sie übernahm damit die Position des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts, die während der 1980er Jahren eine restriktivere Vergabe von Asyl an Bürgerkriegsflüchtlinge und politische Oppositionelle aus Diktaturen für mit dem Grundgesetz und den internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik vereinbar erklärt hatten.92

VI. Fazit Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrages war die Frage, welche Auswirkung eine stärker europäische Perspektive für die bisher noch häufig isoliert betrachtete Migrationsgeschichte der Bundesrepublik hat. Die Lesart nebeneinander existierender Sonderfälle hat sich dabei als wenig überzeugend erwiesen  – als weiterführend erscheint vielmehr eine konsequente europäische (und internationale) Vergleichsperspektive sowie eine stärkere Integration der Migrationsgeschichte in die »allgemeine« Zeitgeschichte. Dazu gehört es auch, zeitgenössische Legitimations- und Abwehrstrategien gegenüber verschiedenen Migrationsbewegungen als Teil der Aushandlungsprozesse zwischen Etablierten und Außenseitern zu historisieren.

89 Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens vom 25.7.1978, BGBl I 1978, S. 1108; Zweites Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens vom 16.8.1980, BGBl I 1980, S. 1437; Gesetz über das Asylverfahrensgesetz vom 16.7.1982, BGBl I 1982, S. 946; Birsl, Migration. 90 Angenendt, Gibt es, S. 64. 91 Parusel, Abschottungs- und Anwerbungsstrategien, S. 103 f. 92 Urteil des BVerwG vom 27.4.1982, Aktenzeichen 9 C 308.81; Urteil des BVerfG vom 20.12.1989, Aktenzeichen 2 BvR 958/86.

Nicole Kramer

Verrechtlichung im Wohlfahrtsstaat Heimkritik und Altenrechte im europäischen Vergleich

Spätestens 1950 trat der westdeutsche Sozialstaat in eine Phase rascher Expansion ein, die ebenso dem Glauben an staatliche Planung wie dem Ideal nach gesamtgesellschaftlicher Prosperität und Integration entsprang.1 Das Ende der Ausbauphase verorten die meisten Forscher in den 1970er Jahren, wobei sich die Meinungen teilen, ob danach eher vom Rückbau oder nur von einer Stagnation gesprochen werden kann. Die Deutung von der Blütezeit oder dem Goldenen Zeitalter des Wohlfahrtsstaats sowie der darauffolgenden Krise gilt nicht nur für Westdeutschland, sondern für viele westliche Länder nach 1945. Sie findet sich daher in mehreren nationalen Historiographien wieder.2 In den letzten Jahren ist diese Deutung von vielen hinterfragt und als allzu schematisches Narrativ kritisiert worden. Die Kritiker setzen vor allem an drei Punkten an: Erstens arbeiten sie heraus, dass auch die Expansionsphase von Rückbautendenzen und Stagnationsmomenten durchzogen war. Vor allem für Großbritannien, das paradigmatisch für die aus dem people’s war geborene wohlfahrtsstaatliche Blütezeit stand, wurde gezeigt, dass der Ausbau des Wohlfahrtsstaats nach 1945 gesellschaftlich umstritten war, auf Widerstände stieß und bisweilen bisher Erreichtes auch revidiert wurde.3 Mehr noch als der Beginn und die Hochzeit des Goldenen Zeitalters wird jedoch das Ende und die vermeintliche Krise mit einem Fragezeichen versehen. Allgemein skeptisch gegenüber dem Krisenbegriff, mahnen vor allem Historiker, genau hinzusehen, ob und inwieweit sozialstaatliche Strukturen abgebaut wurden, und warnen vor der Gefahr, zeitgenössische Diskurse unkritisch zu übernehmen.4 Schließlich stört Kritiker der Blütezeit-Begrifflichkeit auch der umfassende Deutungsanspruch, der nationale Differenzen und unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten einebnet und keinen Platz für divergierende Periodisierungen lässt.

1 Die Wohlfahrtsstaatsexpansion steht im Zeichen der Idee staatlich hergestellter »sozialer Integration und nationaler Homogenität«, vgl. Doering-Manteuffel, Deutsche Geschichte, S. 339–341. 2 Zu den verschiedenen Phasen der Wohlfahrtsstaatentwicklung vgl. Kaelble, Das europäische Sozialmodell, S.  33–37. Zur internationalen Dimension vgl. Nullmeier/Kaufmann, Post-War Welfare State. 3 Zuletzt vor allem Oude Nijhuis, Labor; Wincott, Images, S. 356–363. 4 Ein Pionier dieser Forschungsmeinung ist Pierson, Dismantling. Zum Problem der Krisendiagnose Süß, Der bedrängte Wohlfahrtsstaat.

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Der folgende Beitrag diskutiert Bedingungen und Ablauf des sozialstaatlichen Ausbaus nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei die westdeutsche Entwicklung mit der Italiens und Großbritanniens verglichen werden soll. Im ersten Schritt soll eine Auseinandersetzung mit den Modellen und Typologien, die die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung entworfen hat, stattfinden, was zum einen zur Einordnung der drei Untersuchungsländer dient. Zum anderen gilt es zu fragen, wie Gøsta Esping-Andersen und diejenigen, die seinen Modellansatz weiterentwickelt haben, den Wandel von Wohlfahrtsstaaten nach 1945 interpretieren. Welche Rolle spielt die Deutung von der Blütezeit und der Krise der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten in der vergleichenden Forschung sowie den Arbeiten zu einzelnen Wohlfahrtsstaatsmodellen? Anschließend geht der Beitrag in medias res und thematisiert die Debatten über die Schutzbedürftigkeit alter Menschen in Heimen. Der Blick ist dabei auf die Verrechtlichung von Schutzrechten für Menschen in Altenheimen gerichtet, also auf den Bereich des Sozialrechts, jenes Rechtsgebiets, »das durch seinen sozialpolitischen Zweck geprägt ist«.5 Diese Definition beschreibt ein weites Feld, im Folgenden geht es vor allem um Situationen, in denen der Staat auf der Basis von subjektiven Rechten und Grundrechten in soziale Beziehungen interveniert und sich dadurch neue Verantwortungsbereiche erschließt.6 Der Untersuchungsgegenstand der Schutzrechte alter Menschen in Heimen verspricht neue Einblicke in die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die gesetzliche Reformierung des Altenheimsektors erfolgte in den drei gewählten Untersuchungsländern in den 1970er bzw. 1980er Jahren, wenngleich die Diskussionen darüber weit früher begannen. Diese Datierung liegt also quer zur Periodisierung des Blütezeit-Narratives. Wichtiger noch: Soziale Dienste, um die es hier geht, sind eine häufig vernachlässigte Dimension in der Wohlfahrtsstaatsforschung, vor allem in der vergleichend angelegten. Dies hat u. a. damit zu tun, dass sich diese Art von sozialpolitischer Leistung, die auf persönlicher Interaktion beruht, weniger gut standardisieren und damit auch quantifizieren lässt im Vergleich zu monetären Ansprüchen aus der Sozialversicherung. Mit den Schutzrechten alter Menschen in Heimen rückt schließlich auch die sozialstaatliche Regulierung von care-Beziehungen ins Zentrum.7 Das Augenmerk wird vor allem auf den national zum Teil unterschiedlichen Faktoren liegen, die in der Nachkriegszeit zur erhöhten Aufmerksamkeit für die Vulnerabilität von Heimbewohnern führten. Insbesondere für Italien ist es notwendig, die Geschichte der Antipsychiatriebewegung miteinzubeziehen. 5 Ruppert, Lebensalter, S. XXVIII–XXX ; Zacher, Verrechtlichung, S. 14; Teubner, Verrechtlichung. 6 Zacher, Grundlagen, S. 380, 668 f. 7 Care wird sowohl als sozialpolitische Berücksichtigung unbezahlter Familienarbeit als auch als soziale Dienstleistung konzipiert. Es geht um Handlungen, die auf die Befriedigung individueller, teils intimer Bedürfnisse im gesundheitsfürsorgerischen ebenso wie im sozialen Bereich, zielen. Kennzeichnend sind der direkte Kontakt und die relationale Dimension. Vgl. Duffy, Making Care Count, S. 9–16.

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Drittens steht die staatliche Intervention im Mittelpunkt, konkret das bundesdeutsche Heimgesetz von 1974 sowie die entsprechenden legislativen Akte in Italien und Großbritannien. Von Interesse ist nicht nur der Inhalt der Gesetze, sondern auch die Frage, warum sich sozialstaatliche Akteure mit Schutzrechten alter Menschen in Heimen beschäftigten.

I.

Die Welt der Wohlfahrtsstaatsmodelle

Wesentliches Merkmal der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, insbesondere der sozial- und politikwissenschaftlichen, ist die Verwendung von Typologien und Modellen. Diese dienen sowohl als Analysewerkzeug als auch als Fluchtpunkt von Untersuchungen. Modelle und Typologien fassen zentrale Merkmale der nationalen Wohlfahrtsproduktion zusammen und markieren Ländercluster, die untereinander Gemeinsamkeiten aufweisen und sich dadurch von anderen Staaten unterscheiden. Durchgesetzt hat sich vor allem die Typo­logie von Gøsta Esping-Andersen,8 der von einem liberalen, konservativkorporatistischen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatstyp ausgeht. Die Typen ergeben sich mit Blick auf das Verhältnis zwischen Staat, Markt, Familie und drittem Sektor sowie den Grad der Dekommodifizierung, d. h. die Abkopplung sozialer Sicherung vom Markt. Der skandinavische Fall ist der Ausgangsund Mittelpunkt von Esping-Andersens Denkansatz, was seiner Typologie auch eine gewisse Asymmetrie verleiht, da der liberale sowie der konservativ-korporatistische Typus quasi in Abgrenzung zum sozialdemokratischen konzipiert sind. Esping-Andersens Ordnungsvorschlag ist nach wie vor die am meisten verwendete, gleichsam mehrfach von ihm selbst und anderen Forschern weiterentwickelte Typologie. Das Buch des Dänen, »Three Worlds of Welfare Capitalism«, ist nicht nur ein Referenzwerk, sondern lässt sich 25 Jahren nach seinem Erscheinen als Klassiker bezeichnen.9 Die Häufigkeit der Zitationen beweist dies ebenso wie die Tatsache, dass er die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung nachhaltig veränderte. Esping-Andersen zeigte einen Weg, Wohlfahrtsstaaten zu klassifizieren, der sich vom simplen Vergleich von Makrodaten, z. B. der Höhe von Sozialausgaben löste.10 Wenige haben Esping-Andersens Ansatz der Typolo­ gisierung grundsätzlich in Frage gestellt, die meisten haben die Modellbildung weitergedacht. Viele Kritiker konzentrierten sich darauf, die Zuordnung einzelner Länder zu den drei Modellen zu hinterfragen und die geografischen Blindstellen zu benennen. Wurde zuerst die Existenz eines südeuropäischen Modells diskutiert, rückten später neue Wohlfahrtsstaaten wie die postkommunistischen Staaten und die konfuzianisch geprägten Länder Ostasiens in den Fokus, wobei 8 Esping-Andersen, Three Worlds. 9 Das Journal of European Social Policy widmet Esping-Andersens Werk 2015 ein ganzes Heft und erhebt es zum Klassiker, vgl. Marx u. a., Three Worlds, S. 11. 10 Esping-Andersen, Three Worlds, S. 38.

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die Debatte um letztere die eurozentrische Verengung von Esping-Andersens Typologie herausstellt. Ein zentrales Merkmal seines Ansatzes ist die historische Herleitung gegenwärtiger Verhältnisse und damit die Berücksichtigung der Genese des Wohlfahrtsstaates. Angelehnt an der Machtressourcentheorie Walter Korpis fragte er nach der Machtverteilung zwischen sozialen Gruppen und ihren Interessen an bzw. ihren Befürchtungen gegenüber der Herausbildung des Wohlfahrtsstaates.11 Esping-Andersen interessiert, dies soll hier betont werden, der Wandel von Wohlfahrtsstaaten, genauer gesagt die Expansion, wobei er treibenden Faktoren und Akteuren nachspürt. Er öffnete die häufig als statisch kritisierte Typologie für die Frage nach Veränderungsprozessen. Die Konzeption seiner Wohlfahrtsstaatsmodelle und die Deutung von der Blütezeit des Wohlfahrtsstaats nach dem Zweiten Weltkrieg hingen also eng zusammen.12 Welchen Modellen werden die drei Untersuchungsländer – Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und Italien  – zugeordnet? Wie veränderte sich die Perspektive der mit Typologien arbeitenden vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung auf das Interpretament des »Goldenen Zeitalters der Wohlfahrtsstaatsexpansion«? Im Folgenden soll es um diese Fragen gehen. Westdeutschland wird nach Esping-Andersen dem konservativ-kontinentaleuropäischen Modell zugeordnet, das einen relativ hohen Grad an Dekommodifizierung aufweist, allerdings anders als das sozialdemokratisch-skandinavische Modell weniger universalistisch-egalitären als Status erhaltenden Verteilungsprinzipien folgt. Der Staat führt Sozialpolitik vor allem in Form von Sozial­ versicherungen durch, deren Organisation durch korporative Sozialpartnerschaft geprägt ist. Soziale Rechte werden durch Lohnarbeit erworben, während Familienarbeit nur in kleinem Rahmen (z. B. durch die Anerkennung von Kindererziehungszeiten) berücksichtigt wird. Soziale Teilhaberechte von Frauen sind deswegen empfindlich eingeschränkt. Die Familienorientierung, die dem konservativ-kontinentaleuropäischen Regime zugeschrieben wird, zeigt sich auch in der Bedeutung des aus der katholischen Soziallehre stammenden Prinzips der Subsidiarität. Dieses bestimmt auch die Organisation sozialer Dienste, die weitgehend von Wohlfahrtsverbänden getragen werden, die jedoch durch öffentliche Gelder finanziert sind. Großbritannien gehört nach Esping-Andersens Logik hingegen zum liberalangelsächsischen Typ, der ein eher geringes Niveau der Dekommodifizierung von Arbeitskraft aufweist. Während öffentlich bereitgestellte Leistungen eher niedrig ausfallen und von strengen Bedürftigkeitsprüfungen (means tests) ab11 Marx u. a., Three Worlds, S. 4. Ähnlich hatte Esping-Andersen schon in seinem 1985 publizierten Buch »Politics against Markets« argumentiert, das im engen Zusammenhang mit dem fünf Jahre später erscheinenden Werk »Three Worlds of Welfare Capitalism« steht, Esping-Andersen, Politics. 12 Paul Pierson merkt an, dass die Modelle Esping-Andersens sich als Modelle zur Erklärung der Wohlfahrtsstaatsexpansion der Nachkriegszeit nicht für die Analyse der Phase nach dem Ende des Goldenen Zeitalters eignen, Pierson, Dismantling.

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hängen, erfolgt die gesellschaftliche Stratifizierung vor allem über den Markt. Soziale Absicherung, die über das Existenzminimum hinausreicht, beruht im starken Maß auf Eigenverantwortung, was sich an einem hohen Anteil privater Vorsorge ablesen lässt. Allerdings gehören zum liberal-angelsächsischen Modell auch Systeme der steuerfinanzierten staatlichen Vorsorge, die einen hohen Grad der Umverteilung garantieren. In Großbritannien ging die Implementierung solcher Elemente universalistischer Wohlfahrtsproduktion u. a. auf die Reformvorschläge William Beveridges zurück. Während die neuere Forschung betont, dass Programme kollektiver Absicherung wie der 1948 eingerichtete National Health Service innenpolitisch von Anfang an umstritten waren, trafen sie im Ausland auf große und überwiegend positive Resonanz.13 Einen südeuropäischen Typ hatte Esping-Andersen zunächst nicht vorgesehen. Allerdings werden Italien, Spanien, Griechenland und Portugal schon lange nicht mehr nur als rückständige Systeme sozialer Sicherung beschrieben, sondern als Länder, die einen eigenständigen Entwicklungspfad ausgebildet haben.14 Als Merkmale des südeuropäischen Modells gelten Klientelismus, Fragmentarismus, eher schwach ausgeprägte staatliche Sicherungssysteme und die hohe Bedeutung familiärer Netzwerke. Die Bedeutung der Familie als soziales Auffangnetz und eine vergleichsweise stark ausgeprägte Schattenwirtschaft (die Erwerbsmöglichkeiten für Bevölkerungsgruppen schafft, die auf dem regulären Arbeitsmarkt nicht Fuß fassen können) gelten als ursächlich für eher schwach ausgeprägte Strukturen zur Bekämpfung von Armut. Doch nicht alle Leistungszweige sind unterentwickelt, insbesondere viele Rentner sind durch großzügige Programme abgesichert und können meist auch sehr früh aus dem Erwerbsleben aussteigen und in den Ruhestand eintreten. Esping-Andersen sieht die Arbeiterbewegung und die mit ihr verbundenen politischen Parteien als Hauptakteure des sozialstaatlichen Ausbaus. Deren national sehr unterschiedliche Ausprägung und Entfaltungsmöglichkeit erklärt demnach die Existenz der drei Wohlfahrtsstaatsmodelle. Viele, die EspingAndersens Typologie kritisierten, setzten genau hier an. Das Projekt wohlfahrtsstaatlicher Expansion exklusiv der Arbeiterbewegung und linker Parteien zu­zuschreiben, erwies sich als zu kurz gegriffen. Peter Baldwin belegt die Bedeutung der Mittelschichten, vor allem auch der Selbstständigen sowie im Fall Skandinaviens der Landbevölkerung, die auf den Ausbau von staatlichen Renten- und Gesundheitssystemen drängten.15 Während Baldwin ähnlich wie Esping-Andersen noch die Klassenfrage stellte, rückten andere davon völlig ab und fokussierten sich auf alternative Kategorien sozialer Differenz. Neben den Forschungen zu Religion/Konfession, die vor allem auf die Einflüsse christlichen, jüdischen und sogar konfuzianischen Denkens auf moderne Soziallehren auf13 Wincott, Images, S. 356–363. Zur Rezeption der Beveridge-Reformen vgl. Baldwin, Beveridge, S. 43–45. 14 Ferrara, »Southern Model«; Petmesidou, Social Protection; Castles, Welfare State. 15 Baldwin, Politics, S. 289 f.

