Gesammelte Werke. Band 4 Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls: Osloer Vorlesungen (1967) [Reprint 2012 ed.] 9783110916423, 9783484641044

Roman Ingardens unprätentiöse, analytisch orientierte Phänomenologie wurde vor 1945 relativ wenig beachtet. Heute jedoch

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Gesammelte Werke. Band 4 Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls: Osloer Vorlesungen (1967) [Reprint 2012 ed.]
 9783110916423, 9783484641044

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Inhaltsübersicht zu den Vorlesungen
Vorlesungen I – X
Vorlesung 1
Vorlesung 2
Vorlesung 3
Vorlesung 4
Vorlesung 5
Vorlesung 6
Vorlesung 7
Vorlesung 8
Vorlesung 9
Vorlesung 10
Anhang
1. Zur Textgeschichte
2. Editorische Richtlinien
3. Literatur- und Abkürzungsverzeichnis
Personenverzeichnis

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ROMAN INGARDEN Gesammelte Werke

ROMAN INGARDEN Gesammelte Werke

Herausgegeben von Rolf Fieguth und Guido Küng

Band 4

Max Niemeyer Verlag Tübingen

ROMAN INGARDEN Gesammelte Werke

Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls Osloer Vorlesungen 1967 Herausgegeben von Gregor Haefliger

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1992

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ingarden, Roman: Gesammelte Werke / Roman Ingarden. Hrsg. von Rolf Fieguth und Guido Küng. -Tübingen : Niemeyer. NE: Fieguth, Rolf [Hrsg.]; Ingarden, Roman: [Sammlung] Bd. 4. Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls : Osloer Vorlesungen 1967 / hrsg. von Gregor Haefliger. - 1992 NE: Häfliger, Gregor [Hrsg.] ISBN 3-484-64104-5 © Max Niemeyer Verlag GmbH Et Co. KG, Tübingen 1992 Das Werk außerhalb unzulässig filmungen Germany.

einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverund die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in

Druck: Weihert-Druck, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Roman Ingarden, Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls - "Osloer"-Vorlesungen (1967) Vorwort Einleitung Inhaltsübersicht zu den Vorlesungen

VII IX XXIX

Vorlesungen I - X Vorlesung 1

1

Vorlesung 2

33

Vorlesung 3

69

Vorlesung 4

99

Vorlesung 5

131

Vorlesung 6

161

Vorlesung 7

187

Vorlesung 8

211

Vorlesung 9

241

Vorlesung 10

269

Anhang:

295

1. Zur Textgeschichte

297

2. Editorische Richtlinien

299

3. Literatur- und Abkürzungsverzeichnis

301

Personenverzeichnis

307

Vorwort Mit der vorliegenden Edition von Ingardens "Osloer"-Vorlesung (1967): Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls liegt erstmals eine deutschsprachige Gesamtedition1 dieses für Ingardens Husserl-Interpretation und -Kritik wichtigen Dokumentes vor. 2 Über die bei der editorischen Bearbeitung zugrundegelegten Richtlinien informiert der Anhang. Ebenda findet sich auch ein Literatur- und Abkürzungsverzeichnis, nach welchem die bibliographischen Nachweise in der Einleitung wie auch in den Anmerkungen zu den Vorlesungen gegeben werden. An dieser Stelle möchte der Herausgeber speziell Herrn Paul Taranczewski (Krakau) dafür danken, daß er uns seine Bearbeitung der "Osloer"Vorlesungen überlassen hat 3 und auch beim Beschaffen des Originalmanuskriptes behilflich war. Für zahlreiche Unterstützung dankt der Herausgeber außerdem : Prof. R. Fieguth (Fribourg), lie. phil. L. Gasser (Fribourg), Dr. I. Kern (Bern), Prof. G. Küng (Fribourg), Prof. K. Schuhmann (Utrecht), lie. iur. B. Twardowski (Krakau) sowie dem Husserl-Archiv in Louvain (Prof. S. Ijsselling und S. Spileers). Ein besonderer Dank geht an Frau N. Furter (Fribourg) für ihre Mitarbeit beim Erstellen des Manuskriptes. Schliesslich danken wir sehr herzlich dem Hochschulrat der Universität Freiburg (Schweiz), der mit einer grosszügig gewährten Druckkostenbeihilfe das Erscheinen dieses Buches ermöglicht hat.

Zur Textgeschichte vgl. die Ausführungen im Anhang. Zum Stellenwert der "Osloer"-Vorlesung als Dokument für Ingardens Auseinandersetzung mit Husserl vgl. die Einleitung des Herausgebers. Vgl. dazu den Anhang ("Zur Textgeschichte").

Einleitung

§ ι Im Herbst 1966 hat Ingarden auf Einladung der Universitäten von Oslo und Bergen (Norwegen) Vorträge zum allgemeinen Thema "Die Erkenntnis des literarischen Kunstwerks" gehalten. 1 Ein Jahr später wurde er erneut eingeladen, um in Oslo über Husserls Phänomenologie zu lesen. So hat Ingarden die "Osloer"-Vorlesungen, die eine "Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls" geben sollen, in der Zeit vom 15. September bis zum 17. November 1967 an der Universität Oslo, in deutscher Sprache gehalten. Ingarden hat ohne ein ausformuliertes Manuskript gesprochen. 2 Sein ursprüngliches Vorlesungs-Konzept läßt sich wie folgt rekonstruieren: I

Zur Geschichte der

Phänomenologie

1. Die verschiedenen Phasen der phänomenologischen Bewegung 2. Entwicklung und Wirkung der Husserlschen Phänomenologie 3. Der historische Hintergrund für die Entstehung der Husserlschen Phänomenologie II Einige Grundzüge der Husserlschen 4. Drei

Prinzipien

der

Phänomenologie

Husserlschen

Phänomenologie

und

ihre

methodologischen Konsequenzen 5. Husserls phänomenologische Theorie der Wahrnehmung und das Problem der Transzendenz 6. Das Problem des Wesens und der Wesenserkenntnis III Husserls transzendentaler

Idealismus

7. Die transzendental-phänomenologische Reduktion 8. Die transzendental-idealistische Position der Ideen I In der Durchführung benötigte Ingarden nur schon für den einführenden, im engeren Sinne historischen Teil seines Programmes satte zwei Vorlesungen. Besonders viel Raum aber widmete er den Punkten 4 und 5. Ingarden zeigt

Vgl. A. Aarnes, "Roman Ingarden en Norvège", Revue 72/3(1967), 332-343. Vgl. unten im Anhang: I. Zur Textgeschichte.

de Métaphysique

et de

Morale,

χ

hier die grundlegenden Unterschiede zwischen einer phänomenologisch und einer empirisch-positivistisch orientierten Philosophie auf und entwickelt außerdem am Beispiel der Wahrnehmungstheorie sehr ausführlich das phänomenologische

Programm

einer

sogenannten

konstitutiven

Bewußt-

seinsanalyse, wobei er seinen Zuhörern das Ganze anhand zahlreicher Kurzanalysen ad oculos vorführt. Auch legt er im Zusammenhang von Husserls Analyse der Wahrnehmung besonderes Gewicht auf das Problem der Transzendenz und unterscheidet in systematischer Absicht verschiedene Begriffe der Transzendenz - als Vorbereitung für die kritische Interpretation von Husserls Argumenten für die idealistische These der Ideen /.3 So benötigte Ingarden für die ersten fünf Punkte seines ursprünglichen Planes volle sechs Vorlesungen (seitenmäßig etwa 2/3 des Gesamttextes der "Osloer"-Vorlesungen). Und dem 6. Punkt, den Problemen des Wesens und der Wesenserkenntnis, hätte er wiederum "eine, vielleicht auch zwei Vorlesungen" widmen müssen. 4 Aus Zeitgründen kommt es deswegen zu einer Änderung des ursprünglichen Planes: Ingarden läßt Punkt 6 zugunsten der ausführlichen Erörterung von Punkt 7 fallen. Allerdings greift er das Problem des Wesens und der Wesenserkenntnis in einem größeren Exkurs zur "eidetischen Reduktion" in der siebten Vorlesung noch einmal auf. Die Hauptteile der Vorlesungen sechs bis neun jedoch widmet Ingarden der "transzendental-phänomenologischen Reduktion". Und Husserls idealistische Hauptthesen der Ideen I werden (nur relativ kurz) in der neunten und in der zehnten Vorlesung behandelt. So kommt es insgesamt zu den Ausfüh^

Vgl.:"Sie alle [sc. diese verschiedenen Begriffe der Transzendenz] sind für mich sehr wichtig, weil ich sie später bei der Darstellung der Wege, die Husserl zum Idealismus geführt haben, verwenden werde."(Vorlesung V,138); "Mit Blick auf dieses Problem [sc. das Problem des transzendentalen Idealismus bei Husserl] mache ich hier dauernd gewisse Vorbereitungen."(Vorlesung VI, 164).

4

Vgl.:"Ursprünglich hatte ich die Absicht, diesem Thema, besonders dem Thema der formalen und materialen Wesenserkenntnis oder - wenn Sie wollen - der 'apriorischen' Erkenntnis, eine, vielleicht auch zwei Vorlesungen zu widmen. Aus Zeitgründen muß ich aber darauf verzichten. Denn das ganze 'Wesensproblem' ist eine komplizierte Angelegenheit. Ich hätte es in zwei Schichten darstellen müssen. Einerseits so, wie die Sache von Husserl behandelt wird; zweitens aber hätte ich, weil an Husserls Positioft sehr vieles unbefriedigend ist, selber noch einiges hinzuarbeiten müssen, um zu sehen, was man machen muß, damit die ganze Sache klar und unangreifbar ist - wenigstens in gewissem Sinne und in gewissen Grenzen." (Vorlesung VI, 163).

XI rungen, wie sie im Inhalts-Verzeichnis zu den faktisch vorliegenden 10 "Osloer"-Vorlesungen angezeigt sind. §2 Ingarden hat einen großen Teil seiner "Osloer"-Vorlesung als

textanalytische

Vorlesung zu Husserls Ideen l durchgeführt. So geht er ab der dritten Vorlesung in der Hauptsache geradezu vom Text der Ideen I aus: Neben dem "Prinzip aller Prinzipien" und einigen dem Verhältnis von "Wesen" und "Tatsache" bzw. der Wesenserkenntnis gewidmeten Stellen aus dem 1. Abschnitt

bespricht

Ingarden

insbesondere

natürlich

den

2.

Abschnitt

("Phänomenologische Fundamentalbetrachtung"), aber auch den 4. Abschnitt ("Vernunft und Realität") der Ideen /. Die Konzentration auf dieses Werk Husserls zeigt sich auch daran, daß Ingarden bisweilen sogar die literarische Komposition der Ideen I in seine Überlegungen miteinbezieht. 5 Wir können mithin davon ausgehen, daß die "Osloer"-Vorlesungen ein in sich relativ geschlossenes Spät-Dokument

für Ingardens

Lektüre von

Husserls

Ideen I darstellen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang eine Stelle, die Ingardens besondere Wertschätzung dieses Husserlschen Werkes zum Ausdruck bringt: Gerade deswegen [sc. wegen Ingardens Skepsis gegenüber Husserls idealistischen Thesen] möchte ich betonen, daß ich diesem Buche viel verdanke; ich habe aus ihm sehr viel gelernt. Erstens sind die Ideen I vielleicht das best geschriebene Werk Husserls. Und zweitens liegt die Bedeutung der Ideen I nicht so sehr in der Entwicklung des Idealismus, in der ganzen Sache der phänomenologischen Reduktion usw., sondern gerade in etwas ganz anderem. In diesem Werk nämlich liegt meines Wissens die erste, wirklich systematische Durchführung einer Analyse des Bewußtseins in seinen verschiedenen Abwandlungen, verschiedenen Kombinationen und von verschiedenen Gesichtspunkten aus vorß

Auch an späteren Stellen relativiert Ingarden die vorrangige Bedeutung des besonderen Gesichtspunktes, unter dem er in den "Osloer"-Vorlesungen die Ideen I untersucht. Dabei wird das, worauf sich Ingardens hohe Wertschätzung konkret bezieht, deutlicher, wenn er nach der Besprechung der

Speziell bezüglich der R e i h e n f o l g e von K a p . I I / 2 und 11/3. 6

Vorlesung X , 2 6 9 (m.H.).

XII sogenannten konstitutiven Probleme im Sinne Husserls, wie sie im 4. Abschnitt der Ideen / ("Vernunft und Realität") entworfen werden, feststellt: Daß Husserl uns diese Perspektive in seinen vielen Arbeiten enthüllt hat, und zwar in dieser Konkretion, in Einzelarbeiten, Einzelanalysen, die man sonst bei anderen Forschern gar nicht findet, daß er das in ganz kleinen Analysen von ganz begrenzten Situationen bzw. Phänomenen getan hat, an denen man dann mehrere W o c h e n arbeitet, um die zunächst verborgenen Phänomene und Funktionen herauszustellen - das ist eben das, was ich als Husserls größtes

Verdienst

einschätze. E r hat uns sozusagen gelehrt, die Sachen selber weiterzumachen und uns selbst zu korrigieren und zu verbessern und sich auch verbessern zu lassen um die großen Probleme, die da vorliegen, anzugreifen und sie konkret zu gestalten und mindestens ihre Lösung vorzubereiten. 7

Das ist von seiten Ingardens eine unbestreitbar positive Stellungnahme zu einer Sache, die - wie die neuere Husserlforschung mittlerweile klar gezeigt hat - für Husserl die Hauptsache war: die von der Phänomenologie eidetisch zu behandelnde konstitutive Problematik. Daß Ingarden in den späten "Osloer"-Vorlesungen dieses Husserlsche Anliegen so klar unterstützt, ist für die Forschung ein wichtiger Anhaltspunkt für eine angemessene Einschätzung der Ingardenschen Husserl-Interpretation und Husserl-Kritik. 8 Ein leitender Gesichtspunkt für Ingardens Lektüre der Ideen 1 ist aber natürlich Husserls transzendentaler Idealismus. Die Auseinandersetzung mit dieser Position zieht sich wie ein roter Faden durch das philosophische Werk Ingardens und reicht in ihren Anfängen zurück bis in Ingardens GöttingerZeit. In diesem Zusammenhang lassen sich die folgenden Schriften bzw. Schriftgruppen unterscheiden: a) Das erste wichtige Schriftstück ist ein Brief, 9 den Ingarden im Juli 1918 an Husserl übersandte. 10 Es handelt sich um eine kleine Abhandlung, die 7

Vorlesung X,288.

8

Vgl. unten § 4.

9

Genauer gesprochen ist uns nur ein Brief-Entwurf erhalten geblieben, vgl. Ingarden (1972c); (1976c). Zum Anläß des Briefes: Husserl wollte seit 1913 die Logischen

Untersuchungen

und be-

sonders die VI. Untersuchung einer neuen Redaktion unterziehen (vgl*Ingarden (1968a), 141, Anm. sowie Husserliana

III/1 (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, X L I V f.) und

hat Ingarden um eine kritische Durchsicht gebeten. Vgl. z.B. Husserls Brief an Ingarden vom 16.11.1918 in: Ingarden ( 1968a), 12.

XIII

auch das früheste Dokument für Ingardens Kritik an Husserls Idealismus, genauer am "Idealismus" der Ideen /, darstellt. Im selben Jahr, im Winter 1918/19, arbeitete Ingarden bereits an einer S c h r i f t " , die dann erst volle 10 Jahre später in der Festschrift zu Husserls 70tem Geburtstag unter dem Titel "Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus" erschienen ist 1 2 - ein Aufsatz, wo Ingarden seine Sichtweise der Streitfrage Idealismus/Realismus exponiert. Daß die "Bemerkungen" (1929) und jener "Idealismus"-Brief (1918) miteinander in direktem Zusammenhang stehen, geht auch daraus hervor, daß in Husserls Festschrift - wie Ingarden (1968) mitteilt - tatsächlich nur ein "Bruchteil" des Manuskriptes erschienen ist: "Der Rest, der eine Einteilung der verschiedenen Typen der konstitutiven Problematik enthält, ist bis jetzt in Maschinenschrift geblieben." 1 3 Eine eben solche Einteilung der konstitutiven Probleme findet sich nun aber auch im "Idealismus"-Brief (1918). Dieser Tatbestand ist wichtig. Denn wir wissen, daß die "Bemerkungen" für Ingarden de facto das programmatische Arbeitspapier für die späteren, breit angelegten Untersuchungen im Streit waren. 1 4 Den geschilderten Zusammenhang mit dem "Idealismus"-Brief vorausgesetzt, können wir auch abschätzen, von welcher Sichtweise der konstitutiven Probleme Ingarden bei seinen Analysen im Streit ausgegangen ist. Auch der "Idealismus"-Brief kann jedenfalls als eine wichtige, zugehörige "Programmschrift" eingeschätzt werden. 1 5 Und tatsächlich wissen wir aus Ingardens Mitteilungen, daß er in den Jahren 1918-23 an der Analyse der äußeren Wahrnehmung bzw. an den zugehörigen konstitutiven Problemen gearbeitet hat, um auf diesem

Wege

zunächst

von

der

Erkenntnistheorie

aus

das

Idealis-

mus/Realismus-Problem aufzurollen. 1 6

11

Vgl. Ingarden (1968a), 142.

12

Vgl. Ingarden (1929).

13

Ingarden (1968a), 142.

'4

Vgl. Ingarden (1968a), 163; 175/6 sowie das Vorwort zu Ingarden (1964c). Vgl. dazu G. Haefliger, "Ingarden und Husserls transzendentaler Idealismus", dies 7( 1990), 103-121.

16

Vgl. Ingarden (1964c), VII sowie (1976a), 21.

Husserl-Stu-

XIV

b) Mit dem Streit hat sich Ingarden dann für eine ontologisch orientierte Behandlung der Idealismus/Realismus-Problematik entschieden. Über die zugehörigen, in den Jahren 1923-1935 durchgeführten "Vorstudien" sind wir aufgrund von Ingardens Mitteilungen gut informiert. 17 Zudem kennen wir auch den direkten Anlaß zu diesem großen systematischen Werk. Im Jahre 1931 nämlich forderte Husserl Ingarden mehrmals auf, für die geplante deutsche Publikation der Cartesianischen gen zu übersenden.

18

Meditationen kritische Bemerkun-

Aus verschiedenen Gründen übersandte Ingarden je-

doch nur "Bemerkungen" zu den ersten vier Meditationen 19 - was ihm Husserl, der seinen "ungetreuen" Schüler gerade mit der V. Meditation vom "Ontologismus" zu bekehren erhoffte, Ingarden aber des Abbruches der Lektüre verdächtigte, in einem Brief mit einer scharfen Note quittierte. 20 Tatsächlich beruhte Husserls Enttäuschung auf einem Mißverständnis: Ingarden hatte die Lektüre der Meditationen

nicht abgebrochen, konnte sich

jedoch mit der Form von bloßen Bemerkungen nicht zufrieden geben. Vielmehr wollte er auf der Basis einer umfassenden "Erweiterung" 21 der früheren "Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus" (1929) eine eigenständige Gegenuntersuchung

17

unternehmen. 22

Neben Ingarden (1925a); (1931a); (1931b) und (1935) vor allem auch (1925b) und (1930). Vgl. dazu Ingarden (1964c), VII ff.

18

Vgl. Ingarden (1968a), 173 (zu den Briefen L; LI). Die ohne Rücksprache mit Ingarden (vgl. Ingarden (1964c), IX, Anm.4) vorerst unvollständig ediert wurden, vgl. Ingarden (1950). Erstmalige vollständige Edition: Ingarden (1982).

20

Vgl. Ingarden (1968a), 175.

21

Ingarden (1964c), IX.

2 2

Vgl.."Denn bei dem Glauben, den Husserl an die V. Meditation und ihre Bedeutsamkeit hegte, war es mir immer mehr klar geworden, daß in diesem Falle solche an einzelne Behauptungen und Argumentationen anknüpfenden Bemerkungen, wie ich sie den ersten vier Meditationen gewidmet hatte, bei der fünften keineswegs ausreichen würden. Man mußte etwas viel Bedeutenderes machen: man mußte von sich aus eine Gegenuntersuchung durchführen, die ebenso tief und ebenso weit ginge wie ... Husserls Begründung des transzendentalen Idealismus. Die Husserl einst geschenkten 'Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus' bildeten nur eine Skizze und nur ein Programm, das Husserl zu einem neuerlichen Durchdenken seiner Argumentation zu zwingen nicht fähig war."(Ingarden (1968a), 175/6).

XV Der Streit war somit sozusagen als die Fortsetzung der von Husserl erwarteten "Bemerkungen" zu den Cartesianischen Meditationen geplant. 23 Allerdings glaubte Ingarden damals, seine Untersuchungen in absehbarer Zeit abschließen zu können. 24 Es dauerte dann aber sehr viel länger. Und Husserls früher Tod (1938) verunmöglichte die weitere Sachdiskussion zwischen dem Meister und seinem kongenialen Schüler. c) Die dritte Schriftgruppe umfaßt neben vielen kleineren Arbeiten insbesondere jene monographischen Studien zu Husserl, welche vom Autor selbst in Ingarden (1963) auf polnisch neu herausgegeben wurden. Zu erwähnen sind davon Ingarden (1939/45); (1958); (1959) und (1976b). 25 Für Ingardens Husserl-Interpretation und -Kritik sind außerdem auch noch die wichtigen monographischen Arbeiten: Ingarden (1964b); (1968a); (1970) und (1973a) zu nennen. Auf dem Hintergrund dieser drei Schriftgruppen kann die Besonderheit der "Osloer"-Vorlesungen noch weiter verdeutlicht werden. Der Umstand nämlich, daß Ingarden mit ihnen eine "Einführung in die Husserlsche Phänomenologie" geben wollte und zu diesem Zwecke tatsächlich eine textanalytische Vorlesung zu den Ideen I gehalten hat, schlägt sich nicht nur in der Auswahl der behandelten Themen nieder. Dieser Umstánd erklärt vor allem auch das deutlich erkennbare Anliegen, den Philosophen Husserl als Herausforderung für das eigene Denken attraktiv zu machen. Dieses auffällige Merkmal der "Osloer"-Vorlesungen ergibt sich gewiß auch aus di-

I T

Die Redaktion des Streites wurde vorerst denn auch in deutscher Sprache angegangen, vgl. Ingarden (1964c), IX, Anm. 4. 24

Vgl.:"So begann ich meine 'Beiträge zum Problem Idealismus-Realismus' zu schreiben, um die gesamte Problematik aufs neue und tiefer zu entwerfen und sie zu bearbeiten zu versuchen. Ich löste mich dabei nicht von den 'Meditationen', ich schob sie nicht - wie Husserl augenscheinlich meinte - beiseite. Aber um Gegenargumente gegen sie zu finden, mußte ich selbst positiv an der mir vorschwebenden Problematik arbeiten, um für die Diskussion mit Husserl besser vorbereitet zu sein. Ich dachte, daß ich in ein oder zwei Jahren damit wenigstens vorläufig fertig sein würde. Es dauerte aber länger, viel länger, als ich überhaupt voraussehen konnte." (Ingarden (1968a), 176) - Zu den Gründen der Verzögerung vgl. Ingarden (1964c), IX ff.

25

Ingarden ( 1963) enthält außerdem Ingarden ( 1972c); ( 1933); ( 1958/59).

XVI

daktischen Motiven. Andererseits beklagt Ingarden - bei aller Anerkennung der sich z.B. in den Husserliana so eindrücklich dokumentierenden HusserlPhilologie - bereits in der ersten und zweiten Vorlesung das faktische Fehlen einer wirklich positiv im Geiste Husserls und im Geiste der Göttinger-Phänomenologie weiterforschenden phänomenologischen Tradition, sowohl in Europa wie anderswo. Entsprechend sind denn Ingardens Ausführungen auch und gerade dort, wo Kritik geübt wird, in der Sache im allgemeinen positiv. 26 M.a.W.: Ingarden problematisiert zwar eine Reihe von Husserlschen Thesen, greift sie zugleich aber für eigene weiterführende Entwicklungen auf. Was im Speziellen die Idealismus/Realismus-Thematik betrifft, sind aber drei allgemeine Punkte hervorzuheben: Erstens betont Ingarden viel klarer als etwa in Ingarden (1959) und (1976b), daß viele der prima facie idealistischen Thesen der Ideen /, wenn sie im Kontext der Husserlschen Entwicklungen gelesen werden, mit einer realistischen Position kompatibel sind. 27 Zweitens bringt Ingarden seine im Streit systematisch entwickelte existentialontologische Begriffsapparatur in den "Osloer"-Vorlesungen sehr dosiert in Ansatz. Nur erst gegen Ende der X. Vorlesung deutet Ingarden an, warum er angesichts der Husserlschen Argumentation genötigt war, diese existentialontologischen Begriffe allererst einzuführen. In diesem Punkt unterscheiden sich die "Osloer"-Vorlesungen ganz markant von den meisten monographischen Husserl-Studien der dritten Schriftgruppe, welche in der Regel die existentialontologischen Basisbegriffe des Streites direkt ins Spiel bringen. Drittens schließlich knüpfen die "Osloer"-Vorlesungen sachlich im besonderen Maße an die Ingardensche Sichtweise der konstitutiven Problematik an, wie er sie im oben erwähnten "Idealismus"-Brief (1918) bereits sehr früh skizziert hat. Besonders in diesem Punkt dürften die "Osloer"Vorlesungen, soweit es um eine Neueinschätzung von Ingardens HusserlInterpretation und -Kritik geht, für die aktuellere Forschung von Bedeutung werden. 28

26

Vgl. unten § 3.

27

Vgl. besonders Vorlesung X.

28

Vgl. unten § 4.

XVII

§3 Husserl hat die Ideen I gleich nach ihrem Erscheinen in seinem Seminar "Phänomenologische Übungen für Fortgeschrittene" (WS 1913/14) 29 zum Grundtext gemacht 3 0 und mit seinen nächsten Göttinger-Schülern sozusagen paragraphenweise durchdiskutiert. 31 Im Verlaufe dieses Seminars haben offenbar mehrere "ältere Schüler Husserls verschiedene Einwände gegen die in den 'Ideen Γ sich andeutenden idealistischen Tendenzen sowie bezüglich des Sinnes und der Leistung der transzendentalen Reduktion" 32 erhoben. Sicher wurde der etwas "jüngere" Ingarden, der erst 1912 nach Göttingen kam, durch diese Diskussionen in seinem Verständnis und in seiner Lektüre der Ideen I maßgeblich bestimmt. Trotzdem ist die Situation in seinem Falle etwas komplizierter. Ingarden war einer der wenigen "Göttinger-Schüler", die Husserl nach dem Ersten Weltkrieg nach Freiburg gefolgt sind. 3 3 So gestaltete sich der persönliche und philosophische Kontakt zwischen Husserl und Ingarden besonders eng zu Beginn von Husserls Freiburger-Jahren, genauer vom Frühjahr 1916 bis zu Ingardens Rückkehr nach Polen im Januar 1917 eine Zeit, in der Ingarden Husserl regelmäßig zu langen abendlichen Gesprächen aufsuchte. 34 Nach Ingardens Mitteilungen wurden in diesen phi-

Vgl. Husserliana,

Dokumente I, Den Haag 1977, 184 - Dasselbe gilt vermutlich auch für

das Seminar "Ausgewählte phänomenologische Probleme (nur für ganz Forgeschrittene)" (SS 1914), vgl. Ingarden (1968a), 116; Husserliana

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den

Haag 1976, XLII. 30

Für den Zusammenhang, in dem dieses Seminar für Husserls Forschungen stand, vgl. Husserliana III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, XLIV/XLV.

3

'

Vgl. unten Vorlesung X,284 sowie Ingarden (1968a), 113; E. Stein, Aus dem Leben jüdischen

32

einer

Familie: Kindheit und Jugend (Edith Steins Werke, Bd. VII), Freiburg 1965, 174.

Ingarden (1968a), 113 - Von diesen opponierenden "älteren" Schülern erwähnt Ingarden in den Vorlesungen namentlich A. Koyré, J. Hering und vor allem H. Conrad-Martius. Vgl. u.a. H. Conrad-Martius, "Die transzendentale und die ontologische Phänomenologie", in; Edmund Husserl 1859-1959. Recueil commémoratif sance du philosophe,

à l'occasion du centenaire de la nais-

La Haye 1959, 175-184. Für den die Göttinger-Gruppe maßgeblich

beeinflussenden Adolf Reinach vgl. K. Schuhmann, "Husserl und Reinach", in: K. Mulligan (ed.), Speech Act and Sachverhalt.

Reinach and the Foundations of Realist

Dordrecht 1987, 239-256, bes. 249 ff. 33

Vgl. Ingarden (1968a), 120.

34

Vgl. Ingarden ( 1968a), 120.

Phenomenology,

XVIII losophischen "Nachtgesprächen" neben Problemen, die den Husserlschen Idealismus betreffen, das Problem der Identität des reinen Ich sowie vor allem die Thematik der erfüllten, konstituierten Zeit bzw. ihrer Konstitution im ursprünglichen "inneren" Bewußtsein durchdiskutiert. 35 Letzteres ist bekanntlich ein Problemgebiet, das Husserl in den Ideen / absichtlich ausgeklammert hatte und reicht somit weit über die konstitutive Problematik, wie Husserl sie damals literarisch exponiert hatte, hinaus. Besonders die Diskussionen über die konstitutiven Probleme 36 werden auch für Husserl philosophisch fruchtbar gewesen sein. 37 Und noch sehr viel später, nachdem betreffs der Idealismus/Realismus-Streitfrage die "Fronten" auch zwischen Husserl und Ingarden bezogen waren, hat Husserl Ingarden eine Meisterschaft in der Durchführung konkreter konstitutiver Analysen attestiert. 38 Aufgrund seiner Studienzeit bei Husserl war Ingarden auf diesem Gebiet so intim vorbereitet, daß er in den Jahren 1918-1923 besonders auch das Problem der äußeren Wahrnehmung vom Standpunkt der konstitutiven Phänomenologie positiv bearbeiten konnte. Im oben erwähnten "Idealismus"-Brief (1918) liegt uns ein Dokument vor, das als zugehöriges methodologisches

"Arbeitspapier"

eingeschätzt

werden

kann. Trotz of-

fensichtlicher Nähe und Abhängigkeit von Husserls Ideen I unterscheidet Ingarden dort durchaus selbständig zwischen verschiedenen Problemgruppen einer "konstitutiven Betrachtung" und entwirft so seine eigene Systematik. In allem aber ist die Husserlsche Unterscheidung zwischen Noesis und Noema sowie natürlich die transzendentale Reduktion als Operation, die den methodisch geregelten Blick auf noematische Sinneinheiten allererst ermöglicht, als etwas Selbstverständliches und Unproblematisches vorausgesetzt: Eines wird sicher auf d i e s e m W e g e ermöglicht: D a s ist der Übergang v o m D i n g z u m Vermeinten, z u m vermeinten D i n g , v o m D i n g z u m D i n g s i n n , D i n g noema

...

D i e s e s S i c h - p h ä n o m e n a l - Z e i g e n dessen, w a s da ist, entdecke ich vermittels der Reduktion. Ich könnte dies vielleicht auch o h n e besondere M e t h o d e entdecken;

35

Vgl. Ingarden ( 1968a), 121 -132.

36

Vgl. Ingarden (1968a), 122/123.

37

Vgl. Ingarden ( 1968a), 40 (Husserls Brief vom 19. 11. 1927).

38

Vgl.: "Versuchen

Sie zu verstehen, warum ich immerfort sagen kann, daß Sie den tieferen

Sinn der const[itutiven] Phänomenologie] nicht verstanden haben ..., wie denn Niemand meiner alten Schule verstand. Es liegt nicht an dem Fehlen der concr[eten] Untersuchungen. Darin sind Sie selbst weiter als die Meisten." (Ingarden (1968a), 80-81.

XIX aber wenn man es methodisch erfassen will - und das möchte Husserl eben erreichen -, s o muß diese Operation durchgeführt werden, die er transzendentale Reduktion n e n n t . 3 9

So ist es zu verstehen, daß Ingarden, der sich selber ausdrücklich zu den "Göttingern" zählt 40 , unter Husserls Göttinger-Schülern eine gewisse Sonderstellung einnimmt: Ingarden war gegenüber der transzendental-phänomenologischen Reduktion als einer für im weiteren Sinne erkenntnistheoretische Zwecke indispensablen methodischen Operation nie skeptisch eingestellt und hatte sehr früh schon eine klare Vorstellung über "Sinn und Leistung" dieser Operation. 41 Auf diesem Hintergrunde lassen sich jene Teile der "Osloer"-Vorlesungen, wo Ingarden "Probleme" der transzendental-phänomenologischen Reduktion erörtert, in ein rechtes Licht rücken. Hier nämlich finden wir eines von den oben angesprochenen Beispielen dafür, daß die Ingardenschen Ausführungen, trotz prima facie gegenteiligem Anschein, in der Sache tatsächlich mehr positiv als negativ orientiert .sind. Was zunächst Husserls "Generalthesis der natürlichen Einstellung" betrifft, so kritisiert Ingarden zwar die Husserlsche Charakterisierung derselben als einer "potentiellen" (vorprädikativen) These. Und Ingarden betont: Ich leugne nicht, daß die Welt, in der ich lebe, diesen ständigen Charakter der Realität

hat

...

Aber

soll

ich

da

in

meinem

Bewußtsein

-

in

meinem

Bewußtseinsstrom - so einen sich hinziehenden Akt der Annahme finden? Das kann ich nicht. 4 2

Trotzdem geht es ihm in der Hauptsache gerade um einen positiven deskriptiven Aufweis des Phänomens der ständigen Gegebenheit der realen Welt in der natürlichen Einstellung. Ähnlich präsentiert sich die Situation dort, wo Ingarden die Operation der Reduktion ("Einklammerung") der Generalthesis erörtert. Es handelt sich nicht um einen Kartesianischen Zweifelsversuch und schon gar nicht um ein Negieren der Existenz der realen Welt. Die

39

Vorlesung IX,247.

40

Vgl. Vorlesung 11,51.

41

Vgl. auch Ingarden (1921b); (1925b); (1929) sowie G. Kiing, "Zum Lebenswerk von Roman Ingarden. Ontologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik", in: H.Kuhn/E.Avé-Lallemant/R.Gladiator (Hg.), Die Münchener Phänomenologie,

42

Vorlesung VII.200.

Den Haag 1975, 158-173.

XX

Reduktionsoperation kann aber auch nicht als "Neutralisierung" der Generalthesis verstanden werden - sozusagen in Analogie zu dem, was Husserl auf der Ebene der Urteile in den Ideen I als "Neutralitätsmodifikation" beschrieben hat. Kritisch beurteilt Ingarden so zwar die in den Ideen I nur rudimentär gegebenen Erklärungen dieser wichtigen Operation; in der Sache geht es ihm aber auch hier erneut um eine positive Aufklärung, wenn er die Reduktionsoperation

allgemein

schließlich

als

eine

Art

Solidarisie-

rungsrückzug des reinen Ich gegenüber der ständig vollzogenen Seinssetzung der realen Welt beschreibt. 43 Allerdings bleiben auch dann noch viele strukturelle und methodische Probleme offen. So z.B. die Frage, ob die Reduktionsoperation phänomenologisch betrachtet als ein Akt (sc. als eine Art punktuelles Ereignis), als ein (stets von neuem vollzogener und so gewissermaßen habitueller) Entschluß oder aber als Zustand des jeweiligen Phänomenologen zu verstehen sei. 44 Oder etwa die wissenschaftstheoretische Frage, wie es um die Möglichkeit der transzendentalen Phänomenologie als wissenschaftlicher Disziplin steht, wenn neben den materialen Ontotogien auch die formale Ontologie und Logik, also die Ergebnisse der gesamten mathesis universalis im Sinne Husserls, bei den konkreten transzendentalen Forschungen "ausgeschaltet" werden sollen. 45 Oder schließlich noch die wichtige Frage, ob die Reduktionsoperation, in der Gestalt wie Husserl sie in den Ideen I eingeführt hat, für das ihr gesetzte Ziel: die Entdeckung des transzendental reinen Bewußtseins mit all den noematischen Korrelaten verschiedener Stufen ausreichend sei. Wie Ingarden anhand zahlreicher Kurzanalysen vorführt, reicht die Reduktion der Generalthesis dazu tatsächlich nicht aus. Neben dem Vollzug der Reduktion bedarf es (bereits schon bei der sogenannten statischen Betrachtung) außer der immanenten Reflexion insbesondere einer "noematischen" Reflexion, in der die noematischen Sinneinheiten verschiedener Schichten dialektisch miteinander verknüpft und mit Blick auf gegenseitige funktionelle Abhängigkeiten 46 ana-

43

Vgl. Vorlesung VII,204ff.

44

Vgl. Vorlesung VIII,218ff.

45

Vgl. Vorlesung IX,255ff.

46

Vgl. dazu erneut den "Idealismus" Brief: Ingarden (1972c).

XXI lysiert werden. 47 Natürlich war sich - wie Ingarden ausdrücklich festhält 4 8 auch Husserl darüber im klaren, daß im Rahmen einer konstitutiven Analyse sehr verschiedenartige Reduktionsschritte erforderlich sind. Insofern rennt Ingardens Kritik an den die Reduktion betreffenden methodologischen Ausführungen in den Ideen I mindestens teilweise offene Türen ein. Für die Einschätzung von Ingardens Husserl-Interpretation und -Kritik sind seine bezüglichen Erwägungen trotzdem relevant: Sie lesen sich weithin wie eine Verdeutlichung des im "Idealismus"-Brief (1918) entworfenen Programmes und zeigen uns so, mit welchen methodischen Schritten noch der späte Ingarden bei konkreten konstitutiven Analysen gerechnet hat. Während Ingarden (1925b) und (1929) wesentlich die Grenzen der im weiteren Sinne gefaßten Erkenntnistheorie (und damit der transzendentalen Reduktion als methodischer Operation) betonen, zeigen die "Osloer"-Vorlesungen

somit

deutlich und vor allem konkret auf, worin aus der Ingardenschen Sichtweise die Leistungsfähigkeit der transzendental-phänomenologischen Reduktionsoperation liegt.

§4 Die neuere Husserlforschung ging lange Zeit mehrheitlich davon aus, daß Husserl spätestens seit den Ideen I (1913) entschieden die Position eines transzendentalen Idealismus vertritt. 49 Neben bezüglichen entwicklungsgeschichtlichen Fragen 5 0 drehte sich die Diskussion 51 vorwiegend um die sy47

Vgl. "Es gibt also eine ganze Reihe von Reduktionsschritten, in denen immer das 'eingeklammert' wird, was nur vermeint ist oder letztens nicht 'erfüllt' wird und den Ausgangspunkt eines Rückganges zu dem bildet, was mehr und mehr erfüllt, mehr und mehr ursprünglich 'erlebt' oder nur 'empfangen' wird. Es sind also nicht nur die erste Reduktion, die die Generalthesis reduziert, zu vollziehen, sondern immer neue Reduktionen in bezug auf das nur Vermeinte auf jedem eventuell neuen, tieferen Niveau der Erfahrung." (Vorlesung IX,253).

48

Vgl. Vorlesung IX,253.

49

Ameriks spricht entsprechend von einer "common interpretation of Husserl as an idealist" (K. Ameriks, "Husserl's Realism", The Philosophical

50 5

'

Review 86(1977), 498-517).

Ein locus classicus hierfür ist Ingarden (1976b). Vgl. dazu die folgenden Autoren: G. Küng, "Husserl on pictures and intentional objects", Review of Metaphysics

26(1973), 670-680; J. Findlay, "Phenomenology and the Meaning of

Realism", in: E. Pivcevic (ed.), Phenomenology

and Philosophical

Understanding,

Cam-

XXII

stematische Frage, wie der Husserlsche Idealismus genauer zu verstehen bzw. zu präzisieren sei. In neuester Zeit aber hat man 5 2 gegen diese Forschungstendenz Stellung bezogen und dem (späteren) Husserl entweder eine "realistische" oder aber eine gegenüber der gesamten Streitfrage Idealismus/Realismus "neutrale" Position zugesprochen. Bemerkenswert ist hierbei, daß die "neutrale" Interpretation tatsächlich vereinzelt bereits in den 50-er Jahren, so z.B. auf dem Zweiten Internationalen Phänomenologen Kongreß in Krefeld (1956), zur Diskussion gestellt worden war. 5 3 Im Kontext dieser aktuelleren Forschungstendenz stehen auch ältere und neuere Studien, in welchen der Nachdruck auf Ingardens "quasi-metaphysische" Interpretation von Husserls Idealismus gelegt wird und diese als Fehlinterpretation nachgewiesen wird. 54 In der Regel wird dabei wenn nicht gar von einer "neutralen" Interpretation der Husserlschen Position, so doch mindestens von einer nicht-metaphysischen, rein erkenntnistheoretisch orientierten Deutung des Husserlschen Idealismus ausgegangen. Auf dieser Basis muß sich Ingardens Husserl-Interpretation natürlich als falsch erweisen. Denn

tatsächlich

hat Ingarden

Husserls

Position

als Variante

eines

"idealistischen Abhängigkeitskreationismus" bestimmt 5 5 - eine Position, die Ingarden im Streit ausschließlich mittels existentialontologischer Basisbegriffe definiert. Wenn aber die Priorität, die Husserl im Rahmen der transzendentalen Analyse der Subjektivität zuspricht, eine ausschließlich epistemologische

Priorität ist, dann ist Ingardens existential(ontologisch)e

und

metaphysische Ausdeutung dieser Priorität wie es scheint bereits vom allbridge 1975, 155-158; W. Morriston, "Intentionality and the Phenomenological Method: A critique of Husserl's Transcendental Idealism", Journal of the British Society for

Phenome-

nology, 7(1976), 36-43. 52

Vgl. R. Holmes, "Is Transcendental Phenomenology committed to Idealism?", The Monist 59(1975), 98-114; Κ. Ameriks, "Husserl's Realism", The Philosophical

Review

86(1977),

498-517; H. Hall, "Was Husserl a Realist or an Idealist?", in: H.L.Dreyfus/H.Hall (eds.), Husserl, Intentionality 53 54

and Cognitive Science, Cambridge 2 1984, 169-190.

Vgl. Ingarden (1959). Vgl. z.B. R. Sokolowski, Rezension von Ingarden (1976b) in: The Journal of

Philosophy

74(1977), 176-180; I.M. Wallner, "In defense of Husserl's transcendental idealism: Roman Ingardens's critique re-examined", Husserl-Studies

4(1987), 3-43 ("It is quite another matter

to misinterpret and to misrepresent Husserl's transcendental idealism in its essential features and to promote a preferred realist alternative on that basis", 3). 55

Vgl. Ingarden (1964c), 146.

XXIII

gemeinen Ansatz her verkehrt. Im besonderen muß sich gemäß dieser Sichtweise dann natürlich auch Ingardens Deutung der Husserlschen Begriffe der Konstitution bzw. der Setzung im Sinne einer intentionalen "Kreation" als Fehlinterpretation erweisen. Für die Beurteilung von Ingardens Husserl-Interpretation und -Kritik ist es natürlich wichtig nachzuweisen, daß Ingarden Husserlsche Behauptungen, die sich tatsächlich auf die Konstitution von "Sinnen", von noematischen Einheiten beziehen, als

Behauptungen gelesen hat, die sich auf die

(transzendentale) Konstitution von "Dingen" beziehen sollen. Und es ist ebenfalls wichtig zu betonen, daß Ingarden Husserls Idealismus unter der Perspektive der traditionellen Streitfrage Idealismus-Realismus interpretiert hat. 56 Wie immer die Beurteilung von Ingardens Husserl-"Interpretation" ausfallen wird, ein in diesem Zusammenhang wichtiger Aspekt läßt sich durch die "Osloer"-Vorlesungen klar belegen: Es ist durchaus nicht der Fall, daß Ingarden den speziellen Husserlschen Begriff der Konstitution, wie er im Rahmen einer transzendentalen Analyse vorausgesetzt wird, falsch verstanden hätte. Ingarden war sich vielmehr stets im Klaren, daß es hierbei um die

Konstitution

von

noematischen

"Sinnen"

und

nicht

um

die

"Konstitution" (sc. das intentionale "Erschaffen") von "Dingen" geht bzw. gehen sollte. Alle seine Ausführungen zu den Aufgaben einer "konstitutiven Rechtsbetrachtung" 57 müßten bei gegenteiliger Annahme unverständlich sein. Dasselbe gilt für Ingardens Ausführungen über die einer konstitutiven Rechtsbetrachtung "vorgeschalteten" konstitutiven Analysen - Analysen, in denen es um einen stufenweisen Rückgang von noetisch-noematischen Schichten zu immer tieferliegenden Schichten geht, ausgehend z.B. vom vollen Dingnoema einer äußeren Wahrnehmung über noematische DingSchemata, über Abschattungen verschiedenster Stufen, relativ stabile Empfindungsdaten, Empfindungsfelder und ursprünglich fließende Empfindungsdaten bis zurück zum ursprünglichen, zeitkonstituierenden Bewußtsein. 58 Alle relevanten Problemstellungen, die hierbei schon gemäß dem "Idealismus"-Brief (1918) in Frage kommen, werden in den "Osloer"-Vorle-

56

Vgl. dazu I.M. Wallner, "In defense of Husserl's transcendental idealism: Roman Ingarden's critique re-examined", Husserl-Studies

57

Vgl. besonders Vorlesung X.283-289.

58

Vgl. die Vorlesungen IX und X.

4(1987), 3-43.

XXIV

sungen ausführlich erläutert. Und auch was die konstitutive Rechtsbetrachtung betrifft, wird in Übereinstimmung mit dem "Idealismus"-Brief (1918) gezeigt, daß es um die Frage nach der Gültigkeit von Gegenstandsnoemata geht. Insgesamt also wird man Ingardens Husserl-Interpretation und -Kritik nicht angemessen beurteilen können, ohne die Ingardensche Sichtweise der konstitutiven Problematik im Sinne der Phänomenologie mitzuberücksichtigen. 5 9 Und mit Sicherheit kann, soweit es um eine Neubeurteilung von Ingardens Husserl-Interpretation geht, der Einwand nicht ausreichend sein, daß Ingardens Deutung auf einer Verwechslung des spezifisch transzendentalen Begriffes der Konstitution mit dem existentialontologischen Begriff der Konstitution beruhe. Allerdings ist es tatsächlich der Fall, daß Ingarden in den meisten einschlägigen monographischen Studien Husserls Idealismus existentialontologisch ausgedeutet hat. Wie schon oben gesagt unterscheiden sich die "Osloer"-Vorlesungen aber gerade dadurch von Ingardens übrigen HusserlStudien, daß er in den Vorlesungen seine im Streit systematisch eingeführten existentialontologischen Basisbegriffe nur sehr am Rande verwendet. Eine in diesem Zusammenhang besonders interessante Passage findet sich in der 10. Vorlesung, wo Ingarden in der Sache die in der aktuellen Forschung mit besonderem Nachdruck von Hall vertretene "neutrale" Interpretation der Husserlschen Position bespricht. 60 Vom Ingardenschen Standpunkt aus bedeutet dies, daß er konsequent seine eigene existentialontologische Begriffsapparatur "ausschalten" und auf Husserls spezifischen, transzendentalen Begriff der Konstitution zurückgehen muß. Das Problem dieser Interpretation besteht gemäß Ingarden jedoch darin, daß einige der (nach dieser Deutung dann bloß prima facie "idealistischen") Thesen der Ideen I entweder trivial wahr, evident falsch oder aber unklar sind. Man kann sagen: Husserl... spricht nicht über Realitäten, über Dinge, sondern er spricht über Ding-Noemata ..., die Korrelate des Bewußtseins von besonderer Art sind.

Und

in bezug

Bewußtseinsverläufe Gegenständlichkeiten

auf diese wird sind,

Gegenständlichkeiten

behauptet,

daß

als Korrelate

sie

nur mit der Einschränkung,

bloße daß

Vgl. G. Haefliger, "Ingarden und Husserls transzendentaler Idealismus", 7(1990), 103-121. 60

Vgl. oben Anm. 52.

unserer

intentionale sie

sehr

gut

Husserts-Studies

XXV geregelten Verläufen der Erfahrung entsprechen. Dann gäbe lediglich Behauptungen,

die in den Rahmen einer Sinnanalyse

es bei

Husserl

gehören

Und wenn alle diese [sc. konstitutiven] Untersuchungen zu Ende gebracht werden, dann kann man sagen: Diese Verläufe sind von solcher Art, daß sie mit Notwendigkeit zum Konstituieren eines solchen Ding-Noemas, eines solchen Dingsinnes führen müssen. Das sind keine psychologischen Zufälle, sondern dieses Ergebnis folgt aus der Struktur des Bewußtseins, aus der Struktur der Erfahrungsverläufe - es kann nicht anders sein. 6 2

Wenn sich die Analyse wirklich von Anfang an (nach dem Vollzug der Reduktion) auf die Ding-Noemata bezog, so ist es natürlich so, daß diese Noemata eben "intentionale Gegenstände" sind ... Wenn "Welt" von Anfang an nichts anderes als Korrelat gewisser Bewußtseinsmannigfaltigkeiten

bedeutet,

dann ist das natürlich alles richtig. Ist das aber etwas anderes

Tautolo-

als eine

gie?63

Wenn die transzendentale Phänomenologie Husserls ausschließlich als Sinnanalyse zu verstehen ist und sich die Rede von Konstitution somit ausschließlich auf das Konstituieren von Ding-Noemata qua notwendigen Korrelaten bestimmt geregelter Bewußtseinsverläufe bezieht - dann ist, wie Ingarden sagt, "natürlich alles richtig". Daß Noemata qua notwendige Korrelate von Noesen "intentionale Gegenstände" sind, ist ihm gemäß eine trivial wahre, weil tautologische Behauptung. Daß so und so bestimmte Noemata qua "intentionale Gegenstände" von bestimmt geregelten Bewußtseinsverläufen die Existenz der letzteren notwendig fordern, ist ihm gemäß eine trivial wahre, weil tautologische Behauptung. Daß aber ein Unterschied in der Bezweifelbarkeit der Existenz bestehen soll, es also nicht der Fall ist, daß ebenso notwendig wie bestimmt geregelte Bewußtseinsverläufe auch das Noema "reale Welt" existiert - ist gemäß Ingarden eine evident falsche, weil aus analytischen Gründen inkonsistente Behauptung. Denn das notwendige Korrelieren von Noesis und Noema besagt (ontologisch gefasst) nichts anderes als ihre wechselseitige

61 62 63

Vorlesung X,280 (m.H.). Vorlesung X,281. Vorlesung X,281 (m.H.).

Abhängigkeit.

XXVI

Nehmen wir demgegenüber als Folie die Hauptthesen einer konsequent "neutralen" Interpretation von Husserls Idealismus: (i)

Husserls "transzendentaler Idealismus" ist neutral!, weil im Lichte von Husserls radikaler Unterscheidung zwischen natürlicher und philosophischer Einstellung der unbestreitbare, von Husserl anerkannte "Realismus" der natürlichen Einstellung überhaupt keine philosophische Position darstellt;

(ii)

Husserls "transzendentaler Idealismus" ist neutral 2 , weil die transzendentale Phänomenologie

qua Sinn-Analyse

in der

Idealis-

mus/Realismus-Debatte faktisch keine Position bezieht; (iii)

Husserls "transzendentaler Idealismus" ist neutral 3, weil die transzendentale Phänomenologie

qua Sinn-Analyse

in der

Idealis-

mus/Realismus-Debatte prinzipiell keine Position beziehen kann; (iv)

Husserls "transzendentaler Idealismus" ist neutral 4 , weil die Idealismus/Realismus-Frage vom Standpunkt der transzendentalen Phänomenologie überhaupt nicht entscheidbar ist und deswegen keine philosophisch sinnvolle Frage darstellt;

(v)

Husserls "transzendentaler Idealismus" ist überhaupt kein Idealismus (im traditionellen Sinne).

Viele dieser Thesen würde auch Ingarden unterschreiben. So ist insbesondere These (i) für ihn nicht kontrovers. Denn natürlich wußte Ingarden, daß Husserl die Existenz der realen Welt nicht bezweifelt oder gar negiert hat, daß es ihm vielmehr um die Klärung des in der vorphilosophischen, natürlichen Einstellung vorausgesetzten Sinnes der Realität ging. Und die kruziale These (iii), allerdings als Postulat reformuliert, gehört seit den Anfängen zu den wichtigsten, von Ingarden mit Nachdruck vertretenen systematischen Thesen 6 4 und steht im direkten Zusammenhang mit der Ingardenschen Sichtweise von Aufgaben und Grenzen einer konstitutiven "Rechtsbetrachtung". Sehr viel komplexer aber (und nicht eo ipso verneinend) müßte Ingardens Stellungnahme zur (ersten Hälfte von) These (iv) ausfallen. Ganz klar jedoch wendet sich Ingarden gegen These (ii). Denn wie

64

Vgl. Ingarden (1925b); (1929); (1972c).

XXVII

die oben gegebenen Zitate aus den Vorlesungen belegen, konnte Ingarden die transzendentale Phänomenologie Husserls deswegen nicht als "bloße" Sinn-Analyse interpretieren, weil er seinem philosophischen Lehrmeister gewissermaßen höchstens Unklarheiten oder Lücken in der Argumentation, nicht aber "Trivialitäten" zumuten wollte. So handelte es sich für Ingarden darum, zu verstehen, warum Husserl in den Ideen transzendental

reinen

Bewußtsein

und

der

Welt

I zwischen einen

dem

prinzipiellen

behauptet hat 6 5 , warum er dem transzendental

Unterschied in der Seinsweise

reinen Bewußtsein ein "absolutes Sein" zugesprochen, dem in der äußeren Wahrnehmung erfassbaren Gegenstand dagegen abgesprochen hat 6 6 - zu verstehen, was das "absolute Sein" einer Entität in ontologischer Hinsicht überhaupt besagen könnte. 6 7 Die Ingardensche "Kritik" ist somit weit weniger radikal als etwa jene eines Daubert. Anders als Daubert 6 8 hat Ingarden nämlich die Husserlsche "Substanziierung" des transzendentalen Bewußtseins mitgemacht, also das reine Bewußtsein als ein Seiendes, Existierendes 69 , ja sogar als eine besondere Seinsregion anerkannt. 7 0 Was Ingarden primär kritisiert ist vielmehr dies, daß Husserl in den Ideen I mit dem Begriff des absoluten Seins hinter das analytische Niveau der in den Logischen

Untersuchungen

exponierten Teil/Ganzes-Theorie zurückfällt und

daß dieser Begriff, wenn er zur Charakterisierung der Seinsweise von Etwas dienen soll, einer (mit den analytischen Mitteln der Teil/Ganzes-Theorie durchgeführten) existential-ontologischen Präzisierung bedarf. Indem Husserl in den Ideen I dem transzendentalen Bewußtsein ein absolutes Wesen zuspricht, allen Realia jedoch abspricht, hat er in der Lesart Ingardens den Sinn von Realität transzendental-philosophisch interpretiert. Und zwar so, daß erstens an einigen Stellen wesentliche "Unklarheiten" bleiben und daß Husserl zweitens mit dieser philosophischen Deutung insgesamt die Grenzen einer unter der transzendentalen Reduktionsoperation ste-

65

Vgl. Husserliana

III/l (hrsg. v. K.Schuhmann), Den Haag 1976, 87/88.

66

Vgl. Husserliana

IIL/1 (hrsg. v. K.Schuhmann), Den Haag 1976, 104.

67

Vgl. besonders Vorlesung X.

zo

Vgl. dazu K. Schuhmann/B. Smith, "Against Idealism: Johannes Daubert vs. Husserl's Ideas I", Review of Metaphysics

39(1984), 763-793, besonders 771 f.;779 f.

69

Vgl. z.B. Ingarden (1929), 183.

70

Vgl. Ingarden ( 1965b), Kap. XVI.

XXVIII henden erkenntnistheoretischen Analyse überschritten hat. 71 Die "Osloer"Vorlesungen,

in

denen

Ingarden

seine

existentialontologische

Be-

griffsapparatur faktisch nur sehr am Rande in Ansatz bringt, geben somit retrospektiv eine Erklärung dafür, warum Ingarden für die "Interpretation" des Husserlschen Idealismus sowohl im Streit wie in den anderen zugehörigen monographischen Studien nicht vom spezifisch transzendentalen Begriff der Konstitution ausgehen konnte.

71

Vgl. Ingarden (1929), 183.

Inhaltsübersicht zu den Vorlesungen Erste Vorlesung: Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung (I)

Verschiedene Phasen der Phänomenologie [ 1 -8] - Drei Aspekte der Entwicklungs- und Wirkungsgeschichte von Husserls Philosophie [8-16]: Publikationen; Vorlesungen und Seminare; Forschungsmanuskripte — Zur Entwicklung der Husserlschen Philosophie bis zu den Ideen /: von der Philosophie Prolegomena

der Arithmetik

[17-21]; die Logischen

zu den

Untersuchungen

I-VI [22-28]; von den LU zu den Ideen /; die Situation der europäischen Philosophie vor 1900 [28-31],

Zweite Vorlesung: Zur Geschichte der phänomenologischen Die

erste

Bewegung (II)

Phase

der

Phänomenologie:

Die

"Münchener"- und "Göttinger"-Phänomenologie; Husserls "Göttinger"-Doktoranden [33-52] — Der historische Hintergrund der Husserlschen Phänomenologie [52-67]: Die nach-hegelianische Situation in Deutschland: Historische Begriffsphilosophie, Neukantianismus und Psychologismus [52-60]; Naturwissenschaften und die empirisch-positivistische

Erkenntnismethode

[60-63]; Empiristische Assoziations- und Elementenpsychologie und Vorläufer einer phänomenologischen Bewußtseinsphilosophie [63-73]. Dritte Vorlesung: Drei Prinzipien der (Husserlschen)

Phänomenologie

Drei Prinzipien: das Prinzip der "originären" Erfahrung ("Prinzip aller Prinzipien"); das Prinzip der unmittelbaren

"apriorischen"

"immanenten"

Erkenntnis;

Erkenntnis

das

[69-71]

Prinzip

der

— Historisch-

systematische Interpretation von Husserls "Prinzip aller

XXX Prinzipien" [71-92]: Typen originär-gebender E r f a h rung; Korrelation zwischen verschiedenen Typen originär-gebender Erfahrung und verschiedenen Typen von Gegenständlichkeiten

[71-82];

Empirisch-sensuali-

stische Theorien und "Selbstgegebenheit" in der originär-gebenden Erfahrung [82-90]; die Intentionalitätsthematik [90-92] -

Methodologische

Konsequenzen

des "Prinzips aller Prinzipien" [92-97]:

Primat der

"deskriptiven" Probleme; methodischer Stellenwert der "naiven"

Erfahrung;

Reservatio

mentalis

bezüglich

Ergebnissen der positiven Wissenschaften.

Vierte Vorlesung:

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung (/): Wahr-

nehmung und Transzendenz Wahrnehmung Heterogenität

versus

Vorstellung

zwischen

[99-111]:

die

Wahrnehmungsgegebenheit

und Vorstellungs- bzw. Erinnerungsgegebenheit; verschiedene Typen der Anschaulichkeit; Kritik an empiristischen Theorien — Selbstgegebenheit und Transzendenz [111-116]: "Selbstgegebenheit" : "partielle" Gegebenheit versus "erfüllte" Gegebenheit; zwei Begriffe der Transzendenz — Wahrnehmungsprozesse und Zeitstruktur des Wahrnehmens:

Retention-Aktualität-Pro-

tention

Selbstgegebenheit

[117-128]

-

und

"Abschattung" [128-129],

Fünfte Vorlesung:

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung (II): Die

Struktur des Wahrnehmens Zusammenfassung: einige Hauptthesen der Vorlesung IV [ 1 3 1 - 1 3 7 ] -

Wahrnehmung und "Horizont" [138-

140]: Modus der "Aktualität" und der "Inaktualität" des Wahrnehmungsbewußtseins -

"Ansichten"

(Abschat-

tungen) und "Empfindungsdaten" aus phänomenologi-

XXXI scher Sicht [140-147] Programm

einer

Zum

phänomenologischen

konstitutiven

Wahrnehmungsbewußtseins

Analyse

[147-160]:

Ding

des -

Ab-

schattungen - Empfindungen - ursprünglich fließendes Bewußtsein;

Verschiedene

Probleme:

Die

"Aus-

gedehntheit" der Empfindungen; Empfindungen

und

"Zeit"; Empfindungen und "Kategorien"; das Verhältnis zwischen Akt - Empfindungen - Ansichten - Ding. Sechste Vorlesung:

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung (III): Ver-

schiedene Begriffe der Transzendenz Zum Gang der Vorlesung [161-164] Begriffe

der

Transzendenz

Verschiedene

[164-184]:

Erkennt-

nistheoretische Begriffe der Transzendenz [164-177]; ontologische

Begriffe

der

Transzendenz:

ontische

Transzendenz und ontische Immanenz [177-184] — Überleitung

zur

transzendental-phänomenologischen

Reduktion [184-186],

Siebte Vorlesung:

Eidetische und Transzendentale Reduktion Eidetische Reduktion [187-198]: Wesen (Species) und Wesenserkenntnis bei Husserl; das "Wesen" eines Dinges; Phänomenologie als eidetische Wissenschaft des Bewußtseins — Transzendentale Reduktion [198-209]: Natürliche Einstellung und Generalthesis; Generalthesis und Reduktion; Reduktionsoperation und Solidarisierung. Achte Vorlesung:

Transzendentale Reduktion und Idealismus (I) Transzendentale Reduktion bei Husserl [211-214]

-

Reduktion und Idealismus [ 2 1 5 - 2 1 8 ] — Probleme der transzendentalen

Reduktion

[218-239]:

Strukturelle

XXXII Probleme (Akt, habituelle Einstellung, Zustand) [218220]; Reduktion und Philosophie [220-223]; Reduktion und positive Wissenschaften [223-225]; der Umfang der Reduktion [225-231]; das Residuum der Reduktion [231-239],

Neunte Vorlesung:

Transzendentale Reduktion und Idealismus (II) Probleme der transzendentalen Reduktion

[241-261]:

das Ziel der Reduktion und ihre Leistungsfähigkeit (Reduktion der Generalthesis, immanente mung bzw.

Reflexion

und noematische

WahrnehReflexion)

[241-255]; Reduktion und Logik, formale Ontologie und materiale Ontologie [255-258]; Reduktion und das Phänomen

"Realität"

[258-261]

— Transzendentaler

Idealismus [261-268]: Zur Entwicklung der Position bei Husserl

[261-264];

grundlegende Thesen

[264-

268],

Zehnte Vorlesung:

Der transzendentale Idealismus (III) Vertritt Husserl eine idealistische Position? [ 2 6 9 - 2 8 0 ] - Transzendentale Phänomenologie qua Sinn-Analyse [280-283]

-

Über die konstitutiven

Probleme

Phänomenologie [ 2 8 3 - 2 8 9 ] - Schlußwort [289-293],

der

Erste Vorlesung (15. September 1967) (Zur Geschichte der phänomenologischen Bewegung (I)) Das Wort 'Phänomenologie' ist mehrdeutig, und deswegen muß ich den Begriff (der Phänomenologie) zunächst wenigstens technisch einschränken. Das erste Mal, wie Sie wissen, ist das Wort bereits im 18. Jahrhundert aufgetaucht, und zwar in einem Brief von Kant. Dann gab es Hegels große Phänomenologie des Geistes. Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts haben (auch) die Physiker oft von der "Phänomenologie" gesprochen. Sie haben darunter die Beschreibung der gegebenen Tatsachen verstanden, im Gegensatz zu [in mathematischen Begriffen] 1 formulierten Hypothesen. Das war eine Epoche, wo man verschiedene physikalische Begriffe "reinigen" und ihren Gehalt an das in der Erfahrung Gegebene anpassen wollte. [Auch in diesem Zusammenhang also] 2 sprach man [von]3 Phänomenologie. Dagegen ist die Phänomenologie, über die ich hier sprechen soll, im 20. Jahrhundert entstanden, und zwar kann man das Datum genau angeben: Es ist das Jahr 1900/01. In diesem Jahr sind drei Werke erschienen, deren Verfasser einander damals gar nicht kannten und nicht wußten, daß sie bald Hauptvertreter eines philosophischen Kreises sein werden. Es sind dies: die Logischen Untersuchungen4 von Edmund Husserl, damals Dozent in Halle, die Phänomenologie des Wollens5 von Alexander Pfänder, damals Dozent in München, und Die transzendentale und die psychologische Methode6 von

V.d.Hg. statt begrifflich mathematisch. V.d.Hg. statt Da. V.d.Hg. statt von] der. E. Husserl, Logische

Untersuchungen.

a.d.S. 1900; Logische Untersuchungen.

Erster Teil: Prolegomena

zur reinen Logik, Halle

Zweiter Teil: Untersuchungen

zur

Phänomenologie

und Theorie der Erkenntnis,

Halle a.d.S. 1901. Husserliana

Den Haag 1975; Husserliana

XIX/1 u. XIX/2 (hrsg. v. U. Panzer), Den Haag 1984.

A. Pfander, Phänomenologie

XVIII (hrsg. v. E. Holenstein),

des Wollens. Eine psychologische

Analyse,

Leipzig 1900;

München 3 1963. M. Scheler, Die transzendentale örterung zur philosophischen Jena 1899). Gesammelte 1971, 197-335.

und die psychologische

Methode. Eine grundsätzliche

Er-

Methodik, Jena 1900 (Habilitationsschrift an der Universität

Werke Bd. /, Frühe Schriften, hrsg. v. M.S. Frings, Bern/München

2

Erste

Vorlesung

Max Scheler, damals ebenfalls Dozent, (und zwar) in Jena. Die beiden Worte 'psychologisch' und 'transzendental' haben dann noch lange eine (wichtige) Rolle in der Diskussion über die Methode der Philosophie gespielt. Ich möchte zunächst einen ganz kurzen Überblick über die Phasen der Phänomenologie geben. Denn diese drei zunächst (noch) unbekannten Männer gaben den Anstoß zu einer Bewegung, an welcher dann viele verschiedene Philosophen, nicht nur in Deutschland, sondern später auch in Frankreich, Belgien und Amerika teilgenommen haben. Und weil sich die Phänomenologie unter Mitwirkung verschiedener Philosophen und in vielen Ländern entwickelt hat, hat sie im Laufe der Jahre auch ihr Gesicht verändert. Es ist also wichtig, sich zunächst über die Phasen dieser Entwicklung zu orientieren. Die erste Phase reicht von 1900 bis etwa zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Husserls wissenschaftliche Leistung und Selbsttätigkeit war in dieser Epoche ausschlaggebend. Ich spreche deswegen von der "Göttinger Phänomenologie", obwohl sich seit der Mitte dieser Periode in München [ein zweites] 7 Zentrum der Phänomenologie entwickelte. Husserl wurde 1901 nach der Veröffentlichung der Logischen Untersuchungen

in Göttingen

zum Professor ernannt und hat dort bis zum Jahre 1916 gewirkt. Mit Ausbruch des Krieges gingen jedoch viele seiner Schüler ins Feld, und Husserl selbst konnte nicht ruhig weiter arbeiten. So ist schon im Jahre 1914 ein Bruch in der Entwicklung der Phänomenologie eingetreten. Ein Jahr vor dem Kriege ist der erste Band des Jahrbuches für Philosophie menologische

Forschung

und phäno-

mit dem zweiten großen Werk Husserls erschie-

nen, nämlich den Ideen zu einer reinen Phänomenologie,

Teil I 8 . Die Ideen

sollten in drei Teilen erscheinen, die zwei übrigen sind aber zu Lebzeiten Husserls nicht mehr erschienen. Dieses Werk bildet den Abschluß der ersten Periode; zugleich enthält es eine neue Wandlung von Husserls Standpunkt und steht somit am Anfang der zweiten Periode. In der Entwicklung der

V.d.Hg. statt das zweite. E. Husserl, "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie", Jahrbuch 323; Sonderausgabe Halle a.d.S. 1913. Husserliana 1950; Husserliana

I (1913), 1-

III (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag

III/l u. III/2 (neu hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

3

phänomenologischen Bewegung bildet diese Epoche den Anfang: Sie umfaßt mehrere Jahre, in denen Husserls Stellung an der Göttinger Universität schwierig war. Er wurde nämlich gegen den Willen der Fakultät zum Professor ernannt. Die Fakultät wollte einen Philosophiehistoriker haben, doch Wilhelm Dilthey setzte es durch, daß das Ministerium in Berlin Husserl zum außerordentlichen Professor in Göttingen ernannte - und zwar erhielt er einen persönlichen Lehrstuhl und gehörte (somit) formell nicht zur Fakultät. Weil Husserl die Ernennung gegen den Willen der Fakultät angenommen hatte, wurde er in der Folge mehrere Jahre boykottiert. Im Jahre [1905] 9 wollte das Ministerium Husserl zum ordentlichen Professor ernennen, die Fakultät aber sagte: "Nein - kein Talent!". [Dies hat Husserl sehr bedrückt] 1 0 . In seinen Vorlesungen mußte er sich zunächst auch das Publikum erkämpfen. In den ersten Jahren waren bloß einige Studenten im Saal. Zudem sprach er vor diesen Studenten über Sachen, wovon sie nur sehr wenig verstanden. (Denn) er ging damals in seinen Arbeiten weit über die Logischen Untersuchungen

hinaus und entwickelte eine ganz neue Problema-

tik, deren Sinn und Ziele für die Hörer unverständlich waren. Heute wissen wir, daß es die Anfänge der konstitutiven Problematik waren. Husserl ist dann doch ordentlicher Professor geworden. Als ich aber im Frühjahr 1912 nach Göttingen kam, hatte sich die Situation bereits geändert. Husserl las vor einem vollen Saal. Und es gab eine philosophische Gesellschaft, eine Studentengesellschaft, die Husserls Schüler gegründet haben. Es waren ungefähr 20-25 Herren und Damen, darunter schon mehrere Doktoren. Zwei Jahre später kam aber der Krieg mit seinen Folgen. Es gab (im Frühjahr 1912) in Göttingen (auch) ein Seminar, das der Dozent Adolf Reinach abhielt. Er war ein Schüler von Theodor Lipps, ist aber später Phänomenologe geworden. Er war ein glänzender Lehrer. Unmittelbar vor dem Kriege führte er die sogenannten "Übungen für Fortgeschrittene" über "Probleme der Bewegung" durch. Etwa 15-20 Personen nahmen daran teil. Nach dem Kriege lebten fast nur noch die Frauen und die Ausländer. Die übrigen sind gefallen. Wie es zu dieser Zeit um Husserls Seminar stand (es wa-

9

V.d.Hg. - Gemäß T y p ^ / T y p g wie auch der polnischen Ausgabe gibt Ingarden das Jahr 1907 an. Das Ereignis, auf das Ingarden anspielt, fand aber 1905 statt, vgl. Husserliana kumente 1, Den Haag 1977, 90 (Tagebuchnotiz zum 16. Mai 1905). V.d.Hg. stati Das hat Husserl sehr übel beeindruckt.