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merksam machten,16 hat sich vor allem Geschlecht als zentraler Faktor für sozialstaatliche Entwicklungslogiken herausgestellt. Die feministische Forschung hat an Esping-Andersens Typologie insbesondere die Verengung auf Lohnarbeit und Arbeitsmarkt und die damit zusammenhängende Vernachlässigung von care-Arbeit und Familie moniert.17 Ihre Gegenentwürfe führten zu einer geschlechtersensiblen Modellbildung, in der Sozialstaatsleistungen nicht nur daran gemessen wurden, inwieweit sie die Abhängigkeit von Individuen vom Arbeitsmarkt relativierten, sondern auch ob sie Familienarbeit absicherten. Vor allem für das Ende des 19. Jahrhunderts und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen mittlerweile historisch argumentierende Arbeiten vor, die sich den Frauenbewegungen als sozialpolitischen Akteuren widmen und zeigen, wie zeitgenössische Annahmen über Geschlechterrollen in Familien die Ausgestaltung sozialstaatlicher Leistungen bestimmten.18 Blickt man heute auf die Fülle der Literatur, die sich konzeptionell mit der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung auseinandersetzt, fällt auf, dass diese vor allem auch das Wissen über die Entwicklungsfaktoren und -dynamiken einzelner Wohlfahrtsregime vertieft haben.19 Simple Ursache-Wirkungs-Diagnosen und lineare Expansionsnarrative, mit denen das ursprüngliche Drei-ModelleSchema gearbeitet hat, sind mittlerweile in den Hintergrund getreten. Die vertiefte Beschäftigung mit einzelnen Modellen und diesen zugeordneten Ländern hat für wohlfahrtsstaatliche Hybridformen, Übergangsphasen, Ungereimtheiten und die Widersprüchlichkeit von Entwicklungen sensibilisiert. Gerade die Beschäftigung mit dem nordischen Modell hat die Forschung in dieser Hinsicht enorm erweitert. In Wissenschaft und Politik hat sich schon früh  – lange bevor Esping-Andersen seine Regime-Typologie formulierte  – durchgesetzt, die fünf nordeuropäischen Länder sozialstaatlich als eine gemeinsame Gruppe zusammenzufassen. Schweden, Norwegen, Dänemark, Finnland und Island durchliefen als eher kleine Staaten mit einer ethnisch weitgehend homogenen Bevölkerung eine sehr ähnliche wohlfahrtsstaatliche Entwicklung.20 16 Van Kersbergen/Manow, Religion; Manow, ›The Good, the Bad, and the Ugly‹; Rieger/ Leibfried, Kultur. 17 Daly/Lewis, Concept; Lewis, Gender 18 Vgl. als eine der ersten Länder übergreifenden Bestandsaufnahmen Bock/Thane, Maternity; Pedersen, Family. Einzelne Länderstudien haben belegt, dass die Schlagkraft der jeweiligen nationalen Frauenbewegungen keine Garantie waren für eine gendersensible Ausgestaltung des Sozialstaats. Die Forderung nach Schutzrechten für weibliche Arbeitskräfte sowie nach staatlicher Unterstützung der Familienarbeit fanden vor allem dann Gehör, wenn bevölkerungspolitische Argumente eine Rolle spielten. Die beiden Weltkriege erweisen sich daher besonders als Schrittmacher der auf Frauen ausgerichteten Sozialpolitik. 19 Dies konstatierte Christian Toft schon 2000, vgl. ders., Jenseits, S. 74. 20 Christiansen/Markkola, Introduction, S. 10 f. Ein Motor der methodisch sehr reflektierten historisch ausgerichteten Wohlfahrtstaatsforschung ist das mehrere skandinavische Universitäten umfassende und 2007 gegründete Netzwerk »The Nordic Welfare State – Historical Foundations and Future Challenges« (NordWel).

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Studien haben belegt, dass der Begriff des nordischen Modells sich bereits in den Blütejahrzehnten der Nachkriegszeit etablierte, und zwar als positive Selbstzuschreibung (nicht nur im Wohlfahrtsstaatskontext), den skandinavische Politiker, aber auch Vertreter der Bürokratien gerne im Munde führten, um die vielfältigen Kooperationen untereinander zu betonen und um sich nach außen abzugrenzen.21 Eine erneuter Höhepunkt des Wohlfahrtsstaatsdiskurses lässt sich in den 1980er und 1990er Jahren feststellen, allerdings unter geänderten Vorzeichen: Der Krisendiskurs dieser Jahre führte in manchen skandinavischen Wohlfahrtsstaaten zu Umbauten, die ihren universalen Charakter schwächten. Zudem machte das Ende des Kalten Krieges die scharfe Abgrenzung nach außen – gegen den westlichen Kapitalismus einerseits und die sozialistische Planwirtschaft andererseits – obsolet. Schließlich integrierten sich die Länder in unterschiedlichem Ausmaß in die Europäische Union, vor allem in die Währungsunion. Doch je mehr sozialpolitische Ähnlichkeiten verloren gingen, desto mehr besann sich die Forschung auf das in der Retrospektive noch geschlossener erscheinende nordische Modell.22 Gemeinsame Entwicklungslinien lassen sich nicht nur bei geographisch benachbarten Ländern entdecken wie es in Skandinavien der Fall ist. Allen voran Francis G. Castles und der von ihm geprägte Begriff der »Families of Nations« hat auf sozialpolitische Verflechtungen zwischen Staaten aufmerksam gemacht, die auf verschiedenen Kontinenten liegen. Er richtete sein Augenmerk vor allem auf die englischsprachigen Länder  – Großbritannien, Australien, Neuseeland, Kanada und die USA  – und entdeckte den Kolonialismus als entscheidenden Faktor wohlfahrtsstaatlicher Genese.23 Ganz allgemein geht sein Ansatz der »Families of Nations« davon aus, dass Ähnlichkeiten in der Wohlfahrts­produktion auf die geteilte und verflochtene Entwicklungsgeschichte bestimmter Länder zurückgehen. Muster der sozialpolitischen Bearbeitung und Institutionengefüge werden auf politische, sozioökonomische, aber ebenso auf kulturelle Faktoren zurückgeführt.24 Ohne es so zu nennen, sensibilisierte Castles bereits Anfang der 1990er die transnationalen Wechselwirkungen bei der Herausbildung von Wohlfahrtsstaaten. Staaten anhand von Ähnlichkeiten zu gruppieren, die sich auf historisch nachweisbare Wechselwirkungen zurückführen lassen, ziehen manche Kritiker der Drei-Welten-Typologie Esping-Andersens vor, wobei

21 Vgl. zum Zusammenhang der Abgrenzung nach außen und Stärkung der innernordischen Kooperation Laursen/Olesen, Nordic, S. 89–92. Zu den wohlfahrtsstaatlichen Harmonisierungen Petersen, Constructing. 22 Kettunen, Power, S. 64. 23 Mittlerweile ist die Bedeutung des Kolonialismus für die Wohlfahrtsstaatsentwicklung in den ehemaligen Kolonien und die Rückwirkung auf die jeweiligen Kolonialmächte als Forschungsfeld bearbeitet worden, vgl. vor allem Midgley/Piachaud, Colonialism. 24 Castles/Mitchell, Worlds; Castles, English-Speaking Countries, S.  632; Castles, Black Swans, S. 98 f.

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sie die Offenheit der Entwicklung im Gegensatz zum unilinearen Konzept der Pfad­abhängigkeit als entscheidenden Vorteil sehen.25 Nicht nur Phasen des Kolonialismus haben sich als besonders prägend für die Wohlfahrtstaatsentwicklung herausgestellt. Für die erst spät als eigenes Modell entdeckten südeuropäischen Staaten steht insbesondere die Frage im Mittelpunkt, inwieweit deren wohlfahrtsstaatliche Entwicklung durch Phasen autoritärer bzw. faschistischer Herrschaft geformt sind. Reformen, die unter Franco, Mussolini, Salazar und während verschiedener Episoden autoritärer Herrschaft in Griechenland umgesetzt wurden, gelten hier als ursächlich für das kliente­ listische, partikularistische und fragmentarische Sozialsystem.26 Teil dieser Geschichte sind jedoch auch die anschließenden Phasen der Diktaturüberwindung, wobei vor allem die von linken Parteien verfolgte Politik, sich vom faschistischen Erbe abzuwenden, im wohlfahrtsstaatlichen Rahmen häufig zu einem Pfadwechsel führte. Gleiches gilt für das relativ spät entdeckte osteuropäische bzw. postkommunistische Modell. Die Länder, die diesem Typ zugeordnet werden, sind nicht nur durch Phasen autoritär-diktatorischer Herrschaft gekennzeichnet. Vielmehr teilen sie auch die relativ frühe Einführung staatlich sozialer Sicherungssysteme (Polen und Tschechien bereits am Ende des 19. Jahrhunderts, Ungarn und Rumänien noch vor dem Ersten Weltkrieg) mit dem Rest Europas, was sie zugleich von anderen Regionen der Welt wie Südamerika, aber auch Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken unterscheidet. Nach dem Zweiten Weltkrieg verließen die osteuropäischen Staaten jedoch diesen gemeinsamen Entwicklungspfad. Es ist die zweifach gebrochene Geschichte, die diese Wohlfahrtsstaaten am stärksten prägt: Mit Beginn des Kalten Krieges fand eine umfangreiche Sowjetisierung der bisherigen sozialstaatlichen Strukturen statt, die bis dahin eng am Bismarckschen Modell orientiert gewesen waren. Die Transformationsphase brachte einen zweiten historischen Revisionsmoment. Mit der Bezeichnung als hybride, volatile oder so genannte »emergency welfare states« (Tomasz Inglot) haben Politikwissenschaftler und Historiker versucht, die Spezifik der osteuropäischen Länder zu fassen.27 Inglot betont, dass sozialpolitisches Handeln in osteuropäischen Staaten, sei es bedingt durch Kriege, Okkupationsverhältnisse oder während der Zeit kommunistischer Herrschaft, dauerhaft im Zeichen politischer, wirtschaftlicher und sozialer Instabilität stattfand. Radikale Eingriffe in die sozialen Sicherungsstrukturen waren keine Ausnahme, sondern wurden zu einer regelmäßigen Praxis.28 Ähnlich argumentieren andere Kommenta­toren, 25 So argumentiert z. B. Kaufmann, Varianten, S. 51 f. Vgl. auch Baldwin, Der europäische Wohlfahrtsstaat, S. 59. 26 Ferrara, South European Countries, S. 619; Katrougalos, South European Welfare Model, S. 48, 51. Katrougalos sieht nach 1981 eine starke Annäherung Griechenlands an die westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten und bestreitet daher die Existenz eines eigenständigen südeuropäischen Modells. 27 Vgl. hierzu v. a. Inglot, Welfare States, S. 307. 28 Ebd., S. 308–310.

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die die Hybridität der Systeme betonen, was sich in der Verknüpfung verschiedener, von den jeweiligen Regimen hervorgebrachten Wohlfahrtsstaatslogiken ausdrückt.29 Die nun 25 Jahre währende Diskussion um Esping-Andersens Typologie und die daraus entstandenen Modifikationen und Gegenvorschläge haben auch den Blick auf die Zeit der europäischen Wohlfahrtsstaatsexpansion verändert. Selbst für die klassischen Modelle wie das sozialdemokratische oder liberale hat sich die Forschung von unilinearen Erfolgsnarrativen verabschiedet. Doch vor allem die nachträglich hinzugefügten, wie der südeuropäische oder osteuropäische Typ, weisen die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg weniger als Blütezeit denn als Phase des umstrittenen Ausbaus, der Hybridisierung und der Notstandswohlfahrtsstaatlichkeit aus. Die Modellbildung, so ließe sich konstatieren, hat also auch zu einer Pluralisierung historischer Deutungen der Wohlfahrtsstaatsentwicklung geführt. Die folgenden Kapitel knüpfen daran an: Neben das Blütezeitnarrativ treten alternative Interpretamente, die es bei der Untersuchung der Debatte um Schutzrechte alter Menschen zu berücksichtigen gilt.

II. Altenheime als »totale Institutionen«? Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in allen drei Ländern ein gesteigertes Interesse von Politik, Medien und Wissenschaft an den Lebensumständen alter Menschen feststellen. Dabei ging es nicht nur um die eher kleine Gruppe derjenigen, die in Heimen lebte. Vielmehr gaben Studien erstmals auch Auskunft über jene alten Menschen, die auch noch im hohen Alter selbständig ihre Haushalte führten oder mit Familienangehörigen zusammenlebten. Während das Leben in den eigenen vier Wänden als Normalfall deklariert wurde, galt die Unterbringung in Heimen zunehmend als schlechtere vor allem pathologische Variante. Für Großbritannien gibt es einige Indizien, dass der Zweite Weltkrieg und seine Folgen die Debatte über die Problematik alter Menschen in Heimen be­ lebten. Mit Beginn des Krieges wurden chronisch Kranke – die meisten von ihnen bereits im hohen Alter  – aus Krankenhäusern in private und öffentliche Heime (public assistant institutions) abgeschoben, um Betten freizumachen. Bis 1946 waren alte Menschen bei der medizinischen Versorgung systematisch benachteiligt. Allerdings führten die Verlegungen auch dazu, dass viele Ärzte erstmals mit altersbedingter Pflegebedürftigkeit konfrontiert und auf die damit zusammenhängenden Vernachlässigungen aufmerksam wurden. Der Ausbau der Geriatrie in Großbritannien erhielt dadurch entscheidende Impulse.30 Hinzu kam, dass Kriegsschäden umfangreiche Renovierungen bzw. Neubauten von Altenheimen notwendig machten. Dies eröffnete eine Chance für die Neugestaltung von Heimen, die nicht mehr wie die alten workhouses aussehen sollten: 29 Cerami/Vanhysee, Introduction, S. 4–5; Tomka/Szikra, Social Policy. 30 Thane, Old Age, S. 439 f.

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Große Schlaf- und Waschräume, die jegliche Privatsphäre unterbanden, sollten verschwinden, und Wohnlichkeit wurde zum neuen Ziel erklärt.31 Schließlich blieb die gezielte Schlechterstellung alter Menschen im Krieg nicht unwidersprochen. Seit 1944 schuf das Old People’s Welfare Committee ein Dach für verschiedene Organisationen, die sich explizit um das Wohl alter Menschen im Krieg kümmerten. Es verlängerte seine Tätigkeit über 1945 hinaus, teilfinanziert durch öffentliche Gelder. 1979 erfolgte die Umbenennung in Age Concern.32 Auch wenn es dem Old People’s Welfare Committee hauptsächlich darum ging, eine Fortführung des Lebens in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen, wofür es die Basis für Mahlzeiten- und Nachtpflegedienste schuf, meldete es sich auch als ein Kritiker der Zustände in Heimen zu Wort. Schließlich wirkte es auch an der Errichtung bzw. Neugestaltung von Heimen in der Nachkriegszeit mit.33 Für Westdeutschland ist die Frage, inwieweit die Kriegsfolgen Aufmerk­ samkeit für gebrechliche alte Menschen schufen, bisher kaum gestellt worden. Im »Dritten Reich« gab es höchst ambivalente Entwicklungen, was den Altenheimsektor betraf. Mitte der 1930er Jahre gaben manche kommunale Wohlfahrtsämter Anstöße für die Neugestaltung von Altenheimen, die durch Einund Zwei-Bett-Zimmer attraktiver werden sollten. Dahinter stand der Gedanke, dass Menschen im hohen Alter, die zum Umzug in eine solche Einrichtung bewegt würden, Wohnungen freimachten, die dringend benötigt wurden.34 Dieses Argument verstärkte sich freilich mit Beginn des Luftkriegs und der zunehmenden Zerstörung von Wohnraum. Während des Krieges war von Anreizen und Freiwilligkeit jedoch keine Rede mehr. Die Interessen gebrechlicher alter Menschen rückten in der Kriegsgesellschaft an den Rand. Nicht nur, dass chronisch kranke Alte Krankenhausbetten räumen mussten. Je mehr die Luftangriffe zunahmen, desto vehementer drängten Luftschutzleitungen auf die Freimachung von Heimen und die Verlegung der Bewohner.35 Es war jedoch oft nicht einfach, adäquate Gebäude in der Umgebung zu finden. Mittlerweile steht auch fest, dass die Verlegung für viele Alte den Tod bedeutete, weil sie vor allem in der Endphase des Krieges Opfer gezielter Vernachlässigung wurden.36 Für Debatten über eine Verbesserung der Heimsituation war an der deutschen »Heimatfront« kein Platz. Umso mehr beschäftigte die Frage kommunale Behörden jedoch in der Nachkriegszeit. Der knappe Wohnraum in den meisten 31 Hayashi, Care, S. 74–75. 32 Zur Geschichte von Age Concern England bzw. Old People’s Welfare Committee, vgl.­ Hilton u. a., Historical Guide, S. 87 ff. 33 Surrey History Center, 8509/1/1, Guildford Old People’s Welfare Committee, Minutes­ Genereal Committee, 21.11.1947. 34 Irmak, Sieche, S. 103–110; Wimmer, Ordnung, S. 331–340. 35 Vgl. z. B. StadtA Nürnberg, C 50/I Nr. 63, Notiz der Verwaltung des Heilig-Geist-Spitals, o. D. (etwa 1943). Zur Verlegung aus Heimen und Anstalten allgemein: Krause, Flucht, S. 143–146. 36 Dies hat v. a. Winfried Süß gezeigt: ders., »Volkskörper«, S. 308–310.