Do-

4

Erste

Vorlesung

ren etwa 30 Personen), habe ich nicht überprüft; aber z.B. von den fünf polnischen Teilnehmern sind zwei im Kriege umgekommen. Das war das Schicksal des sogenannten "Göttinger Kreises". Die zweite Periode begann, als Husserl nach Freiburg berufen wurde. Heinrich Rickert war nach Windelbands Tod (von Freiburg) nach Heidelberg gegangen. Und im Frühjahr 1916 ging Husserl nach Freiburg, wo er zunächst die gleiche Situation wie einst (in Göttingen) vorfand. Ich folgte ihm damals von Göttingen nach Freiburg. In seine Vorlesungen kamen nur fünf bis sechs Studenten, die übrigen waren im Feld. Und alle waren zudem Schüler der sogenannten "Süddeutschen Schule", welche von Heinrich Rikkert, Windelband und Lask gegründet worden war. Einer von Rickerts Schülern war Martin Heidegger, der sich unmittelbar vor Husserls Ankunft bei Rickert habilitiert hatte. Die meisten Göttinger waren im Felde; 1917 fiel Reinach. Im Sommer 1916 kam Edith Stein, um bei Husserl zu promovieren, und im Herbst 1916 begann sie ihre Assistententätigkeit [mit der Durchsicht von Husserls Manuskripten]". Ich selber schrieb an meiner Doktorarbeit, mußte dann aber nach Krakau zurückkehren und kam im Herbst 1917 nur für kurze Zeit für mein Doktorexamen nach Freiburg. Ende Januar 1918 kehrte ich in meine Heimat zurück. 1 2 Edith Stein ist geblieben, aber dies änderte die Situation an der Universität gar wenig. Husserl mußte sich da einen ganz neuen Kreis schaffen. Nach einigen Jahren ist ihm das gelungen, so daß er mir z.B. in den Jahren 1921-23 vom großen Betrieb in seinem Seminar schrieb. Husserl war damals schon sehr berühmt, aus aller Welt kamen Studenten und junge Philosophen zu ihm (nach Freiburg). Aber er war sich damals nicht dessen bewußt, daß neben ihm in Freiburg Martin Heidegger wirkte, der sich freilich bereits im Jahre 1917 zur Phänomenologie bekannt hatte und Husserl in den nachfolgenden Jahren oft besuchte, im Grunde aber eigene Wege [ging. Und die Studentenschaft beeinflußte er auf eine Weise, die für Husserl nicht immer günstig war.] 1 3 Dies zeigte sich aber erst am Ende der zwanziger Jahre, als Heidegger als Ordinarius nach Freiburg zu-

11

V.d.Hg. siati an Husserlschen Manuskripten.

12

Zu Ingardens Studienzeit unter Husserl in Göttingen und in Freiburg vgl. Ingarden (1968a),

13

V.d.Hg. statt ging und unter der Studentenschaft eigene, Husserl nicht immer freundliche

106-135.

Einflüsse zu gewinnen begann.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

5

rückkehrte. Im allgemeinen scheinen aber die ersten zehn Jahre nach dem Kriege für die Phänomenologie sehr günstig gewesen zu sein. Es war eine Epoche des großen Aufschwungs, nicht nur für Husserl selbst in seiner Universitätstätigkeit und auf seinen Vortragsreisen, sondern für die Phänomenologie überhaupt. Es war die Zeit, in welcher Max Scheler sowohl literarisch als auch in seiner Universitätstätigkeit in Köln außerordentlich aktiv war. Seine Werke, u.a. Der Formalismus in der Ethik und die materiale WertethikH, übten eine große Wirkung aus. Leider ist Scheler 1928 gestorben. (Auch) mehrere Bände des Jahrbuches für Philosophie und phänomenologische Forschung mit einigen bedeutenden Arbeiten sind in dieser Zeit erschienen. Bis 1930 also dauerte die lange Periode der Entwicklung, des Fortschrittes - auch bei Husserl. Zwar schwieg er seit den Ideen I und publizierte erst 1929 wieder. In seinen UniversitätsVorlesungen entwickelte er aber eine rege Tätigkeit und setzte seine analytischen Forschungen in verschiedenen Richtungen fort, wobei es zugleich zur Änderung seines Standpunktes in verschiedenen grundlegenden Fragen ("Transzendentale Logik", Zeituntersuchungen, Ausbau des transzendentalen Idealismus usw.) kommt. Er unternahm auch mehrere Vortragsreisen - nach London, Amsterdam und Paris, wo er für die Phänomenologie wirkte. Im Herbst 1928 wurde er emeritiert. Obgleich er an der Universität weiterhin Vorlesungen hielt, wurde seine Stellung in Freiburg durch die Emeritierung und auch durch das erneute Wirken Heideggers in Freiburg wirklich geschwächt, was Husserl selbst sich jedoch nicht zum Bewußtsein brachte. Im Jahre 1929 beging er sein 70-jähriges Jubiläum und publizierte sein drittes bedeutendes Werk, die Formale und transzendentale Logiki5 - ein Werk, das Husserl auf der Grundlage alter Vorlesungen, die bis auf das Jahr 1920 oder 1921 zurückreichen, neu geschrieben hatte. M. Scheler, "Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Mit besonderer Berücksichtigung der Ethik Immanuel Kants, Teil I": Jahrbuch I (1913); Teil II: Jahrbuch II (1916). Sonderausgabe beider Teile in einem Band Halle a.d.S. 1916. Gesammelte Werke Bd. 2, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, hrsg. v.M. Scheler, Bern/München ® 1966. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Jahrbuch X (1929). Sonderdruck, Halle a.d.S. 1929. Husserliana XVII (hrsg. v. P. Janssen), Den Haag 1974.

6

Erste

Vorlesung

Etwas später, nämlich 1931, sind die Méditations

Cartésiennes^

er-

schienen, eine Ausarbeitung der "Pariser Vorträge" aus dem Jahre 1929. 1 7 Husserl hatte die Absicht, auch den deutschen Text zu publizieren. Er fand aber bald, daß diese Redaktion der inzwischen in Deutschland entstandenen Situation nicht gewachsen sei, und wollte deshalb eine völlig neue Redaktion schreiben. (Ich weiß dies aus den Briefen, die ich von ihm erhalten habe. 1 8 ) Während mehrerer Jahre begann er auch immer wieder [an einer neuen] 1 9 Redaktion zu schreiben. Sie sollte sein Hauptwerk werden. Außerdem arbeitete er an verschiedenen Vorarbeiten für ein großes systematisches Werk der Phänomenologie. Es gibt im Husserl-Archiv in Louvain Spuren eines Projektes für dieses auf vier Bände geplante Werk. 2 0 - Nun, nichts davon ist von Husserl selbst veröffentlicht worden. Erst gegen das Jahr 1936/37 begann er ein neues Werk zu schreiben, das heute unter dem Titel Die Krisis der europäischen nomenologie

Wissenschaften

und die transzendentale

Phä-

bekannt ist. Im Jahre [1936] 2 1 endlich ist ein großes Stück da-

von erschienen, allerdings nicht in Deutschland, sondern in Belgrad, in der Zeitschrift Philosophia,

die Arthur Liebert, der um diese Zeit nach Belgrad

emigriert war, zu redigieren begonnen hatte. 22 Dies ist die dritte Phase der

E. Husserl, Méditations

Cartésiennes.

Introduction

à la phénoménologie,

traduit de

l'allemand par G. Peifferet E. Lévinas, Paris 1931. "

Deutsche Ausgabe: E. Husserl, Cartesianische

Meditationen

und Pariser

serliana 1 (hrsg. v. S. Strasser), Den Haag 1950. Vgl. auch Husserliana,

Vorträge,

Hus-

Dokumente 11/1 u.

II/2 (hrsg. v. H. Ebeling, J. Holl, G.v. Kerckhoven), Den Haag 1988. 18

Vgl. dazu Ingarden (1968a), die Briefe: XLII, XLIX, L, LI, LIII, LIV, LXI sowie die zugehörigen Erläuterungen Ingardens. V.d.Hg. statt eine neue.

20

Aus Husserls Briefen an Ingarden scheint hervorzugehen, daß Husserl im Jahre 1931 ein "neues Werk", ein "systematisches Grundwerk der Phänomenologie" zur Publikation vorbereitete, das nicht mit den "Cartesianischen Meditationen" identisch sein sollte. Dazu sowie zu den Recherchen, die Ingarden 1966 im Husserl-Archiv (Louvain) anstellte vgl. Ingardens Erläuterungen zu Husserls Briefen XLVI und XLIX, in: Ingarden (1968a), 165-171. Aus Husserls Sicht vgl. die Einleitung des Hg. zu Husserliana

XV (hrsg. v. I. Kern), Den Haag

1973, XXXIV-LI. 21

V.d.Hg. - Im T y p ^ / T y p g wie auch in der polnischen Ausgabe wird irrtümlicherweise das Jahr 1937 angegeben. Zur Textgeschichte der Krisis-Arbeit vgl. Husserliana

VI (hrsg. v.

W. Biemel), Den Haag 1954, XIII ff. 22

E. Husserl, "Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie.

Eine Einleitung

in die phänomenologische

Philosophie",

Philosophia

Zur Geschichte

der phänomenologischen

7

Bewegung

Phänomenologie. Sie umfaßt also die Zeit von 1930 bis zu Husserls Tode im Jahre 1938. Es ist eine Phase, in welcher - wegen verschiedener Umstände der Einfluß der Phänomenologie sowohl in Deutschland als auch in der übrigen Welt zurückging. Weil Husserl so lange geschwiegen hatte, ging insbesondere auch sein persönlicher Einfluß zurück. Zwar hielt er in den dreißiger Jahren wiederum mehrere Vorträge, u.a. in Prag und in Wien, das Schicksal seiner Phänomenologie war aber schon [seit längerer] 23 Zeit besiegelt. Heidegger einerseits und Hitler andererseits haben Husserl besiegt. Warum dieser Rückgang (des persönlichen Einflusses) stattgefunden hat, will ich später, wenn ich über Husserl selbst noch sprechen werde, genauer darlegen. Husserl ist im April 1938 gestorben. Dann kam der zweite Krieg. Zuvor jedoch, im letzten Moment, sandte der Direktor des Instituts für Philosophie in Louvain, Monseigneur Noël, seinen Schüler Pater H.L. van Breda nach Freiburg, um Husserls Manuskripte zu retten. Husserl, der - wie sie gesehen haben - relativ wenig publiziert hatte, hinterließ viele in Kurzschrift redigierte Handschriften, etwa 30Ό00 Blätter. Dieser große Nachlaß wurde von Husserls Familie an Pater van Breda übergeben, und danach wurden die Manuskripte nach Louvain gebracht. Dort begann zuerst die Arbeit an den Handschriften - um sie zu ordnen, zu transkribieren und schließlich zur Veröffentlichung vorzubereiten. Aber erst seit 1950 begannen die sogenannten Husserliana zu erscheinen (bis heute sind es 11 Bände 2 4 ). Damit wurde auch eine neue Phase in der Geschichte der Phänomenologie eröffnet. Bevor es aber dazu kam, entstand eine merkwürdige Situation. In den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkriege und auch während seines Verlaufs machten sich nämlich in Frankreich neue Einflüsse Husserls und der Phänomenologie überhaupt, insbesondere aber Heideggers, immer stärker bemerkbar. Es sind zu nennen: Jean-Paul Sartre, Jean Wahl, Merleau-Ponty, Gabriel Marcel etc. Es ist der sogenannte Existenzialismus entstanden, den man oft für Phänomenologie hält, der aber in vielen Punkten von Husserl abweicht und unter

1(1936), 77-176. Vollständige Ausgabe mit Berücksichtigung der Nachlaßmanuskripte: Husserliana

VI (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1954.

23

V.d.Hg. statt für längere.

24

Analysen

zur passiven

1926, Husserliana

Synthesis. Aus Vorlesungs-

und Forschungsmanuskripten

1918-

XI (hrsg. v. M. Fleischer), Den Haag 1966 ist der letzte Nachlaßband,

den Ingarden zur Zeit der "Osloer"-Vorlesung (1967) noch konsultieren konnte.

8

Erste

Vorlesung

dem ausgeprägten Einfluß Heideggers steht. Paul Ricoeur, der die Ideen I übersetzt hat 25 , steht Husserl näher. Und seitdem in den letzten Jahren mehrere von Husserls Schriften ins Französische übersetzt wurden, ist sein Einfluß in Frankreich stärker geworden. In derselben Richtung wirken die Husserliana. Es ist die letzte positive Renaissance der persönlichen Wirkung Husserls in der Welt. In vielen anderen Ländern, in Südamerika, sogar in gewissen Kreisen in den USA, beginnt man Husserl wirklich zu studieren. Das aber, was sich in diesen Jahren entwickelt hat - man sieht es auch an der Schriftenreihe Phaenomenologica -, ist weniger eine weitere Phase der Phänomenologie selbst, als vielmehr eine Periode der sich entwickelnden Wissenschaft über die Phänomenologie Husserls. Eine neue Generation von Phänomenologen, die phänomenologische Probleme im Geiste Husserls Selbständig bearbeiten, ist bis heute nicht entstanden. Das vertiefte Studium von Husserls Schriften kann aber dazu führen, daß man wiederum wirksam phänomenologisch philosophieren wird. Was versteht man unter der von Husserl stammenden Phänomenologie? Zunächst und rein formal gewendet versteht man darunter eine besondere Betrachtungsweise philosophischer Probleme und auch eine ganz besondere Technik der sprachlichen Darstellung der Ergebnisse, die man in dieser Behandlungs- oder Betrachtungsweise der Welt gewonnen hat. Kurz gesagt: die phänomenologische Methode. Diese wird natürlich nicht von jedem Menschen, der Phänomenologe geworden ist, im gleichen Sinne gehandhabt. Es sind verschiedene Abwandlungen dieser Methode entstanden - je nach dem Talent und je nach der [Geistesart]26 des betreffenden Phänomenologen. Der Kern dieser Betrachtungsweise aber verbindet uns alle, obwohl wir Phänomenologen über einzelne Behauptungen untereinander streiten. Die Phänomenologie kommt aber auch in einem anderen Sinne in Betracht, nämlich als ein Bestand von Behauptungen oder als ein System von Theorien, die das Ergebnis der phänomenologischen Betrachtungsweise sind. Und da steht an erster Stelle die Husserlsche Phänomenologie als eine Sache für sich, die sich von der Phänomenologie Max Schelers oder von der sogenannten "Münchner-Phänomenologie" (A. Pfänder, M. Geiger, D.v. 25

E. Husserl, Idées directrices coeur, Paris 1950.

26

V.d.Hg. statt Geistigkeit.

pour une phénoménologie,

traduit de l'allemand par P. Ri-

Zur Geschichte der phänomenologischen

9

Bewegung

Hildebrand usw.) oder endlich von der Philosophie Heideggers in verschiedenen wesentlichen Punkten unterscheidet. Es gibt im einzelnen große Differenzen; die Jüngeren sprechen dem Vater der Phänomenologie nicht einfach nach, sondern wollen mit Hilfe seiner Methode weiter vorwärtsgehen, und deswegen kommt es nicht nur einmal zu anderen Ergebnissen, als Husserl sie wünscht. Es gibt keine "Schule". Die Phänomenologen haben auf sehr verschiedenen Gebieten gearbeitet. Bereits der erste Band des Jahrbuches behandelt eine Vielfalt an Themen. Da sind vor allem die Ideen zu einer reinen Phänomenologie

von Husserl.

Im gewissen Sinne geht es dort um Erkenntnistheorie, denn die Ideen I geben eine Analyse des Bewußtseins beim Erkennen verschiedener Gegenständlichkeiten. Dabei wird eine (einheitliche) Problematik bezüglich [einer ganzen

Mannigfaltigkeit

von

Bewußtseinsakten,

-Operationen] 27

usw.

entwickelt. Und auch eine Methodologie der Phänomenologie selbst. Daneben ist ein großes Werk von Max Scheler vorhanden: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik28 - eine Auseinandersetzung mit der formalen Ethik Kants. Dann gibt es eine Abhandlung von Moritz des ästhetischen Genusses29

Geiger: Zur Phänomenologie

- ein Beitrag aus

dem Bereich der Ästhetik. Alexander Pfänder entwickelt eine 30

nomenologie der Gesinnungen

- eine besondere Art der Psychologie. End-

lich stellt Adolf Reinach die Apriorischen Rechts31

Phä-

Grundlagen

des

bürgerlichen

dar - eine Abhandlung aus dem Bereich der Rechtsphilosophie.

Schon im ersten Band also war jene Verschiedenheit der Betrachtungsgegenstände vorhanden, die später für die Phänomenologie charakteristisch ist.

27

V.d.Hg. statt ganzer Mannigfaltigkeiten von Bewußtseinsakten, Operationen.

28

Vgl. oben Anm. 14. M. Geiger, "Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses", Jahrbuch

1(1913),

567-684. 3

® A. Pfänder, "Zur Psychologie der Gesinnungen" (Erster Artikel), Jahrbuch

I (1913), 325-

404. Sonderdruck, Halle a.d.S. 1913, 2 1922. "Zur Psychologie der Gesinnungen" (Zweiter Artikel), Jahrbuch III (1916), 1-125. Sonderdruck, Halle a.d.S. 1916, 2 1930. Buchausgabe beider Artikel: Phänomenologie 3

'

der Gesinnungen,

Darmstadt 1971.

A. Reinach, "Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts", Jahrbuch 685-847. Sonderdruck, Halle a.d.S. 1913. Neudruck: Zur Phänomenologie apriorischen

Grundlagen des bürgerlichen

Rechts, München 1953. Vgl. Sämtliche

hrsg. v. K. Schuhmann/B. Smith, München 1989.

1(1913),

des Rechts.

Die

Werke,

10

Erste

Vorlesung

Ähnlich war es in den späteren Bänden des Jahrbuches und auch in den übrigen phänomenologischen Schriften. Infolgedessen waren verschiedene Forscher an der Phänomenologie interessiert. Wenn man heute über Husserl sprechen will, so darf man nicht vergessen, daß es noch zu früh ist, über Husserls Philosophie [als Ganzes] 3 2 zu sprechen, vor allem deswegen, weil ein großer Teil des Husserlschen Nachlasses noch nicht publiziert worden ist. [Zudem gibt es in der Entwicklungsund Wirkungsgeschichte der Husserlschen Philosophie drei verschiedene Aspekte.] 33 Der erste Aspekt ist die Philosophie Husserls, wie sie sich nach den Schriften, die er selbst publiziert hat, darstellt. Da haben wir folgende Werke und Daten: Im Jahre 1891 ist die Philosophie der Arithmetik, Bd. I erschienen. 34 Ein zweiter Band sollte folgen, aber Husserl hat sowohl die Ergebnisse als auch die Methode dieses Buches verworfen. 1900/01: Logische

Untersuchungen.

Zwischen der Arithmetik

und die-

sem Werk sind also 10 Jahre vergangen, in welchen Husserl zu Hause gearbeitet und nur kleine kritische Artikel veröffentlicht hat. Bis heute weiß man nicht genau, was er in diesen zehn Jahren trieb. Die Manuskripte sind zum Teil nicht vorhanden, zum Teil noch nicht entziffert. Wir wissen [bloß] 35 , daß er sich von den Problemen der Philosophie der Arithmetik

ζμ-

rückgezogen und sich viel mit logischen Schriften der damaligen Zeit beschäftigt hat. Schröders Algebra der Logik36 gegenüber war er sehr kritisch eingestellt und erarbeitete zugleich eine Kritik der psychologistischen Logik. Er suchte einen [gangbaren] 37 Weg zur philosophischen Begründung der Logik. Die Frucht dieser Jahre sind die Logischen

Untersuchungen.

Aber

dann schwieg Husserl wiederum mehr als zehn Jahre, die durch eine sehr

32 33

V.d.Hg. statt synthetisch. V.d.Hg. statt Es gibt zudem in der Geschichte drei verschiedene Aspekte in der Husserlschen Philosophie bzw. der Husserlschen Wirksamkeit.

34

E. Husserl, Philosophie

der Arithmetik.

ster Band, Halle a.d.S. 1891. Husserliana 35

Psychologische

und logische Untersuchungen.

Er-

XII (hrsg. v. L. Eley), Den Haag 1970.

V.d.Hg. statt bloß] ungefähr. E. Schröder, Vorlesungen

über die Algebra der Logik (Exakte Logik), Efd. I, Leipzig 1890;

II/l Leipzig 1891 (IL/2 Leipzig 1905); III/l Leipzig 1895; Bd. I-III, hrsg. v. E. Müller, New York 2 1966. 37

V.d.Hg. statt genauen.

Zur Geschichte der phänomenologischen

11

Bewegung

intensive Arbeit an verschiedenen Problemen ausgefüllt waren. Er suchte jetzt nach einem Wege, die Philosophie überhaupt zu begründen. 1911 erschien ein kleiner Artikel in der Zeitschrift Logos·. "Philosophie als

strenge

Wissenschaft" 38 .

Da

tritt

zum

ersten

Mal

das

'Phänomenologie' auf, denn in der ersten Auflage der Logischen

Wort

Untersu-

chungen nennt er seine Philosophie "deskriptive Psychologie" (Brentano). Diese kleine Schrift ist das erste Ergebnis eines ganzen Jahrzehntes der Suche nach einer neuen Philosophie. Dann kommt das Jahr 1913, in welchem die Ideen zu einer Phänomenologie

und phänomenologischen

Philosophie.

gemeine Einführung in die reine Phänomenologie

reinen

Erstes Buch. All-

erschienen sind und die

einen wesentlichen Teil Husserlscher Arbeiten seit 1901 enthalten. Im Manuskript gab es noch zwei weitere Bände, die Edith Stein als Assistentin Husserls, später während des Krieges, zum Druck vorbereitete und ihm im Jahre 1918 vorgelegt hat. Husserl war aber mit dieser Redaktion nicht zufrieden. Wahrscheinlich, weil er inzwischen große Fortschritte in der Analyse des ursprünglichen Zeitbewußtseins und in (der Analyse) der konstitutiven Problematik gemacht hat und dabei auch immer mehr in seinen idealistischen Tendenzen bestärkt wurde. 39 Er hat später den Text seinem

38

E. Husserl, "Philosophie als strenge Wissenschaft", Logos I (1910/11), 289-340. Husserliana XXV (hrsg. v. Th. Nenon/H.R. Sepp), Den Haag 1987, 3-62.

39

Ingarden deutet hier zwei Hauptgrunde an, die aus seiner Sicht eine schnelle Publikation der "Ideen II" vorerst zumindest verzögert haben könnten: Husserls Fortschritte in der Analyse des ursprünglichen Zeitbewußtseins und die im Zusammenhang mit Analysen zur konstitutiven Problematik wachsenden idealistischen Tendenzen Husserls. Zum ersten Grund vgl. Ingardens Mitteilungen zu seinen Gesprächen mit Husserl über die Zeitthematik in: Ingarden (1968a), 121 ff. Zum zweiten Grund: Im SS 1912 hörte Ingarden in Göttingen Husserls Vorlesung "Natur und Geist". Diese Vorlesung wollte Husserl offenbar auch bei der Publikation der "Ideen II" berücksichtigen (vgl. Ingarden (1968a), 109). Ingarden schreibt dazu: "Wichtig ... ist, daß diese Vorlesung [sc. 'Natur und Geist'] die Probleme der 'Ideen II' behandelte, und zwar in einem Geiste, wie dies aus der späteren Ausarbeitung von Edith Stein hervorgeht, der, kurz gesagt, einen starken realistischen Anstrich an sich hatte. Diese Tatsache erklärt, wie es möglich war, daß manche Betrachtungen, die der im Jahre 1913 erschienene Text der 'Ideen Γ enthielt, für die Schüler Husserls eine gewisse Überraschung bildeten." (Ingarden (1968a), 109) Die Überraschung, auf die Ingarden hier anspielt, bezieht sich auf die "idealistischen Tendenzen" der "Ideen I", die manche von Husserls Göttinger-Schüler (anläßlich von Husserls Seminar in WS 1913/14, wo die "Ideen I"

12

Erste

Vorlesung

anderen Assistenten, Ludwig Landgrebe, übergeben, der eine zweite Redaktion vorbereitete. Diese aber hat Husserl ebenfalls nicht anerkannt, so daß die beiden weiteren Teile der Ideen bis zu seinem Tode im Manuskript liegengeblieben sind. 40 Dann kommt das Jahr 1929/30: Die Formale und transzendentale und die Méditations

Cartésiennes.

Logik

Die Logik umfaßt etwa 250 Seiten, Mé-

ditations Cartésiennes ist ein kleineres Werk; beide zeigen aber eine bedeutende Wandlung zum transzendentalen Idealismus. In diesen Büchern [hat sich Husserl endgültig] 41 für den Idealismus entschieden. Das letzte Datum ist [1936] 42 . In diesem Jahr erschien der erste Teil des Buches Die Krisis der europäischen Phänomenologie

Wissenschaften und die

transzendentale

- etwa 100 Seiten, der Rest war noch nicht fertig. Husserl

ist im Sommer 1937 schwer erkrankt und hat sich von dieser Krankheit nicht mehr erholt. Diejenigen, die nicht in Göttingen und später auch nicht in Freiburg waren, hatten sich ihr Bild von der Philosophie Husserls auf Grund der genannten Schriften gemacht. Man kann auf Grund dieser Texte eine Geschichte des Husserlschen Denkens schreiben, das - im Ausland, an anderen Universitäten usw. - historisch in dieser Form tatsächlich gewirkt hat.

paragraphenweise durchdiskutiert wurden) kritisierten (vgl. Ingarden (1968a), 113). Vor diesem Hintergrund wird Ingardens "zweiter Grund" verständlich. Offenbar supponiert Ingarden hier, daß Husserl nach Erscheinen der "Ideen I" nicht über Analysen zur konstitutiven Problematik verfügte, welche seinen "wachsenden idealistischen Tendenzen" genügten. Jene Analysen, die Husserl in der Vorlesung "Natur und Geist" (SS 1913) vortrug, hatten gemäß Ingarden jedenfalls einen "stark realistischen Anstrich" und konnten so, wie Ingarden supponiert, nicht für eine schnelle Publikation der "Ideen II" verwendet werden. Vgl. dazu besonders auch Ingarden (1964b), 372, Anm. 15; 386, Anm. 21 sowie Husserliana IV (hrsg. v. M. Biemel), Den Haag 1952, Einleitung des Hg. XV ff. und K. Schuhmann, Die Dialektik der Phänomenologie sche Philosophie.

Historisch-Analytische

II. Reine Phänomenologie Monographie

über Husserls

und

phänomenologi-

"Ideen I", Den Haag,

1973, 101 ff. 40

Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie phie. Zweites Buch. Phänomenologische

Untersuchungen

und phänomenologischen zur Konstitution,

(hrsg. v. M. Biemel), Den Haag 1952. Drittes Buch. Die Phänomenologie damente der Wissenschaften,

Husserliana

4

V.d.Hg. statt ist schon alles.

42

V.d.Hg. - Vgl. oben die Anm. 21 und 22.

'

Philoso-

Husserliana

IV

und die Fun-

V (hrsg. v. M. Biemel), Den Haag 1952.

Zur Geschichte der phänomenologischen

13

Bewegung

Der zweite Aspekt seiner Philosophie wird sichtbar, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, daß Husserl während ungefähr 35 Jahren ständig an der Universität gelesen und in seinen Vorlesungen seine eigene Philosophie vorgetragen hat. Er hielt zwei verschiedene Typen von Vorlesungen. Einerseits gab es die sogenannten "großen", 4-stündigen Vorlesungen, welche für das weite Publikum bestimmt waren, also z.B. "Geschichte der Philosophie", "Kant", "Der deutsche Idealismus" usw. Dabei handelte es sich im Grunde um Mitteilung des aus der philosophischen Literatur angeeigneten Wissens. Da sprach Husserl nicht so sehr als Philosoph, sondern mehr als Gelehrter. Es gab aber noch andere Vorlesungen, nämlich die

sogenannten

"kleinen", 2-stündigen Vorlesungen, Mittwoch und Samstag jeweils von 12 bis 13 Uhr. Da sprach er nie von anderen Philosophen, trug immer eigene Gedanken vor, und zwar über Probleme, an denen er gerade selbst gearbeitet hat: z.B. "Einleitung in die Phänomenologie", "Grundprobleme der Phänomenologie", "Ausgewählte Probleme der Ethik" usw. Die oft wiederholte Vorlesung über die Logik war 4-stündig, sie war aber ebenfalls für Spezialisten gedacht. Und z.B. im Sommersemester 1912, als ich nach Göttingen kam, hat er gerade über Sachen Vorlesungen gehalten, die er später zwar nie publiziert hat, die aber den zweiten Band der Ideen bilden sollten. 43 Endlich gab es bei Husserl Seminarübungen, in denen er öfters einen Klassiker zum Grundtext genommen hat - hauptsächlich Descartes, Berkeley, Hume und Kant. Es ging aber um keine richtige Textanalyse [und] 44 geschichtliche Beleuchtung der Lehre des betreffenden Philosophen, sondern vor allem um eine phänomenologische Analyse der Probleme und Tatbestände, die im gelesenen Grundtext angedeutet waren. Es war Phänomenologie am Rande fremder Gedankengänge. Manchmal gab es da sehr weitgehende phänomenologische Analysen, die ebenfalls in das Gebiet der von Husserl selbst bearbeiteten Probleme führten. Besonders in den Jahren zwischen 1920 und 1930 war Husserl außerordentlich schöpferisch und hat in dieser Zeit verschiedene Sachen vorgetragen, die bis heute nur in den Notizen der Zuhörer existieren. Diese (in den Seminarübungen gegebenen phänomenologischen Analysen) haben aber auch gewirkt - und zwar auf eine 43

Vgl. Husserliana

IV (hrsg. v. M. Biemel), Den Haag 1952, Einleitung des Hg. (zur Text-

geschichte der "Ideen II") sowie oben Anm. 39. 44

V.d.Hg. statt und] Schule der.

14

Erste

Vorlesung

Reihe von Generationen der damaligen Studentenschaft, deren Hauptvertreter sich zu selbständigen Philosophen (in Deutschland und in anderen Ländern) herausgebildet haben. Diese "kleinen" Vorlesungen sowie auch die Seminare waren für Husserl (ein Ort für) gewisse Gedankenexperimente. Er hat irgend etwas ausgearbeitet, und dann hat er es vorgetragen; das Vorgetragene war aber noch nicht ganz klar, nicht fertig. Er hat einmal gesagt, daß er das Meiste von seinen Schülern in den philosophischen Anfangsübungen gelernt habe. Bei ihnen lerne man ja oft erst, wie man alles sagen müsse, damit der Andere es richtig verstehe. Und Husserl hat öfters mehrmals "dieselben" Vorlesungen gehalten, aber immer in etwas veränderter, weiter entwickelter, mehr ausgefeilter Redaktion. Er hat auch oft verschiedene Wege gesucht, um denselben Problemkomplex auf eine tiefere Weise zu behandeln. Die Schriften und die mündlich vorgetragenen Lehren ergeben in ihrer Entwicklung und ihrer tatsächlichen Wirkung den zweiten Aspekt der Husserlschen Philosophie. Ich habe leider bloß vom Frühjahr 1912 bis zum Ausbruch des ersten Krieges und auch im Sommer 1915 in Göttingen Seminare mitgemacht und Vorlesungen gehört, später noch im Jahre 1916 in Freiburg. In Freiburg hatte ich zudem vor allem an der Doktorarbeit geschrieben und habe somit nicht alle Vorlesungen besucht. 45 Im Jahre 1916 habe ich aber mit Husserl fast täglich gesprochen; ich war gewöhnlich nach dem Abendessen bis spät in die Nacht bei ihm, und da habe ich Einsicht in die Probleme gewonnen, an denen Husserl damals gerade arbeitete. 46 Schließlich noch zum dritten Aspekt der Entwicklung und Wirkung der Husserlschen Phänomenologie, nämlich zu den Manuskripten, an denen Husserl etwa während 40 Jahren täglich, mit nur kleinen Unterbrechungen, arbeitete. Husserl hat z.B. [umfangreiche] 47 Untersuchungen über die Zeit durchgeführt und ihre verschiedenen Aspekte aufgedeckt. Untersuchungen

45

Über die Vorlesungen und Seminare, die Ingarden bei Husserl gehört bzw. besucht hat, informiert Ingarden (1968a), 106 ff.; für eine Übersicht über Husserls Lehrtätigkeit vgl. R. Bemet/I.Kern/E. Marbach, Edmund Husserl. Darstellung

seines Denkens,

Hamburg 1989,

217-224. 46

Über den Inhalt dieser "philosophischen Nachtgespräche" informiert Ingarden (1968a),

47

V.d.Hg. statt ungeheure.

121-132.

Zur Geschichte der phänomenologischen

15

Bewegung

über die [konstituierte, sogenannt erfüllte] 4 8 Zeit, über die ursprüngliche Zeit, über die Probleme des zeitkonstituierenden Bewußtseins usw. (Das sind alles Termini, die ich später erklären werde.) Einige Bruchteile von diesen Untersuchungen über die Zeit aus den Jahren 1905/06 sind erst 1928 publiziert worden. 4 9 Das hat ebenfalls Edith Stein zum Druck vorbereitet. Ich habe diese Betrachtungen in der Steinschen Redaktion im Jahre 1927, als ich Husserl besuchte, gelesen. 5 0 Durch mich hat Heidegger von ihnen erfahren. 51 Und Heidegger hat diese Zeitbetrachtung dann im Jahre 1928 publiziert. Es handelt sich um die sogenannten Vorlesungen zur des inneren

Phänomenologie

Zeitbewußtseins,52

Auch um das Jahr 1918 hat Husserl ungefähr während zweier Jahre über die Zeit gearbeitet, und zwar wahrscheinlich ein wenig im Zusammenhang mit meiner Dissertation über die Bergsonsche Philosophie. Ich habe die in Bernau entstandenen Manuskripte im Jahre 1927 gesehen; es war ein großer Stoß von Handschriften - sie sind aber bis heute noch nicht publiziert worden. 5 3 Dann gibt es z.B. umfangreiche Untersuchungen aus den Jahren 1908/09 über den Raum und über das Ding. 5 4 Weiter, viel Zeit beanspruchende

48

V.d.Hg. statt sogenannte konstituierte erfüllte.

49

Zur Textgeschichte vgl. Husserliana

X (hrsg. v. R. Boehm), Den Haag 1966, Einleitung des

Hg50 5

'

Vgl. Ingarden( 1968a), 152-158. Vermutlich während des Aufenthaltes in Freiburg im Herbst 1927, wo Ingarden auch mit Heidegger zusammentraf, vgl. Ingarden (1968a), 157-158.

52

E. Husserl, "Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins", hrsg. v. M. Heidegger, Jahrbuch

IX (1928), 367-498. Sonderdruck, Halle a.d.S 1928. Husserliana

X

(hrsg. v. R. Boehm), Den Haag 1966. 53

Dies ist auch 1989/90 noch der Fall.

54

Ingarden irrt sich. Die sogenannte "Dingvorlesung" hat Husserl im SS 1907 im Rahmen seiner vierstündigen Vorlesung "Hauptstücke aus der Phänomenologie und Kritik der Vernunft" gehalten, vgl. E. Husserl, Ding und Raum. Vorlesung 1907, Husserliana v. U. Claesges), Den Haag 1973. Demgegenüber hat Husserl im WS

XVI (hrsg. 1908/9 über

"Grundfragen der Ethik" und "Alte und neue Logik" Vorlesungen gehalten (vgl. R. Bernet/I.Kern/E. Marbach, Edmund Husserl. Darstellung 219 f.).

seines Denkens,

Hamburg 1989,

16

Erste

Vorlesung

Überlegungen über die sogenannte "Erste Philosophie", welche bereits in zwei Bänden publiziert worden sind. 55 An Hand dieser etwa 30'000 Blätter zählenden handschriftlichen Manuskripte kann man sich nunmehr über [den wahren Verlauf von Husserls Denken] 5 6 orientieren. Erst wenn man alle diese Manuskripte kennen und sie mit seinen veröffentlichten Büchern vergleichen würde und man zudem noch den konkreten Gehalt von Husserls Vorlesungen seit 1901 kennen würde, erst dann könnte entwickelt hat.

57

man sagen, wie sich Husserls Denken wirklich

Aber darauf werden wir noch viele Jahre warten müssen.

Denn in den bisher publizierten Bänden der Husserliana ist nur ein Teil seiner Manuskripte zugänglich gemacht worden. Wer Husserl als Philosoph war, kann man also erst nach der Publikation der restlichen Manuskripte erkennen. Und man kann erst dann [seine Philosophie als Ganzes sachlichsystematisch und historisch bearbeiten] 58 . Alles, was ich über Husserl hier sagen werde, ist natürlich nur ein Bruchteil dessen, was man auf Grund der Lektüre zunächst seiner Schriften (der von ihm selbst publizierten und der [ I I ] 5 9 Bände, die nach dem Kriege erschienen sind) sagen könnte. Manchmal werde ich auch einige Gespräche berücksichtigen, die ich mit Husserl seit dem Jahre 1912/13 zu verschiedenen Zeiten geführt habe. Um aber [der Phänomenologie auf die Spur] 6 0 zu kommen, muß man sich in die geistige Situation und in die Strömungen, aus der sie als ein gewisser Protest entstanden ist, zurückversetzen.

55

E. Husserl, Erste Philosophie

(1923/24).

Erster Teil. Kritische

liana VII (hrsg. v. R. Boehm), Den Haag 1956; Erste Philosophie Theorie der phänomenologischen

Reduktion,

Husserliana

Ideengeschichte,

Husser-

(1923/24). Zweiter

Teil.

VIII (hrsg. v. R. Boehm), Den

Haag 1959. 56

V.d.Hg. statt die wirkliche Geschichte des Gedankens Husserls.

57

Vgl. dazu Ingarden (1968a), 118, Anm., wo Ingarden die in (1976b) gegebene (historische) Rekonstruktion in gewissem Sinne relativiert. Tatsächlich geht Ingarden (1976b) zurück auf das Jahr 1939, wurde im wesentlichen also zu einem Zeitpunkt abgefaßt, als Ingarden die ab 1950 erscheinenden Husserliana-Bände noch nicht zur Kenntnis nehmen konnte.

58

V.d.Hg. statt seinen Gedankengang gut synthetisch bearbeiten, sachlich, systematisch und historisch.

59

V.d.Hg. - Im T y p ^ / T y p g wie auch in der polnischen Ausgabe werden irrtümlicherweise 12 Bände gezählt, vgl. oben Anm. 24.

60

V.d.Hg. statt auf die Phänomenologie.

Zur Geschichte der phänomenologischen

17

Bewegung

Wie ich bereits gesagt habe, hat sich bei Husserl in der Zeit zwischen der Philosophie der Arithmetik und den Logischen Untersuchungen eine radikale Wandlung des Standpunktes vollzogen. Es war [für Husserl eine kritische Zeit] 61 . Die Philosophie der Arithmetik ist ein Ergebnis der Weise, wie Husserl sich zum Philosophen ausbildete. Er war in Mähren geboren und ging als Student nach Berlin, wo er Mathematik studierte. Natürlich hat er auch Philosophie studiert, aber er war Spezialist in der Mathematik, und zwar Schüler von Weierstraß. Variationsrechnung war das Thema seiner Dissertation. Das waren also ganz spezielle Sachen. Von Geburt Österreicher ist er nach den Studienjahren nach Wien zurückgekehrt. Was er dort tat, davon wissen wir recht wenig. Eine Legende erzählt, daß er eines Tages zu einem Vortrag von Franz Brentano gegangen sei und [dieser] 62 habe einen solchen Eindruck auf ihn gemacht, daß er sich von da ab unter starkem Einfluß von Franz Brentano in die Philosophie hineingearbeitet habe. Brentano war, wie Sie vielleicht wissen, zunächst Franziskaner-Pater und an metaphysischen Fragen, am Gottesproblem usw. interessiert. Nach dem Vatikan-Konzil im Jahre 1870 ist er aus dem Orden ausgetreten, blieb aber weiterhin Priester. 63 Er widmete sich ganz der Philosophie und hat sich insbesondere mit den Anschauungen von J.St. Mill bekannt gemacht. Im Jahre 1874 hat er die Psychologie

vom empirischen

Standpunkt,

Band T64

65

veröffentlicht. (Der zweite Band ist nicht erschienen. ) Das Buch war im Geiste der Zeit geschrieben. In diesen Jahren nämlich ist die Philosophie des 6

V.d.Hg. statt eine Krise für Husserl.

62

V.d.Hg. statt das.

'

63

Ingarden irrt sich gleich zweimal. Zutreffend ist, daß Brentano kurze Zeit, nämlich im Herbst 1862, im Dominikaner-Kloster in Graz weilte. Am 6. August 1864 wurde er dann zum katholischen Priester geweiht, trat aber nie irgendeinem Orden bei. Außerdem hat Brentano 1873 das geistliche Gewand abgelegt. Vgl. O. Kraus, Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre, München 1919, 8; 9, Anm.

64

F. Brentano, Psychologie chologie

vom empirischen

vom empirischen Standpunkt.

Zweiter Band. Von der Klassifikation

Standpunkt.

Erster Band, Leipzig 1874. Psy-

Erster Band, hrsg. ν. O Kraus, Hamburg 1973;

der psychischen

burg 1971; Dritter Band. Vom sinnlichen

Phänomene,

und noetischen

hrsg. v. O. Kraus, Ham-

Bewußtsein,

hrsg. v. O. Kraus,

Hamburg 1974. 65

Diese Behauptung ist nicht zutreffend. Vgl. das Vorwort d. Hg. zu F. Brentano, Psychologie XIII.

vom empirischen

Standpunkt.

Erster Band, hrsg. v. O. Kraus, Hamburg 1973,

18

Erste Vorlesung

Deutschen Idealismus und damit die damalige Philosophie überhaupt in gewissem Sinne zusammengebrochen, die Naturwissenschaft aber siegreich geblieben. Es schien, daß es keine Philosophie mehr geben würde. Abgesehen von den Historikern der Philosophie und von einigen Philosophen, wie z.B. Hermann Lotze, haben sich einige philosophisch interessierte Naturwissenschaftler wie Th. Fechner, W. Wundt, Helmholtz der Psychologie zugewandt. Man wollte ein von der Naturwissenschaft noch unbeherrschtes Gebiet bearbeiten und zwar mit Hilfe [naturwissenschaflicher, insbesondere experimenteller Methoden] 66 . Im Jahre 1860 ist dann das erste Buch dieser Forschungsrichtung erschienen: Die Elemente der Psychophysik67 von Th. Fechner, eine Grundlegung der empirischen, experimentellen Psychologie. Merkwürdigerweise steckt dahinter ein metaphysisches Problem, nämlich die Beziehung zwischen Materie und Geist, [das] 68 man auf empirische und experimentelle Weise zu lösen suchte. Wo glaubte man diese Beziehung realisiert zu finden? An den Stellen, wo der Mensch mit der äußeren Welt in Kontakt kommt, wo also die äußeren Reize bzw. die physikalischen Vorgänge auf die Sinne einwirken. Es setzte also die experimentelle Untersuchung ein, und man beschäftigte sich während Jahrzehnten mit den sinnlichen Empfindungsdaten und ihrer Beziehung zu äußeren Reizen. Diese neue Psychologie wurde von Naturwissenschaftlern geschaffen. Fechner war Physiker, Wilhelm Wundt, der das erste psychologische Institut in Leipzig (im Jahre [1879]69) gegründet hat, war ursprünglich Physiologe. Ernst Mach war auch Physiker und hat auch eine besondere Psychologie ausgebildet. Sein Hauptwerk trägt den Titel: Analyse der

Empfindungen70,

und das erste Kapitel lautet: "Antimetaphysische Vorbemerkungen". Ganz deutlich werden da philosophische Probleme behandelt, und trotzdem ist es Psychologie. Obwohl sie alle überzeugte Psychologen waren, haben sowohl Fechner als auch Wundt und Mach philosophische Probleme behandelt. Und 66

V.d.Hg. statt der naturwissenschaftlichen Erfahrungsmethode und insbesondere der experimentellen Methode.

67

G. Th. Fechner, Elemente der Psychophysik. 2 Teile, Leipzig 1860, ^ 1907.

68

V.d.Hg. statt die.

69

V.d.Hg. statt 1875. E. Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886; Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 9 1922 (Änderung des Titels ab der fünften Auflage). Neudruck: Darmstadt 1987.

Zur Geschichte der phänomenologischen

einer der bedeutendsten

Bewegung

Psychologen, der sich mit den

19

sogenannten

"Empfindungen" beschäftigte, war ja Helmoltz, der große Physiker jener Zeit. Das ist die eine Seite der neuen Psychologie, die nicht bloß streng empirisch, sondern auch antimetaphysisch ist und einen Versuch darstellt, mathematisch faßbare, strenge Gesetze auf dem Gebiete der Psychophysik aufzustellen. Brentano ist im Jahre 1874 ebenfalls gegen die Metaphysik eingestellt. Aber er will auch keine experimentelle, sondern eine rein deskriptive Psychologie betreiben; er unternimmt den Versuch der Beschreibung des Psychischen, d.h. (nach ihm) des Bewußtseins. Denn unbewußte psychische Vorgänge - das ist für Brentano ein Widerspruch. Nach Brentano soll diese deskriptive Psychologie aber die philosophische Grundwissenschaft sein. Alle anderen philosophischen Disziplinen sollen auf sie gegründet werden. Z.B. sollen die Ethik, die Ästhetik usw. zunächst psychologisch behandelt werden, d.h. die Psychologie soll für diese die letzten Grundlagen in den genau zu beschreibenden Erlebnissen suchen. Die Psychologie als philosophische Grundwissenschaft wirft aber einen Schatten auf die übrigen philosophischen Disziplinen, insbesondere auf die Logik. Dieser Schatten ist nicht mehr Psychologie, sondern eine psychologistische Philosophie. Nun sehen Sie den Hintergrund von Husserls Philosophie der

Arithmetik.

Husserl ist Mathematiker, ist an den Gegenständen der Mathematik interessiert, aber die Weise, wie er das tut, ist von der deskriptiven Psychologie Brentanos übernommen. Es läßt sich zwar zeigen, daß er schon damals in seiner Methode etwas über Brentano hinausgegangen ist. Erste Spuren einer neuen Betrachtungsweise sind vorhanden, aber ihrer Differenz zu Brentanos deskriptiver Psychologie war sich Husserl nicht bewußt, und deshalb hielt er die eigene Arbeitsweise für eine psychologische Beschreibung. Jedenfalls werden die Gegenständlichkeiten der Mathematik, insbesondere der Arithmetik, also Zahlen, Mannigfaltigkeiten usw. [deskriptiv als psychische Gebilde oder psychische Erscheinungen behandelt] 7 1 .

7

'

V.d.Hg. statt als psychische Gebilde oder psychische Erscheinungen deskriptiv behandelt.

20

Erste Vorlesung

Die Philosophie der Arithmetik war auf zwei Bände geplant, der zweite Band aber ist nicht erschienen. Gottlob Frege hat ebenfalls über die Grundbegriffe der Arithmetik gearbeitet und eine negative Rezension der Philosophie der Arithmetik geschrieben. 72 Er warf Husserl vor allem die psychologische Behandlung der mathematischen Gebilde vor. Diese Rezension mußte Husserl beeindruckt haben. Ich glaube aber, daß dies nicht ausgereicht hat, Husserl einen neuen Forschungsweg zu zeigen. Diesen Weg mußte Husserl selbst finden. Und auch die kritischen Argumente gegen den Psychologismus in der Logik hat er nicht von Frege übernommen, sondern selbst gefunden. In jener Zeit gab es schon eine Reihe von Werken der algebraischen Logik. Husserl hatte in den 90-er Jahren einige von ihnen gelesen und rezensiert 73 , u.a. Schröders Algebra der Logik. Und merkwürdigerweise hat er, der doch von Hause aus Mathematiker war (!), die algebraische Logik nicht angenommen. Und zwar lehnte er sie nicht in den Ergebnissen ab - denn das ist eine andere Sache -, sondern in der Methode. Die Forscher, die die algebraische Logik auszubilden angefangen haben, waren überzeugt, daß sie die beste Weise .der Behandlung der logischen Probleme sei. Man macht ja formale, deduktive Systeme bis heute. Husserl sagte: "Ja, sehr schön - aber es hilft mir nicht zu verstehen, was eigentlich die logischen Gebilde sind. Es ist mir zu wenig". Es waren schön geschriebene Systeme, jedoch auf Konventionen gestützt, und das war für Husserl keine Lösung. Er suchte also weiter. Und da gab es einen ganz vergessenen Philosophen, nämlich Bernhard Bolzano, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Böhmen, genauer in Prag, lebte. Er hatte irgendwelche Konflikte mit der Kirche, so daß man verboten hat, seine Werke zu publizieren. (Er war Priester.) Trotzdem haben seine Freunde ein Buch von ihm veröffentlicht, nämlich die sogenannte Wissenschaftslehre74, ein vierbändiges Werk.

72

In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische

Kritik, 103(1894), 313-332. Vgl. G.

Frege, Kleine Schriften, hrsg. v. I. Angelelli, Darmstadt 1967, 179-192. 73

Vgl. dazu: E. Husserl, Aufsätze und Rezensionen (1890-1910), Husserliana XXII (hrsg. v. B. Rang), Den Haag 1979.

74

B. Bolzano, Wissenschaftslehre. Versuch einer ausführlichen und größtenteils neuen Darstellung der Logik mit steter Rücksicht auf deren bisherige Bearbeiter, hrsg. v. Freunden des Philosophen, Sulzbach 1837. Gesamtausgabe 1 Schriften, Wissenschaftslehre Bd. 11-

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

21

Es enthält vor allem eine Behandlung von verschiedenen logischen Gebilden wie Begriffe, Sätze, Schlüsse, Zusammenhänge von Sätzen, Theorien. Und all dies wird nicht auf psychologische und auch nicht auf empirische Weise gemacht. Es handelt sich um die Renaissance oder vielmehr die Geburt eines [neuartig aufgefaßten Apriori] 75 , und zwar eines Apriori, das Kant vielleicht im Sinne hatte. Kant aber hat seine Theorie des Apriori mit verschiedenen im Grunde metaphysischen Voraussetzungen über die apriorischen Kategorien und über die apriorischen Anschauungsformen belastet, die so etwas wie eine Wand zwischen uns und der Welt bilden. Dieser ganze Begriffsapparat der Kritik der reinen Vernunft muß fallen gelassen werden, aber am richtigen Kern der Auffassung, daß es eine von der "Erfahrung" verschiedene Erkenntnisweise gibt, welche die Mathematik ermöglicht, muß man festhalten. Tatsächlich hat weder Bolzano noch später Husserl die Kantische Theorie der Kategorien

als notwendiger

"Verstandesbegriffe"

übernommen. Leider aber hat Husserl wie vor ihm Bolzano das Wort 'a priori' beibehalten. Hierin liegt der Grund der großen Mißverständnisse, die bis heute zu schweren Vorwürfen gegenüber der Phänomenologie Husserls führen. Bolzanos positive Lehre über Begriffe, über Sätze, d.h. über "Begriff an sich", "Satz an sich" usw. war das Entscheidende und überzeugte Husserl davon, daß man die logischen Probleme anders behandeln muß. Zunächst wollte er sich aber noch einmal davon überzeugen, daß der Psychologismus auf dem logischen Gebiete unhaltbar, ja falsch ist. Und deswegen enthält der erste Band der Logischen Untersuchungen eine kritische Auseinandersetzung mit der Position des logischen Psychologismus eine Auseinandersetzung, die in der finalen Idee der reinen Logik als einer apriorischen Wissenschaft [von] 76 Theorie (überhaupt) mündet. Husserls sachliche Kritik am Psychologismus geht über jene von Frege weit hinaus. Auch die Idee der reinen Logik als einer apriorischen Wissenschaftstheorie geht über das hinaus, was man bei Frege finden kann. Dieser erste Band wurde in Deutschland denn auch mit großem Beifall aufgenommen.

14, hrsg., v. J. Berg, Stuttgart 1985 ff. [letzter Teilband 13/1, Stuttgart 1989]. Vgl. auch Grundlegung der Logik (Wissenschaftlehre ¡/II), hrsg. v. F. Kambartel, Hamburg 1963. V.d.Hg. statt neuen a priori. 76

V.d.Hg. statt von] der.

22

Erste

Vorlesung

Ein Jahr später erschien der zweite Band der Logischen

Untersuchungen.

Er enthält sechs verschiedene Abhandlungen, die lose zusammenhängen. Alle Leser haben erwartet: Jetzt kommt die Logik, Husserls philosophische (nicht-mathematische) Logik. Denn der erste Band trug den Untertitel: "Prolegomena zur reinen Logik". Es gab aber eine Überraschung: Man hat im zweiten Bande keine "Logik", sondern verschiedene andere Sachen gefunden. Den Hauptteil des zweiten Bandes bilden die fünfte und sechste Untersuchung: eine Analyse der intentionalen Akte, des intentionalen Bewußtseins, und zwar in doppelter Form. Die fünfte Untersuchung behandelt die sogenannten "signitiven" Akte, also die reinen Denkakte, das unanschauliche Denken, so wie die Klärung des Begriffes des Sinnes bzw. der Bedeutung. Die sechste dagegen behandelt die sogenannte "Erfüllung" der (Bedeutungs-)Intention [in den verschiedenen Arten intuitiver Akte] 77 . Also eine Ausarbeitung des in sehr weitem Sinne genommenen Begriffes der Erfahrung oder der Intuition, aber nicht im Bergsonschen, sondern eher im Kartesianischen Sinne. Die beiden Untersuchungen zusammen geben eine Abgrenzung der Sphäre des Logischen. Wie gewinnt aber Husserl diese Ergebnisse? Auf dem Wege einer minutiösen Analyse der intentionalen Akte, der Meinungen, der sogenannten signitiven Akte. Husserl erzählte mir einmal: "Wissen Sie, welche Reaktion es auf das Werk gab? - Rückfall in den Psychologismus!, hat man gesagt". Daran allerdings war Husserl teilweise selbst schuld. Denn in der Einleitung zum zweiten Band der Logischen Untersuchungen nennt er seine eigene Weise der Behandlung dieser Probleme "deskriptive Psychologie", gemäß Brentano. Er wußte nicht, daß er etwas anderes gemacht hatte. Einige Jahre später versuchte er dies zu korrigieren. Aber erst im Jahre 1911 78 sagte er: Das ist keine Psychologie - das ist eben "Phänomenologie". Im zweiten Band der 77

V.d.Hg. statt in einer solchen oder einer anderen unmittelbaren Erfahrung der anschaulichen Erkenntnis. Ingarden bezieht sich wohl auf Husserls "Philosophie als strenge Wissenschaft", vgl. oben Anm. 38. Husserl hat die "nötigen Klarstellungen" (Logos I (1910/11), 318, Anm. 1) aber bereits in seinem "Bericht über deutsche Schriften zur Logik in den Jahren 1895-99", Archiv für systematische

Philosophie

IX ( 1903), 397-400 öffentlich vorgetragen. Vgl. Husser-

liana XXII (hrsg v. B. Rang), Den Haag 1979, 204-207. Besonders: "Daher ist die Phänomenologie nicht ohne weiteres als 'deskriptive Psychologie' zu bezeichnen. Sie ist es nicht im strengen und eigentlichen Sinn" (206).

Zur Geschichte der phänomenologischen

23

Bewegung

Logischen Untersuchungen waren Analysen enthalten, die uns ad oculos gezeigt haben, wie man das Bewußtsein analysieren soll. Nicht auf jene Weise, die früher üblich war, als man versuchte, das komplexe Bewußtsein auf Elemente zurückzuführen, - nicht so, wie es z.B. bei John Locke gemacht wurde, dessen Grundgedanke war: Es gäbe einfache und zusammengesetzte Ideen, und es müsse überall das Einfache aus dem Zusammengesetzten herausgelöst werden. Im Gegenteil: Man muß das Bewußtsein im lebendigen Flusse, im lebendigen Werden des Ganzen fassen und nichts in Elemente zerschlagen. Und man muß die Intentionalität des Bewußtseins zu klären versuchen. Dies waren Husserls erste Einsichten. - Hat er diesbezüglich Vorbilder gehabt? Es gab tatsächlich einige Vorgänger. Einer von den Bekanntesten war William James mit seiner Psychologie79,

wo er eine andere Behandlung

des Bewußtsein als die übliche, englische, atomistisch-assoziationistische anzuwenden suchte. Husserl kannte aber James leider bloß aus der gekürzten deutschen Übersetzung der Psychologie. Ein anderer Philosoph, der auf Husserl etwas eingewirkt hatte, war auch ein Brentanist, nämlich Kasimir Twardowski, Husserls jüngerer Kollege und mein Lehrer. Er hatte ein kleines Buch geschrieben: Zur Lehre vom Gegenstand und Inhalt der Vorstellungen. Eine psychologische

Untersuchung80.

Dabei handelt es sich wiederum um eine deskriptive Analyse der Bewußtseinsakte, welche von der Weise, wie das früher in der Psychologie gemacht wurde, ziemlich abweicht. Es gibt eine nicht publizierte Rezension Husserls 81 über dieses kleine Buch von Twardowski, aus welcher man erfahren kann, daß Husserl um das Jahr 1895 schon viel davon wußte, wie diese (Art von) Bewußtseinsanalyse durchzuführen ist. Er hat bei Twardowski manches kritisch behandelt. Man sieht aber auch, wie genau Husserl Twardowski studiert hatte. Es gab schließlich noch einen dritten großen Analytiker des Bewußtseins (das Wort 'Analytiker' ist hier vielleicht nicht ganz angemessen, aber tatsächlich handelt es sich doch darum), den Husserl aber nicht kannte. Ge79

W. James, The Principles of Psychology, 2 Bde. New York 1890; Chicago

22

1987.

K. Twardowski, Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen. Eine psychologische Untersuchung, Wien 1894. Nachdruck: München 1983. 81

Vgl. Husserliana XXII (hrsg. v. B. Rang), Den Haag 1979, 349-356.

24

Erste

Vorlesung

meint ist Bergson, der ebenfalls das Bewußtsein in seinem lebendigen Flusse entdeckt hat, im Gegensatz zur erstarrten Auffassung der englischen Assoziationspsychologie. Zu erwähnen sind Essai sur les données immédiates de la conscience (I889)%2 und Matière et mémoire (1896) 83 . Sie enthalten die ganze Theorie der konkreten Dauer, auch die Analyse der "perception pure" und der "perception concrète". Vor Abfassung der Logischen Untersuchungen waren diese wichtigen Werke Bergsons Husserl nicht bekannt. Das habe ich selbst festgestellt. 84 Der zweite Band der Logischen Untersuchungen enthält schließlich noch drei andere Abhandlungen, die auf den Sinn der ganzen Untersuchung ein Licht werfen, insbesondere darauf, daß es dabei doch nicht um Psychologie geht. Da ist vor allem die zweite Untersuchung, unter dem Titel "Die Einheit der Spezies"85. Sie enthält eine Auseinandersetzung u.a. mit den englischen Empiristen, mit Locke und mit Hume. Worüber? Die englischen Empiristen haben, wie Sie wissen, Descartes' "eingeborene" Ideen und natürlich auch die Ideen im Sinne Piatons verworfen. Alles Wissen stammt nach ihnen aus der Erfahrung, und alles Wissen ist auch in der Erfahrung einbeschlossen. Korrelativ gibt es keine idealen Gegenständlichkeiten. Es gibt auch keine Erkenntnis, die anders wäre als diejenige, die aus der Erfahrung stammt. Ihnen gegenüber verteidigt Husserl in der zweiten Untersuchung die Einheit der Species. Es gibt so etwas wie die Species, das Eidos. Auf welchem Wege suchte Husserl dies zu zeigen? Durch den Erweis, daß alle von den englischen Empiristen vorgetragenen [Argumente für die These] 86 , daß es keine Species gebe, widerspruchsvoll sind. Wenn man die "Species" eines intentionalen Aktes sucht, dann sieht man, daß es sich nicht um den individuellen, jetzt von mir vollzogenen Akt in seiner Bewegtheit im fließenden Bewußtsein handelt. Es wird das We-

H. Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889; 83

H. Bergson, Matière 92

et mémoire.

155

1982.

Essai sur la relation du corps à l'esprit, Paris 1896;

1968.

84

Vgl. Ingarden (1968a), 116.

85

Der Titel lautet bei Husserl genauer: "Die ideale Einheit der Species und die neueren Abstraktionstheorien ".

86

V.d.Hg. statt Beweise.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

25

sentliche an diesem Akte gesucht, das ihn zum intentionalen Akt macht und ohne das er gar kein solcher Akt wäre. Später, in den Ideen I, verwendete Husserl nicht das Wort 'Species', sondern er sprach von "Wesen". Als ich im Frühjahr 1912 nach Göttingen kam, hieß es, die Phänomenologie sei Wesenslehre des reinen Bewußtseins. Und so haben wir überall dieses Wesen gesucht, es phänomenal aufzuweisen versucht. Man war überzeugt: Es gibt als Phänomen "das Weiß", und das Verschiedensein von "Weiß" und "Rot" (Röte). Es gibt eine Röte, die sich als dieselbe an vielen verschiedenen Dingen zeigen kann. Wenn wir z.B. zwei Hüte haben, kann man sie vergleichen: Sind sie in ihrer Farbe gleich oder verschieden? Das nämlich, worin sie "dasselbe", das gleiche sind, das ist die sich an ihnen zeigende reine Qualität, das reine Eidos, z.B. die Röte, dieselbe Gestalt usw. Man braucht keine Theorie der zwei Welten im Sinne Piatons zu haben, um das einzusehen. Husserl sagt: "Ich bin kein Platoniker, ich brauche keine außerweltlichen 'Ideen' anzunehmen. Ich spreche von etwas, was man in dieser Welt, an den konkreten Dingen doch erschauen kann, ohne 'die Röte' mit den individuellen Rotmomenten der vielen roten Dinge zu identifizieren. Man muß es bloß sehen!" Da also liegt zunächst ein Unterschied zwischen der empirischen Psychologie - der deskriptiven Psychologie - und der "phänomenologischen" Analyse, wie Husserl sie betreibt. Husserl sucht die Eidoi - das Eidos der sinnlichen Wahrnehmung, das Eidos der Dinglichkeit, des intentionalen Aktes usw. Dann gibt es in den Logischen Untersuchungen die dritte Untersuchung, mit dem merkwürdigen Titel: "Zur Lehre von den Ganzen und Teilen". Was ist das? Die Sache, um die es geht, ist heute unter einem anderen Namen bekannt. Ungefähr um dieselbe Zeit hat nämlich Alexius Meinong (ein Brentanist und Kollege von Husserl) eine Reihe von Abhandlungen publiziert, und zwar unter dem Titel "Gegenstandstheorie" 87 - also eine formale, apriorische Theorie der Form aller möglichen Gegenständlichkeiten, insbesondere der Dinge, aber auch der mathematischen Gegenständlichkeiten, der Prozesse, der Ereignisse, der Welt usw. Diese Thematik hat Husserl einige Jahre vor

87

A. Meinong, "Über Gegenstandstheorie", in: Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie, hrsg. v. A. Meinong, Leipzig 1904, 1-50. Vgl. A. Meinong, Gesamtausgabe Bandii, hrsg. v. R. Haller, Graz 1971, 481-530.

26

Erste Vorlesung

Meinong mit ganz kleinen Analysen über "selbständige" und "unselbständige" Inhalte (so Husserls damalige Terminologie) zu bearbeiten begonnen. Z.B. Farbe-an-etwas ist unselbständig, es kann nicht ohne das, was farbig ist, existieren. Und selbständig kann nur ein Ganzes sein, nicht ein sogenannter (unabstückbarer) Teil. Es gibt Teile, die unabstückbar sind, und Teile, die abstückbar sind. Wenn ich einen Apfel habe, dann kann ich ihn in verschiedene Stücke zerlegen, und jeder Teil (Stück) ist ebenso selbständig wie der Apfel selbst. Aber wenn ich die Farbe des Apfels betrachte, so kann sie ohne das, was farbig ist, also ohne den Apfel, nicht sein. - Dies ist bloß ein Beispiel, um die Richtung der Untersuchung zu zeigen. Daraus hat sich später bei Husserl die sogenannte "formale Ontologie" herausgebildet. Viele Forscher haben daran gearbeitet. Es gibt z.B. auch eine formale Ontologie der Werte; sowohl Husserl selbst wie auch Max Scheler haben versucht, diese zu realisieren. Allerdings gibt es auch eine materiale Analyse von Werten, aber das ist eine andere Sache. Es handelt sich also wiederum um den Anfang einer apriorischen Lehre, die im Grunde als formale Theorie allen mathematischen, deduktiven Theorien zugrunde liegt. Die Mathematiker allerdings sehen diesen letzten Hintergrund nicht; sie fangen mit Axiomen an und glauben damit gewisse Konventionen festzulegen. Und was dahinter steckt, was das ursprünglich Gegçbene ist, das wollen sie schon nicht mehr anerkennen, weil da die Intuition in Frage kommt. Denn was mir eine Intuition sagt, ist ihrer Ansicht nach oft nicht haltbar, sie gilt als eine Fehlerquelle. Und infolgedessen macht man aus den Axiomen bloße Konventionen. Zugleich führt man eine so weitgehende Formalisierung durch, daß bloß Zeichen übrigbleiben, sinnlose Zeichen, die nur auf eine bestimmte Weise nebeneinander gelegt werden - woraus sie dann ihren Sinn schöpfen sollen. Das ist aber wiederum eine Idee, die in der Vergangenheit zu suchen ist; nicht bei Piaton natürlich, sie ist aber zu suchen und zu finden bei Leibniz. Dies wissen aber die heutigen Mathematiker auch nicht. Sie sind skeptische Positivisten und trauen eher eigenen Konventionen als der "Intuition", wenn sie sie überhaupt einmal zu erreichen versuchen.

Zur Geschichte

der phänomenologischen

Endlich gibt es in den Logischen

Untersuchungen

27

Bewegung

eine Abhandlung, auf

die noch hinzuweisen ist. Das ist die "vierte" Untersuchung mit dem Titel: "Die Idee der reinen Grammatik" 88 . Es gab schon unter den Brentanisten jemanden, der sich mit der Sprache beschäftigt hatte, nämlich Anton Marty. Er hat ein sprachphilosophisches Werk geschrieben. 89 Marty behandelt die "allgemeine Grammatik" aber als eine empirische, im Grunde psychologische Wissenschaft. Demgegenüber hat Husserl hier einige ganz grundlegende Ideen zu einer "reinen" Grammatik gegeben. Man kann (nach Husserl) zunächst eine apriorische Analyse der Struktur eines einfachen Satzes versuchen, die als Grundlage der Grammatik dienen kann. Und anschließend eine Sinnverdeutlichung der ursprünglichen logischen Funktionen, die auf eine ganz andere Weise durchgeführt wird, als das die Logistiker mit den sogenannten "logischen Konstanten" tun. Husserls Ideen sind nicht abgestorben. Zur Zeit versucht z.B. Max Hartmann, eine formale Grammatik auszuarbeiten, und es gibt noch viele andere, die an einer nicht-empirischen Lehre von der Sprache arbeiten. Die empirische Betrachtung der Sprache ist natürlich auch möglich und ganz berechtigt, das ist ganz klar. [Aber jede "empirische" Grammatik beruht] 90 auf einer theoretischen Grundlage, einer "reinen" Grammatik, wie Husserl sie in den Logischen Untersuchungen

zu bearbeiten begonnen hat.

Wenn Sie jetzt das alles zusammennehmen, die Analysen der verschiedenen Formen des Bewußtseins, der intentionalen Akte, die (rein) kognitiv sind, der intentionalen Akte, die zur Erfüllung von Bedeutungsintentionen führen, und daneben auch die ganze Polemik oder Diskussion über die reinen Species, dann noch die Grundlage der formalen Ontologie und endlich die Idee der reinen Grammatik - dann sehen Sie aus den behandelten Themen selbst, daß das keine deskriptive Psychologie im Sinne Brentanos ist. Das ist vielmehr ein ganz neuer Ausblick auf neue und zusammengehörige Probleme, die die philosophischen Grundlagen der Lo-

88

oq

Der Titel lautet bei Husserl genauer: "Der Unterschied der selbständigen und unselbständigen Bedeutungen und die Idee der reinen Grammatik". A. Marty, Untersuchungen losophie,

90

zur Grundlegung

der allgemeinen

Grammatik

und

Band I, Halle a.d.S. 1908. Nachdruck: Hildesheim/New York 1976.

V.d.Hg. statt Aber wiederum beruht diese "empirische" Grammatik.

Sprachphi-

28

Erste Vorlesung

gik betreffen. Es sind also doch "logische" Untersuchungen. Leider heißt es in Husserls Vorrede fälschlicherweise, es handle sich um deskriptive Psychologie. Eine Sache tritt dabei noch nicht auf, die bei Husserl später vorkommt: das ist das sogenannte "reine Bewußtsein". Ich habe bis jetzt bloß vom Bewußtsein, vom intentionalen Bewußtsein gesprochen. Es wird da versucht, das Wesen dieser Bewußtseinsakte, der Bewußtseinsoperationen, Bewußtseinswandlungen [sowie von Korrelaten der verschiedenen Akte und Bewußtseinsoperationen]91 usw. zu analysieren. Das alles wird aus der Sicht des Wesens, der allgemeinen Idee untersucht. Aber es wird nicht gesagt, wessen Bewußtsein es ist. Es wird nicht gesagt, ob es das konkrete, menschliche oder ein konkretes, nicht-menschliches Bewußtsein sei. Zwar kann ich diese Wesensanalyse an meinem konkreten Bewußtsein betreiben, brauche dabei aber nicht vorauszusetzen, daß ich wirklich ein (physiologisch so und so gebauter) Mensch bin und daß ich durch die psychophysische Natur und die reale Welt so und so bedingt bin. [Ich kann mein eigenes, konkretes Bewußtsein also] 92 immanent analysieren. Aber um von da aus zum "reinen Bewußtsein", von dem Husserl später redet, zu gelangen, bedarf es noch eines langen Weges. Nun, das Jahr 1901 ist vorüber. Und nach ihm schweigt Husserl wiederum 13 Jahre lang. Erst nach 13 Jahren sind seine Ideen zu einer reinen Phänomenologie (Band 1) erschienen. Wir haben sie zusammen mit Husserl im Seminar 1913/14 gelesen und haben dabei auch seine Kommentare zum Buch gehört. Und da entstand im Seminar ein gewisses Staunen. Es war nicht das, was wir erwartet hatten. Auf einmal lasen wir Sätze (ich komme noch später darauf zurück) wie: "Streichen wir das reine Bewußtsein, so streichen wir die Welt" (!); "Gibt es kein reines Bewußtsein, so gibt es keine Welt" (!). Husserl hat uns viele Jahre gelehrt: Zurück zu den Sachen, zum Konkreten, nicht Abstraktionen, Theorien usw.! An das Konkrete heran! das war die Losung. Statt dessen trifft man in den Ideen I auf umfangreiche Analysen des Bewußtseins, der äußeren, [transzendenten]93 Wahrnehmung,

9

V.d.Hg. statt Korrelate und Gebilde der Bewußtseinsoperationen.

92

V.d.Hg. statt Ich kann es an sich.

93

V.d.Hg. statt transzendentalen.

'

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

29

auf Überlegungen, was reeller Teil des Bewußtseins ist und was kein solcher Teil von ihm ist. Und dann begegnet man der Forderung, vor der Analyse des [Wesens] 94 der "Sachen selbst" sei eine "phänomenologische Reduktion" zu vollziehen, und zu den "Sachen selbst" solle man erst auf einem Umwege, nämlich über die Analyse des Bewußtseins, kommen. Wenn man alle diese Analysen durchgeführt hat, dann kommt man zum Schluß: Wenn es kein Bewußtsein und kein reines Ich gibt, dann ist auch keine Welt da. Die Welt ist Korrelat einer komplizierten Mannigfaltigkeit von subjektiven Operationen des Ich. Und das "Ich", das bin nicht ich, Ingarden, ich als ein realer Mensch in der realen Welt, sondern das reine Ich, das philosophierende Ich. Man muß von "mir" als einem Menschen irgendwie absehen. Das ist also eine ganz besondere Methode, die sich von der Betrachtungsart der Logischen

Untersuchungen

sichtlich wesentlich unter-

scheidet. Und es gibt da auch gewisse Entscheidungen, die wenigstens auf den ersten Blick das Gepräge metaphysischer Entscheidungen an sich tragen - Entscheidungen, die auszusprechen Husserl früher eher vermieden hätte. So ist also zwischen 1900 und 1913 etwas Wichtiges geschehen. Es hat da irgendeine neue Krise stattgefunden, und mit ihr sind natürlich alle Manuskripte, die in jenen Jahren geschrieben wurden, und die wir auch bis heute nur zum kleinen Teil kennen, eng verbunden. Vor den Ideen / ist bloß eine Schrift erschienen, die Husserl "Philosophie als strenge Wissenschaft" betitelte. 'Streng' meint nicht "mathematische" Wissenschaft. Philosophie ist eine materiale apriorische Wissenschaft, die "streng", d.h. verantwortlich und letzt-begründet sein soll. Diese letzte Begründung muß in der Philosophie selbst enthalten sein, sie muß da irgendwie reif werden. Wir müssen einen Boden suchen, [der] 95 nicht mehr bezweifelt werden kann. Und die Methode dazu ist die sogenannte transzendentalphänomenologische Reduktion, die aber erst in den Ideen I entwickelt wird. Aber die "Philosophie als strenge Wissenschaft" klärt uns die Wandlungen, die zu den Ideen I geführt haben, nicht auf. Wir werden uns damit später genau beschäftigen müssen.

94

V.d.Hg. statt Wissen.

95

V.d.Hg. statt an dem sie.

30

Erste

Vorlesung

Ich kehre jetzt zur Situation der Europäischen Philosophie vor 1900 zurück, um von dieser geistigen Situation aus zu verstehen, in welchem Sinne die Husserlsche Philosophie von den Logischen Untersuchungen bis zu den Ideen I ein Protest gegen die übliche Weise des Philosophierens war. Philosophie war in den letzten Jahrzehnten vor den Logischen Untersuchungen im Grunde entweder Psychologie (und zwar empirisch-experimentelle oder deskriptive Psychologie) oder etwas anderes, nämlich Neukantianismus. Im Gegensatz dazu wählte Husserl einen ganz anderen Weg. Mit dem Neukantianismus sollte er sich erst viel später auseinandersetzen. Zunächst geht es wie schon erwähnt - um eine Auseinandersetzung mit dem Psychologismus und mit der Weise des damaligen Philosophierens. Es war eine Epoche des Wiederaufbaus der Philosophie nach dem Zusammenbruch des Deutschen Idealismus, insbesondere der Hegeischen Schule, um die Mitte des Jahrhunderts. Er vollzog sich auf doppeltem Wege: in der Gestalt der Psychologie, die zugleich eine verkappte Philosophie war, und in Anknüpfung an die geschichtlich vorgegebenen Philosophien, an Kant vor allem, aber [auch in Anknüpfung]96 an verschiedene alte Systeme bis auf Aristoteles zurück. Es entwickelte sich da vor allem eine Wissenschaft von der Philosophie, die langsam zu einer [Begriffsphilosophie] 97 wurde, d.h. zu einem Denken in fremden Gedanken und in fremder Begriffsapparatur, unter deren ständiger Fortbildung und Umbildung - in großer Distanz zur Wirklichkeit und mit einer gewissen Blindheit für deren konkrete erscheinungsmäßige Gestalt. Demgegenüber suchte Husserl eine andere Weise des Philosophierens zu realisieren, um in gewissem Sinne eine andere Welt zu entdecken: einen Gesamtbestand von Phänomenen, mit denen wir ständig verkehren, ohne zu wissen, daß wir mit ihnen verkehren, daß wir sie wirklich haben - weil wir stets gegenständlich, d.h. darauf gerichtet sind, was sich im Raum und in der Zeit befindet, und weil wir dieses zugleich trotz des lautstarken Rufes nach "Erfahrung" sofort unter das Gewand fertiger, durch die Wissenschaft gebildeter, abstrakter Begriffe zu fassen neigen. Daß wir dabei einen beständigen Fluß von Phänomenen erleben, vermöge deren uns Dinge gegeben wer-

96

V.d.Hg. statt dann.

9 7

Handschriftlicher Zusatz Ingardens. Eventuell (wie gemäß T y p g ) als "Regreßphilosophie" zu lesen.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

31

den - das wissen wir nicht, wie wir uns auch die konkrete anschauliche Gestalt dieser Dinge nicht klar zum Bewußtsein bringen. Dies alles sollte erst in der neuen Weise des Philosophierens entdeckt werden. Husserl sagte später: Es ist das "verborgene" Bewußtsein, wovon wir zuerst nichts wissen. Das Bewußtsein muß entdeckt und expliziert werden. Und dabei eröffnet sich ein neuer Weg zur Erkenntnis der Welt. Aber darüber das nächste Mal.

Zweite Vorlesung (22. September 1967) (Zur Geschichte der phänomenologischen Bewegung (II)) Bevor ich heute direkt einzelne Probleme erörtere, mögen Sie mir erlauben, Ihnen noch einige Informationen über die erste Periode der Phänomenologie zu geben, d.h. genauer über die Entwicklung des Kreises um Husserl in Göttingen und etwas später auch in München. Ich erlaube mir das zu tun, weil die Kenntnis dieser Jahre und auch der phänomenologischen Literatur, die damals entstand, heute im allgemeinen relativ beschränkt ist. Es ist, als ob diese ganze Periode, die ich [die Periode der "originalen" Phänomenologie Husserlscher Prägung] 1 nenne, in gewissem Sinne aus dem Bewußtsein der Gegenwart verschwunden wäre. Ein kleines Beispiel: Als ich im Winter 1959 einige Monate in Amerika war, da gab ès in den Vereinigten Staaten nur sehr wenige Phänomenologen. In New York waren es u.a. Dorion Cairns, Dietrich von Hildebrand, Aron Gurwitsch; Alfred Schütz lebte bereits nicht mehr. Dagegen war der Neupositivismus, der sogenannte "Logical Positivism", ganz und gar vorherrschend. Vor ungefähr zwei Jahren hat mir dann jemand geschrieben, [diese Situation] 2 habe sich sehr verändert, die Phänomenologie blühe da an verschiedenen Universitäten in den USA auf. Das war alles, was ich damals hörte, und ich habe mich darüber gefreut. Vor einem Jahre schließlich war ich, nach meiner Anwesenheit hier in Oslo, in Paris. Dort begegnete ich meiner alten Krakauer Schülerin, Frau Tymieniecka-Houthakker (sie befand sich auf der Reise nach Hannover, zum Leibniz-Kongreß). Und sie erzählte mir, daß sie eigens an ein College in Pittsburgh eingeladen worden sei, um über Phänomenologie zu lesen, insbesondere und ganz ausdrücklich um über Husserl zu lesen. Denn wenn man in Amerika "Phänomenologie" sage, so heiße dies: Heidegger - also Existentialismus. Husserl sei fast unbekannt und damit auch die philosophischen Grundprobleme, die ihn zum Philosophieren gebracht haben. Fast dasselbe ist in Frankreich der Fall. Unter "Phänomenologie" verstand man gleich nach dem Kriege nur Jean Paul Sartre und Merleau-Ponty. Daß früher in Frankreich eine (eigentliche) Phänomenologie existierte, '

V.d.Hg. stati die "originelle" P h ä n o m e n o l o g i e Husserls.

2

V.d.Hg. statt die Situation der Philosophie in den U S A .

34

Zweite

Vorlesung

wußte man fast nicht mehr. Seit dem Ausgang des ersten Weltkrieges wirkten aber in Frankreich zwei direkte Schüler von Husserl: Alexandre Koyré und Jean Hering. Koyré begann eine Reihe von Schriften zur Geschichte der Philosophie und später zur Geschichte der Naturwissenschaft zu publizieren. In den dreißiger Jahren gab er eine bedeutende Zeitschrift, die Recherches Philosophiques heraus, die mehrere Jahre existierte und mehrere, damals der Phänomenologie nahestehende Philosophen um sich gruppierte. (In dieser Zeitschrift hat auch J.P. Sartre einen Artikel über Husserls Theorie des transzendentalen Ich publiziert.3) Nach dem zweiten Weltkrieg haben dann aber Sartre und Merleau-Ponty und auch Jean Wahl das Feld beherrscht. Und auch in Deutschland hat seit den dreißiger Jahren die Philosophie Heideggers und seiner Schüler Husserl und die anderen originalen Phänomenologen ganz verdrängt, so daß Husserl und sein Kreis eigentlich unbekannt geworden sind. Die nach dem Kriege bisher erschienenen elf Bände des Husserlschen Nachlasses beginnen zwar im Sinne einer Erneuerung seiner Philosophie zu wirken, aber doch nicht in der erhofften Weise. Es bildete sich zwar eine Wissenschaft über die Phänomenologie aus, ein Zurückgreifen auf Husserl aber, um in seinem Sinne lebendig zu philosophieren, blieb bis heute aus. Ich glaube aber, daß Husserl selbst alle seine Nachfolger auf eine radikale Weise überragt, und daß der wissenschaftliche Ernst und die Genauigkeit der phänomenologischen Analysen Husserls und der ersten Generation der Phänomenologen so hoch über jeder Heideggerschen und nachHeideggerschen Literatur steht, daß die Errungenschaften Husserls und seiner Freunde und direkter Schüler nicht vergessen werden sollten. Deshalb möchte ich hier einige Informationen über den " Göttinger" Kreis und über die "Münchener"-Phänomenologie geben. Der Anfang der Phänomenologie in München ist ziemlich merkwürdig. Zu Beginn des Jahrhunderts wirkte dort auf glänzende Weise Theodor Lipps. Ein Kreis von Schülern bildete sich, und alles schien darauf hinzuweisen, daß eine starke Lippsche Schule wirken werde. Indessen war an Ort und Stelle auch Alexander Pfänder, der sein

Buch nicht ohne Grund

"Phänomenologie des Wollens" betitelt hatte. Einige Jahre später übersiedelte Max Scheler nach München und begann bald die Logischen UntersuJ.P. Sartre, "La transcendance de l'ego. Esquisse d'une description phénoménologique", Recherches philosophiques

VI (1936/37), 85-123. Buchausgabe: Paris 1965, 3 1985.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

35

chungen zu studieren und sie gemeinsam mit einigen jungen Freunden zu besprechen. So entstand allmählich die sogenannte "Philosophische Gesellschaft", an der neben den genannten auch Moritz Geiger, Johannes Daubert, Adolf Reinach und später Dietrich von Hildebrand teilnahmen. Eines Tages ist Daubert nach Göttingen gefahren, ging in Husserls Vorlesung und knüpfte mit ihm ein philosophisches Gespräch an. Das war der Anfang einer direkten Beziehung zwischen Husserl und den "Münchnern". Nach einiger Zeit dann fuhr Husserl nach München, und so wurden die Beziehungen mit der Zeit enger und lebhafter. Johannes Daubert - das war eine merkwürdige Figur. Nach Ansicht aller meiner Bekannten aus dem Münchener-Kreis war er dort der philosophisch weiseste Mann. Daubert hat aber nie ein Wort geschrieben 4 , so daß heute kein Mensch sagen kann, was er eigentlich selbst wußte bzw. was er geschaffen hat. 5 Aber er hat die ganze Gruppe in gewissem Sinne beherrscht. Im Jahre 1911 ist die Festschrift für Theodor Lipps erschienen, unter dem Titel Münchener Philosophische Abhandlungen6,

und da sind Reinach,

Pfander, Geiger u.a. vertreten, sozusagen die ganze Münchener Philosophische Gesellschaft. Sie waren um diese Zeit schon alle Phänomenologen. Und Adolf Reinach hat sich wenig später in Göttingen habilitiert 7 und entwikkelte dort bald eine ziemlich lebhafte Lehrtätigkeit. Er war übrigens ein ganz glänzender Lehrer, viel begabter in der Führung des Seminars [und] 8 viel konkreter im direkten Gespräch als Husserl selbst. Husserl war immer zu weise für uns, zu schwierig. Wenn man ihm eine Frage stellte, antwortete er mit einer Betrachtung, die sozusagen drei Kilometer zurück lag, um erst

Ingarden wiederholt hier offenbar einen Ausspruch von M. Geiger (M. Geiger, "Alexander Pfanders methodische Stellung", in: E. Heller/F. Low (Hg.), Neue Münchener sche Abhandlungen,

Philosophi-

Leipzig 1933, 4).

Zum Nachlaß von Daubert ("Daubertiana") vgl. E. Avé-Lallemant, Die Nachlässe Miinchener

Phänomenologen

in der Bayerischen

Staatsbibliothek,

der

Wiesbaden 1975, 128-

135. A. Pfander (Hg.), Münchener

Philosophische

Abhandlungen.

Theodor

Lipps zu

seinem

sechzigsten Geburtstag gewidmet von früheren Schülern, Leipzig 1911. Tatsächlich hat sich Reinach 1909 in Göttingen habilitiert, vgl. K. Schuhmann/B. Smith, "Adolf Reinach: An Intellectual Biography", in: Κ. Mulligan (ed.), Speech Act and Sachverhalt. Reinach and the Foundations V.d.Hg. statt oder.

of Realist Phenomenology,

Dordrecht 1987, 3-27.

36

Zweite

Vorlesung

dann von da aus auf die gestellte Frage zurückzukommen und sie in der Gesamtheit der [vorher entwickelten] 9 Probleme zu erörtern. 10 Reinach dagegen war kurz, und auf jede Frage hatte er sofort eine Antwort bei der Hand, oft mit einem schlagenden Beispiel. Infolgedessen hat er stark gewirkt, und als er, noch ganz jung, im Jahre 1917 in Belgien gefallen war, trauerten seine Schüler sehr um ihn. Als ich im Frühjahr 1912 nach Göttingen kam, war die philosophische Gruppe um Husserl schon ziemlich zahlreich und aktiv. Die Mitglieder gingen oft zusammen spazieren oder auch essen und führten lebhafte Diskussionen über phänomenologische Probleme. Und auch in Göttingen gab es eine "Philosophische Gesellschaft", an deren Sitzungen man ein ausgewähltes Thema in continuo während eines ganzen Jahres besprach. Die Phänomenologie war für diese jungen Leute mehr als eine geistige Atmosphäre; sie war so etwas wie eine gemeinsame Lebensform. Nun einige Worte über die wichtigsten Personen und ihre Arbeiten. Vielleicht kann ich mit der Münchner Gruppe beginnen, die zwar später entstanden ist, aber trotzdem ein ganz [besonderes, von der Göttinger-Gruppe verschiedenes Gesicht] 11 hatte. Es gibt wiederum verschiedene Nuancen, obwohl das alles zusammen Phänomenologie ist. Der älteste war Alexander Pfander. Nach der Phänomenologie des Wollenst

erschien 1904 seine Einführung in die Psychologie13

- ein Lehrbuch,

aber schon betont deskriptiv. Dann erschien in der oben erwähnten Festschrift für Theodor Lipps eine kleine, aber besonders wichtige Arbeit: "Motive und Motivation" 14 . [Die Begriffe des Motivs und der Motivation sind Begriffe der deskriptiven Psychologie und treten dort - auch bei Husserl - an die Stelle des Begriffs der Ursache bzw. der Verursachung.] 15 Und dann 9 10 11

V.d.Hg. stüli diesbezüglichen. Vgl. dazu Ingarden (1968a), 106-114. V.d.Hg. statt besonderes Gesicht im Unterschied zu Husserl. Vgl. Vorlesung I, Anm. 5.

13

A. Pfander, Einführung

14

A. Pfander, "Motive und Motivation", in: Münchener

in die Psychologie,

Leipzig 1904; ^ 1920. Philosophische

v. A. Pfander, Leipzig 1911, 163-195. Vgl. Phänomenologie

Abhandlungen,

des Wollens. Eine

hrsg.

psychologi-

sche Analyse - Motive und Motivation, München 3 1963. V.d.Hg. statt "Motiv und Motivation" ist ein Begriff in der deskriptiven Psychologie, der auch bei Husserl die Stelle des Begriffes der "Ursache" einnimmt.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

37

kommt wieder eine psychologische Arbeit: "Zur Psychologie der Gesinnungen" 16 , im ersten Bande des Jahrbuches. Später interessierte sich Pfänder für die Charakterologie und hat mehrere Jahre ein Jahrbuch für Charakterologie geleitet, wo er "Grundprobleme der Charakterologie" 17 publizierte. Im Jahre 1921 ist seine Logik18

erschienen. Diese Logik ist nicht

psychologistisch, aber auch nicht mathematisch oder irgendwie algebraisch. Sie ist gewissermaßen analytisch-deskriptiv und sucht die logischen Gebilde (Begriffe, Sätze, Schlüsse) in ihrer Struktur und auch in ihrer logischen Funktion zu bestimmen. Man könnte sagen, daß es sich der Hauptsache nach um eine methodologische Deskription logischer Gegenständlichkeiten handelt. Es gibt Stellen, wo sie nicht ganz frei von gewissen psychologischen Motiven ist. So wird z.B. von "Gedanken" gesprochen, und man weiß nicht recht, was das ist. Sind es Gebilde, logische Gebilde? Oder sind es irgendwelche bewußtseinsmäßige Operationen? Das ist schwer zu entscheiden. Die Logik ist auch nicht genug streng geschrieben. Man kann ihr also Verschiedenes vorwerfen. Trotzdem bildet sie einen wichtigen Fortschritt in Bezug auf die Weise, wie man [eine so aufgefaßte "Logik" früher behandelt hat] 19 , und sie bringt auch wertvolle Klärungen der Struktur mancher logischer Gebilde und logischer Funktionen. Später wandte sich Pfander wiederum der phänomenologischen Psychologie zu und publizierte in den 30-er Jahren Die Seele des Menschen.20 Dies alles ist nicht nur für eine Charakterisierung von Pfänder bedeutsam, sondern auch der Münchner Gruppe insgesamt. Denn Pfänder war dort vielleicht nicht der Begabteste - der Begabteste war sicher Max Scheler! -, aber Pfänder war bezüglich des ganzen Milieus der Einflußreichste, und er betonte immer wieder die psychologischen Probleme. Und zwar handelt es sich, wie Sie sehen, um keine "Psychologie ohne Seele" - wie das früher im 19. Jahrhundert der Fall war -, sondern gerade um eine Psychologie, welche die Seele des Menschen anerkennt. [Die 16

Vgl. Vorlesung I, Anm. 30.

17

A. Pfander, "Grundprobleme der Charakterologie", Jahrbuch der Charakterologie I (1924), 289-355.

18

A. Pfander, "Logik", Jahrbuch IV (1921), 139-499e. Sonderdruck, Halle a.d.S. 1921. Logik, Tübingen ^1963. V.d.Hg. statt eine solche Logik betrieb. A. Pfander, Die Seele des Menschen. Versuch einer verstehenden Psychologie, Halle a.d.S. 1933.

38

Zweite

Vorlesung

Betonung des Psychologischen]21 war etwas Charakteristisches für die ganze Gruppe. Husserl hat dann den Münchnern oft vorgeworfen, daß sie zu den echten philosophischen Problemen der "transzendentalen" Phänomenologie nicht vorgedrungen seien. Weiter hat auch Moritz Geiger in München gewirkt. Er war etwas jünger als Pfander. Am meisten bekannt wurde er durch seine ästhetischen Arbeiten, von denen hier mehrere Studien zur Einfühlung 22 , "Beiträge zur Phänomenologie des ästhetischen Genusses" 23 und Zugänge zur Ästhetik24 zu nennen sind. Im großen und ganzen geht es um eine subjektiv gerichtete phänomenologische Ästhetik. Außerdem - und merkwürdigerweise - beschäftigte sich Geiger noch mit ganz anderen Sachen. Er schrieb z.B. auch Systematische Axiomatik der euklidischen Geometrie,25

Ich habe dieses

Buch mit großem Interesse gelesen, und Geigers Auffassung des Wesens und der Rolle von Axiomen in einem deduktiven System war für mich, der ich in Göttingen Hilberts Axiomatik kennenlernte, besonders interessant und sympathisch. Ich bin aber nicht befähigt, dieses Buch zu beurteilen. Der weitaus begabteste in München aber war Max Scheler, der dort während vieler Jahre lebte und wirkte. Seine philosophische Leistung ist so umfangreich und so bedeutend, daß man ohne Zweifel ein Semester benötigte, um seine Gedankenwelt darzustellen und seine Rolle zu würdigen. Lange Jahre war er Privatdozent und im Grunde "Privatgelehrter", und zwar unter sehr schwierigen Verhältnissen. Erst ein Jahrzehnt vor seinem verfrühten Tode ist er in Köln Professor geworden und konnte eine richtige akademische Lehrtätigkeit entwickeln. Die letzten 15 Jahre seines Lebens waren durch eine außergewöhnliche wissenschaftliche und schriftstellerische Tätigkeit erfüllt. Als Bahnbrecher einer neuen Betrachtungsart ethischer Probleme und auch als moderner Begründer der philosophischen Anthropologie hat er sich große Verdienste erworben. Seine ethischen Untersuchungen hat später Nicolai Hartmann weiter entwickelt. Als Resultat seiner während

2

V.d.Hg. statt Der Nachdruck auf eine Psychologie.

22

Vgl. dazu die Bibliographie in: M. Geiger, Die Bedeutung

'

materialen 23 24

Wertästhetik,

der Kunst. Zugänge zu einer

hrsg. v. K. Berger/W. Henckmann, München 1976, 591-594.

Vgl. Vorlesung I, Anm. 29. M. Geiger, Zugänge zur Ästhetik, Leipzig 1928. M. Geiger, Systematische

Axiomatik der euklidischen

Geometrie, Augsburg 1924.

Zur Geschichte der phänomenologischen

39

Bewegung

mehrerer Jahre gehaltenen Vorlesungen zur philosophischen Anthropologie ist uns bloß die Schrift "Die Stellung des Menschen im Kosmos" 2 6 bekannt. Die Vorlesungen selbst wurden - entgegen ersten Erwartungen - bis heute nicht veröffentlicht. 27 Ich komme nun zur Göttinger-Gruppe und möchte einige Worte über jene Personen sagen, die bei Husserl promoviert haben. Zu ihnen gehört vor allem Wilhelm Schapp. In der Widmung seiner Doktorarbeit unter dem Titel Beiträge zur Phänomenologie

der Wahrnehmung28

sagt Schapp, er wisse

nicht, wer eigentlich der Verfasser des Buches sei, er oder Husserl. Denn das Buch sei aus Gesprächen mit Husserl entstanden, so daß er nicht genau unterscheiden könne zwischen dem, was von ihm selbst und was von Husserl stamme. Jedenfalls habe er nichts geschrieben, was er selbst nicht gesehen habe. Ich erwähne dies hier, um darauf hinzuweisen, daß man aus diesem Buche manche Thesen der Husserlschen Theorie der Wahrnehmung kennenlemen kann, die in Husserls Publikationen eigentlich nicht zum Ausdruck gekommen sind. In den Ideen I dient die Erörterung der äußeren transzendenten Wahrnehmung als Voruntersuchung für die Einführung des Begriffes und der Rolle der transzendental-phänomenologischen Reduktion, und dies führt in der Analyse der Wahrnehmung zu neuen Gesichtspunkten und auch zu gewissen Modifikationen, die auf dem Niveau der Schappschen Untersuchung noch nicht in Frage kommen. Bei Schapp wird der Nachdruck darauf gelegt, was in der äußeren Wahrnehmung von den Dingen direkt anschaulich gegeben wird. Es wird zum ersten Mal gezeigt, daß es nicht ausschließlich die sogenannten "sinnlichen" Qualitäten sind (Farben, [Ton- und Tastqualitäten] 29 usw.), sondern auch die Materialbestimmtheiten der Dinge. Es wird auch gezeigt, daß z.B. in der visuellen Wahrnehmung auch nichtvisuelle Qualitäten wie Glätte, Elastizität und dgl. mehr anschaulich gegeben

26

M. Scheler, "Die Sonderstellung des Menschen", Der Leuchter VIII (1927). Sonderdruck: Die Stellung des Menschen

im Kosmos,

Darmstadt 1928; München

7

1966.

Gesammelte

Werke IX, hrsg. v. S. Frings, Bern/München 1976, 7-71. 27

Für die aktuelle Situation vgl. das Bibliographische Werkverzeichnis (zusammengestellt von E. Avé-Lallemant) sowie die Editionsübersicht in: M. Scheler, Gesammelte

Werke XII,

hrsg. v. S. Frings, Bonn 1987, 366-373. 28

W. Schapp, Beiträge zur Phänomenologie den 1976.

29

V.d.Hg. statt Tonqualitäten, Tasten.

der Wahrnehmung,

Halle a.d.S. 1910; Wiesba-

40

Zweite

Vorlesung

werden, daß es also im Grunde keine rein visuelle Wahrnehmung gibt. Dagegen ist in dem Buche Schapps von den Empfindungsdaten, Abschattungen (Ansichten), welche später in Husserls Ideen 1 eine so große Rolle spielen, keine Rede. Diese Auffassung der Wahrnehmung war Husserls Göttinger-Schülern bis zur Zeit der Erscheinung der Ideen I präsent. Vielleicht war dies zum Teil der Grund, warum die Ideen I bei Husserls Schülern eine gewisse Überraschung hervorgerufen haben. 3 0 Schapp war nicht im eigentlichen Sinne Fachphilosoph; von seiner philosophischen Ausbildung abgesehen war er zugleich Jurist und als Anwalt tätig. Nach seiner Göttinger Zeit hat er relativ wenig publiziert, u.a. das Buch: Die neue Wissenschaft vom Recht?1 Κ Und erst fast in den letzten Jahren seines Lebens kam ein ganz merkwürdiges Buch, nämlich In Geschichten

ver-

32

strickt . "Geschichten" - das meint verschiedene Vorgänge, in denen wir leben und an denen wir teilnehmen, also Geschichten, die von verschiedenen Seiten auf uns zukommen: "Geschichten" unserer Verwandten und Freunde, verschiedener sozialer Gruppen, zu denen wir gehören oder denen wir uns entgegensetzen, soziale und politische Geschichten, kulturelle Wandlungen und Strömungen usw. So leben wir in diese oder jene "Geschichte" eingeflochten und formen sie irgendwie um. Das Buch ist insofern gegen Husserls Position gerichtet, als Schapp auf die Husserlsche Auffassung des Wesens verzichten möchte. [Denn nach Schapp wandelt sich in der Geschichte alles; auch wir verändern uns fortwährend unter dem Druck der Geschichten, in die wir "verstrickt" sind.] 33 Es gibt nichts Stabiles in uns, kein konstantes Wesen, bezüglich dessen man als höchste Wissenschaft eine apriorische Wissenschaft postulieren könnte oder zu postulieren hätte. Ob Schapp darin Recht hat oder nicht, ist eine andere Frage, aber sein Buch ist sehr interessant. Es ist natürlich durch Dilthey und andere Hegelianer, vielleicht auch durch Heidegger beeinflußt, aber es ist sehr selbständig und auch sehr le-

30 3

'

Vgl. Vorlesung I, Anm. 39. W. Schapp, Die neue Wissenschaft

vom Recht. Eine phänomenologische

Untersuchung,

2

Bd. Berlin-Grunewald. 1930/32. W. Schapp, In Geschichten 33

verstrickt, Hamburg 1953; Frankfurt a. M. 3 1985.

V.d.Hg. statt weil sich eben alles in der Geschichte wandelt, nicht wahr, weil auch wir unter dem Druck der Geschichten, in die wir "verstrickt" sind, fortwährend verändert werden.

Zur Geschichte

der phänomenologischen

41

Bewegung

bendig geschrieben. Schapp hat später ein zweites Buch dazu geschrieben: Philosophie

der Geschichten34.

Aber dieses Buch hat schon nicht mehr das-

selbe Niveau wie das erste; Schapp hat aus seinen Ideen bereits ein System gemacht. Es gibt eine zweite Abhandlung aus dem Göttinger Kreis, die auch um das Jahr 1910 erschienen ist und als eine psychologische Arbeit gilt, nämlich die Doktorarbeit von Heinrich Hofmann: Untersuchungen dungsbegrijfí^.

Uber den Empfin-

Ausgegangen wird dort vom Begriff der Empfindung, der

damals unter den Psychologen des naturwissenschaftlichen Typus' gang und gäbe war. Hofmann stand mit Georg Elias Müller in Beziehung, der damals Professor in Göttingen war, das Psychologische Institut leitete und in seiner Psychologie ein sehr emster Naturwissenschaftler war. Hofmann hat gewiß viel von ihm gelernt. Müllers Psychologie war eine klassisch-experimentelle Elementenpsychologie;

"Empfindungen"

verschiedener Art bildeten das

Hauptthema der Arbeiten am Institut. Aber Hofmann war zugleich Husserls Schüler. Seine Arbeit stellte sich folgende Aufgabe: Zunächst verschiedene Begriffe der Empfindung zu unterscheiden und dann in jenes Fahrwasser zu kommen, welches zu gewissen Grundlagen der Theorie oder Phänomenologie der äußeren Wahrnehmung führt. Im Gegensatz zu Schapp, der gar keine Empfindungsdaten anerkennen wollte, hat Hofmann eine sehr schöne Analyse der visuellen Erscheinungsweisen der Dinge und insbesondere dessen, was Husserl [damals] 36 "Ansicht" nannte, gegeben. Das Buch ist sehr suggestiv geschrieben und stimmt nicht bloß mit dem zusammen, was Husserl in den Ideen I gibt, sondern geht auch in der Beschreibung über die damals bekannten Husserlschen Analysen hinaus. Zugleich aber beschäftigt sich Hofmann nicht damit, was "reelles Bestandstück" der äußeren

Wahr-

nehmung ist bzw. nicht ist - eine Frage, die Husserl in den Ideen I mit besonderem Nachdruck erwägt. Hofmanns Arbeit erlaubt uns deshalb zu erschließen, was Husserl vor 1912 über die äußere Wahrnehmung im Rahmen seiner Vorlesungen vorgetragen hat. Indem ich dies sage, will ich Hofmanns Verdienste allerdings gar nicht schmälern.

34

W . Schapp, Philosophie

der Geschichten,

Leer 1959; Neuausgabe: Frankfurt a.M. 1981.

H. Hofmann, "Untersuchungen über den Empfindungsbegriff', Archiv Psychologie,

X X V I (1913),1-136.

'Xft ->° V.d.Hg. statt damals] eine.

für

die

Gesamte

42

Zweite

Vorlesung

Bemerkenswert ist noch das Folgende: Hofmann war befreundet mit einem Psychologen, einem Schüler von Georg Elias Müller und damaligen Dozenten am Institut, nämlich mit David Katz. Dieser schrieb zur gleichen Zeit wie Hofmann ein Buch, das dann unter dem Titel Die sen der Farben37

Erscheinungswei-

erschienen ist. Es handelt sich um ein "experimentelles"

Buch. Die beiden Verfasser waren auf dieselben Probleme gestoßen, hatten sich aber verabredet, miteinander nicht darüber zu sprechen. Doch es hat sich dann gezeigt, daß in dem Buche von David Katz verschiedene experimentelle Ergebnisse enthalten sind, die mit dem übereinstimmen, was auch Heinrich Hofmann in seinem Buche über die "Empfindungen" geschrieben hat. David Katz war Psychologe, Experimentalpsychologe, war aber natürlich durch Husserl und die Atmosphäre um ihn beeinflußt. Manche Dinge wurden bei ihm gerade phänomenologisch behandelt, wobei man dies aus dem erwähnten Buche noch nicht gut sieht. Man sieht dies erst aus einem späteren Buch von Katz, nämlich aus Der Aufbau der Tastwelt38.

Es

enthält eine Analyse der Tastwahrnehmung und dessen, was im Tasten gegeben ist. Meiner Ansicht nach ist es eine sehr schöne deskriptive phänomenologische Analyse, die aber als eine spezielle psychologische Betrachtung ausgegeben wurde. Man sieht daran, wie die phänomenologische Deskriptionsweise von einem bedeutenden Psychologen angeeignet und fortgesetzt wurde. Eine sehr bedeutende Rolle in der Göttinger-Phänomenologie spielte Adolf Reinach. Er hat nicht viele Arbeiten publiziert, weil er in jungen Jahren im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Nach dem Kriege wurden seine Gesammelte Schriften39

publiziert. Es handelt sich um einen Band, der alle von

ihm veröffentlichten Schriften enthält. Die bekannteste ist vielleicht die Ab-

37

D. Katz, "Die Erscheinungsweise der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung", Zeitschrift für Psychologie, bau der Farbenwelt,

38

Ergänzungsband 7 (1911). Buchauflage: Der Auf-

Leipzig ^ 1930.

D. Katz, "Der Aufbau der Tastwelt", Zeitschrift

für Psychologie,

Ergänzungsband 11

(1922), Buchausgabe: Leipzig 1925. Nachdruck: Darmstadt 1969. 39

A. Reinach, Gesammelte

Schriften,

Halle a.d.S. 1921. Vgl. B. Smith, "Adolf Reinach: An

Annotated Bibliography", in: Κ. Mulligan (ed.), Speech Act and Sachverhalt. the Foundations

of Realist Phenomenology,

Dordrecht 1987, 299-332.

Reinach

and

Zur Geschichte der phänomenologischen

43

Bewegung

handlung: "Zur Theorie des negativen Urteils" (1911) 40 . Dann gibt es eine Auseinandersetzung mit der Kausalitätstheorie von Hume sowie die bedeutendste seiner Schriften, die Abhandlung : "Über die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes", welche zuerst im ersten Band des Jahrbuches im Jahre 1913 erschienen war. 41 In Bruchteilen ist auch eine Abhandlung über die Bewegung vorhanden, zusammengestellt aus Reinachs Notizen zu seinem letzten Seminar im Jahre 1913/14 und z.T. aus den Protokollen dieses Seminars. Sie steht mit den Paradoxien von Zenon im Zusammenhang und stellt den Versuch dar, diese Paradoxien zu überwinden. Das war vielleicht das schönste Seminar, das ich in meinem Leben mitgemacht habe. Leider hat der Ausbruch des Krieges die Beendigung dieser Untersuchungen unmöglich gemacht. Die bedeutendste Schülerin Husserls war Hedwig Martius, die spätere Hedwig Conrad-Martius, die im Frühjahr 1912 bei Husserl promoviert hatte. 42 Sie lebte später vorwiegend in München und beschäftigte sich mit der Ausarbeitung ihrer Werke. Nach dem zweiten Weltkrieg hat sie einige Jahre an der Universität München gewirkt. Ihre Doktorarbeit behandelte Die erkenntnistheoretischen

Grundlagen des Positivismus (1912) 43 . Ihre nächste

im Grunde gegen Husserl gerichtete Abhandlung trägt den Titel Zur Ontologie und Erscheinungslehre

der realen Außenwelt ( 1916) 44 . Ihren Kern bildet

eine ausführliche Analyse der sinnlichen Grundlage der äußeren Wahr-

A. Reinach, "Zur Theorie des negativen Urteils", in: A. Pfander (Hg.), Münchener phische Abhandlungen,

Leipzig 1911, 196-254. Neudruck: Gesammelte

Schriften,

PhilosoHalle

a.d.S. 1921, 56-102; Sämtliche Werke, hrsg. v. K. Schuhmann/B. Smith, München 1989. 4

'

Vgl. Vorlesung I, Anm. 31.

42

Ingarden irrt sich. Vgl. die folgende Anm.

43

H. Conrad-Martius, Die erkenntnistheoretischen

Grundlagen

des Positivismus,

Bergzabern

1920 (Privatdruck) - Diese Schrift wurde im Zusammenhang einer für das Jahr 1911 ausgeschriebenen Preisfrage am 5. Juni 1912 von der Philosophischen Fakultät der Universität Göttingen preisgekrönt (vgl. Husserliana,

Dokumente I, Den Haag 1977, 157/58; 170).

Wegen besonderer Reglementbestimmungen konnte sie jedoch in Göttingen nicht als Dissertation eingereicht werden. Mit Hilfe von A. Pfänder wurde sie dann in München approbiert. Conrad-Martius, die vom WS 1910/11 bis SS 1912 in Göttingen studierte, hat tatsächlich also nicht bei Husserl promoviert (vgl. H. Spiegelberg (ed.), The gical Movement: A Historical Introduction, 44

Phenomenolo-

The Hague 3 1982, 213).

H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch III (1916), 345-542. Separater Teildruck als Dissertation, Halle a.d.S. 1913.

44

Zweite

Vorlesung

nehmung. Es ist da der Versuch unternommen worden, die Mannigfaltigkeiten von Empfindungsdaten in verschiedenen Sinnesgebieten deskriptiv zu bearbeiten, und dies alles in der Tendenz, eine besondere Art von realistischer Auffassung der Welt zu verteidigen. Frau Conrad-Martius hat den Husserlschen Übergang zum transzendentalen Idealismus nicht mitgemacht. Dies zeigt sich vor allem in dem einleitenden Kapitel dieser Schrift, in welchem das Phänomen der Seinsautonomie der realen Welt aufgewiesen wird. Die

weiteren

Kapitel

sind

der

Analyse

der Erscheinungs-

und

der

Empfindungsgegebenheit in der sinnlichen Erfahrung gewidmet. Insgesamt ist dies eine der bedeutendsten phänomenologischen Schriften auf diesem Problemgebiet. Sie ist mit einer seltenen Fähigkeit, die konkreten Phänomene auf eine sehr lebhafte und anschauliche Weise zu enthüllen, verfaßt. Zum Thema des Seinscharakters der Welt ist Frau Conrad-Martius in ihrer (1923) 4 5 zurückgekehrt. Dies ist

nächsten bedeutenden Schrift Realontologie

eigentlich die erste von der Phänomenologie her durchgeführte existentialontologische Untersuchung, in welcher wiederum mit großer Kraft gewisse ursprüngliche Seinscharaktere und andere ontologische Grund-Tatbestände enthüllt wurden. Leider sind diese beiden bedeutenden Arbeiten nicht abgeschlossen 4 6 ,

und

Frau

Conrad-Martius

hat

sich

später

anderen,

naturphilosophischén und metaphysischen Problemen zugewandt. Ihre späteren, zahlreichen und gewiß bedeutenden Schriften 4 7 gehen schon über den Kreis der Probleme, die für Husserl und die Göttinger Phänomenologie charakteristisch waren, hinaus und können hier nicht besprochen werden. Nur der Artikel "Die Zeit", der im Philosophischen

45

H. Conrad-Martius, "Realontologie I. Buch", Jahrbuch Realontologie,

46

Als Fortsetzung der Realontologie

stammungslehre,

Kosmos,

(1924) veröffentlichte Conrad-Martius: Ursprung

München 1949. Zeitschrift

Forschung 31 (1977), 301-309.

H. Conrad-Martius, "Die Zeit", Philosophischer 354-390.

und

Salzburg 1938; zweite u. erweiterte Auflage u.d.T. Ab-

Vgl. E. Avé-Lallemant, "Hedwig Conrad-Martius (1888-1966)-Bibliographie", für philosophische

48

VI (1923), 159-333. Sonderdruck:

Halle a.d.S. 1924.

Aufbau des lebendigen 47

Anzeiger (1917) 4 8 erschienen

Anzeiger H/2 (1927), 143-182; H/4 (1928),

Zur Geschichte der phänomenologischen

45

Bewegung

ist, fällt noch gewissermaßen in die frühere Periode der Phänomenologie der Frau Conrad-Martius. 49 Von den übrigen, zahlreichen Personen der Göttinger Gruppe kann ich hier nur noch wenige erwähnen. So z.B. Alexandre Koyré, ein Russe aus Odessa, der sich seit dem ersten Weltkrieg in Paris niedergelassen hat. Er hat bei Husserl Philosophie zu studieren begonnen, hat aber nicht bei ihm promoviert, sondern hat seine Studien erst in Frankreich abgeschlossen. An die Stelle eines ursprünglichen Interesses für systematische Probleme tritt später die Beschäftigung mit Problemen der Geschichte der Philosophie, woraus eine Reihe von Büchern hervorgegangen sind, wie z.B. Die Philosophie von Jacob Böhme, Descartes und die Scholastik, Drei Vorlesungen über Descartes.50 Später dann wandte er sich der Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit Kopernikus und Galilei zu. Koyré hat sich allmählich zu einem der bedeutendsten Historiker der Naturwissenschaften entwickelt und ist in dieser Richtung in Frankreich und in den USA sehr geschätzt. Die Phänomenologie hat ihm einen Zugang zum Verständnis von solchen Tendenzen der neuzeitlichen Naturwissenschaft verschafft, welche die übliche "Philosophy of science" nicht gesehen hat. Jean Hering, später Professor der Theologie in Straßburg, war einer der nächsten Schüler und Freunde Husserls noch aus der Göttinger Zeit. Er hat bei Husserl eine Dissertation über das Apriori bei Hermann Lotze zu schreiben begonnen, aber der Erste Weltkrieg hat sein Studium unterbrochen. Als Elsässer ist er nach 1918 französischer Bürger geworden, hat sein Studium in Frankreich beendet und schrieb dann nur noch auf französisch. Aber ein Teil seiner Lotze-Arbeit ist unter dem Titel "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee" 51 im Jahrbuch IV (1921) erschienen. Das ist eine Schrift von etwa 40 Seiten, welche aber sehr beachtenswert ist. Denn in 49

[Ingarden] Nach dem Zweiten Weltkrieg (1954) hat sie ein Buch über die Zeit veröffentlicht; es stellt aber eine völlig andere Behandlungsart dieses Problems dar. [Vgl. H. ConradMartius, Die Zeil, München 1954.1 A. Koyré, La philosophie

de Jacob Boehme, Paris 1929, ^ 1979; Descartes und die Schola-

stik, Bonn 1923, Nachdruck: Darmstadt 1971; Trois leçons sur Descartes, Vollständige Bibliographie in: Mélanges Alexandre

Koyré. L'aventure

le Caire 1938;

des sciences,

Paris

1964. 5

'

J. Hering, "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee", Jahrbuch (1921), 495-543.

IV

46

Zweite Vorlesung

ihr wurden über Husserl hinaus erste Schritte in der Ausarbeitung des Begriffs des Wesens unternommen. Wie ich bereits gesagt habe, hat Husserl in den Logischen

Untersuchungen

die "Species" als eine besondere Gegen-

ständlichkeit verteidigt, aber ihren Begriff (so wie auch den der Ideation als Akt, in welchem eine Spezies erfaßt wird) nicht mehr ausgearbeitet. In den Ideen

I

hat

Husserl

dann

den

Ausdruck

'Wesen'

(und

korrelativ

'Wesenserscheinung') eingeführt, aber die Ausarbeitung dessen, was ein "Wesen" von etwas ist, nicht weiter geführt. Bei der Lektüre der Ideen I im Jahre 1913 haben wir alle die Unreife der Lehre vom Wesen auf empfindliche Weise gespürt. So war es nur natürlich, daß Jean Hering - sobald er sich vor das Problem des "Apriori" bei Lotze gestellt sah - zuerst versuchte, die Lehre vom "Wesen" etwas weiter auszuführen. Unter einer gewissen Anknüpfung an manche Aristotelischen Begriffe hat er das "Wesen" eines individuellen Gegenstandes von der "Wesenheit" (der idealen Qualität) und von der "Idee" unterschieden und auch versucht, das Wesen von etwas Individuellem genauer zu bestimmen. Damit eröffnete er den Weg zur weiteren Behandlung des ganzen Problemzusammenhanges, wie sie später von anderen realisiert wurde. Gegenüber Husserls Lehre von der phänomenologischen Reduktion und vom transzendentalen Idealismus war er ebenso wie Koyré negativ eingestellt. Die letzte Person, die ich hier noch erwähnen möchte, ist Edith Stein. Ich weiß nicht, ob man sie hier in Norwegen kennt, in Deutschland, Frankreich und auch in Amerika jedenfalls ist sie nach dem letzten Krieg sehr bekannt geworden. Denn sie hat unerwartet eine große Karriere gemacht, allerdings nicht wegen ihrer philosophischen Tätigkeit. Ursprünglich von jüdischer Abstammung ist sie um das Jahr 1920 zum Katholizismus übergetreten, wurde dann im Jahre 1933 Nonne und wurde als Nonne von Hitler-Leuten in Holland gefangen genommen und im KZ Oswiecim (Auschwitz) umgebracht. In den letzten Jahren wurde ihr Beatifikationsprozeß eröffnet. Edith Stein war Schülerin Husserls und hat im Jahre 1916 bei ihm mit der Dissertation Zum Problem der Einfühlung52 promoviert. Seit Herbst 1916 war sie Husserls Assistentin und hatte bei ihm einige Jahre an seinen Manuskripten

Der Titel der Dissertation lautete ursprünglich: "Das Einfühlungsproblem in seiner historischen Entwicklung und in phänomenologischer Betrachtung". Buchausgabe: E. Stein, Zum Problem der Einfühlung, Halle a.d.S. 1917.

Zur Geschichte der phänomenologischen

47

Bewegung

gearbeitet, um sie zum Druck vorzubereiten. Die Ideen II und Ideen III sowie die Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins

sind

(nach dem Zweiten Weltkrieg) auf der Grundlage ihrer [Redaktionsarbeiten] 53 erschienen. 54 In ihrer Dissertation behandelte sie ein Problem, an dem auch Husserl gearbeitet hat und das für ihn eine große Bedeutung hatte, wie man dies u.a. aus seinen Méditations Cartésiennes55,

die er 1929 in Pa-

ris in ihren Kerngedanken vorgetragen hat, die aber erst 1931 erschienen sind, deutlich ersehen kann. Das Problem der Einfühlung wird da in die ganze Problematik des transzendentalen Idealismus einbezogen. In den Ideen I [macht es den Anschein, als ob nach der phänomenologischen Reduktion ein einziges reines Ego übrig bliebe, nämlich "mein" Ego, das philosophierende Ich - die anderen Egos sind ja "eingeklammert", sind unter die Klausel der Reduktion gefallen, als ob sie zur realen Welt gehörten] 56 . Der transzendentale Idealismus nimmt damit den Charakter eines Solipsismus an, welcher die Haltbarkeit der idealistischen Entscheidung in Frage stellt. So war für Husserl das Problem der "Einfühlung" als der Erfassungsart des fremden Ichs und der fremden Bewußtseinserlebnisse von aller größter Bedeutung. Wie wir wissen, steuert er in der vierten und fünften Meditation darauf hin, die Welt als Korrelat einer Mehrheit im Einverständnis lebender reinen Bewußtseins-Ichs aufzufassen. Da war die Klärung der "Einfühlung" natürlich unentbehrlich. Auch Max Scheler hat an diesem Problem gearbeitet. 57 Das Thema der Dissertation von Edith Stein stand also im Zentrum der damaligen Phänomenologie (zugleich wurde es von den deutschen Ästhetikern: Theodor Lipps und Johannes Volkelt behandelt).

53

V.d.Hg. statt Redaktion.

54

Vgl. Vorlesung I, Anm. 40 und 52.

55

Vgl. Vorlesung I, Anm. 16 und 17.

56

V.d.Hg. statt scheint es, daß nach der phänomenologischen Reduktion ein einziges reines Ego übrig bleibt, nämlich "mein" Ego, das philosophierende Ich; - die anderen Egos sind schon "eingeklammert", sie sind unter die Klausel der Reduktion gefallen, als wenn sie zu der realen Welt gehörten.

en M. Scheler, Zur Phänomenologie

und Theorie der Sympathiegefuhle

und von Liebe

Haß. Mit einem Anhang über den Grund zur Annahme der Existenz des fremden a.d.S. 1913. Zweite, erweiterte Auflage: Wesen und Formen der Sympathie, Frankfurt a.M. 5 1948. Gesammelte 258.

und

Ich, Halle Bonn 1923;

Werke VIÌ, hrsg. v. S. Frings, Bern/München 1973, 7-

48

Zweite Vorlesung

Später hat Edith Stein einige wertvolle Arbeiten zur philosophischen Grundlegung der Psychologie geliefert. 58 Aus ihrer Klosterzeit stammt ein wichtiges Buch Endliches und ewiges Sein59, das aber im Stil der Betrachtung von der Göttinger Phänomenologie bereits abweicht. Edith Steins Interesse für die philosophische Begründung der Psychologie ist sehr bezeichnend. Sie hatte als erste von den Phänomenologen einen Einblick in Husserlsche Handschriften und [konnte] 60 sich schon damals darüber orientieren, welche Bedeutung für Husserl die Abgrenzung der Psychologie von der transzendentalen Phänomenologie haben mußte. Die Psychologie hat übrigens bei Husserl ein merkwürdiges Leben geführt. Zuerst war er, als Schüler von Brentano, deskriptiver Psychologe. Dann war er zwar nicht mehr deskriptiver Psychologe, nannte seine Phänomenologie aber deskriptive Psychologie und zwar auch noch zu einer Zeit, als er sein scharfes Buch gegen den "Psychologismus in der Logik" bereits verfaßt hatte. Später schien es lange Zeit, als ob er ebenso scharf gegen Psychologie [als solche eingestellt] 61 wäre. Er hat sich viele Jahre hindurch immer wieder verteidigt: Die Phänomenologie - nein, sie habe mit Psychologie nichts zu tun. Psychologie sei eine mundane, empirische Wissenschaft über gewisse besondere Gegenständlichkeiten in der Welt, d.h. die Menschen. Und Phänomenologie sei keine mundane Wissenschaft, sie sei eine rein transzendentale Betrachtung, in welcher gezeigt werden soll, wie die reale Welt als Korrelat des reinen Bewußtseins konstituiert werde. Und auch die bei Husserl sogenannte rationale Psychologie sollte als eine eidetische Wissenschaft von der reinen Phänomenologie verschieden sein, weil sie sich mit dem Eidos der realen psychischen Individuen und nicht mit dem Eidos des reinen Bewußtseins und des reinen Ichs beschäftigt bzw. zu beschäftigen hat.

E. Stein, "Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften", Jahrbuch V (1922), 1-284. Vgl. Beiträge zur philosophischen der Psychologie und der Geisteswissenschaften

Begründung

- Eine Untersuchung über den Staat,

Tübingen 1970. E. Stein, Endliches und Ewiges Sein: Versuch eines Aufstiegs zum Sinn des Seins. Steins Werke, Bd. II, hrsg. v. L. Gerber/R. Leuven, Louvain 1950. 60

V.d.Hg. statt mußte.

61

V.d.Hg. statt selbst.

Edith

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

49

Obwohl Edith Stein in ihrer Dissertation Husserl und seinen Ideen 1 nahesteht, weicht sie doch in manchen Tendenzen ihrer Arbeit von Husserl ab. Sie hatte neben der Philosophie Geschichte, Germanistik und Psychologie studiert und war an der Grundlegung der Geisteswissenschaften, wie sie zur Zeit ihres Studiums vor allem durch Wilhelm Dilthey gelehrt wurde, sehr interessiert. So wird das Einfühlungsproblem von vornherein in engem Zusammenhang mit dem Problem der Grundlegung der verstehenden Psychologie und der Geisteswissenschaften behandelt. Deswegen entwickelte sie in ihrer Dissertation eine - wie sie sagt - "konstitutive" Betrachtung des Aufbaus des Menschen als eines leiblich-seelisch-geistigen Wesens. Im Grunde bildet diese Betrachtung den Hauptteil ihrer Dissertation, der es ihr erst ermöglicht zu erwägen, was eigentlich in der sogenannten "Einfühlung" zu erkennen ist. Die Einfühlung nämlich ermöglicht es uns, das leiblich-seelische Wesen des Menschen zu entdecken, wogegen das sich auf der Einfühlung aufbauende [Verstehen] 6 2 den Zugang zum geistigen Sein des Menschen eröffnet. Auf diesem Wege sollten die Grundlagen der verstehenden Psychologie (im Sinne Diltheys) und der Geisteswissenschaften überhaupt geschaffen werden, und zwar einer Psychologie, die neben

der reinen

transzendentalen Phänomenologie als eine gesonderte Wissenschaft bestehen und aufgebaut werden soll. Zu betonen ist dabei, daß Edith Stein zur Zeit, als sie ihre Dissertation schrieb, jene Manuskripte Husserls, die als Grundlage der Ideen II später von ihr selbst bearbeite.t wurden, noch nicht gekannt hatte. Aus diesen Manuskripten hat sie dann aber in den Jahren 1916/18 erfahren, wie sehr ihre Behandlung des Leibes und der menschlichen Seele derjenigen Husserls nahe stand. Ihre Bemühung um eine Grundlegung der "verstehenden" Psychologie in einem Diltheys (Auffassung) verwandten Sinne lag jedoch dem Standpunkt Husserls zur Zeit der Abfassung der Ideen I eher fern. Erst mehrere Jahre nach dem Ersten Weltkrieg schlug Husserl - wie schon angedeutet - einen Weg ein, der ihn zur Auffassung der "phänomenologischen" Psychologie als einer neben der reinen transzendentalen Phänomenologie betriebenen Disziplin führte. [In diesem

V.d.Hg. stall Verstehen) uns.

50

Zweite

Vorlesung

Punkte also hat sich Husserls Position der Stellungnahme Edith Steins angenähert.] 63 In den von Husserl selbst veröffentlichten Schriften zeigte sich das Bemühen, die Psychologie (im angedeuteten Sinne) in seine Betrachtungen miteinzubeziehen, zum ersten Mal in seinem "Britannica"-Artikel64, den er im Jahre 1927 - wie immer in mehreren Redaktionen - verfaßt hat. In seinen Vorträgen und insbesondere in seinen Universitätsvorlesungen zeigte sich diese Tendenz bereits früher, wie wir dies heute aus den in den Husserliana in den letzten Jahren publizierten Manuskripten ersehen können. In diesen hält er zwar an seiner negativen Stellungnahme gegenüber der Diltheyschen [Konzeption einer] 65 verstehenden Psychologie fest, zugleich aber entwikkelt er die (Konzeption) einer phänomenologischen Psychologie, die in eine gewisse Nähe zur Phänomenologie getreten ist. Im "Britannica"-Artikel spricht Husserl so, als ob die Phänomenologie und die Psychologie einander sehr nahe gerückt seien, ja, als ob die Phänomenologie zunächst und ursprünglich Psychologie wäre. Es scheint so, als ob [man] 66 nur eine Abbiegung oder nur eine Modifikation des Sinnes zu machen hätte, um von der Psychologie zur reinen, transzendentalen Phänomenologie zu gelangen. War dies nur ein didaktisches Mittel, dem fremden englischen Publikum einen leichteren Zugang zur Phänomenologie zu verschaffen? Oder war es der Versuch Husserls - nachdem Heideggers Sein und Zeit61 erschienen war und eine dynamische Wirkung zu entfalten begann -, mit der phänomenologischen Psychologie ein Gegengewicht zur Heideggerschen Betrachtung der "menschlichen Existenz" zu schaffen? Auch im letzten Buche Husserls, das er noch zum Teil selbst publiziert hat, in der Krisis, wird die Betrachtung lange Zeit so geführt, als ob es sich 63

V.d.Hg. statt wodurch die Wege Husserls in Edith Steins in diesem Punkte sich genähert haben.

^

E. Husserl, "Phenomenology" (englische Übersetzung v. C.V. Salmon), in: Britannica,

Encyclopaedia

vol. 17, London '^1929. Deutsche Originalmanuskripte in: Husserliana

IX

(hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1962, 237-301. 65

V.d.Hg. statt Auffassung der.

66

V.d.Hg. statt man] von der Psychologie.

67

M. Heidegger, "Sein und Zeit. Erste Hälfte", Jahrbuch

VIII (1927), 1-437. Sonderdruck,

Halle a.d.S. 1927. Ab 7. Auflage: Sein und Zeit, Tübingen 1953. Gesamtausgabe hrsg. v. F.-W. von Herrmann, Frankfurt a.M. 1977.

Bd. 2,

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

51

bei der Phänomenologie um Psychologie handle. Und erst fast am Schlüsse zeigt es sich, daß man die radikale transzendental-phänomenologische Reduktion durchführen muß, und eben damit auch das Gebiet der Psychologie verlassen und in das Problemfeld der reinen, transzendentalen Phänomenologie gelangen soll. Es sieht so aus, als ob die phänomenologische Psychologie nicht nur einen leichteren Zugang, sondern auch eine sozusagen natürliche Vorstufe der Phänomenologie bilden würde, so verschieden auch immer die letztere auf ihrem transzendentalen, "absoluten" Boden von jeglicher Psychologie bleibt. Wie parallel auch die Wege Husserls und Edith Steins mit Blick auf die angedeuteten Punkte in den frühen zwanziger Jahren zu verlaufen scheinen, so entfernte sich Edith Stein dennoch seit Mitte der zwanziger Jahre immer mehr von Husserl. Denn einerseits distanzierte sie sich im Laufe der Jahre immer mehr vom transzendentalen Idealismus Husserls, andererseits aber ist sie im Zusammenhang mit ihrem Übertritt zum Katholizismus auf große metaphysische Probleme gestoßen, die sie der Philosophie des Thomas von Aquino und auch des Aristoteles nahe gebracht haben. Dies deutete sich zuerst in ihrer kleinen Schrift "Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas von Aquino" 6 8 an und nahm eine feste und ausdrückliche Gestalt an in dem erst nach ihrem Tode veröffentlichten, aber bereits in den Jahren 1933-36 geschriebenen Buch Endliches und ewiges Sein. Von den Göttingern sind abschließend noch Fritz Kaufmann und ferner Hans Lipps, der später in Göttingen Professor wurde und im Zweiten Weltkrieg in Rußland gefallen ist, zu nennen. Das wäre also in einigen Strichen der "Göttinger Kreis", dem ich mich sehr nahe fühle, obwohl meine Schriften erst zu erscheinen begannen, als die Zeit der Göttinger Phase der Phänomenologie schon abgeschlossen war. 6 9 Neben den erwähnten Personen 68

E. Stein, "Husserls Phänomenologie und die Philosophie des hl. Thomas v. Aquino", Jahrbuch V (1929), Ergänzungsband (=Festschrift für Edmund Husserl zum 70. Geburtstag), 315-338. Neudruck in: Husserl, hrsg. v. H. Noack, Darmstadt 1973, 61-86.

69

Vgl.: "Im Frühjahr 1916 war außer mir in Freiburg nur Rudolf Meyer... Im Sommer ... kam Frl. Edith Stein, um ihr Doktorexamen bei Husserl abzulegen, und ist dann ab Herbst 1916 für knapp zwei Jahre als Assistentin Husserls geblieben. Von anderen Göttinger Schülern Husserls sind nach dem Kriege nur einige für einige Zeit nach Freiburg gekommen, wie z.B. Hans Lipps und Fritz Kaufmann; der nächste Mitarbeiter Husserls in Göttingen, Adolf Reinach, ist im Herbst 1917 gefallen, ebenso wie eine Reihe anderer naher und begabter

52

Zweite

Vorlesung

gehörten zum Göttinger Kreis außerdem noch mehrere begabte junge Leute, die im Laufe des Ersten Weltkrieges im Felde gefallen sind. Nun möchte ich aber zur Besprechung der einzelnen phänomenologischen Probleme übergehen. Es ist natürlich eine Vereinfachung, wenn ich sage, daß Husserls Phänomenologie, und zwar von den Logischen Untersuchungen an, eine Reaktion gegen die philosophische Atmosphäre gewesen sei, die in Deutschland in seiner Jugend, d.h. in den 90-er Jahren herrschend war. Es ist eine Vereinfachung, denn natürlich geht das, was Husserl in jahrzehntelang dauernder Arbeit an [Problemen zur Sprache gebracht und an Lösungen realisiert hat] 70 , weit darüber hinaus, um als [bloße Reaktion auf] 71 die vorhandene Philosophie gelten zu können. Husserl war Selbstdenker oder - wenn Sie wollen Autodidakt. Und leitend waren natürlich seine eigenen "Einfälle" (wie er nicht nur einmal sagte), seine Intuitionen; die Unzufriedenheit mit der bestehenden Philosophie war für ihn nur ein äußerer Impuls zum Selbstdenken. Trotzdem ist es zweckmäßig, uns zum Bewußtsein zu bringen, gegen welche Behauptungen oder Strömungen er sich in seiner Arbeit richtete. Denn von dieser Gegenüberstellung aus ist es leichter, seine eigenen Bestrebungen zu verstehen. Es gab in dieser Atmosphäre zwei Faktoren, die für ihn - [und] 72 nicht nur für ihn - vielleicht die bedeutendsten waren. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, daß Husserl ursprünglich Mathematiker war. Der eine Faktor, den ich schon erwähnt habe, war die nachhegelianische Situation in Deutschland: die Entstehung der empirisch-experimentellen Psychologie, aber auch die deskriptive Psychologie und alles, was mit Psychologie zusammenhängt: der sich daraus entwickelnde Psychologismus. Den anderen

Schüler Husserls (wie Rudolf Clemens, Frankfurter u.a.). Endlich sind mehrere andere Schüler und Freunde Husserls, wie Alexander Koyré, Jean Hering, Winthrop Bell u.a. im Ausland geblieben; Frau Conrad-Martius und ihr Mann, Dr. Theodor Conrad, haben sich für viele Jahre in Bergzabern versteckt - der Göttinger Phänomenologenkreis als eine kulturelle Ganzheit hat im Grunde aufgehört zu existieren, und Husserl sprach nur von Zeit zu Zeit über seine 'älteren Schüler', die aus seinem Gesichtskreis verschwunden waren." (Ingarden (1968a), 120). 70 7 72

V.d.Hg. statt Problemen und ihrer Lösung realisiert hat. '

V.d.Hg. statt eine Gegenwirkung gegen. V.d.Hg. statt und] vielleicht.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

53

Faktor bildete die Gestalt, in welcher jene Philosophie auftrat, welche auf Philosophie (im traditionellen Sinne) nicht verzichten wollte. Denn die Psychologen haben in irgendwelcher Weise auf Philosophie verzichtet, sie wollten bestenfalls einen Ersatz für sie schaffen [nämlich gerade die Psychologie, die aber als Hauptwissenschaft der Philosophie doch Wissenschaft sein wollte und eben nicht Philosophie im traditionellen Sinne] 73 . Neben diesen Psychologen gab es aber (wie gesagt) auch Philosophen im traditionellen Sinne. Wer hat die Philosophie nach [dem Niedergang der Hegeischen Philosophie] 74 und des Deutschen Idealismus überhaupt weitergeführt? Und woraus ist die erste neue philosophische Strömung erwachsen? Nun, das war die Wissenschaft von der Philosophie. Und welche Wissenschaft von der Philosophie gab es denn? Das war die Geschichte der Philosophie; sie wurde damals eifrig betrieben. Man hat verschiedene Philosophen, einzelne Strömungen sozusagen unter die Lupe genommen und den Gehalt ihrer Lehren analysiert. Der bedeutendste Historiker zu Beginn dieser Periode in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Kuno Fischer. Er hat eine Menge von sehr interessanten Büchern geschrieben. Er war Hegelianer, hatte also Sinn für Geschichte, und hat sich insbesondere mit der Neuzeitlichen Philosophie beschäftigt. Es gab noch eine ganze Anzahl von anderen Historikern. Eine besondere Gruppe bildeten die klassischen Philologen, die die Griechische Philosophie eifrig studierten und zur Erhaltung der alten Tradition beigetragen haben. So entstand eine Wissenschaft, eine ganze Lehre über die bestehende Philosophie - immer weiter entfernt von der Philosophie selbst, d.h. von den Problemen und von der Welt, über welche die Philosophie selbst handelt; eine Lehre, die immer nur an Werke, an philosophische Bücher angeknüpft hat. Man arbeitete da immer in fremden Gedanken und über fremde Begriffe, über fremde Theoreme. Es entstand in gewissem Sinne eine besondere Weise des Philosophierens, eine (Art von) Begriffsphilosophie, wo man fremde Begriffe herauspräparierte, umarbeitete, kombinierte usw.

73

V.d.Hg. statt das ist gerade die Psychologie, die Hauptwissenschaft der Philosophie, aber doch bloß die Hauptwissenschaft sein wollte; Typg: so ist gerade die Psychologie, die Hauptwissenschaft der Philosophie, welche aber doch die Hauptwissenschaft sein wollte.

74

V.d.Hg. statt der Katastrophe Hegels.

54

Zweite Vorlesung

Dabei entfernte man sich zusehends und immer mehr von der Wirklichkeit selbst (und den philosophischen Problemen, die diese aufwirft). Unter diesen Historikern waren zwei Forscher, die [zwar auch im Sinne dieser Art von Begriffsphilosophie arbeiteten]75, die aber zugleich die bestehende Philosophie als Antrieb zum eigenen Philosophieren genommen haben und so den Anfang für eine neue philosophische Strömung schufen. Ich meine einerseits Albert Lange, der eine Geschichte des Materialismus76 geschrieben hat, vielleicht das bedeutendste Buch zu diesem Thema. Er war aber auch der erste Neukantianer. Der zweite war Otto Liebmann. Von ihm hat einmal Georg Simmel ein witziges Wort gesagt: "Otto Liebmann war so außerordentlich, daß er bloß außerordentlicher Professor werden konnte". Otto Liebmanns erstes Buch, das einen Impuls für die weitere Forschung gegeben hat, war Kant und die Epigonen.11 Kant - das meint: Die Kritik der reinen Vernunft und die übrigen Kritiken; die Epigonen - das sind: Fichte, Schelling, Hegel. Es geht also um eine Geschichte dieser Bewegung von Kant bis zum Höhepunkt des Deutschen Idealismus. Es geht aber eigentlich nicht um bloße Geschichte, denn jeder von Kants Epigonen wird da unter die Lupe genommen und scharf kritisiert. Und jedes Kapitel endet mit dem bekannten Satz: "Zurück zu Kant!". Die Epigonen - das ist nichts! Zurück zu Kant! Und dies ist im Grunde der Anfang des Neukantianismus. Eine [besondere Variante] 78 des Neukantianismus ist die sogenannte Marburger Schule, in der Liebmann, von den ersten Impulsen abgesehen, später nichts mehr geleistet hat. Im Jahre [1876] 79 hat er zwar noch eine interessante Arbeit, nämlich Zur Analysis der Wirklichkeit80 veröffentlicht, aber das ist schon etwas ganz anderes. Die Marburger Schule dagegen wurde - wie bekannt - von Hermann Cohen begründet, der in den 70er Jahren Kants 75

V.d.Hg. statt sich zwar auch damit beschäftigt haben. F.A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn/Leipzig 1866; Neudruck: Frankfurt a.M. 1974.

77

O. Liebmann, Kant und die Epigonen. Eine kritische Abhandlung, Stuttgart 1865; Berlin

78

V.d.Hg. statt andere Abart.

1912. 79

V.d.Hg. - Ingarden datiert fälschlich auf das Jahr 1883. O. Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit. Eine Erörterung der Grundprobleme Philosophie, Straßburg 1876; 4 1911.

der

Zur Geschichte der phänomenologischen

55

Bewegung

Theorie der Erfahrung81 veröffentlichte und seinen Standpunkt in der Folge in zahlreichen Büchern weiter ausgebaut hat. Neben ihm war Paul Natorp ein Hauptvertreter der Schule. Dann gab es noch eine Reihe anderer, die schon nicht mehr so "reine" Marburger waren. So z.B. Ernst Cassirer, welcher mit seinem großen Werk Das Erkenntnisproblem

(1906-1920) 82

zunächst als Historiker hervorgetreten war. Später hat er mit dem Buch Substanzbegriff und Funktionsbegriff

{1910)83 die Reihe seiner systematischen

Arbeiten begonnen, um schließlich einen neuen Standpunkt - die Philosophie der symbolischen Formen 84 - auszuarbeiten, mit dem er sich in manchen Punkten der Phänomenologie angenähert hat. Zu den Marburgern gehörte in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg auch Nicolai Hartmann. Er hat in Marburg studiert und hat sich dort habilitiert, ist aber später dem Neukantianismus untreu geworden. Und als Reinach im Frühjahr 1914 nach Marburg fuhr, um dort über die Phänomenologie zu sprechen, sagte er uns nachher: "Nun ja, mit Hartmann kann man sprechen, mit dem können wir uns verständigen". So ist Hartmann dann in dieser Richtung weiter gegangen und ist zu einer merkwürdigen [Variante] 85 der Phänomenologie gekommen, die sehr von Kant, aber auch vom Neukantianismus beeinflußt war, und die dann auch mehrere Jahre hindurch unter einem starken Einfluß des Deutschen Idealismus stand (vgl. Das Problem des geistigen SeinsSè).

In

späteren Jahren, besonders (unter dem Einfluß von Max Scheler) in seiner

81

H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung,

Berlin 1871; Werke Bde. I/1-I/3, hrsg. v. H. Holz-

hey, Hildesheim/Zürich/New York 1987. 82

E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem

in der Philosophie

und Wissenschaft

der neueren

Zeit,

3 Bde., Berlin 1906-1920. Nachdruck in 4 Bde.: Darmstadt 1973/74. 83

E. Cassirer, Substanzbegriff

und Funktionsbegriff,

Berlin 1910; Nachdruck: Darmstadt

1980. 84

E. Cassirer, Philosophie Darmstadt

9

der symbolischen

1988. Zweiter

Formen. Erster Teil: Die Sprache, Berlin 1923;

Teil: Das mythische

Dritter Teil: Phänomenologie

der Erkenntnis,

Denken,

Berlin 1924; Darmstadt

8

1987.