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von Kriegszerstörungen betroffenen Städten war der arbeitenden Bevölkerung vorenthalten. Alte, gebrechliche Menschen ebenso wie alleinstehende Frauen mit kleinen Kindern blieben dagegen zunächst in den ehemaligen Evakuierungsorten zurück. Kommunalpolitische Akteure dachten daher verstärkt über das Thema »Wohnen im Alter« und damit auch die Unterbringung in Heimen nach. Dies wird in den Akten der Evakuiertenämter ebenso deutlich wie in einer ersten fragebogengestützten Studie über die Situation in Alten- und Pflegeheimen, die der Mediziner und damalige Referent in der Gesundheitsabteilung des Innenministeriums des Landes Schleswig-Holstein, Fritz Beske, 1960 veröffentlichte. Die Befragungen hatte er vier Jahre zuvor in Kiel durchgeführt, als er noch als wissenschaftlicher Assistent am dortigen Hygiene-Institut tätig war. Die Auswirkungen des Krieges auf die Heime machte er nicht nur in der Einleitung deutlich, sondern vor allem, wenn er die Ergebnisse zu den Gründen für den Umzug alter Menschen in Einrichtungen referierte. Etwa 17 Prozent der Heimbewohner gehörten zur Gruppe der Flüchtlinge, 58 Prozent waren ausgebombt. Die kriegsbedingte Wohnungsnot hatte die Nachfrage nach Heimplätzen vergrößert.37 Beske arbeitete zeitlich parallel zu dem britischen Soziologen Peter Townsend, der in Großbritannien mit seiner Studie »The Last Refuge« die kritische Diskussion über Altenheime mit Einblicken in diese Institutionen nährte.38 Beide Studien teilen nicht nur die Methode der narrativen Interviews, sondern ebenso die Grundhaltung, dass es nicht mehr allein um die »Sicherstellung des wirtschaftlichen Existenzminimums«, sondern um das »Menschenrecht des alternden Menschen« gehe.39 Dies entsprach ganz einer generellen Neuausrichtung der Altenhilfe, die sich in jener Zeit in vielen Ländern vollzog.40 Weder Beske noch Townsend waren in ihren nationalen Kontexten also die einzigen oder gar ersten, die Heime für alte Menschen kritisch betrachteten. In Westdeutschland profilierte sich der bereits 1957 eingerichtete Fachausschuss Altenpflege und Altenfürsorge des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge als Vordenker von Reformen. In Großbritannien begann nach dem Krieg eine Verschiebung des Fokus weg von Fragen der materiellen Armut hin zu Untersuchungen, die die Lebensverhältnisse und Einstellungen alter Menschen erforschten.41 Townsends Studie fußte u. a. auf der Arbeit des Mediziners Joseph Sheldon, der schon 1947 das »normale« Altern zuhause vom Leben 37 Beske, Gemeinschaftsleben, S. 41 f. Fritz Beske hat in Kiel Humanmedizin studiert, 1954 machte er an der Universität Michigan den Abschluss Master of Public Health. Von 1961 bis 1964 war er am europäischen Büro der WHO in Kopenhagen tätig. Von 1971 bis 1981 hatte Beske, der seit 1955 CDU-Mitglied war, das Amt des Staatssekretärs im Sozialministerium des Landes Schleswig-Holstein inne. 38 Zur Armutsforschung Peter Townsends s. den Beitrag von Christiane Reinecke in diesem Band. 39 Beske, Gemeinschaftsleben, S. 80. 40 Vgl. Rudloff, Schatten, S. 397. 41 Vgl. hierzu v. a. Torp, Gerechtigkeit.

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in geriatrischen Einrichtungen unterschied.42 Mit der Nuffield Foundation hatte sich in Großbritannien 1943 eine Stiftung gegründet, die sich der Erforschung der Lebenssituation alter Menschen widmete und Studien wie die von Seebohm Rowntree und auch die Projekte Townsends finanzierte.43 Townsends Studie stach allerdings im Hinblick auf Materialfülle und die Systematik der Untersuchung hervor. Auf der Basis von Interviews, Beobachtungsberichten und Dokumenten der welfare officers belegte er, dass Selbstbestimmungsrechte und Privatsphäre in Heimen nicht geachtet wurden. Heimleiter betraten Zimmer, ohne anzuklopfen, legten strikte Ausgehzeiten fest und teilten das Geld der Alten ein.44 Mit Berichten von tristen Mehrbettzimmern und Gemeinschaftsräumen  – durch Bilder effektvoll unterstützt  –, in denen Menschen zum Nichtstun verdammt waren, nahm er bereits einiges von seiner späteren These von der »structured dependency of old age« vorweg.45 In Heimen – so lässt sich die weitgehende Kritik Townsends auf einen Punkt bringen – waren die geschilderten Missstände nicht die Ausnahme, sondern systemimmanent. Das Leben in Einrichtungen entmündige Menschen und mache sie erst zu abhängigen Objekten der Pflege. Townsends Ausführungen müssen in einem breiteren sowie spezifisch britischen Kontext verstanden werden. Über ein Jahrzehnt nachdem die Reformpläne Beveridges ein neues wohlfahrtsstaatliches Zeitalter eingeläutet hatten, dokumentierte Townsend in den Altenheimen Zustände, die er in der Tradition der restriktiven Armenpolitik das poor law sah. In seinem Buch lässt der Soziologe an der ungebrochenen Existenz der düsteren Armenhäuser in Beschreibung und Fotografien keinen Zweifel. Seine Evaluierung der Altenheimunterbringung war folglich auch eine kritische Bilanz des wohlfahrtsstaatlichen Ausbaus der Nachkriegszeit. Der linke Soziologe hatte sich bereits 1954 dem Leben alter Menschen als Forschungsgegenstand zugewandt. Drei Jahre später erschien seine Arbeit »The Family Life of Old People«, in der er die Unterstützungs- und Versorgungsfunktion familiärer Netzwerke unterstrich.46 Die Studie fand im Rahmen eines größeren Projektes statt, das am neugegründeten Institute of Community Studies in East London durchgeführt wurde.47 Lise Butler hat kürzlich gezeigt, dass die frühen Forschungen des von Michael Young geführten Instituts zum Londoner Viertel Bethnal Green als Teil  eines linken Diskurses 42 »The Aged and their Families in Bethnal Green«, Interim Report by Peter Townsend, 1954, UK Data Archives 4723; Sheldon, Social Medicine. 43 Seebohm Rowntree, Report. 44 Townsend, Last Refuge. 45 Ders., Structured Dependency. Der Aufsatz gehört nach wie vor zu den zehn meist zitierten Artikeln der Zeitschrift Ageing & Society vgl. http://journals.cambridge.org/action/ displayJournal?jid=ASO [letzter Zugriff: 4.11.2015]. 46 Ders., Family Life. 47 Das Institute of Community Studies wurde 1953 gegründet und hauptsächlich von der Nuffield Foundation und dem Elmgrant Trust finanziert. 2005 wurde es in The Young Foundation umbenannt, seinen Sitz hat es bis heute in Bethnal Green.

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über die Rückbesinnung auf die Familie als gesellschaftliche Kraft verstanden werden müssen.48 Townsends erste Studie ist eng mit seiner späteren Untersuchung in Heimen verknüpft, in der er die negativen Folgen fehlender Familienbeziehungen deutlich macht. Seine kritische Haltung gegenüber Einrichtungen für alte Menschen verweist dabei auf eine Idealisierung familiärer Beziehungsnetze, die in der Nachkriegszeit von konservativer, aber auch von linker Seite betrieben wurde. Über Schwierigkeiten und Unzulänglichkeiten der Familienpflege sprach zu dieser Zeit noch niemand, erst in den 1980er wurde Gewalt gegen Angehörige ein Thema; zumindest in Großbritannien und Deutschland.49 Die Diskussion um Altenheime und Rechte alter Menschen darf nicht isoliert betrachtet werden, sondern steht im engen Zusammenhang mit der Behinderten- und Antipsychiatriebewegung.50 Erving Goffmans Verdienst ist es, mit seiner Abhandlung »Asylums« eine Klammer für die verschiedenen parallel laufenden Diskussionen um Heim- und Anstaltsunterbringung geschaffen zu haben. Mit seinem Begriff der »totalen Institutionen« deutete er die Bandbreite des Phänomens an, was Koalitionen zwischen der Antipsychiatriebewegung und den Kritikern von Altenheimen ermöglichte. Er zog zudem irritierende Rückschlüsse auf die Gesamtgesellschaft.51 Anders als Townsend und andere sprach Goffman vor allem die alltägliche und »geregelte« Gewalt gegen Heimbewohner (z. B. durch Fixierungen) an, die mit dem Selbstverständnis demokratisch verfasster Gesellschaften nicht vereinbar war. Innerhalb der Antipsychiatriebewegung, die sich seit Ende der 1960er Jahren in vielen westlichen Industrieländern formierte, spielten die Interessen alter Menschen eher eine nachgeordnete Rolle. Die Gerontopsychiatrie befand sich erst in ihren Anfängen. Die Diskussion um Schutzrechte alter Menschen in Heimen und die Antipsychiatriedebatte verliefen eher parallel nebeneinander her, nur hin und wieder kreuzten sie sich. In der Bundesrepublik setzte die Bundesregierung 1971 eine Sachverständi­ genkommission ein. Die Enquete legte 1975 ihren Abschlussbericht vor, der zum Referenzwerk und quasi zur »Magna Charta der deutschen Psychiatriereform« wurde.52 Auch alte Menschen fanden darin ausdrücklich Erwähnung. Vorschläge zur Demokratisierung von Heimen und zum Ausbau ambulanter Angebote deckten sich mit den Debatten, die zeitgleich im Altenbeirat geführt wurden. Die Auswirkung der Psychiatrie-Enquete auf das Heimgesetz war eher marginal.53 48 Butler, Michael Young, S. 22. 49 Gill Pyrah, »I put  a pillow over her face. How I stopped myself killing her, I just don’t know…«, in: The TIMES vom 29.10.1982, S. 10; Urlaub, Gewalt. 50 Lingelbach/Stoll, 1970er Jahre; Brink, Grenzen. 51 Goffman, Asylums. Vgl. zu Goffman in historischer Perspektive: Scheutz, »Totale Institutionen«. 52 Rudloff, Überlegungen, S. 879. Zu Psychiatrieenquete und zur Öffnung der Anstalten ausführlich Brink, Grenzen, S. 461–493. 53 Brunozzi, Vierte Alter, S. 217–219.

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In wenigen Ländern gewann die Antipsychiatriebewegung eine solche Durchschlagskraft wie in Italien, wo die Kritik an geschlossenen Anstalten 1978 zu radikalen Reformen führte. Seit den 1960er Jahren hatte sich eine Bewegung herausgebildet, in deren Mitte der Psychiater Franco Basaglia stand, der die Überlegungen Goffmans und anderer aufgriff und angereichert durch seine eigenen Ideen in den italienischen Kontext einspeiste. Basaglia, ehemaliges Mitglied des italienischen Widerstands in Zweiten Weltkrieg, schloss 1949 sein Medizinstudium ab und wandte sich seitdem der Psychiatrie zu. 1961 übernahm er die Leitung der psychiatrischen Anstalt in Görz, das an der Grenze Italiens zum heutigen Slowenien liegt. Konfrontiert mit den dortigen Realitäten, bemühte er sich um eine Reform der Psychiatriestrukturen, die er vor Ort sogleich in die Realität umsetzte. Innerhalb der Anstalt baute er Hierarchien ab, indem Pfleger ihre uniformartige Kleidung ablegen sollten und Patienten an gemeinsamen Besprechungen über den Ablauf des Klinikalltags beteiligt wurden. Die Neuerungen von Görz wurden auf den Begriff der »la repubblica die matti« (»Die Republik der Verrückten«) gebracht. Als er 1975 nach Triest wechselte, verwirklichte er seine Vision einer Öffnung der Anstalten. Durch den Aufbau ambulanter psychiatrischer Dienste konnten die meisten der Patienten die Klinik verlassen. Diejenigen, die entschieden zu bleiben, taten dies auf freiwilliger Basis und galten fortan als »Gäste«, nicht mehr als »Insassen«.54 Basaglia teilte wesentliche Überzeugungen mit der sich in Europa und den USA formierenden Antipsychiatriebewegung. Anders als andere radikale Strömungen war er jedoch der Meinung, dass psychische Krankheiten durchaus real waren und die Psychiatrie auch in Zukunft wichtig sei. Er wandte sich jedoch gegen die Isolation in geschlossenen Anstalten und forderte die Integration in die Gesellschaft als Teil der Therapie. Psychiatrische Behandlung sollte nicht mehr länger Mittel sein, um Menschen zu sanktionieren und zu disziplinieren. Sie sollte nicht zwangsläufig zu juristisch durchgesetzter Entmündigung und Freiheitsentzug führen. Seine Betrachtung der Psychiatrie, wie er sie in Italien vorfand, trug insofern marxistische Züge, als er sie als Instrument zur Unter­ drückung der Arbeiterklasse wahrnahm.55 Basaglia und seine Mitkämpfer verstanden es, ihr Anliegen breiteren und vor allem linken Bevölkerungskreisen nahe zu bringen, wobei ihnen der im Land weit verbreitete Antiautoritarismus jener Zeit zu Gute kam. 1973 nahm die Organisation Psichatria Democratica, die sich bewusst auch von der Bezeichnung der »Antipsychiatrie« absetzte, ihre Arbeit auf.56 An der Spitze standen Basaglia, seine Ehefrau, Franca Basaglia Ongaro und einige seiner Mitarbeiter sowie Schüler. Die Organisation bemühte sich um politische Reformen und arbeitete eng mit linken Parteien und Stiftungen sowie mit der Studentenbewegung zusammen. Im Mai 1978 konnte sie einen großen Erfolg verzeichnen, als die Regie54 Foot, Franco Basaglia, S. 235–241; Pirella, Franco Basaglia, S. 120–125. 55 Basaglia, Che cos’è. 56 König, Franco Basaglia, S. 222–223; Luzzi, Salute, S. 268–274.

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rung in Eile das Gesetz Nr. 180 erließ, um einem Volksentscheid zu entgehen.57 Bisherige geschlossene Einrichtungen sollten abgeschafft und durch alternative (ambulante) Strukturen ersetzt werden. Inwiefern waren alte Menschen von der Reformbewegung der Psichatria Democratica betroffen? Basaglia konzentrierte sich auf die psychiatrischen Anstalten, eine Ausweitung seines Ansatzes auf Alten- ebenso wie Kinderheime war angedacht. Nicht zu übersehen ist zudem, dass ein Teil der Patienten, mit denen er zu tun hatte, alte Menschen waren. Die gerontopsychiatrischen Fälle waren häufig diejenigen, die nach der Öffnung der Anstalten nicht zurück nach Hause kehrten, sondern in Alten- und Pflegeheimen unterkamen.58 Schließlich gab die »legge Basaglia« den Anstoß für die Einführung eines Pauschalpflege­geldes im Jahr 1980, die »indennità di accompagnamento«.59 Dieses sollte Familien, die ihre vorher in Anstalten untergebrachten Verwandten aufnahmen, finanziell entlasten. Obgleich nie als solches intendiert, stellt es bis heute eine der wichtigsten Leistungen für pflegebedürftige Alte dar. Während die Psychiatriereform in Italien weiter als den meisten anderen Ländern ging, blieb eine stärkere Regulierung der Altenheime jedoch vorerst aus.

III. Altenrechte im Wohlfahrtsstaat Die Kritik an den Heimen führte zu immer lauteren Rufen nach Gesetzen, welche die Bewohner aus ihrer entmündigten Position befreien und ihnen Schutz gewähren sollten. In der Bundesrepublik wurde 1974 schließlich das Heimgesetz erlassen und damit ein entscheidender Schritt für die Verrechtlichung der stationären Altenhilfe vollzogen. Wer hatte das Gesetzgebungsverfahren in Gang gebracht? Welche Konfliktfelder machten die Verhandlungen im Vorfeld deutlich? Die Vorgeschichte der Heimaufsicht beginnt bereits 1935 mit dem »Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens«, das die amtsärztliche Aufsicht für nichtstaatliche Heime vorschrieb, was im »Dritten Reich« der erbbiologischen Erfassung diente.60 Weitere Vorstöße vor allem von Seiten der NS -Volkswohlfahrt und der Deutschen Arbeitsfront, die Mündigkeit alter Menschen in Heimen zu stärken, blieben jedoch auf der Ebene von Empfehlungen und einige Vorzeigeprojekte. Bemerkenswert ist, dass in diesen Kreisen eine begriffliche Verschiebung vom »Insassen« zum »Bewohner« stattfand.61 Spätestens mit Beginn des Krieges traten solche Überlegungen jedoch in den Hintergrund. 57 Legge n. 180 »Accertamenti e trattamenti sanitari volontari e obbligatori« del 16.5.1978, Gazzetta Ufficiale, n.  133. Zur Vorgeschichte und Zusammenhang mit dem Volksentscheid über das Ehescheidungsrecht vgl. König, Franco Basaglia, S. 226–228. 58 De Girolamo u. a., Current state of mental health, S. 85. 59 Legge n. 18, 11. febbraio 1980, »Indennità di accompagnamento agli invalidi civili totalmente inabili«, Gazzetta Ufficiale, n. 44. 60 Brunozzi, Alter, S. 31 f. 61 Irmak, Sieche, S. 210 f.

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In der Bundesrepublik erfolgten erste Vorstöße für eine stärkere Kontrolle von Heimen auf dem Weg der Gewerbeordnung. Gewerbliche Heime trafen auf den besonderen Argwohn sozialpolitischer Akteure, befürchtete man hier doch, dass das Wohl der Bewohner dem Profitstreben untergeordnet werde. Allen voran Berlin, das einen überdurchschnittlich hohen Anteil älterer Einwohner aufwies, drängte auf die Reformierung von Heimen durch Gewährung von Schutzrechten und die Schaffung von Kontrollmöglichkeiten. Die Alten selbst tauchten in den Regelungen zur Gewerbeordnung nicht als Rechtssubjekte auf. Zudem erfasste das Gesetz mit den gewerblichen Heimen nur etwa neun Prozent der Plätze. Allerdings führte von dieser Regelung ein direkter Weg zur Vorbereitung des Heimgesetzes.62 Dabei waren es weniger die Ergebnisberichte über die auf der Grundlage der Gewerbeordnung durchgeführten Kontrollen, die Veranlassung zu weiteren Schritten gaben. Die dabei eruierten Zustände in privaten Heimen schienen kaum Anlass zu Klagen zu geben. Das Bundesfamilienministerium, das sich Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre, verstärkt in diese Frage einschaltete, störte sich vor allem an der Tatsache, dass die Heimaufsicht nur einen geringen Anteil des Sektors betraf. Einer der ersten Entwürfe für das Heim­ gesetz, den es 1971 erarbeitete, sah daher vor, alle Heime, ob staatlich, privat oder gemeinnützig, in die Regelungen einzubeziehen.63 Das Heimgesetz, wie es sich der Bund vorstellte, war mehr als eine Ausweitung der staatlichen Aufsicht. Es ging um die Verrechtlichung der Beziehungen alter Menschen in Heimen. Mit Ausnahme der Arbeiterwohlfahrt traf dieses Ansinnen auf vehemente Ablehnung bei den Wohlfahrtsverbänden. Sie argumentierten, es gebe »keine generelle Gefährdung von mündigen Bürgern in Heimen«, und sahen daher keine Notwendigkeit, Schutzrechte für alle Alten in stationären Einrichtungen einzuführen, zumindest nicht in den freigemeinnützigen.64 Sie beklagten eine »sachwidrige Verallgemeinerung von Mißständen in Altenheimen durch die Massenmedien in der Öffentlichkeit«. Schließlich wehrten sie sich gegen die »Einführung einer Staatsaufsicht«, die sie als unvereinbar mit der staatlich zugesicherten Unabhängigkeit karitativer Verbände sahen und als »gesetzliche Willkür« brandmarkten. Die Wohlfahrtsverbände wehrten sich lange Zeit gegen eine Ausweitung der Schutzrechte und Kontrolle auf alle Heimträger, mussten sich letztlich aber geschlagen geben. Aus einer Initiative, den gewerblichen Zweig zu kontrollieren, war ein umfassendes Heimrecht geworden. Gerade die Ausweitung auf alle Heime machte die Bedeutung des Gesetzes aus.65 Die Mindestanforderungen für bauliche und personelle Ausstattung be62 Dazu ausführlich Brunozzi, Alter, S. 35–51. 63 Entwurf für ein Heimgesetz, 11.10.1971, BA Koblenz B189/11418. 64 Hier und im Folgenden Memorandum zum Entwurf eines Heimgesetzes, Diakonisches Werk, Deutscher Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Deutsches Rotes Kreuz, 21.2.1973, BA Koblenz B 189/11418. 65 Heimgesetz vom 7.8.1974, BGBl. I S. 2319.

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wegten sich zwar zunächst auf einem eher niedrigen Niveau, jedoch boten sie eine Grundlage für weitere Verhandlungen. Eine zweite Errungenschaft war die Festschreibung von Mitwirkungsrechten der Bewohner in Form eines Heimbeirats, der an Fragen, die die Freizeitgestaltung, Unterbringung, Verpflegung und Heimordnung betrafen, beteiligt werden sollte.66 In dieser Regelung sahen die Kommentatoren in Wissenschaft und Politik den gesetzlichen Niederschlag der Forderung nach Demokratisierung der Heime und der Stärkung der Selbstbestimmungsrechte der Bewohner.67 Hier ist noch nichts über die Umsetzung des Gesetzes gesagt, die in nachfolgenden Verordnungen erst spezifiziert werden musste, weil das Gesetz vieles sehr im Vagen beließ.68 Schon im Vorfeld hatten Vertreter aus dem Heimsektor bei einer Expertenanhörung z. B. auf die Schwierigkeiten verwiesen, Mitwirkung bei Pflegebedürftigen zu gewährleisten, wobei Demenzkranke als besonders problematische Gruppe dargestellt wurden. Vertreter der Bundesregierung zeigten sich mit den Ergebnissen des Gesetzes zufrieden. Die Tatsache, dass es keine weiteren großen Pflegeskandale seit Bestehen der neuen Regelung gegeben hatte, diente ihnen als Indikator.69 Freilich war dies eher kurzsichtig. Die Diskussionen auf dem Weg zur Novellierung des Heim­ gesetzes in den 1980er Jahren machten deutlich, dass das legislative Werk von 1975 erst ein Anfang war.70 Mit Blick auf England, wo sich ganz ähnliche Verhandlungen finden, soll das Verhältnis von öffentlichem und privatem Sektor als Impuls für eine Verrecht­ lichung des Heimrechts näher betrachtet werden. Die Kritik an Alten- und Pflegeheimen, wie sie Townsend und andere formuliert hatten, führte im Bereich der Altenpflege kaum zu eine deinstitutionalisation. Dies sticht umso mehr ins Auge, als Kinderheime tatsächlich nach und nach aufgelöst und die Schützlinge in Pflegefamilien untergebracht wurden. Die Zahl alter Menschen, die in Heimen untergebracht waren, stieg jedoch an: Zwischen 1950 und 1970 verdoppelte sich die Zahl der durch die local authorities unterstützten Alten in Heimen; 1985 betrug die Zahl der in Heimen lebenden über 65-Jährigen 193.000 und sollte innerhalb von zehn Jahren auf 231.000 steigen.71 Bezieht man den zunehmend wachsenden Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung mit ein, relativiert sich dieser Ausbau jedoch. Die eigentliche Dynamik zeigte sich hingegen in der Aufteilung von Heimplätzen zwischen solchen, die von local authorities einerseits und Trägern des voluntary sectors bzw. von Privatunternehmen andererseits geführt wurden. Während die Heime der local authorities, also der öffentlichen Hand, in den 1970er und 1980er Jahren nur langsam ausgebaut wurden, stieg die Zahl der 66 67 68 69 70 71

Brunozzi, Alter, S. 111 f. Verhandlungen des Deutschen Bundestags vom 11.7.1974, StenBerBT 7/106. Brunozzi, Alter, S. 114–128. Vermerk Bundesfamilienministerium, 3.12.1978, BA Koblenz B 189/11417. Vgl. für die Novellierung des Gesetzes in den 1980er Jahren Brunozzi, Alter, S. 149–157. Parker/Webb, Social Services, S. 515 f.

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Plätze in Einrichtungen von privaten Anbietern und von Organisationen der freiwilligen Sozialarbeit sprunghaft an. Der Anteil der Alten, die nicht in Heimen der local authorities untergebracht waren, stieg zwischen 1974 und 1986 von 13 auf 37 Prozent an. Dies hatte zum einen mit einer veränderten Nachfrage, vor allem den gestiegenen Qualitätsansprüchen alter Menschen und ihrer Angehörigen zu tun, zum anderen aber auch mit Finanzierungs- und Subventions­ regularien der local authorities. Seit 1980 war es möglich, Plätze in privaten und von charities geführten Heimen über das Budget des Department of Health and Social Security zu finanzieren. Antragsteller erhielten die Leistungen ohne aufwendige Bedürftigkeitsprüfung. Sie konnten sie nur zum Zwecke der Heim­ unterbringung einsetzen, nicht aber für eine gleichwertige ambulante Pflege. Anders als das klare Ergebnis vermuten lässt, war diese Entwicklung weniger auf einen klaren politischen Richtungswechsel zurückzuführen, sondern gilt als nicht intendiert.72 Neben der rein zahlenmäßigen Erweiterung trug der Ausbau des Privatsektors zur Verbesserung der durchschnittlichen Heimausstattung bei. Die Einrichtungen der local authorities waren entlastet, und endlich konnten die letzten umgebauten ehemaligen workhouses schließen, was ursprünglich schon viel früher geplant war.73 Eine der wichtigsten Folgen dieser Expansion privater Heimpflege war jedoch die Implementierung von Schutzrechten für Bewohner. Je mehr Plätze die local authorities in privaten Heimen bezuschussten, desto mehr wuchs ihr Interesse, auf die Einhaltung von Qualitätsstandards hinzuwirken. Das schnelle Wachstum dieses Marktes und das Profitstreben der Betreiber nährten Ängste in der Politik, Rechte alter Menschen könnten dem untergeordnet werden. Pflege­ skandale schienen diese Befürchtungen zu bestätigen.74 Die Registered Homes Act von 1984 schuf die gesetzliche Basis für den Aufbau von Kontrollstrukturen. Festgelegt wurden Registrierung und regelmäßige Inspektion durch neugeschaffene Organe der local authorities. Wie Heime ausgestattet sein sollten, welche Personalschlüssel einzuhalten waren oder welche Rechte Bewohnern zugesichert werden sollten, war dem Gesetzestext nicht zu entnehmen. Es blieb in diesen Punkten eher unbestimmt und verlagerte solche konkreten Fragen auf den Code of Practice, den das Centre for Policy on Ageing unter dem Titel »Home Life« veröffentlicht hatte. Als Dokument, das eine nichtstaatliche Einrichtung ohne jede parlamentarische Legitimation erstellt hatte, konnte es jedoch keine gesetzlich bindende Wirkung entfalten, sondern diente Kontrollinstanzen lediglich als Orientierung.75 Der britische Fall sensibilisiert besonders für die Nebeneffekte von Privatisierungstendenzen in der Altenpflege. Der Verlauf der britischen Heimgesetz72 73 74 75

Hayashi, Care, S. 32; Evandrou u. a., Personal Social Services, S. 250 f. Hayashi, Care, S. 145–149. Debatte im House of Commons, 10.7.1984, Hansard vol. 63 cc 864–6. Rede Malcolm Moss in House of Commons, 8.3.1989, Hansard vol. 148 c902; vgl. auch Brammer, Registered Homes Act 1984, S. 431.

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gebung hebt dabei die Dynamik hervor, die sich zwischen Staat und privatem (gewerblichem oder gemeinnützigem) Sektor entwickelte. Denn letztlich gaben die enormen Ausweitungen privater Heimplätze, die teils öffentlich finanziert waren, den Anstoß für eine Ausweitung staatlicher Regelung in Bereiche, die dieser vorher nicht unterlagen.76 Doch es war nicht nur eine Verstaatlichung, sondern auch eine Verrechtlichung, die hier stattfand. Die mixed economy of welfare war nicht nur das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen staatlichen, freigemeinnützigen und Marktkräften, sondern auch Motor für weitere Aushandlungen. Zu einer Regulierung von Alten- und Pflegeheimen kam es in Italien nicht, obwohl die »legge Basaglia« ein deutliches Zeichen gegen die Abschottung hilfsund pflegebedürftiger Menschen in Heimen gesetzt hatte. Gründe hierfür sind in den Umwälzungen des italienischen Gesundheits- und Sozialsystems in den 1970er und 1980er Jahre zu suchen. 1977/1978 wurden neben vielen anderen Selbstverwaltungskörperschaften mit den Enti Comunali di Assistenza (ECA) und der Opera Nazionale Pensionati d’Italia (ONPI) zwei wichtige Akteure der Heimpflege abgeschafft.77 Sie hatten nicht nur eigene Einrichtungen unterhalten, sondern sich zum Fürsprecher des Heimsektors in der Politik gemacht. Als Körperschaften, die staatliche Aufgaben mit staatlichen Geldern, aber selbstverwaltet durchführten, standen sie für die Wohlfahrtsstaatlichkeit des Faschismus. Dieser hatte eine ganze Reihe solcher Institutionen ins Leben gerufen, von denen das 1925 gegründete Opera Nazionale Maternità e Infanzia wohl am bekanntesten ist.78 Als Elemente fragmentarischer und klientelistischer Sozialpolitik fanden sie sich in der Nachkriegszeit zunehmend unter Beschuss. Die Abschaffung zahlreicher Körperschaften (enti) in den 1970er Jahren diente vordergründig der Verwaltungsvereinfachung und Förderung staatlicher Transparenz. Bei näherem Hinsehen handelte es sich jedoch um einen grundlegenden Reformversuch, der  – maßgeblich von den Gewerkschaften getragen  – mit Wohlfahrtsstaatsstrukturen brechen wollte, die im Faschismus implementiert worden waren.79 Für den neuen Kurs in Richtung einer universalistischen Sozialpolitik stand vor allem der 1978 eingeführte Servizio Sanitario Nazionale. Das geplante Äquivalent im Bereich der sozialen Dienste, das u. a. Zuständigkeiten der ECA und des ONPI übernommen hätte, wurde nie ins Leben gerufen. Ohne die beiden Institutionen und entsprechende Nachfolger fehlten Wortführer, um die Interessen von pflegebedürftigen Alten auf Zentralstaatsebene zu formulieren. Dies änderte sich erst in den 1980er Jahren, als die Commissione parlamentare d‹ inchiesta sulla dignità e condizione sociale dell‹ anziano zusammentrat. Medienberichte 76 Vgl. allgemein zum Übergang vom »sorgenden« zum »gewährleistenden« Staat: Hockerts, Wohlfahrtsstaat. 77 Legge n. 641 del 21.10.1978, Gazzetta Ufficiale, n. 298. Zu den ECA ausführlich: Paniga, Welfare ambrosiano, S. 279 ff. 78 Conti/Silei, Breve Storia, S. 89; Giorgi, La previdenza. 79 Agnoletto, Trade Unions, S. 20 f.