Berlin 1929; Darmstadt 8 1982. Index (be-

arbeitet von H. Noack), Berlin 1931; Darmstadt 7 1982. 85

V.d.Hg. statt Abart. N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins. Untersuchungen schichtsphilosophie

und der Geisteswissenschaften,

zur Grundlegung

Berlin 1932; 3 1962.

der Ge-

56

Zweite Vorlesung

Ethik und in seiner 4-bändigen Ontologie, hat er eine Art eigener Phänomenologie entwickelt. 87 Zur Zeit als Husserl seine Logischen Untersuchungen geschrieben und publiziert hat, also um das Jahr 1900 und in den darauffolgenden Jahren, war die Marburger Schule und der Neukantianismus überhaupt - wenigstens in Deutschland - bereits vorherrschend. Aber Husserl war Schüler von Brentano, und Brentano war sehr gegen Kant und noch mehr gegen den Deutschen Idealismus - ja überhaupt gegen die Deutsche Philosophie - gesinnt. Das war auch bei den Brentanisten der Fall, bei Husserl, Twardowski, Meinong usw. So war der Neukantianismus damals eine Größe, an der Husserl zunächst vorbeiging. Vielleicht stand er zwar zu Natorp in einer näheren persönlichen Beziehung, aber gegen den Neukantianismus hat er zunächst weder gekämpft noch sich für ihn ausgesprochen. Er ist an ihm vorbeigegangen. 88 Indessen war das, wogegen Husserl sich in den 90-er Jahren und später innerlich gerichtet hat, einerseits die Begriffsphilosophie - jene Wissenschaft über die Philosophie - und andererseits nicht eigentlich die Psychologie, sondern der Psychologismus mit seiner naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode. Dies konnte Husserl nicht ertragen, gegen das mußte er sich wenden. Warum war Husserl gegenüber der Begriffsphilosophie so kritisch? Husserl hatte einen besonderen Ausdruck verwendet, um den Stand der damaligen Philosophie zu brandmarken. Er hat mir einmal gesagt, was ihn persönlich an der damaligen Philosophie so empört habe, sei der "Hader" - wie er sagte -, also der Streit, der Zank zwischen den verschiedenen Richtungen und philosophischen Schulen gewesen. Daß man nicht eine Philosophie haben konnte, daß man miteinander bloß zankte, die Positivisten gegen die Kantianer, die Kantianer gegen die Positivisten usw. Und alles immer in so großer Distanz von den Sachen selbst, immer bloß in angeeigneten Begriffen

87

N. Hartmann, Ethik, Berlin 1926; 4 1962 - Zur Grundlegung der Ontologie, Berlin 1934; 4

1965. Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin 1937; 3 1966. Der Aufbau der realen Welt.

Grundriß der allgemeinen Kategorienlehre, Berlin 1939; 3 1964. Die Philosophie der Natur. Abriß der speziellen Kategorienlehre, Berlin 1950; ^ 1980. 88

Vgl. dazu I. Kern, Husserl und Kant. Eine Untersuchung über Husserls Verhältnis zu Kant und zum Neukantianismus, Den Haag 1964, 1-23.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

57

usw. ! - "Das ist doch gar nicht auszuhalten; es muß doch eine Wissenschaft geben, eine Philosophie!" Es gab ja um diese Zeit auch nur eine Mathematik, nicht wahr? (Ob es auch heute eine Mathematik gibt, d.h. ob es heute eine Interpretation der Mathematik gibt - das weiß ich nicht, das kann aber bezweifelt werden. Aber sicher gibt es die Mathematik selbst als Einheit! 89 ) Also die Idee der einen Philosophie und nicht vieler Richtungen, diese Idee hat Husserl in seiner Arbeit während seines ganzen Lebens bewegt. Immer wieder hat er Versuche gemacht, die eine Philosophie zu begründen, und er tat es in seinem Leben auf verschiedene Weise. Bis zu seinem letzten Lebensjahr war er mit größtem Eifer und Enthusiasmus damit beschäftigt. Was für eine Philosophie aber? Ja - das ist die Frage. Was aber hat ihm an der Psychologie bzw. am Psychologismus nicht gefallen? Als Husserl eingesehen hatte, daß er in der Philosophie der Arithmetik90 den falschen Weg gegangen war, war es zunächst dies, daß der Psychologismus zu einer [künstlichen] 91 Umdeutung der Gegenständlichkeiten, über die man spricht, führt, - daß da an dem Gegenstand der Betrachtung irgendwie vorbeigeschossen wird. Unter welchem Einfluß? Unter der Herrschaft der Psychologie natürlich - und zwar vielleicht weniger der experimentellen Psychologie als sogar vielmehr unter dem Einfluß der deskriptiven Psychologie, die man ja in der modernen Philosophie, zum Teil auch unter dem Druck der genetischen Psychologie, seit langem betrieben hat. Und zweitens: Warum hat man in den psychologistischen Theorien (an den Gegenständen der Betrachtung) so sehr vorbeigeschossen? Nun, das lag an der geschichtlichen Situation. Was ist damals zusammengebrochen? Eine Philosophie, die von Kant ausging, die also glaubte, die einzige Möglichkeit, eine verantwortliche Philosophie zu schaffen, sei eine (im Kantischen Sinne) apriorische Philosophie, wobei das "Apriori" mit der Kantischen Theorie der apriorischen [Anschauungs- und Denkformen] 9 2 verbunden war. Das hat bei Kant leider zum Ergebnis geführt, daß eine Wand - die Kategorien und die Anschauungsformen - zwischen uns und die Wirk-

89

Vgl. Ingarden ( 1925a), 238-242; ( 1964c), 23 ff.

^

Vgl. Vorlesung I, Anm. 34.

9

'

99

V.d.Hg. statt künstlichen] begrifflichen. V.d.Hg. statt Anschauungsformen und der Kategorien.

58

Zweite Vorlesung

lichkeit gesetzt wurde, und daß das Ding an sich eigentlich unzugänglich blieb. Diese Wand aber sollte irgendwie durchbrochen werden. 93 Es gibt bekanntlich zwei verschiedene Deutungen Kants. Die eine [ist die sozusagen anthropologische Deutung (manche sagen, diese bringe den spezifisch Kantischen Psychologismus zum Vorschein), gemäß der die Kategorien und die Anschauungsformen besondere, nur für den Menschen notwendige Formen des Verstandes und der Anschauung sind] 94 . Der Art [nach wäre also nur von menschlicher Erkenntnis die Rede] 95 . Daß wir uns dieser Anschauungsformen und Kategorien [notwendigerweise bedienen] 96 , würde uns mithin ebenso glücklich wie unglücklich machen. Glücklich, weil wir nach Kant auf diesem Wege zu einer objektiven Erkenntnis gelangen können, - "objektive Erkenntnis", d.h. daß wir in der subjektiv bedingten menschlichen Erkenntnis allgemein oder besser: intersubjektiv geltende Sätze begründen können (Mathematik usw.). Unglücklich, weil die notwendigen [Anschauungs- und Denkformen] 97 uns von der realen Welt abschneiden: Wir bleiben in der Welt der Erscheinungen eingeschlossen; die Dinge an sich dagegen sind für uns Menschen, die wir diese Anschauungsformen und Kategorien verwenden müssen, unzugänglich. Viele meinen indessen, daß die Kritik der reinen Vernunft nicht im Sinne einer anthropologischen Theorie gelesen werden darf, sondern im Sinne einer sozusagen "reinen" Erkenntnistheorie zu verstehen ist - einer [Erkenntniskritik, die das transzendentale Ich betrifft] 98 . Das transzendentale Ich aber ist nicht mit dem Menschen identisch, sondern ist ein erkennendes Ich überhaupt. Und wenn die Kategorien und die Anschauungsformen notwendigerweise angewandt werden, dann sind nicht bloß wir Menschen, sondern jedes erkennende Ich überhaupt von der realen Welt, von der Welt der Dinge an sich, abgeschnitten. 93 94

Vgl. Ingarden (1921a), 423-461; (1925b); (1973a). V.d.Hg. statt (Typjt/Typß) sozusagen anthropologische Deutung, - worüber manche sagen, es sei der Psychologismus Kants, - und wo die Kategorien und die Anschauungsformen für besondere Formen des Verstandes und der Anschauung gehalten werden, die für den Menschen notwendig sind.

95

V.d.Hg. statt Der Art wäre also bloß die menschliche Erkenntis.

96

V.d.Hg. statt notwendig bedienen müssen.

97

V.d.Hg. statt Formen.

98

V.d.Hg. statt reinen Erkenntniskritik für das transzendentale Ich.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

59

Später, viele Jahre nach diesen beiden Interpretationsvorschlägen zu Kant, hat dann Heidegger darauf hingeweisen, daß in der Kritik der reinen Vernunft auch von einem Intellectus Archetypus, d.h. von Gott, die Rede ist, der von den Kategorien frei ist: Nur ein endlicher Intellectus, nicht aber der Archetypus, hat keinen Zugang zu den realen Dingen, zu den Dingen an sich. Das ist das Ergebnis des Buches von Heidegger." Sie wissen, wie sich dies alles früher im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Da gab es vor allem eine Reihe von Versuchen, die Wand, die uns von der realen Welt trennen soll, irgendwie zu durchbrechen (Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer). Später entstand noch eine andere Interpretation: Lassen wir das Ding an sich weg! Es handelt sich bloß um einen Grenzbegriff, den wir gar nicht brauchen. Auf diese Weise erhält man die neukantianische Marburger-Interpretation: einen transzendentalen Idealismus ohne das Ding an sich. Jedenfalls war die nach-Kantische Philosophie, in der man versucht hat, wiederum irgendeinen Zugang zur absoluten Wirklichkeit, zu den Dingen an sich zu gewinnen, auch "apriorisch", wenn auch unter Beseitigung gewisser Kantischer Theorien über das Apriori. Und diese "apriorische" Philosophie des Deutschen

Idealismus

ist um

die

Mitte des

19.

Jahrhunderts

zusammengebrochen. Was blieb danach? Die Auffassung, daß es bloß empirische Erkenntnis gibt. Von welcher Art? Nun, das ist klar, (von der Art der) sinnlichen Erfahrung. Wer ist nämlich siegreich aus der ganzen Krise hervorgegangen? - Die empirische Naturwissenschaft. Sie ist Sieger geworden und beherrscht das Feld, im Grunde schon über 100 Jahre - nur daß sich die Philosophen manchmal wehrten und sich nicht gleich ergeben wollten. Was bleibt dann für die Philosophie, wenn sie noch bestehen soll? Entweder soll Philosophie - wie man oft behauptet hat - eine Synthese der Ergebnisse der Naturwissenschaften, der Wissenschaft überhaupt, sein - wie es z.B. die "Philosophy of science" ist. 100 Oder die Philosophie soll irgendwie ein eigenes Erkenntnisgebiet erwerben. Die Naturwissenschaft hat die ganze materielle Welt beherrscht - also Physik, Chemie, Biologie. Es bleibt also noch das Psychische übrig, mit dem sich die Psychologie zu beschäftigen hätte. Denn zu dieser Zeit, nach 1850, herrschte die Auffassung vor, daß es nur 99

M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik,

100 vgl. Ingarden (1936) und unten Vorlesung III.

Bonn 1929; Frankfurt a . M . 4 1 9 7 3 .

60

Zweite Vorlesung

zwei Typen des Seins gäbe: das Physische und das Psychische. Ein bemerkenswerter Dualismus: Wenn etwas nicht physisch ist und doch irgendwie ist, dann ist es psychisch. Also, wenn man "Philosoph" bleiben wollte, konnte man nur Psychologie betreiben. Wie kann man aber die Psychologie betreiben? Als eine apriorische Wesenslehre? "Auf keinen Fall!", behauptete man, "Da kann man nur empirisch verfahren, man muß da alles empirisch behandeln!" Konsequenz: Die Psychologie - ob bei Brentano oder bei den Psychophysiologen - ist eine empirische Wissenschaft und verwendet natürlich die naturwissenschaftliche Erkenntnismethode. Dies wurde besonders von den experimentellen Psychologen für ganz selbstverständlich gehalten. Ich habe früher einen ziemlich späten empirischen Psychologen erwähnt, nämlich Georg Elias Müller. Er war ein echter Naturwissenschaftler, hat empirische Methoden, Experimente, statistische Methoden usw. sehr streng angewandt, war sehr ehrlich in seiner Arbeit, und es war für ihn ganz selbstverständlich, daß Psychologie eine Naturwissenschaft sei. Was ist aber in dieser naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode enthalten? - Es ist hier erforderlich, auf einige Aspekte hinzuweisen, die dann auch Husserl, sobald er sich gegen den Psychologismus gewandt hatte, bekämpfte. Zum Teil nämlich scheint es, [daß er doch etwas sehr Wichtiges aus der empirisch-positivistischen Methode der Naturwissenschaften übernommen hat. Aber wie sich bald zeigen wird, wird dieses dann doch irgendwie umgedeutet und anders aufgefaßt] 101 . Also, welches ist das Grundprinzip des Empirismus? Es besteht in der These, daß die Erfahrung die Grundgattung allen Erkennens ist. Ohne Erfahrung gibt es keine Wissenschaft. Was ist aber "Erfahrung"? Man meint damit sinnliche, "äußere" Erfahrung: Sehen, Hören usw. Es gibt höchstens noch eine zweite Art der Erfahrung, nämlich die sogenannte "Reflexion" oder "Introspektion" oder, wenn Sie wollen, "innere" Wahrnehmung. Ich habe gesagt "höchstens" denn Sie wissen, daß sich Auguste Comte, der Schöpfer des Positivismus in Frankreich, sehr entschieden dagegen ausgesprochen hat. Daß eine "innere" Wahrnehmung, eine "reflection of ideas" in Ansatz gebracht wird, geht zwar weit - mindestens bis auf Locke - zurück. Trotzdem gab es im 19. Jahr-

'01 V.d.Hg. statt (TypA/Typß) daß er dann doch etwas übernimmt, etwas sehr Wichtiges, - aber wie es sich bald zeigen wird, ist das doch irgendwie anders gemeint.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

61

hundert und später bis in unsere Zeit mehrere Angriffe gegen diese Art von Erfahrung. Das zweite wichtige Verfahren der naturwissenschaftlichen Methode besteht im Experiment, und zwar im auf physikalische Weise betriebenen Experiment, wobei man die experimentell gewonnenen Ergebnisse mit statistischen Methoden, mit Berechnungen der Mittelwerte, der Streuung usw. behandelt. Und die Psychologie bildet da keine Ausnahme. Natürlich habe ich das als Schüler von Georg Elias Müller am Psychologischen Institut in Göttingen alles auch getan. Des weiteren ist die Induktion zu erwähnen. Jede empirische Wissenschaft ist induktive Wissenschaft, d.h. verfährt induktiv-verallgemeinernd. Das Ergebnis? Wahrscheinliche, d.h. mehr oder weniger wahrscheinliche, allgemeine Behauptungen, die nie voll bewiesen werden können. Dies ergibt sich aus der Struktur der Induktion. Und schließlich noch etwas: Jede Naturwissenschaft (Physik, Chemie, Biochemie usw.) sucht nach Ursachen. Solange zu einer Tatsache, die irgendwie in irgendeiner Erfahrung gegeben ist, die kausalen Faktoren nicht gefunden worden sind, solange ist die Feststellung dieser Tatsache eigentlich keine wissenschaftliche Behauptung. Man muß eben diese kausalen Faktoren finden. Dabei gibt es gewöhnlich zu einer Tatsache, die da auftritt, eine Vielheit von verschiedenen [kausalen Faktoren, die erst'zusammen die volle Ursache bilden bzw. zu einer bestimmten Wirkung führen] 1 0 2 . Wenn man diese kausalen Faktoren nicht findet, so hat man also noch keine "Wissenschaft". [Genetische Problemstellungen, von denen aus auf induktiver Basis allgemeine Gesetze, eben "Kausalgesetze", gewonnen werden sollen darin besteht der Kern der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise.] 103 So bildet die ganze Erfahrung, die unmittelbare Erfahrung und insbesondere die sinnliche Wahrnehmung sozusagen nur einen Anfang zu etwas anderem, einen Anfang, bei dem auf die volle Gegebenheit dessen, was da erscheint, nicht besonders achtgegeben wird. Man konzentriert sich im-

V.d.Hg. statt Faktoren, die kausal sind und die volle Ursache bilden, bzw. zu einer Wirkung führen. 103 y d.Hg. statt (Typ^/Typß)

Genetische Probleme, und zwar genetische Probleme, die zu ge-

netischen, allgemeinen induktiven Gesetzen, zu den "Kausalgesetzen" führen - das ist der Kem der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise.

62

Zweite

Vorlesung

mer nur auf einzelne Momente, einzelne Seiten des Gegebenen, die da merkwürdigerweise im Fluß sind, während andere Faktoren zugleich künstlich, durch eine experimentelle Anordnung, relativ stabilisiert werden. Man braucht dabei nicht das Ganze, was da passiert, zu sehen, sondern es ist nur darauf zu achten, wie sich das betreffende Moment bei Einschaltung eines bestimmten kausalen Faktors ändert. Man könnte auf die Wahrnehmung sozusagen verzichten: Man kann ja nur Apparate haben, die dasselbe tun; die feststellen, was sich bei Einschaltung eines bestimmten Faktors, z.B. des elektrischen Stroms von einer bestimmten Spannung, ändert. Man hat auch Meßapparate erfunden, von einer solchen Feinheit und Empfindlichkeit wie sie kein Mensch je haben könnte. Die Maschinen machen jetzt in gewissem Sinne alles; der Mensch ist bloß dazu da, das Ganze einzurichten. Dann aber spielt sich alles wie von selbst ab - und die Ergebnisse sind schon fertig. Sie können sogar sofort berechnet werden, und schon hat man ein Gesetz, ein kausales, physikalisches Gesetz gefunden. Die Rolle der unmittelbaren Erfahrung wird so langsam, aber zunehmend [unwichtiger] 104 . Der lebendige Mensch und sein unmittelbarer Verkehr mit der Wirklichkeit - wird zu einer Nebensache. Die Hauptsache sind eben jene Kausalgesetze; Hauptsache ist diejenige Wirklichkeit, die an die Stelle der gesehenen, gefühlten, gehörten Wirklichkeit gesetzt wird und die in sich gar nicht qualitativ bestimmt ist. Es ist bloß eine begrifflich bestimmbare Welt, sozusagen eine "Wolke" aus Atomen oder Elektronen, Elementarteilchen usw., die sich in dem euklidischen oder auch nicht euklidischen Räume mit wahnsinniger Geschwindigkeit bewegen. Und das, was wir sehen, ja, das spielt im Grunde keine Rolle, das kann auch eine Maschine feststellen. Und weil die Maschinen so vorzüglich sind, ist heute die Physik so weit, und die Rolle der unmittelbaren Erfahrung tritt immer mehr zurück. Und man sagt schließlich: Wie ist die Welt? - Die Welt ist so, wie sie die theoretische Physik bestimmt hat. Und sie hat die Welt so bestimmt, daß sie in dem, was sie eigentlich ist, nicht nur nicht wahrnehmbar, sondern überhaupt nicht vorstellbar ist.

104 Y d Hg statt zurückgedrängt.

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

63

So weit war es damals in Husserls Jugendjahren noch nicht gekommen, 105 aber jedenfalls hatte sich der Stellenwert der unmittelbaren Erfahrung (in den Naturwissenschaften) bedeutend vermindert. Sie war nicht etwas für sich Wichtiges: sie war nur Mittel, nur Übergang zu etwas anderem. Und außerdem wurde die Gesamtheit des Gegebenen in gewissem Sinne beschränkt und verfälscht. Beschränkt deswegen, weil - wie ich schon sagte nicht das Ganze, was da geschieht, für die (Erkenntnis von) Kausalgesetzen interessant ist, sondern nur ausgewählte, gerade in Betracht gezogene Momente eines Dinges oder eines Vorgangs. Das Übrige könnte fortfallen bzw. muß nicht berücksichtigt werden. Und in welchem Sinne wurde die Gesamtheit des Gegebenen "verfälscht"? Nun, das ist eine lange Geschichte. Man denkt hier einerseits an die Ergebnisse der Wissenschaft, der Naturwissenschaft und insbesondere der Physik, die - wie Sie wissen - immer weiter in Richtung auf eine Atomtheorie, Elektronentheorie, Theorie der Elementarteilchen usw. geht. Es ergibt sich da eine immer weiter in minimale "entia" zerschlagene Welt. Alles, was angeblich ein Ding ist, soll "in Wirklichkeit" eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Atomkernen und Elektronen sein, die sich unglaublich schnell bewegen, ohne - wenn wir jetzt auf das Anschauliche zurückkommen - irgendwie qualitativ bestimmt zu sein. Das ist einerseits die Folge einer immer weiter gehenden Analyse, andererseits die Folge der Eliminierung von Qualitäten. Das alles hat eine alte Tradition. In der Neuzeit geht dies bis auf Descartes und Locke zurück. Wenn Sie Descartes lesen, da finden Sie [nämlich auch die sogenannte Analyse] 106 , als sehr wichtige Betrachtungsart der Sinne und auch des Bewußtseins (cogitationes). Und bei Locke gibt es zunächst zwei Arten von Ideen: "ideas of sensation" und "ideas of reflection". 107 Es gibt des weiteren "einfache Ideen" und "zusammengesetzte Ideen" - andere Ideen gibt es nicht.

' ° 5 Zur Kritik an Husserls späterer (gemäß Ingardens Sicht "verpaßten") Rezeption der Ergebnisse der modernen Physik vgl. Ingarden (1964b). 106 y d Hg ¡(¡¡¡ι auch eine Betrachtung: die Analyse. [Ingarden] Man verkürzt das und sagt einfach sensations (Empfindungen)! Das ist eigentlich nicht richtig, denn es heißt doch "ideas of sensation" - "sensation" ist also eine Funktion. Und die "ideas of sensation" sind "Ideen", die mit Hilfe dieser Funktion des "Empfindens" erreicht werden.

64

Zweite

Vorlesung

Und alle zusammengesetzten Ideen sind auf die "einfachen" zurückzuführen. Wenn man Locke ganz genau liest, sind die "einfachen" Ideen im Grunde abstrakt, denn die konkreten sind immer aus mehreren Elementen zusammengesetzt. Diese Auffassung lebte in der Tradition bis mindestens zu John Stuart Mill weiter. Und mit John Stuart Mill kommt sie dann im 19. Jahrhundert wiederum auf den Kontinent. Denn tatsächlich spielte John Stuart Mill lange Zeit eine große Rolle in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft und natürlich auch der modernen Philosophie. Da werden also immer wieder dieselben Grundbegriffe verwendet: "einfache" und "zusammengesetzte" Ideen und "Assoziationen" zwischen ihnen. Dann tritt Ernst Mach auf, der (wie Sie wissen) zwar noch nicht an die Atome der Physik glaubte - er dachte, es handle sich um eine wissenschaftliche Konstruktion. Gar nicht viel später hat man aber [gezeigt] 108 , daß "Atome" doch keine Konstruktion sind, sondern einer Wirklichkeit entsprechen. In seiner Philosophie bzw. Psychologie jedoch war Ernst Mach (überzeugter) "Atomist". Um welche "Atome" aber geht es da? Um die sogenannten "Elemente" oder anders: um Empfindungen ("einfache Ideen"). Und was gibt es außerdem? Es gibt Komplexe aus Elementen, es gibt also einfache und zusammengesetzte Ideen, nicht wahr? Dahinter steckt natürlich auch Berkeley mit seinem Idealismus. In gewissem Sinne ist Mach nämlich auch Idealist. 109 Da haben wir also [die für die damaligen Positivisten typische] 1 1 0 Auffassung des Bewußtseins. Das Bewußtsein ist nach ihr eine besondere Kombination von Elementen und auch eine besondere Kombination von Komplexen. Und was ist die (materielle) Welt? Sie ist eine andere Kombination von

Komplexen,

letztlich

also

aus

Elementen

zusammengesetzt.

"Bewußtsein" - das meint also vor allem Elemente, oder anders gesprochen: "Empfindungen", "Sensationen", elementare, nicht mehr differenzierbare Einheiten. Und dann gibt es mannigfaltige Komplexe aus "Elementen", die (ihrerseits) irgendwie zusammenkleben oder zusammengenommen werden

108

V.d.Hg. statt gefunden.

109

[Ingarden] Vgl. z.B. das erste Kapitel von Analyse der Empfindungen

[vgl. Vorlesung I,

Anm. 70; d. Hg.], unter dem Titel: "Antimetaphysische Vorbemerkungen". 1,0

V.d.Hg. statt diese.

Zur Geschichte der phänomenologischen

65

Bewegung

usw. Aber es muß nicht [so] 111 sein, daß (ganz) bestimmte Komplexe vorhanden sind; es kann auch anders gemacht, es können andere Komplexe gebildet werden. Die Komplexe sind da nicht ewig, sie können so oder anders zusammengesetzt sein. Vom Bewußtsein,

das man von diesen Elementen

und Komplexen hat, ist bei Mach nichts geblieben. Wie es dann zur Bildung von Komplexen kommen kann, wer oder was sie durchführt, das bleibt ungeklärt. Und vom lebendigen Bewußtsein als Fluß, als Strom, ist ebenfalls nichts geblieben. Es gibt nur jenes in Stücke, in Elemente zerfallende "Bewußtseins". Das ist aber im Grunde überhaupt kein "Bewußtsein", es gibt (letztlich) nur Empfindungen, "Elemente" und bereits die Komplexe sind gewissermaßen "illusionär". Also, das ist die Situation, die Husserl vorgefunden hat und gegen welche er auftreten mußte. Es gab aber schon früher Proteste dagegen. Ein Protest war Husserl, wie ich Ihnen schon früher sagte, bereits bekannt: William James ist in seiner Psychologie 112 [gegen die Assoziationspsychologie] 113 aufgetreten. Husserl hat sein Buch in einer deutschen Übersetzung, mit Sicherheit vor den Logischen Untersuchungen

gelesen. Und auch uns hat er

immer wieder gesagt: "Lesen Sie James! James ist sehr weit." 1 1 4 Der zweite Protest - literarisch ein oder zwei Jahre vor der

Philosophie

der Arithmetik - liegt in Henri Bergsons Essai sur les données immédiates de la conscience115

vor. Es ist ein scharfer Angriff gegen die Assoziations-

psychologie. Und zwar scheint es, daß er vor allem gegen die Engländer gerichtet ist; er ist aber auch gegen Hippolyte Taine gerichtet, der eine Philosophie der Kunst116 geschrieben hat. Nach der Auffassung Bergsons gibt es zwei Aspekte des Bewußtseins: den sogenannt statischen Aspekt (und den Aspekt der reinen Dauer). Der statische

Aspekt

meint

das

Bewußtsein,

das

"verräumlicht"

wird

-

"verräumlicht", weil "l'espace homogène et le temps, c'est la même

11

' V.d.Hg. statt so) gemacht.

112

Vgl. Vorlesung I, Anm. 79.

'

V.d.Hg. statt dagegen.

'

Vgl. M. Tavuzzi, "A Note on Husserl's Dependence on William James". Journal of the British Socien for Phenomenology

10(1979), 194-196.

115

Vgl. Vorlesung I, Anm. 82.

116

H.-A. Taine, Philosophie de l'art, Paris 1865; 2 1880.

66

Zweite

Vorlesung

chose" 117 , wie Bergson sagt. Es geht hierbei um eine ein- oder mehrdimensionale homogene Mannigfaltigkeit. Der statische Aspekt des Bewußtseins aber ist eine Fiktion des Intellekts. Das reale, wirkliche Bewußtsein - "c'est la durée pure", die reine Dauer, das fließende Bewußtsein, das Bewußtsein, in dem es keine Elemente gibt. Elemente sind Fiktionen der Analyse. Das, was konkret erlebt wird, ist eine Einheit, ist ein Ganzes. [In einem anderen Sinne ist es aber wiederum kein Ganzes, sondern ist nur ein Übergang] 118 , entsteht und verschwindet: es fließt eben. Diesen "Essai" hat Husserl zwar nicht gekannt. Aber seine Auffassung ging doch in dieselbe Richtung wie jene von James und Bergson, gegen die Elementenpsychologie, die Elementenphilosophie von damals. 119 Sein Protest gegen die damalige Philosophie ging allerdings noch viel weiter. Eine Sache aber ist besonders merkwürdig: Es gibt mehrere verschiedene methodische Prinzipien, die da (von der damaligen positivistischen Philosophie) aufgestellt wurden. Das erste Prinzip, das später bei Husserl das "Prinzip aller Prinzipien" 120 heißt, und von ihm also auch aufgestellt wurde, lautet: Es gibt kein Wissen ohne Erfahrung! Zunächst muß das Erfahrene in der Erfahrung erfaßt werden, und alles andere muß aus der Erfahrung gewonnen, entwickelt und letzten Endes durch die Erfahrung begründet werden. Darauf antworten aber die Positivisten: "Das wollen wir ja auch. Es ist nichts Neues!". Und Husserl sagt später in den Ideen I: "Wir sind die Positivisten, die eigentlichen Positivisten!" 121 - Ja, dieses Prinzip wird natürlich vieldeutig, wenn es von den beiden sich bekämpfenden Parteien aufgestellt und zur Losung erklärt wird. Während es für die damaligen Psychologen und Positivisten nur eine Erfahrung gibt, oder höchstens zusätzlich noch die innere Erfahrung - da heißt es bei Husserl, daß es viele verschiedene Grundtypen der Erfahrung, besser gesagt: der unmittelbaren Erkenntnis gibt. Aber auch der Begriff der Erfahrung, der unmittelbaren Erkenntnis, ist bei

117

[Ingarden] Der einheitliche Raum und die Zeit sind dieselbe Sache.

118

V.d.Hg. statt Es ist auch in einem anderen Sinn kein Ganzes, es ist bloß Übergang.

119

[Ingarden] Die Antwort Husserls darauf wird in der nächsten Vorlesung besprochen.

120

Vgl. Husserliana

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 51.

121 Vgl.: "Sagt 'Positivismus'

soviel wie absolut vorurteilsfreie Gründung aller Wissenschaften

auf das 'Positive', d.i. originär zu Erfassende, dann sind wir [sc. die Phänomenologen] die echten Positivisten." (Husserliana

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976,45).

Zur Geschichte der phänomenologischen

Bewegung

67

Husserl ganz anders (zu verstehen) als der Begriff der Erfahrung, der in der damaligen Psychologie und Philosophie aktuell war. [Was eigentlich verstehen die Positivisten, die Naturwissenschaftler, welche Philosophie treiben, unter "Erfahrung"? "Erfahrung" meint gemäß ihnen das Haben von Empfindungen oder einfacher: "Erfahren" ist identisch mit "Empfinden".] 122 Dem wird Husserl ebenfalls entgegentreten. Aber das Prinzip selbst bleibt: Erfahrung als die wirklich unmittelbare Erkenntnis ist die letzte Grundlage allen Wissens und muß in ihrem Recht anerkannt werden. Doch darüber mehr in der nächsten Vorlesung.

122

V.d.Hg. statt Was ist eigentlich der Begriff der "Erfahrung" bei den Positivisten. bei den Naturwissenschaftlern, die Philosophie treiben usw.? Das ist das Haben von Empfindungen oder einfacher - es ist die Empfindung.

Dritte Vorlesung (29. September

1967)

(Drei Prinzipien der (Husserlschen) Phänomenologie) Heute möchte ich in medias res der Phänomenologie eintreten. Bis jetzt habe ich in einigen Zügen die geistige Atmosphäre gekennzeichnet, in welcher Husserl zuerst lebte und gegen die er sich dann mit seinem Programm der Phänomenologie gewendet hat. Natürlich beinhaltet meine Rekonstruktion der (damaligen) geistigen Situation eine gewisse Vereinfachung, und zwar mit Absicht. Denn es handelte sich nicht darum, die ganze damalige Situation in der Philosophie und speziell in der Deutschen Philosophie darzulegen, sondern nur dasjenige irgendwie anzudeuten, worin Husserl selbst lebte, was für ihn [wichtig] 1 war. Nach der letzten Vorlesung hat mich jemand gefragt: "Ja, wie ist das mit Dilthey gewesen, hat er in dieser Zeit nicht gewirkt?" - Gewiß, aber Husserl war in dieser Zeit für die Ideen Diltheys eigentlich unempfänglich. Dilthey existierte damals in gewissem Sinne für ihn nicht, obwohl es gerade Dilthey war, der Husserls Ernennung zum Professor wesentlich gefördert hat. Dilthey hat Husserl gehört, aber Husserl hat gewissermaßen Dilthey nicht gehört. Und überhaupt waren diejenigen Probleme, die Dilthey behandelt hat - (und zwar) sowohl in der Verstehens-Psychologie wie auch [in seinen von dieser Psychologie erkennbar geprägten Arbeiten zur Geschichte] 2 -, für Husserl während vieler Jahre im Grunde nicht vorhanden. Die ältesten Stellen, wo er dagegen Stellung genommen hat, finden sich in der Schrift "Philosophie als strenge Wissenschaft" (1911) 3 . Dort hat Husserl gegen die Weltanschauungsphilosophie Front gemacht, und darunter war natürlich vor allem Dilthey gemeint. Für die besonderen Dilthey-Probleme ist Husserl (erst) relativ spät empfänglich geworden. Zwar hat er bereits in den späten zwanziger Jahren eine Auseinandersetzung mit Diltheys psychologischem Standpunkt durchgeführt 4 , aber erst sehr spät, in den dreißiger Jahren (und

V.d.Hg. statt eine Atmosphäre. V.d.Hg. statt (Typp/Typg)

in der Weise des Verständnisses der Geschichte - von der Ver-

stehenspsychologie her -, die bei Dilthey kenntlich ist. Vgl. Vorlesung I, Anm. 38. Vgl. Husserliana

IX (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1968.

70

Dritte

Vorlesung

zwar nach 1933), lebte in ihm das Interesse für die Probleme der Philosophie der Kultur und der Philosophie der Geschichte auf. Die einzigen kritischen Stellen in den Ideen I sind nicht gegen Dilthey und auch nicht gegen Kant oder den Neukantianismus, sondern gegen positivistische Mißverständnisse gerichtet, und zwar im Zusammenhang [mit]5 Problemen des Wesens und der Wesenserkenntnis. Aus der Atmosphäre indessen, wie sie für Husserl in seiner Jugend und wohl auch nach der Philosophie der Arithmetik existierte, und gegen die er in jener Zeit Front machen wollte, sind die [Grundprinzipien]6 der phänomenologischen Methode entstanden. Es wird da ein Programm aufgestellt, in dem gewisse Grundprinzipien zum Ausdruck kommen - Prinzipien, die dann von Husserl und von seinen Schülern in der damaligen Göttinger Zeit und auch später in Freiburg konsequent realisiert wurden. Ich möchte hier zunächst drei solche [Grundprinzipien]7 nennen, aus denen sich die phänomenologische Philosophie als eine besondere Methode entwickelt hat. Da ist zuerst das sogenannte "Prinzip aller Prinzipien". Dieses "Prinzip aller Prinzipien" wird schon am Anfang der Ideen I präzis formuliert. In einer populären Fassung kann es mittels der oft angeführten Losung "Zurück zu den Sachen (selbst)!" ausgedrückt werden. Wieder anders läßt es sich in die Worte fassen: "Zurück zur ursprünglichen, unmittelbaren Erfahrung!", wobei (der Sinn) des Wortes 'Erfahrung' noch präzisiert werden muß. Für das "Prinzip aller Prinzipien" werde ich Ihnen sogleich die Husserlsche Formulierung geben. Das zweite [Prinzip fordert] 8 die Realisierung der unmittelbaren Erkenntnis in der Sphäre der sogenannten idealen Gegenständlichkeiten [(wie z.B. mathematischen Gegenständen)]9, also die Realisierung der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis. Und das dritte Prinzip fordert die Realisierung der "immanenten" Erkenntnis. Das zweite (Prinzip) führt bei Husserl und seinen Freunden [zur Ontologie] l0 , zu Be-

5 6

V.d.Hg. statt mit) den. V.d.Hg. statt Grundtendenzen - Der ganze Absatz wurde entsprechend geändert, vgl. Anm. 7. V.d.Hg. statt Grundprinzipien oder Grundtendenzen.

8

V.d.Hg. statt Postulat oder Prinzip betrifft.

9

V.d.Hg. statt wie sie z.B. die Mathematik behandelt.

Ό

V.d.Hg. stall zu den ontologischen Problemen.

Drei Prinzipien der Husserlschen

Philosophie

71

trachtungen verschiedener Art in allen möglichen (gegenständlichen) Sphären, und das dritte Prinzip führt zur transzendentalen Reduktion usw., woraus sich dann eine ganz bestimmte Weltauffassung oder Weltanschauung ergibt, die sich bei Husserl in den zwanziger Jahren und zu Beginn der dreißiger Jahre zum sogenannten transzendentalen Idealismus entwickelt hat. Was nun aber besagt jenes "Prinzip aller Prinzipien"? In den Ideen / lesen wir: "Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der "Intuition" originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen"."

Diese "originär gebende Anschauung" - sie ist eben das, wofür ich hier zunächst den Ausdruck 'unmittelbare Erfahrung' verwendet habe. Man darf sie durchaus als "unmittelbare Erfahrung" bezeichnen. Ich glaube, es ist gut, diese Wendung zu benutzen, weil sich dann erst der Gegensatz zwischen der "Erfahrung" im Sinne Husserls (jener originär gebenden Anschauung oder Intuition) und [der "Erfahrung" im Sinne der Empiristen] 12 bzw. der Positivisten zeigt. 'Erfahrung' ist [ein Wort der deutschen Alltagssprache] 13 , 'originär gebende Erfahrung ' - das ist bereits ein Kunstausdruck, und was dieses 'originär' letzten Endes bedeuten soll, kann nicht ganz präzis gesagt werden. Wenn man an das lateinische Wort 'origo' denkt, so glaubt man, daß es sich da um eine solche "gebende" Anschauung handeln muß, die zur "Quelle", zum "Ursprung" von etwas, nämlich von der Erkenntnis werden soll. Und diese Anschauung, diese gebende, originär gebende Anschauung soll dann, wie Husserl sagt, "Rechtsquelle" sein. Was für eine Rechtsquelle soll das sein? Also Quelle des Rechts. Was für eines Rechts? Des Rechts der Erkenntnis. Husserl hat eine ganze Gruppe von Grundproblemen, die man gewöhnlich zur Erkenntnistheorie zählt, als "Rechtsprobleme" bezeichnet.

11

[Ingarden] Das steht in den "Ideen I" Seite 52 der Husserliana Ausgabe/S. 34 Original. [Zur Stelle vgl. Husserliana

III/] (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 51.]

12

V.d.Hg. statt dem Begriff der "Erfahrung" bei den Empiristen.

13

V.d.Hg. statt ein gewöhnliches deutsches Wort.

72

Dritte

Vorlesung

Es wird das "Recht" gewisser Erkenntnisergebnisse in dieser ursprünglichen, originären Erfahrung erwiesen; das "Recht" auf Wahrheit, auf Geltung, soll da aus der letzten, originär gebenden Anschauung ihre rechtmäßige Begründung erhalten. Sie ist die Quelle der Geltung oder der Wahrheit. Daß es eine solche Quelle überhaupt gibt, das soll nicht mehr diskutiert werden, das soll nicht mehr sozusagen dialektisch behandelt werden. Das ist einfach anzunehmen. Was originär gegeben wird, ist hinzunehmen, sagt Husserl; es gibt da nichts mehr zu fragen oder gar zu bezweifeln. Und zwar gibt es mindestens ein Gebiet [von Gegenständlichkeiten, betreffs deren anschaulicher Erfahrung Husserl später sagen wird, es sei deswegen nichts zu fragen und zu bezweifeln, weil zu bezweifeln ein Widersinn sei. Gemeint ist jene Erkenntnisquelle, die später "immanente Wahrnehmung" genannt wird] 14 . Es gibt da aber noch eine ganz merkwürdige Ergänzung in Husserls Fassung des "Prinzips aller Prinzipien". Es soll das originär Gegebene hingenommen werden, allerdings nur "in den Schranken, in denen es sich gibt". "In den Schranken!" - Was sind das, die "Schranken" des Gegebenen? Dies kann erst später genauer erklärt werden, vorderhand muß folgendes genügen: Es wird da angedeutet, daß es in jenem Gegebensein, in jener letzten Quelle, noch gewisse Erkenntnisunterschiede gibt, daß das Gegebensein nicht überall dasselbe Recht, dieselbe Kraft der Ausweisung hat. Und darin zeigt sich, wenn man genauer überlegt, der erste Unterschied zwischen dem (Husserlschen) Begriff der Erfahrung oder der originär gebenden Anschauung und dem traditionellen empiristischen Begriff. Es gibt eine Reihe von Unterschieden zwischen Erfahrungsakten und auch zwischen ihrer erkenntnismäßigen Leistungsfähigkeit. Ich werde darauf noch eingehen. Jetzt aber beginne ich mit Folgendem: Bei den Empiristen und speziell bei den Positivisten gab es höchstens zwei verschiedene Typen oder Arten der Erfahrung. "Höchstens" - denn z.B. bei Comte gab es im Grunde nur eine Weise der Erfahrung, und das war die äußere oder genauer die sinnliche Wahrnehmung. Schon die sogenannte "innere" Wahrnehmung, die Reflexion oder "Introspektion" wurde - das

V.d.Hg. statt (Typ^/Typß)

solcher Gegenständlichkeiten, bei denen Husserl dann später sa-

gen wird, es sei in dem Sinne nicht zu fragen und zu bezweifeln, weil es Widersinn ist, es noch zu bezweifeln. Da ist diese Quelle desjenigen, was später die "immanente Wahrnehmung" genannt wird.

Drei Prinzipien der Husserlschen

Philosophie

73

werden Sie wissen! - von Comte bezweifelt: Er stellte in Frage, ob sie überhaupt möglich sei (und überlegte sich), ob sie nicht eine Verhaltensweise sei, die den zu erkennenden Gegenstand, nämlich die eigenen Erlebnisse (des Erkennenden), zerstöre. Es kommen da alle jene Zweifel in Betracht, die später in der Psychologie gegen die sogenannte Introspektion erhoben worden sind. Dies bildete den Anfang der behavioristischen Psychologie und auch der sogenannten "objektiven" Psychologie bzw. Reflexiologie etc. etc., wo nicht nur jede Möglichkeit der unmittelbaren Erfahrung eigener Erlebnisse, sondern bei gewissen Richtungen auch überhaupt das Vorhandensein des Bewußtseins geleugnet wird. Diese äußerste Grenze wird in den Konsequenzen [der Pawlowschen Physiologie] 15 erreicht. Indessen wird dies doch nicht allgemein anerkannt. Z.B. war Franz Brentano überzeugt, daß es eine innere Wahrnehmung gebe, während bloß die Beobachtung eigener Erlebnisse nicht möglich sei. Er macht dabei einen scharfen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Beobachtung. Wenn die Beobachtung eigener Erlebnisse zum Aufbau einer deskriptiven Psychologie unentbehrlich wäre, dann wäre diese Psychologie auch gemäß Brentano nicht möglich. Brentano meint aber, daß [diese Beobachtung] 16 (tatsächlich) nicht notwendig sei. Man könne vielmehr Mittel finden, die eigenen Erlebnisse irgendwie zunächst unmittelbar zu (er)fassen und sie dann noch in anderen methodischen Schritten (erkenntnismäßig) zu bestimmen, um (so) die deskriptive Psychologie zu ermöglichen. Für Husserl und die Phänomenologen, und zwar sowohl der früheren wie der späteren Periode, gibt es dagegen nicht eine, und auch nicht zwei, sondern mehrere verschiedene Grundarten der unmittelbaren Erkenntnis, der originär gebenden Anschauung. Ich sagte "mehrere". Wie viele aber? Ja, das hängt davon ab, wie viele Grundtypen von Erkenntnisgegenständen [überhaupt anzunehmen] 17 , anzuerkennen sind. Sie sind aber dann und nur dann anzuerkennen, wenn es einen unmittelbaren Zugang, eine unmittelbare Erfahrung von ihnen gibt. Die Weisen jedoch, in denen man diese Gegenständlichkeiten [verschiedener Seinsgebiete] 18 erfahren bzw. erfassen kann, sind sehr verschieden. Es herrschte sowohl bei Hus-

15

V.d.Hg. statt aus Pavlovs Physiologie und seinen anderen Arbeiten.

16

V.d.Hg. statt dies.

17

V.d.Hg. statt (Typ^/Typß) es gibt, die überhaupt anzunehmen.

18

V.d.Hg. statt in verschiedenen Seinsgebieten.

74

Dritte

Vorlesung

seri wie bei seinen Mitarbeitern die Grundüberzeugung, daß eine ganz besondere und merkwürdige Beziehung zwischen dem Erkennen, und zwar dem ursprünglichen, originär gebenden Erkennen, und der Struktur und Seinsweise der zu erkennenden Gegenstände vorliegt. Es gibt da eine besondere Korrelativität, Zugehörigkeit zwischen den formalen und materialen Eigenheiten wie auch der Seinsweise der zu erkennenden Gegenstände (einerseits) und der Verhaltensweise, die man (andererseits) vollziehen muß, um zu diesen Gegenständen einen erkenntnismäßigen Zugang zu finden. [Wenn man den Versuch nicht unternimmt, sich den ganz verschieden gestalteten, ganz verschieden beschaffenen Gegenständlichkeiten gegenüber, um sie zu fassen, auch ganz verschieden zu verhalten]19, dann deutet man diese Gegenständlichkeiten um, oder (aber) man hat überhaupt keinen Zugang zu ihnen. Dann baut man gewisse, auf Blindheit beruhende Theorien, die nicht das treffen, was da wirklich zu fassen ist. Wenn Sie mich aber nun fragen, [welche Seinsgebiete in Frage kommen] 20 , welche verschiedenen Typen von Gegenständlichkeiten möglich sind, dann kann ich Ihnen hier nur einige Beispiele geben. Ich glaube nämlich nicht, daß wir in der Erkenntnis schon so weit sind, um bereits mit Bestimmtheit sagen zu können, welche Seinsgebiete und welche Abwandlungen gegenständlicher Struktur überhaupt möglich sind. Wir müssen uns also mit Beispielen zufrieden stellen. So zum Beispiel gibt es die Gegenständlichkeiten der sogenannt "äußeren" Welt, insbesondere der materiellen Welt. Das sind nicht bloß Dinge, das sind natürlich auch Vorgänge, das sind auch Ereignisse, das sind ebenfalls besondere [Beziehungen]21 wie z.B. die kausale Beziehung und andere. Dann haben wir eine zweite Seinsregion, nämlich das sogenannt Psychische, vor allem das Eigenpsychische, das eben in der "inneren" Wahrnehmung erfaßt werden soll. Das "Eigenpsychische" ist etwas, was nicht mit den eigenen Bewußtseinserlebnissen identisch ist. Diesen Unterschied betont auch Husserl. Ich als physisch-leiblich-seelisches Wesen und insbesondere auch als seelisches Wesen bin etwas anderes als meine fließenden Erlebnisse, die sich so oder anders entwickeln, vollziehen

19

V.d.Hg. statt Wenn man diesen Versuch nicht unternimmt, den so anders gestalteten, anders beschaffenen Gegenständlichkeiten gegenüber sich anders zu verhalten, um sie zu fassen.

20

V.d.Hg. statt was das für Seinsgebiete sind.

21

V.d.Hg. statt Beziehungen], Relationen,.

Drei Prinzipien der Husserlschen

Philosophie

75

und vorübergehen. 22 Durch diese besonderen Erlebnisse gelangen psychische Tatsachen, psychische Prozesse, psychische Strukturen - wie z.B. meine auf besondere Weise strukturierte Person - zur Erscheinung. [Auch da also verläuft der erkenntnismäßige Zugang über die innere Wahrnehmung. Sie reicht aber zum Erfassen des Eigenpsychischen nicht aus; ja, sie reicht bereits nicht aus, die Erlebnisse selbst zu erfassen. Für den letzteren Fall verwendet] 23 Husserl einen anderen, etwas merkwürdigen Ausdruck. Er spricht da von "immanent gerichteten" Akten, insbesondere von der "immanenten" Wahrnehmung. 24 Sie ist etwas ganz anderes als die "innere" Wahrnehmung. Eine innere Wahrnehmung liegt z.B. vor, wenn ich mich anläßlich irgendeines Ereignisses dabei ertappe, "im Grunde" - entgegen allem Anschein "furchtsam" zu sein. Oder ich erfasse plötzlich, daß in mir etwas passiert ist, wovon ich nicht wußte; aber es ist bereits passiert, schon gewesen, und erst jetzt weiß ich davon. Es handelt sich dabei nicht um meine (Bewußtseins-) Erlebnisse, sondern um gewisse Tatsachen "in" mir, die sich sozusagen "hinter" meinen Erlebnissen verbergen. Z.B. habe ich jemanden geliebt, so wie man Menschen liebt, Männer und Frauen. Und das hat mich ganz ergriffen und beherrscht: Ich habe mich darunter tief verwandelt. Es hat sich auch auf verschiedene Weise in meinem Leben ausgedrückt, so daß die Anderen es erfassen konnten: Ich wußte noch nicht, daß ich liebe, da wußte sie schon, daß ich sie liebe; sie hat dies bemerkt, bevor ich selbst wußte, daß ich liebe. Und eines Tages erlebe ich etwas, wie eine Erleuchtung: Ich komme zur Überzeugung, daß alles schon längst vorbei ist. Jetzt läßt mich dies kalt, die ganze Person. Ich kann nichts dafür und ich kann auch nichts ändern. Das ist in mir so geschehen, das ist irgendwie ausgestorben. Wann? Wo? Längst. Ich wußte es nicht. Mein Leben hat sich äußerlich nicht verwandelt. Neue Erlebnisse kamen und gingen, aber "dahinter", diese gewesene Liebe, sie war nicht mehr da. Diese Liebe - sie ist nicht die Vorstellung von Liebeserlebnissen, [sie ist auch nicht identisch mit irgendwelchen anderen Bewußt-

22

Vgl. dazu Ingarden ( 1965b), 289-367, besonders 294. V.d.Hg. statt Auch da ist also der erkenntnismäßige Zugang durch die innere Wahrnehmung; aber die innere Wahrnehmung reicht da nicht aus und schon nicht, um das Erlebnis selbst zu fassen. Da verwendet.

24

Vgl. Husserliana

III/1 (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 79ff.

76

Dritte Vorlesung

seinserlebnissen]25, sie ist etwas ganz anderes. Daß sie vorhanden oder nicht vorhanden ist - dies bedeutet eine tiefe Wandlung in mir als psychischem Wesen. [Es geht hier um einen besonderen] 26 Erkenntniszugang zu dem, was in mir als Person geschieht: Längere Zeit bringe ich es mir überhaupt nicht zum Bewußtsein; es schlägt nur von Zeit zu Zeit (in) die Oberfläche des Bewußtseins durch und zeigt sich als das, was in mir wirklich passiert ob ich es nun will oder nicht. In welchem Sinne ich auf meine Liebe einen Einfluß habe oder auch keinen Einfluß habe, das ist eine andere Frage, jedenfalls geht sie über meine Bewußtseinserlebnisse hinaus. Im Weiteren gibt es aber auch irgendeinen erkenntnismäßigen Zugang zu den Bewußtseinserlebnissen selbst. Diesen erkenntnismäßigen Zugang hat Husserl "immanente" Wahrnehmung genannt. Sie ist natürlich noch näher zu beschreiben. Wie Husserl sie in den Ideen I bestimmt hat, darauf werde ich noch zurückkommen. Außer den genannten gibt es noch verschiedene andere Typen von

Gegenständlichkeiten, die ebenfalls mittels einer un-

mittelbaren Erfahrung zu erkennen sind. [Wie aber ist sie der Art nach beschaffen?] 27 Ja, dies ist eine Frage, die jetzt nicht auf befriedigende Weise beantwortet werden kann. Es ist aber möglich, auf die verschiedenen Grundarten der Erfahrung hinzuweisen. Da ist z.B. das Fremdpsychische - das Fremdpsychische, das in einem anderen Menschen, mit dem ich verkehre, vorhanden zu sein oder stattzufinden scheint. Wie erlange ich ein Wissen von ihm? Daß ich es erlange, scheint unzweifelhaft, da sonst z.B. ein gemeinsames Handeln nicht gelingen würde - was aber doch Tatsache zu sein scheint. Die Psychologen, und speziell die empiristisch-positivistisch eingestellten Psychologen, sagen zwar, es gäbe gar keinen unmittelbaren Zugang zum Fremdpsychischen, worunter sie übrigens gewöhnlich "fremde" (Bewußtseins-) Erlebnisse verstehen. Man stellt infolgedessen die bekannte "Analogieschlußtheorie" auf. Daß man aber Analogieschlüsse macht, um zu wissen, was der andere erlebt oder denkt, ist zumindest höchst zweifelhaft. [Falls man diese Analogieschlüsse nicht vollziehen würde] 28 , bliebe jeder von uns wie verschlossen in sich. Ich wäre dann eingeschlossen in meiner

V.d.Hg. statt das sind auch nicht gewisse Erlebnisse. 26

V.d.Hg. statt Es ist ein anderer.

27

V.d.Hg. statt In welcher Art Erfahrung aber?

28

V.d.Hg. statt Aber abgesehen von diesen Schlüssen.

Drei Prinzipien der Husserlschen

Philosophie

77

Selbigkeit, und die anderen wären ebenso sehr in sich verschlossen. Wie würde dann unser Leben aussehen, wenn das wahr wäre? Tatsächlich und merkwürdigerweise ist doch - trotz Analogieschlusßtheorie! - dieser Analogieschluß, der da angeblich angewendet werden soll, überhaupt nicht realisierbar. Aber ohne ein gegenseitiges Sichverstehen ist ja eine gemeinsame Arbeit nicht möglich. Oft ist es gerade notwendig, daß wir uns "im" Moment verstehen, (daß wir "sofort" verstehen,) was zu tun ist. Z.B. dort, wo eine ganze Anzahl von Leuten dieselbe komplizierte Arbeit zusammen ausführen muß. [Ohne ein gegenseitiges Sichverstehen, würde sich dies] 2 9 alles zerschlagen. Ebenso auch in Momenten einer großen Gefahr, wo alle auf einmal die Situation verstehen und zusammen wirken müssen. Da gibt es keine Zeit nachzudenken, Analogieschlüsse zu vollziehen usw. Und da weiß man sofort, was die Anderen fühlen oder wollen, und man macht sogleich zusammen das Nötige. [Ähnlich ist es] 3 0 auch im emotionalen Leben von Menschen, also etwa im Liebesleben. Wenn ich z.B. etwas entdecke, was der Andere mir nicht sagen kann, ja oft nicht sagen will, weil er sich z.B. schämt. Das weiß ich dann schon, bevor er es sich selbst zum Bewußtsein gebracht hat. Es ist schon etwas geschehen. Es ist eine Wandlung eingetreten, obwohl die betreffende Person selbst nicht recht, weiß, was für eine Wandlung in ihr eingetreten ist. Sie liebt mich einfach, das weiß ich. Da gibt es also wiederum einen [besonderen] 31 , näher analysierbaren Vorgang der unmittelbaren, originären Erfahrung, die mein Wissen ermöglicht. Zu Beginn unseres Jahrhunderts, aber auch schon früher (das geht zurück bis auf sagen wir - die Romantiker), hat man in diesem Zusammenhang von der sogenannten "Einfühlung" gesprochen. Und man hat diesen Vorgang auf verschiedene, gute und schlechte Weisen zu interpretieren versucht. [Es ist natürlich nicht möglich, dies alles hier näher zu erwägen, zu entscheiden, wer - bei welcher Interpretation dieser "Einfühlung" - Recht hat und ob das Wort 'Einfühlung' überhaupt gut gewählt ist.] 32 Jedenfalls gibt es da wiederum eine besondere Seinsphäre, das Fremdpsychische, und korrelativ dazu

29

V.d.Hg. statt Denn sonst würde sich das.

3

V.d.Hg. statt Diesselbe Situation ist.

®

3 32

'

V.d.Hg. statt anderen. V.d.Hg. statt Es ist unmöglich das hier zu erwägen, wer da Recht hat, diese "Einfühlung" zu interpretieren und ob das Wort überhaupt gut ist.

78

Dritte

Vorlesung

eine erfassende Verhaltungsweise, die uns unmittelbar an [die zugehörigen Gegenständlichkeiten] 3 3 heranbringt. Wenn es nichts derartiges gäbe, dann würden wir wie Blinde und Taube einer neben dem anderen leben. 3 4 Es gibt aber noch ganz andere (Typen von) Gegenständlichkeiten, wie z.B. mathematische Gegenständlichkeiten, von denen wir auch ein Wissen erlangen. Wie steht es hier? Was ist damit zu machen? - Wir wissen alle: Es gibt eine sehr schöne, die sogenannte "apriorische" Erkenntnis. Es gibt sehr schöne formale, deduktive Systeme: Man hat ein Axiomensystem, [und dann beginnt das Deduzieren und läuft weiter und weiter, so weit man gehen will] 3 5 . Obgleich man, soviel ich weiß, bis heute kein einheitliches, kenloses, [formales System der ganzen Mathematik]

36

lük-

aufgebaut hat. Man

arbeitet (vielmehr) an sehr vielen Stellen dieses Systems, baut sehr schöne Fragmente auf, aber daß man [auf der Basis eines Axiomensystems bis zum Schluß das Ganze deduktiv] 3 7 aufgebaut hätte, das kann nicht gesagt werden. Aber diese ganze deduktive Erkenntnisweise, das ist schon keine originäre Anschauung mehr, obwohl Descartes auch [die] 3 8 Deduktion auf Intuition zurückführen wollte. Wie immer es damit stehen mag, und bei aller Bewunderung für die deduktive Erkenntnisweise und [für die mit ihr aufgebauten formalen Systeme, so bleibt jedenfalls noch ihre Basis zu klären, nämlich die Axiome] 3 9 . Was ist mit den Axiomen zu machen? Sie wissen sehr wohl, was man damit, speziell im 20. Jahrhundert, gemacht hat. Denken Sie nur an den ganzen, Ihnen wohlbekannten Grundlagenstreit in der Mathematik, an all die Versuche z.B. von Hilbert, die Axiome als Konventionen zu verstehen, usw. usw., was dann natürlich zu verschiedenen Schwierigkeiten geführt hat. Man kann bei dieser formalistischen Auffassung nicht stehen bleiben. Es liegt da ein Problem vor, das man nicht umge-

33

V.d.Hg. statt diese Gegenständlichkeit.

34

Zum Problem der Einfühlung vgl. Ingarden (1964c), 152; (1965b), 261, Anm. 4 und besonders ( 1964b), 376, Anm. 17.

35

V.d.Hg. statt dann geht die Maschine der Deduktion los und läuft weiter, wie weit man auch gehen will.

36

V.d.Hg. statt ganzes System der Mathematik.

37

V.d.Hg. statt vom Anfang an von einem Axiomensystem, bis zum Schluß das Ganze.

38

V.d.Hg. statt diese.

39

V.d.Hg. statt der Deduktion und der mit ihr aufgebauten Systeme, bleibt noch immer der Anfang zu klären. Das sind die Axiome.

Drei Prinzipien der Husserlschen

Philosophie

79

hen kann: Gibt es da, bei den Axiomen, eine Erkenntnis, oder sind sie das Ergebnis einer Konvention? [Sind sie das Ergebnis einer Operation mit sinnlosen Zeichen, einer Anreihung sinnloser Zeichen?] 4 0 Das wäre ganz merkwürdig. Der Anfang, (die Basis) der wunderbaren Mathematik wäre gerade irgendwie erkenntnislos: Jene "Zeichen", die man nebeneinander reiht, wären im Grunde bloße Zeichnungen, weil sie weder etwas bezeichnen noch etwas bedeuten sollen. Man sagt, daß sie dann und dadurch einen Sinn gewinnen, wenn sie auf eine bestimmte Weise nebeneinander stehen - etwa so wie Schachfiguren auf dem Schachbrett. Ergeben sich aber daraus wirklich gewisse Operationsregeln, [so daß die Möglichkeit gegeben wäre, mit diesen Zeichen sozusagen zu spielen, ähnlich wie dies z.B. im Schachspiel der Fall ist] 4 1 ? Aber im Schachspiel haben die "Figuren" im voraus gewisse Operationsbestimmungen, aus denen sich erst die Möglichkeit des Spiels nach gewissen Regeln ergibt. Sie sind nicht "sinnlos" und nicht einfach als bloße "Steine" auf das Schachbrett gestellt! [Von woher also gewinnt man den Sinn der einzelnen, zunächst "sinnlosen" und einfach in gewissen Axiomen vorkommenden "Zeichen", wenn man sich hierbei - ganz im Gegensatz zum Schachspiel! - nicht einmal eine Idee davon bilden kann, um was für ein Spiel es sich handeln soll?] 4 2 Ich [vertrete also im bezug auf die Axiome von deduktiven Systemen bzw. im bezug auf die Weise, wie diese Axiome gebildet werden können, eine Position, die von den heute oft genug vertretenen Meinungen verschieden ist] 4 3 . Daß ich anderer Meinung bin, ist zunächst natürlich meine private Sache. Eins aber darf ich behaupten, daß es da nämlich ein besonderes Problem gibt, und zwar: Welches ist der letzte Erkenntniszugang zu den Axiomen einer beliebigen deduktiven Theorie, insbesondere der Euklidischen oder nicht-Euklidischen z.B. Riemannschen Geometrie? Gibt es, [da j a eine mittelbare Erkenntnis sicherlich nicht in

40

V.d.Hg. stall Ist ihre Bildung eine Operation mit sinnlosen Zeichen, eine Anreihung solcher Zeichen?

4'

V.d.Hg. statt so daß man dann die Möglichkeit haben würde, solche Spiele damit zu machen, wie das z.B. im Schachspiel der Fall ist.

42

V.d.Hg. statt Wo gewinnt man aber den Sinn der Einzelnen in den Axiomen stehender "Zeichen" her, wenn man dabei nicht einmal hier die Idee hat, was für ein Spiel - wie im Schach! - es sein soll.

43

V.d.Hg. statt bin also einer anderen Meinung über die Weise, in welcher Axiome der deduktiven Systeme gebildet werden können, als man dies oft genug behauptet hat.

80

Dritte

Vorlesung

Frage kommt] 4 4 , irgendwelche direkte, unmittelbare Erkenntnis gewisser ursprünglicher Tatbestände, die in den Axiomen nur adäquat wiedergegeben werden? Es ist zu erwarten, daß es [eine solche Erkenntnis doch geben wird, wenn es denn in der Mathematik wirklich um Erkenntnis gehen soll] 45 . Es gibt aber noch andere ganz merkwürdige Gegenständlichkeiten, wie z.B. Kunstwerke, und zwar literarische Kunstwerke, Bilder, Skulpturen, Symphonien usw. Lassen sich diese Kunstwerke mit gewissen materiellen, sinnlich erfahrbaren Dingen oder mit materiellen, sinnlich erfaßbaren Prozessen identifizieren, oder sind sie doch etwas durchaus (davon) Verschiedenes, obwohl sie an anderen sinnlichen Gegenständen irgendwie - wenn das Wort hier erlaubt ist - "haften", sich auf einer sinnlich wahrnehmbaren Unterlage aufbauen? Wenn sie mit dieser Unterlage nicht identisch sind und in ihren Bestimmtheiten weit über sie hinausgehen, dann erhebt sich da wiederum die Frage: Gibt es eine originär gebende Anschauung, eine unmittelbare Erfahrung der Kunstwerke verschiedener Art, und zwar eine (jeweils korrelative, bestimmt] 46 gestaltete Erfahrung, eine andere für Symphonien und wieder eine andere für Bilder und eine noch andere, sagen wir, für Architektur usw. - obwohl sie alle etwas Gemeinsames haben können, da ja in ihnen in jedem Falle ein Kunstwerk (welcher Art auch immer) gegeben wird? Man kann die verschiedenen Grundtypen von Gegenständen weiter auflisten. Es gibt [auch so merkwürdige Gegenständlichkeiten wie Sozialgebilde, Rechtsgebilde,] 47 z.B. die Universität von Oslo. Was ist das, die Universität von Oslo? Ist das etwas, was sinnlich wahrnehmbar ist? Ja, die Gebäude der Universität und die Menschen, die da studieren oder lehren - ja, das ist alles wahrnehmbar, sinnlich wahrnehmbar. Und auch viel Fremdpsychisches gibt es da, die seelischen Vorgänge von Studenten und Professoren. Man kann sagen, daß die Erkenntnis des Fremdpsychischen hier auch in Betracht zu kommen scheint. Aber dies alles ist ja doch nicht die Universität. Denn es kann eines Tages geschehen, daß sich eine schreckliche Erder-

44 45

V.d.Hg. statt weil es eine mittelbare Erkenntnis hier nicht mehr geben kann. V.d.Hg. statt sie doch geben muß, wenn die Mathematik wirklich eine Erkenntnis sein soll. - Zur Sache vgl. Ingarden (1925a), 240ff.; (1964c), 25ff.

46

V.d.Hg. statt entsprechend.

47

V.d.Hg. statt solch merkwürdige Gebilde, Sozialgebilde, Rechtsgebilde, wie.

Drei Prinzipien

der Husserlschen

Philosophie

81

schütterung ereignet, und daß die schönen Gebäude alle zertrümmert werden und dabei alle Menschen, alle Studenten und Professoren getötet werden die Universität von Oslo besteht aber weiter. Andererseits kann es eine Situation geben, wo sich eine Anzahl von Menschen miteinander verständigt: "Wir werden zusammen studieren. Die, die mehr wissen als wir, die werden uns helfen, und wir werden mithelfen usw. Wir werden eine freie Studiengemeinschaft sein. Wir werden uns gegenseitig belehren!" Könnte man hierbei schon von einer Universität sprechen? Nein, denn eine Universität muß rechtlich "gegründet" werden, es muß einen formellen Beschluß von jemandem geben, und zwar nicht von irgend jemandem, sondern von jemandem, der dazu befugt ist, der eine rechtliche Person ist. Das kann, wenn Sie wollen, der König oder der Landtag sein, das kann endlich irgend ein Usurpator sein, der irgendwie Herr des Landes geworden ist; denn dann ist er nicht nur eine private Person, sondern auch irgendeine rechtliche Person. Es gibt des weiteren gewisse anerkannte Vorschriften, nach welchen so etwas wie eine Universität gegründet werden kann, es gibt Gesetze, also juristische Gebilde, die es dem betreffenden Menschen oder der staatlichen Institution erlauben, bzw. die Befugnis geben, eine Universität zu gründen. Und wenn man eine Universität auflösen will, dann muß es einen Gegenbeschluß derselben Institution, desselben Königs, desselben Landtages geben, der die Macht hat, die bereits bestehende Universität sozusagen zunichte zu machen. Ohne dies besteht die Universität weiter, obgleich die Menschen, die sie gegründet haben, nicht mehr existieren. Also es gibt solch merkwürdige Gegenständlichkeiten wie die Universität, den Landtag, das Landgericht, die Akademie der Wissenschaften usw. Ich weiß nicht, wie sie zu nennen sind. "Soziale" Gegenständlichkeiten oder "juristische" Gegenständlichkeiten? Es gibt übrigens auch viele Personen, die sich nicht einfach mit realen Menschen identifizieren lassen. Wenn ich z.B. Roman Ingarden bin, so bin ich noch nicht Professor. Auch dann nicht, wenn ich, sagen wir, praktisch die Funktionen eines Professors ausübe, d.h. wenn ich lehre und lese. Ich bin vielmehr erst dann Professor, wenn ich zum Professor ernannt werde. Und analog, wenn ich z.B. Arzt oder Mitglied eines Parlaments, als Richter Mitglied eines Gerichts sein will, so muß ich es in jedem dieser Fälle auf eine rechtlich vorgeschriebene Weise werden. Ja, dann aber, sobald dies geschieht, bin ich nicht (mehr einfach ein)

82

Dritte

Vorlesung

privater Mensch, dann bin ich etwas anderes. Die Engländer bringen das deutlich zum Ausdruck, indem sie als Richter, als Parlamentsmitglieder usw. eine besondere Tracht tragen. Das ist ein Zeichen dafür, daß der betreffende Mensch nicht einfach Herr soundso ist, sondern z.B. Richter. Er hat jetzt die Vollmacht, dies oder jenes gesetzlich im voraus Bestimmte zu tun. Er hat z.B. als Arzt die Vollmacht zu operieren oder als Richter gewisse juristische Handlungen zu vollziehen usw. Wie aber steht es um die unmittelbare Erkenntnis von solchen Gegenständlichkeiten? Natürlich kann sie nicht mit der sinnlichen Wahrnehmung identisch sein. Aber wir dürfen, so sagt Husserl, dann und nur dann zugeben, daß es so etwas wie die genannten verschiedenen (Typen von) Gegenständlichkeiten gibt oder geben kann, wenn wir eine unmittelbare, originär gebende Anschauung haben, die es uns ermöglicht, diese besonderen Gegenständlichkeiten zu begreifen, sie - wenn Sie wollen - zu fassen. Es liegt somit eine grundsätzlich andere Auffassung der "unmittelbaren Erfahrung" vor als bei den Empiristen. Es gibt viele verschiedene erkenntnismäßige Verhaltungsweisen, die uns an so verschiedene Gegenständlichkeiten, wie sie hier andeutungsweise unterschieden wurden, heranbringen und es uns erlauben, sie direkt zu erfassen. Dies ist bereits bei allen [Artefakten] 48 der Fall. Es fangt z.B. beim Tisch an. Der Tisch ist auch ein Nutzgegenstand, er ist kein bloß physischer Gegenstand, kein rein physisches Ding, obwohl er in einem physischen Ding fundiert ist. Jetzt aber müssen wir noch auf ein Moment hinweisen, das einen weiteren Unterschied in der Weise bildet, wie die Phänomenologen und im speziellen

Husserl

(einerseits

und

die

Empiristen

andererseits)

diese

"unmittelbare" originäre Anschauung, die "Erfahrung", verstehen. [Wir können dieses Moment fassen, wenn wir den Sinn des dem Ausdruck 'Erfahrung' hinzugefügten Adjektivs 'unmittelbar' klären.] 49 Was heißt das, (eine "unmittelbare" Erfahrung)? Prima facie scheint ein leeres Wort vorzuliegen. Um seinen Sinn zu verdeutlichen, muß ich zum Kontrast daran anknüpfen, was die Empiristen unter "Erfahrung" verstehen. [In der Geschichte der Neueren Philosophie tritt das (typisch empiristische Verständnis 48 49

V.d.Hg. statt Kulturgegenständen. V.d.Hg. statt Dieses Moment liegt in der Klärung des Sinnes des Ausdrucks "unmittelbar", den man zu dem Worte "Erfahrung" als ihr besonderes charakteristisches Moment hinzuführt.