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über verheerende Zustände in Altenpflegeeinrichtungen, aber auch Anstöße von europäischer Ebene und Initiativen der UNO in den 1980er Jahren rückten die Situation gebrechlicher alter Menschen in den Fokus italienischer Politiker. Im April 1989 wurde Spezialeinheiten der Carabinieri, den Nuclei Antisofisticazione e Sanità (NAS), eine Art Gesundheitspolizei, der bisher vor allem Lebensmittel- und Hygienekontrollen oblagen, die Aufgabe, jährlich Kontrollen in Altenheimen durchzuführen, übertragen. Diese unangekündigten Über­prüfungen führten regelmäßig zu Schließungen von Heimen.80 Grundlage hierfür sind Artikel des Strafgesetzbuches, die Misshandlung von Heimbewohnern, aber auch mangelnde Ausbildung der Angestellten betreffen. Die Presse verfolgte die als »blitz« bezeichneten Kontrollen mit großem Interesse mit und zeichneten ein düsteres Bild der »lager« für Alte.81

IV. Fazit Für die Untersuchung von Wohlfahrtsstaaten ist der Vergleich eine gern gewählte Methode. Die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung wie sie der dänische Soziologe Esping-Andersen, aber auch andere betreiben, interessiert sich besonders für Fragen nach historischer Genese und Entwicklungsdynamiken von Wohlfahrtsstaaten. Sie hat maßgeblich an der Durchsetzung der Deutung von der Blütezeit mitgewirkt. Wesentliches Merkmal des Narratives vom »goldenen Zeitalter« der Wohlfahrtsstaatsexpansion ist schließlich, dass es nicht nur für ein Land, sondern für mehrere europäische Staaten Deutungskraft beansprucht. Doch gerade Vertreter der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung, vor allem solche, die sich intensiv mit Modellen und Typologien beschäftigen, haben sich von der linearen Meistererzählung mittlerweile abgewendet. Die von ihnen beschriebenen alternativen Entwicklungsdynamiken haben nicht nur zu einer Pluralisierung von Deutungen geführt. Vielmehr trat an die Stelle von Erfolgsnarrativen das Interesse für Ambivalenzen und Gegenevidenzen der wohlfahrtsstaatlichen Expansion ebenso wie für krisenhafte Umbrüche als gängiger Modus wohlfahrtsstaatlicher Genese. Pauli Kettunen und Klaus Petersen, die das nordische Modell erforschen, rücken gar gänzlich von der Idee sich ablösender Entwicklungsphasen ab und fragen – im Anschluss an Reinhard Kosellecks Konzept der Parallelität verschiedener Zeitschichten – dagegen nach sich überlappenden »historical layers«.82

80 Memoradnum sugli anziani des Ministero della Sanità, Coniglio Sanitario Nazionale, in: Relazione sulla condizione dell’anziano, 5.8.1991, Atti Parlamentare, X. Legislatura, Camera die Deputati, Doc. CXI, Nr.1; Brugnone, Maltrattementi. 81 Terzo Blitz negli ospizi per anziani, in: La Repubblica, 26.8.1990; Un Lager. La casa di­ riposo per anziani, in: La Repubblica, 24.10.1990. 82 Kettunen/Petersen, Introduction, S. 6.

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Nicht nur auf der konzeptionellen Ebene scheint eine Reevaluierung der bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaatsgeschichte geboten. Auch die konkrete Vergleichsanalyse zur Verrechtlichung gesellschaftlicher Zusammenhänge durch Sozialpolitik am Beispiel der Schutzrechte alter Menschen in Heimen zeigt das Potential für neue Sichtweisen. Der Vergleich Westdeutschlands mit Großbritannien und Italien spielt dabei eine wichtige Rolle. In der britischen und italienischen Historiographie sowie auch in den Forschungen zum liberalen und südeuropäischen Wohlfahrtsstaatsmodel haben sich bereits alternative, d. h. gebrochene statt lineare, Sichtweisen durchgesetzt, die nicht nur die Krisenzeit neu beleuchten, sondern auch Beginn und Höhepunkt des »goldenen Zeitalters« der Wohlfahrtsstaatsexpansion. Sozialstaatsbeobachter in Großbritannien sprachen schon in den 1950er und 1960er Jahren von Krisen und Versäumnissen, Townsend ist hier nur ein Beispiel. Italien hat sich wie andere südeuro­päische Staaten nie recht in das Narrativ von der Blütezeit einfügen lassen. Beide Vergleichsländer geben Anlass dazu, auch in Deutschland mehr nach dem Erbe des Zweiten Weltkriegs zu fragen und nicht wie meist üblich, für die Fragen nach sozialpolitischen Kontinuitäten auf die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zurückzugreifen. Das gewählte Vergleichstrio hinterfragt die Deutung von der Wohlfahrtsstaatsexpansion noch auf andere Weise. Wenngleich die Schutzrechte alter Menschen eine Ausweitung staatlicher Intervention bedeutete, handelt es sich nicht nur um eine Geschichte des Wohlfahrtstaates. Während die Historiographie zum bundesrepublikanischen Sozialstaat meist etatistisch ausgerichtet ist, finden sich in den britischen und italienischen Geschichtsschreibungen einige Ansätze für eine stärkere Öffnung zur Gesellschaftsgeschichte. Sozialpolitische Reformen werden so z. B. als Teil  antifaschistischer Erinnerungskultur interpretiert. Die Geschichte der Öffnung psychiatrischer Anstalten war nicht nur eine von Gesetzesinitiativen, vielmehr auch eine von sozialen Bewegungen, die Tatsachen geschaffen hatten, bevor die Legislative überhaupt in Gang kam. Für den britischen Fall haben Forschungen gezeigt, dass die Bedeutung von Organisationen des voluntary sector weniger in ihrer Lobbyfunktion als in ihrer konkreten Arbeit vor Ort begründet liegt. Sie mussten pragmatische Lösungen für alltägliche, aber nichtdestotrotz drängende Probleme finden und wurden so zu Akteuren der »ordinary politics«.83 Eine solch systematische Berücksichtigung von soziokulturellen Leitideen wohlfahrtsstaatlicher Politik ebenso wie deren gesellschaftliche Verankerung kann dabei den Weg zu einer Gesellschafts­ geschichte des deutschen Sozialstaates zeigen.84

83 Hilton, Politics is Ordinary, S. 246. 84 Erste Beispiele, wie dies aussehen kann, liegen vor, vgl. vor allem Torp, Gerechtigkeit; Kott, Sozialstaat.

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Ex comparatione lux: Fazit* Der Bundesrepublik war der Vergleich seit ihrer Gründung 1949 so sehr eingeschrieben wie kaum einem anderen Staat der modernen Welt. Abgrenzung gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit einerseits und Annäherung an das Wertesystem und die führenden demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens andererseits bildeten die diachronen und synchronen Hauptachsen des komparativen Koordinatensystems von Fremd- und Selbst­ deutung, wie bereits die Einleitung des vorliegenden Bandes mit Blick auf die professionelle Geschichtsschreibung vermerkt. Phasenweise, so ließe sich hinsichtlich zeitgenössischer Debatten jenseits der Geschichtswissenschaft ergänzen, ergaben sich noch kompliziertere geome­ trische Anordnungen, etwa durch die diachrone Abgrenzung von der Weimarer Republik oder in synchroner Perspektive von der DDR . Um das für Weimar kurz auszuführen: Bereits vor ihrer Gründung 1949 entstand in Westdeutschland eine intensive Debatte darüber, wie die Lehren aus dem Scheitern der ersten Demokratie auf deutschem Boden fruchtbar zu machen seien. Bonn durfte nicht Weimar werden, und der Weg weg von Weimar galt als sicherer Kompass für den Neuaufbau der politischen Ordnung  – wiewohl zunächst höchst umstritten blieb, wie diese Lehren genau auszusehen hätten.1 Erst mit der Zeit stellte sich mehr Klarheit ein: Wenn etwa der Schweizer Journalist Fritz René­ Allemann 1956 in einem Buch gleichen Titels festhielt: »Bonn ist nicht Weimar«, dann fasste er ein Selbstbild zusammen, das sich damals seit einigen Jahren herausbildete. Zugleich verdichte sich in diesen vier Worten die normative und systemlegitimierende Funktion, die der Vergleich in zeitgenössischen Deutungen der Bundesrepublik besaß.2 Dem Vergleich in Politik, Publizistik und Wissenschaft kam darüber hinaus auch in einem abstrakteren Sinne eine systemlegitimierende Rolle zu. Denn wer vergleicht, der unterstellt, dass die Entitäten, die sie oder er auf Gemeinsamkeiten, Unterschiede und eventuell auf Verflechtungen hin prüft, sich klar von ihrer Umwelt abgrenzen lassen. Der Vergleich impliziert die schiere Existenz und die grundsätzliche Vergleichbarkeit der Komparanden und Unter­ suchungsräume. * Ich danke Sebastian Conrad, Jens Hacke und Till Kössler für Hinweise und Kritik, sowie einigen der Autorinnen und Autoren der hier vorliegenden Beiträge für ihre Antworten zu meinen Rückfragen, die sich im Verlauf des Schreibprozesses für diesen Text ergaben. 1 Vgl. Ullrich, Weimar-Komplex. 2 Allemann, Bonn ist nicht Weimar.

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Vor allem für die ersten Dekaden westdeutscher Nachkriegsgeschichte war diese Prämisse keineswegs trivial, da die Bundesrepublik  – sei es implizit, sei es explizit  – zumeist Nationalstaaten (der Gegenwart, der Vergangenheit oder in idealtypischer Verdichtung) des europäisch-nordatlantischen Raums gegenübergestellt wurde. Im Vergleich zu diesen war das Provisorium Bundesrepublik eine Merkwürdigkeit. Wer in Kategorien klassischer Nationalstaatlichkeit dachte (und wer tat das nicht?),3 den mochte »Trizonesien« an Samuel von Pufendorfs berühmte Charakterisierung des Alten Reiches als »monstro simile« erinnern. Die Bundesrepublik war ein teilsouveräner Nicht-Nationalstaat, dem eine lange Reihe von Staaten und internationalen Organisationen die diplomatische Anerkennung verweigerten. Der unsichere Grund, auf dem die Annahme der Vergleichbarkeit ruhte, zeigt sich etwa, wenn man die Bundesrepublik auf jene drei Elemente abklopft, die nach der klassischen Definition Georg Jellineks einen Staat ausmachen.4 Angesichts der Nicht-Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze zu Polen war erstens das Staatsgebiet bis in die 1970er Jahre und auf verbindlicherer Basis bis zum Zwei-plus-Vier-Vertrag 1991 nicht eindeutig definiert. Die Staatsgewalt – als zweites Kriterium – blieb bis zu den Pariser Verträgen 1955 in fundamentalen Teilen eingeschränkt. Auch danach war die Bundesrepublik nur de facto politisch gleichberechtigtes Mitglied im westlichen Bündnis, während Reste des seit 1949 geltenden alliierten Vorbehaltsrechts wiederum bis 1991 weiterbestanden. In gewissen Fragen werden solche Souveränitätseinschränkungen mit Wurzeln im alliierten Vorbehaltsrecht bis in die Gegenwart perpetuiert, wie kürzlich am Abhörskandal durch die NSA einer breiteren Öffentlichkeit bewusst wurde.5 Drittens war das, was bei Jellinek »Staatsvolk« heißt, ebenfalls nicht stabil umrissen: Aufgrund des westdeutschen Alleinvertretungsanspruchs waren Bürger der DDR Deutsche im Sinne des Grundgesetzes und hatten deshalb Anspruch auf einen westdeutschen Reisepass. Darüber hinaus galten spezielle Regelungen in Bezug auf Personen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten.6 Zusammengefasst: Vergleichen, das hieß zu sagen, dass es die Bundesrepublik schlicht und ergreifend als Staat gab. Der Vergleich war deswegen nicht einfach Teil  von Selbstbeschreibung und Selbstverständigung, sondern trug auch zur Selbstverständlichkeit des Gemeinwesens bei. Im Vergleich also bildete 3 Selbstverständlich gab es eine Vielzahl weiterer Staaten und Gesellschaften, die nicht über volle Souveränität verfügten. Entscheidend ist hier, dass diese in vergleichenden Analysen jenseits der Polemik marginal blieben. Zum grundsätzlichen Problem, Souveränität empirisch und analytisch scharf zu stellen, vgl. etwa Landwehr, Zoo der Souveränitäten. 4 Vgl. Jellinek, Staatslehre, S. 394–434. Jellineks Kriterien sind anfechtbar; sie dienen hier lediglich als eine Annäherung an das Problem. 5 Vgl. Foschepoth, Überwachtes Deutschland, v. a. S. 186–196. Von jenen Prozessen wie der europäischen Integration und der Globalisierung, die sich in den letzten Jahrzehnten massiv verstärkt haben, wird weiter unten die Rede sein. 6 Vgl. Art. 116, Grundgesetz; zeitgenössisch dazu etwa Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S. 22–91; Grewe, Deutschland-Vertrag.

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die Bundesrepublik erst jenes »Selbst« aus, das diesem eigentlich vorausgehen muss. Der Vergleich ist deswegen alles andere als politisch unschuldig – und das gilt für den nichtwissenschaftlichen wie für den wissenschaftlichen Vergleich gleichermaßen. Die politische Virulenz des komparativen Zugriffs zeigt sich auch an Fällen von Vergleichsverweigerung. Das Verhältnis zur DDR bietet viele Beispiele hierfür, etwa in der Debatte über den Begriff BRD: Während die Abkürzung in den ersten Jahren der Bundesrepublik unkontrovers blieb, wurde sie vor allem während der 1970er Jahre als kommunistische Propagandaformel attackiert. Wer die Bundesrepublik auf diese drei Buchstaben verkürze, mache sie der DDR ähnlich, untergrabe den Alleinvertretungsanspruch und stelle das ostdeutsche Unrechtsregime auf eine Stufe mit der westdeutschen Demokratie. Um den illegitimen Charakter des anderen Deutschlands zu unterstreichen, war selbst nach 1949 zunächst häufig von der Sowjetischen Besatzungszone, der SBZ oder noch abfälliger von der Zone die Rede, später von der sogenannten DDR oder der »DDR« in Anführungszeichen.7 Als Vergleichsverweigerer erwies sich etwa der bereits erwähnte Allemann. Während er in »Bonn ist nicht Weimar« die Unterschiede zwischen der Bundesrepublik und Weimarer Verhältnissen herausstrich, sprach er der DDR nicht nur ihre Legitimität ab, sondern selbst das nackte Vorhandensein als Staat. Für ihn war die DDR »Besatzungskolonie, ›Protektorat‹«; deswegen sei es für ihn als Autor »legitim, das Staatswesen der Bundesrepublik … unbedenklich als das deutsche Staatswesen zu betrachten und zu beschreiben und von deutscher Politik schlechthin zu sprechen, wenn er die Politik Bonns meint – einfach weil es in Wahrheit keine andere deutsche Politik gibt.«8 Der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik im Kalten Krieg wurde so von ihren Unterstützern von der politischen auf die analytische Ebene übertragen und im (Nicht-)Vergleich sublimiert.9 Diese Sicht war natürlich nie unumstritten. In der Bundesrepublik selbst gab es am rechten wie am linken Rand des politischen Spektrums immer Gruppen, die den Vergleich zur Delegitimierung und Diffamierung der Bundesrepublik einsetzten oder sich der Normalitätsvorstellung verweigerten, die ihrerseits Prämisse des Vergleichs ist. Lange und mühsam verlief der »Selbstanerkennungsprozess« der alten Bundesrepublik durch ihre eigenen intellektuellen Eliten;10 international blieben dem Vergleich als Normalisierungstechnik nicht zuletzt durch den Kalten Krieg immer klare Grenzen gesetzt. 7 Vgl. Hahn, Vom zerrissenen Deutschland, S.  317–322; zeitgenössisch z. B. Berschin, Deutschland – ein Name im Wandel. 8 Allemann, Bonn ist nicht Weimar, S. 8. 9 In Spuren findet sich diese Sicht z. B. noch bei Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5. 10 Hacke, Staat in Gefahr, S. 203; sowie grundsätzlich auch die anderen Beiträge des Bandes; ferner nun Schletter, Grabgesang der Demokratie; außerdem Hacke, Bundesrepublik als Idee.

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Vergleich und Vergleichsverweigerung  – seien sie nun explizit oder implizit – waren somit konstitutiv für Selbst- und Fremdbild der Bundesrepublik. Das sollte man sich vor Augen halten, wenn man die Bundesrepublik in komparativer Absicht untersucht, wie es die hier vorliegenden Beiträge unternehmen. Im Folgenden sollen die Aufsätze nicht einzeln diskutiert, zusammengefasst und geordnet werden  – letzteres besorgt in hervorragender Weise die Einleitung. Dieses Fazit möchte auch nicht das Geschäft künftiger Rezensionen besorgen. Vielmehr geht es im Wesentlichen um eine Metareflektion über die Rolle des Vergleichs in den Texten. Wer Luhmann mag, würde von einer Beobachtung dritter Ordnung sprechen, da hier eine Analyse der vergleichenden Ana­lysen des Autorenteams vorgenommen wird, die ihrerseits auf komparativen und anderen zeitgenössischen Analysen fußt. Zunächst sollen knapp einige der Leistungen des komparativen Zugriffs zusammengefasst werden, um anschließend drei Aspekte vertiefend auszuloten. Erstens werden die mental maps der hier vorgelegten Vergleiche kartiert. Dabei zeigt sich, wie stark die Historiographie zur Bundesrepublik in ihren geographischen Bezügen weiterhin auf den Westen orientiert ist und wie prägend zeitgenössische Deutungen geblieben sind. Anschließend wird vom Vergleich als Aktant die Rede sein. Dabei handelt es sich um ein zeithistorisches Spezifikum, das künftig größere Aufmerksamkeit verdient. Drittens schließlich erörtert dieses Fazit Varianten des Vergleichs auf methodischer Ebene und eine zentrale Herausforderung, die sich aus transnationaler Perspektive für den Vergleich ergibt.

I.

Erkenntnispotentiale des Vergleichs

Die hier versammelten Beiträge exemplifizieren die analytische Kraft, die dem Vergleich als wissenschaftlichem Verfahren innewohnt. Es ist nämlich gerade der streng durchgeführte Vergleich, der die normativen und legitimierenden Dimensionen zeitgenössischer Vergleiche transzendieren kann und herauszupräparieren hilft. Tatsächlich gelingt es den Autorinnen und Autoren überzeugend, an die Stelle des eher allgemein gehaltenen Bezugs auf den Nationalsozialismus oder den Westen konkrete, explizite Vergleiche unter klar spezifizierten Fragestellungen zu setzen.11 Wie Sonja Levsen und Cornelius Torp in ihrer Einleitung treffend bemerken, tragen die hier zusammengetragenen, komparativen Studien in mehrfacher Hinsicht zur weiteren Analyse und Historisierung der Bundesrepublik bei: Vor allem helfen sie, etablierte Interpretationen kritisch zu durchleuchten. Der Vergleich erweist sich als das Meisterverfahren, um Schwächen der Sonderwegsthese offenzulegen. Davon abgesehen trägt er dazu bei, unterkomplexe Deutungsmuster wie vereinfachende Konvergenz- und teleologische Erfolgsgeschichten zu hinterfragen. Der Verfremdungseffekt, der sich zu11 Vgl. zur Historisierung von Vorstellungen vom Westen jüngst Bavaj/Steber, Germany and ›The West‹.

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gleich aus der Konfrontation mit den oft anders gelagerten Deutungskategorien anderer Historiographien ergibt, zeigt eigentlich erst, wie nationalzentriert die Geschichtswissenschaft im frühen 21. Jahrhundert geblieben ist. Einer der größten Pluspunkte des Bandes ist es, durch solche Gegenüberstellungen wirkungsmächtige Interpretationen zur Geschichte der Bundesrepublik herauszufordern und alternative Deutungen vorzuschlagen. So hilft der Vergleich etwa, pseudolokale Erklärungen zu überwinden und andere Kausalketten zu eröffnen, zum Beispiel bei der Frage nach der Rolle des Nationalsozialismus oder des Kalten Krieges zur Erklärung von Nachkriegsdynamiken. Zugleich erlaubt er es, etablierte Binnenperiodisierungen kritisch zu prüfen (inklusive der in den letzten Jahren viel diskutierten Frage des Strukturbruchs in den 1970er Jahren; vgl. dazu die Einleitung) und den Handlungsspielraum von Akteuren neu zu vermessen. Durch die Auswahl der Untersuchungsgegenstände gelingt es dem Band zudem, die Staats- und Politikzentrierung, die vielen zeitgenössischen Vergleichen zugrunde liegt, zu ergänzen und zu überschreiten. Immerhin konzentriert sich mehr als die Hälfte der Beiträge auf Themen und Zugriffe jenseits der Politikgeschichte im engeren Sinne. Die Bundesrepublik wird so von der politischen Ordnung (die in gewisser Hinsicht der Ausgangspunkt sein muss – immerhin bildete sich keine spezifisch westdeutsche Wirtschaft, Kultur usw. vorgelagert zum politischen System aus) zur Gesellschaft. Allerdings sollte man den Preis dieses Perspektivwechsels nicht übersehen. Im Licht der Eingangsbemerkungen zur ungemein politischen Rolle des Vergleichs kann man diese Fokussierung als lediglich den nächsten Schritt zur Konstituierung eines bedeutsamen Komparanden und Untersuchungsraums und damit zur Reifizierung der Bundesrepublik kritisieren. Jener Teil  der Politik­ wissenschaft, der gerne mit philosophischen Begriffen hantiert, würde einen derartigen Zugriff auf die Bundesrepublik wahrscheinlich post-ontologisch nennen:12 Es geht demnach nicht mehr darum, das Wesen der Untersuchungseinheit zu bestimmen, sondern diese als gesetzt zu sehen und darauf aufbauend spezifische Erkenntnisinteressen zu formulieren. Ein solcher Ansatz schließt keineswegs aus, nach Transfer und Verflechtung zu fragen; die Existenz und Relevanz der territorialisierten Vergleichseinheit an sich ist davon jedoch unberührt. Wer die Bundesrepublik aber so mit einer Gesellschaft ausstattet, läuft Gefahr, sie vorschnell in die Tradition nationalhistorischer Zugriffe zu stellen. Tatsächlich blitzt aus einigen Texten sogar der Begriff Nationalstaat in Bezug auf die Bundesrepublik vor 1990 hervor  – ein Anachronismus, der die Schwierigkeit verdeutlicht, gebotene Distanz zu nationalhistorisch formatierten, »normalisierten« Narrativen zu halten. Gerade für die Geschichte der Bundesrepublik wäre deswegen die explizite ontologische Vorklärung notwendig, die besonders der Frage nachzugehen hätte, ab wann und in welchen Teilaspekten diesem staatlichen Provisorium eine halbwegs passgenaue Gesellschaft zuwuchs. Eigentlich erstaunlich, wie wenig darüber bisher gearbeitet wurde. 12 Vgl. z. B. Caporaso, European Union.

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Trotz des Problems hat die gesellschaftsgeschichtliche Weitung einen klaren Mehrwert: nicht nur, dass sich die Vergleichsmöglichkeiten dadurch verviel­ fachen; vielmehr hilft dies auch dabei, politikhistorische Befunde auf ihre Reichweite zu prüfen. Insgesamt zeigt sich so in dem vorliegenden Werk die heuristische, analytische, hermeneutische und (je nach weiterer Definition des Begriffs) theoriebildende Kraft, die dem Vergleich als Verfahren innewohnt.13 Angesichts dieser Leistungen des Vergleichs ist es ein wichtiger Befund des Buches, dass es in den meisten Vergleichsländern keine entsprechende, komparativ angelegte zeithistorische Forschung gibt. Dass alle Autorinnen und Autoren des Bandes ausschließlich oder primär in Deutschland wissenschaftlich sozialisiert wurden (die meisten in der Bundesrepublik seit 1990; die übergroße Mehrheit mit westdeutschen Biographien), ist somit mehr als ein Zufall. Fast mag es so scheinen, als wäre das Interesse am systematischen Vergleich das einzige Residuum, für das sich heute noch ein (west-)deutscher Sonderweg aus­ machen ließe – ironischerweise gerade in jenem Feld, das entscheidend dazu beigetragen hat, die Sonderwegsthese auszuhebeln. Nun könnte man es als ultimatives Zeichen historiographischer Norma­ lisierung deuten, gäben deutsche Historikerinnen und Historiker den systematischen Vergleich auf. Ergiebiger wäre dagegen die weitere Prüfung der Frage, warum der Vergleich im Allgemeinen und der zur Bundesrepublik im Besonderen in anderen Historiographien weniger ausgeprägt ist. Der Vergleich wirft so nicht nur bezüglich der Vergangenheit, sondern auch für das Verständnis gegenwärtiger Forschungspraxis hochrelevante Fragen auf.

II. Mental maps Bedenkt man den Anker des vorliegenden Bandes in der deutschen Geschichtswissenschaft und ihren Traditionen, dann drängt sich in besonderem Maße die Frage nach mental maps auf; nach den Räumen, mit denen Phänomene in der Geschichte der Bundesrepublik verglichen werden. Die Herausgeber betonen in ihrer Einleitung, dass die hier versammelten Kapitel in ihrer geographischen Auswahl »durchaus repräsentativ für den gegenwärtigen Forschungsstand« seien. Das mag tendenziell richtig sein; zugleich klaffen meines Erachtens wichtige Lücken. Mehr Aufmerksamkeit verdient hätten die DDR und für gewisse Fragen darüber hinaus andere Gesellschaften des Ostblocks. Sicherlich, es ist richtig, dass diese für die Bundesrepublik-Historiographie bisher keine zentralen Referenzpunkte darstellen; offensichtlich wirkt nicht nur die politische, sondern auch die analytisch-komparative Ostrakisierung des Ostblocks und seiner historiographische Einfrierung als Osteuropäische Geschichte aus der Zeit des Kalten Krie13 Vgl. Haupt/Kocka, Comparison; Haupt, Historische Komparatistik; Kaelble, Der histo­ rische Vergleich; Herbst, Komplexität und Chaos, S. 77–99.

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ges immer noch nach. Die DDR als potentiellen Vergleichsfall zu ignorieren passt sich jedoch allzu einfach ins Narrativ einer bundesrepublikanischen Ankunft im Westen ein. Und wie der Beitrag zu Impfdebatten von Malte Thießen verdeutlicht, hatte der deutsch-deutsche Vergleich nicht nur für Zeitgenossen trotz aller Sprechverbote von der Art BRD – DDR hohe Virulenz. Ein solcher Zugriff hilft zudem, die in der Einleitung zu Recht eingeforderte kritische Distanz gegenüber allzu einfachen Erfolgsnarrativen für die Bundesrepublik zu stärken. Das zeigt sich auch an einer ganzen Reihe weiterer Studien, die in jüngerer Zeit den Vergleich zur DDR in überaus produktiver Weise eingesetzt haben.14 Der deutschdeutsche Vergleich erweist sich, so ließe sich zusammenfassen, aufgrund des hohen Grades wechselseitiger Beobachtung, der teilweise kausale Bedeutung zur Erklärung scheinbar rein binnengesellschaftlicher Dynamiken zukommt, sowie wegen der Vergleichbarkeit vieler Problemstellungen häufig als gewinnbringend. Das war schon Zeitgenossen bewusst: Ralf Dahrendorf hielt 1965 fest, dass die Teilung dazu führte, »daß ein und dasselbe Land in zwei ganz verschiedenen Weisen auf dieselben Herausforderungen reagierte. Ich wüßte kein historisches Beispiel für ein politisches und soziales Experiment ähnlichen Maßstabs«.15 Und wenn etwa das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen in den 1970er Jahren Materialien mit Titeln wie »BRD – DDR : Systemvergleich« herausgab, dann verweist das darauf, dass im westdeutschen Sprachgebrauch das Kürzel BRD nicht von allen Seiten als problematisch angesehen wurde.16 Es verdeutlicht zudem, dass nicht nur Soziologen angesichts dieses Experiments mit geradezu idealen Laborbedingungen leuchtende Augen bekamen, sondern dass der Vergleich zeitgenössisch immer auch als Waffe im Systemwettkampf eingesetzt wurde. Bei der DDR braucht der komparative Blick keineswegs Halt zu machen, wie sich an Martin Kohlrauschs Vergleich von Architekten und ihren Geltungs­ ansprüchen in Polen und der Bundesrepublik zeigt. »Ex oriente lux«: das alte lateinische Sprichwort bewährt sich hier im übertragenen Sinne, da die Einbeziehung der DDR und anderer Ostblockstaaten die Geschichte der Bundesrepublik neu zu beleuchten vermag. Die Orientierung auf große westliche Industrieländer »allen voran Groß­ britannien, Frankreich, Italien und die USA« (so wiederum die Einleitung) überdeckt zweitens die wichtige Rolle, die andere Untersuchungsräume innerhalb des Westens und der politisch neutralen Teile Europas spielen können. Jan Eckel 14 Vgl. jüngst z. B. Schaefer, States of Division; Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe; Schultze, »Land in Sicht«?; Lorke, Armut im geteilten Deutschland; Bösch, Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000; als Überblick zur deutsch-deutschen Geschichte und Plädoyer für einen transnationalen Zugriff jüngst auch ders., Geteilte Geschichte. Plädoyer für eine deutsch-deutsche Perspektive. 15 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 450. 16 Vgl. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, BRD – DDR ; aber auch die zeitgenössische Kontroverse um dieses Material, vgl. Bleek, Entwicklung des zwischendeutschen Systemvergleichs, S. 31–35.

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führt in seiner Untersuchung zur Rolle der Menschenrechte im Feld der Außenpolitik vor, wie sinnvoll der Vergleich zu einem kleinen Nachbarland wie den Niederlanden sein kann. Weitere Beispiele mit ähnlicher Ausrichtung lassen sich nennen, unter anderem Matthias Dahlkes 2011 vorgelegten Vergleich des Umgangs mit transnationalem Terrorismus in der Bundesrepublik, Österreich und den Niederlanden17 oder die Studie von Marcel Berlinghoff, der neben Frankreich die Schweiz in seinen Dreiländervergleich zur westdeutschen Geschichte des Anwerbestopps für »Gastarbeiter« in den frühen 1970er Jahren einbezogen hat.18 Auch die asymmetrisch-komparativen Bemerkungen, die Jenny Pleinen in ihrer hier vorgelegten Darstellung westdeutscher Migrationspolitik zu Belgien einwirft, sprechen für dieses Argument.19 Drittens gibt es auch Gesellschaften außerhalb des nordatlantisch-euro­ päischen Raums, für die der Vergleich äußerst fruchtbar sein kann. So führte etwa Sebastian Conrads 1999 vorgelegte Arbeit zu den Nachkriegshistoriographien in Westdeutschland und Japan weit über Europa hinaus.20 Wenngleich nur sehr wenige weitere historische Vergleichsstudien ähnlich große Distanzen überbrücken, haben unzählige sozialwissenschaftliche Werke einen ähnlich global-komparativen Zuschnitt. Gabriel A. Almond und Sidney Verba, auf die bereits die Einleitung verweist, setzten in ihren Arbeiten zur politischen Kultur Deutschland nicht nur in ein Verhältnis zu den USA und Großbritannien, sondern auch zu Mexiko.21 Oder, als ein anderes bekanntes Beispiel, das zumindest über die großen westlichen Industriestaaten deutlich hinausführt: Gøsta EspingAndersen ordnete in »Three Worlds of Welfare Capitalism« Deutschland demselben konservativ-korporatistischen Typus von Wohlfahrtstaat zu wie Frankreich und Österreich. Daneben stellt er jedoch ein liberales Modell, das unter anderem in den USA, Großbritannien und der Schweiz beheimatet sei, sowie ein drittes, sozialdemokratisches, etwa in Skandinavien.22 Andere Sozialwissenschaftler haben in ihre Vergleiche asiatische Gesellschaften einbezogen – zum Beispiel, wenn es um den Kampf um internationale diplomatische Anerkennung im Kalten Krieg für die Bundesrepublik, Taiwan und Südkorea geht, oder um die Situation der Schiffbaus in Deutschland und Südkorea.23 Selbstverständlich sind viele dieser Vergleiche aus den Nachbardisziplinen umstritten und ihrerseits Produkte bestimmter sozialwissenschaftlicher Strömungen und Phasen der Forschung. Für die hier verfolgte Frage ist die Trag­ fähigkeit ihrer empirischen Thesen jedoch weniger wichtig als die Tatsache, dass sie grundsätzlich eine Vergleichbarkeit der westdeutschen Geschichte mit 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. Dahlke, Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Vgl. Berlinghoff, Ende der »Gastarbeit«. Vgl. dazu direkt Pleinen, Migrationsregime Belgiens. Vgl. Conrad, Suche nach der verlorenen Nation. Vgl. Almond/Verba, Civic Culture; das fünfte Land in dieser Studie ist Italien. Vgl. Esping-Andersen, Three Worlds. Vgl. z. B. Newnham, Embassies; Eich-Born/Hassink, Battle between Shipbuilding ­Regions.

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der von Gesellschaften jenseits der usual suspects wie den USA, Großbritannien und Frankreich unterstellen. Daniel T. Rodgers hat einmal betont, wie zentral die Unterstellung von kinship  – was eher auf die Wahrnehmung geteilter historischer Rahmenbedingungen, Problemhorizonte und Zukunftsvorstellungen zielt als auf Verwandtschaft – als Voraussetzung dafür ist, dass Wissenschaftler und andere Akteure Gesellschaften miteinander vergleichen und in Beziehung setzen.24 Neben Tiefenschichten des Zivilisationsvergleichs und einer langen Vorgeschichte des Kontakts und Vergleichs in Westeuropa und mit den USA, die sich in kinship-Unterstellungen verdichten, bleibt die Reichweite der Vergleichsräume bei zeithistorischen Themen häufig modernisierungstheoretischen Annahmen verpflichtet. Das liegt nicht nur daran, dass die klassische Modernisierungstheorie in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit (und damit der Bundesrepublik) ihre größte Wirkung entfaltete.25 Zugleich ist der Modernisierungstheorie mehr noch als vielen anderen Machbarkeitsvorstellungen der Vergleich geradezu eingeschrieben – denn ansonsten ließen sich Vorreitertum und Hinterherhinken im Vergleich zu anderen Gesellschaften nicht so punktgenau benennen und mit einem politischen Handlungspostulat verbinden. In ihrer klassischen Form ist die Modernisierungstheorie längst obsolet. Über die Form, wie sie Vergleichsanordnungen konfiguriert, ist ihr Nachhall dagegen weiterhin spürbar. Es geht hier nicht darum, einzelne Beiträge des Bandes – oder diesen als Ganzes – zu kritisieren. Aufschlussreich ist vielmehr, dass die (deutsche) Geschichtswissenschaft weiterhin ein ziemlich enges Verständnis von kinship hat und dem geographisch deutlich breiter angelegten komparativen Ansatz der Sozialwissenschaften bislang kaum gefolgt ist. Das mag sich in Teilen auch aus anderen innerfachlichen Logiken erklären, etwa dem erst jüngst angewachsenen Interesse an globaler Geschichte oder dem relativen Rückgang strikt komparativer Zugänge zugunsten transnationaler Zugriffe im Vergleich zu den 1990er und frühen 2000er Jahren.26 Im Ergebnis ändert dies wenig: Die Geschichtswissenschaft ist in ihren Untersuchungsräumen in frappanter Weise auf die großen Staaten Westeuropas und die USA fixiert geblieben. Clio navigiert weitgehend auf lange etablierten Routen. Offensichtlich entfalten Verwestlichungsthese und Modernisierungstheorie subkutan weiterhin Wirkung. In diesem Sinne trägt die komparative Zeitgeschichtsforschung selbst heute noch zu einem bestimmten Verständnis von Normalität bei, das es doch eigentlich weiter kritisch zu hinterfragen gälte. Lediglich die prominente Stellung Italiens als Vergleichsraum weist im vorliegenden Band in eine andere Richtung. Diese Ausweitung der mental map, die 24 Rodgers, Atlantic Crossings, S. 3 f. 25 Vgl. zur Genese und Wirkung der Modernisierungstheorie, allerdings ohne besonderen Fokus auf Deutschland, etwa Gilman, Mandarins of the Future. 26 Vgl. dazu wiederum die Einleitung und jüngst etwa Kaelble, Historischer Vergleich.