Drei Prinzipien der Husserlschen

Philosophie

83

von "Erfahrung") spätestens bei Locke auf.] 5 0 Merkwürdigerweise spricht er von "ideas of sensation". Er sagt also nicht einfach "sensations", sondern eben "ideas of sensation". Das 'of sensation' ist nicht - wie man in Übersetzungen oft voraussetzt - gleichbedeutend mit 'sinnliche Empfindung', sondern unter "sensation" ist eine besondere Verhaltungsweise zu verstehen, ein "Empfinden", ein Haben von Ideen, (also etwas,) das uns etwas (anderes) gibt. Diese Verhaltungsweise gibt uns nämlich besondere "Ideen", die Locke anhand von Beispielen verdeutlicht. Gemeint sind die sinnlichen Qualitäten z.B. Rot, Blau usw. Oft aber vergißt man, daß hier ein zusammengesetzter Ausdruck vorliegt - 'ideas of sensation' - und beginnt einfach von "sensations", also von "Empfindungen" zu sprechen. Dann besteht für diejenigen, die das tun, keine Möglichkeit mehr, diese "Empfindungen" von anderen "ideas" abzuscheiden. Für die Phänomenologen indessen gibt es einen Weg dies zu tun. Sie nämlich führen eine Beschreibung durch, um einen Unterschied aufzudecken zwischen dem, was Empfindungsdaten (sense data) 51 genannt wird und dem, was sich in seinem Grundcharakter und auch in der Gegenwartsweise von anderen "Daten" oder (auch) von anderen Erlebnissen phänomenal abhebt. Die Phänomenologen würden also versuchen, diesen Unterschied anschaulich zu machen, und sie haben das auch getan. Husserl selbst und viele seiner Freunde nach ihm haben dies durchgeführt.

Der

Erscheinungscharakter

dessen,

was

sinnlich-wahr-

nehmungsmäßig gegeben ist, ist - so sagen die Phänomenologen - verschieden von dem, was nur "vorgestellt" wird. "Vorstellung" meint im Deutschen bereits keine ursprünglich gebende Anschauung mehr, sondern eine gewisse (wie man sagt) "bildliche" Rekonstruktion. Ich stelle mir jetzt z.B. die Wohnung vor, in der ich wohne, und zwar sehr anschaulich: Ich stelle mir den Tisch, an dem ich dort sitze, vor und meine Arbeitslampe schwebt mir vor usw. Ich stelle mir vor, wie ich dort sitze, obwohl ich jetzt hier bin. Dies alles wird auf ganz andere Weise als beim Wahrnehmen zur Anschauung gebracht, (wirklich) anschaulich gemacht, [obgleich diese Anschaulichkeit das

50

V.d.Hg. stall Das fangt unter anderem in der Geschichte der neueren Philosophie mindestens bei Locke an.

5

'

Zu Ingardens Wahmehmungstheorie und besonders zum Problem der Empfindungsdaten vgl. unten Vorlesung V sowie Ingarden ( 1965a), 183 ff , (1968a), 123-131; (1976b). 39-45 und 56-58.

84

Dritte

Vorlesung

Angeschaute nicht gegenwärtig zu machen vermag] 5 2 . Die Empiristen glauben, es sei leicht die sogenannten "Empfindungen" von den Vorstellungen abzuscheiden. Man legt einen Draht an meine Haut, und ich rufe "Au". Das heißt: das schmerzt. Oder ich sage "warm" oder "kalt". Dasjenige, was da kausal durch einen "äußeren Reiz" - das heißt durch einen physischen Vorgang, der bis an die Oberfläche meiner Leiblichkeit reicht - hervorgerufen wird, [sind] 53 gewisse Veränderungen in meiner Leiblichkeit, und diese Veränderungen bilden ihrerseits den sogenannten "physiologischen Reiz", dessen Folge oder Wirkung eben dasjenige ist, was man gewöhnlich "sensation"

bzw.

"Empfindung"

nennt.

Wo

eine

derartige

kausale

Entstehungsweise gewisser "Inhalte" bzw. Erlebnisse stattfindet, da soll das eintreten, was "Empfindung" bzw. sinnliche Erfahrung sei. Wo dieser kausale Vorgang fehlt, da soll es sich bereits um "bloße Vorstellung" und nicht um "Empfindung" handeln. Soweit die Auffassung der Empiristen. Trotz dieser oft gegebenen Bestimmung findet man bei den Psychologen merkwürdigerweise einen anderen Begriff der Erfahrung. Denn einerseits verstand

man

unter

"Erfahrung"

nichts

anderes

als

das

Haben

von

"Empfindungen", die durch physikalische Reize kausal hervorgerufen werden. Aber andererseits konnte man dasjenige, was in der sinnlichen Wahrnehmung konkret gegeben ist, sich aber zugleich mit den "Empfindungen" nicht identifizieren ließ, als etwas bezeichnen, was "aus der Erfahrung" stammt.

Wenn

wir

z.B.

im

Psychologischen

Institut

beleuchtete

verschiedenfarbige Scheiben zu sehen bekamen, so durften wir nicht beschreiben, wie sie konkret erscheinen. Man durfte nur feststellen, es sei "gesehen": Rot, Blau, Grünlich u. dgl. mehr. Auf alle anderen konkreten Beschreibungen - wie z.B.: "Man sehe ein glattes, weisses, aber rot beleuchtetes Papier" - erhielt man sofort die zurückweisende Bemerkung, man könne dies überhaupt nicht sehen, man "wisse" bloß aus der Erfahrung, daß es Papier sei und daß es glatt sei. Denn "Sehen" heißt in der empiristischpsychologischen Redeweise offenbar nur "bloße-Empfindung(sdat)en-Haben". Das qualitativ bestimmte Ding, das glatte und weisse Papierstück, so wie es sich uns phänomenal zeigt, wird - nach dieser Auffassung - nicht

52

V.d.Hg. statt diese Anschaulichkeit vermag aber nur das Angeschaute nicht gegenwärtig zu machen.

5 3

V.d.Hg. statt bildet.

Drei Prinzipien der Husserlschen

85

Philosophie

"gesehen", nicht wahrgenommen; das konkrete Phänomen des Papiers selbst [wird vielmehr gewissermaßen als ein synthetisches Gebilde aufgefaßt, sozusagen als] 54 ein Gemisch aus den "Empfindungen" und aus dem "aus der (früheren) Erfahrung" stammenden "Wissen". Das aus der "Erfahrung" stammende Wissen ist also gerade das Nicht-"Wahrgenommene", Nicht-Gegebene, sondern nur "Gewußte", das Zu-dem-Gegebenen-Hinzugedachte, wovon das aktuell phänomenal Auftretende "gereinigt" werden muß, um zu dem rein "Erfahrenen", "Empfundenen" zu gelangen. Es soll aber aus der früheren "Erfahrung" (aus dem einst Empfundenen) stammen und mit dem jetzt Empfundenen (Erfahrenen) "assoziiert" werden. Die konkrete Erfahrung, die konkrete Wahrnehmung im umgangsprachlichen Sinne, ist nach dieser

Auffassung

ein

Gemisch

aus

"Empfindungen",

die

für

Erfahrungsgegebenheiten gehalten werden, weil sie (angeblich) kausal auf Reize reduzierbar sein sollen - und gewissen anschaulichen, die Empfindungen überdeckenden Phantomèn, die sich uns irgendwie auf Grund der Erinnerung, aus der vergangenen Erfahrung aufdrängen und bewirken, daß wir z.B. einen Tisch aus gelbem polierten Holz zu sehen glauben, während wir in Wahrheit nur Empfindungsdaten erleben. So präsentiert sich "Erfahrung" im Sinne etwa von Avenarius und Mach - eine "Erfahrung", die von den (angeblich) bloß assoziierten, aus früherer Erfahrung stammenden Momenten "gereinigt" ist und auf reine Empfindungsdaten (Elemente) reduziert bzw. zurückgeführt wird, die ihrerseits (angeblich) durch gewisse Reize hervorgerufen werden. Nun, diese ganze empiristisch-psychologische Theorie der sinnlichen Wahrnehmung mit der zugehörigen kausal-genetischen Erklärung wird von den Phänomenologen als eine Konstruktion zurückgewiesen und durch eine andere Auffassung der Wahrnehmung bzw. der "äußeren" Erfahrung ersetzt. Die Gründe für die Zurückweisung dieser Theorie sind verschiedenartig und können an dieser Stelle nicht alle auseinandergesetzt werden. 55 Es muß hier genügen, wenn ich erwähne, daß diese psychologische Theorie sich einerseits auf das seit langem eingewurzelte Vorurteil stützt, daß wir lediglich die sogenannten "Empfindungen" haben und zur realen Wirklichkeit der physischen Dinge und Vorgänge

54

V.d.Hg. stall ist gewissermaßen ein synthetisches Gebilde.

55

Vgl. dazu Ingarden (1921a), 423-461, besonders 431-435; (1925b), 27f.; (1930); (1964b), 384.

86

Dritte

Vorlesung

überhaupt keinen direkten Zugang haben, daß wir also in einer Mannigfaltigkeit von "Empfindungen" eingeschlossen sind (man spricht da manchmal von einem "Käfigbewußtsein"). Andererseits beruft man sich in der sensualistisch-psychologischen Erkenntnistheorie (die von manchen Psychophysiologen bis heute betrieben wird) auf das Bestehen der "physischen" Reize (z.B. Lichtwellen), so als ob diese nicht auf Grund der Erfahrung bloß erschlossen, sondern uns irgendwie gegeben wären. Man setzt auch die ursächliche Beziehung zwischen jenen Reizen und den "Empfindungen" voraus, um die "Empfindungen" aus physikalischen Prozessen kausalphysiologisch herleiten zu können. Obgleich diese physikalischen Prozesse tatsächlich nur dann als "wirklich" angenommen werden dürften, wenn es unabhängig [von jener Voraussetzung] 56 erwiesen wäre, daß uns die (angeblich)

aus

Empfindungen

zusammengesetzte

"Erfahrung"

wahr-

heitsgemäß über die physikalische Welt informiert, - was bei dieser Auffassung [jedoch gerade] 57 ein Problem ist. Schließlich verfälscht diese Theorie den konkreten Verlauf und Gehalt des Wahrnehmungserlebnisses, das sich nicht auf ein Gemisch aus Empfindungen und erinnerungsmäßigen Phantomen zurückführen läßt. Es ist einfach nicht wahr, daß wir "unsere" Empfindungen "wahrnehmen". Das, was wir wahrnehmen, sehen, hören, tasten, fühlen, sind keine "Empfindungen". Es sind Dinge und dingliche Vorgänge. Und zwar sind sie uns im Wahrnehmen in ihrem Selbst gegeben. Husserl spricht da von der "leibhaften Selbstgegenwart" von Dingen und Personen. Wenn ich einen mir bekannten Professor soundso sehe und mit ihm spreche, so ist er selbst mir gegeben, und zwar sowohl in seinem Leib wie auch als Person. Wie das geschieht, stellt ein besonderes Problem dar, aber das Charakteristische ist zunächst dies, daß ich es da nicht mit einer Repräsentation, mit einem Vertreter zu tun habe, sondern mit ihm selbst, (sozusagen) im Original. Mit Vertretern will ich gewöhnlich nicht verkehren, den Mann selbst muß ich sprechen, und ihm begegne ich eben in der Wahrnehmung. Die Selbstgegenwart ist (nur) durch ein Zusammentreffen oder - wie die Franzosen sagen - durch ein "rencontre" im gegenseitigen Wahrnehmen, hingegen durch gar kein noch so anschauliches "Vorstellen" oder sprachliches Informieren zu erreichen. 56

V.d.Hg. statt davon.

57

V.d.Hg. statt erst.

Drei Prinzipien der Husserlschen

Philosophie

87

Es gibt also das Phänomen des "In-eigener-Person-da-zu-seins". Ob es sich nun um einen Tisch oder um einen Menschen handelt, spielt hier keine Rolle; in beiden Fällen liegt das Phänomen der Selbstgegebenheit, des Selbstauftretens vor. Und wenn dieses vorliegt, so liegt eine originär gebende Anschauung, ein unmittelbares Erkennen vor. Es wird damit nicht gesagt, daß wir auf einem anderen Wege irgendwelche mittelbaren Beweise dafür haben, daß wir bei einem wahrnehmungsmäßigen "rencontre" wirklich zwei sind, z.B. der mir bekannte Herr soundso und ich selbst. Es wird nur gesagt, daß, wenn das Phänomen der Selbstgegenwart auftritt, eine ganz besondere Weise des Erkennens vorliegt. Sie ist der Ursprung des Erkennens für alle anderen Erkenntnisweisen, die noch hinzukommen können und bei denen dieser Charakter der Selbstgegenwart bereits nicht mehr vorhanden ist. Und Husserl sagt: Dieser Charakter der Selbstgegenwart ist die Quelle des letzten Rechts, der Geltung, wie sehr auch immer dieses Recht durch die Weise des Gegebenseins beschränkt sein [mag] 58 . Daß es hierbei Schranken geben kann und zwar je nach Verschiedenheit der Gegebenheitsweisen verschiedene Schranken, wird gerade durch die Weise der Gegebenheit selbst diktiert; innerhalb dieser Schranken jedoch besteht das Geltungsrecht der auf diesem Wege gewonnenen Erkenntnis. Sie werden denken: Nun, das ist natürlich klar, daß man dies sagen muß, es gibt ja schließlich auch Halluzinationen. Es kommt vor, daß wir auf einmal überzeugt sind, es sei noch jemand da, und zwar jemand (ganz bestimmter), also ein Mensch in seiner ganzen Leiblichkeit. Wir beginnen sogar zu sprechen, wir kommen etwas näher heran und plötzlich "explodiert" wie Husserl sagt - die ganze Sache. Es zeigt sich, daß nichts da ist, daß das Ganze eine Illusion oder eine Täuschung war. Gewiß, es gibt dann immer besondere Gründe, weswegen so etwas geschah und überhaupt möglich war, und zwar sowohl im Gehalt der Illusion selbst wie auch in den Umständen, unter denen es zur Illusion kam. Dies aber besagt nur, daß man das Illusionserlebnis, um es in seinem Illusionscharakter zu entlarven, nicht aus dem ganzen Wahmehmungsverlauf isolieren darf. Und nicht eine solche isolierte "Illusionswahrnehmung" hat ihr unbedingtes Geltungsrecht; vielmehr hat sie eben nur als Glied eines komplizierten Wahmehmungsprozesses ein in be-

58

V.d.Hg. statt kann

88

Dritte Vorlesung

stimmten Schranken bedingtes Recht. Es gibt auch Gründe, weswegen in der Wahrnehmung, wo uns Dinge in ihren eigenen Eigenschaften und Strukturen gegeben werden, dennoch Täuschungen stattfinden können. Die verschiedenen Fälle von Täuschungen sind bekannt und auch bearbeitet. Das bekannteste Beispiel: Man steckt einen Stock unter einem scharfen Winkel in klares Wasser und sieht einen geknickten Stock. Das sehen wir ganz deutlich. Etwas verwundert tauchen wir den Stock tiefer ins Wasser oder nehmen ihn etwas heraus, und da zeigt es sich, daß sich die Stelle, wo der Stock "geknickt" bzw. "gebogen" ist, verschiebt. Das sehen wir deutlich, obgleich solches sonst nicht vorkommt. Da greifen wir den Stock an der Stelle, wo er geknickt zu sein scheint, und es zeigt sich, daß er tatsächlich gar nicht geknickt ist. Die beiden Erfahrungen streiten also miteinander, aber die Tastwahrnehmung gewinnt hier Oberhand. Husserl sagt dazu: Jede dieser Wahrnehmungen hat ihr beschränktes Gewicht, ihr Geltungsrecht, und sie wiegen sich gegenseitig aus. Es kommt da zum Ausgleich, in welchem es trotz allem zu einer Selbstgegebenheit kommt, die im Rahmen dieses Erkenntniszusammenhanges dann das letzte Wort hat. Es gibt in jeder (sinnlichen) Wahrnehmung Einzelheiten der Gegebenheitsweisen, welche das Geltungsrecht derselben beschränken. Z.B. sehe ich jetzt meine Kollegen, die dort sitzen. Und natürlich sehe ich sie von vorne. Und natürlich sehe ich sie so, daß sie auch einen Rücken haben, an dem sie dieselben grauen Anzüge tragen, wie ich sie von vorne her wahrnehme. Meine visuelle Wahrnehmung ist aber doch immer partiell. Ich sehe ein Ding von (nur) einer Seite, in einer gewissen Verkürzung usw. Wenn ich (aber um das von bloß einer Seite wahrgenommene Ding) herumgehe, kommt es oft zu Bestätigungen. Z.B. bestätigt es sich oft, daß meine Kollegen auch am Rücken so und so gekleidet sind, daß der Anzug auch dort grau ist. Vielleicht zeigt es sich, daß "am" Rücken ein Flecken oder ein Loch in dem schönen Anzug vorhanden ist, den oder das ich sozusagen nicht vermutet habe. Aber "Wahrnehmen", und insbesondere "Eine-Erfahrung-haben", das heißt nicht bloß punktuell, in einer flüchtigen Gegenwart etwas gegeben zu haben. "Wahrnehmen" - das meint den ganzen Vorgang des Wahrnehmens einer Sache zu durchlaufen, von dieser Seite, von jener Seite, von unten, von oben, aus größerer Entfernung oder aus der Nähe usw. Das ist ein Fluß, ein Strom von besonders geordneten Verhaltungsweisen, und auch von besonderen, zusammenhängenden Phä-

Drei Prinzipien

der Husserlschen

Philosophie

89

nomenen, die in diesem Fluß gegeben werden. Und im Verlauf von Wahrnehmungen, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, kann es sich entweder bestätigen, daß z.B. der Herr wirklich so und so gekleidet ist und sein Anzug an der Rückseite kein Loch hat, oder es kann alles derart "explodieren", wie Husserl sagte, daß sich dies alles als bloße "Illusion", als ein Phantom erweist. Das ist der Sinn jener Hinzufügung in dem "Prinzip aller Prinzipien": Das originär Gegebene muß hingenommen werden, wie es sich gibt, aber nur in den "Schranken", in denen es sich gibt. Der Möglichkeit nach sind hierbei noch verschiedene "Schranken" zu unterscheiden; "Schranken" bei visuellen Wahrnehmungen, andere bei Tastwahrnehmungen, wieder andere bei Gehörswahrnehmungen usw. Das Merwürdige dabei ist, daß es im Grunde keine rein visuelle Wahrnehmung und keine rein taktuelle Wahrnehmung und auch keine reine Gehörswahrnehmung gibt. Vielmehr modifizieren sie alle sich gewissermaßen gegenseitig. Dies hat einst W. Schapp 5 9 ausgearbeitet, als er zeigte, daß wir die Struktur des Materials eines Dinges sehen. Ich sehe z.B., daß etwas ein Tisch ist, und zwar ein Tisch aus glatt poliertem Holz. Das kann ich sehen. Das sichtbare Phänomen des Holzes ist mir ebenso zugänglich wie seine Glätte mir sowohl im Sehen wie auch im Tasten zugänglich ist. David Katz hat später über die Tastwelt gearbeitet. 60 Im besonderen hat er die Tastwahrnehmung analysiert und erneut gezeigt, daß da nicht bloß Glätte und Nichtglätte gegeben wird, oder nicht nur dies, daß etwas wärmer oder kälter ist, sondern daß z.B. auch das Hart- und Weichsein gegeben wird. Wenn wir wirklich Übung darin haben, auf dem Tastwege Dinge zu erkennen, so können wir mit Tasten z.B. unterscheiden, ob etwas aus Wolle oder aus [Seide ist] 61 . Man kann aber auch sehen, ob etwas aus Wolle oder aus Seide, oder ob etwas aus Blech ist. So gehört eine Mannigfaltigkeit verschiedener, auch verschiedenartiger Wahrnehmungen ein und desselben Gegenstandes zusammen. Und erst im ganzen Verlauf dieser verschiedenen, unmittelbaren Zugänge zu ein und demselben Dinge vollzieht sich die Erkenntnis. Und immer weiter baut sich so das Recht und Unrecht dieser Art von unmittelbarer Erkenntnis aus. Hier aber liegt der Ursprung, die Quelle: Was hier ge-

59

Vgl. Vorlesung II, Anm. 28.

6 0

Vgl. Vorlesung II, Anm. 38.

6

V.d.Hg. statt Seide ist.) Das modifiziert sich.

'

90

Dritte

Vorlesung

schieht, ist für alles andere, was wir beim Erkennen noch vornehmen können, entscheidend. Wir werden z.B. dies oder jenes miteinander vergleichen, dann diese oder jene Schlüsse ziehen, diese oder jene Gesetze auffinden. Aber dies alles [ist] 62 schon ein Nachklang dessen, was in der unmittelbaren, originären Erfahrung geschieht, [die uns die Bestimmtheiten] 63 der Wirklichkeit und des Ansichseins ursprünglich liefert. Die phänomenologische Auffassung der "unmittelbaren" Erkenntnis und insbesondere der sinnlichen Wahrnehmung ist also von den bezüglichen Ansichten der Empiristen grundverschieden. In diesem Zusammenhang ist noch ein weiterer Punkt zu betonen. Bei der ursprünglichen Auffassung der "ideas of sensation" bei Locke oder später der "reinen" Erfahrung im Sinne von Avenarius oder der "Empfindungen" bzw. Elemente bei Emst Mach, ist ein Moment der Wahrnehmung völlig übersehen worden und aus dem Gesichtskreis der Forschung verschwunden, nämlich das, was Brentano wieder in die Moderne Philosophie eingeführt hat, nachdem man sich damit im Mittelalter bereits etwas beschäftigt hatte. Ich meine die Tatsache, daß zu jeder Gegebenheit ein Akt gehört, ein Bewußtseinsakt, in dem die sogenannte "Intention" wesensmäßig enthalten ist. Jede Wahrnehmung, z.B. dieses Blattes Papier, bezieht sich auf etwas, z.B. auf dieses Blatt. Es gibt einen besonderen Akt des sinnlichen Wahrnehmens. Wenn wir auf Locke zurückgehen, so gibt es bei ihm die "ideas of sensation"; "sensation" - das ist ein Fall der "perception" überhaupt. Dies wird bei Locke allerdings nicht ausgearbeitet. "Perception" - das ist ungefähr so viel wie das einfache Haben von Empfindungsdaten. Locke sieht zwar, daß sich da komplizierte Probleme eröffnen. Später aber wurde die Richtung der Forschung auf die Analyse der "ideas" selbst, auf die Daten gelenkt und das andere, der Akt, ist sozusagen aus dem Bewußtsein verschwunden, sowie auch das "Bewußtsein", daß da (außer den Empfindungen) noch etwas (anderes) zu suchen ist. Brentano und nach ihm Twardowski und besonders Husserl haben versucht, diese Verhaltungsweisen, diese Akte, die immer, wie Husserl sagt, "intentional" sind, zu erforschen. Ich selber habe vorgeschlagen, daß man, da es auch "intentionale" Gegenstände gibt, nicht von "intentionalen" Akten,

62

V.d.Hg. statt ist] bloß.

63

V.d.Hg. statt und was uns den Charakter.

Drei Prinzipien

der Husserlschen

91

Philosophie

sondern von "Intentionsakten" spricht. 64 Es sind Akte, in denen die auf etwas gerichtete Intention, der Bezug auf etwas, das Fassen von etwas enthalten [ist] 65 , jene besondere Verhaltungsweise, in der ich mich z.B. beim Wahrnehmen, beim Denken auf etwas richte. Und indem ich mich richte, finde ich etwas vor, oder ich vermeine wenigstens etwas vorzufinden. Die Intention bzw. die Intentionalität ist ein Moment, das bei der Analyse der unmittelbaren

Erkenntnis

berücksichtigt

werden

muß

und

dessen

Berücksichtigung sie völlig verwandelt. Man hat jetzt nicht nur das Gegebene, den Gegenstand, zu betrachten und die Weise, wie er gegeben wird, zu analysieren, sondern auch die Weise, wie er da gemeint wird, wie man ihn erfaßt usw. Und überhaupt die Weise des intentionalen Sichverhaltens zu etwas, was im Akte gegeben wird. In dieser Betrachtung wird die früher erwähnte Korrelativität zwischen Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisweise entdeckt. Verwandlungen in der Verhaltungsweise, im Vollzug eines Aktes, haben korrelative Erscheinungen an dem, was da gegeben wird und wie es gegeben wird. Beim Sehen spielen natürlich auch verschiedene Umstände eine

Rolle,

die

mit

physiologischen

Tatbeständen

und

Vorgängen

(insbesondere in den Augen) verbunden sind. Ob ich die Augen richtig einstelle oder nicht, ob meine Augen "kurzsichtig" sind, ob die Flüssigkeit in der Linse ganz klar ist oder nicht, all dies ist von Bedeutung dafür, ob ich etwas klar oder nicht klar sehe. Ausserdem gibt es so etwas wie die Konzentration auf diese oder jene Einzelheit des gesehenen Dinges, [das] 66 Hervorheben eines Moments, das für den Sehenden von Interesse ist. Ich interessiere mich z.B. für die Farbe einer Krawatte, die ich kaufen will. Und es interessiert mich alich: Ist sie aus Seide oder bloß aus Kunstseide oder aus Wolle? Das kann ich sehen, und ich kann es natürlich auch im Tasten herausfinden. Dagegen interessiert mich z.B. nicht, ob die Krawatte lang genug oder breit genug ist. So kommt es zu verschiedenen Wandlungen in meinem Verhalten, in meinen Intentionen. Sind sie einfach oder kompliziert, sind sie eindeutig gerichtet und scharf abgegrenzt oder verschwommen und vieldeutig? Korrelativ gibt es Wandlungen im Phänomen, (in dem,) wie der Gegenstand gegeben wird: Tritt er im Zentrum oder bloß peripher auf, ist er

64 65 66

Vgl. Ingarden ( 1931 a), 121 ff; ( 1965a), 194ff. V.d.Hg. stati sein muß. V.d.Hg. statt im.

92

Dritte Vorlesung

scharf umrissen und abgegrenzt oder verschwommen und unscharf? So eröffnet sich da ein weites Feld für verschiedene Studien, die gemacht werden müssen. Sobald man aber das "Prinzip aller Prinzipien" aufgestellt hat, daß die originär gebende Anschauung die letzte Rechtsquelle aller Erkenntnis ist, sobald man sich entschlossen hat zuzugeben, daß es solche Erkenntnisakte gibt, die uns den Gegenstand, den wir erkennen wollen, zur Selbstgegenwart bringen, sobald man erkannt hat, daß die Erscheinungsweise, in welcher uns ein Gegenstand gegeben wird, verschieden sein kann und je nach Verschiedenheit uns mehr oder weniger über den Gegenstand sagen kann, mit größerer oder kleinerer Begründung, mit größerem oder kleinerem Recht usw., so ist es klar, daß sich damit die Problematik der Erkenntnis der Welt wesentlich verschiebt. Es wird jetzt postuliert, daß man die unmittelbare, originär gebende Anschauung bei jeder Gelegenheit erwerbe. Man kann sie aber nicht nur erwerben, sondern auch einüben. Und es ist wichtig, dies zu tun, denn sie entdeckt uns die Welt, wie sie ist, in ihrem Antlitz, in ihrer Selbstheit. Der Nachdruck wird jetzt auf das unmittelbare Erkennen in jedem Seinsgebiet gelegt. Und erst eine spätere Angelegenheit, eine spätere Aufgabe der Erkenntnis ist dasjenige, worauf man in der Naturwissenschaft (sogar bei den Empiristen) den Nachdruck legt, die Frage nämlich, auf welchem kausalen Wege es dazu gekommen ist, daß ein Gegenstand momentan soundso bestimmt ist. Die kausalen Probleme werden von den Phänomenologen natürlich nicht geleugnet und auch nicht in ihrem Werte irgendwie herabgesetzt. Es wird bloß gesagt, daß zuerst die unmittelbare Erfahrung des uns interessierenden Gegenstandes erreicht werden soll. Zuerst soll der Versuch unternommen werden, dasjenige genau zu beschreiben, was man da erfährt, was da gegeben wird, was man sich zum Bewußtsein bringt, und (erst) dann folgt das begriffliche Fassen dessen, was schon anschaulich erfaßt wurde. Und erst, wenn wir schon wissen, was da gegeben ist, ist die Frage zu beantworten, woraus bzw. woher es stammt, auf welchem kausalen Wege es dazu gekommen ist, daß es so und so ist. Und noch etwas. Sobald die deskriptiven Probleme, die im engeren Sinne phänomenologischen Probleme, an die erste Stelle gesetzt werden, ändert sich noch etwas Wesentliches im Gesamtbestande der Erkenntnisaufgaben. Bei der in der Naturwissenschaft üblichen Einstellung, daß Erkenntnis eben

Drei Prinzipien

der Husserlschen

Philosophie

93

immer kausale Erkenntnis sei, werden die konkreten Phänomene, die konkreten Gegebenheiten sofort als Kreuzungspunkte einer Mannigfaltigkeit von zusammenwirkenden Prozessen, von Teilursachen aufgefaßt. Das, was da gegeben ist, wird als Effekt, als Wirkung und zwar als Wirkung von vielen Ursachen verstanden. Das in der Wahrnehmung Gegebene, wenn sie bloß zum Zwecke der kausalen Erklärung vollzogen wird, wird sogleich auf besondere Weise gedeutet. Helmholtz hat dies vielleicht am prägnantesten formuliert. Nach ihm bildet das in der Wahrnehmung Gegebene keine selbstgegebene Tatsache, keine eigenen Bestimmtheiten der Dinge, sondern ist lediglich "Anzeichen" von etwas anderem, was in der Erfahrung überhaupt nicht zur Erscheinung kommt. Wenn ich z.B. einen Ekran habe, auf dem ich besondere Lichterscheinungen sehe, wie sie beim Experiment von Fresnel auftreten, dann sehe ich - sagt man - "Interferenzstreifen". Es handelt es sich nicht um einfache, helle und dunkle Streifen des Ekrans selbst, sondern um ein aufgeworfenes Licht, das auf dem Wege von der Lichtquelle bis zum Ekran einen Prozeß durchgemacht hat. Es ist da - sagen die Physiker zu einer Kreuzung von zwei Wellenpaketen gekommen. Dies wird sofort so gedeutet, und die so gedeuteten anschaulichen Gegebenheiten bilden nicht das Ergebnis einer reinen, schlichten Erfahrung. Da werden die Gegebenheiten einer Erfahrung im Lichte einer physikalischen Theorie gedeutet, die man ausgedacht hat, um das Gegebene gerade so zu verstehen, daß keine Widersprüche entstehen. Duhem sagt da ganz richtig: Die Tatsachen, die man in der Naturwissenschaft findet, setzen immer schon diese oder jene Theorie voraus; das sind nicht die wirklichen Tatsachen, das sind nicht diejenigen Tatsachen, die in der reinen ursprünglichen Erfahrung schlicht gegeben sind, sondern das sind immer schon die im Sinne einer (bestimmten) Theorie gedeuteten Daten der Erfahrung. Das Gegebene wird immer sozusagen auf atomistische Weise aufgefaßt; es wird zerlegt in viele Elemente, die - so wie sich das Mach ausgedacht hat - in Komplexen auftreten. Wenn man aber sagt: "Ja, zur Theorie kommen wir später, zunächst möchten wir sehen, was da wirklich gegeben wird, was da wirklich geschieht" - dann fällt auch dieser Aspekt der Zerschlagung des gegebenen Ganzen in viele Elemente und in ihre Komplexe weg. Es vollzieht sich die Rückkehr zu einer ursprünglichen, aber (auch), wenn Sie wollen, naiven Erfahrung, in welcher wir es mit Ganzheiten zu tun haben. Wenn hierbei verschiedene Qualitäten

94

Dritte

Vorlesung

auftreten, so zeigen sie sich vorwiegend auf eine besondere

Weise

zusammengeschmolzen. Das ist das, was Bergson einst in der Gegenüberstellung zum "statischen Aspekt" des Bewußtseins, der nach ihm für die Auffassungsweise des Intellektes charakteristisch sein soll, die "continuité hétérogène" nannte. "Continuité" - das ist nicht ein Komplex aus Elementen, sondern eine Ganzheit. Nach Bergson haben die Phänomenologen diese ursprüngliche Ganzheit gesehen, und dann gegen das Jahr 1912 sind auch die Gestaltpsychologen aufgetreten und haben die Theorie der "Gestalt" weiter ausgebaut. Das ursprünglich Gegebene bildet nicht eine Mannigfaltigkeit abgegrenzter, unveränderlicher Elemente, sondern innerlich verschmolzene Ganzheiten, die auch nach Außen hin nicht immer so scharf von der Umgebung abgegrenzt sind. Da gibt es sehr merkwürdige Übergänge bis zu dem Grenzfall, wo Husserl von einem "Sprung in der Qualität" spricht. In [der phänomenologischen] 67 Einstellung kehrt man zurück zum wirklichen, konkreten Antlitz der unmittelbar gegebenen äußeren Welt, mit der wir im täglichen Leben tatsächlich verkehren. Wenn man das "Prinzip aller Prinzipien" aufstellt, so ergeben sich, abgesehen von den zwei anderen Prinzipien, die ich heute zu Beginn der Vorlesung erwähnt habe, noch verschiedene weitere Konsequenzen. Was ist das in der Erkenntnis Letztentscheidende? Das ist die originäre Anschauung. Und wenn bei einem besonders gestalteten Gegenstande eine entsprechende und besonders glaubwürdige Gegebenheitsweise erreicht wird, dann ist sie unbezweifelbar und liefert die letzte Entscheidung. Alles dagegen, was in dieser letzten Sphäre der Gegebenheit nicht aufgewiesen wird, ist verdächtig: Das kann bezweifelt werden; es kann in noch höherem Sinne falsch sein, als diejenigen Täuschungen, von denen ich früher gesprochen habe. [Denn diese] 68 Täuschungen weisen sich selbst als Täuschungen aus und sind dann nicht gefährlich. Neben einem "positiven" Postulat, das aus dem "Prinzip aller Prinzipien" folgt, folgt daraus also auch ein "negatives" Postulat: Wie schön auch immer etwas wissenschaftlich aufgebaut und begründet ist, nichts ist anzunehmen, an nichts ist zu glauben, wenn es sich nicht in einer originären Anschauung, aus letztgewissen Quellen, ausweisen läßt! Solange eine Auffassung eine 67

V.d.Hg. statt dieser.

68

V.d.Hg. statt Die.

Drei Prinzipien

der Husserlschen

Philosophie

95

zwar schöne, aber abstrakte Theorie ist, deren Fundamente nur aus der täglichen Erfahrung geschöpft wurden, solange darf sie für unsere Betrachtungen nicht als Voraussetzung, als Prämisse dienen. Auf den ersten Blick scheint dies im Grunde nichts anderes als das empiristische Prinzip zu sein. Die Empiristen sagen ja auch: Jede Theorie muß ein Fundament in der Erfahrung haben. Der Sinn von 'Erfahrung' indessen ist bei Husserl ein anderer geworden, was sich auch daran zeigt, daß auch die Ergebnisse der philosophischen Forschung andere geworden sind. Welches also ist die weitere methodologische Konsequenz aus der Tatsache, daß man sagt: Wir wollen Schluß machen mit den tausend philosophischen, miteinander streitenden Richtungen, Systemen; wir wollen endlich einmal eine Philosophie aufbauen, und zwar mit Hilfe des "Prinzips aller Prinzipien"? Diese Konsequenz liegt darin, daß man über nichts etwas aussagt, wenn man es nicht in der letzten, ursprünglichen Erfahrung aufgewiesen hat. Es war die Sehnsucht und das Bestreben Husserls während seines ganzen Lebens, eine Philosophie aufzubauen. Dieses Bestreben teilten auch andere Phänomenologen. Diese Philosophie, auch wenn sie nicht vergessen will, daß es andere Philosophien gegeben hat, und wenn sie auch nicht leugnen will, daß geniale Entdeckungen gemacht wurden, muß ganz aufs neue aufgebaut, muß angefangen werden. In gewissem Sinne kann man sagen: Vergessen Sie alles, was Sie wissen, und beginnen Sie jetzt wirklich, die ursprüngliche Erfahrung zu betreiben! Von der Philosophie sagen die Vertreter der Einzelwissenschaften, daß sie die Geschichte der menschlichen

Irrtümer

sei. Das wollen

die

Phänomenologen gar nicht behaupten. Die in ihrem Sinne verstandene Philosophie soll aber keine Fortsetzung weder der bisherigen Philosophie noch der positiven Wissenschaft sein. So sehr wertvoll die Wissenschaft an sich ist - dies will man gar nicht bezweifeln! -, ihre Behauptungen, ihre Sätze, Prinzipien und Axiome dürfen in der Philosophie dennoch nicht als Prämissen gelten. Man muß sie irgendwie außer Kraft setzen. Wie sich später zeigen wird, entwickelt sich aus diesem Ansatz die Problematik der sogenannten "transzendentalen Reduktion". Zunächst soll aber nur dies festgestellt werden: Die positive Wissenschaft soll nicht vorausgesetzt werden, und man soll versuchen, neue Fundamente der philosophischen Betrachtung zu schaffen. Das schließt nicht aus, daß man in bestimmten Gebieten zu denselben Ergebnissen kommen wird, wie sie uns die Wissenschaft gibt. Aber

96

Drille

Vorlesung

der Weg von den ursprünglichen, originären Gegebenheiten zu bestimmten theoretischen Einsichten muß zuerst durchmessen werden. Dieses Postulat und der Versuch, alles aufs neue anzufangen, bildet in den Augen der Vertreter der Wissenschaften natürlich das Schlechteste, was Husserl und die Phänomenologen für sich postulieren konnten und postuliert haben. Denn natürlich fragen die Mathematiker und die Physiker: Ja, um Gottes willen, wozu brauchen wir so eine Philosophie, welche die Wissenschaft und ihre bewunderungswürdigen Ergebnisse gar nicht berücksichtigt? Wollen die Phänomenologen weiser sein als wir? Wozu? Und wie ist das überhaupt möglich? Und später, in den zwanziger und dreißiger Jahren, ist eine sehr lebendige Strömung, der Neupositivismus, entstanden - eine Philosophie, die die "Einheitswissenschaft" postulierte und die selbst nur eine Fortsetzung der verschiedenen Wissenschaften, also der Physik, Biologie usw., sein wollte. Alle Wissenschaften sollen als Fundament dienen, auf dem erst die neupositivistische Philosophie zu gründen sei. Da sich diese Philosophie aber prinzipiell nicht in die positive Arbeit der Wissenschaften einmischen durfte, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf die Sprache der Wissenschaft und die logische Analyse derselben zu beschränken. So ist der sogenannte "logische" Positivismus (heute spricht man von der "Analytischen Philosophie") entstanden. Hier zeigt sich der prinzipielle und tiefste Gegensatz in der Philosophie der Gegenwart. Die Phänomenologen sagen: Wir sind voller Achtung vor der Wissenschaft, aber wir setzen sie nicht voraus, wir beginnen selbst alles aufs neue. Und die Positivisten sagen: Nein, wir dürfen Philosophie nur als Fortsetzung der Wissenschaften betreiben, sonst ist es lauter Unsinn, ein unwissenschaftliches Gerede. Und Husserl sagt: Nun, natürlich, jeder Anfang im Gewinnen von Erkenntnis ist unwissenschaftlich. Das muß eben "unwissenschaftlich" gemacht werden; wenn man es wissenschaftlich machen will, so ist es kein Anfang, sondern Fortsetzung; es ist dann aber auch keine Philosophie. Das hat Husserl während vieler Jahre einen schweren Kampf in seiner ganzen universitären Umgebung gekostet. Zuerst in Göttingen, weil man eben wußte, daß er wirklich und vollen Ernstes dieser Meinung war. Das hat uns allen, die wir daran geglaubt haben, das Leben sehr erschwert. Es ist aber einzusehen, daß sich dies nicht anders machen läßt. Wenn man sich die Notwendigkeit des Anfanges in der Philosophie zum kla-

Drei Prinzipien

der Husserlschen

Philosophie

97

ren Bewußtsein gebracht hat, dann scheint die Situation der Philosophierenden ganz katastrophal und hoffnungslos zu sein. Wie soll man da anfangen? Wie soll man anfangen, auf neuen Gebieten und auf eine ganz neue Weise zu philosophieren? Wie soll man sich da von der ganzen, sehr hochwertigen wissenschaftlichen Kultur befreien? Ja, wie soll man sich befreien von dem Wissen, das schon in unserer Sprache enthalten ist? Es gibt eben nicht nur ein Schauen in der Philosophie, es gibt auch eine Sprache, welcher wir uns bedienen müssen. Wie sollen wir den ganzen Schatz an übermitteltem Wissen, der in unserer Alltagssprache enthalten ist, zunächst einfach zurückschieben? Sollen wir uns der (Alltags)sprache überhaupt nicht bedienen und eine ganz neue Sprache schaffen? Das ist eben dieses schwierige Problem - "das Problem des Anfangs" -, an dem Husserl im Grunde 20 Jahre gearbeitet hat; eine Arbeit, deren Ergebnisse man nach seinem Tode in den zwei Bänden der Ersten Philosophie69

zusamrnengefaßt hat. Wie fängt man

da an? Das ist das schwierigste Problem. Ich will es hier nicht entwickeln, weil ich diesem Problem alle meine Vorlesungen widmen müßte. Es wird aber doch möglich sein, einiges über die sogenannte "phänomenologische Methode" zu sagen, darüber zu sagen, welche Verfahrensweisen möglich sind, um vorwärts zu kommen. Eines aber ist mit Nachdruck zu betonen: Wir - die Phänomenologen - wollen nicht darauf verzichten, die ganze vergangene philosophische und wissenschaftliche Kultur usw. zu kennen. Im Gegenteil, wir wollen alles, was da entdeckt und geschaffen wurde, wenigstens in den Umrissen kennen. Ich selber habe Mathematik und Physik, Biologie und Medizin studiert, so weit es für mich, für meine geistige Kultur ging. Aber all das zu kennen, bedeutet noch nicht, es einfach als geltende, unbezweifelbare Wahrheit vorauszusetzen.

Man muß, ohne Voraussetzungen

zu machen, sich irgendwie aushelfen. Wie? Nun, ich werde später versuchen, Ihnen dies in einigen Strichen anzudeuten.

69

Vgl. Vorlesung I, Anm. 55.

Vierte Vorlesung (6. Oktober 1967) (Elemente einer phänomenologischen Theorie der Wahrnehmung (I): Wahrnehmung und Transzendenz) Der Schluß der letzten Vorlesung mag bei Ihnen die Erwartung geweckt haben, daß ich heute über die Methode der Phänomenologie sprechen werde und speziell darüber, wie man anfängt phänomenologisch zu philosophieren. Ich muß vorerst aber noch einige Fragen bezüglich der Erfahrung und insbesondere der äußeren Wahrnehmung besprechen. Was ich bis jetzt über die Erfahrung gesagt habe, ist noch ergänzungsbedürftig. Deswegen werde ich heute zunächst verschiedene Einzelheiten der äußeren Wahrnehmung besprechen, um dann auf das Problem der sogenannten "Transzendenz" zu kommen. Denn die Begriffe der Transzendenz sind sehr verschieden. Sie haben in der Europäischen Philosophie eine lange Geschichte durchgemacht und wurden oft miteinander vermengt. Auch bei Husserl wird das Wort 'transzendent' nicht immer in demselben Sinne verwendet. So ist es, damit keine Mißverständnisse entstehen, erforderlich, mehrere Begriffe der Transzendenz auseinanderzuhalten. Insbesondere wird die äußere Wahrnehmung oft "transzendente" oder auch "transzendierende" Wahrnehmung genannt; andererseits wird aber auch ihr Gegenstand, z.B. ein Ding, als "transzendenter" Gegenstand bezeichnet. Aber auch der Begriff der Wahrnehmung erfordert eine weitere Klärung. Denn er hat im Übergange von Brentano zu Husserl eine beachtliche Wandlung erfahren. Bei Franz Brentano ist der allgemeine und grundlegende Begriff, der zur Analyse des "Bewußtseins" dient, der Begriff der Vorstellung. [Vorstellungen aber sind] 1 verschiedenartig. Es gibt wahrnehmungsmäßige Vorstellungen, reproduktive Vorstellungen und auch sozusagen "konstruktive" Vorstellungen, also, wenn Sie

wollen,

Imaginationen.

Wodurch

unterscheiden

sich

aber

die

Wahrnehmungsvorstellungen von den im gewöhnlichen Sinne des deutschen Wortes verstandenen "Vorstellungen"? Ein Unterscheidungsmerkmal habe ich bereits in der letzten Vorlesung erwähnt, nämlich, daß in der (äußeren) Wahrnehmung der Gegenstand der Wahrnehmung (insbesondere ein Ding)

V.d.Hg. statt Diese "Vorstellung" aber ist.

100

Vierte

Vorlesung

als leibhaft selbst gegenwärtig gegeben ist, während dies bei einer Vorstellung nicht der Fall ist. Aber darin erschöpft sich der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung noch nicht. Wenn ich mir jetzt z.B. das Administrationsgebäude der Universität Oslo vorstelle, so habe ich, wie man oft gesagt hat, im Vergleich mit der (entsprechenden) Wahrnehmung nur ein "Bild". Aber worin der Unterschied zwischen einem "verblaßten Bild" und der Lebendigkeit der Selbstgegebenheit in der Wahrnehmung besteht, ist nicht geklärt und - von Brentano - auch nicht besonders hervorgehoben worden. Es ist jedenfalls bei ihm (in diesem Punkt) im Vergleich z.B. mit Hume kein Schritt vorwärts getan. Dagegen betont Brentano, daß das, was wir "Wahrnehmung" nennen, ein zusammengesetztes Erlebnis ist, nämlich ein aus "Vorstellungen" und "Urteil" zusammengesetztes Erlebnis. [Unter "Urteil" aber versteht Brentano - wie Sie wissen - nicht einen Satz im logischen Sinne, sondern einen Akt.]2 Und zwar ist es ein besonderer Akt des "Anerkennens" oder des "Verwerfens" von etwas. Dieses "Anerkennen" wird dann im Prinzip nicht mehr expliziert und ist im Sinn des Wortes enthalten, das zur Benennung [des jeweils vorgestellten]3 Etwas verwendet wird. Wenn ich also z.B. jetzt meine Brille da auf dem Tisch liegen sehe, dann erlebe ich nach Brentano ein Doppeltes: Ich habe eine Vorstellung, und zwar eine Vorstellung von besonderer Art in mir, und ich vollziehe zugleich den Akt des Anerkennens dessen, was ich da sehe. Und wenn ich z.B. so eingestellt war, daß dies meine Brille sei, es sich aber herausstellt, daß es tatsächlich die Brille meiner Frau ist, dann sage ich: "Ach, das ist doch nicht das, was ich meinte." Ich "verwerfe" dann die Existenz meiner Brille und sage: "So was gibt es nicht, es ist etwas anderes an dieser Stelle". Es kann nach Brentano Vorstellungen geben, die ohne Urteil vollzogen werden, also weder Anerkennung noch Verwerfung als Komponenten, als etwas Zweites mit sich führen - [genau]4 so, wie auch Husserl später von völlig "neutralen" Vorstellungen sprach. Und diese völlig neutralen Vor-

V.d.Hg. statt Und "Urteil" hat - wie Sie wissen - bei Brentano nicht den Sinn eines Satzes im logischen Sinne, sondern denjenigen eines Aktes. V.d.Hg. statt dieses. V.d.Hg. statt ganz.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

101

Stellungen sind für Brentano [die Grundlage] 5 aller anderen möglichen Abwandlungen der Bewußtseinserlebnisse. Im Bereich des Bewußtseins ist etwas entweder eine Vorstellung, oder es ist in einer Vorstellung fundiert. Andere "psychische Phänomene" gibt es nach Brentano nicht. Also auch das "Urteil", das bei der normalen, visuellen Wahrnehmung vollzogen wird, ist in dieser Vorstellung fundiert, in dieser besonderen Art von Vorstellung, in der, sagen wir, "unmittelbaren", wahrnehmungsmäßigen Vorstellung. Bei Husserl sieht dies ganz anders aus. Die Wahrnehmung ist kein zusammengesetztes Erlebnis, sondern ist ein Ganzes: Es gibt bei der Wahrnehmung keinen besonderen Akt des "Vorstellens" und dann einen zweiten Akt des Anerkennens. Sie ist ein Akt, ein Erlebnis, wobei die Weise, in welcher ein Akt des Wahmehmens normalerweise vollzogen wird, die Überzeugung von der Existenz dessen, was da wahrgenommen wird, in sich schließt, sie zum Ausdruck bringt. Es kann natürlich verschiedene Weisen dieses Überzeugtseins, dieses - wie Husserl sagt - "Setzens" des Wahrgenommenen geben. Es handelt sich aber nur um verschiedene Weisen des Vollzugs des Erlebnisses und nicht um abgesonderte Akte selbst. Wenn wir z.B. etwas undeutlich oder unscharf sehen und nicht sicher sind, nicht nur bezüglich dessen, was [dieses etwas] 6 ist, sondern auch, ob das Gesehene wirklich existiert, dann wird dieses "Sehen"

(bloß) nicht so vollzogen, wie dies bei der Wahrnehmung

statt hat. [Alle Akte, welche - trotz solcherart verschiedener Weisen des Vollzugs - durch das Moment des Überzeugtseins charakterisiert sind] 7 , nennt Husserl "thetische" Akte. Diese "thetischen" Akte können sehr verschieden sein. Wenn ich z.B. etwas vermute, dann stelle ich das Vermutlichsein fest, sagt Husserl, und wenn sich mir etwas als möglich enthüllt, dann [anerkenne ich das Möglichsein] 8 usw. Es gibt also verschiedene Abwandlungen dieser "thetischen" Akte. Sie beziehen sich nicht bloß auf die Realität, auf das Seinsautonome, sondern auch auf das Mögliche, auf das Vermutliche usw. usw.

V.d.Hg. statt der Grund. V.d.Hg. statt das. V.d.Hg. statt Alle Akte, welche sich durch solche verschiedenen Weisen des Vollzugs charakterisieren. V.d.Hg. statt vollziehe ich den Akt der Anerkennung des Möglichseins.

102

Vierte

Vorlesung

Etwas bedenklich ist dabei, daß Husserl, wenn er nicht gerade von "Überzeugung" spricht, auch andere Wörter verwendet, die nicht ganz passend erscheinen. Schon das Wort 'Überzeugung' ist kein gutes Wort dafür, was in der Wahrnehmung geschieht. Bedenklich ist aber auch das Wort 'Glauben', besonders weil Husserl auch von verschiedenen "Glaubensmodalitäten" spricht. Und das dritte Wort, das ich schon erwähnt habe, ist das Wort 'Setzung'. Ein Ding wird, indem ich es sehe, von mir "gesetzt" - sagt Husserl. Wir wissen aber: Das Wort 'Setzung' hat eine alte Tradition, es findet sich u.a. bei Kant, in der Neukantianischen Literatur usw. Mit diesem Ausdruck ist eben die Gefahr verbunden, daß da eine irgendwie aktive Setzung, ein "Insseinsetzen" gemeint wird, also nicht nur bloßes Anerkennen, sondern gerade ein "Setzen" dieses Seins. Und tatsächlich verstärkte sich bei Husserl im Laufe der Jahre die Tendenz, dieses "Setzen" in einem aktiven Sinne zu verstehen. In den Méditations Formalen und transzendentalen

cartésiennes

(1928/30) und in der

Logik (1929) wird schon nicht mehr von

"Setzung" gesprochen. Da ist von "Stiftung" der wahrgenommenen Dinge die Rede. Und "stiften", das heißt ja etwas erst ins Sein rufen, es irgendwie "schaffen". In manchen Fällen scheint dies richtig zu sein. Wenn man z.B. eine Universität gründet, sie "stiftet", dann gibt es einen besonderen Akt der "Stiftung", in dem die Universität zur Entstehung, zum Sein gebracht wird. Läßt sich dies aber auch beim Sehen eines Dinges mit Recht sagen? Also, in den Ideen I (1913) wird vorwiegend von einer "Setzung" gesprochen, die sich in der Wahrnehmung vollziehen soll. Und diese "Setzung" soll dort noch soviel wie Anerkennung sein. Und später, je weiter Husserl [auf den Idealismus zusteuert] 9 , desto eher spricht er von "Stiftung". Und wenn er bei der Wahrnehmung von "Überzeugung" spricht, so ist das, wie ich sagte, auch kein gutes Wort. Denn das, was in der Wahrnehmung z.B. eines Dinges geschieht, das ist ein aktueller Akt der Erfassung eines existierenden

Dinges. 10 Überzeugungen dagegen habe ich

(auch) ohne

einen besonderen Akt zu vollziehen. Z.B. habe ich die Überzeugung und zweifle nicht daran, daß meine Wohnung in Krakau weiter besteht. Ich habe die Überzeugung, daß Krakau überhaupt existiert, schicke Briefe dorthin 9 10

V.d.Hg. statt in der Richtung auf den Idealismus steuert. Vgl. Ingarden (1921b), 555ff„ 559ff, 564f.; (1925a), 251-258; (1965a), 194f„ 206-208; (1968b), 6; 187.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

103

usw.; aber ich vollziehe dabei doch keinen Akt der Anerkennung. Es ist ein ständiges, irgendwie im Untergrund meines Bewußtseins steckendes Phänomen, ein psychisches Phänomen oder ein Zustand, in dem sich diese Überzeugung ständig anzeigt. Sobald ich einmal eine Überzeugung erlangt habe, besteht sie irgendwie weiter, ohne daß ich sie zu aktualisieren brauche. Dagegen wird bei jeder Wahrnehmung das feststellende Erfassen eines Dinges oder eines Vorganges aufs neue vollzogen. Jetzt sehe ich diesen Tisch da und zwar auf solche Weise, daß er sich mir aufdrängt, daß das, was ich sehe, existiert. Und ich kann nicht einmal sagen, daß ich [hierbei irgendwie] 11 zustimme; das ist auch schon zuviel gesagt. Ich erlebe es in der Form des {Auftretens eines Seienden] 12 , das vor mir als selbstanwesend da steht. Und ich mache nichts besonderes, um dieses "Sein" am Wahrgenommenen zu erfassen, ich vollziehe keinen besonderen Akt des "Urteils". Ich vollziehe einfach die Wahrnehmung. Dies also ist das erste, was da festgestellt werden muß, so schwierig es auch ist, diesen Tatbestand mit Worten wiederzugeben. Eine andere Gefahr führt das Wort 'Glauben' mit sich. Husserl hat es wiederum auf eine ziemlich vage Weise verwendet. Es gibt in den Ideen I ganze Kapitel über die verschiedenen "Glaubensmodalitäten". Das Wort 'Glaube' wird indessen in der Umgangssprache zur Bezeichnung des religiösen Glaubens verwendet, was hier nicht in Frage kommt. Vielleicht hat Husserl dieses Wort in einer gewissen Anlehnung an David Hume verwendet. Aber nichtsdestoweniger besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem religiösen Glauben und dem "Glauben", welcher beim Vollzug einer Wahrnehmung oder eines prädikativen Urteils oder endlich bei einem Existenzurteil vorliegt. Dies springt deutlich ins Auge, wenn wir den Fall, wo ich an Gott glaube, mit dem Fall vergleichen, wo ich das Existenzurteil, daß Gott existiert, vollziehe. Dies sind zwei verschiedene Verhaltungsweisen des Menschen, die man nicht miteinander [verwechseln] 13 sollte. Man kann das erste erleben und doch nicht fähig sein, das zweite zu tun und umgekehrt. Man kann auch fragen, wie dies eigentlich ist: Ob ich an die Existenz Gottes

11

V.d.Hg. statt dazu.

12

V.d.Hg. statt Auftretens auf ein Seiendes. - Vielleicht als "Treffens auf ein Seiendes" zu verstehen. V.d.Hg. statt vermischen.

104

Vierte Vorlesung

glaube oder nur ein [zugehöriges Existenzurteil] 14 fälle. Dies wird später für uns von Bedeutung sein. Die zweite wichtige Frage, die zu besprechen ist, wird bei den späteren Erwägungen über das sogenannte apriorische Erkennen eine Rolle spielen. 15 Nämlich:

Ich

habe

heute

schon

erwähnt,

daß

es

nach

Brentano

"wahrnehmungsmäßige" Vorstellungen gibt und "Vorstellungen" tout court, wie man in der deutschen Umgangssprache sagt. Auf den Unterschied, der zwischen ihnen besteht, hat in der Modernen Philosophie zuerst David Hume hingewiesen. Bei Hume, das wissen Sie, bezeichnet das Wort 'perception' ein beliebiges Bewußtseinserlebnis. Die "perceptions" lassen sich in zwei verschiedene Typen einteilen, nämlich in die "impressions" und die "ideas". Diese "ideas", das sind nach Hume bekanntlich "Kopien" der Impressionen. Sie sind also erstens Kopien, Abbilder [der "impressions"] 16 , zweitens aber unterscheiden sie sich von diesen auch in dem, was man den anschaulichen Charakter nennen könnte: Die ersteren sind nämlich lebhaft, intensiv, irgendwie stark, während die anderen, die "ideas", schwächer, weniger intensiv, irgendwie verblaßt, weniger klar, weniger deutlich, irgendwie verschwommen sind. Ein solcher Unterschied, der zwischen "Wahrnehmung" und "Vorstellung" auch bestehen kann, ist, wie man sagt, ein Unterschied des Grades: Dies ist etwas stärker, und jenes - etwa die "ideas" - ist etwas weniger stark. Hierauf aber sagen Husserl und die anderen Phänomenologen: Dies ist falsch oder trifft zumindest nicht den Kern der Sache. [Der Unterschied zwischen "Wahrnehmung" und "Vorstellung"] 1 7 ist kein bloßer Unterschied des Grades, sondern es besteht da, wie man gewöhnlich sagt, ein Unterschied der Qualität, und zwar ein Unterschied der Qualität im Typus der Anschaulichkeit. Es gibt da keinen Übergang vom einen zum anderen. Es kann also, wie man sagt, nicht sein, daß, wenn ich mir z.B. meine durch den Mantel und meinen Anzug verdeckte Uhr sehr lebhaft vorstelle und noch lebhafter und immer lebhafter, ich dann plötzlich meine Uhr sehe, daß also, wenn ich im Vorstellen eine gewisse Intensität erreicht habe, ich dann die Uhr wirklich wahrnehme. Oder umgekehrt: Ich fahre z.B. am

14

V.d.Hg. stati Existenzurtei) darüber.

15

Vgl. die Einleitung d. Hg. V.d.Hg. statt des anderen.

17

V.d.Hg. statt Es.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

105

Abend mit meinem Wagen, es ist ziemlich dunkel, und ich sehe sehr schlecht. Ich habe sehr "schwache" "Impressionen", sehe undeutlich usw. Und ich weiß nicht, was dies da ist: Ist es ein anderer Wagen, ist es eine Kuh oder ein Mensch? Es wird etwas also nur irgendwie undeutlich, eventuell an der Peripherie des Gesichtsfeldes gegeben. Es handelt sich aber trotz allem um keine "Vorstellung" (idea), sondern eben um eine - obgleich "schlechte", undeutliche - Wahrnehmung, die sich durch keine Abschwächung direkt in eine "Vorstellung" verwandeln kann. Es ist natürlich leicht zu sagen, es liege da kein Unterschied des Grades, sondern ein Unterschied der Qualität vor. Dies genügt aber nicht. Es muß doch geklärt werden, was für ein Unterschied da vorliegt, worin er besteht. Dies zu bestimmen, ist außerordentlich schwierig, obwohl wir es ja dauernd erleben. Husserl hat dies in den Schriften, die bis heute publiziert worden sind, nicht befriedigend geklärt. Die einzige

(befriedigende) Beschreibung, die

ich kenne, hat Frau Hedwig Conrad-Martius in ihrem Buch Zur und Erscheinungslehre

der realen Außenwelt18

Ontologie

gegeben. Sie hat dort

zunächst einen Unterschied zwischen den Vorstellungen selbst festgestellt. Es gibt gemäß Conrad-Martius nämlich zwei verschiedene Arten von Vorstellungen: Die eine und sozusagen normale Art des Vorstellens beruht darauf, daß man etwas mit Hilfe eines anschaulichen Repräsentanten vorstellig macht, der aber nicht hinreicht, um das Repräsentierte zur wahrnehmungsmäßigen Erscheinung zu bringen. Dieser Fall des Vorstellens entspricht der ersten These Humes, daß eine solche Vorstellung die "Kopie" von etwas anderem ist. Das Wort 'Kopie' würde Frau Conrad-Martius allerdings nicht verwenden. (Denn) wenn ich mir jetzt z.B. das Meer am Hafen von Oslo vorstellen wollte, so wie man es sieht, wenn man nach Oslo kommt, mir statt dessen (aber) etwas ganz anderes erschiene, wie es mir gerade passiert ist - es ["erschien" mir] 1 9 nämlich der Plan von Oslo, wo unten an der Karte zwischen den blauen Strichen ein blauer Fleck vorhanden ist -, dann muß ich fragen, was vorgestellt war. Vorgestellt war natürlich der Plan von Oslo und das Meer. Er war doch anschaulich "vorgestellt": Ich habe die ganze Karte mit diesen verschiedenen Flecken "gesehen", darunter auch je'8

Vgl. Vorlesung II, Anm. 44.

19

V.d.Hg. statt ist.

106

Vierte Vorlesung

nen blauen Fleck, der das Meer "darstellt". Sobald ich den Plan selbst (wirklich) sehen würde, wäre alles ganz anders. Diese Karte, der richtige Plan, und sollte es nur der Plan von Oslo sein, würde selbst erscheinen, während in der eben gehabten Vorstellung

(des Planes) alles sehr flüchtig und

verschwommen war und sehr schnell vorbeigegangen ist. Dieses Anschauliche und Flüchtige hat mich

(aber) so angesprochen, daß ich mich

doch auf den Plan von Oslo selbst bezog, obwohl ich ihn nicht selbst gegenwärtig hatte. Wenn ich das Vorstellen des Plans von Oslo ein zweitesmal vollziehe, dann kann alles ganz anders verlaufen. Jetzt z.B. ist in mir alles so schnell abgelaufen, daß ich zwar diesen Plan wiederum quasi vor mir habe, aber in einer ganz anderen Beleuchtung und in einer anderen Perspektive. Ich habe jetzt eben alles ganz anders erlebt, und trotzdem habe ich denselben Plan von Oslo vorgestellt. In dem beschriebenen Beispiel gab es also sozusagen einen doppelten anschaulichen Repräsentanten. Es sollte eigentlich das Meer am Hafen von Oslo vorgestellt werden, es ist aber zu einer Vorstellung des Planes von Oslo und des Meeres am Hafen gekommen: Dieser Plan ist der erste Repräsentant des Meeres bei Oslo; aber auch dieser Plan selbst wurde nicht wahrgenommen, sondern nur anschaulich vorgestellt, also wiederum in [einem] 20 fließenden Repräsentanten von einer Ansicht des Planes vom Hafen' in Oslo

("gegeben"). Es könnte auch einfacher sejn,

wenn ich mir z.B. das Meer bei Oslo so vorstellen würde, wie man es bei klarem Wetter von Holmenkolen aus im Sonnenschein sieht. Auch da ist ein [fließender] 21 anschaulicher Repräsentant, so etwas wie eine Ansicht, die man hätte, wenn man das Meer wahrnehmen würde, und doch keine solche Ansicht, denn, wenn wir sie hätten, dann würde uns das Meer selbst "in Person" gegeben, während wir es jetzt nur so ähnlich "vorstellen". Das ist also der erste Fall der "Vorstellung", die sich von der Wahrnehmung radikal unterscheidet. Es gibt aber noch andere Fälle des Vorstellens von Gegenständen, in welchen auch über das Wahrgenommene hinausgegangen wird, in welchen es aber keinen anschaulichen

Repräsentanten gibt.

Also z.B. habe ich mir in diesem Moment diese Tafel da vorgestellt, diese Tafel hier hinter mir, und ich habe sie nicht gesehen, ich habe hierbei nichts Anschauliches erlebt, es war gar kein Phantom der Tafel da, ond doch ist sie 20

V.d.Hg. stati einem] neuen.

2

V.d.Hg. statt wandelnder.

'

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

107

mir irgendwie gegenwärtig gewesen. Es ist ganz merkwürdig: Ich stehe hier, nehme diesen Saal wahr, ich sehe Sie, meine Damen und Herren, denke an das, was ich hier zu sagen habe, und zugleich ist (mir) mitgegeben, [ohne eine entsprechende Wahrnehmung zu haben] 22 , daß hinter mir ein fester Boden ist, auf dem ich mich infolgedessen ruhig bewegen könnte, ohne fürchten zu müssen, daß hinter mir in der Mitte etwa eine Schlucht vorhanden ist. Wenn ich aber das Bewußtsein hätte, daß da hinter mir eine solche Schlucht sei, so wäre dies schlimm. Ich würde dann nicht zu bewegen sein, hier so ruhig zu sitzen. Worauf beruht die sogenannte Bergkrankheit? Man ist auf dem Gipfel eines Berges und ist von der Schlucht noch weit entfernt, sagen wir 20 Meter. Der bergkranke Mensch kann sie nicht einmal sehen, er hat von ihr nur so eine Vorstellung. Und trotzdem ist diese Schlucht, die er gar nicht sieht und die er gar nicht imaginiert, so real für ihn vorhanden, daß er sich aus Furcht nicht zu bewegen wagt. Er legt sich auf den Boden hin, sonst würde er - wie er glaubt - herunterfallen. Er ist fest davon überzeugt. Es gibt ganz merkwürdige Vorstellungen, die sich auf die Umrahmung einer von uns wahrgenommen Umgebung beziehen - Vorstellungen, in denen die Gegenstände, die da vorgestellt werden, in gar keiner Weise imaginativ repräsentiert werden. Es ist nur so, als ob man es bloß passiv fühlen würde, es ist sogar kein besonderer Denkakt dahinter. Es kann auch sein, daß nur von Zeit zu Zeit ein Akt aufblitzt, ganz "dunkel", ganz ohne "Phänomen", aber doch ganz präzis, z.B. daß da hinter mir keine Schlucht, sondern ein fester Boden ist, den man ohne Gefahr betreten könnte. Da in solchen Fällen keine anschaulichen Phänomene vorhanden sind, kann man an ihnen den Unterschied zwischen Vorstellungs- und Wahrnehmungsgegebenheit gar nicht erfassen. Man muß sich also auf jene Vorstellungen konzentrieren, wo anschauliche Repräsentanten vorhanden sind, die uns den vorgestellten Gegenstand "vorzustellen", ihn imaginativ zu haben, gestatten. Wie läßt sich nun dieser Unterschied näher bestimmen? Nun, natürlich fehlt bei der Vorstellung das Phänomen der Selbstgegenwart des Gegenstandes. Es liegt da gerade das Phänomen der Abwesenheit dessen vor, was da vorgestellt wird. Wir erleben dagegen ein Phantom, ein

99

V.d.Hg. statt aber nicht wahrgenommen.

108

Vierte

Vorlesung

anschauliches Phänomen, das es uns erlaubt, das betreffende Ding sozusagen "auszumalen", es in seinen Qualitäten, in seinen Beschaffenheiten auszuleuchten, das ihm aber trotz allem ein direktes Sichzeigen unmöglich macht. Die Qualitäten, in denen es da hervorleuchtet, sind wie mit einem nicht ganz durchsichtigen Medium überschattet. Man könnte auch sagen, daß das auf diese Weise vorgestellte Ding wie aus einem dunklen Medium hervor- oder auftaucht. Hierbei ist die Rede von der Dunkelheit dieses Mediums in einem übertragenen Sinne zu verstehen, der z.B. auf gar keine "Dunkelheit", die im Bereich wahrgenommener weltlicher Tatbestände auftritt, paßt, obwohl sie ein Analogon dazu bildet. Eine Vorstellung kann sich unter gleichzeitigem Ablaufen einer sinnlichen Wahrnehmung vollziehen. Wenn ich z.B. jetzt diesen Saal sehe, kann ich mir zugleich z.B. den Dom von Oslo vorstellen. Ich erlebe dann ein neues Erlebnis neben dieser Wahrnehmung, und da taucht aus einem gewissermaßen dunklen Nebel, aus einem dunklen Horizont, wenn Sie wollen, aus einem dunklen Medium etwas auf, und das ist nun bereits nicht mehr dunkel, sondern phänomenal gemäß den Qualitäten des Doms bestimmt. Ich kann mir ein Feld an einem hellen, sonnigen Tag vorstellen, auf dem ich in Actione wandle und unter blauem Himmel die gelblich-goldenen Weizenhalme "sehe". Da "sehe" ich auch die schönen Mohnblumen, rote Kelche an grünen Stengeln usw. Das haben wir alles jet?t dabei, sehr hell und sehr bunt und kraß, und doch irgendwie, wie Frau Conrad-Martius sagt, "verhüllt". Erst in der Wahrnehmung tritt dies alles unverhüllt selbst hervor, und erst dann fällt das "trübe" Medium fort. Man kann die Vorstellungsanschaulichkeit aber noch mit einem anderen Fall kontrastieren, den wir alle kennen und der auch keine direkte Wahrnehmung ist. Die Psychologen sprechen von einem "Nachbild". Wenn ich z.B. in eine helleuchtende Lampe sehe und nachher die Augen schließe, habe ich ein Kontrastfarben-Phänomen. Es kann sehr hell sein und tritt aus einem dunklen [Hintergrund] 23 hervor. Dieser helle Farbenfleck, der gewöhnlich satt rot-grün ist, ist in sich sehr scharf umgrenzt und sehr gesättigt. Sowohl das Hineinblicken in helle Lichtquellen wie auch das Haben von Nachbildern ist für die Augen sehr ermüdend oder gar gefährlich. Professor Evald Hering, der die Nachbilder zuerst untersucht hat, ist später sogar erblindet. Die

23

V.d.Hg. statt Niveau.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

109

Anschaulichkeit eines Nachbildes ist gar nicht "verhüllt". Die reinen Farbenphänomene sind ebenso selbstanwesend wie Phänomene bei der Wahrnehmung, obwohl sie sich doch von den letzteren unterscheiden. Also kontrastieren Sie jetzt bitte diese drei Anschaulichkeitsphänomene: 1. das, was während der Wahrnehmung, insbesondere der visuellen Wahrnehmung auftritt (erlebt wird), 2. die Farbenflecken in Nachbildern

und 3. die

[anschaulichen Repräsentanten bei der Vorstellung von] 2 4 Dingen. Die Aufdeckung der Verschiedenheit

zwischen

diesen drei Typen

von

An-

schaulichkeit spielt eine wesentliche Rolle, wenn wir uns zum Bewußtsein bringen wollen, wie sich die phänomenologische Auffassung der Wahrnehmung bzw. der Erfahrung von der traditionellen, in der Psychologie des 20. Jahrhunderts vorherrschenden, von den Empiristen übernommenen Auffassung unterscheidet. Ich habe Ihnen bereits davon berichtet, wie es war, als ich noch vor dem Ersten Weltkriege, während man mir in bestimmten Experimenten gewisse farbige Dinge vorzeigte, als Versuchsperson hätte sagen sollen, was ich sehe. (Nehmen wir das folgende Beispiel.) Ich habe soeben auf meine Uhr geblickt und habe an ihr die Lage der Zeiger gesehen. Man würde uns seitens der empiristisch eingestellten Psychologen nun sagen: "Ihre Uhr haben sie 'gesehen'? Sie können die Uhr eigentlich nicht sehen. Und Papier sehen sie auch nicht. Das, was Sie wirklich 'sehen', ja - das sind helle und dunkle Farben, sind Empfindungen, gewisse Lichtreflexe. Und wenn Sie sagen, daß, was Sie da sehen, eine Uhr sei - nun, so wissen Sie dies bloß aufgrund der früheren Erfahrung." Das soll heißen: Aus dem, was ich früher einmal gesehen habe, hat sich etwas mit den mannigfaltigen Empfindungen, die ich jetzt habe, irgenwie "assoziiert". Und nicht nur bloß assoziiert, sondern es sind alte Wahrnehmungsphänomene (Empfindungen) jetzt irgendwie wach geworden und haben sich mit den jetzt gehabten Empfindungen irgendwie zu einem Knäuel, zu einem Ganzen vermischt. "Das also ist die jetzt angeblich 'gesehene' Uhr, von der Sie bloß sagen, daß Sie sie sehen und daß Sie sich an sie in gewissem Sinne, wenn das Wort erlaubt ist, erinnern, nämlich im Bezug darauf, wie sie früher eigentlich aussah." Ich glaube, diese ganze (angebliche) Beschreibung dessen, was beim Sehen von Dingen vorgeht, ist eine pure Konstruktion. Sie wird aus der Furcht

V.d.Hg. statt anschauliche Vorstellung der.