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historiographische Ursprünge in komparativen Projekten zum 19. Jahrhundert und zur vergleichenden Faschismusanalyse haben dürfte, erweist sich als überaus hilfreich. Das Fehlen eines derartigen historiographischen Kontextes mag zu erklären helfen, warum demgegenüber etwa der Vergleich zwischen Spanien und Bundesrepublik bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden hat – wobei sich das durch ein laufendes Projekt von Till Kössler und Carlos Sanz glücklicherweise bald ändern soll.27 In Summe ergibt sich so: Es mag sein, dass für die Summe der in dem Band im Vordergrund stehenden Länder »eine besonders große Schnittmenge mit der Bundesrepublik« (wiederum die Einleitung) existiert. Fraglich ist jedoch, ob man die Potentiale des Vergleichs voll ausspielt, wenn man die Reichweite komparativen Arbeitens auf dem Niveau einfacher Mengenlehre stilllegt. Anders gesagt: den ersten Schritten des Bandes, den synchronen, internationalen Vergleich über die usual suspects hinauszuführen, sollten noch viele weitere folgen. Festzuhalten ist außerdem, dass keiner der vorgelegten Texte den systematischen diachronen Vergleich in den Vordergrund stellt. Der Nationalsozialismus taucht wiederholt als Referenzpunkt in zeitgenössischen Aussagen auf und wird in überzeugender Weise in Bezug auf Kontinuitäten und in seiner Bedeutung als kausaler Faktor abgeklopft, etwa in den Beiträgen von Christine Krüger zu weiblicher Freiwilligenarbeit und Petra Terhoeven zum Linksterrorismus. Kein Problemkomplex der deutschen Geschichte vor 1949 tritt jedoch als vollwertiger Komparand zur Bundesrepublik auf  – und nur dies soll hier als Vergleich gelten.28 Bedenkt man zum Beispiel die spannende Neubewertung der Weimarer Republik in der jüngeren Forschung, so ließen sich aus dem strikt diachronen innerdeutschen Vergleich durchaus Funken schlagen. Dasselbe gilt für das Kaiserreich, wo sich bei Problemen wie dem Umgang mit Migration und Minderheiten oder des globalen Auftretens durchaus interessante Vergleichsperspektiven mit der Bundesrepublik eröffnen ließen. Ganz allgemein zeichnen sich die Beiträge durch jene historische Horizontverkürzung aus, die für die Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland allgemein typisch ist.29 Zudem ließe sich das Unterschreiten von gesamtstaatlich formatierten Analysehorizonten noch weiter vorangetrieben. Christiane Reinecke, die in ihrer Untersuchung der Debatten über urbane Armut für diesen Zugang plädiert, ist ganz zuzustimmen, und auch in Claudia Christiane Gatzkas Studie zu lokalen Wahlkämpfen erweisen sich die Konkretisierungen für Bologna und Hamburg 27 Vgl. die Tagung Autoritarismus und Demokratie in Westeuropa. Die Bundesrepublik Deutschland und Spanien, 1945–1986, Universidad Complutense de Madrid, 10.–11. September 2015. 28 Reine Kontinuitätsfragen sind diesem Verständnis nach nicht solche des systematischen Vergleichs. Nähme man diese hinzu, öffnete man meines Erachtens einem inflationären Vergleichsbegriff Tür und Tor. 29 Vgl. als binationalen Vergleich einer längeren Periode unter Einbeziehung der Bundes­ republik Mauch/Patel, Wettlauf um die Moderne.

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als erhellend. In beiden Analysen werden die Ergebnisse allerdings stark auf die gesamtstaatliche Ebene zurückgebunden.30 Im konkreten Fall mögen sich die lokalen Befunde tatsächlich gut generalisieren lassen. Dennoch: Offensichtlich ist es noch ein gewisser Weg, bis Hamburg für Hamburg und Köln für Köln stehen können und nicht für die Bundesrepublik stehen müssen. Schließlich stellt sich über die Frage nach den räumlichen und zeitlichen Konfigurationen des Vergleichs hinaus die nach seinen Gegenständen. Auf die re­ lative Nachrangigkeit eng politikhistorischer Beiträge wurde bereits verwiesen. Weiterhin fällt auf, dass wirtschaftshistorische Themen im Band eher schwach vertreten sind. An kaum einem anderen Bereich kristallisierten sich bundes­ republikanische Erfolgsnarrative jedoch so sehr wie an diesem (sieht man einmal vom Umgang mit der NS -Vergangenheit ab: ex clade salus); kaum ein zweiter Bereich lud zur komparativen Gegenüberstellung durch die Messbarkeit von Faktoren wie Bruttoinlandsprodukt, Außenhandelsbilanz oder Arbeitslosigkeit so sehr ein wie die Wirtschaft; und in kaum einen anderen stieß eine isolierte Betrachtung durch die Verflechtung von Räumen so offensichtlich an Grenzen. Bedenkt man ferner, dass politisches Handeln in der Bundesrepublik stets in erster Linie wirtschaftsbezogenes und wirtschaftspolitisches Handeln war – die Kabinettsprotokolle geben dazu eindeutig Auskunft – könnte man auch hier eine gewisse Imbalance sehen. Kein Buch kann alles, und es ist ein wesentliches Verdienst der hier versammelten Beiträge, das Fenster zum systematischen Vergleich der Bundesrepublik weit aufgestoßen zu haben. Bisher scheinen wir jedoch noch im normalisierenden Käfig jener mental maps gefangen zu sein, die uns durch zeitgenössische Debatten und die bisherige Forschung vorgegeben werden. Und neben der Erweiterung der Vergleichszone in synchroner und diachroner Hinsicht tut sich ein weiteres Desiderat auf: die Notwendigkeit, jene mental maps eigens zu ana­ lysieren, aufgrund derer Zeitgenossen und die Forschung ihre Vergleichsdesigns angelegt haben. Um nur ein paar naheliegende Beispiele herauszugreifen: Wann eigentlich verstärkten sich im ökonomischen Bereich die Vergleiche zu Japan, das phasenweise als so wichtiger Konkurrent galt? Wie wandelte sich der Stellenwert von Vergleichen zu Italien oder der DDR im Verlauf der Zeit? Und welche gesellschaftlichen Gruppen setzten diese mit welchen Zielen ein? Und, darüber hinaus: Welche geographischen Referenzen prägten Zukunftsentwürfe und Reformvorstellungen in besonderem Maße? Spannend sind in den Texten Hinweise auf Orte wie Daressalam als Laboratorium für eine westlich geprägte, architektonische Moderne oder die enorme Bedeutung von Vietnam und Lateinamerika für linke Debatten der 1970er Jahre. Gerade wenn es um radikale Neuentwürfe der Gesellschaft ging, schweifte der westdeutsche Blick offensichtlich keineswegs immer nur nach Frankreich, Großbritannien oder in die USA, die für viele Betrachter in ihren Strukturproblemen oder im Posthistoire gefangen schienen. 30 Translokalität bezieht sich bei Reinecke im Wesentlichen auf den Handlungsraum der untersuchten Akteure, nicht auf den Untersuchungsraum.

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In unseren vergleichenden und transnational angelegten Analysen hat dieser­ globalere Blick – als zeitgenössische Operation und als wissenschaftliches Werkzeug – dennoch bislang zu wenig Beachtung gefunden.

III. Vergleich als Aktant Weiter durchdenken ließe sich zudem die Frage, was sich aus zwei Tendenzen ergibt, die sich in der Zeitgeschichte seit 1945 massiv verstärkt haben. Beide Phä­ nomene trugen wesentlich zum Aufstieg des Vergleichs zum Aktanten bei  – womit in Anlehnung an Bruno Latour gemeint ist, dass nicht nur Menschen, sondern auch Dinge (wie in diesem Fall der Vorgang des Vergleichs) in netzwerkförmigen Handlungszusammenhängen Akteurscharakter annehmen können.31 Viele der hier vorliegenden Beiträge geben zeitgenössischen Vergleichen und gesellschaftlichen Selbstdeutungen breiten Raum. Häufig ließen sich nicht nur die mental maps, sondern auch die weiteren Entstehungsbedingungen, Formen und Wirkungen des in ihnen aufgehobenen Wissens noch weiter reflektieren, um so der Rolle zeitgenössischer Vergleiche als Aktant gerecht zu werden. Zum einen sei auf ein in jüngerer Zeit relativ viel diskutiertes Phänomen verwiesen: dass vor allem durch den Aufstieg der Sozialwissenschaften seit dem späten 19. Jahrhundert ein für frühere Phasen unbekanntes Maß anspruchsvoller Vordeutungen bei einer zeitgleich explodierenden Materialfülle vorhanden ist.32 Dies gilt in besonderem Maße für die jüngere Zeitgeschichte, in der außerdem der Vergleich an Bedeutung gewann. Bereits für die 1950er Jahre lässt sich ein gewisser Druck feststellen, komparativ vorzugehen. Helmut Schelsky zum Beispiel widmete 1957 in Die skeptische Generation einen langen Absatz der Frage, warum er seine Analyse der westdeutschen Jugend nicht internationalvergleichend angelegt habe: »Dies hätte um so näher gelegen, als sehr viel, was über diese Jugendgeneration zu sagen sein wird, sich auf den Umstand bezieht, daß es sich um eine Jugend der industriellen Gesellschaft handelt und ähnliche Verhaltensformen und -wandlungen der Jugend durchaus auch in anderen entwickelten Industriegesellschaften zu beobachten sind«.33 Aber nicht nur den aufstrebenden Sozialwissenschaften war ein explizit oder zumindest implizit komparatives Anliegen häufig eingeschrieben, unabhängig davon, ob sie nun modernisierungstheoretisch oder anders ausgerichtet waren. Dasselbe gilt ebenso für viele andere zeitgenössische Akteure. Die Beiträge des Bandes verdeutlichen darüber hinaus, dass Grauzonen, Synergien und Grenz31 Vgl. Latour, Soziologie; wobei meines Erachtens menschengemachte Bedeutungszuschreibungen letztlich entscheidend sind; insofern würde ich Autonomie und Akteursgehalt­ solcher Aktanten nicht zu hoch ansetzen. 32 Vgl. Pleinen/Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften; Graf/­ Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften; Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. 33 Schelsky, Die skeptische Generation, S. 9; Kursivierung im Original.

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bereiche zwischen Aktivisten und akademisch ausgewiesenen Experten häufig groß waren: Silja Behres Arbeit zu den 1968ern zeigt das ebenso wie etwa Christiane Reineckes Studie zu den »Vierte Welt«-Aktivisten. Die Grenzen zwischen verschiedenen zeitgenössischen Formen der Selbstbeschreibung waren demnach häufig durchlässig, was noch einmal die ungemein politische Rolle des Vergleichs unterstreicht. Vergleiche kamen häufig Mobilisierungspostulaten gleich; wer behauptete, dass man in einer Sache einer anderen Gesellschaft hinterherhinke, schob zumeist einen Vorschlag hinterher, wer diesem Problem in welcher Form Abhilfe verschaffen solle. Neben dem hohen Grad komparativer Selbstbeobachtung in den jeweiligen Gesellschaften gab es noch einen zweiten, damit eng verwandten Faktor, der zum Aufstieg des Vergleichs zum Aktanten beitrug: der eindrucksvolle Bedeutungsgewinn internationaler Organisationen. Ihre Zahl und die Intensität ihrer Bindungen nahmen seit Mitte der 1940er Jahre enorm zu, besonders in Westeuropa.34 Im Rahmen der Westbindung war für die Bundesrepublik nach dem doppelten Paria-Status nach 1918 und 1945 die Einbindung in die Welt internationaler Organisationen ein bedeutsames Ziel. Die Zugehörigkeit zu einer möglichst großen Zahl solcher Organisationen galt als Kriterium des Erfolges der westdeutschen Nachkriegsdemokratie, nicht nur im Vergleich zur deutschen Vergangenheit, sondern auch zur DDR . Wichtiger noch: Es ist eine wesentliche Aufgabe internationaler Organisationen, Gesellschaften in Bezug auf gemeinsame Vergleichsmaßstäbe hin lesbar zu machen. Diese Tendenz setzte nicht erst nach 1945 ein, verstärkte sich seitdem jedoch spürbar. Eine Vielzahl von Organisationen – unter anderem die ILO, aber auch die OECD, der Europarat oder die EU inklusive ihrer Vorgänger – haben sich die komparative Erhebung statistischen Materials (z. B. in Bezug auf das Bruttosozialprodukt, auf Produktions- und Verbrauchszahlen35) nach möglichst identischen Kriterien und das Sammeln und Ordnen vieler weiterer Informationen zur Aufgabe gemacht. Im Extremfall der Supranationalität findet darüber hinaus eine gewisse Synchronisierung von Entscheidungszyklen statt, denen gemeinsame Kriterien (im Rahmen der EU etwa die Maastrichter Konvergenzkriterien) zugrunde liegen und die wiederum Effekte zeitigen, die komparativ messbar sind oder zumindest sein sollen. Internationale Organisationen – und für manche Fragen die Strategieabteilungen multinationaler Konzerne und internationale Nicht-Regierungsorganisationen  – sind deswegen Laboratorien des Vergleichbarmachens und Vergleichens von Gesellschaften. Sie bilden nicht nur die Basis für sozialwissenschaftliche Studien, sondern haben oft auch direkten Einfluss auf das Handeln in Gesellschaften wie der Bundesrepublik. Mehrere Beiträge verweisen auf die Rolle derartiger Organisationen, wenngleich in unterschiedlicher Art. Lutz Raphael basiert seinen Vergleich der Indus34 Vgl. MacKenzie, World Beyond Borders; Iriye, Global Community. 35 Vgl. Speich Chassé, Erfindung des Bruttosozialprodukts; zu Produktionszahlen am Beispiel der europäischen Landwirtschaft Patel, Europäisierung wider Willen, S. 221–227.