110

Vierte

Vorlesung

heraus gemacht, die sinnliche Wahrnehmung, also die Erfahrung ja nicht zu verfälschen; es wird, wie das z.B. R. Avenarius tut, auch gefordert, daß sie "gereinigt" werden soll. Es wird [also] 25 vorausgesetzt, daß zwei verschiedene Typen von Anschaulichkeit miteinander verschmelzen können: Es soll nämlich die vorstellungsmäßige und besonders die erinnerungsmäßige Anschaulichkeit mit der Anschaulichkeit der Empfindungen, die man gerade aktuell hat, zu einem Ganzen verschmelzen können. Was man hierbei unter "Empfindung" versteht, ist aber sehr schwierig zu sagen. Wenn man sich an den jeweils gegebenen Beispielen orientiert, so scheint es, daß diese Empfindungen einfache dingliche Qualitäten sind, von denen zugleich hypothetisch angenommen wird, daß sie durch physische Reize kausal hervorgerufen werden. Im Grunde genommen liegen da aber zwei sich widersprechende Bestimmungen vor. So jedenfalls läßt sich der Begriff der Empfindung nicht fassen. Die gegenständlichen Qualitäten, so wie sie in der Wahrnehmung gegeben werden, lassen sich nicht als "Empfindungen" auffassen. Doch lassen wir all das beiseite! 26 Die wesentliche Heterogenität zwischen der Wahrnehmungsgegebenheit (1. Phänomen der Selbstgegenwart; 2. "unverhüllte" Anschaulichkeit) und der "Vorstellungs"- bzw. Erinnerungsgegebenheit (1. keine Selbstgegenwart, sondern bloß Repräsentation vermittels eines anschaulichen Repräsentanten; 2. eine "verhüllte" Anschaulichkeit) macht es unmöglich, daß es in der äußeren Wahrnehmung zu einer Mischung oder gar Verschmelzung [zweier Typen von anschaulichen Momenten: einerseits der wahrnehmungs- bzw. empfindungsmäßigen Momente, andererseits der bloß vorstellungs- oder erinnerungsmäßigen Momente kommen kann] 27 . Außerdem befindet sich das bloß Vorgestellte auch in einem besonderen Vorstellungsraum und kann überhaupt nicht in dem Räume auftreten, in welchem wahrgenommene Dinge und Vorgänge gegeben sind. 28 Wenn wir uns während einer Wahr-

25

V.d. Hg. statt daher.

26

Z u m Problem der E m p f i n d u n g e n vgl. V o r l e s u n g III, A n m . 51 sowie unten die Vorlesungen V, VI und X.

27

V.d.Hg.

statt zweierlei M o m e n t e : der w a h r n e h m u n g s m ä ß i g e n (bzw. e m p f i n d e n d e n ) M o -

mente und der bloßen "Vorstellungs"- oder " E r i n n e r u n g s " - M o m e n t e k o m m e n könnte - Die Stelle ist unklar. Zur Klärung vgl. Ingarden (1931a), 2 3 8 f f . 28

Vgl. Ingarden (1931a), 235f.; 240-243.

Elemente einer phänomenologischen

nehmung

an

etwas

erinnern,

so

Theorie der

bleibt

es

111

Wahrnehmung

außerhalb

des

Wahr-

nehmungsfeldes. Und wenn in dem in einer Dingwahrnehmung Gegebenen etwa Momente auftreten, die sich mit den Qualitäten des Empfundenen nicht identifizieren lassen, 29 also über ihren gesamten Bereich hinausgehen, dann handelt es sich jedenfalls nicht um bloß "vorgestellte" oder "erinnerte" Momente. 3 0 Denn es muß zugleich betont werden, daß die aktuelle Wahrnehmung, die ich z.B. jetzt vollziehe, die Wahrnehmung dieses Saales, von meinen früheren Wahrnehmungen nicht unabhängig ist, und zwar sowohl bezüglich des Moments der Seinsthesis als auch bezüglich der qualitativen Bestimmung dessen, was mir da jetzt gegeben wird. Es besteht eine gewisse Beziehung zwischen dem aktuell und dem früher Erlebten sowie auch eine Abhängigkeit des ersten von dem letzteren. Man darf hierbei nur nicht sagen, daß irgendwelche frühere Vorstellungen zu aktuellen Wahrnehmungen werden. Dies alles ist wichtig, weil man jetzt zu einer näheren Analyse der Wahrnehmung übergehen muß. Denn man muß zugeben, daß es in unserem Leben, in unserem Verhalten zur äußeren Welt, keine isolierten Wahrnehmungen gibt. Es treten in unserem Leben ganze Ströme oder Mannigfaltigkeiten von Wahrnehmungen auf, die irgendwie zusammenhängen und auch synthetisch verbunden sind: Sehr viel von dem, was in diesem Moment geschieht, steht irgendwie im Zusammenhang mit dem, was war, und auch mit dem, was sein wird. Wie sich dieser Zusammenhang herstellt, das ist ein Thema, welches ich heute noch besprechen möchte. Aber zunächst muß ich mit etwas anderem anfangen, worüber ich früher schon einige Worte gesagt habe. Als ich z.B. über die schöne, zwischen den Gebäuden der Osloer Universität liegende Wiese ging, erblickte ich plötzlich das Haus, in dem wir uns jetzt gerade befinden. Und sobald ich es erblickte, wandte ich mich etwas nach links. (Ich kam natürlich aus jener Richtung, wo das Administrationsgebäude steht.) [Habe ich nun von jener Stelle aus nur einen Teil des Hauses gesehen?] 31 Nein, das ganze Haus wurde mir gegeben, und weil es mir gegeben wurde, verhielt ich mich so, daß ich mich zu ihm hinwandte. Trotzdem kann man fragen:

Habe ich

wirklich dieses Haus gesehen? Gesehen habe ich es, darauf bestehe ich. GeDie Stelle ist unklar. Zur Klärung vgl. unten Vorlesungen IX und X. 30

Vgl. Anm. 28; 29.

3

V.ä.Hg. statt Ich habe etwas von diesem Haus gesehen.

'

112

Vierte

Vorlesung

sehen habe ich das Haus selbst und nicht einen Repräsentanten des Hauses. Aber - so wird man jetzt fragen -: Was hast Du wirklich gesehen? Was war Dir wirklich gegeben? Nun, das war dieses Haus, allerdings nur von der Außenseite, von jener, wo es so schöne Fenster gibt usw., und daneben stand das andere Haus, sehr hoch, es hatte auch Fenster ... - Also das, was ich "wirklich" gesehen habe, sagt man jetzt, das ist nur die Vorderseite des Hauses. Und die Hinterseite? Ja, die habe ich nicht gesehen oder jedenfalls nicht so gesehen, wie ich die Vorderseite gesehen habe. Um diese "Hinterseite" so zu sehen, müßte ich um das Haus herumgehen. Muß ich auch nachschauen, ob diese Hinterseite überhaupt vorhanden ist? Nein, das nicht. Denn wenn dieses Haus mir nicht vom ersten Moment an so gegeben wäre, daß es eine Hinterseite hat, so würde es mir überhaupt nicht als "Haus" gegeben sein (was doch Tatsache ist!), und es würde mir überhaupt nicht in den Sinn kommen, um es herumzugehen, um nachzuschauen. Denn tatsächlich geht es mir bei diesem Herumgehen nur darum festzustellen, ob das Haus wirklich so bestimmt ist und so aussieht, wie ich das im Wahrnehmen des Hauses von vorne her vermeine, [oder besser: nicht einfach so vermeine, sondern wie ich anschaulich ein eigentümliches Phänomen davon habe, daß das Haus von der Hinterseite aus betrachtet ebensoviele Stockwerke hat wie von der Vorderseite aus betrachtet, daß das Haus an der Rückseite so und so viele nebeneinander gereihte Fenster besitzt] 32 usw. Im Normalfall ist dies (alles beim Wahrnehmen von vorne) so anschaulich und natürlich "mitgegeben", daß es mir überhaupt nicht in den Sinn kommt, daran zu zweifeln bzw. nachzuschauen. Aber noch mehr! Ich habe das Haus von außen gesehen, ob von der einen oder von der anderen Seite spielt keine Rolle, jedenfalls von außen her, so, daß ich - ohne überhaupt zu überlegen - ohne weiteres das Haus betrete. Da gibt es eine Eingangstür, eine Halle, eine zweite Tür und schon kann ich in diesen Saal hier gelangen. Und jetzt sehe ich diesen Saal, die Stühle, die Bänke, aber auch die Wände des Saales, die rote Mauer aus Ziegelsteinen, mit dunklen Fugen usw. Und erneut sehe ich von außen her diesen Flecken dort usw., aber ich [sehe] 33 nicht wirklich das In-

32

V.d.Hg. statt ja mehr, ein eigentümliches Phänomen davon anschaulich habe, daß es nämlich so und so viele (wie vorne) Stockwerke hat und so viele nebeneinander gereihten Fenster besitzt usw.

33

V.d.Hg. statt sehe), im besonderen Sinne,.

Elemente

einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

1 13

nere dieser Mauer. Im Inneren sind Ziegel, sage ich, es sieht von außen ja so aus, als ob sie "im Innern" da sind. Wenn ich sehr neugierig wäre, würde ich ein Loch machen, oder ich würde irgendein gesehenes Ding durchschneiden, so wie das die kleinen Buben machen, wenn sie ein neues Spielzeug bekommen. Aber wie weit Sie auch ein Ding in Stücke zerlegen, so ist stets erneut ein Inneres vorhanden: Das Ganze des Apfels, die Hälfte des Apfels, ein Viertel des Apfels, immer weiter; das Innere ist geblieben, ist nicht zu beseitigen. Denkt man über all dies nach, [so kommt man dazu, zwei verschiedene Bedeutungen von 'Gegebenheit' und von 'sehen' zu unterscheiden. Gemäß der ersten Bedeutung]34 sehe ich z.B. das Haus, nicht nur seine Vorderseite usw. Wenn ich da eine Kulisse sehen würde, dann würde ich nicht hingehen, um nachzusehen. Wozu? Ich kann überhaupt nicht "in" eine Kulisse "hineingehen". Aber "Kulisse" wäre dabei auch zuviel gesagt. Eine Kulisse im Theater hat ebenfalls eine Vorderseite und auch eine Hinterseite, die vordere ist "bemalt", die hintere ist es nicht; es gibt da nur einen Holzrahmen und graues Leinen. Und wenn ich "Kulissen" sehe, dann sehe ich auch dieses dreidimensionale Ding, das so und so dick ist und eine Rückseite hat usw. In der Wahrnehmung erlebe ich dies nicht, daß [mir das Phänomen eines sozusagen bloßen "Antlitzes" von etwas Leerem und nicht Vorhandenen gegeben ist] 35 . Die Vorderseite (von etwas) ist mir (vielmehr) auf eine solch merkwürdige Weise gegeben, daß sie mir gewissermaßen sagt: "Hinter mir ist noch die Rückseite und zwischen Vorderseite und Hinterseite gibt es noch das Innere, und das Ganze, das bin ich, das Ding." Nichtsdestoweniger werden mir nicht alle Eigenschaften eines gesehenen Dinges auf dieselbe Weise gegeben, obwohl sie durchaus gegeben sind. Man kann nämlich sagen, daß die Vorderseite und das Äußere eines Dinges in erfüllten Qualitäten gegeben sind: Es ist rot oder gelb, es ist glänzend, es ist glatt, es ist Holz, was ich da sehe. Das ist nicht nur Glätte usw., es ist wirklich Holz; das sehe ich, daß es Holz ist. Aber die Rückseite ist nicht in "erfüllten" Qualitäten gegeben, sie ist - wenn diese Sprechweise erlaubt ist - ir-

34

V.d.Hg. statt so bekommt man zwei verschiedene Bedeutungen der "Gegebenheit" und des "Sehens". Ich verstehe dabei zuerst, daß.

35

V.d.Hg. statt ich das bloße Phänomen, sozusagen des "Antlitzes" von etwas Leerem und nicht Bestehenden besitze.

114

Vierte

Vorlesung

gendwie bloß mitvermeint. Dies ändert sich, wenn ich

(um das gesehene

Ding) herumgehe; dann wird das, was zuerst als Rückseite mitvermeint war, zur "Vorderseite" und zeigt sich mir wiederum mit Qualitäten dieser oder jener Art ausgefüllt. Es gibt an der Vorderseite, in diesen sie ausfüllenden Qualitäten etwas, das mich sozusagen anspricht: Es ist noch etwas anderes "hinter" der Vorderseite und zwar etwas Bestimmtes: im Inneren des Dinges, an der hinteren Seite usw. Dieses "Ansprechen" erfüllt sich, sobald ich um das Ding herumgehe oder auf eine andere Weise "in" es hineinsehe. Husserl hat für dieses Ansprechen ein spezielles Wort verwendet. Er sagt, es gäbe am wahrgenommenen Ding "anschauliche Intentionen", die auf solche Eigenschaften hinweisen, welche dem Ding auch zukommen, sich aber momentan noch nicht voll gezeigt haben. Das, was ich an der Vorderseite sehe, ist bereits mit Qualitäten ausgefüllt und ist wirklich streng selbstgegeben, und das Andere wird sozusagen durch die Vorderseite sichtbar angedeutet. Und Husserl stellt fest: Dies alles ist kein Zufall; es ist vielmehr ein Wesenszug der äußeren Wahrnehmung, daß es so ist und so sein muß. Jede visuelle, jede taktuelle, wenn Sie wollen, jede äußere Wahrnehmung wird zum Teil [in der Form von Gegebenheit] 36 vollzogen, daß alles durch Qüalitäten irgendwelcher Bestimmtheit sichtbar ausgefüllt ist, und zum Teil auch in der Form von Gegebenheit, daß etwas nur mitgemeint, mitgegeben wird, also durch eine anschauliche Intention angezeigt wird. Wenn es sich um die Weise des Gegebenseins handelt, die mir das Ding als mit Qualitäten ausgefüllt präsentiert, so sage ich: Jede Wahrnehmung eines Dinges ist in dem Sinne partiell, daß von dem ganzen [anschaulich gegebenen Ding] 37 nur ein Teil seiner Bestimmungen in erfüllten Qualitäten [effektiv] 38 gegeben wird, während einige andere zwar zur Sichtbarkeit gelangen, aber nur in der Gestalt von anschaulichen Intentionen. In jeder neuen, unter veränderten Umständen vollzogenen Wahrnehmung wird etwas anderes effektiv und erfüllt gegeben, und etwas anderes nur anschaulich intendiert. Auch manches an der Vorderseite

(eines Dinges) kann bloß

anschaulich intendiert (gegeben) sein. Wenn ich z.B. von einem Ding ziemlich weit entfernt stehe, so kann es geschehen, daß ich einen hölzernen, ein-

36

V.d.Hg. statt in der Gegebenheitsweise.

37

V.d.Hg. statt in der Anschaulichkeit gegebenen Dinge.

38

V.d.Hg. statt effektiv] und ihrem Selbst.

Elemente

einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

115

heitlich gelblich-grauen Tisch zu sehen glaube; wenn ich aber näher herantrete, dann sehe ich, daß dieser Tisch gar nicht einheitlich farbig ist, sondern am Holz merkwürdige "Zeichnungen" aufweist. Zunächst war dies alles so (durch eine Qualität) erfüllt

(gegeben), [daß] 3 9 mir alles in eine einheitliche

Farbe "zusammenfloß"; jetzt aber werden die Holzstrukturen genau gesehen, [ich sehe jetzt also Maserungen, die die Struktur des Holzes zeigen] 4 0 . S o gibt es mithin auch im Bereich der Vorderseite etwas, was effektiv (und deutlich) gesehen wird, und anderes, was bis zu einem gewissen Grade bloß irgendwie anschaulich angezeigt wird und dann doch durch eine synthetische Qualität z.B. des Gelben erfüllt wird. Man kann diese ganze Situation entweder von der Seite des Wahrnehmens aus fassen und sagen, die Wahrnehmung ist ein transzendierendes Erlebnis, sie transzendiert etwas. Was transzendiert sie? Nun, den Bereich der Bestimmtheiten oder Eigenschaften des Dirigés, die [in erfüllten Qualitäten gegeben

sind] 4 1 .

Sie

tranzendiert,

geht

über

die

so

gegebenen

Be-

stimmtheiten hinaus und bringt die Rückseite, das Innere auch zur Gegebenheit. Oder man kann dieselbe Situation von der Seite des wahrgenommenen Dinges aus fassen: Ein Ding ist im Bezug auf die so verlaufende Wahrnehmung in dem Sinne "transzendent", daß es mit seinen Eigenschaften über das hinausgeht, was ich da überhaupt in meiner Wahrnehmung effektiv sehe und sehen kann. Es hat viele, viele verschiedene Eigenschaften, die mir nicht bloß in dieser Wahrnehmung, sondern auch in einer ganzen Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen nicht effektiv gegeben werden, und es wird immer über den Bereich dessen, was da effektiv gegeben sein mag, hinausreichen. Diese Transzendenz kann auch radikaler gefaßt werden, indem man feststellt: Ein dinglicher Gegenstand reicht wesensmäßig über den Bereich sowohl dessen, was in erfüllten Qualitäten, als auch dessen, was in anschaulichen Intentionen gegeben wird, hinaus. Einen anderen Fall von Tranzendenz gibt es im unmittelbaren Verkehr mit unseren Mitmenschen. Wenn ich während vieler Jahre mit einem Menschen täglich verkehre, dann habe ich nicht bloß Wahrnehmungen von seinem Leibe, ich habe auch gewisse Wahrnehmungen von seiner Person. Die Sachlage ist jetzt viel komplizierter

39

V.d.Hg. stall daß] sich.

40

V.d.Hg. statt also Maser oder Faser, in denen die Struktur des Holzes sichtbar ist.

4'

V.d.Hg. statt mit gegebenen Qualitäten ausgefüllt werden.

116

Vierte

Vorlesung

als bei der Wahrnehmung von toten Dingen. Man spricht hier oft von "Einfühlung". Lassen wir momentan beiseite, ob und in welchem Sinne diese Sprechweise berechtigt ist. 42 Aber so wie ich in dem Sinne mit einem fremden Menschenleib unmittelbar verkehre, daß ich einen fremden Menschen sozusagen in seinem Leibe unmittelbar sehe, ebenso verkehre ich auch unmittelbar mit diesem Menschen selbst und nicht mit einem Repräsentanten oder mit einer Vorstellung von ihm. Nein, er selbst, mit seinem besonderen Charakter, mit seiner ihm eigenen Verhaltungsweise usw. ist mir gegeben. So sehe ich ihn also während ein paar Jahren, glaube, schon viel gesehen, viel von ihm erfahren zu haben - ihn also, mit dem ich ja zusammenlebe, glaube ich gut zu kennen. Und plötzlich zeigt es sich in einer besonderen Lebenssituation, daß er sich auf eine Weise verhält, die ich gar nicht erwartet habe. "In dieser Situation verhält er sich so! Das ist doch nicht möglich! Das ist doch nicht der Mensch, von dem ich bisher glaubte, er könnte sich so nicht verhalten!" Es gab da augenscheinlich noch vieles, was über alle meine bisherigen Erfahrungen hinausging; es ist irgendein Boden vorhanden, zu dem ich überhaupt nicht vorgedrungen war. Dieses Beispiel liefert einen anderen Fall von Transzendenz in der Erfahrung, der allerdings noch genauer geklärt werden müßte. Das sind also Transzendenzen,

(einerseits) gegenständliche Trans-

zendenzen, die auf dem Übergreifen über das Gebiet dessen beruhen, was wahrnehmbar ist, und andererseits das Transzendieren jeder Wahrnehmung über den Bereich dessen, was im engeren Sinne in erfüllten Qualitäten gegeben wird. Das sind zwei verschiedene [Fälle von "Transzendenz"]43, die sich gar nicht decken, die aber korrelativ zueinander gehören; der Bereich der Transzendenz des (wahrnehmungsmäßigen) Transzendierens ist ein ganz anderer als der Bereich der Transzendenz des Dinges, das in einer Wahrnehmung wahrgenommen wird. 44 Ich bin damit beim Problem der Transzendenz angelangt. Bevor ich aber noch weitere wichtige Begriffe der Transzendenz besprechen kann 45 , muß ich noch etwas über die Wahrnehmung sprechen. 42

Vgl. Vorlesung III, Anm. 34.

43

V.d.Hg. statt Transzendenzen.

44

Vgl. Ingarden ( 1965a), 224-229.

45

Vgl. Vorlesung V.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

117

Von den beiden eben unterschiedenen Begriffen der Transzendenz ("das Transzendieren der Aktintention des Wahrnehmens"; "das Transzendieren des Gegenstandes über den Sinn des Wahrnehmungsaktes hinaus") ist der erste rein erkenntnistheoretisch, während der zweite auch ontologisch sein kann. D.h. er steht im Zusammenhang mit dem Wesen eines räumlichen Dinges, wird (hier) aber in Bezug auf das Erkennen, auf das Wahrnehmen bestimmt. Ein räumliches Ding kann zwar von dieser oder jener Seite her wahrgenommen werden, ist in seinem Sein aber reicher, als daß jede mögliche Einzelwahrnehmung es (voll) erfassen könnte. Wenn Sie jetzt in Betracht ziehen, daß jede aktuelle Wahrnehmung auf eine gewisse Weise partiell, also eine Teilerfahrung des Dinges ist, und daß in jeder anderen, späteren Wahrnehmung wiederum andere Bestimmtheiten gegeben werden, während die zuerst gegebenen irgendwie in den Hintergrund treten, dann sehen Sie sofort, daß jede von diesen Wahrnehmungen ein und desselben Dinges relativ zu anderen Wahrnehmungen

(desselben Dinges) unselbständig ist.

Sie ist Glied in einer Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen, wobei es da Übergänge vom einen zum anderen Glied geben kann. Ja, es muß solche Übergänge geben, denn ich kann bei [jeder dieser Wahrnehmungen] 46 sagen: "Ach, ich weiß etwas noch nicht genau, und ich weiß irgend etwas noch [nicht auf eine anschaulich-erfüllte Weise] 47 . Ich muß noch weiter suchen." Nun, dann bediene ich mich gerade einer anderen Wahrnehmung und sehe mir das betreffende Ding z.B. aus einer anderen Entfernung an. (Betrachten wir das folgende Schema:)

Erinnerung

Maximum der Aktualität

Erwartung Voraussehen Zukunft

Retention

Pretention

Gegenwart

46

V.d.Hg. statt der einen Wahrnehmung.

47

V.d.Hg. statt nicht auf eine ganz anschauliche Weise.

118

Vierte

Vorlesung

Ich habe schon letztes Jahr hier über diese Sachen gesprochen, 48 nämlich im Zusammenhang mit den Zeitphänomenen im literarischen Kunstwerk und beim Erkennen des literarischen Kunstwerks in der Zeit. 4 9 So spreche ich jetzt also ein zweites Mal darüber. Wissen Sie, wie man gewöhnlich diese schöne Linie:

versteht? Das ist ein Symbol der Zeit, und zwar jener Zeit, von der Bergson sagen würde, daß sie geometrisiert sei. Er würde hier also nicht von "temps", sondern von "espace" sprechen, was nach Bergson im Grunde Raum ist, und zwar ein eindimensionales Kontinuum, ein Punktkontinuum - wie die Mathematiker sagen würden. Was nun sagen die Mathamatiker und Physiker über die Gegenwart, in der ich wahrnehme? Sie sagen ganz einfach: Wenn die Zeit ein Kontinuum ist, [so ist die Gegenwart, in der ich aktuell etwas wahrnehme, eine Stelle in diesem Kontinuum, ein dimensionsloser Punkt also] 50 . Dieses Kontinuum ist eindimensional, und die Gegenwart, Augenblick überhaupt, ist

(ein)

(immer irgendeine Stelle in diesem eindi-

mensionalen Kontinuum und ist also dimensionslos:

Vergangenheit

jetzt

Zukunft •

4 8

Vgl. die Einleitung d. Hg.

4 9

Vgl. Ingarden ( 1968b), 95-150. V.d.Hg. statt in d e m ich es sehe, so ist die G e g e n w a r t eine Stelle in d i e s e m K o n t i n u u m , ein Punkt, d e r d i m e n s i o n s l o s ist.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

119

Diese Punktgegenwart ist das, was allein existiert, sagen auch die Physiker, denn das,

(d.h. jede vergangene Stelle in diesem Kontinuum,) ist Ver-

gangenheit, besteht nicht mehr; und das, (d.h. jede künftige Stelle in diesem Kontinuum,) ist Zukunft, besteht noch nicht. Was besteht, das ist dies, (was) in dieser Gegenwart, in diesem Punkt ist. 51 Ist es wirklich so? Ich meine: in der Gegenwart, [wie wir sie] 52 erleben? Ist es wirklich so, daß sie dimensionslos ist? Man sagt, daß, wenn wir etwas erleben, dies doch eine (gewisse) Zeit dauert, daß diese Dauer mit sehr feinen Uhren gemessen werden kann, und es sich dabei zeigen kann, daß diese Dauer eine relativ lange Zeitphase ist. Lange - im Vergleich mit Vorgängen, die sich in der physikalischen

Welt

abspielen.

Man

sagt

uns ja

z.B.,

daß

die

und

die

Elementarpartikel, welche beim Zusammenstoß des Atomkernes mit kosmischen Strahlen entstehen, ein kurzes Leben, nämlich 10" 25 Sek., haben. Es handelt sich da (aber immer) um die physikalische oder - wie Husserl sagt um die "leere" Zeit; ihr wird eine andere Zeit gegenübergestellt, nämlich die erlebte oder "erfüllte" Zeit. Wodurch "erfüllt"? Nun, durch meine Erlebnisse, [die ich "in" der Zeit habe] 53 . Die Gegenwart, die ich wirklich erlebe, erlebe ich sicher nicht als einen Punkt, als einen Moment, als eine Grenze im Kontinuum. [Wenn man sagen soll, wie ich das, was ich "meine Gegenwart" nenne, eigentlich erlebe, kommt man schnell auf den Gedanken bzw. zur Auffassung, daß diese Gegenwart in gewissem Sinne eine Phase ist.] 54 In der Sprache der Mathematik ist eine solche Phase aber ein Abschnitt, und ein Abschnitt ist wiederum ein Kontinuum, und ein (Zeit-)Moment ist wiederum ein Punkt in diesem Kontinuum. 55 Ich habe einst versucht, es so zu fassen, daß unsere (erlebte) Gegenwart eine ganz merkwürdige Phase sei, innerhalb der noch alles lebendig, anwesend und seinsgegenwärtig ist. 56 Ich werde für den Moment dabei blei5

'

Es folgt im T y p ^ eine Passage (14 Zeilen umfassend), wo Ingarden kurz auf Augustins Zeitbetrachtungen in den Confessiones

zu sprechen kommt und auf eine frühere bezügliche

Diskussion (mit "Kollege Wyller") anspricht. 52

V.d.Hg. statt die wir.

53

V.d.Hg. statt diese Zeit.

54

V.d.Hg. statt Der erste Gedanke, zu sagen, was ich eigentlich erlebe, was meine Gegenwart ist, liegt in der Auffassung, daß meine Gegenwart in gewissem Sinne eine Phase ist.

55

Vgl. Ingarden ( 1974b), 48ff.

56

Vgl.Ingarden (1921a), 292ff; (1931a), 247f„ 252f.; (1965a), 183f.; (1968b), 106-127.

120

Vierte

Vorlesung

ben, obgleich ich die Auffassung, die Gegenwart sei eine Phase, für falsch halte. 57 Denn ich glaube, daß die von uns erlebte Zeit Kontinuum (im mathematischen Sinne) ist.

58

(überhaupt) kein

Aber wir wollen nun sagen,

die (erlebte) Gegenwart sei eine Phase! Wenn ich jetzt sozusagen im Zentrum dieser Phase stehe, so macht es den Anschein, daß das Ganze dieser Phase durch meine Wahrnehmung und durch die wahrgenommene Welt, die "gegenwärtige" Welt, erfüllt ist. Dazu aber sagt Husserl: "Nein, das ist nicht so. Denn es gibt da Peripherien, an denen es einerseits die Retention und andererseits die Protention gibt." Dieser Auffassung soll übrigens schon Brentano gewesen sein; ich selber kenne sie aber durch Husserl. 59 Wenn ich jetzt

57

Vgl. Ingarden (1974b), 48f., 50 sowie allgemein zur Zeitthematik (1964c), 192 (vgl. dazu (1931a), 249, Anm. 1).

58

Vgl. "Unter dem Einfluß der Übertragung des linearen Kontinuums der Punktmannigfaltigkeit auf die [sc. konkrete] Zeit... wird der Zeitmoment und insbesondere die Gegenwart im Sinne eines Punktes umgedeutet." (Ingarden (1974b), 48) sowie: "Man darf natürlich nicht meinen, daß die Verwerfung der Auffassung, die Gegenwart sei ein 'zeitloser' Punkt, darauf hinauskommt, daß dieselbe eine relativ kurze Phase des Geschehens ist. Denn das hieße sie in einen Zeitabschnitt

zu verwandeln, in welchem es eine bereits verflossene, zur Ver-

gangenheit gehörende Zeitstrecke und eine noch nicht realisierte Zukunft gäbe, entgegen der Voraussetzung, daß es sich um eine Gegenwart,

die ein Zeitminimum (Quantum) in

sich sein soll, handle. Es darf auch im Rahmen dieses Minimums keine Aufeinanderfolge von Ereignissen geben ... Soll die Gegenwart wirklich ein 'Zeitquantum' ... der Zeit sein, so kann sie nicht in kleinere Zeiteinheiten zerfallen." (1974b, 50). Im Zusammenhang von Ingardens Unterscheidung zwischen konkreter und abstrakter (sc. im Sinne eines linearen Kontinuums gedeuteten) Zeit ist auch folgendes zu beachten: "Der oft behandelte Gegensatz zwischen der sogenannten 'erlebten' und 'nicht-erlebten' Zeit [hat] für uns keine größere Bedeutung. Die von uns untersuchte konkrete Zeit ist dann eine 'erlebte', wenn sie gerade die Zeit irgendeiner Erlebnismannigfaltigkeit ist, sie ist aber 'nicht-erlebt', wenn sie die Zeit einer bewußtseinsfremden Gegenständlichkeit ist. Sie ist eben immer die Zeit der betreffenden zeitbestimmten Gegenständlichkeit." (Ingarden (1964c), 192). 59

Vgl. Husserliana

X (hrsg. v. H.L. van Breda), Den Haag 1966, 10-19, wo Husserl auch

eine Darstellung und Kritik von Brentanos Lehre gibt (und zwar aufgrund von: A. Marty, Die Frage nach der geschichtlichen Stumpf, Tonpsychologie

Entwicklung

des Farbensinnes,

Wien 1879, 41ff.; C.

II, Leipzig 1890, 277). Ingarden hat im Jahre 1916-17 mit Husserl

ausführlich über die Zeitthematik diskutiert (vgl. Ingarden (1968a), 121ff.). Aber erst im Herbst 1927 konnte er ein in sich geschlossenes Manuskript einsehen (vgl. Ingarden (1968a), 154f.). Zu Brentanos Lehre vgl. F. Brentano, Philosophische Raum, Zeit und Kontinuum,

Untersuchungen

zu

(hrsg. v. St. Körner/R. Chisholm), Hamburg 1976 (vgl. dort

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

121

etwas wahrnehme, so übersteigt das gerade Erfaßte bereits die Spannweite meiner Wahrnehmung. Husserl sagt, das gerade Erfaßte sei "soeben (gewesen)". Aber in seiner "Soebenvergangenheit" wird es doch irgendwie noch in Lebendigkeit erhalten, obwohl es schon nicht mehr streng "jetzt" ist. Nun, das In-Aktualität-Behalten des soeben Verflossenen nennt Husserl, vielleicht nach Brentano, "Retention". Ich will die Sache hier nicht komplizieren, obwohl ich glaube, daß es da noch etwas, nämlich das von mir so bezeichnete "lebendige Gedächtnis" gibt; 60 aber lassen wir auch das beiseite, sagen wir, es gehe um Retention. Wenn ich einen Satz ausspreche, der aus zehn Worten besteht, so liegt ein Teil dieses Satzes sozusagen im Inneren meiner Gegenwart. Aber der Anfang dieses Satzes wurde schon ausgesprochen, er gehört schon zu dem "soeben" Ausgesprochenen. Leider hat das deutsche Zeitwort keine solche Zeitform, daß ich direkt sagen könnte: dies ist "soeben ausgesprochen", es befindet sich im "Ausgesprochen-werden".

Denn

"ausgesprochen" - dies ist im Deutschen bereits Präteritum, während sich ein Wort, das ich "jetzt" ausspreche, erst im Aussprechen befindet und das andere, eben ausgesprochene, schon ausgesprochen ist. Und wenn ich ein langes Wort habe, z.B. 'Konstantinopel', dann gibt es auch im Bereich dieses Wortes etwas, was gerade im Aussprechen ist, wobei ein anderer Teil bereits ausgesprochen ist und wiederum ein anderer Teil noch ausgesprochen werden wird, nämlich dieses 'pel' am Schluß. Aber es gibt noch mehr! Das, was von einem längeren Satze bereits ausgesprochen ist, verschwindet weder für mich noch für Sie. Wenn es verschwinden würde, wenn es nicht mehr irgendwie aktuell wäre, dann könnte ich den Satz überhaupt nicht zu Ende denken, weil ich vergessen hätte, was ich sagen wollte. M.a.W.: Der weitere Teil des Satzes wird durch die früheren Teile mitbestimmt, eben als "Fortsetzung", obwohl er für sich aktiv gedacht werden muß. 61 Es muß der ganze Satz in einem Flug gedacht werden. auch die Einleitung d. Hrsg. XXVII, Anm. 12: zu Husserls Kritik an Brentanos früher Auffassung des Zeitbewußtseins). Zum Phänomen "Lebendiges Gedächtnis" vgl. besonders Ingarden (1968b), 98-104 (im Unterschied zur "Retention": 102, Anm. 5). Der Nachsatz ist unklar. Meint Ingarden: "obwohl er [sc. der weitere Teil des Satzes) für sich aktiv gedacht werden muß" oder: "obwohl er [sc. der weitere Teil des Satzes] nicht für sich [sc. isoliert] aktiv gedacht werden muß" oder: "obwohl sie [sc. die früheren Teile des Satzes] nicht für sich aktiv gedacht werden müssen"?

122

Vierte

Vorlesung

Und ich muß behalten, daß ich ihn auf eine bestimmte Weise angefangen habe, um dann so und so weiterzufahren. Wenn ich jenes aber vergesse, nun dann mache ich halt, ich kann dann nicht weiter (bzw. zu Ende) denken. Es gibt also dieses besondere Phänomen des Noch-behaltenen-Anfanges-einesSatzes, ohne daß ich mich daran aktiv erinnere. Es gehört noch zu meiner Gegenwart, obwohl es schon nicht mehr "klingt", bereits verklungen ist. Die sogenannte "Retention" ist somit keine Konstruktion, es gibt phänomenal so etwas. Und es gibt auch an der anderen Seite meiner (erlebten) Gegenwart die "Protention" auf etwas, was eben gerade kommt, aber noch nicht effektiv klingt; aber es kommt, [es ist etwas, was im Werden gegenwärtig ist] 62 . Wenn jemand etwas ganz Unerwartetes aussagt, dann würden Sie vielleicht geneigt sein zu sagen, es sei etwas geschehen, er habe zufälligerweise vergessen, was er sagen wollte. An dem unerwartet Eintretenden ist das Phänomen der Protention bzw. des "protentional" sich Ankündigenden vielleicht am leichtesten zu erfassen - eben im Gegensatz zu dem, was da gerade wirklich eintritt. In der Musik gibt es zahlreiche Beispiele des sich protentional Ankündigenden. Es gibt dort z.B. Melodien. Eine Melodie ist eine Gestaltqualität, eine Gestaltqualität, die in einer Zeitphase ausgespannt ist und den Zeitverlauf in gewisser Weise überwindet. Sie ist ein Ganzes. Es gibt aber im Hintergrund dieser Gestalt z.B. zehn verschiedene Klänge, die aufeinander folgen, die eventuell ineinander übergehen. Und dieses Ineinander-Übergehen wird von uns miterfaßt, sonst würde, wenn jene Klänge alle auf einmal da wären, eine Kakophonie entstehen. Aber wenn die Melodie zu klingen beginnt, auch wenn ich sie zum ersten Mal höre, dann zeigt mir das gerade Erklingende bis zu einem gewissen Grade im Voraus an, wie es weitergeht.

Vielleicht

wird

das

protentional

sich

Ankündigende

uner-

warteterweise durch etwas anderes ersetzt (ich habe also "falsch" erwartet). Dann realisiert sich, besser gesagt, kommt die (erwartete) Gestalt der Melodie nicht zur Erscheinung und eine andere Gestalt wird phänomenal gegenwärtig. Wie auch immer es in diesen verschiedenen Fällen sein mag, jedenfalls ist das Phänomen des sich protentional Ankündigenden ganz deutlich da und ist auch von der bloß "voraussehenden" Erwartung verschieden.

V.d.Hg. statt es ist im Werden gegenwärtig zu sein.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

123

Husserl sprach auch von der "Vorerwartung". Denn Erwartung ist etwas anderes. Ich erwarte z.B. jetzt in zehn Minuten den Schluß der Vorlesung, um dann nach Hause zu gehen. Das heißt, ich stelle mir den Schluß der Vorlesung vor oder ich denke nur daran, daß er in einem bestimmten künftigen Moment stattfinden wird. Und dabei habe ich das Bewußtsein des sich zeitmäßigen Annäherns an diesen Moment, wobei dasjenige, was sich zwischen meinem jeweiligen Jetzt und jenem zukünftigen Moment abspielen wird, entweder gar keine Rolle spielt, sozusagen möglichst schnell vorbeigehen soll, oder jedenfalls verglichen mit dem Ereignis, dessen Eintreten ich "erwarte", in seiner Rolle wesentlich herabgesetzt ist. Trotzdem ist das "erwartete" Ereignis nicht im phänomenalen Charakter eines eben-"im nächsten Moment"-Werdens protentional gegeben. Oder wiederum ein anderer Fall: Ich kann etwas erwarten, woran ich gar nicht denke und doch spüre ich, daß es kommen wird. Meine Gegenwart wird von dem, wovon ich weiß, daß es sicher kommen wird, irgendwie modifiziert. Vielleicht ist es von meiner jetzigen Gegenwart noch weit entfernt, aber die Zeit fließt unabänderlich, und es wird sicher kommen, ob ich es will oder nicht. Das ist schon eine Art Erwartung, obwohl kein besonderer Akt des Erwartens vollzogen wird. Es liegt eine Modifizierung meiner fließenden Gegenwart durch die Mitanwesenheit der Zukunft vor, die nicht einmal vorgestellt wird. Demgegenüber ist das, was hier "Protention" genannt wird, mit einem Akt des Wahrnehmens streng verbunden. Jeder Akt des Wahrnehmens hat einen Horizont der Retention und der Protention. Außerdem kann ich (zusätzlich) Akte der Erinnerung und auch der Erwartung vollziehen, wobei das, was da gegeben wird, nicht verschwindet. Es kann z.B. sein, daß ich diese Brille da sehe, jetzt habe ich sie in die Hand genommen und sie (von einer neuen Perspektive aus) gesehen; aber ich erinnere mich zugleich, sie früher in der Hand gehabt zu haben, hier, nicht wahr, als ich von ihr zu sprechen begann. Und ebenso kann ich noch verschiedene Erwartungen erleben, Erwartungsakte vollziehen, die sich mit meinem aktuellen

[Wahrnehmungserlebnis] 63

verflechten. Sowohl das Erinnerte als auch das Erwartete wirft sozusagen einen Schatten auf den Gehalt meiner Gegenwart, bereichert sie oder ver-

63

V.d.Hg. statt Erleben.

124

Vierte Vorlesung

drängt sie bis zu einem gewissen Grade, oder schwächt sie mindestens in ihrer Aktualität ab. Ja, und jetzt taucht die Frage auf, worin man hauptsächlich lebt. Es gibt verschiedene Typen von Menschen. Man lebt auch in Erwartungen, weil die Gegenwart irgendwie nicht angenehm ist; man lebt in Ausmalungen dessen, was kommen wird, und wenn es kommt, dann erlebt man es auch nicht, es wird auch nicht primär erlebt oder wirklich emotional durchgemacht, sofern man wiederum etwas anderes erwartet. So sind die Menschen, die keine Gegenwart, keine richtige Gegenwart haben. Ihre Gegenwart ist das Erwarten dessen, was kommen wird, und das, was aktuell passiert, wird kaum bemerkt oder jedenfalls in seinem Gehalt und seinem Wert nicht ausgeschöpft. Es gibt ein Gedicht von Leopold Staff, wo der Dichter sagt: "Der Weg ist besser als das Herankommen." Er lebt also in der Erwartung dessen, was da kommen wird; er lebt in der Einstellung auf die Zukunft hin, und wenn er ans Ziel gelangt, ist sozusagen Schluß, dies macht ihm schon keinen Spaß mehr. Es gibt aber auch Menschen, die in die Vergangenheit versenkt leben. Immer neue Erinnerungen an das, wie etwas früher war und wann es geschah. Man erzählt es sich immer wieder aufs neue, und die Gegenwart selbst ist von Erinnerungsakten erfüllt. Es passiert in der Gegenwart eigentlich nichts. Es gibt schließlich Meeschen, die (voll) in ihr aktuelles Gegenwartsleben eintauchen. Alles andere kümmert sie gar nicht, und sie geben sich weder ihren Erinnerungen hin noch malen sie sich ihre Zukunft aus; es ist lediglich immer nur die Gegenwart da, diese bewegt sie. Aber es ist auch die Retention und natürlich auch die Protention da. Beides ist die conditio sine qua non zur Erhaltung der Identität dessen, was uns aktuell gegeben wird. Dies sage ich nicht aufgrund einer philosophischen Lehre, wie ich sie von Husserl kenne, sondern aufgrund der Empirie. Ich besuche manchmal die Psychatrische Klinik von Krakau. Ich möchte von den Leuten dort auch etwas lernen, also sowohl von den Psychiatern wie auch von den armen Kranken. Es gibt da sehr interessante Fälle. Eines Tages z.B. hat man uns ein kleines Mädchen vorgestellt. Sie mochte etwa fünf oder sechs Jahre alt sein. Es war sehr merkwürdig. Als man das Kind nämlich in den Saal, in dem der gesamte Lehrstab der Klinik versammelt war, geführt hatte, guckte das

Mädchen mit großem Interesse die Menschen an, mit

großem Interesse und mit einer gewissen freudigen Zufriedenheit. Plötzlich

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

125

aber war auf einmal Schluß: irgendeine Desorientierung, ein Unbehagen, Furcht und Mißstimmung, Verlorensein. Und dann ein neuer Versuch, mit der Umgebung, mit den Menschen in Kontakt zu treten. Das Mädchen guckte freudig einen anderen von den anwesenden Herren an, mit großem Interesse, wie um doch noch zu erfassen, was da vorhanden sei. Das Kind lächelte

schon

fast zufrieden, und

auf

einmal

wiederum

diesselbe

Desorientierung, fast Schreck, Mißstimmung, Verlorensein. Die Ärzte begannen zu diskutieren, sie wollten eine Diagnose stellen, wissen, was für ein Fall das eigentlich sei. Von der Physiologie her konnte zwar vieles dazu gesagt und vermutet werden. Dies interessierte mich aber nicht besonders - abgesehen davon, daß mir das Wissen fehlt, um zu beurteilen, welcher physiologische Tatbestand hinter diesen Symptomen steckt. Man kam aber schließlich zu keinem Ergebnis, der Fall ließ sich unter keine bekannte Krankheit einordnen. Für mich war aber vor allem die Frage interessant, was bei diesem Kinde bewußtseinsmäßig geschieht. Klar war, daß es da beim visuellen Wahrnehmen zu einer merkwürdigen Unterbrechung gekommen ist, deren Folgen dann eine starke emotionale Störung hervorgerufen haben. So habe ich mich gefragt, ob da nicht die Retention irgendwie paralysiert wurde. Ich meine, daß das Mädchen einfach nicht behalten konnte, was es vor einem Moment, soeben, gesehen hat; was es soeben erfaßte, wurde aus dem Bewußtsein sofort (wieder sozusagen) ausgewischt. Und dies wiederholt sich immer wieder: Wenn das Kind einen Moment später etwas zu sehen beginnt, entschwindet das Gesehene sogleich wieder, es läßt sich [keinen Moment als Identisches festhalten] 64 , es gibt da keine [eine gewisse Zeit als existierend gegebene] 65 Dinge. Eben damit erfaßt man auch nicht, was eigentlich geschehen wird: da die Retention fehlt, konstituiert sich ("im" Bewußtsein) kein kontinuierlich dauerndes Seiendes. Falls dies richtig ist, so erweist sich die wichtige Rolle der Retention im wahrnehmungsmäßigen Erkennen der Dingwelt. Zugleich erweist sich damit, wie sehr die (jeweils) aktuelle verbunden

(Jetzt-)Wahrnehmung

ist, bzw.

wie

mit der Vergangenheitserfassung

unselbständig

64

V.d.Hg. statt nicht eine Weile identisch erhalten.

65

V.d.Hg. statt eine Zeit existierenden.

sie im Flusse der mit

ihr

126

zusammenfließenden,

Vierte

andersartigen

Vorlesung

Erkenntniserlebnisse:

Retention

-

Wahrnehmung - Protention ist. Es wäre natürlich nachzuprüfen, ob meine Vermutung, was eigentlich bewußtseinsmäßig bei dem kranken Kinde geschah, richtig ist. Es lassen sich vielleicht analoge Fälle bei Erwachsenen nachweisen, mit denen man sich darüber verständigen könnte, was bei ihnen eigentlich passiert. Unabhängig aber davon, wie es damit bei krankhaften Fällen steht, die

(wich-

tige) Rolle der Retention im wahrnehmungsmäßigen Erkennen der Welt, sowohl der Dinge als auch der Vorgänge, scheint jedenfalls klar zu sein. Wenn ich mir die Frage stelle, woher jene Unterbrechungen, jene Desorientierung herrührt, so scheint mir etwas Analoges in den Fällen vorzuliegen, wo ich eine Stockung und Desorientierung erlebe, wenn ich etwa beim Denken eines Satzes seinen Anfang vergesse, wenn mir der Anfang entschwindet und ich deshalb nicht weiter denken kann. Die Kontinuität des Satzdenkens ist da unterbrochen. [Ähnliches] 66 scheint auch bei Dingwahrnehmungen [möglich] 67 zu sein. An einem Gegenstand, den ich einige Zeit sehe, ist ein Charakter der Selbigkeit, der Identität 68 vorhanden, welcher mit dem, was er eigentlich ist, mit seiner Natur 6 9 aufs engste verbunden ist. Ich brauche ihn nicht ein zweites oder drittes Mal separat zu sehen. Aber auch dann, wenn ich jemanden nur während Bruchteilen einer Sekunde sehe, muß ich doch [irgendwie erfassen, daß er jeweils derselbe ist. Es ist also nicht so] 7 0 wie bei einer schlecht organisierten kinematographischen Vorführung. Beim Film sind es ungefähr 24 Bilder, die in einer bestimmten Geschwindigkeit pro Sekunde auf den Ekran "geworfen" werden müssen, damit man z.B. sehen kann, wie sich ein bestimmter Mensch einheitlich bewegt. Wenn das Filmband zu langsam vorgeführt wird, dann wird die einheitliche Bewegung des betreffenden Menschen mehrmals pro Sekunde unterbrochen. Am Ekran sieht man dann sozusagen bloß Unruhe, ein Flimmern, man sieht aber die Bewegungen nicht genau. Denn es bestehen zu große Zeitintervalle zwischen den einzel-

66

V.d.Hg. statt dasselbe.

67

V.d.Hg. statt vorhanden.

68

Vgl. dazu Ingarden ( 1965b), §§ 62-65.

69

Vgl. dazu Ingarden ( 1965a), §§ 39, 40. V.d.Hg. statt noch dabei bleiben, daß er es ist, derselbe; daß es nicht so ist.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

127

nen auf den Ekran "geworfenen" Bildern, die Retention kann ihre Leistung nicht realisieren. Und wenn es noch langsamer geht, dann sehe ich mehrere einzelne Bilder; jedes ist in sich unbeweglich; sie erscheinen und verschwinden. Sie müssen aber lange genug erscheinen, damit ich sie einzeln für sich sehen kann. Es muß wiederum eine Zeitspanne vorhanden sein, damit die Identität des einzelnen Bildes vermöge der Retention erhalten bleibt. Es muß also, rein theoretisch gesagt, so etwas geben, was dieses Behalten möglich macht, d.h. die Retention. [Ohne sie wären uns keine identischen Gegenständlichkeiten gegeben.]71 Bergson wollte, wie Sie wissen, ein technisches Analogon zu seiner Theorie des Intellektes haben, und sagte, die intellektuelle Erkenntnis sei wie eine kinematographische Projektion. Es werde alles in einzelne "Schnitte" (Bilder) zerlegt und dann die Kontinuität des Geschehens vermöge einer technischen Einrichtung wiedergegeben. Ja, was am Filmband zerschnitten wird, das wird beim konkreten Sehen nicht separat für sich wahrgenommen, sondern es synthetisiert sich z.B. in die einheitliche Bewegung eines Menschen. So verhält es sich auch bei der Retention: In ihr wird das bereits Wahrgenommene und soeben Vergangene noch aktuell erhalten und mit demjenigen, was gerade im Wahrnehmen erfaßt.wird, synthetisiert. Wir finden bei Bergson auch eine analoge Auffassung der "Gegenwart". Zuerst die Verwerfung der "Punktmäßigkeit" der Gegenwart und die Behauptung, sie könne verschiedene Perioden des Geschehens in sich umfassen, je nach der, wie er es nennt, "tension de la conscience". 72 Wenn ich z.B. jetzt sehr konzentriert und aktiv bin, dann sammelt sich in mir sozusagen die ganze Vorlesung zusammen zu einer Gegenwart. Wenn ich aber etwas weniger aktiv, dekonzentriert oder zerstreut bin, dann entfaltet sich diese Vorlesung in eine Mannigfaltigkeit von Phasen, ja, sie zerfällt in Stücke, die dann deutlich aufeinander folgen, sich lange "hinziehen". Man spricht dann (im wörtlichen Sinne ganz) richtig von "Langeweile". Bergson geht aber in dieser Richtung noch weiter und glaubt, an der Grenze der immer "höheren" "tension de la conscience" komme man zu Gottes überragender Aktivität, in welcher die ganze Ewigkeit zu einer Gegenwart werde. Das ist für mich schon wie eine schöne Dichtung, denn ich weiß nicht, wie das ist. Hingegen V.d.Hg. statt Ohne sie gibt es keine identischen Gegenständlichkeiten für uns. 72

Vgl. dazu neben Ingarden (1921a) auch Ingarden (1968b), 113, Anm. 12.

128 kann

Vierte Vorlesung

ich

dies

verschiedenen

phänomenal

Zeiten

mehr

bestätigen, oder

daß

weniger

meine

Gegenwart

umfaßt, sozusagen

zu

mehr

"kondensiert" oder mehr "entfaltet" ist und in Momente "zerfällt". Dies hängt wirklich von meiner Aktivität ab. Es "zerschlägt" sich alles in viele Momente oder "sammelt" sich irgendwie zusammen zu einer Gegenwart oder wenigstens zu einer Quasigegenwart. Wie die Analyse der konkreten, (erfüllten) Zeit weiterzuführen ist, ist ein Problem, das ich hier nicht entwikkeln kann. Denn diesem Thema müßte man ein ganzes Schuljahr widmen. Was aber die "Retention" betrifft, so könnte man, obwohl dies nicht mehr phänomenologisch ist, weiter argumentieren und fragen, ob sie nicht physiologisch bedingt sei. Beim Sehen speziell gibt es gewisse neurologische Probleme. Man sagt, daß die physiologischen Perturbationen im Sehapparat nicht sofort nach dem Lichtreiz aufhören, sondern eine Zeit lang andauern. Es fragt sich also, ob es im Sehnerv einen kontinuierlichen Vorgang oder mehrere schnell aufeinander folgende kurze Impulse gibt. Dies steht im Zusammenhang mit dem sogenannten "Alles oder Nichts"-Gesetz wie auch mit der Tatsache, das eine gewisse Quantität an Acetylcholin im Sehnerv auf einmal verbraucht wird und dann in einem schnellen Vorgang wieder aufgebaut wird. Dies geht aber alles so schnell vor sich, daß die Kontinuität erlebnismäßig erhalten bleibt. Diese ganze Betrachtungsweise bildet aber nur eine Parallele zur Bewußtseinsanalyse. Schließlich ist, bevor ich zur weiteren Behandlung der Probleme der Transzendenz übergehe, noch ein Punkt betreffs der Wahrnehmung zu erwähnen. Es stellt sich nämlich die Frage, die bei Husserl erst in den Ideen I aktuell wird, wie es möglich sei, daß Dinge uns beim Wahrnehmen zwar selbstgegeben werden und ihre leibliche Selbstgegenwart gerade das (am meisten) charakteristische Kennzeichen ist, das die Wahrnehmung auszeichnet und sie von der Vorstellung und auch vom bloßen Denken unterscheidet, obgleich die Dinge andererseits - wie Husserl sagt - in einer Mannigfaltigkeit von "Abschattungen" (von "Erscheinungen", von "Ansichten") [gegeben]73 werden. Mit der sogenannten "Abschattung" tritt etwas Neues auf, was früher, also z.B. in der Phänomenologie eines W. Schapp, nicht vorhanden war. Es tritt da, so könnte man sagen, eine gewisse Mittelbarkeit

V.d.Hg. siali gesehen.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

129

der Wahrnehmung zutage, während man die Wahrnehmung doch zunächst als "unmittelbare" Erkenntnis auszeichnen wollte und sie auch als solche behandelt hat. Gemäß Husserls Lehre in den Ideen I erscheint jedes Ding in gewissen "Ansichten", in gewissen

"Abschattungen"; es ist das Ab-

geschattete, das sich uns in Abschattungen, in Ansichten zeigt. Die Einführung des Begriffes der Abschattung (Ansicht) ist einerseits von grundlegender Bedeutung für die Position Husserls in den Ideen /, da sie es ihm ermöglicht, die Scheidung zweier Seinsregionen: der realen (Außen)Welt und des reinen Bewußtseins durchzuführen. Zugleich scheint der Begriff der Abschattung nicht eine bequeme Denkkonstruktion zu sein, sondern etwas, was durch langjährige analytisch-phänomenologische Untersuchungen erzwungen wurde, was also durch mannigfache und komplizierte phänomenale Tatbestände belegt werden kann. Mit diesem Begriff hängen auch die grundlegenden Probleme der "Konstitution" zusammen, welche die tiefste und auch wichtigste Aufgabe der Phänomenologie darstellen. 74 Man darf also auf den Begriff der Abschattung nicht verzichten. Muß man dann aber nicht die "Selbstgegebenheit" der Gegenstände im Wahrnehmen preisgeben? Dies ist aber ebenfalls nicht möglich. So entsteht die wichtige analytische Aufgabe zu erklären, wie es zu verstehen ist, daß - obgleich Dinge tatsächlich in Abschattungsmannigfaltigkeiten erscheinen - mindestens das Phänomen der Unmittelbarkeit des Erfassens eines Gegenstandes im Wahrnehmen aufrechterhalten werden kann. Worauf beruht die wesensmäßige Funktion und die Leistung der "Abschattungen" bzw. der "Ansichten" von etwas, daß sie die leibhafte Selbstgegebenheit des wahrgenommenen Dinges hervorbringen können? Damit hängen auch die weiteren Probleme sowie die

(der Transzendenz)

(noch zu unterscheidenden) Begriffe der Transzendenz zusam-

men. Doch darüber mehr in der nächsten Vorlesung!

Vgl. oben die Einleitung sowie Ingarden (1972c), 368-374.

Fünfte Vorlesung (13. Oktober 1967) (Elemente einer phänomenologischen Theorie der Wahrnehmung (II): Die Struktur des Wahrnehmens) Meine Damen und Herren, ich möchte heute zuerst das, was ich in der letzten Vorlesung entwickelt habe, in einer Reihe kurz gefaßter Behauptungen über die äußere Wahrnehmung zusammenfassen und dann (in der Analyse der äußeren Wahrnehmung) fortfahren, wobei ich das Weitere schon etwas breiter fassen werde. Es sind mehrere Behauptungen. Erstens: Jede Wahrnehmung und insbesondere jede äußere Wahrnehmung ist - wie Husserl sagt - ein "thetischer" Akt. "Thetischer" Akt - das heißt ein Akt, in dessen Vollzug die Seinsanerkennung dessen, was da wahrgenommen wird, Vollzogen wird. Zweitens: Jede äußere Wahrnehmung und jede Wahrnehmung überhaupt ist ein Akt, in dem etwas nicht "repräsentiert", sondern "präsentiert" wird, selbstgegenwärtig als selbstgegenwärtig gegeben wird, und zwar in einer ganz besonderen Art von Anschaulichkeit, die mit gar keiner anderen Anschaulichkeit verwandt ist.1 Drittens: [Jeder Wahrnehmungsakt, insbesondere jede äußere Wahrnehmung]2, ist Glied einer Mannigfaltigkeit von Akten, die inhaltlich zueinander gehören. Sie beziehen sich alle, soweit sie diese Mannigfaltigkeit bilden, auf ein bestimmtes Ding, eine bestimmte gegenständliche Situation oder auf einen bestimmten Vorgang. Daß sie zueinander gehören, daß also die einzelne Wahrnehmung in diesem Sinne inhaltlich nicht ganz selbständig oder von den anderen Wahrnehmungen unabhängig ist, zeigt sich darin, daß jede aktuelle Wahrnehmung durch andere, frühere Wahrnehmungen auf verschiedene Weise motiviert wird. 3 Jede zu einer solchen Mannigfaltigkeit

Vgl. dazu oben Vorlesung IV. V.d.Hg. statt jede äußere Wahrnehmung, insbesondere jeder Wahrnehmungsakt. [Ingarden] Was dieses "Motivieren" bedeutet, das bildet eine ganz besondere Frage für sich. Das Problem der Motivation kann ich aber jetzt nicht entwickeln. [Hg.: Vgl. oben Vorlesung II: "Die Begriffe des Motivs und der Motivation sind Begriffe der deskriptiven Psychologie und treten dort - auch bei Husserl - an die Stelle des Begriffs der Ursache bzw. der Verursachung."; vgl. auch: Ingarden (1972c), 369 ff.; (1976b), 25.)

132

Fünfte

Vorlesung

gehörende äußere Wahrnehmung weist auch auf die nachfolgenden Wahrnehmungen hin und motiviert sie auf ihre Weise. In dem ganzen Verlauf einer solchen Mannigfaltigkeit werden die aktuellen Wahrnehmungen durch spätere Wahrnehmungen entweder bestätigt, bekräftigt oder entkräftigt. Im letzteren Falle tritt dann sozusagen eine gewisse unerwartete "Lösung" dessen ein, was aktuell gegeben und angekündigt wird. Viertens: Jeder Wahrnehmungsakt ist noch auf eine andere Weise in gewissem Sinne strukturell unselbständig. Er wird nämlich umrahmt einerseits von der sogenannten Retention, die sich auf das bezieht, was soeben gewesen ist oder gerade vorbeigeht; und andererseits von der Pretention, die sich auf das bezieht, was gerade eintritt, nachfolgt, was zum Erscheinen kommt. Beides, aber vor allem die Retention, ist eine unentbehrliche Bedingung dafür, daß mir in der Wahrnehmung [ein kontinuierlich]4 identisches Ding gegeben wird, daß seine Identität (im Gegebensein) nicht zerreißt, daß man bei demselben Ding [verbleiben kann]5. Wenn aber diese Identität zu bestehen aufhört, dann stehen wir vor einer unerwarteten Situation und infolgedessen tritt zunächst eine gewisse Desorientierung ein. Fünftens: Jede Wahrnehmung, jede äußere Wahrnehmung, ist, wie ich sagte, "partiell" oder "inadäquat", wie Husserl sagt. Das soll bedeuten: Nicht alle Bestimmtheiten des wahrgenommenen Dinges werden in der betreffenden Wahrnehmung gegeben, sind anschaulich selbstgegenwärtig. Gewöhnlich ist es so, daß in den einzelnen Wahrnehmungen immer andere Seiten des betreffenden Dinges zur Gegebenheit gelangen, während die früher gegebenen zum Teil aus dem Gesichtsfeld verschwinden. Das ist kein Zufall. Denn es gilt notwendigerweise: Ein materielles Ding kann zur gleichen Zeit nicht allseitig in allen seinen Bestimmtheiten erfaßt und gegeben werden. Hier stoßen wir auf einen ersten Begriff der Transzendenz, gemäß dem ein wahrgenommenes Ding die betreffende Wahrnehmung "transzendiert", d.h. seine Bestimmtheiten gehen über das jeweils Gegebene hinaus. Sechtens: Auch im Rahmen dessen, was da von einem Ding gerade gegeben wird bzw. sich im Feld des Gegebenen vorfindet, ist ein Unterschied zu machen im Bezug auf die Weise, wie etwas gegeben wird. Denn manche Bestimmtheiten eines Dinges werden, wie ich es formulierte, in einer ManV.d.Hg. statt das weiterhin. V.d.Hg. statt verbleibt.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

133

nigfaltigkeit von "erfüllten Qualitäten" gegeben und werden dadurch im engeren Sinne "effektiv" gegeben. Andere [Bestimmtheiten] 6 werden nur "mitgegeben", "mitvermeint", und zwar nicht in erfüllten, sondern in gewissem Sinne in besonderen anschaulich intentionalen Momenten, die über das Erfüllte hinausgehen, aber so, daß man doch das in ihnen Bestimmte als selbstgegeben faßt. Es ist etwas Phänomenales an dem erscheinenden Dinge [vorhanden] 7 , aber (es ist) qualitativ nicht voll erfüllt (gegeben). Hier kann man in einem zweiten Sinne sagen, daß die äußere Wahrnehmung, jede einzelne Wahrnehmung, die zu der betreffenden Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen gehört, dasjenige "transzendiert", was auf ganz "erfüllte" Weise zur Gegebenheit gelangt. Es gibt da also zwei verschiedene Transzendenzen, die beide vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus als Transzendenzen gelten können. (Betrachten wir das folgende Schema:) 8

K j : die qualitative V o l l b e s t i m m u n g eines D i n g e s ; K 2 : das in der aktuellen W a h r n e h m u n g G e g e b e n e ; K 3 : das, w a s in e f f e k t i v e n , erfüllten Qualitäten g e g e b e n ist. D a s u m den Kreis K j gestrichene Feld bedeutet die der W a h r n e h m u n g u n z u l ä n g l i c h e p h y s i k a l i s c h e Wirklichkeit. D e r R i n g R bedeutet das, w a s im aktuellen W a h r n e h m e n nicht g e g e b e n wird, w a s aber in anderen W a h r n e h m u n g e n g e g e b e n w e r d e n kann.

V.d.Hg. statt Bestimmtheiten], die doch gegeben sind,. V.d.Hg. statt da. Die folgende Skizze steht im T y p A , allerdings ohne zugehörige Legende. Letztere wird hier aus der polnischen Ausgabe bzw. aus T y p g übernommen.

134

Fünfte Vorlesung

Wenn ich z.B. sage, daß der Kreis K j die Vollbestimmung eines Dinges repräsentiert, dann fallt in die betreffende Wahrnehmung nur ein Teil davon. Der innere Kreis K2 repräsentiert das in der betreffenden Wahrnehmung Gegebene und der äußere Ring R das in der betreffenden Wahrnehmung überhaupt Nichtgegebene. Wenn ich z.B. in einer visuellen Wahrnehmung ein Ding sehe, dann ist das Gesehene freilich keine Mannigfaltigkeit rein visueller Qualitäten. Denn es werden nicht nur Farben und die Gestalt des Dinges gesehen. Wie W. Schapp 9 gezeigt hat, sieht man vielmehr auch die Glätte oder die Rauhigkeit der Oberfläche eines Dinges so wie z.B. {auch) die Materialbestimmtheit, z.B. daß dieses Ding aus Holz und jenes aus Stoff ist u. dgl. mehr. Aber es gibt noch weitere Bestimmtheiten des Dinges, wie z.B. seine akustischen Bestimmtheiten, die da gar nicht wahrgenommen werden. Sie sind natürlich mit dem Ding selbst vorhanden, aber es transzendiert mit ihnen das Feld bzw. den Bestand der Bestimmtheiten, die gerade wahrgenommen werden. So verhält es sich natürlich im gerade betrachteten Fall einer visuellen Wahrnehmung. In jeder anderen Wahrnehmung z.B. beim Hören, Tasten, Schmecken usw. kann es ganz anders sein. Hieran zeigt sich das Wandelnde, Veränderliche (dessen, was in der Wahrnehmung jeweils tatsächlich gegeben ist). In jedem Falle aber bleibt der Ring R, (d.h. es gibt immer etwas,) was über die jeweilige Wahrnehmung "hinausgeht". Vom Standpunkt des Dinges aus betrachtet ist es der Wahrnehmung gegenüber transzendent: Ein Ding ist mit vielen Eigenschaften erfüllt, ist reicher als das, was da von ihm wahrnehmungsmäßig gerade gegeben ist. Innerhalb dessen aber, was gegeben wird, wird wiederum geschieden. Nämlich zwischen dem in effektiven, erfüllten Qualitäten Gegebenen (=K3), und dem, was im Kreis K2 noch übrigbleibt, z.B. die Hinterseite eines Dinges, die doch als Hinteres mitvermeint und mitgegeben wird. Dinge wie z.B. diese Bank oder dieser Tisch da sind keine "Kulissen", sondern sind volle Dinge, mit einem "Inneren" usw. Die Rückseite eines Dinges kann natürlich auch "falsch" mitgegeben sein. Wenn ich z.B. jetzt auf einen Kollegen blicke, der dort im Saale sitzt, so sehe ich gewissermaßen auch seine von mir gerade abgewandte Seite und ich glaube, daß sein Anzug an den Schulterpartien grau ist. Vielleicht ist dieser Anzug an den Schulterpartien tatsächlich nicht

Vgl. Vorlesung II, A n m . 28.

Elemente einer phänomenologischen Theorie der Wahrnehmung

135

so grau, wie er vorne grau ist. Aber es geht von dem, was ich da gerade sehe, eine anschauliche Intention darauf hin, was da möglicherweise noch vorhanden ist, was da auch gegeben, auch mitgegeben wird, auf das phänomenal da Anwesende. Denn wir sehen den betreffenden Mann doch nicht ohne Rükken, nicht mit einem großen Loch hinten im Anzug, sondern vielmehr mit einem Rücken und mit einem Anzug, der an den Schulterpartien ebensosehr "grau" ist wie vorne. Die Wahrnehmung erhebt sozusagen den Anspruch, das Ganze des Dinges zu geben. Sie sagt gewissermaßen mehr über das betreffende Ding aus, als sie verantworten kann. Denn "verantworten" kann sie nur dies, was in erfüllten Qualitäten an der Vorderseite des Dinges [ersichtlich ist] 10 , und das Hintere, das Innere ist schon bloß mitgemeint, nur mitgegeben. Insofern geht also die Wahrnehmung über das echt, also im engeren Sinne erfüllt Gegebene hinaus, sie transzendiert das gerade so Gegebene. Wir haben es also mit zwei verschiedenen Begriffen der Transzendenz

der Wahrnehmung

zu

tun

und

beide

Begriffe sind

erkennt-

nistheoretisch. Es gibt aber noch etwas, was hier erwähnt werden muß und was für Husserl eine sehr bedeutende Sache war. Der kritische Realismus und die Physik, die ganze heutige Physik sowie auch die Biologie und die Naturwissenschaft überhaupt wird in einem bestimmten Geiste, im Geiste einer bestimmten erkenntnistheoretischen Auffassung geschrieben bzw. gedeutet. Man sagt, daß alles, was da (in der Wahrnehmung) gegeben wird und was als gegeben mitvermeint wird und (insofern) für uns auch vorhanden ist, ja daß auch das, was hier als Transzendentes bezeichnet wurde - daß dies alles "subjektiv" sei. Dies alles sei eine qualitativ bestimmte Welt, und erst dahinter stecke die "wirkliche" Realität, die materielle Realität. Was diese Realität ist bzw. für was sie gilt, hängt davon ab, in welcher Epoche wir darüber sprechen. Mach glaubte noch nicht, daß es Atome gibt, und dachte, daß Atome bloß eine wissenschaftliche Konstruktion seien, die aus diesen oder jenen Gründen in die Wissenschaft eingeführt werden. Einer meiner älteren Kollegen in Göttingen war Bohr aus Kopenhagen. Er meinte, daß es Atome natürlich als eine Realität gäbe und daß sie eine ganz bestimmte Struktur aufweisen. Es sei im Atom nämlich ein Kern vorhanden, der von einer Reihe

10

V.d.Hg. statt dasteht.