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triearbeit nach dem Boom zum Beispiel auf Material der ILO. Ohne dieses hätte sich seine Analyse gar nicht durchführen lassen. Andere – z. B. die Texte von Rüdiger Graf zur Energie- und Souveränitätspolitik in den 1970er Jahren, oder etwa Jan Eckel und Jenny Pleinen – betonen die Koordinationsbemühungen im Rahmen internationaler Organisationen. Selbstverständlich handelten diese Institutionen nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum: So verdeutlicht Christiane Reinecke, dass die Armutsdefinition von Unesco und Europäischer Gemeinschaft phasenweise jener entsprach, welche die humanitäre Organisation Aide à toute détresse entworfen hatte. Für einen wissenshistorischen Zugriff auf den Vergleich sind somit die Statistiken und die ihnen zugrunde liegenden Kriterien, mit denen internationale Organisationen arbeiten und mit denen sie Problemwahrnehmungen als solche oft erst erzeugten, von hoher Bedeutung. Um diese Dimension, die sich in Zukunft tiefer ausloten ließe, kurz an einigen weiteren Beispielen aus der Geschichte der Bundesrepublik zu illustrieren: Den »Pisa-Schock« der ersten Jahre der vergangenen Dekade kann man ohne die entsprechenden vergleichenden Forschungsergebnisse der OECD zu Schul­ leistungen in verschiedenen Staaten nicht verstehen. 2009 löste die Veränderung der Basis der deutschen Arbeitslosenstatistik öffentliche Empörung aus, da man der Bundesregierung vorwarf, das Bild zu schönen. Umgekehrt erklärte die Bundesagentur für Arbeit damals, dass die ILO -Statistik eine »eher ökonomische Sichtweise« auf das Arbeitslosenproblem zugrunde lege, während das deutsche System »stärker eine sozialpolitische Perspektive« einnehme.36 Der Vergleich – und die verschiedenen Möglichkeiten zu vergleichen – waren somit in den Konflikt eingeschrieben. Weiter zurückliegende Fälle ließen sich ebenfalls anführen: Die Römischen Verträge von 1957 legten fest, dass die Mitgliedsstaaten der zu schaffenden EWG eine Konferenz abhalten sollten, »um einen Vergleich ihrer Agrarpolitik, ins­besondere durch Gegenüberstellung ihrer Produktionsmöglichkeiten und ihres Bedarfs, vorzunehmen« und auf dieser Basis zu einer gemeinsamen Politik zu gelangen. Die Konferenz von Stresa vom Juli 1958 bildete dann tatsächlich einen Meilenstein auf dem Weg zur Gemeinsamen Agrarpolitik der EWG als einem ihrer wichtigsten Projekte.37 Auch spätere Vorhaben, etwa das multilaterale Interventionssystem zwischen europäischen Währungen in den 1970er Jahren, basierten auf tiefgreifendem statistischem Wissen mit vergleichender Dimension. Das »Diktat des Komparativs« (Ulrich Bröckling), auf das einer der Texte verweist, prägte somit das Werk von internationalen Organisationen und anderen internationalen Akteuren zutiefst; umgekehrt trugen solche Prozesse wesentlich dazu bei, dem Vergleich eine Rolle als Aktant zu eröffnen. 36 Bundesagentur für Arbeit, Methodenbericht: Umfassende Arbeitsmarktstatistik: Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, S. 18. Die ILO führt auf Stichprobenbasis eine internationale Arbeitslosenstatistik, während die nationalen Arbeitslosenstatistiken weiterhin unterschiedlich geführt werden. 37 Artikel 43 EWG -Vertrag; vgl. von der Groeben u. a., Kommentar zum EWG -Vertrag, Bd. 1, S. 122; vgl. dazu Patel, Europäisierung wider Willen, S. 101.

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Zugleich wäre es falsch, als Wirkung internationaler Organisationen durchgängig von einer Annäherung oder Konvergenz zwischen Gesellschaften aus­ zugehen – das betont zu Recht bereits die Einleitung. Allerdings kam es häufig zu einer deutlichen Intensivierung wechselseitiger Beobachtung, die zu vertiefter Verflechtung ebenso führen konnte wie dazu, dass sich auf dieser spezifischen Grundlage binnengesellschaftliche Dynamiken entfachten oder verstärkten. Dabei mögen sich die konkreten Prozesse und Ergebnisse unterschieden haben; ein Auseinanderentwickeln und eine Wahrnehmung von Differenz konnten daraus ebenso resultieren wie ein relatives Abschleifen von Unterschieden. Fest steht allerdings, dass sich die Formen, Gründe und Kausalitäten derartiger Prozesse häufig nicht über einen rein binnengesellschaftlichen (oder in anderer Art monadischen) Zugriff erklären lassen, sondern um Vergleich und Transferanalyse ergänzt werden müssen. Das dialektische Wechselverhältnis aus transnationaler Verflechtung und Nostrifizierungsbemühungen, Westernisierungsanstrengungen und distinkten gesellschaftlichen Entwicklungen arbeitet übrigens Christina von Hodenbergs Dreiländervergleich von TV-Unterhaltungsserien besonders klar heraus. Im Umkehrschluss verdienen auch jene komparativen Konstellationen Be­ achtung, in denen zeitgenössische Vergleiche unterblieben oder hochgradig asymmetrisch verliefen; wenn – wie schon oben in Bezug auf mental maps angedeutet – der Vergleich zeitgenössisch nicht zum Aktanten wurde, wiewohl ihn die geschichtswissenschaftliche Forschung heute für fruchtbar hält. So kann etwa Claudia Christiane Gatzka auf vergleichsweise wenig zeitgenössische Vorbahnungen zurückgreifen; hinsichtlich mancher Teilaspekte gilt das ebenfalls für Martin Kohlrauschs Kapitel. Wie schon der Hinweis auf die Grenzen von mental maps laden solche Befunde zur Analyse der Bedingungen und strategischen Orientierungen ein, die zeitgenössische Vergleiche hervorbringen oder verhindern – wiederum dürfte sich die Unterstellung von kinship als wichtiger Marker erweisen. Besonderen heuristischen Wert haben schließlich jene zeitgenössischen Interpretationen und Vergleiche, die aus heutiger Sicht als überholt gelten. Denn wenngleich es richtig ist, dass erstaunlich viele historiographische Deutungen eng an zeitgenössische Thesen angelehnt sind, gibt es auch eine lange Reihe ehemals viel diskutierter Deutungen, die heute als Schnee von gestern gelten. Jürgen Habermas’ Aussagen zum Spätkapitalismus gehören genauso dazu wie jene Unterstellung von Stabilität des ostdeutschen Regimes, die sich in einer Artikelserie in der »Zeit« 1986 äußerte.38 Ein weiteres Beispiel, in dem der Vergleich eine noch klarere Rolle spielt, ist der weitgehende Konsens der sozialwissenschaftlichen Crème de la Crème bei einem Treffen des Bergedorfer Gesprächskreises 1978 zum Thema Terrorismus, laut dem die USA mit solchen Bedrohungen aus historischen Gründen gelassener umgingen als Westdeutsch38 Vgl. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus.

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land.39 Im Lichte von 9/11 erscheinen solche zeitgenössischen Deutungssplitter abwegig. Auf den zweiten Blick werfen sie jedoch die Frage nach den Konjunkturen eines komparativen Deutungsmusters auf. Wann und wieso verlor dieses eigentlich an Plausibilität – und was waren die Bedingungen für seinen relativen Erfolg? Diesen Fragen nachzugehen kann auch dabei helfen, scheinbar überzeugende komparative Thesenläufe und ihre sozialen Wirkungsmechanismen mit mehr kritischer Distanz zu begegnen.

IV. Reifizierung und Auflösung der Untersuchungseinheiten Weiterhin gibt der Band wichtige Einblicke in den methodischen Stand der Debatte über den Vergleich und andere Zugriffe jenseits einer nationalzentrierten Geschichtswissenschaft. Bildete in den 1990er und frühen 2000er Jahren der symmetrische Zweiervergleich den häufigsten Zugriff jener Studien, die explizit und systematisch komparativ vorgingen, so nimmt knapp die Hälfte der hier vorliegenden Beiträge den noch viel anspruchsvolleren Mehrfachvergleich vor (wobei leider nicht alle Texte die Kriterien diskutieren, die ihre Fallauswahl steuern). Leisten lässt sich dies allerdings nur, weil fast alle der vorliegenden Interpretationen auf umfangreichen, monographischen Vorarbeiten aufbauen, deren Früchte hier geerntet werden. Auch der Antagonismus zwischen Vergleich und Transferanalyse, der die Debatten der Jahrhundertwende prägte, scheint auf den ersten Blick aufgehoben: Prägend ist vielmehr die Kombination von Vergleich, Transfer- und Verflechtungsanalyse; lediglich die Mischverhältnisse sind unterschiedlich gelagert. Auf anderen Ebenen überwiegen die Unterschiede: In ihrer Form handelt es sich bei manchen Buchkapiteln streckenweise eher um Überblicke, Prolegomena oder Projektskizzen als um deren empirische Einlösung. Auch Zugriffe und Schreibstile könnten unterschiedlicher kaum sein: Im Band ist alles zu finden von der quantifizierenden Strukturgeschichte, die in ihrer analytisch präzisen, schmucklosen Narrativitätsentsagung an jene 1970er Jahre erinnert, die sie unter anderem behandelt, bis hin zu kulturgeschichtlich ausgerichteten Texten, die Sinnzuschreibungen und Repräsentationen einen hohen Stellenwert beimessen und die Akteure ausführlich zu Wort kommen lassen. Will man es positiv wenden, dann spiegeln sich im etwas Provisorischen und Unfertigen des Bandes einige der Grundmerkmale jener Bundesrepublik wider, die es hier zu analysieren gilt. Auf methodischer Ebene zeichnet sich zugleich eine bedeutsame, in dieser Form neue Frontlage ab. Auf der einen Seite steht das Gros der Beiträge, die von territorialisierten Vergleichseinheiten ausgehen und von der Prämisse starten, dass die Bundesrepublik und die anderen zu untersuchenden Gesellschaften für die jeweils verfolgte Fragestellung in hinreichender Weise einen Problemzusam39 Vgl. Bergedorfer Gesprächskreis, Terrorismus in der demokratischen Gesellschaft.

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menhang konstituieren, als dass diese Grundlage des Vergleichs bilden können. Beispiele hierfür wären das Kapitel von Nicole Kramer zu Schutzrechten alter Menschen in Heimen oder Christine Krügers Beitrag. Im Sinne des oben eingeführten Begriffs liegt den Texten eine post-ontologische Prämisse zu Grunde: Die Bundesrepublik fungiert in den Texten als territorialisierter Untersuchungsraum, der Prozesse und das Handeln der Akteure in wesentlicher Weise rahmt und prägt. Auf der anderen Seite stehen mehrere Beiträge, die das territoriale Prinzip tendenziell in Frage stellen und die Geschichte der Bundesrepublik als Teil europäischer, westlicher, oder gar globaler Problemlagen und Antwortstrategien verstehen. Petra Terhoevens Text, der einen empirischen Anker im deutsch-italienischen Vergleich hat, geht einen wichtigen Schritt in diese Richtung; Ansätze dazu finden sich etwa auch bei Malte Thießen. Rüdiger Graf beschreitet diesen Weg am weitesten und kündigt so tendenziell den post-ontologischen Konsens als Grundlage des Vergleichs auf. Sein erkenntnisleitende Interesse richtet sich nicht primär auf die Bundesrepublik (oder eine andere Gesellschaft); territorialisierte Untersuchungseinheiten sollen vielmehr zu erklären helfen, warum es in der Energie- und Souveränitätspolitik in Westeuropa und den USA in den 1970er Jahren zu so ähnlichen Antworten auf die Herausforderungen der Zeit kam und wie es um die internationale Koordination der Antwortstrategien der betroffenen Gesellschaften bestellt war. Vom explanandum wird die Bundesrepublik so tendenziell zu einem Teil des explanans. Bei der Tagung, auf die der vorliegende Band zurückgeht, kam es zu einer lebhaften Debatte, »worum es hier eigentlich geht« – ob im Zentrum aller Beiträge die Bundesrepublik zu stehen habe oder nicht. Die damals unaufgelöste Diskussion, die eine gewisse generationelle Dimension hatte (einige der älteren Fachvertreter schienen stärker auf die Zentralstellung zu pochen), könnte man leicht als sinnlos abtun, da die Antwort so offensichtlich ist: Relevanzzuschreibung und Fokus hängen schlicht und ergreifend vom erkenntnisleitenden Interesse ab. Auch die Frage nach der Kohärenz des Bandes erklärt kaum die Intensität, mit der die Debatte geführt wurde. Prägend war vielmehr ein spezifisches Spannungsverhältnis: Auf der einen Seite zeigt sich hier die Persistenz eines Primatpostulats von Zugriffen, die Territorialität in den Mittelpunkt stellen und den Anschluss an nationalhistorisch formatierte Narrative suchen – so sehr sich dies für die alte Bundesrepublik als brüchig erweist. Auf der anderen Seite verdichtet sich darin eine Haltung, welche die unterstellte Relevanz territorial (und politisch) definierter Untersuchungseinheiten zumindest für gewisse Gegenstände und Forschungsfragen herausfordert. Graf schreibt, dass der systematische Vergleich für sein Thema zu eher trivialen Befunden führe. Wichtiger noch: Er ergänzt, dass durch die Tiefe der Einbindung »der Bundesrepublik in trans- und internationale Strukturen … ihre genaue Lagebestimmung immer schwieriger wird.« Künftig wird sich die Forschung mit dem Problem einer solchen Auflösung scheinbar fixer Untersuchungsräume aufgrund tiefgreifender Verflechtungen – mit allen Implikationen für den Vergleich – stärker beschäftigen müssen.

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In einem längst klassischen Aufsatz hat Charles S. Maier 2000 die These vertreten, dass territorial definierte politische, soziale und ökonomische Ordnungen seit den 1970er Jahren deutlich an Bedeutung verloren hätten.40 Er selbst hat diese Position mittlerweile teilweise revidiert, und über die Zeitgeschichtsschreibung hinaus scheint die Hochzeit derjenigen, die traditionelle Staatlichkeit und die bindende Kraft von Territorialität zugunsten von Transnationalisierung und Globalisierung im Niedergang sehen, ihrerseits schon wieder vorüber zu sein. Das letzte Wort ist in der Debatte jedoch nicht gesprochen. Vielmehr wird sich künftig die Frage stellen, für welche Problemzusammenhänge durch Prozesse der Globalisierung, der inter- und transnationalen Verflechtung und Hybri­ disierung der »national«-zentrierte Vergleich tatsächlich an seine Grenzen stößt. Das mag einfach forschungspraktisch daran liegen, dass angesichts sozialwissenschaftlicher Vorarbeiten keine neuen Erkenntnisse auf komparativer Ebene zu erwarten sind. Oder aber, weil sich ein territorial definierter Untersuchungsraum auf politischer, ökonomischer, sozialer oder kultureller Ebene als so brüchig erweist, dass er sich analytisch nicht scharfstellen lässt.41 Während eingangs diese Problematik für die junge Bundesrepublik aufgrund ihres Charakters als Provisorium beschrieben wurde, lässt sich ein ähnliches Problem für die Zeit seit den 1970er Jahren (so zumindest die Tendenz der bisherigen Forschung) primär aufgrund von Prozessen der Europäisierung und Globalisierung identifizieren, die noch weit weniger spezifisch für die deutsche Geschichte sind. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren eine gewisse Wendung nach innen vollzog und unter anderem die stärkere Herausbildung einer spezifisch westdeutschen Identität erlebte, muss in diesem Kontext kein Widerspruch sein: Transnationalisierung und Globalisierung einerseits und monadenhafte Abschlusstendenzen, Regulierungsanstrengungen oder Nationalisierungsversuche andererseits bedingen sich oft gegenseitig.42 Auf methodischer Ebene impliziert diese Debatte außerdem, dass man künftig wieder stärker zwischen dem Vergleich als einen Verfahren, verschiedene Gesellschaften auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu prüfen, oder aber einer primär transnationalen Perspektive wählen muss. Wenngleich es richtig ist, dass sich die beiden Zugriffe kombinieren lassen, fußen die jeweiligen Zugriffe auf einem tendenziell divergierenden Verständnis ihrer Untersuchungsräume und führen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Vor diesem Hintergrund lässt sich das Interesse an der Bundesrepublik im Vergleich ihrerseits historisieren. Und vielleicht wundert es angesichts dessen auch nicht, dass es momen40 Vgl. Maier, Consigning. 41 In diesem Zusammenhang ist Ludolf Herbsts Unterscheidung zwischen phänomenologischen und funktionalen Vergleichen hilfreich: auf rein phänomenologischer Ebene wird der Vergleich der Bundesrepublik mit anderen Gesellschaften sicherlich stets möglich sein; fraglich ist jedoch, ob sich darin die entscheidenden kausalen Zusammenhänge abbilden; vgl. Herbst, Komplexität und Chaos, S. 84–88. 42 Vgl. dazu klassisch etwa Appadurai, Disjuncture and Difference.

Ex comparatione lux: Fazit

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tan eine mindestens ebenso große Zahl von Projekten gibt, die die Geschichte der Bundesrepublik in transnationale Perspektive setzen, wie solche, die primär vergleichen.43 Zusammengefasst: Ex comparatione lux? Ganz sicherlich ja; das zeigt der vorliegende Band eindrucksvoll. Die klaren Deutungshorizonte und Ver­ gleichspunkte, die Modernisierungstheorie, Liberalisierungsnarrativ und ähnliche Interpretationsmuster lange Zeit vorgaben, sind zunehmend in die Kritik geraten und wirken dennoch nach. Die von ihnen hinterlassene Leerstelle ist dagegen kaum gefüllt. Für welche Fragen das Licht des Vergleichs künftig besonders hell scheinen wird und welcher Stellenwert dem Vergleich genau eingeräumt werden wird, das ist deshalb weniger absehbar.

43 Vgl. etwa Gallus u. a., Deutsche Zeitgeschichte – transnational; Slobodian, Foreign Front; Smith, Oxford Handbook of Modern German History; sowohl z. B. die ebenso transnational wie komparativ angelegten Studien von Büschel, Hilfe zur Selbsthilfe, und Schaefer, States of Division; oder als Zugriff, der eine Vielzahl von Internationalisierungsprozessen am Beispiel einer Region Deutschlands untersucht, Schemmer, Internationalisierung im ländlichen Raum Bayerns; vgl. ferner die zahlreichen monographischen Studien mit westeuropäisch-nordatlantischem Fokus.

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