136

Fünfte

Vorlesung

von Elektronen umkreist werde, die sich auf den oder den Bahnen bewegen usw. Das war für Bohr die Realität. Später kamen die großen Männer, die den Atomkern zerschlagen haben. Nach heutiger Auffassung gibt es, ich weiß nicht wie viele, ungefähr 30 oder mehr "Elementarteilchen", die sich auf verschiedene Weise bewegen und die eine längere oder kürzere Lebensdauer haben, so daß die letzte Realität nach heutiger Auffassung diese Mannigfaltigkeit von im leeren Raum sich bewegenden Elementarteilchen ist. Dies ist das "Wirkliche" und das, was wahrgenommen wird, ist "subjektiv" - sagt der physikalistisch bestimmte "kritische" Realismus. Es besteht also das Problem, was das sogenannte "physikalische Ding" eigentlich ist. Husserl mußte dieses Problem natürlich von seinem Standpunkt aus lösen. Und er sagt: Diese physikalische "Wirklichkeit" ist eine neue Transzendenz; sie ist eine erweiterte Transzendenz. Ich habe sie oben in der Figur nur mit Strichen rund um den Kreis K j angedeutet, weil das in diesem neuen Sinne "Transzendente" dasjenige ist, was überhaupt in gar keiner sinnlichen Wahrnehmung zugänglich ist. Dasjenige, was durch den Ring zwischen K j und Κ 2 symbolisiert wird und als "transzendent" bezeichnet wurde, ist das, was in der betreffenden Wahrnehmung oder in der Wahrnehmung einer bestimmten Art (z.B. in der visuellen Wahrnehmung) nicht gegeben ist, aber doch in anderen Wahrnehmungen gegeben werden könnte. Das physikalische Ding dagegen, das heißt die Mannigfaltigkeit von - sagen wir - Elementarteilchen, ist prinzipiell nicht nur nicht wahrnehmbar, sondern auch auf gar keine Weise anschaulich vorstellbar. Das ist die These der heutigen Physik. Das "Transzendente" in diesem Sinne ist nur durch mathematische Formeln bestimmt; anders kann es (erkenntnismäßig) nicht bestimmt werden. Es hat überhaupt keinen Sinn danach zu fragen. Und das in diesem Sinne "Transzendente" ist gemäß der heutigen Physik die Wirklichkeit, während die gesamte wahrgenommene, qualitativ bestimmte Welt nur "subjektiv" sein soll. Wenigstens wird es in der wissenschaftlichen Praxis der Naturwissenschaft so behandelt. Unter den

philosophierenden

(theoretischen) Physikern des 20. Jahrhunderts ist die Ansicht darüber allerdings geteilt. Es gibt "realistisch" eingestellte Physiker (etwa Max Planck), welche die eben skizzierte Auffassung vertreten. Es gibt aber auch - wenn man so sagen darf - eine "idealistische" Ausdeutung der physikalischen Grundgegenständlichkeiten (z.B. von Eddington), nach welcher dieselben

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

137

bloß für begriffliche Konstruktionen gehalten werden. Wenn Husserl die erste Auffassung annehmen müßte, nun, dann wäre es mit seiner ganzen Theorie, die zum transzendentalen Idealismus führt, dahin. Und da sagt Husserl: Natürlich berücksichtige ich das "physikalische" Ding. Es ist ein höheres intentionales Korrelat von verschiedenen Wahrnehmungen, die mit Hilfe verschiedener Gedankenoperationen interpretiert werden. Das Niveau der anschaulichen Dinge stellt (bereits) ein sehr hohes Niveau der Konstitution dar. Das Physikalische nun stellt ein nur noch höheres Niveau der Konstitution dar, eine noch weiter gebrachte Höhe der Abstraktion, der Synthese reiner Gedankenkorrelate, die gar keine direkte Erfüllung in den Gegebenheiten der äußeren Wahrnehmung haben können. Es gibt aber Beziehungen, die zwischen dem einen oder anderen Niveau auf gedanklichem Wege und auf eine bestimmte Weise gestaltet oder entdeckt werden. Das Physikalische ist nicht eine letzte materielle Realität, die durch kausal geregelte Wirkungen auf den menschlichen Körper zu der "subjektiven" Ansicht der qualitativ bestimmten Dinge führt, sondern ist nur eine Phase, eine weitere Phase der in erkenntnismäßigen Operationen sich vollziehenden Konstitution der realen Welt. Merkwürdigerweise soll das Physikalische eine solche Gegenständlichkeit sein, die dem qualitativ bestimmten, anschaulich gegebenen Ding oder (der so bestimmten) Dingmannigfaltigkeit "unterschoben" wird. Das transzendente materielle Ding ist zunächst so bestimmt, wie es in der Wahrnehmung gegeben und im täglichen Leben behandelt wird. Aber dann, wenn man die Ergebnisse der Physik (und Physiko-Chemie) annimmt, ist es nicht so bestimmt. Es ist vielmehr nur so bestimmt, wie es die mathematische Physik bestimmt. Die Transzendenz der physikalischen Dinge gewinnt damit den Charakter einer [erkenntnistheoretisch verstandenen Transzendenz] 11 . Denn es handelt sich da um eine Transzendenz in Bezug auf die Wahrnehmung. 1 2

11 12

V.d.Hg. statt erkenntnistheoretischen Auffassung. Für Husserls Theorie der Konstitution des physikalischen Dinges wichtig und auch sehr kritisch (sc. mit Blick auf die durch Husserl "verpaßte" Rezeption der Ergebnisse der "modernen" Physik) ist Ingarden (1964b).

138

Fünfte

Vorlesung

Ich werde heute noch dazu kommen, mehrere andere Begriffe der Transzendenz (miteinander) zu kontrastieren. 13 Sie alle sind für mich sehr wichtig, weil ich sie später bei der Darstellung der Wege, die Husserl zum Idealismus geführt haben, verwenden werde. Das ist also ungefähr alles, was ich in der letzten Vorlesung gesagt habe. Jetzt aber möchte ich noch weitere Fortschritte in der Analyse der äußeren Wahrnehmung machen. Der nächste Schritt besteht in einer These, die ich wiederum ganz kurz fassen kann: "Jede äußere Wahrnehmung, in der etwas gegeben wird, ist ein Herausfassen des Gegebenen aus einem großen Feld, dem Wahrnehmungsfeld, in dem es gegeben wird." Also, wenn ich jetzt z.B. mein Vis-à-vis dort ansehe, den Herrn Kollegen Soundso, dann habe ich ihn und z.B. seine Brille wahrgenommen. Dieser Herr Soundso wird da aus dem ganzen Feld der Wahrnehmung, die ich vollziehe, herausgefaßt. Zu [jedem] 14 wahrgenommenen Ding gibt es ein Feld anderer Dinge und Vorgänge. Dieses Feld weitet sich, wie Husserl sagt 15 , immer weiter zu einem Horizont aus, und in diesem Feld gibt es sehr verschiedene Formen der Gegebenheit. Einerseits dessen, was da wahrnehmungsmäßig herausgefaßt wird, und andererseits dessen, was da noch im Feld mitvorhanden ist. Husserl führt in diesem Kontext zwei Begriffe ein, die gewöhnlich etwas falsch verstanden werden. Er spricht von der "Aktualität" und der "Inaktualität" des Bewußtsein als von zwei verschiedenen Formen des Bewußtseins. 16 Das, was da im Akt der Wahrnehmung vor sich geht und zur Erfassung eines Dinges führt, heißt "aktuelles Bewußtsein". Ich würde lieber "Aktbewußtsein" sagen, d.h. ein im Akt bestehendes, sich vollziehendes Bewußtsein. Und die (Bewußtseins-) Weise, vermöge welcher mir das ganze Feld noch irgendwie anwesend ist, obwohl ich mich zu ihm gar nicht hinwende, heißt "Inaktualität", inaktuelles Bewußtsein. Ich würde lieber von einem "Non-Akt-Bewußtsein" sprechen. 17 Dieses Non-Akt-Bewußtsein hat zu seinem Korrelat dieses Feld mit seinem

13

Zu den gemachten und den weiteren bezüglichen Begriffsunterscheidungen vgl. auch Ingarden (1965a), 224-229.

14

V.d.Hg. statt dem.

15

Vgl. z.B. Husserliana

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 56 ff.; 91 f.

16

Vgl. z.B. Husserliana

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 59; 72f.

17 Vgl. dazu die Ingardenschen Unterscheidungen verschiedener Stufen der Bewußtseinsaktivität in Ingarden (1965a), 174-210.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

139

Horizont, das sich immer weiter erstreckt, wie Husserl sagt, und in immer mehr unbestimmten Gegebenheiten oder Vermeintheiten dem Wahrnehmenden doch selbst gegenwärtig ist. Ich sehe hier mir gegenüber einen Herrn sitzen; er ist aber von anderen sitzenden Damen und Herren, auf die ich schon nicht mehr achte, umgeben, bis an den Rand des Saales, bis an die Wände, die mir die weitere Welt jetzt verdecken. Durch die Wände kann ich nicht hindurchblicken. Aber dieser Saal ist doch nicht alles, was für mich gegenwärtig da ist. Dahinter, also hinter dieser Mauer, ist noch freie Luft vorhanden, der freie Platz der Universität; dann gibt es diese Fontänen und das Monument; um den Platz herum stehen mehrere Universitätsgebäude, das Administrationsgebäude usw., und dahinter gibt es irgendwelche Felder und dann noch die Stadt Oslo. So geht es weiter bis ans Meer. Und wenn Sie wollen, geht es so weiter über das Meer, immer mehr unbestimmt, bloß mehr oder weniger mitgegeben oder nicht (mehr) mitgegeben, sondern bloß leer vermeint. In diesem Sinne also wird das, was da gerade wahrgenommen und natürlich aufmerksam erfaßt wird, aus [seinem] 18 ganzen Wahrnehmungsfeld, diesem ganzen Horizont herausgefaßt. Und dieser Horizont ist unendlich. Das ist gerade unsere Mitwelt oder Umwelt oder Welt, die jeder Wahrnehmung zugehört. Gemäß Husserl gehört es zum Wesen der äußeren Wahrnehmung, daß es so ist, daß dieses Feld, diese Umgebung und der Horizont immer weiter ins Unendliche, wenn Sie wollen, bis zu anderen Galaxien geht. Das ist ein Stück seiner Theorie. 19 Ich bin natürlich verpflichtet, es hier vorzutragen. Und natürlich stellt es eine gewisse Rekonstruktion dessen dar, was - wie mir scheint - tatsächlich bei Husserl vorkommt. Wenn ich hier so ausdrücklich darauf eingehe, dann deshalb, weil wie Sie wissen - 14 Jahre nach den Ideen I das Buch Sein und Zeit von Heidegger erschienen ist. 20 Und da kommt so ein (seltsam) zusammengesetztes Wort vor, das in der deutschen Sprache (gerade) noch geht, nämlich: 'In-derWelt-sein'. Dies "In-der-Welt-sein" wird von Heidegger und viel mehr noch von seinen Schülern als eine besondere Entdeckung behandelt, die gewissermaßen gegen Husserl gerichtet ist und die den Weg zu einer realistischen Entscheidung bilden soll. Indessen ist dieses "In-der-Welt-sein" bei Husserl,

V.d.Hg. statt diesem. 19

Vgl. z.B. Husserliana

20

Vgl. Vorlesung II, Anm. 67.

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 57 f.

140

Fünfte

Vorlesung

abgesehen vom neuen Wort, eine alte Geschichte. Es geht eben um dies, daß jede Wahrnehmung ein Herausfassen aus einem Wahrnehmungsfeld, mit einem Horizont und mit einer Umwelt ist. Es kann nicht anders sein, und der Wahrnehmende ist in dieser ganzen Sphäre von vornherein als Wahrnehmender enthalten. Also [ist das "In-der-Welt-sein"]21 erstens vom Husserlschen Standpunkt aus gar keine Neuheit; es ist die Weise des Seins des wahrnehmenden Menschen. Und zweitens kommt es bei Husserl nicht als Ausweg, als Mittel in Betracht, aus dem Gang zum Idealismus herauszukommen. Natürlich hat er seine Argumente. Husserl sagt: Nun, sehr schön, das nehme ich alles an. Und trotzdem geht mein Gedankenweg weiter. Das ("In-der-Welt-sein") ist wiederum nur eine Phase der Konstitution, es ist nur ein höherer Typus der intentionalen Gegenständlichkeit, nämlich die Welt, in der ich als Wahrnehmender (schon) immer bin. Und trotzdem, ich als reines Ich bin derjenige, der das alles in der Mannigfaltigkeit von Erfahrungen setzt. Das "In-der-Welt-sein" ist einfach eine andere Formulierung gerade dieser Tatsache, daß die äußere Wahrnehmung, jede Wahrnehmung, ein Herausfassen (von etwas) aus einer (mit diesem etwas) mitgegebenen Welt ist. Ja, und jetzt kommt eine schwierige Sache, die ich etwas weiter entwikkeln muß. Es klingt zunächst fast wie ein Paradoxon bei Husserl, als ein Widerspruch gegen seine ursprüngliche Thesis. Den Ausgangspunkt für die Analyse der äußeren Wahrnehmung bildet die Feststellung, daß in der Wahrnehmung ein Ding selbstgegeben, in seiner eigenen "Person" gegeben wird. "Selbst", das heißt auch: direkt gegeben. Es ist anwesend, präsent. Und später sagt Husserl auf einmal in den Ideen /: Jedes Ding oder, wenn Sie wollen, jeder Vorgang an Dingen wird wahrnehmungsmäßig in Erscheinungen, in Abschattungen, in Ansichten gegeben oder - wie man auch sagen kann - durch Erscheinungen, durch Abschattungen, durch Ansichten hindurch. 22 Es wird zwischen dem wahrgenommenen Ding, dem wahrgenommenen Gegenstand einerseits und den Abschattungen andererseits unterschieden - den sogenannten Abschattungen, die bei Husserl früher "Aspekte" hießen. "Ansichten", "Erscheinungen" heißen sie auch in den Ideen /. Es scheint also, daß da wiederum ein Schritt vom* "offenen" Be21

V.d.Hg. statt das ist.

22

Vgl. z.B. Husserliana

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 83 ff.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

141

wußtsein zurück ins "geschlossene" Bewußtsein gemacht wird. Das, was direkt da ist, das sind die Erscheinungen, die Ansichten, die Abschattungen. Und durch diese Welt der Abschattungen wird jetzt das Zweite, das wahrgenommene Ding, zur Anschauung, zur Gegebenheit gebracht. Es liegt nahe zu sagen: Das, was direkt da ist, das sind die Ansichten; das direkt Gegebene, das heißt das Erfaßte, das sind die Ansichten. Das wären also die alten "Ideen" bei Locke. Und das, was da Ding ist, nämlich das wahrgenommene Ding, das würde durch Erscheinungen, durch "Ansichten", durch "Abschattungen" bloß repräsentiert. Es wäre, kurz gesagt, nicht wahr, daß in der Wahrnehmung etwas Gegenständliches selbst gegeben wird, daß insbesondere materielle Dinge selbst gegeben werden. Nun, Husserl würde da protestieren: Nein, nein, nein, ich bleibe dabei, Dinge sind leibhaftig gegeben, selbstgegeben, in persona gegeben. Ansichten, Abschattungen werden überhaupt nicht gegeben, (bzw.) sie werden nicht wie Dinge zur Gegebenheit gebracht. [Wenn ich ein Ding sehe, so weiß bzw. erfahre ich - im selben Sinne wie ich vom Ding etwas weiß (bzw.) erfahre - nichts von Abschattungen, von Ansichten.] 23 Einige jüngere Freunde Husserls, die zugleich meine etwas älteren Kollegen waren, haben eingewendet: "Nun, das ist wiederum eine psychologische Erfindung. 'Ansichten', 'Abschattungen', 'Erscheinungen' und dann noch diese 'Empfindungen' (darüber werde ich später noch etwas sagen) - so etwas gibt es ja gar nicht!" Und Husserl würde darauf antworten: "Nun ja, wenn Sie Dinge sehen, dann gibt es für Sie allerdings nicht so etwas wie Abschattungen oder Empfindungen. Aber das bedeutet nicht, daß es sie überhaupt nicht gibt!" Hier in Oslo hatte ich einmal ein Gespräch, in dem ein Kollege fragte: "Sie haben in der literarischen Kunst so etwas wie Ansichten festgestellt. 24 Was ist das eigentlich? Wie kann man so etwas finden?" Nun, ich versuchte daraufhin in einer hier in Oslo gehaltenen Vorlesung 25 über Ansichten zu sprechen, z.B. über jene Lokomotive, die sich mir immer mehr nähert, während (im Wahrnehmen) eine Wandlung immer "größerer" und immer dif-

23

V.d.Hg. statt Ich weiß nichts in demselben Sinne von den Abschattungen, von - sagen wir den Ansichten, wenn ich ein Ding sehe.

24

Vgl. Ingarden ( 1931 a), Kap. 8 und 9; ( 1968b), 55-63.

25

Vgl. im Anhang: "Zur Textgeschichte".

142

Fünfte

Vorlesung

ferenzierterer Ansichten von ihr erlebt werden. Und nachher hat derselbe Kollege erneut mit mir gesprochen und gesagt: "Jetzt weiß ich zwar, was Sie unter einer 'Ansicht' verstehen, aber jetzt weiß ich wiederum nicht recht, wo da die Dinge sind; die Dinge sind irgendwie verschwunden, sie sind fast transzendent geworden; die Dinge sind weg, es sind nur Ansichten vorhanden." Ich möchte also diese Angelegenheit noch einmal an einigen Beispielen verdeutlichen, um vor allem den Unterschied zwischen einem wahrgenommenen Ding und einer Ansicht bzw. Abschattung aufzuweisen. Das kann man unter zwei verschiedenen Situationen machen. Wenn ich das jetzt tue, so bin ich schon der reflektierende Philosoph, der etwas, was beim Wahrnehmen normaliter spontan vor sich geht, bereits in gewissem Sinne dekonstruiert. Es ist tatsächlich so, daß, wenn ich z.B. diese Bank dort sehe, so wie sie aus Holz gefertigt und gelblich ist und in dieser Lage im Raum steht, daß mir dann die Ansicht von dieser Bank nicht gegeben wird, d.h. ich nehme sie gar nicht wahr. Was ist mir gegeben, wenn ich die Bank sehe? Beschränken wir uns auf ganz einfache Einzelheiten! Die Sitzplatte dieser Bank da ist ihrer Form nach ein Rechteck, und zwar ein Rechteck, das etwas schräg im Raum aufgestellt ist. Die Sitzplatte hat natürlich ein Volumen, sie ist etwas dick; aber ihre Oberfläche ist rechteckig. Da kommt ein Maler zu mir und sagt: "Sehen Sie das wirklich so 'rechteckig'?" Ich sage: "Ja." "Also, malen Sie das!" Wenn meine Enkelin, die vier Jahre alt ist, dies tut, dann malt sie wirklich ein Rechteck auf das Papier. Dann kommt aber der Lehrer und fragt: "Hast du das so gesehen?" "Ja", sagt sie, deswegen hat sie es j a so gemalt. "Siehst du da auf der Zeichnung eine Bank im Raum? Das ist doch nicht möglich!" Nun, natürlich, man muß auf dem Papier ein Trapezoid bzw. ein Trapez oder ein Rhomboid oder einen Rhombus malen, damit man im Bild eine rechteckige Bank mit einer bestimmten Lage im Raum sehen kann. Das sind eben diese Sachen, von denen uns die Theorie der Perspektive [erzählt] 2 6 , wie sie von der europäischen Kunst des 14., 15. und 16. Jahrhunderts ausgebildet worden ist. Heute gibt es eine fertige, mathematische Theorie der Perspektive, es gibt Gesetze, welche die zugehörigen Prinzipien genau erklären. Heute wird also gesagt: "Willst Du die rechteckige Bank von oben her, mit dieser Lage im Raum, sehen,

V.d.Hg. stall erzählt] und zwar der Perspektive.

dann mußt Du

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

143

zugleich, ohne daß Du darauf achtest, nicht eine rechteckige Gestalt, sondern gerade dieses Trapez oder diesen Rhombus oder Rhomboid usw. erleben." Husserl nun sagt: Dieses wird von mir erlebt, es ist also irgendwie da, aber es ist, währenddessen ich das Ding sehe, für mich in einem hohen Grade verborgen. Wenn ich Analytiker bin, dann enthülle ich das erlebte Trapez, ich entdecke es sozusagen; aber dann ist mir diese rechteckige Bank in der Wahrnehmung im Grunde schon nicht mehr so schlicht gegeben. So kann ich jetzt diese ganze Sachlage gewissermaßen umkippen. Ich gehe von der Wahrnehmung der Bank auf die erlebte Ansicht von ihr zurück und dann von der zum Bewußtsein gebrachten Ansicht zurück zum Wahrnehmen der Bank. Dann sehe ich die rechteckige Bank wieder. [Man kann die ganze Sachlage zunächst so fassen: Man sieht nicht die rechteckige (Bank), sondern die schräge Linie usw.; dies ist die Ansichtsform, die in sich eine nichtrechteckige Gestalt enthält; aber das wahrgenommene Ding (selbst) hat eine rechteckige Gestalt.] 27 Nehmen Sie ein anderes Beispiel! Da haben wir also hier vor uns eine schöne, rote, glatte Kugel. Wenn man z.B. Billiard spielt, dann hat man drei Kugeln auf einem grünen Feld, zwei von ihnen sind weiß, die dritte ist rot; man muß dann irgendwelche Bewegungen machen, um sie zusammenzubringen usw. Man muß beim Wahrnehmen die rote Kugel sehen und zwar als rote Kugel. Und da kommt wiederum meine Enkelin und malt das. Was macht sie? Sie malt einen Kreis, und sein Inneres wird mit demselben Farbstift einheitlich rot ausgemalt. Also das, was man da wirklich sieht. Aber eben, das auf dem Bild ist flach, eintönig in der Farbe und liegt sozusagen auf dem Papier. Da kommt wiederum der Lehrer und sagt: "Nun, hast Du das so gesehen? Ist es wirklich so rot?" "Ja, ja, das habe ich gesehen und gezeichnet!" - antwortet die Kleine. "Nun, aber da sieht man jetzt auf dem Papier nicht eine Kugel, das ist bloß so etwas wie ein Halt-Signal bei einer Bahn: rote Fläche mit weißem Ring." Um die Situation zu klären, kehrt man wiederum zur erlebten Ansicht zurück, die man sich zunächst nicht klar zum Bewußtsein gebracht hat. Dann findet man natürlich, daß der angebliche Kreis im Innern doch vielfarbig ist, d.h. er ist zwar rot, wird aber auf verschiedene Weisen "beschattet": Er ist von dieser Seite dunkelrot; und von

97

V.d.Hg. statt Man kann aber das so zunächst fassen, dann sieht man nicht die rechteckige, sondern die schräge Linie usw. Das ist die Ansichtsform, die in sich eine nicht rechteckige Gestalt enthält und das wahrgenommene Ding hat eine rechteckige Gestalt.

144

Fünfte Vorlesung

jener Seite her ist er nicht beschattet, sondern gerade beleuchtet, da ist er hellrot; das Rot schlägt durch, durch den Schatten und durch die Beleuchtung. Es gibt da noch etwas: Es glänzt; diese Kugel ist glatt, also glänzt sie an einer Stelle; und dann, das ist eine rote Kugel, sagen wir, sie hat eine ganz bestimmte dreidimensionale Gestalt, und liegt sie z.B. auf einem Feld, wo es gelbe oder grüne Gegenstände gibt, dann gibt es jetzt wiederum etwas Neues; es gibt, wie man sagt, "Reflexe"; also da ist etwas "grünlich" oder "violett" usw. Wenn man das jetzt im Bild rekonstruieren soll, muß man viele Farben benutzen und die Farbenflecken entsprechend auf dem Papier verteilen; aber dann sieht man nicht einen roten, flachen Kreis, sondern eine Kugel; diesen Kreis kann man zwar auf dem Papier auch sehen, aber dann ist er vielfarbig. Man kann sich zu der Zeichnung auf dem Papier auf doppelte Weise einstellen: Entweder sieht man einen Kreis, einen flachen Kreis, der mit verschiedenen Farben künstlich bedeckt ist, oder eine kugelige Gestalt, die in dieser Tönung einfarbig ist. Wir können wiederum die Ansicht von einer roten Kugel und die wahrnehmungsmäßig gegebene Kugel, die eintönig und kugelig ist, einander gegenüberstellen. Die eintönig "rote" Kugel wird aber als von einer Seite beleuchtet und glatt gesehen, während sie von der anderen Seite beschattet ist. Das wird in der Wahrnehmung auch gegeben. Und jetzt ist noch etwas zu beachten! Wenn diese Kugel auf dem Billiardtisch rollt, so entfernt sie sich von mir, und ich sehe, wenn ich sie wahrnehme, trotzdem immerfort dieselbe gleich große Kugel. Wenn ich sie aber mit einer Kamera aufnehmen würde, dann würde es sich zeigen, daß die Kugel in den späteren Aufnahmen immer kleiner erscheint. [Wenn ich von der Wahrnehmung der sich entfernenden Kugel zu den dabei kontinuierlich erlebten Ansichten übergehe]28, dann finde ich, daß in ihnen die Größe der Kugel immerfort verändert wird; sie wird immer kleiner und ist ganz klein geworden, wenn sie ein paar Meter von mir entfernt liegt. Die Photographie rekonstruiert da mit Hilfe von technischen Mitteln die momentanen Ansichten. Das hat uns die Malerei und besonders der Impressionismus gelehrt, wie mannigfaltig hinsichtlich Farbe, Intensität, Licht, Beweglichkeit usw. all das ist, was wir bei einer visuellen Wahrnehmung eines Dinges als seine wandelnden Ansichten erleben. Das Merkwürdige ist, daß man ein (typisches) 28

V.d.Hg. stall Wenn ich in der Kontinuität der bei der Wahrnehmung der sich entfernenden Kugel zu erlebten Ansichten übergehe.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

145

impressionistisches Gemälde doppelt interpretieren kann. Man kann es sehen als eine flache Oberfläche mit verschiedenen "Flecken", ohne dabei "Gegenstände" zu sehen, oder man kann eben diese "Flecken" sozusagen als Ausgangspunkte für eine besondere Wahrnehmung nehmen und dann durch diese Mannigfaltigkeit von verschiedenen Farben "Dinge" sehen. Die alten Maler haben gewissermaßen sofort Dinge in ihren objektiven Eigenschaften gemalt, wobei sie natürlich gezwungen waren, gewisse Ansichten im Bilde zu rekonstruieren; die Impressionisten indessen rekonstruieren im Bilde in erster Linie nicht Dinge, sondern Ansichten, und zwar (oft) noch etwas weiter zurück, nämlich nicht Ansichten, die schon einen gegenständlichen Sinn haben, sondern Farbendaten, die den von uns erlebten "Empfindungsdaten" entsprechen. Sie rekonstruieren also nicht so etwas wie diese Gestalt da, die nicht rechteckig, sondern trapezoid oder rhomboid ist. Das, was sie da mit Hilfe von technischen Mitteln rekonstruieren, was sie in einem physischen Ding, auf der Leinwand, mit Farbenpigmenten hervorbringen, wird zu dem Zwecke gemacht, daß wir als Betrachter etwas erfassen, was sozusagen hinter oder unter den Ansichten noch versteckt ist, und was wir uns da noch nicht zum Bewußtsein gebracht haben, das nämlich, was man heute, Husserl folgend, "Empfindungsdaten" nennt. Aber das sind nicht die Flecken, die objektiv auf dem Papier da sind, nicht die Farbenflecken da; nein, das ist sozusagen eine untere, lebendig erlebte, an sich quasi versteckte, fließende Mannigfaltigkeit von farbigen Daten, die m.W. nach den Impressionisten als erster Henri Bergson beschrieben hat, die "données immédiates de la conscience", wie er im Jahre 1889 sagte. Später hat er sie in dem Buch Matière

et mémoire29

als "continuité hétérogène" beschrieben. 3 0

Manchmal spricht er auch von "sensation". Er sagt "continuité", aber zugleich "continuité hétérogène". Denn es gibt keine Abgrenzungen zwischen den einzelnen Daten, Farben, "Abschattungen", wie Husserl später sagt. Es ist alles irgendwie verschwommen, bzw. alles fließt zusammen. Es gibt höchstens das, was Husserl 3 1 "Sprung in der Qualität" nennt; aber es gibt da keine Konturen, keine Vielheiten von abgegrenzten Elementen. Es ist

29

Vgl. Vorlesung I, Anm. 83.

30

Vgl. Ingarden ( 1921a), 287-303.

31

Vgl. Husserliana 31).

XI (hrsg. v. M. Fleischer). Den Haag 1966. 117-148 (besonders §§ 29;

146

Fünfte Vorlesung

ein Ganzes, das Feld der z.B. jetzt von mir erlebten Empfindungsdaten, von denen ich, sobald ich Sie da sehe und den ganzen Saal sehe, gar nichts explicite (thematisch) weiß. Ich habe auf sie nicht geachtet; wenn ich dieses Ganze fassen will, dann verschwindet mir der ganze Saal, die da anwesenden Menschen verschwinden mir, auch die Ansichten mit ihrem besonderen (gegenständlichen) Sinne. Bei jedem Akt, in jeder Ansicht gibt es so eine letzte qualitative Gestalt, und das sind die sogenannten Empfindungsdaten, die sich stets wandeln. Auf welche Weise entdecke ich sie eigentlich, wenn ich keine besondere Analyse mache? Auf die Weise, daß, wenn ich z.B. jetzt ganz ruhig in den Saal blicke und die Anwesenden erblicke, und dies eine gewisse Zeit dauert, dann etwas Merkwürdiges geschieht. Das, was ich jetzt erlebe, beginnt unkonstant zu werden; es ist in jedem neuen Augenblick schon etwas verändert, und vor allem ändert sich die Intensität der gerade erlebten Daten; es vollzieht sich auch immer irgendwelche qualitative Wandlung im Feld der Daten; ich kann die ganze Zeit meine Augen und meinen Kopf unbewegt halten, das Erlebte ist aber immer im Fluß, und es spricht mich beim Wahrnehmen mehr oder weniger an. Manchmal verschwindet es ganz, und manchmal zieht es mich doch an. Wenn ich z.B. am Steuer eines Autos sitze und plötzlich leuchtet irgendetwas rechts auf und bewegt sich, dann gucke ich hin. Das aber heißt: Schon früher hat sich im Feld meiner Empfindungsdaten etwas verändert, das mich "angezogen" hat; folge ich dem, so muß ich jetzt das wahrnehmen, was mich früher auf eine merkwürdige Weise nur berührt hat. Dann merke ich, das es die Lampe ist, die sich schon einen Augenblick "nahte". Sobald ich Dinge sehe, sind sie für mich abgegrenzte Ganzheiten. Es gibt z.B. so und so viele Bänke in diesem Saal, so und so viele Damen und Herren usw. Dies wird von mir freilich nicht besonders geschieden; es gibt sich mir von selbst als abgegrenzt, der Herr soundso und die Frau soundso, die Bank, die Stühle, das Stück Papier ... Und wenn ich (nur) schon zu den Ansichten zurückgehe, dann sind auch sie noch irgendwie abgegrenzt. Also z.B. diese Gestalt, die nicht rechteckig, sondern gerade rhomboid oder gar rund ist. Wenn man dies im Bild rekonstruieren will, kann man es auf verschiedene Weise machen: Ich schreibe da z.B. Konturen ein oder tue es nicht, sondern bringe Kontraste in der Qualität hervor, so daß sich das Eine von dem Anderen doch abgrenzt, und sich die neue Gestalt, die erlebt wird, für mich konstituiert. Wenn ich

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

147

nun aber versuche in das Feld meiner ursprünglichen Daten, zu den Empfindungsdaten, zurückzudringen, um sie irgendwie zu fassen, dann zeigt es sich, daß sie alle zusammen ein Feld bilden, daß es ein Ganzes ist. Es ist eben "continu": Es gibt gar keine Abgrenzungen, und es ist nichts Konstantes da; alles ist wie im Fluß, ist immer neu, bewegt und wandelt sich ständig. In dieser Situation entstehen jene großen Fragen, die in der Neuzeit im Grunde zuerst Kant aufgeworfen hat. Denn auch Kant hatte diese Empfindungsmannigfaltigkeiten entdeckt. Nur daß (er) dabei (stecken) bleibt, daß uns Dinge affizieren, und wir in Folge dieser Affektion Empfindungsmannigfaltigkeiten haben. Und dann kommt sozusagen der liebe menschliche Geist,

der

über

besondere

Formen

verfügt, um

die

Empfindungs-

mannigfaltigkeiten in sie zu fassen. Es sind nämlich Raum und Zeit, die beiden Anschauungsformen, in welche die Empfindungsdaten hineingewälzt werden sollen. Außerdem gibt es das System der Kategorien, die eine weitere Formung des gelieferten Materials durchführen. Auf diese Weise kommt man von den einfachen, ursprünglichen Daten zu den "Erscheinungen" im Sinne Kants. Diese "Erscheinungen" sind bei Kant einfach die anschaulich gegebenen Dinge. Kant sollte im Sinne seiner Theorie sagen: Im ursprünglichen Feld der Empfindungen (im Kantischen Sinne) gibt es gar keine räumliche Struktur, gar keine zeitliche Struktur und gar keine kategoriale Formung. Und wenn Kant die transzendentale Deduktion der Kategorien durchführt, sollte er auf dieses Gebiet zurückgreifen, wo Empfindungsdaten noch "rein" sind, wo es noch gar keine Kategorien gibt, gar keinen Raum, keine Zeit, weil das alles nach Kant "subjektiv", a priori ist. Und von da aus erst sollten die "Kategorien" "deduziert" werden. Aber Kant kann das nicht machen; er kann in dieses formlose Gebiet der Empfindungen nicht vordringen, weil seine eigene Theorie der Notwendigkeit der apriorischen Formen dies ihm verbietet. Er kann gar keinen Zugang zu den ursprünglichen Daten gewinnen, weil der Notwendigkeitscharakter der apriorischen

Formen

dies

unmöglich

macht. 32

Wir

müssen

das

Empfindugsmaterial sozusagen sogleich in der Zeit- und Raumfonm und in den Kategorien fassen; es ist unmöglich, dieses Material in reiner Gestalt zu bekommen. Worin liegt der von Bergson unternommene Schritt zur Befrei-

32

Vgl. Ingarden (1921a), 398-401.

148

Fünfte

Vorlesung

ung aus diesem Käfig? Bergson sagt: Diesen Schritt kann ich ohne weiteres machen. Denn die Kategorien sind keine mit dem Erkennen überhaupt notwendig verbundene "apriorischen" Formen. Es gibt auch keine notwendigen "apriorischen" Anschauungsformen des Raumes und der Zeit. Ich kann zu den ursprünglichen Daten, zu der fließenden "continuité hétérogène" vordringen, ich kann die "données immédiates de la conscience" erreichen. Und der ganze, eventuell noch vorhandene Rest, das sind gar keine

apriorischen

Formen. Es sind lediglich Strukturen des Intellektes, der Intellekt aber ist relativ. Worauf? Auf die Handlung. Der "Intellekt", das ist jene Macht in mir, die die Welt, mit der ich ursprünglich verkehre, das heißt die Welt der "données immédiates", durch eine handlungsrelative Formung verwandelt und verfälscht. Die wirkliche, echte Wirklichkeit, das ist der Strom der reinen Daten, der ursprünglichen Daten in der reinen Dauer. Und dann gibt es jene Theorie des Intellekts, die Bergson in Matière et mémoire33

durchge-

führt hat, und zwar ohne jede Metaphysik, wie das später in der L'évolution créatrice34

der Fall ist. Unter anderem gibt es bei Bergson sehr geistreiche

Analysen des Überganges von der "perception pure" zur "perception concrète". "Perception pure", das ist eben [jener Zustand] 35 , in dem ich nur die fließenden "sensations" habe und an gar keiner Handlung interessiert bin. Ich höre auf, ein Handlungszentrum zu sein, kehre zur ursprünglichen Wirklichkeit (im Sinne Bergsons) zurück und kann dann die "données immédiates" erleben und nachher auch verfolgen, wie ich von ihnen zur konkreten Perzeption und zu den wahrgenommenen Dingen komme. "Dinge", das sind nach Bergson nichts anderes als gewisse Gebilde, die durch Schemata der Handlung geformt sind. Diese Schemata, insbesondere der homogene Raum und die Kategorien, sind nur intellektuelle Formen, die in Bezug auf die Handlung relativ sind. Sie werden auf die ursprüngliche, fließende Wirklichkeit aufgeworfen und deformieren sie. Da sie aber nicht "a priori", sondern in Bezug auf mögliche Handlungen relativ sind, so sind sie prinzipiell beseitigbar. Wenn man reine, uninteressierte Erkenntnis haben will, muß man diese Schemata von sich abschütteln. Und dann kehrt man zur reinen Dauer, zur "continuité hétérogène" der ursprünglichen Daten zurück.

33

Vgl Vorlesung I, Anm. 83.

34

H. Bergson, L'évolution créatrice, Paris 1907,

35

V.d.Hg. statt diejenige Situation.

,4

^1969.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

149

Die Bergsonsche Theorie des Intellekts und der Handlungsrelativität der "Kategorien" ist nicht haltbar, wie ich das in meiner Abhandlung Intuition und Intellekt bei H. Bergson zu erweisen suchte. 36 Die Entdeckung der "données immédiates" besteht aber zu Recht, sowie auch eine Reihe von Beschreibungen, welche Bergson von ihnen gibt. Und da entsteht das wichtige Problem: Sind die ursprünglichen Empfindungsdaten, zunächst im Gebiet der visuellen Wahrnehmung, in jedem Sinne vollkommen unausgedehnt, wie sie es sein müßten, wenn Kant darin recht hätte, daß der Raum eine apriorische Anschauungsform ist? Auch diejenigen, welche die sogenannten "Empfindungen" für etwas "Bewußtseinsmäßiges" halten und zugleich jegliches Bewußtsein als schlechthin unausgedehnt betrachten, müssen sich für die Unausgedehntheit der ursprünglichen, "unmittelbaren" Daten erklären. Demgegenüber sagt Bergson - und dasselbe ließe sich im Sinne Husserls behaupten, nur daß bei ihm eine etwas andere Beleuchtung des Problems vorhanden ist -: Es gibt "une étendue concrète de la sensation"; es gibt eine konkrete Ausdehnung, ein Sichdehnen der ursprünglichen, erlebten Daten. Aber "Raum" - "c'est l'espace", der homogene Raum -, dies ist eine intellektuelle mathematische Konstruktion, ein abstraktives Gebilde, das sich aus den Grundtendenzen der intellektuellen Erkenntnis ergibt. Er ist in den ursprünglichen "données immédiates" einfach nicht vorhanden. Das wirklich Erlebte, diese (unmittelbaren) Daten, sind trotzdem "étendues", sind demzufolge doch ausgedehnt, haben eine ursprünglich Ausdehnung. 37 Nun, Husserl sagt ungefähr dasselbe, obwohl er Bergson gar nicht kannte, [die ursprünglichen Empfindungsdaten also unabhängig von ihm beschrieben hat] 38 . Von zwei verschiedenen Philosophen wurde also dasselbe entdeckt. Und wie steht es bei den ursprünglichen Empfindungsdaten mit der Zeit? - Natürlich, würde Bergson (und auch Husserl) sagen, sind diese Daten nicht in der Zeit (le temps), gemeint: in der konstituierten homogenen Zeit. Nach Bergson ist übrigens die homogene Zeit dasselbe wie der homogene Raum, bloß daß sie ein eindimensionales continuum ist, während der Raum

36

Vgl. Ingarden (1921a), 423-461 (zur Kritik an Bergsons Theorie des Intellektes) bzw. 398423 (zur Kritik an Bergsons Theorie der Kategorien).

37

Vgl. dazu Ingarden ( 1921 a), 287-295.

38

V.d.Hg. stall er hat sie selbst beschrieben.

150

Fünfte

Vorlesung

(l'espace) ein mehrdimensionales, mathematisch bestimmtes continuum ist. In den [ursprünglich erlebten Daten] 39 gibt es diese mathematisch bestimmte, homogene Zeit nicht. Die ursprünglichen Daten indessen "dauern"; es ist die ursprüngliche Dauer, "la durée pure" im Sinne Bergsons, um die es sich hier handelt. Die ursprünglichen Daten ziehen sich in gewissem Sinne in der Dauer hin. Wenn ich sage: sie "ziehen sich" in der Dauer hin, so ist das vom Standpunkt Bergsons schon eine gewisse Verfälschung (der unmittelbaren Erfahrung). Denn wo von einem "Hinziehen" die Rede ist, wird nach ihm schon irgendwie ein Raummoment eingeführt, während "la durée pure" gar nicht "extendiert" ist. Und auch bei Husserl ist das ursprüngliche, innere Zeitbewußtsein, wie er sagt, nicht "étendu"; es ist nicht "extendiert", es gibt da keine "Dimension". 40 Wo aber Bergson außerhalb der reinen Dauer nur die "Zeit" (le temps) im Sinne eines eindimensionalen homogenen Kontinuums sieht und sie mit dem "Raum" (l'espace) identifiziert, unterscheidet Husserl neben dem ursprünglichen inneren Zeitbewußtsein die "konstituierte", erfüllte, qualitativ bestimmte Zeit einerseits und die "physikalische", mathematisch bestimmte, kontinuierliche und leere Zeit, die Zeit der physikalischen Geschehnisse andererseits. 41 Die "erfüllte", qualitativ bestimmte Zeit ist die Zeit der konstituierten Erlebnisse und auch der konkreten, in der äußeren Wahrnehmung gegebenen physischen Geschehnisse in der realen Welt. Nur die ursprünglichen Empfindungsdaten, die aller Konstitution der inneren und äußeren Geschehnisse zugrundeliegen, sind von der konstituierten,

"erfüllten" Zeit frei. Sie "dauern" trotzdem - gerade so, wie es

Bergson behauptete. Es gibt aber ein ursprüngliches, primitives "étendue", "Sichausdehnen". Davon z.B. bei ursprünglichen, visuellen Daten zu sprechen, hat einen guten Sinn. Es macht auch Sinn, bei den akustischen Daten von einer gewissen "Dehnung" zu sprechen. Und auch die taktuellen Daten sind nicht so ganz ohne jede Spur der Ausgedehntheit. Und so macht es guten Sinn zu sagen, daß diese Daten eben "dauern" und im Dauern sich auf eine ganz bestimmte Weise ständig verwandeln, auftauchen, aktuell werden und abklingen. Ich werde darüber noch sprechen. 42

V.d.Hg. statt ursprünglichen Erlebnissen. 40

Vgl. z.B. Husserliana

41

Vgl. Husserliana

42

Vgl. unten Vorlesungen IX und X.

X (hrsg. v. R. Boehm), Den Haag 1966, §§ 35; 36.

X (hrsg. v. R. Boehm), Den Haag 1966, § 34.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

151

Wie aber steht es im Gebiet der ursprünglichen Empfindungsdaten mit den Kategorien? - Nicht alle zwölf Kantischen Kategorien sind wirklich formale Strukturen. In der "Tafel" der Kategorien ist nicht alles in Ordnung. Es werden verschiedene angebliche "Kategorien" genannt, die gar keine Kategorien, also ursprüngliche gegenständliche Formen sind. 43 So ist z.B. die Realität gar keine "Kategorie". Sie ist vielmehr eine bestimmte Seinsweise, die in der existentialen Ontologie aufzuklären ist, nicht aber eine formale Struktur. 44 Und "Notwendigkeit" ist auch keine "Kategorie", keine ursprüngliche gegenständliche Form. Aber lassen wir das hier! Gibt es im Gebiet der ursprünglichen Empfindungsdaten gar keine "Form"?

Also

z.B.

gar

kein

"Subjekt-von-etwas-sein",

"Bestimmtheit-von-etwas-sein", gar keine "Identität"?

45

gar

keine

Das würde Bergson

behaupten, da er das Vorhandensein jeglicher "Form" in der Sphäre der reinen Dauer leugnet. Ich möchte mich hier nicht weiter damit auseinandersetzen (und entwickeln), was ich dazu meine. Ich habe darüber einst in meinem Buch über Bergson eine Diskussion geführt und behauptet, daß Bergson am Ende doch im Widerspruch mit sich selbst ist und dazu noch eine petitio principii begeht. 46 Es ist nicht möglich, in diesem Feld der ursprünglichen Daten die Kategorien zu leugnen. Tut man es, dann macht man einfach einen Fehler. Aber dies ist vielleicht meine private Meinung. Wie es damit steht, ist (somit) ein (offenes) Problem. Husserl hat sich darüber, wie es bei den Empfindungsdaten mit den Kategorien steht, nicht geäußert. Er hat gegen die These meiner Diskussion zwar nicht protestiert, hat mein Buch als Doktorarbeit angenommen. Er hat das aber vielleicht nur als Lehrer getan, der dem Schüler Freiheit läßt. Die kategoriale Formung der ursprünglichen Empfindungsdaten lassen wir also als ein Problem stehen. Es gibt aber noch ein anderes, prinzipiell wichtiges Problem. Es fragt sich nämlich, in welcher Beziehung diese ursprünglich erlebten Empfindungsdaten, die hinter oder am Untergrund der fließenden Ansichten doch irgendwie für mich da sind, zu meinen Bewußtseinsakten und zu mir selbst stehen. Nun, bei Kant war die Sache erledigt: Die Empfindungen - das sind

43

Vgl. Ingarden (1921a), 399 f.; (1965a), Kap. VII, besonders § 35.

44

Vgl. Ingarden (1964c), 58-62; 256-264.

45

Zu diesen "Formen" vgl. Ingarden (1965a), §§ 39, 41 und 42; (1965b), Kap. XIV.

46

Vgl. Ingarden ( 1921 a), 398-423.

152

Fünfte Vorlesung

Effekte der Affizierung durch die Dinge an sich. Sie sind subjektiv, sind irgendwie im Bewußtsein im Sinne Kants (enthalten). Wie es damit für Bergson stand, ist sehr schwer zu sagen. Natürlich "la continuité hétérogène" der "sensations", das ist die letzte ursprüngliche Wirklichkeit, und zwar, wie es scheint, "de la conscience". Bergson hat aber im Grunde gar keine Intentionalität des Bewußtseins, gar keine dieser Art "Akte" eingeführt, von denen ich gleich sprechen werde. So kann man nicht sagen, wie das bei ihm eigentlich ist: Ist diese "continuité hétérogène" der "données immédiates", also die ganze Mannigfaltigkeit des in meinem Leben "Empfundenen", dasjenige etwas, was ich selbst bin? Oder ist das etwas, was ich einfach nur vorfinde, irgendwie dazu komme, sie eben "empfinde", während ich selbst nicht diese Mannigfaltigkeit der "données immédiates" bin? Um diese Frage etwas konkreter zu fassen, muß ich zunächst ein paar Worte über Akte sagen. Ich werde dies, wenn Sie es erlauben, anhand der folgenden Zeichnung tun. 47

Ich (1)

(8) πΓ (5) Akt-Intention ( 2 ) (6) ( 6 ) " D u r c h l e b e n " des Aktes im Akt selbst enthalten bei Kant: "Selbstbewusstsein" bei Brentano: "inneres B e w u s s t s e i n "

das Ding (Gegenstand) (3) -H (4) Ansicht (Abschattung) -H (7) Empfindungsdaten"

(5) Erleben der Ansichten; (8) das "Empfinden" der "Empfindungsdaten"; Besondere Struktur des Aktes: (2)+(6) Das Ding (3) wird "gegeben"; Ansichten (4) werden "erlebt" (5); Akte werden vom Ich "durchlebt" (6)

Das ist natürlich nur eine figürliche Repräsentation von etwas, was da wirklich vorhanden und gar nicht "figürlich" ist - die ursprüngliche Struktur des

Für die folgenden Ausführungen vgl. besonders Ingarden (1965a), 174-210.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

153

Wahrnehmens. 48 Wenn ich wahrnehme, ist mir ein Ding gegenwärtig, gegeben. Ich vollziehe den Akt (der Wahrnehmung), aber ich achte nicht auf meine Wahrnehmung, ich vollziehe sie nur. Um aber Dinge sehen zu können, muß ich da eine Abschattung, d.h. eine Ansicht (4) erleben, die mir nicht gegeben ist, wenn das Ding gegeben ist, welche für mich aber doch nicht überhaupt verschwindet. Ich muß doch irgendeinen Zugang auch zu [Ansichten]49 haben. Ich unterscheide also: ein Ding (3) wird gegeben und eine Abschattung (4) wird erlebt. Dieses Erleben (5), das ist sozusagen eine zweite Form, eine zweite Weise des Bewußtseins beim Wahrnehmen. Es ist nicht Treffpunkt einer Intention. Treffpunkt einer Intention - ist das Ding, eventuell eine Eigenschaft des Dinges usw. Die "Ansicht" ("Abschattung") wird mir aber doch irgendwie gegenwärtig, anwesend; ich werde davon irgendwie berührt. Gemeint ist z.B. jene früher erwähnte Gestalt des Rhomboids, wenn ich ein Rechteck im Räume sehe. Und dahinter gibt es jetzt jene fließende Mannigfaltigkeit von Daten (7), die ich schon nicht mehr im selben Sinne wie die Ansichten "erlebe", sondern die ich - wenn Sie mir diese Redeweise erlauben wollen - "empfinde" (8). Dabei werde ich - wie Husserl sagt - durch diese Daten auf ganz bestimmte Weise irgendwie "affiziert", "berührt". Ich werde "affiziert" und infolgedessen wende ich mich ihnen zu, vollziehe aber dann sogleich einen Wahrnehmungsakt. Und da hat sich mir sofort irgendeine Ansicht konstituiert, und dann sehe ich das Ding und erfasse es in seinen Eigenschaften und nicht die Empfindungsdaten (noch die Ansichten). Wenn ich eine Gegebenheit der Empfindungsdaten erzielen will, dann muß ich eine Reflexion vollziehen oder eine Analyse durchführen, so wie ich das jetzt tue. Dann aber deformiere ich bis zu einem gewissen Grade den ursprünglichen Fluß der empfundenen Daten. Das Empfinden (8) der ursprünglichen Daten ist nicht dasselbe wie die Intention (2), in der ein intentionaler Gegenstand gegeben wird. Der intentionale Gegenstand, das ist das Gegebene, (das Ding;) und was da bloß "empfunden" wird, ist irgendwie neu für mich, gerade weil es auf eine ganz bestimmte Weise empfunden und nicht als Wahrgenommenes vermeint wird. Ja - so wird man mir einwenden

48

Anstelle der Legende folgt im T y p ^ eine kurze Erklärung der Skizze. Die Numerierungen fehlen im Typ A und werden hier aus der polnischen Ausgabe von Poltawski bzw. aus Typg übernommen.

49

V.d.Hg. stall der Ansicht.

154

Fünfte Vorlesung

-, und warum darf man sagen: Es gibt da einen Akt des Wahrnehmens, einen Akt des Aufmerksamseins, des Sich-auf-etwas-richtens? Das ist (doch) wiederum eine Konstruktion, die durch keine Intuition belegbar ist. Darauf kann ich antworten: Dieser Akt und auch dieses Empfinden ist wiederum etwas, wovon ich wissen kann, ohne zu reflektieren, ohne reflektieren zu müssen! Ich kann natürlich darauf reflektieren, ich kann nämlich da auf diesen Akt einen neuerlichen zweiten Akt richten, das heißt "Reflexion", wenn Sie wollen, "Introspektion" vollziehen. Diese "Reflexion", das ist die "immanente Wahrnehmung", von welcher Husserl spricht, und wir werden sofort darauf eingehen. Aber dann ist das Ganze, nämlich der Akt, welcher ein so bestimmets Ding trifft und zugleich Ansichten erlebt und ursprüngliche Daten empfindet, dieses Ganze ist jetzt Korrelat eines neuen Aktes, den man "innere" oder besser "immanente" Wahrnehmung nennt. Da gibt es - wie Husserl selbst sagt - eine ganz bestimmte Spaltung zwischen dem vollzogenen Akt, der das Ding erfaßt, und dem reflektierenden Akt der immanenten Wahrnehmung. Ja, und an diesem Punkt entfacht sich jetzt der Streit zwischen dem Neukantianismus und Husserl. Wie ist das mit dem Ich? Wenn ich so eine Reflexion vollziehe, dann verschwindet mir gewissermaßen das Ich, das den Akt, auf welchen die Reflexion gerichtet ist, vollzieht; dann befinde ich mich schon irgendwie auf einem anderen Niveau, und ein anderes Ich wendet sich reflektierend auf dieses Ich da, obwohl die Tendenz des Ich dahin geht, in der Reflexion sich selbst zu erfassen. Angesichts dieser Sachlage sagen die Neukantianer: Das Ich, das reine Ich ist überhaupt nicht erfassbar. Bei allen Versuchen es reflexiv zu erfassen, entschwindet es. In der Reflexion wäre nicht das (reflektierende) Ich, sondern nur ein besonderer Gegenstand gegeben: das gewesene Ich, das z.B. die äußere Wahrnehmung vollzog, auf welche sich die Reflexion richtet. Das echte reine Ich, dasjenige, das eben die Reflexion vollzieht, muß nur vorausgesetzt werden; es ist in seiner ich-haften Position und Funktion jedoch nie zu erfassen. Eine entgegengesetzte Auffassung vertritt Husserl seit der zweiten Auflage der Logischen

Untersuchungen

(und später), wo er behauptet, daß es

möglich sei, das reine Ich zu erfassen, ohne es seiner eigenen Funktion und Stellung zu berauben. 50 Wie aber kann man das wissen? Es· kann natürlich 50

Vgl. dazu Husserliana XIX/1 (hrsg. v. U. Panzer), Den Haag 1984, 372-376 sowie E. Marbach, Das Problem des Ich in der Phänomenologie E. Husserls, Den Haag 1974.

Elemente

einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

155

gesagt werden, und das hat einst auch Brentano vorgeschlagen, daß es das sogenannte "innere Bewußtsein" gäbe, welches in unserer Sachlage behilflich sein kann. Es ist aber nicht ganz klar, was Brentano darunter verstand. 51 Solange aber dies nicht geklärt wird, bleibt die Frage, woher ich es denn weiß, daß ich jetzt so ein Doppelleben führe, daß ich einerseits diesen Akt vollziehe und das Ding wahrnehme, und andererseits zugleich darauf reflektiere. Woher weiß ich das? Nun, man antwortet darauf, daß ich noch eine neue immanente Wahrnehmung vollziehen kann, welche sozusagen die Gesamtsituation erfaßt. Und wenn ich dann noch Zweifel habe, ob ich diese meine Wahrnehmung wirklich vollziehe, dann rufe ich eine weitere immanente Wahrnehmung zur Hilfe, die sich auf die Wahrnehmung des Wahmehmens des Wahrnehmens usw. richtet. So erhalten wir einen schönen Regressus ins Unendliche. Und da kann ich wirklich nicht mehr sagen, ob ich das alles wirklich auf Grund einer Wahrnehmung weiß, oder ob ich das nur so (theoretisch) konstruiere. Ich gebe zu, daß es so etwas wie eine "immanente Wahrnehmung" gibt. Das leugne ich gar nicht; sie kann vollzogen werden, schwierig, aber es geht. Aber brauche ich das? Brauche ich das wirklich um zu wissen, daß ich etwas erlebe? Ehe ich diese "innere", diese "immanente" Wahrnehmung zu vollziehen beginne, da lebe ich früher schon bewußt; meine immanente Wahrnehmung verspätet sich in gewissem Sinne, sie faßt etwas, was schon vorbei ist. In gewissem Sinne ist sie bloß etwas wie ein Nachklang. Ja, woher weiß ich es, daß ich vor dem Moment, wo ich zu reflektieren beginne, schon bewußt gelebt habe, [ohne mich auf mich selbst zurückgewandt zu haben] 52 ? Ich brauche nicht auf mich zu reflektieren, ich brauche gar keine immanente Wahrnehmung zu vollziehen, ich kann darauf verzichten. Denn dieser Akt da, der erste Akt des Wahrnehmens, das ist eine schon ganz besondere Weise zu leben, ein Sichselbstdurchdringen. Das schlichte bewußte Leben, z.B. ein äußeres Wahrnehmen, ist - abgesehen davon, daß es das Erfassen eines Dinges, das Erleben einer Ansicht (und das Empfinden von Daten) ist in sich selbst kein (bloßes) "Erleben" mehr, sondern ein "Durchleben" (6). In diesem sich selbst durchlebenden Leben ist keine Doppelheit enthalten. Es 5

'

Vgl. G. Kiing, "Zur Erkenntnistheorie von Franz Brentano", Grazer Philosophische 5(1978), 169-181.

52

V.d.Hg. statt und mich nicht auf mich selbst zurückwandte.

Studien

156

Fünfte

Vorlesung

ist das im echtesten Sinne Bewußtsein: "bewußt-sein", das heißt eben "bewußt leben", das heißt nicht "reflektieren", das heißt einfach "schlicht wissentlich leben". 53 Merkwürdigerweise gibt es in der deutschen Sprache einen Ausdruck dafür, den bereits Kant in dem hier in Frage kommenden Sinne verwendet hat, obwohl man nicht bemerkt hat, daß damit etwas Neues vermeint war. Und zwar spricht Kant davon sowohl in der ersten als auch in der zweiten, aber besonders in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Er verwendet das Wort 'Selbstbewußtsein'. Damit ist das gemeint, was ich hier "Durchleben" nenne. Kant sagt in der zweiten Auflage der transzendentalen Deduktion der Verstandesbegriffe: "Das 'Ich denke' muß jede meiner Vorstellungen begleiten können." 54 [Das ist cartesianisch gesprochen; bei Kant steht für "cogito" das "Ich denke". "Ich denke", "cogito", das heißt nicht] 55 , daß ich reflektiere, daß ich über mich eine Aussage mache, (sondern) einfach "cogito". Und "cogito" heißt "Selbstbewußtsein haben" nichts mehr. Und dieses "Selbstbewußtsein", das bei Kant auftaucht und mit Beziehung auf Descartes durch das "ich denke" ersetzt wird, das ist diese ursprüngliche Seinsweise des Bewußtlebens, das ist das "Sich-selbst-mit-einem-Wissen-Durchdringen". Es gibt gar keinen Akt, der nicht in diesem Sinne selbstbewußt wäre; würde ihm das fehlen, so würde er überhaupt nicht bestehen. Es gibt zwar heller und weniger hell durchlebte Akte, hellere uijd weniger helle Selbstbewußtseinsakte. Es gibt aber gar keine völlig "dunklen" Akte. 56 Die gibt es nicht, das ist überhaupt nicht möglich, denn dann [gäbe es überhaupt nichts für mich] 57 . Wenn Sie mir erlauben, jetzt wiederum einen Blick auf die philosophische Literatur zu werfen, so finden wir bei Bergson das schöne Wort

53

Vgl. Ingarden (1921b), 553-557, 560-565; Ingarden (1965a), 175 ff.; G. Kiing, "Zum Lebenswerk von Roman Ingarden. Ontologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik", in: H. Kuhn/E. Avé-Lallemant/R. Gladiator (Hg.), Die Münchener

Phänomenologie,

1975, 161 ff.; B. Smith, "The Ontology of Epistemology", Reports on Philosophy

Den Haag 11(1987),

58-62. 54

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 131 (Akademiepaginierung). Die Stelle lautet genauer: "Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können."

55

V.d.Hg. statt Das ist cartesianisch gesagt für "cogito". Steht das "Ich denke", "cogito", das heißt nicht,.

56

Vgl. Ingarden ( 1921 b), 556; 561.

57

V.d.Hg. statt gibt es überhaupt nichts.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

157

'l'intuition'. 'Intuition', das meint auf deutsch "Ein-sicht" oder "Ein-blick". Leider ist dieser Ausdruck sehr vieldeutig, und man kann auch nachweisen, daß er sehr vieldeutig ist. [Bei Bergson aber hat er einen ausgeprägten, ganz engen Sinn. 58 Gemeint ist derjenige Typus] 5 9 "de la conscience", welcher in der "reinen Dauer" eingetaucht ist und sich nicht "von außen" her im "statischen Aspekt" faßt. Die Intuition in diesem ganz engen Sinne, das ist nichts anderes als jenes Durchleben der eigenen Akte. Daneben hat 'intuition' bei Bergson noch einen anderen Sinn, gemäß dem das Haben der "continuité hétérogène des données immédiates de la conscience" gemeint ist, d.h. das Erleben der "Abschattungen" oder das Empfinden der letzten ursprünglichen Daten. Dem allem liegt aber "la conscience" zugrunde, eben das sichdurchlebende Bewußtsein, das "cogito" von Descartes. Denn Descartes braucht auch keine Reflexion auf "cogitationes" zu vollziehen, "cogito" - das ist alles. Deswegen kann er auch sagen: "cogito, ergo sum", denn [in diesem "cogito"] 60 ist die letzte Identität des spontanen Bewußt-Lebens vorhanden. 61 Was aber ist jetzt das Bewußtsein? Wie ist der Begriff des Bewußtseins zu bestimmen? Was ist die ursprüngliche Einheit des "cogito"? Denn die Einheit des "cogito" ist nur in momentanen Phasen da. Es entsteht somit ein neues und schwieriges Problem: Was ist die Einheit des "cogito" (und des "ego cogito") in der Zeit, und zwar in der ursprünglichen Zeit? Das kann ich hier nicht erörtern. Aber zunächst in einer Aktualität genommen: Was ist die ursprüngliche Einheit, das Ganze, was da zueinander gehört? Es sind verschiedene Lösungen möglich. Man sagt z.B.: Das Ganze ist doch nichts anderes als das, was in der "Intuition" im engsten Sinne, im Durchleben vorhanden ist, nämlich der Akt. Dann aber bleibt außer der Sphäre des Bewußtseins der Fluß der Empfindungsdaten, das ist das schon irgendwie Empfun58 59

Vgl. Ingarden ( 1921 a), 295-303. V.d.Hg. statt aber es gibt einen ausgeprägten, ganz engen Sinn dessen, was eigentlich "Intuition" ist. Das ist derjenige Typus.

60

V.d.Hg. statt da.

6

[Ingarden] "Cogito" - Lateinisch muß man nicht "ego cogito" sagen, denn das "ego" ist in

'

der grammatischen Form bereits enthalten. Der Deutsche muß sagen: "ich sehe", "ich erlebe", "ich denke", "ich freue mich" usw., weil er gewissermaßen schon gespalten ist. Im Lateinischen ist alles ganz einfach gesagt; im "cogito" ist das "ich" schon dabei und es kann nicht anders sein; das ist die ursprüngliche Einheit.

158

Fünfte

Vorlesung

dene, und auch die Ansichten, das ist etwas Erlebtes, und natürlich auch die wahrgenommenen Dinge. Dies alles ist freilich auch da, aber es ist schon nicht mehr in der ursprünglichen Einheit des "cogito" enfhalten. Oder man kann auch sagen: Dinge, das sind eben Dinge, das ist etwas außerhalb meines Bewußtseins, es ist dem Bewußtsein transzendent. Und wie steht es um die Empfindungsdaten und um die Ansichten? Man sagt gewöhnlich: Natürlich, sie sind etwas Subjektives, jedenfalls nichts Dingliches. Das Ding mit seinen Eigenschaften bleibt außerhalb dessen, was zum Bewußtsein gehört; es ist ihm transzendent eben im engeren Sinne, eine im Vergleich mit dem Bewußtsein zweite Einheit, ein zweites Sein. Ja, und wo soll man die Empfindungsdaten hinzurechnen? Husserl sagt, sie gehören zum Bewußtsein, sie sind "reeller Teil", "reelles Bestandstück" des Bewußtseins. 62 Die Empfindungsdaten bilden also nach Husserl mit dem Akt eine Einheit, eine ursprüngliche Einheit. Und die Ansichten (Abschattungen)? Die gehören natürlich auch zum Bewußtsein. Das ist schon eine Konsequenz daraus, daß man die Empfindugsdaten "im" Bewußtsein hat. Denn Ansichten sind nur das, was sich auf der Unterlage der Empfindungsdaten im Laufe der Erfahrung bzw. der fortlaufenden Wahrnehmung als ein (gegenständlicher) Sinn, als eine "Qualität" konstituiert. Die Ansichten wachsen sozusagen aus den Empfindungsdaten hervor. Wenn Empfindungsdaten in der ursprünglichen Einheit mit dem Akt zusammen sind, dann sind auch die Ansichten etwas, was zum Bewußtsein gehört. Ja, und was ist das Ding? Die Realisten, aber auch die natürlich eingestellten Menschen sagen: Das Ding ist außerhalb des Bewußtseins. Und Husserl sagt, es ist ein "cogitatum", ist also dem Bewußtsein gegenüber "transzendent". Zugleich aber sagt Husserl: Das "cogitatum" als "cogitatum" gehört zum "cogito", es ist untrennbar mit ihm "verbunden". Es ist notwendig da wie ein Schatten, wie eine Folge davon, daß wir die und die Ansichten von Etwas haben. Es ist der gegenständliche Identitätspol meiner Erfahrungen, das, worauf sie bezogen sind; es ist nur eine neue Schicht des konstituierten Sinnes. Das ist das Ding Anführungszeichen", wie Husserl oftmals in den Ideen I sagt.

63

"in

Als "cogita-

tum" ist es ein Dingnoema, ist somit zwar dem Bewußtsein gegenüber tran-

62

llngarden] 'Reell' heißt etwas anderes als 'real'. 'Reell' bedeutet soviel wie 'effektiv', 'echt'. '"Reeller" Teil des Bewußtseins' heißt also soviel wie '"effektiver" Teil des Bewußtseins'.

63

Vgl. z.B. Husserliana

II1/I (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 205 (§ 89).

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der

159

Wahrnehmung

szendent, ist kein reeller Teil desselben, aber es ist ein

notwendiges

"Pendant" dazu. Wenn die Erfahrung gut verläuft, ist es als "Pendant" von ihm nicht abtrennbar. Man kann es als Schatten sozusagen nicht fortschneiden. Wenn die Erfahrung anders verläuft und unstimmig wird, wenn im Verlaufe der fortschreitenden Erfahrung nicht alles (bzw. nichts) zusammenstimmt, dann "explodiert" es - wie Husserl sagt. 6 4 Dann gibt es natürlich auch kein Ding. Gibt es aber auch kein Dingnoema? Nun, es [wäre in diesem Fall zwar nur irgendwie unstimmig] 6 5 , aber doch vorhanden. 6 6 Ich muß natürlich später die verschiedenen Begriffe der Transzendenz zusammenstellen und fragen, in welchem Sinne da (bei dem wahrgenommenen Dinge) von "Transzendenz" gesprochen wird. Und wie Husserl Idealist bleiben kann, obwohl er gegenüber dem reinen Bewußtsein Transzendenzen annimmt. "Transzendenzen", das heißt Dinge, das heißt Kulturdinge, das heißt die Welt usw. Und trotzdem bleibt er Idealist. Um "Idealist" zu sein, braucht man also kein Immanenzphilosoph zu sein, wie man es öfters war. [Husserl ist kein Immanenzphilosoph und trotzdem ein Idealist, weil er einerseits die transzendenten Dinge als Korrelate, als intentionale Korrelate der Erlebnismannigfaltigkeiten anerkennt, sie anderseits aber zugleich für "untrennbar vom Bewußtsein" erklärt.] 6 7 Als ich im Jahre 1916 meine Abhandlung über Bergson schrieb, da hatte ich nach den Studien bei Husserl und nach der Lektüre der Bücher Bergsons den Zugang zu den ursprünglichen Empfindungsdaten bereits gefunden. Ich wußte, was sie sind, und ich wußte auch, daß Husserl sie für "reelle Bestandstücke" des Bewußtseins hielt. Fast während des ganzen Jahres 1916 habe ich darüber mit Husserl diskutiert und immer wieder die Frage gestellt: Wie ist das mit den ursprünglichen Daten? Sind sie "reelle Bestandstücke" des Bewußtseins? Das, was mir Husserl damals zugestanden hat, war nur dies: 6 8 64

Vgl. z.B. Husserliana

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 96 ff. (§ 46), 103 ff.

(§49). 65

V.d.Hg. stati ist dadurch bloß irgendwie unstimmig.

66

Zur historischen und systematischen Einordnung der hier skizzierten Husserl-Interpretation vgl. oben die Einleitung.

67

V.d.Hg. statt Husserl ist nicht Immanenzphilosoph und trotzdem ist der Idealist, weil er die transzendenten Dinge als Korrelate, als intentionale Korrelate der Erlebnismannigfaltigkeiten nicht bloß anerkennt, sondern sie zugleich für "untrennbar vom Bewußtsein" erklärt.

68

Vgl. Ingarden ( 1968a), 123-131.

Fünfte

160

Vorlesung

Nun ja, die Daten sind ich-fremd, sie sind nicht ich-lich. nicht ich-haft. Die Akte sind ich-haft, das heißt sie entspringen dem Ich, sie stammen von mir, von meinem Ich. Ein Akt ist wie eine Fontäne, die aus dem Ich hervorquillt. Die Empfindungsdaten dagegen haben nicht die Struktur des Ich-lichen, sie sind "ich-fremd". [Es ist etwas, was mich sozusagen bedrängt, es ist eventuell etwas, was nicht wie ein Akt durchlebt wird.] 6 9 Nein, die Struktur des ursprünglichen Bewußtseins haben die Empfindungsdaten nicht. In dem Sinne ist ein Datum kein Akt. Aber es ist doch ein reelles Stück des Bewußtseins, das ich habe. So ungefähr ist es in unseren Gesprächen geblieben. Ich konnte schon nichts mehr dagegen sagen. - Aber hat da Husserl wirklich recht? 7 0

V.d.Hg. slatt Es ist etwas, was mich sozusagen bedrängt, eventuell, es ist etwas, was nicht durchlebt wird. 70

Zu den grundsätzlichen Problemen, die Ingarden mit diesem "minimalen" Zugeständis von seiten Husserls hat, vgl. Ingarden (1968a), 123-131. Zu Ingardens Unterscheidung zwischen dem Durchleben von Akten, dem Erleben der ursprünglichen Empfindungsdaten (und der Ansichten) und dem gegenständlichen Vermeinen vgl. Ingarden (1921b) sowie besonders (1965a)174-210.

Sechste Vorlesung (20. Oktober 1967) (Elemente einer phänomenologischen Theorie der Wahrnehmung (III): Verschiedene Begriffe der Transzendenz) Meine Damen und Herren! Das, was ich Ihnen das letzte Mal über die Wahrnehmung der Dinge darzustellen versuchte, die - wie Husserl sagte durch oder in Abschattungen, in Erscheinungen, in Ansichten gegeben werden, und was ich da in einem Ausblick auf die fließenden Empfindungsdaten angedeutet habe - dies alles war natürlich nur eine erste Skizze der ganzen Sachlage. Und natürlich wurde da sehr Vieles verschwiegen und auch - wie Husserl sagen würde - mit einer gewissen "Vergröberung" der Situation, wie sie wirklich vorliegt, dargestellt. Zunächst läßt sich das nicht anders machen. Husserl hatte an diesen Tatbeständen und Vorgängen jahrzehntelang gearbeitet, um sie zu rekonstruieren und dabei nicht zu verfälschen, zunächst in der Beschreibung und dann in den Phänomenen, die sich auf Grund dieser Beschreibung ergeben. Ich kann dies alles hier nicht weiter entwickeln, weil ich Ihnen noch andere Probleme skizzieren möchte. Ich will Ihnen bloß noch sagen, wo man die Materialien dazu finden kann, falls Sie diese einmal lesen wollen. Zu nennen sind vor allem die entsprechenden Analysen, die sich an verschiedenen Stellen in Husserls Ideen I (1913) finden. In den Ideen I wurde allerdings ein ganzes Problemgebiet bewußt [beiseite gelassen] 1 . Ich meine die Sphäre des ursprünglichen Zeitbewußtseins: Wie sich die Erlebnisse im Zeitverlauf entfalten, einander motivieren usw. Korrelativ dazu jene fließende, sich

in

der

Zeit

entfaltende

Mannigfaltigkeit

von

Emp-

findungsdaten, von Empfindungsfeldem, wie es da [zur Konstituierung] von Ansichten kommt usw. Dies alles wird in Husserls kleiner Schrift behandelt, welche Heidegger unter dem Titel Vorlesungen zur gie des inneren Zeitbewußtseins3

Phänomenolo-

publiziert hat. Heute ist es umfangmäßig

allerdings kein kleines Buch mehr; es erschien unter demselben Titel vor einem Jahr als Band der Husserliana und umfaßt ungefähr 500 Seiten. Man findet in ihm noch andere, mit den genannten Problemen im Zusammenhang

V.d.Hg. stall verschwiegen. V.d.Hg. siati z u m Konstituieren. Vgl. Vorlesung I, A n m . 52.

162

Sechste

Vorlesung

stehende Deskriptionen der Konstitution der Zeit. Im Frühjahr dieses Jahres ist noch der zwölfte Band der Husserliana unter dem Titel Analysen zur passiven Synthesis4 erschienen. Aus vielen Manuskripten zusammengestellt bildet dieser Band den Versuch, Deskriptionen dazu zu geben, wie man die Empfindungsfelder in reiner Passivität aufnimmt, und wie dann aktiv irgendwie synthetisch Sinneinheiten gebildet werden, woraus dann am Ende die Erkenntnis, die Wahrnehmungserkenntnis [eines] 5 Dinges entspringt. Dieser Band, der natürlich keine Einheit darstellt, liefert eine Vielfalt verschiedener Manuskripte Husserls aus verschiedenen Zeiten, die aber unter sachlichen Gesichtspunkten zusammengestellt wurden. Er ist von den nach Husserls Tod publizierten Schriften vielleicht der bedeutendste Band. Natürlich ist er ziemlich schwierig zu lesen, weil da immer nur Fragmente gegeben werden, und weil in ihnen sehr tiefe Situationen zu entdecken sind. Der Band ist aber sehr lehrreich; für mich war seine Lektüre ein Erlebnis, obwohl ich diese Sachen schon seit vielen Jahren kenne. 6 Dies also wären in etwa Husserls Schriften, soweit sie sich auf die in der letzten Vorlesung angedeuteten Tatbestände beziehen. Es kämen dann aber noch zwei Arbeiten in Frage, die ich bereits erwähnt habe. Die eine stammt von Heinrich Hofmann: Untersuchungen

über den Empfindungsbegrijf1,

eine alte Arbeit aus

dem Jahre 1910, glaube ich, und dann zweitens eine ziemlich große Arbeit von Frau Hedwig Conrad-Martius, Zur Ontologie und 8

der realen Außenwelt .

Erscheinungslehre

Sie ist im Verlaufe des ersten Krieges im dritten

Band des Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung er-

schienen. Diese Arbeit wurde nicht abgeschlossen, ist also ein Torso; ob die weiteren Teile überhaupt geschrieben oder bloß nicht publiziert wurden, weiß ich nicht. Frau Conrad-Martius ist im Februar 1966 gestorben, vielleicht wird man noch manches dazu finden.9 Was vorliegt, ist eine Arbeit, die damals, im Jahre 1916 (geschrieben wurde sie bereits im Jahre 1913/14),

Vgl. Vorlesung I, Anm. 24. V.d.Hg. statt des. Vgl. oben die Einleitung d. Hg. Vgl. Vorlesung II, Anm. 35. Vgl. Vorlesung II, Anm. 44. Vgl. E. Avé-Lallemant, "Hedwig Conrad-Martius (1888-1966)-Bibliographie", für philosophische

Forschung 31(1977), 301-309.

Zeitschrift

Elemente

einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

163

im gewissen Sinne eine wirkliche Entdeckung des ganzen Gebietes der (ursprünglichen) Empfindungsdaten brachte und derart mit einer gewissen Genialität geschrieben ist, daß da dem Leser alles lebendig vor Augen steht. Dieses Buch ist heute noch nicht veraltet, obwohl es schon 5 0 Jahre alt ist, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie es einmal in die Hand nehmen könnten. In den bisherigen Vorlesungen habe ich zwei wichtige Themenkreise beiseite gelassen. Husserl spricht dauernd von dem Wesen der Wahrnehmung, dem Wesen eines Dinges, dem Wesen von Erlebnissen usw. Die ganze Phänomenologie ist - wie er sagt - eine eidetische (von

'eidos')

Philosophie, eine eidetische Wissenschaft. In diesen Zusammenhang gehört natürlich einerseits das Problem des Wesens, das Problem der Species bzw. des Eidos, und andererseits das Problem der Wesenserkenntnis. Ursprünglich hatte ich die Absicht, diesem Thema, (besonders) dem Thema der formalen und materialen Wesenserkenntnis oder - wenn Sie wollen - der "apriorischen" Erkenntnis, eine, vielleicht auch zwei Vorlesungen zu widmen. Aus Zeitgründen muß ich aber darauf verzichten. Denn das ganze "Wesensproblem" ist eine komplizierte Angelegenheit. Ich hätte es in zwei Schichten darstellen müssen. Einerseits so, wie [die Sache von Husserl behandelt wird] 1 0 ; [zweitens aber hätte ich, weil an Husserls Position sehr vieles unbefriedigend ist, selber noch einiges hinzuarbeiten müssen, um zu sehen, was man machen muß, damit] 11 die ganze Sache klar und unangreifbar ist - wenigstens in gewissem Sinne und in gewissen Grenzen. Zu dieser Problematik will ich hier also nichts mehr sagen. 1 2 Ich setze voraus, daß Sie wissen, daß hier nicht von empirischer Psychologie die Rede ist, sondern daß die Phänomenologie eine Wesenswissenschaft des Bewußtseins ist. Und die andere Sache, die ich beiseite lassen will, habe ich schon erwähnt, ich meine eine Beschreibung der Entwicklung der Erlebnisse in der Zeit und [der sich in der Zeit vollziehenden Synthesen] 1 3 . Auch darauf also muß ich hier verzichten. Vielleicht daß ich auf den letzten Punkt noch zurückkom-

Ό ''

V.d.Hg. statt das bei Husserl der Fall ist. V.d.Hg. statt und zweitens, weil da sehr vieles unbefriedigend ist, müßte ich noch dazu hinzuarbeiten, was man machen müßte, damit. Vgl. aber unten Vorlesung VII. V.d.Hg. statt die in der Zeit sich vollziehende Synthese.

164

Sechste

Vorlesung

men werde, wenn ich das ganze Problem, auf das ich hier zusteuere, exponiert habe, nämlich das Problem des transzendentalen Idealismus bei Husserl. Mit Blick auf dieses Problem mache ich hier dauernd gewisse Vorbereitungen, heute aber werde ich auf dieses Problem schon etwas genauer eingehen können. Zunächst aber noch eine Sache, die wiederum eine Entscheidung für das Weitere bringt, nämlich eine Zusammenstellung von verschiedenen Begriffen der Transzendenz und der Immanenz. Das ist natürlich deswegen notwendig, weil die Phänomenologie als eine eidetische Lehre des Bewußtseins in der Sphäre der Immanenz arbeitet. Also die Sphären des Immanenten und des Transzendenten müssen einander klar gegenübergestellt werden. Es gibt aber, wie es sich zeigen wird, mehrere verschiedene Begriffe der Transzendenz, die Husserl nicht ausdrücklich unterschieden hatte. Eben dadurch kommt es zu verschiedenen mißlichen, falschen Interpretationen. Die Begriffe, die ich hier auseinanderlege oder die ich schon zu charakterisieren begonnen habe, 1 4 stecken alle im Text von Husserl, abgesehen vielleicht von einem, den ich am Schluß noch erwähnen werde. Husserl scheidet sie aber begrifflich nicht klar genug, verwendet sie so, daß ich zwar an jeder Stelle weiß, worum es sich eigentlich handelt. Wenn man dies aber nicht weiß, wenn man nicht hinter den Text zurück zu den Phänomenen selbst geht, dann kann man sagen, daß der [Ausdruck 'Transzendenz'] 15 bei Husserl vieldeutig ist, und daraus ergeben sich verschiedene Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, wie viele Begriffe es am Ende sein werden. Ich unterscheide zunächst zwei, eventuell drei Gruppen von Transzendenzbegriffen. 1 6 [Die erste Gruppe umfaßt Begriffe, gemäß denen "Transzendenz" im erkenntnistheoretischen verstehen

ist.

Die

Sinne, also irgendwie auf Erkenntnis bezogen, zu zweite

Gruppe

umfaßt

Begriffe,

gemäß

denen

"Transzendenz" im ontischen Sinne, vielleicht könnte man auch sagen: im ontologischen

Sinne zu verstehen ist. Und da, sozusagen am Rand dieser

zweiten Gruppe, steht ein ontischer Begriff, der auch ein ausgesprochen metaphysischer Begriff ist und der aus der Geschichte der Philosophie und speziell aus der Philosophie des Mittelalters sehr wohl bekannt ist, den man 14

Vgl. oben Vorlesung V.

15

V.d.Hg. statt Begriff der Transzendenz.

16

Vgl. zum folgenden besonders auch Ingarden (1965a), 224-229.

Elemente einer phänomenologischen

natürlich

aber

nur

denjenigen

165

Theorie der Wahrnehmung

Transzendenzbegriffen

gegenüberstellen

sollte, die hierzu überhaupt in Frage kommen.] 1 7 Drei Begriffe der ersten Gruppe, die im Zusammenhang der Wahrnehmung eine Rolle

spielen, habe ich im Vorigen

bereits einander

ge-

genübergestellt und mittels jener drei Kreise an der Tafel erläutert. 18 Damit möchte ich mich heute nicht mehr genauer beschäftigen; ich glaube, daß das ungefähr klar war. Zusammenfassend ist erstens zu nennen das ren des wahrgenommenen

Transzendie-

Dinges hinaus über jede einzelne Wahrnehmung

bzw. über das (in der jeweiligen Wahrnehmung) in erfüllten Qualitäten Gegebene. Es wird in der Wahrnehmung gegeben, daß das Ding ein Inneres und eine Rückseite hat; aber in der betreffenden Wahrnehmung ist das nicht in erfüllten Qualitäten gegeben, sondern es ist irgendeine anschauliche Intention darauf vorhanden, daß man die Rückseite, ein Inneres usw. (gegeben) hat. [Zweitens ist zu nennen das Transzendieren des Wahrnehmens (mit seinen Vermeintheiten auf ein Inneres usw.) hinaus über jene erfüllten Qualitäten des wahrgenommenen Dinges.] 1 9 Einerseits geht es also um eine Transzendenz vom Ding aus betrachtet und andererseits um eine Transzendenz vom Wahrnehmen aus betrachtet. Sodann ist der dritte Begriff der Transzendenz zu unterscheiden, der auch ein epistemologisch-erkenntnistheoretischer Begriff ist und der die Transzendenz des physikalischen Dinges meint, des Dinges, das so verstanden wird, wie das die moderne Physik festlegt. Gemäß der modernen Physik ist das physikalische Ding eine Mannigfaltigkeit, wenn Sie wollen, von Atomen, Elektronen oder ursprünglichen Partikeln, qualitätslos usw., in einem nichteuklidischen Raum, wahrscheinlich in einem Riemannschen Raum von bestimmter Art usw. Und dieses Ding ist "transzendent" in dem Sinne, daß es in dieser Gestalt überhaupt

V.d.Hg. statt Die erste Gruppe, das ist die Transzendenz im erkenntnistheoretischen Sinne, also irgendwie auf Erkenntnis bezogen. Die zweite Gruppe, das ist die, sagen wir, Transzendenz im ontischen Sinne; vielleicht könnte man auch sagen: im ontologischen Sinne, und da, am Rande dieser zweiten Gruppe, steht ein auch ontischer Begriff, aber ausgesprochen metaphysischer Begriff, der von der Geschichte der Philosophie und speziell von dem Mittelalter sehr wohl bekannt ist und den man natürlich bloß gegenüberstellen soll diesen Transzendenzbegriffen, die da in Frage kommen. '8

Vgl. oben Vorlesung V. V.d.Hg. statt Zweitens ist das Transzendieren des Wahrnehmens über diese erfüllten Qualitäten des wahrgenommenen Dinges mit den Vermeintheiten auf das Innere usw.

166

Sechste

Vorlesung

in gar keiner Wahrnehmung wahrgenommen wird und wahrgenommen werden kann. Es ist bloß auf Grund der Erfahrung begrifflich bestimmbar. Dabei meint "Erfahrung" die Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen, die man [natürlich auch in der Physik und in der Naturwissenschaft überhaupt durchführt, wenn man gewisse Experimente macht: die Experimente müssen j a zunächst vorbereitet werden und schlichte Wahrnehmungen sollen dann sozusagen Hinweise darauf geben, wie das physikalische Ding begrifflich gedacht werden soll] 20 . Dies geht dann natürlich in die mathematische Theorie, in die theoretische Physik über, wo man in gewissem Sinne apriorisch, [nämlich mittels Hypothesen] 2 1 , verfahrt: Stimmt dies oder jenes in seinen Konsequenzen mit der Erfahrung überein oder ist das nicht der Fall? Wenn die Erfahrung das, was [durch die Hypothese] 2 2 bestimmt wird, bestreitet, dann wird diese zurückgeschoben. Andererseits kann keine Hypothese durch Erfahrung jemals bewiesen werden, weil der Gehalt von Hypothesen jede Erfahrung übersteigt. Die Transzendenz des physikalischen Dinges ist aber die Transzendenz eines erkennbaren Dinges, und zwar erkennbar durch die "Zurückführung" der Hypothesen auf die Erfahrung; das physikalische Ding ist also nicht transzendent in einem noch anderen Sinne, von dem ich gleich sprechen werde ("Transzendenz des Unerkennbaren"). Und noch etwas: Es ist ganz merkwürdig. Diese theoretisch gebildete Welt, die mathematisch bestimmte Welt, gibt eine gewisse merkwürdige "Reperkussion" auf die von uns wahrgenommene Welt; sie ermöglicht eine Interpretation von Phänomenen, von Gegebenheiten im Sinne der Theorie. Man kann eine Menge von solchen Tatsachen angeben, wo in der Erfahrung etwas gegeben wird, was ohne die Theorie überhaupt nicht beachtet und auch nicht verstanden würde. Und dann sagt man: Aha, das ist dies und dies im physikalischen Sinne, z.B. Interferenz bzw. Interferenzstreifen. Da hat man z.B. am Ekran bei bestimmter Einrichtung des Experimentes (das kann auf verschiedene Weise gemacht werden, z.B. mit Spiegeln) jene merkwürdigen hellen und dunklen

20

V.d.Hg.

statt übrigens in der Physik und in der Naturwissenschaft überhaupt durchführt

während man Experimente macht; dann muß auch das Experiment vorbereitet werden und die schlichten Wahrnehmungen, die geben s o z u s a g e n H i n w e i s e darauf, w i e b e g r i f f l i c h das physikalische D i n g gedacht werden soll. 2'

V.d.Hg. statt mit Ansätzen.

22

V.d.Hg. statt im A n s a t z .

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

167

Streifen. Der Physiker deutet dies als eine Wellenkreuzung, als ein Zeichen davon, daß sich da zwei Wellenpakete kreuzen, so daß an einzelnen Stellen "Stille" entsteht. Der "Stille" entspricht dann das Dunkle, und der verstärkten Bewegung entspricht das Helle. Ein anderes Beispiel bilden die sogenannten Fraunhoferschen Linien. Also im Sonnenspektrum, wie Sie wissen, wenn man so ein Spektrum durch ein besonderes Glas (ein Prisma) durchführt, bekommt man alle möglichen Farben; und dann zeigt es sich, daß es da verschiedene dunkle Streifen gibt. Aufgrund der Theorie werden diese Streifen auf eine ganz ingeniöse Weise interpretiert. Wenn zwischen dem Objekt, welches Licht emittiert, und dem Apparat, der es aufnimmt, ein ganz bestimmtes Gas vorhanden ist, welches irgendwie die entsprechenden Lichtwellen verschluckt, dann herrscht im aufnehmenden Apparat an entsprechender Stelle "Stille", also eine dunkle Linie. Infolgedessen liest man dann die Fraunhoferschen Linien im Sonnenspektrum sofort als ein "sichtbares" Zeichen des Vorhandenseins z.B solcher und nicht anderer Gase in der Sonnenkorona. Die Theorie mit entsprechenden rechnerischen Mitteln ermöglicht nicht nur eine genaue Berechnung der Stellen dieser Linien, sondern trägt dazu bei, daß das in der Wahrnehmung Gegebene sofort auf eine bestimmte Weise gedeutet und verstanden wird. 23 Ein anderes Beispiel ist die für uns heute sehr wichtige "Rotverschiebung". Wenn man das Licht von großen Galaxien, die sehr weit von uns entfernt sind, aufnimmt, dann zeigt es sich, daß in ihrem Spektrum die Fraunhoferschen Linien anders liegen, [als sie] 24 nach der Theorie liegen sollten; sie werden da stark nach rechts verschoben. Dies wird mit Berufung auf das Doppler-Gesetz so interpretiert, daß die Rotverschiebung das "signum" davon ist, daß sich die betreffende Galaxie sehr schnell von uns fortbewegt. Ihre (Fort-)Bewegung verhält sich proportional zur Entfernung von der Erde: je weiter, desto schneller. Man macht photographische Aufnahmen von Fällen, wo solche Galaxien ein paar Milliarden Lichtjahre von uns entfernt sind und wo die Geschwindigkeit

23

[Ingarden] Bekanntlich haben analoge Tatsachen in anderen physikalischen Experimenten Helmholtz dazu bewogen, die sinnliche Wahrnehmung bzw. das in ihr Gegebene ganz allgemein als einen Erkenntnisvorgang aufzufassen, der dem Wahrnehmenden nur

Zeichen

von den physikalischen Tatsachen liefert und nicht die Dinge in ihren Eigenschaften selbst. Erst Husserl ist dann dieser Zeichentheorie der Wahrnehmung entgegengetreten. V.d.Hg. statt als sie] von gemeinem Licht.

168

Sechste

Vorlesung

schon 80% der Lichtgeschwindigkeit ausmacht. Die H- und K-Linien verschieben sich da sehr weit nach rechts. Dann sagt der Physiker: "Aha, siehst Du, dies da bedeutet, daß dies und dies in Wirklichkeit geschieht." Die Rotverschiebung ist also nicht einfach eine Tatsache für sich, sondern ist ein phänomenales Zeichen von etwas ganz anderem. Die Tatsachen, die in der Wahrnehmung beim Experiment gegeben werden, werden sofort als Erscheinung einer Tatsache in der physikalischen Welt gedeutet. Duhem, ein französicher Erkenntnistheoretiker, behauptet, daß jede Tatsache in der Naturwissenschaft schon das Ergebnis einer Theorie sei. Eine "Tatsache" ist nicht einfach dasjenige, was schlicht ohne die Theorie wahrgenommen wird. Ohne Theorie gibt es gar keine naturwissenschaftlichen "Tatsachen". Erst wenn man die Theorie der Fraunhoferschen Linien und das Doppler-Gesetz kennt und in diesem Sinne die Rotverschiebung im Lichtspektrum einer Galaxie deutet, ist die so gedeutete Rotverschiebung eine "Tatsache". Wenn man die sogenannten kosmischen Strahlen untersucht (das sind Partikelchen, die vom Weltraum auf die Erdoberfläche fallen und hier alles mögliche durchdringen), entstehen analoge "Tatsachen". Man sendet Päckchen von photographischen Platten (etwa 20 km hoch) in die Atmosphäre; und zieht man sie herunter, so zeigt es sich, daß an diesen Platten kleine schwarze "Sternchen" vorhanden sind. Da ist etwas passiert. Die lichtempfindliche Substanz der Platte wurde verändert, weil da irgendwas geschah. Man betrachtet diese Sternchen durch das Mikroskop und "sieht" die sich kreuzenden Linien als Spuren der Bewegung

[kleiner] 25

Partikelchen.

Das

"Sternchen" ist die Spur einer Katastrophe in der Atomenwelt: Ein Atomkern wurde durch ein Alpha-Teilchen oder durch ein Meson zerschlagen, und seine Teile fliegen weiter nach verschiedenen Richtungen, und die Spuren ihrer Wege sind auf der Platte nachgezeichnet. Aus den Winkeln zwischen den Linien in einem solchen Sternchen kann man die Energie der Teilchen vor und nach der Kollision berechnen. Daraus ist eine neue Theorie der "Elementarteilchen" entstanden. Ein solches "Sternchen" ist die reine, ohne die Theorie wahrgenommene Tatsache. Für einen Physiker ist das Sternchen aber nicht einfach eine Zeichnung auf der Platte, sondern die Spur einer Katastrophe in der Atomenwelt. Man kann daraus lesen, was für eine

25

V.d.Hg. Mall einer.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

169

Katastrophe sich abgespielt hat; man kann auch fragen, was für ein Atom vor der Katastrophe vorhanden war und was mit ihm geschah. Dies alles kann man berechnen. Erst nach der Berechnung, erst nach dieser Interpretation (der entsprechenden Gegebenheiten), wird das "Sternchen" zu einer physikalischen Tatsache, gezeigt im Phänomen, aber interpretiert durch die Theorie. Das ist also die "Transzendenz" des physikalischen Dinges in bezug auf die Erfahrung, auf eine Mannigfaltigkeit von verschiedenen, [miteinander zusammenhängenden] 26 Wahrnehmungen. Die physikalische Tatsache in diesem Sinn (Ding, Vorgang, Ereignis) wird nie selbst gegeben; aber ihr Vorhandensein wird in dem uns unmittelbar Gegebenen angezeigt, jedoch nur mit Hilfe einer Theorie genau bestimmt. 27 Ich komme jetzt zum vierten erkenntnistheoretischen Begriff der Transzendenz. Diesen Begriff verdanken wir Kant, und zwar seiner Kritik der reinen Vernunft. Da wird zwischen Erscheinungswelt und Welt der Dinge an sich unterschieden. Die Erscheinungswelt ist die Welt der wahrgenommenen Dinge und Vorgänge. Eine "Erscheinung" ist nicht - wie man vielleicht heute annehmen könnte - eine Ansicht oder eine Wahrnehmung, sondern das [Wahrgenommene] 28 , z.B. das gesehene Glas Wasser; und das Ding an sich ist das, was überhaupt nicht erkennbar ist. Warum ist es für Kant nicht erkennbar? Nun, weil subjektive und zwar transzendentalsubjektive Faktoren mitwirken, nämlich die apriorischen Anschauungsformen Raum und Zeit und das System der Kategorien. Die Anschauungsformen behandelt Kant im ersten

Teil

der

Kritik

der

reinen

Vernunft,

in

der

sogenannten

"Transzendentalen Ästhetik". Die Kantische Ästhetik ist eine Theorie, wenn man so sagen darf, der apriorischen Strukturen des in der Wahrnehmung Gegebenen. Dann kommt der zweite Teil, die transzendentale Logik, welche die Theorie der Kategorien, des Systems der Kategorien und vor allem die transzendentale Deduktion der Kategorien (der reinen Verstandesbegriffe) enthält. In der zweiten Auflage wurde diese "Deduktion" in einer völlig neuen Redaktion gegeben. Das ist der wichtigste Teil der ganzen Philosophie Kants. Das Ergebnis liegt in der Behauptung, daß die apriorischen An26

97

V.d.Hg. statt im Zusammenhang stehenden. Zur "Transzendenz" des physikalischen Dinges vgl. auch Ingarden (1964b). V.d.Hg. statt wahrgenommene Ding.

170

Sechste

Vorlesung

schauungsformen und die reinen Verstandesbegriffe uns eine, wie Kant sagt, objektive Erkenntnis ermöglichen: Weil wir alle dieselben Kategorien und dieselben Anschauungsformen besitzen, [haben wir die eine gemeinsame Erscheinungswelt]29. Die Anwendung dieser apriorischen Formen führt aber andererseits eine Transformation, eine phänomenale Transformation der Wirklichkeit mit sich; wir sind dadurch von der Welt der Dinge an sich abgeschnitten. Wie ich schon früher 30 erwähnt habe, gibt es verschiedene Interpretationen von Kants Transzendentaler Philosophie. Die eine besagt, das System der Kategorien und die Anschauungsformen seien für jedes mögliche Erkenntnissubjekt überhaupt wesensnotwendig. Heidegger hat diese Interpretation eingeengt, indem er hinzugefügt hat: für jedes "endliche Erkenntnissubjekt", das er dem intellectus archetypus, d.h. Gott gegenübergestellt hat, der nicht gezwungen ist, die Welt in diesen Strukturen zu erkennen. Wenn aber der Kant'sche Standpunkt nicht auf die Heidegger'sche Weise gedeutet wird, dann ist das Ding an sich, ganz radikal gesprochen, für überhaupt kein Erkenntnissubjekt erkennbar, also auch nicht für Gott. Endlich gibt es noch eine dritte Interpretation, nämlich die anthropologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft. Nach ihr sind die "apriorischen" Strukturen, die uns von der Welt der Dinge an sich abschneiden, nur auf uns Menschen beschränkt. Wir Menschen haben so eine besondere subjektive Natur, daß wir immerfort Anschauungsformen wie Raum und Zeit und Kategorien verwenden müssen. Dann sind die Dinge an sich nicht allgemein, sondern nur für uns Menschen unerkennbar. Was aber die Dinge an sich betrifft, so lassen sich noch verschiedene Interpretationen des Kant'schen Standpunktes unterscheiden. Entweder sollen die Dinge an sich weder räumlich noch zeitlich sein, noch in den Kategorien stehen, so daß ihre apriorische Formung nur für die menschlichen Subjekte gilt, oder aber es darf nur behauptet werden, daß die apriorische Formung uns jeglichen Zugang zu den Dingen an sich verschließt, so daß wir gar nicht wissen können, ob sie wirklich räum- und zeitlos sowie kategorienfrei sind; wir müssen darüber einfach schweigen. 31

V.d.Hg. statt was uns die eine gemeinsame Erscheinungswelt zu haben ermöglicht. 3 0

Vgl. oben Vorlesung II.

31

Vgl. dazu auch Ingarden (1921a), 398ff.; 423ff.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

171

Dieser Kant'sche Begriff der Transzendenz lastet sozusagen seit dem 18. Jahrhundert auf der europäischen Philosophie, und es wurden viele Versuche unternommen, diesen Begriff und die mit ihm zusammenhängende Scheidung zwischen den Dingen an sich und den Erscheinungen irgendwie zu überwinden. Sofort nach Erscheinen der Kritik, also noch zu Kants Lebzeiten, haben dies die deutschen Philosophen-Romantiker auf verschiedene Weise versucht. Sowohl Schelling als auch Fichte, Hegel und endlich Schopenhauer, jeder von ihnen auf eine eigene, von anderen ganz verschiedene Weise, suchte den Zugang zu den Dingen an sich zu gewinnen. Man wollte die Scheidewand zwischen uns und der Wirklichkeit irgendwie durchbohren, und jeder von ihnen hat das auf seine eigene Weise getan. Ja, man kann sagen, daß Kant selbst diesen Versuch in der Kritik der praktischen

Vernunft

unternommen hat. Später, im 19. Jahrhundert, hat es Bergson auf eine wiederum andere Weise getan - etwas anklingend an Schelling. Ganz neu jedoch war die Relativierung der Kategorien auf den Intellekt und die Erfordernisse der Handlung. Die Neukantianer und insbesondere die Marburger Schule vertrat schließlich die Auffassung, daß das Ding an sich überhaupt zu streichen sei. Denn wenn die Anschauungs- und Verstandes-Formen wirklich notwendige apriorische Formen

sind und zum Wesen

des

Er-

kenntnissubjektes überhaupt gehören, so daß jedes Subjekt alles überhaupt nur in diesen Formen erkennen kann und soll, dann ist das Ding an sich absolut unerkennbar, und als solches ist es einfach zu streichen. Dann verwandelt sich die ganze Erkenntnis in eine unendliche Aufgabe, im Erkennen immer neue Schritte zu vollziehen, das Gegebene im unendlichen Fortgang als für eine immer neue Formung "aufgegeben" zu halten. Husserl stand Kant zunächst im Sinne der Tradition von Franz Brentano sehr fern und kritisch gegenüber. Brentano war bekanntlich gegen die ganze Deutsche Philosophie, und speziell gegen Kant gesinnt, und das hat Husserl gewissermaßen geerbt. Aber dann hat es sich allmählich gezeigt - bereits in den Ideen I -, daß es zwischen ihm und Kant doch gewisse Anknüpfungspunkte gibt, sowie auch zwischen ihm und dem Marburger Paul Natorp. Natorp hat ein Jahr vor Erscheinen der Ideen 1 ein Buch unter dem Titel Allgemeine Psychologie32

veröffentlicht. Angeblich soll das die zweite Auflage



P. Natrop, Allgemeine

Psychologie nach kritischer Methode. Bd. I, Tübingen 1912.

172

Sechste Vorlesung

eines früher geschriebenen Büchleins sein, aber im Grunde handelt es sich um ein neues Buch. Zwischen Natorps Allgemeine Psychologie und Husserls Ideen I gibt es also gewisse Berührungspunkte. Der Punkt, auf den es mir jetzt ankommt, bezieht sich auf die Stellungnahme der beiden Philosophen zum Begriff des Dinges an sich. Das formuliert Husserl so: Das Ding an sich oder überhaupt jedes Seiende, das unerkennbar ist und zwar prinzipiell, das heißt, wenn es zu seinem Wesen gehören sollte, daß es unerkennbar ist, ist ein Widersinn und darf als solches nicht angenommen werden. Der gemeinsame Punkt von Husserl und Paul Natorp bzw. der Marbugerschule liegt darin, daß man den Begriff des Dinges an sich, der Transzendenz im Sinne des absolut Unerkennbaren, verwirft. In diesem Zusammenhang sind auch die "Scheinprobleme" im Sinne Carnaps zu erwähnen. Dies sind eben Probleme, die sich auf das Unerkennbare beziehen. Auch Carnap sagt: Weg damit, damit beschäftigen wir uns nicht! "Scheinprobleme", das sind von Grund aus falsch gestellte Fragen, die man sachlich überhaupt nicht behandeln sollte! Man hat dies damals, als Carnaps Büchlein erschien 33 , seitens der Neupositivisten als große Neuentdeckung gerühmt. Tatsächlich aber spricht diesen Gedanken schon Husserl

aus,

nur

daß

der

Bereich

der

Probleme,

die

Carnap

als

"Scheinprobleme" Verwirft, von Husserl sicher ganz anders zu bestimmen wäre. Carnap übrigens ist ein Freiburger und hat bei Husserl studiert. Kehren wir aber zu Husserl selbst zurück! Er sagt: "Das Unerkennbare streichen wir, darüber sprechen wir nicht!" Daraus ergibt sich aber als Folge: Wenn etwas als seiend anerkannt werden soll, so muß zugegeben werden, daß es einen Weg zu seiner Erkenntnis gibt. Jede Erkenntnis oder jeder Erkennende bleibt dann innerhalb einer Welt der Phänomene eingeschlossen. Das ist der erste und vielleicht auch der weiteste Sinn der Phänomenologie: Von "Dingen an sich" sprechen wir nicht, mit ihnen beschäftigen wir uns nicht, weil ihr Begriff ein Widersinn ist; und das, worüber wir sprechen, was wir erkennen wollen und können, das sind "Phänomene", das ist dasjenige, was dem Erkennenden irgendwie phänomenal zugänglich ist. Ja, und dadurch

wird

der erste

Schritt

zu dem

getan,

was

sich

später

als

"transzendentaler Idealismus" entwickelt. -IT

R. Carnap, Schemprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit, Berlin-Schlachtensee 1928.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

173

Das, worüber ich jetzt referieren werde, steht nicht im Text der Ideen I. Ich kenne es aber aus Husserls Vorlesungen. Allerdings weiß ich nicht genau, wann er es vorgetragen hat; mit Sicherheit war es zwischen 1912 und 1914, vielleicht war es im Frühjahr 1914 oder schon 1913. 3 4 Husserl stellte damals zwei Sätze nebeneinander, nämlich: (1) "A existiert" und nach wörtlicher Formulierung Husserls: (2) "Es ist ein Weg zur Ausweisung (der Existenz) 35 von A prinzipiell möglich." Diese beiden Sätze sollen nach Husserl

Zur Datierung der im Text nachfolgend behaupteten bzw. Husserl zugeschriebenen Äquivalenz vgl. auch: "Mir i.st sie aus einer Vorlesung des Herrn Geheimrats Husserl im Sommersemester 1914 in Göttingen bekannt, die er damals unter dem Titel 'Natur und Geist' vorgetragen hat. Leider sind mir die Notizen von dieser Vorlesung während der Kriegszeit verloren gegangen, so daß ich den Gedankengang meines hochverehrten Lehrers hier nur aus dem Gedächtnis rekonstruieren kann." (Ingarden, 1929, 185, Anm.) - Nun, über "Natur und Geist" hat Husserl tatsächlich im 5 5 IV13 gelesen (vgl. R. Bemet/1. Kern/E. Marbach, Edmund Husserl. Darstellung

seines Denkens, Hamburg 1989, 221; dieselbe Datierung gibt

übrigens auch Ingarden (1968a), 109). 35

Ingarden (1929), 185 und (1959), 193 erwähnen dieselbe Äquivalenz, wobei der zweite Satz wie folgt lautet: "Es ist ein Weg zur Ausweisung der Existenz von A prinzipiell möglich". Auf diese Weise formuliert Ingarden ausdrücklich auch unten gegen Ende von Vorlesung VI. Wie aus Ingarden (1929) hervorgeht (vgl. oben Anm. 20), "zitiert" Ingarden diese Sätze aus der Erinnerung. Wie Husserls Formulierung genau lautete, ist mithin schwierig zu entscheiden. Daß Ingarden Husserl aber in der Sache korrekt zitieren dürfte, läßt sich aus folgendem belegen: Gemäß der Husserl-Chronik handelte die Vorlesung vom 14. Juni 1913 genau Uber das Thema "Äquivalenz von Existenzaussagen und Aussagen Uber die ideale Möglichkeit der Ausweisung der Existenz" (vgl. Husserliana,

Dokumente

/ (hrsg. v. K.

Schuhmann), Den Haag 1977, 180 - unter Verweis auch auf die Vorlesungsnachschrift von M. Ortmann: Ν l 5 34-38). In der zugehörigen Vorlesungsnachschrift von A. Grimme (Ν I 10) findet sich (gemäß Auskunft von S. Spileers, Husserl-Archiv Louvain) zudem das folgende: "Äquivalente Sätze: A existiert und Es ist möglich A einzusehen. Prinzipiell gehört zu jedem möglichen Sein ein mögliches Bewußtsein". Im Ms. Β IV 6 finden sich sodann die folgenden Stellen (aus einem Konvolut, das auf "1914 oder 1915" datiert ist): "Der Satz, es besteht die Möglichkeit eines Gegenstandes, ist äquivalent mit dem Satz, es besteht die Möglichkeit giltiger Erkenntnis dieses Gegenstandes, und letztere schließt die Möglichkeit der 'Erfahrung', das ist eines originär gebenden Bewußtseins, ein." (S. 2) "Das Sein einer bestimmten Natur schreibt dem möglichen Bewußtseinsverlauf der Geister bestimmte Regeln vor. Sowie wir aber Geister mit solchen Regelungen als existierend ansetzen, haben wir auch die Existenz der Natur notwendig mitgesetzt." (S. 10) "Die Existenz von Subjekten, die im Akkord behaftet sind mit Erkenntnisregeln, die der dinglichen Konstitution entsprechen, sind im Sinne des Idealismus äquivalent mit der Existenz von Dingen selbst und der Dingwelt." (S. 18) |Diese Zitate teilte Dr. I. Kern aus seinen Exzerpten aus der Tran-

174

Sechste

Vorlesung

äquivalent sein. Da stellt sich das Wort 'Ausweisung' ein. Was soll das heißen? Wichtig ist hier auch die Wendung 'ein Weg zu etwas ist prinzipiell möglich'. Das Wort 'Ausweisung' ist bei Husserl ein terminus technicus. Es bedeutet, daß, wenn man irgendwelche Begriffe, Vermeinungen oder B e hauptungen über etwas hat, man letzten Endes in der unmittelbaren Erkenntnis zeigen muß, daß es stimmt. Also wenn man z.B. von diesem Ding da spricht und seine verschiedenen Eigenschaften feststellen will, dann muß man das in der Wahrnehmung zeigen, daß es so ist. "In der Wahrnehmung" das soll nicht besagen "in der einen Wahrnehmung". Es handelt sich gewöhnlich um eine ganze Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen, die das betreffende Ding von verschiedenen Standpunkten aus, von verschiedenen Seiten und [unter verschiedenen Umständen] 3 6 so zur Gegebenheit bringen, daß der behauptete Tatbestand als wirklich bestehend gezeigt wird. Wenn man diesen ganzen Prozess des Sichzeigens des betreffenden Gegenstandes oder seiner Eigenschaften

in Mannigfaltigkeiten

von

Wahrnehmungen

durchlaufen hat und alles miteinander stimmt, dann sagt man, es sei "ausgewiesen", was da behauptet wurde, es sei insbesondere ausgewiesen, daß der Gegenstand existiert, bzw. daß er soundso ist. Die Wendung 'ein Weg ist prinzipiell möglich' soll besagen, daß nicht nur wir, Menschen (und eventuell auch Tiere), sondern überhaupt jedes nur mögliche Erkenntnissubjekt, wie es auch immer gebaut sein und welche Fähigkeiten es sonst haben mag, einen Erkenntniszugang zu dem Gegenstand A besitzen muß, damit A in seiner Existenz ausgewiesen werde. Die Existenz bzw. die prinzipielle Möglichkeit dieses Weges ist die Bedingung dessen, daß man behaupten kann, daß A existiert, oder schärfer gesagt: daß das Recht zur Anerkennung der Existenz von A besteht. Aber so lauten die beiden zitierten Sätze nicht. Es wird (vielmehr) gesagt, der prinzipiell mögliche Weg zur Ausweisung (der Existenz) von A sei mit dem "A existiert" äquivalent. Das heißt genauer, der Weg zur Ausweisung ist äquivalent mit der Existenz. 3 7

skription

von Ms. Β IV 6 mit. (Die Seitenangaben beziehen sich also auf die Seitenzahl der

Transkription). Die Zitate wurden von S. Spileers (Husserl Archiv Louvain) neu kontrolliert und stimmen ihm gemäß mit dem Original wörtlich überein.] 36

V.d.Hg. statt in vorgehenden Umständen.

37

Im Vorhergehenden will Ingarden offenbar sagen: Die Wahrheit des Satzes: "Es besteht ein (epistemisch begründetes) Recht zur Anerkennung von A" setzt die Wahrheit des Satzes:

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

175

Wo aber liegen die Gründe [der Möglichkeit, (die Existenz von) A auszuweisen] 3 8 ? Man kann sagen: Sie liegen auf beiden Seiten, sowohl in A, im Gegenstand, wie auch im Erkenntnissubjekt. Das Existierende muß in sich selbst irgendwie so beschaffen sein, daß es sich selbst dem Erkennenden zeigen oder sich wenigstens vermittels eines anderen Gegenstandes, der diese Fähigkeit besitzt, anzeigen kann. 39 Der Gegenstand, [dessen Existenz] 4 0 direkt ausgewiesen werden soll, muß fähig sein, im Phänomen für ein mögliches Erkenntnissubjekt zu erscheinen, in einem Phänomen, von "Die Existenz von A ist tatsächlich ausgewiesen oder die Ausweisung der Existenz von A ist prinzipiell möglich" voraus. Diese Behauptung ist einsichtig. Demgegenüber ist die vorliegende Stelle ziemlich unklar. Denn daraus, daß die Sätze: "A existiert" und "Es ist ein Weg zur Ausweisung der Existenz von A prinzipiell möglich" miteinander (im satzlogischen Sinne?) "äquivalent | " sind, folgt gewiß nicht, daß "der Weg zur Ausweisung (der Existenz von A) mit der Existenz (von A)" - daß also das "Ausweisen des Existierens von A" mit dem "Existieren von A" "äquivalent2" sei. Die zweite Verwendung von 'äquivalent' ist an sich schon problematisch. Meint 'äquivalent2' soviel wie 'gleichbedeutend'? - Worum es Ingarden in der Sache geht, wird erst in den im Text folgenden Ausführungen deutlicher. Vgl. dazu auch Ingarden (1959), 193 und besonders: "Es ist der Punkt jener bedeutsamen von E. Husserl in seinen Vorlesungen vorgetragenen - Äquivalenz zwischen den beiden Urteilen: Ά existiert' und 'Es ist ein Weg zur Ausweisung der Existenz von A prinzipiell möglich'. Diese Äquivalenz besagt letzten Endes, daß nur ein solches A sinnvoll als existierend anzunehmen ist, das prinzipiell

erkennbar und letzten Endes erfahrbar ... ist. Wenn

aber dieses A ein zur realen Welt gehörender realer Gegenstand sein soll, so erfordert diese Äquivalenz bei gleichzeitiger Annahme einer Mehrheit von Bewußtseinsmonaden, daß es als identisch dasselbe für viele Erkenntnissubjekte erfahrbar sei ... Die Erfahrbarkeit setzt aber die Existenz des reinen Bewußtseins (bzw. der Bewußtseinsmonaden) voraus. Also so folgert man daraus - setzt die Existenz der realen Welt die Existenz des reinen Bewußtseins voraus. Gäbe es kein reines Bewußtsein, so gäbe es auch keine reale Welt. So führt eine zunächst erkenntnistheoretische Erwägung zuerst eine ontologische, dann aber eine metaphysische idealistische Entscheidung bestimmter Art herbei. Erkenntnistheoretisch ist aber jene Erwägung, da sie aus einer Besinnung über die Bedingungen der Möglichkeit einer rechtmäßigen prinzipiell

Setzung (Existenzerfassung) eines Gegenstandes entspringt. Gäbe es

keinen möglichen Weg zur Ausweisung der Existenz eines A, so würde es kei-

nen rechtmäßigen

Grund der Annahme der letzteren geben und so wäre auch jede Rede

vom A widersinnig, da sie in dieser Situation der Annahme eines widersinnnigen 'Dinges an sich' gleichkäme, zu dessen Wesen es gehörte, daß es unerfahrbar, also infolgedessen unerkennbar wäre." (Ingarden 1929, 185/6). 38

V.d.Hg. statt dieser Möglichkeit, daß das A ausgewiesen werde.

39

Vgl. besonders Ingarden ( 1929), 186 ff.

^

V.d.Hg. statt der.

176

Sechste

Vorlesung

dem aus erst seine anderen Eigenschaften entdeckt [werden können] 41 . Aber dies ist merkwürdig. Wenn man "Phänomen" sagt, dann heißt das Phänomen für etwas, für jemanden, "Phänomen für". Sartre würde sagen "c'est être pour quelqu'un". Also im [Gegenstand] 42 selbst muß diese Fähigkeit enthalten sein, daß er für jemanden erscheinen kann, daß er diese Qualität in sich hat. Oder noch mehr, sein Sein ist so, daß es in seinem Wesen liegt, erkennbar zu sein. Und Bedingung dessen, daß [ein Gegenstand] 43 existiert, ist, daß neben ihm noch ein Zweites, der erkennende Geist, existiert. Sein Sein ist derart, daß er in seinem Sein durch ein Bewußtsein bedingt ist, und zwar durch das Bewußtsein, in dem er zur Ausweisung gelangt. Aufgrund dieser Äquivalenz gehört es zum Sinn der Existenz, daß das Existierende ein (mögliches) Korrelat eines Bewußtseins ist. Und wenn es wirklich ausgewiesen werden soll, dann muß es ein wirkliches Korrelat eines Bewußtseins sein. Das ist das Gegenteil zum Kant'schen Begriff des Dinges an sich, da es zum Wesen des Dinges an sich - wenigstens in einer der erwähnten Interpretationen - gehört, daß es für kein Bewußtsein, für kein mögliches Erkenntnissubjekt, erfaßbar ist, daß es jede mögliche Erfassungsweise absolut transzendiert. Hier ist es umgekehrt: Es gehört zum Wesen des existierenden Dinges, des existierenden Etwas überhaupt, daß es gerade Korrelat eines Bewußtsein ist bzw. mindestens sein kann. Natürlich gibt es auch Bedingungen auf der anderen Seite. Das Bewußtsein, das Erkennende, muß von sich aus solche Operationen oder solche Bewußtseinsverläufe haben, daß es einen Zugang zu dem seienden A, zum seienden Gegenstand, gewinnt. Wenn man dagegen das Erkenntnissubjekt von vornherein so faßt, wie das Kant getan hat, dann würde Husserl sagen - bildet das den Grundfehler der ganzen Theorie. Denn da wird das Subjekt so konzipiert, so gestaltet, [daß es durch die apriorischen Kategorien und Anschauungsformen eine Mauer zwischen sich und die Wirklichkeit setzt] 44 . Es wird aber zunächst nicht gesagt, wie es möglich ist, zu den Sachen einen erkenntnismäßigen Zugang zu gewinnen. Es muß jetzt untersucht wer-

4

'

V.d.Hg. statt werden können. | N u n das ist noch so u n g e f ä h r gezeigt.

42

V.d.Hg. statt Sein.

43

V.d.Hg. statt es.

44

V.d.Hg.

statt d a ß es eine M a u e r zwischen sich und der Wirklichkeit entwirft; die apriori-

schen Kategorien und die A n s c h a u u n g s f o r m e n .

Elemente

einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

177

den, ob dieses Erkenntnissubjekt nicht zufälligerweise gerade solche Erlebnisverläufe hat, daß es sich von der Wirklichkeit abschließt. Denn dann kämen wir zu Kant zurück. Und da erhebt sich natürlich ein großes Problem. Es müssen subjektiv orientierte Analysen (des erkennenden Bewußtseins) durchgeführt werden: Wie das alles verläuft, damit es in diesen Verläufen gerade zu Phänomenen kommt, die uns das Ding [an sich selbst] 4 5 , die Wirklichkeit, wie sie ist, - um das Heideggersche Wort zu benützen "enthüllen", entdecken können. Die Verwerfung des Kantischen Transzendenzbegriffes bringt uns jetzt ganz an den Rand der transzendentalen Betrachtung, aber zugleich auch an den Rand des transzendentalen Idealismus. Diese Entscheidung steht uns jetzt schon ganz, ganz nahe. Dies sind also die verschiedenen Transzendenzbegriffe, die erkenntnistheoretisch formuliert sind, also mit Bezug auf die mögliche oder wirkliche Erkenntnis des Erkenntnisgegenstandes. Daneben gibt es aber noch die zweite Gruppe von [Transzendenzbegriffen] 4 6 , die noch zu besprechen sind. Das sind diejenigen Begriffe, die Husserl im Zusammenhang mit dem Problem der Beziehung zwischen dem Bewußtsein von etwas und den physischen Dingen positiv bestimmt. Die Transzendenz wird jetzt ganz anders gefaßt. "Bewußtsein" - das sind natürlich vor allem Erkenntniserlebnisse. Es werden aber nicht nur diese Erlebnisse, sondern überhaupt jedes

Bewußt-

sein, von welcher Abwandlung auch immer, in Betracht gezogen. Die Beziehung zwischen dem materiellen Ding und dem Bewußtsein wird jetzt ontisch aufgefaßt. Wie dies geschieht, werde ich aus dem Text der Ideen I lesen: 4 7 "Nun kann e i n W a h r g e n o m m e n e s selbst sehr w o h l B e w u ß t s e i n s e r l e b n i s

sein:

aber e s ist e v i d e n t , daß s o e t w a s w i e ein m a t e r i e l l e s D i n g . z . B . d i e s e s

im

W a h r n e h m u n g s e r l e b n i s g e g e b e n e Papier, prinzipiell kein Erlebnis ist. s o n d e r n e i n S e i e n d e s v o n total v e r s c h i e d e n e r Seinsart. ( i m Erlebnis als real s e i e n d b e w u ß t , aber nicht als reales B e s t a n d s t ü c k darin e n t h a l t e n ) . " 4 8

45

V.J.Hg. statt an sich selbst,] wenn das erlaubt ist so zu sagen.

46

V.d.Hg. statt Transzendenzen.

47

|Ingarden| Ich zitiere nach der I. Auflage. Seite 62. Zeile 2. |Hg.: Vgl. Husserliana

III

(hrsg. v. W. Biemell. Den Haag 1950, 76.| 48

|Ingarden| Die letzte Wendung, die nach dem Wort 'Seinsart' steht, stammt nicht aus der I. Auflage der Ideen, sondern ist ein Zusatz, der aus einer Randbemerkung Husserls in seinem 3. Handexemplar der Ideen stammt. Es ist aber durchaus im Sinne von Husserls Standpunkt in der 1. Auflage der Ideen. Die in der Ausgabe der Ideen im Bd. III der Husserliana noch

178

Sechste

Vorlesung

Also ein materielles Ding ist kein Erlebnis, es ist ein Seiendes von total anderer Seinsart und ist kein "reales Bestandstück" des Bewußtseins, des Erlebnisses. 49 Es sind da zunächst zwei Punkte hervorzuheben. Erstens bezieht sich dieser neue Begriff der Transzendenz auf die Seinsart,

auf die Seinsweise

des materiellen Dinges. Das gehört in meiner Sprache zur "Existential-Ontologie". Und zweitens bezieht er sich darauf, daß ein materielles Ding außerhalb

des Bewußtseins existiert. Es ist etwas Zweites im Vergleich zum

Bewußtsein. In meiner Sprache ist das ein "formales Moment". Es liegt in der Form des Dinges und des Erlebnisses, daß das Erlebnis das Eine und das Ding das Zweite ist. Und jetzt, dieses Zweite, dieses "Nicht-reeller-Teilsein-von", kann noch auf zwei verschiedene Arten verstanden werden, worauf ich gleich zurückkommen will. Aber zunächst ist zum ersten Punkt dieses Transzendenzbegriffes zu fragen, in welchem Sinne die Seinsweise, die Seinsart des materiellen Dinges eine andere ist. Eine "andere" verglichen mit was? Verglichen mit dem Sein, der Seinsweise des Bewußtseins, des Erlebnisses. Zunächst ist zu bemerken: Wenn man das liest, so weiß man nicht, worum es sich handelt. In welchem Sinne ist es eine andere Seinsweise oder

nachfolgenden Worte: "So verfällt es mit allem ihm Eigenen der phänomenologischen epoche" sind ein weiterer Zusatz aus der soeben erwähnten Randbemerkung Husserls. Sie enthüllen nur, was - und insbesondere welcher Begriff der Transzendenz - Husserl bei der Abgrenzung dessen, was der "phänomenologischen epoche verfällt" und was als Residuum bleibt, leitete. Das ist eben derjenige Begriff der Transzendenz, den ich jetzt im Text zu entwickeln suche. |Hg.: Vgl. Husserliana |lngarden|

III (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 468.]

Husserl sagt übrigens gewöhnlich nicht "reales", sondern "reelles" Bestand-

stück, reelles Stück des Erlebnisses. Diesen Ausdruck ('reelles Bestandstück') hat er schon in den Logischen

Untersuchungen

bei der Analyse der Bewußtseinsakte, der intentionalen

Akte verwendet. Zwischen 'real' und 'reell' besteht ein wesentlicher Unterschied des Sinnes. 'Real' ist ungefähr dasselbe wie 'wirklich', 'zur realen Welt gehörig'; 'reeller Teil' dagegen besagt in der deutschen Sprache soviel wie 'wirklich echter Teil', 'effektiver Teil'. 'Reelles Bestandstück', reeller Teil', das bedeutet soviel wie 'im-echten-Sinne-Teil-von-etwas-zusein'. Wenn also Husserl sagt, das physische (materielle) Ding sei kein "reelles Bestandstück" des Bewußtseins, so heißt das, daß es gar kein effektiver, echter Teil des Bewußtsein ist, obwohl es im Bewußtsein gegeben wird.

Elemente

einer phänomenologischen

Theorie

der Wahrnehmung

179

Seinsart? [Im Laufe der ganzen Betrachtung aber klärt sich dies, indem auf etwas zurückgegriffen wird, was wir jetzt genauer zu behandeln haben.] 5 0 Bei Husserl nämlich stehen zwei Begriffe sehr nahe beieinander und werden fast äquivalent benutzt, das ist: "Seinsweise" und "Gegebenheitsweise",

"Erkenntnisweise".

Husserl

behauptet,

daß

Dinge

durch

Ab-

schattungen, durch Ansichten, durch Erscheinungen wahrgenommen werden. [Meine Erlebnisse dagegen werden von mir nicht durch Abschattungen erfaßt] 5 1 , sondern in einer immanenten Wahrnehmung (darüber werde ich noch sprechen). Sie sind ohne Abschattung da. Es gibt gar keine Abschattung, keine Ansicht von meinem Erlebnis, sondern es wird selbst, sozusagen ohne Hilfe oder Vermittlung der Abschattung, erfaßt. [Mit Bezug auf materielle Dinge und das Bewußtsein unterscheidet Husserl also zwischen zwei Erscheinungs- oder Erkenntnisweisen.] 5 2 Das wird später von Husserl näher auseinandergelegt. Es wird gezeigt, in welchen Abschattungen Dinge erscheinen, und wie das eigene Bewußtsein, das eigene Erlebnis erfaßt wird. Aber dann schließt Husserl sofort: "Mein in der Immanenz erfaßtes Bewußtsein existiert absolut, und das in Abschattungen, in Erscheinungen erfaßte materielle Ding existiert nicht absolut." 5 3 Ja, wie existiert es aber? Am Schluß der ganzen Betrachtung behauptet Husserl, es sei ein "intentionales Korrelat",

es

existiere

als

intentionales

Korrelat

von

Bewußtseins-

mannigfaltigkeiten, es existiere nicht absolut für sich selbst, sondern bloß als Korrelat. 5 4 Wir kommen damit zurück auf die zwei früher erwähnten Sätze: "A existiert", das heißt: 5 5 "Es gibt (prinzipiell) einen Weg zur Ausweisung (der Existenz von) A . " 5 6 Das existierende A ist nur als das zu nehmen, was prin-

50

V.d.Hg.

statt Aber im Laufe der ganzen Betrachtung klärt sich dies. Und zunächst wird

auch das auf e t w a s zurückgeführt, was wir jetzt noch weiter zu behandeln haben. 5

'

V.d.Hg.

statt Erlebnisse, meine Erlebnisse für mich, werden nicht durch Abschattungen er-

faßt. 52

V.d.Hg.

statt Und dann sagt Husserl: also es ist die andere Erscheinungsweise, andere Er-

kenntnisweise des Dinges und des Bewußtseins. meines Bewußtseins. 53

Vgl. Husserliana

III (hrsg. v. W . Biemel). Den Haag 1950. S§ 40: 49.

54

Vgl. Husserliana

III (hrsg. v. W . Biemel). Den H a a g 1950. S 55.

55

W i e dieses 'das heißt' zu verstehen ist. ist unklar. Vgl. dazu oben A n m . 37. Der fragliche Satz lautete früher anders, nämlich. "Es ist ein W e g zur A u s w e i s u n g ( d e r Existenz) von A prinzipiell möglich".

180

Sechste

Vorlesung

zipiell ausweisbar ist, was als Korrelat des Ausweisungsbewußtseins besteht. Das Sein von A ist bedingt durch das Sein des Bewußtseins, es ist dessen Korrelat. 57 [Nur als Korrelat existiert es und ausschließlich auf diese Weise.] 58 Ohne die in der letzten Vorlesung dargestellte Theorie der Wahrnehmung, wonach Dinge in Mannigfaltigkeiten von Erscheinungen erfaßt bzw. wahrgenommen werden, (in Mannigfaltigkeiten) von Erscheinungen, von Ansichten, von Abschattungen - das sind die drei Ausdrücke, die Husserl verwendet -, könnte man - wenn man sich genau an die Texte Husserls hält - nicht sagen, warum Dinge anders als Wahrnehmungserlebnisse existieren. [Die einzige Begründung für diese These stammt aus der Theorie der Wahrnehmung; Husserls Argument lautet] 59 : [Materielle Dinge und Bewußtseinserlebnisse] 60 werden anders erkannt, also existieren sie anders. [Anhand der oben aus Husserls Ideen / zitierten Stelle, wo der ontische Begriff der Transzendenz eingeführt wird, ersieht man die eben dargestellten Hintergründe nicht.] 61 Man fragt sich: Wo kommt diese zweite Seinsart her? Denn der zweite Punkt, das formalontologische Moment der Bestimmung der Transzendenz eines materiellen Dinges (nämlich daß es kein reeller Teil des Bewußtseins ist), zieht doch überhaupt nicht nach sich, daß das materielle Ding ein Sein von anderer Art ist, daß es eine andere Seinsweise hat. [Denn es wird nur formal zwischen den beiden Intentionskorrelaten unter-

57

W e n n gilt, d a ß der Satz (1) A existiert den Satz (2) Es ist ein W e g zur A u s w e i s u n g ( d e r E x i s t e n z ) von A prinzipiell möglich impliziert, so folgt daraus zwar, d a ß "das Sein von A bedingt ist durch das Sein des Bewußtseins" (Ingarden). E s folgt daraus aber nicht, d a ß Satz ( 1 ) dasselbe

besagt wie Satz (2).

Dies würde natürlich selbst dann nicht folgen, wenn (1) und (2) tatsächlich äquivalent wären. M.a.W.: Falls Ingarden mit B e z u g auf die fragliche Ä q u i v a l e n z von (1) und (2) behaupten will: "A existiert" besagt dasselbe

wie "A ist (mögliches) Korrelat eines B e w u ß t -

seins", scheint seine Interpretation d u r c h a u s problematisch zu sein. 58

V.d.Hg. statt so existiert es und bloß so.

59

V.d.Hg. statt Das ist das einzige A r g u m e n t bei Husserl.

60

V.d.Hg. statt sie.

6'

V.d.Hg.

statt Bei dieser E i n f ü h r u n g des ontischen B e g r i f f e s der T r a n s z e n d e n z , die ich da

wiedergegeben habe, sieht man diese Hintergründe nicht.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

181

schieden.] 62 Es muß also noch andere, ergänzende Gründe für diese Bestimmung der Transzendenz des materiellen Dinges geben, und sie sind bei Husserl eben von epistemologischer, erkenntnistheoretischer Art. Jetzt muß ich noch die zwei Sinne jenes "Auseinanderseins" genauer erklären. Denn Husserl sagt: 63 "Die Wahrnehmung des D i n g e s enthält nicht nur in seinem reellen Bestände das Ding selbst nicht in sich, e s ist auch außer ihm,

seine

Existenz

aller eigenwesentlichen

natürlich vorausgesetzt.

[singulären] 6 4 Wesen der Erlebnisse die Einheit des Erlebnisstromes,

selbst

Eine

bestimmte

rein

durch

Einheit

ist

Einheit die

mit

eigenen

ausschließlich

oder was dasselbe ist, ein Erlebnis kann nur mit

Erlebnissen zu einem Ganzen verbunden sein, dessen Gesamtwesen die absoluten eigenen W e s e n dieser Erlebnisse umschließt und in ihnen fundiert ist".

Ich werde das jetzt, wenn Sie mir erlauben, in eigenen Worten wiederholen. Es geht um eine erste Interpretation des "nicht-reelles-Bestandstück-vomBewußtsein-zu-sein". Da haben wir natürlich zwei Gegenständlichkeiten, einerseits das Bewußtsein und andererseits das Ding. Es sind zwei Gegenständlichkeiten. Aber es sind nicht nur in dem Sinne zwei, daß sie überhaupt unterschieden werden können, wie z.B. die Farbe und die Gestalt einer Kugel, sondern es sind zwei (separate) Ganzheiten. Jede davon ist eine Ganzheit

für

sich,

und

sie

sind

in

gewissem

Sinne

gegenseitig

abgeschlossen. Es gibt keine höhere Struktur, die da beides in einem Ganzen umfassen würde. Es sind zwei Ganzheiten, die außerhalb voneinander bestehen. Wo liegt dieses doppelte Auseinandersein,

oder besser:

dieses

Außereinandersein von zwei Ganzheiten, die nicht miteinander verbunden sind, nicht vor? Husserl findet es ausschließlich bei Erlebnissen. Wenn ich z.B. jetzt nach links sehe und zugleich über etwas nachdenke, dann vollziehe

62

V.d.Hg. statt Es wird bloß formal gezeigt, also das ist das Eine und das ist das zweite, und beide sind außereinander - TyPß- Es wird lediglich formal gezeigt, daß dies das Eine und das das Andere ist, und beide sind für sich getrennt, sind auseinander.

63

[Ingarden] Auf Seite 69 der 1. Auflage der Ideen. [Hg.: Vgl. Husserliana

III (hrsg. v. W.

Biemel), Den Haag 1950, 86.) - Gemäß T y p ^ zitiert Ingarden nicht ganz korrekt: Statt "eigenwesentlichen Einheit" steht "wesentlichen Einheit" und statt "die absoluten eigenen Wesen dieser Erlebnisse umschließt" steht "die absoluten eigenen Wesen dieses Erlebnisses umschließt". 64

[Ingarden] Dies ist ein Zusatz aus Husserls 3. Handexemplar. [Hg.: Vgl. Husserliana (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 470.]

III

182

Sechste

Vorlesung

ich eine Mannigfaltigkeit von verschiedenen Erlebnissen; ich habe mir etwas vorgestellt, ich fühle meinen Leib usw., und alle diese Erlebnisse fügen sich zu einem Ganzen zusammen. Sie bilden ein Ganzes, eine Phase meines konkreten [Bewußtseinsleben] 6 5 . Sie heben sich freilich in ihm ab, sind aber doch in dem Sinne

wechselseitig

unselbständig,

daß sie aus

diesem

konkreten Erlebnisganzen nicht herausgelöst werden können. Dagegen hier, wo

wir

es

einerseits

mit

einem

Wahmehmungserlebnis

von

einem

physischen Ding und andererseits mit diesem Ding zu tun haben, da liegen zwei seinsmäßig und auch in ihrem Beschaffensein gegenseitig selbständige Ganzheiten vor. Ein derartiges Nicht-Teil-von-Etwas-sein bildet die ontische Transzendenz des materiellen Dinges den Bewußtseinsakten, den Erlebnissen gegenüber. Es könnte anders sein. Es könnte z.B. so sein wie in dem Falle, wo ein materielles Ding vorhanden ist, das so genommen, wie es da gesehen wird, farbig ist und zugleich glatt und kalt ist, also eine bestimmte Temperatur hat. In diesem einen Ding gibt es drei verschiedene Momente, drei verschiedene Eigenschaften desselben, die auch "außereinander" sind: Farbe, Temperatur und glatte Oberfläche. Oder z.B. ein Klang, den dieses Ding gerade hervorbringt. Das sind alles unselbständige Momente

dieses

einen Dinges; ohne dieses Ding können sie nicht existieren. Sie sind irgendwie miteinander verflochten, verschwommen, wenn Sie wollen, sind aber voneinander verschieden. Außerhalb der Farbe gibt es den Klang des Dinges oder, sagen wird, die Temperatur; aber trotzdem sind sie in dem Sinne voneinander unselbständig, daß sie in diesem konkreten Ganzen nicht voneinander zu separieren sind. Sie können vielleicht auf eine bestimmte Weise irgendwie variieren, aber sie sind doch unselbständige Momente desselben Dinges. Nein, sagt Husserl, dies ist bei der (ontischen) Transzendenz des Dinges in Bezug auf das Erlebnis, in dem es wahrgenommen wird, und überhaupt in Bezug auf jedes Erlebnis nicht der Fall. Hier liegen zwei Ganze vor. Es gibt keine Einheit, keine sich aus dem Wesen der beiden Elemente ergebende Form, die sie zu einem innerlich verbundenen Ganzen vereinheitlichen würde. [In diesem Sinne] 6 6 ist das materielle Ding dem Erlebnis gegenüber "transzendent". Das eine ist eine "cogitatio", sagt Husserl

65

V.d.Hg. statt bewußten Lebens.

66

V.d.Hg. statt So.

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

später, und das andere ist "cogitatum"; es sind zwei

183

verschiedene

Gegenständlichkeiten. Es gibt aber Fälle, wo dies nicht zutrifft. Nehmen wir die immanente Wahrnehmung meiner transzendenten, äußeren Wahrnehmung eines Dinges in Betracht, oder, wenn ich jetzt denke und darauf achte, daß ich denke; wie sich dies vollzieht, daß ich denke und nicht stehen bleibe, sondern weiter denke, obwohl ich jetzt gleichzeitig Dinge im Saal sehe. Auch dieses Denken nehme ich in gewissem Sinne doch immanent wahr. In diesem Fall, sagt Husserl, gehört das "cogitatum" zu demselben Erlebnisstrom wie das "cogitare"; meine "cogitatio", meine immanente Wahrnehmung, und das immanent Wahrgenommene, mein Denken und mein Wahrnehmen, gehören jetzt zu demselben Bewußtseinsstrom. Zugleich liegt laut Husserl, wenn es sich denn wirklich um eine echte immanente Wahrnehmung handelt, etwas ganz Merkwürdiges vor: Das immanent Wahrgenommene und das immanente Wahrnehmen bilden "eine unvermittelte

Einheit, die (Einheit) einer

67

einzigen konkreten 'cogitatio'" . Sie bilden ein Ganzes, und zwar so, daß das Wahrgenommene - das heißt mein jetzt sich vollziehendes Denken - und das Sich-zum-Bewußtsein-bringen dieses Denkens in dem Sinne eine Einheit sind, daß das Wahrgenommene in dem Wahrnehmen "reell beschlossen" ist. 68 Das wahrgenommene Denken bildet den Untergrund, auf dem sich das immanente Wahrnehmen meines Denkens aufbaut. Es sind zwar zwei noch unterscheidbare "Gegenständlichkeiten", aber trotzdem ist das Wesen des immanenten Wahrnehmens so, daß es ohne das in ihm Wahrgenommene nicht bestehen könnte. Das Wahrnehmen meines Denkens, dieses individuelle Wahrnehmen, kann nicht existieren ohne das Denken, das da gerade wahrgenommen wird; es ist in seinem Sein relativ auf dieses Denken unselbständig. Wenn das Wahrnehmen existiert, dann existiert natürlich das Wahrgenommene, das heißt mein aktuelles Denken. Bei Descartes' "cogitosum" haben Sie dasselbe, hier allerdings auf das "sum" bezogen. Das "cogito" existiert; wenn ich das feststelle, wenn ich das "cogito" erfasse, dann existiert auch das "cogitatum". Mein "cogito" und das ["cogitatum"] 69 des "cogito", das ist eine Einheit; [daß sie "eins" sind, ist in diesem Falle

67

Vgl. Husserliana

III (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 85/86.

68

Vgl. Husserliana

III (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 86.

69

V.d.Hg. statt "cogito".

184

Sechste

Vorlesung

aufgrund des Wesens der "cogitationes" nicht nur möglich, sondern notwendig] 70 . Man kann also sagen: Wenn es das Selbsterfassen, die Selbstwahrnehmung - also die immanente Wahrnehmung - gibt, dann verbürgt mir die Selbstwahrnehmung die Existenz des Wahrgenommenen, meines Erlebnisses, weil gerade das Erste nicht ohne das Zweite existieren kann. Es ist ihm gegenüber unselbständig. So eine Einheit aber kann es zwischen einem Ding und [der Ding Wahrnehmung] 71 wesensmäßig nicht geben, da sie außereinander sind und auf eine solche Weise außereinander sind, daß sie keine neue Ganzheit bilden. Wir kennen also jetzt die Begriffe der (ontischen) Transzendenz und Immanenz im Sinne Husserls und wollen jetzt den bereits zitierten Satz im weiteren Kontext lesen: "Es ist evident, daß so etwas wie ein materielles Ding, z.B. dieses im Wahmehmungserlebnis gegebene Papier, prinzipiell kein Erlebnis ist, sondern ein Seiendes von total verschiedener Seinsart, im Erlebnis als real seiend bewußt, aber nicht als reales Bestandstück darin enthalten."72 "Und doch ist es klar" - lautet nun der darauffolgende Satz - "doch ist es klar, daß die cogitatio in sich cogitatio von ihrem cogitatum ist, und daß dieses als solches, und so wie es da ist, von ihr unabtrennbar ist" 73 , daß es das "cogitatum" ist. - Wovon ist das "cogitatum" unabtrennbar? Die Antwort drängt sich auf: von ihr, d.h. von der "cogitatio". Das Ding ist transzendent, das Ding ist in diesem Falle "cogitatum". Es ist transzendent, d.h. es bildet kein Stück von dem Wahrnehmen und ist auch ohne jede wesentliche Einheit mit ihm, so daß es kein Ganzes mit ihm bildet; und doch ist es von ihm unabtrennbar. Was "cogitatum" ist, ist unabtrennbar vom "cogitare"? Es ist zu beachten, daß nicht gesagt wird, das "cogitare" sei unabtrennbar vom "cogitatum", sondern umgekehrt. [Das "cogitatum"] 74 ist zwar ein Ganzes,

70

V.d.Hg. statt und das ist aus dem Wesen der "cogitationes" möglich und notwendig in diesem Fall, es ist eins.

7

V.d.Hg. statt dem Wahrnehmenden.

72

Husserliana

73

[Ingarden] Dieser Satz steht ebenfalls nicht in der 1. Auflage der Ideen, sondern ist ein Zu-

'

III (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 76.

satz, der aus einer Randbemerkung Husserls in seinem 2. Handexemplar der Ideen stammt. [Hg.: Vgl. Husserliana 74

V.d.Hg. statt Es.

III (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 76/77; 468.)

Elemente einer phänomenologischen

Theorie der Wahrnehmung

185

ein zweites, ohne wesentliche Einheit mit [dem "cogitare"] 75 , und doch "unabtrennbar". Was aber dieses "unabtrennbar" heißt, wird zunächst nicht gesagt. Später aber klärt es sich und zwar in dem Sinne, daß [das "cogitatum"] 76 nicht sein kann, ohne daß sich die betreffende "cogitatio" vollzieht. Und das ist auch ein Satz, den wir in den Ideen / so ohne weiteres, ohne eine nähere Begründung bekommen. Und dann müssen wir uns fragen, um Gottes willen, warum? Was sind die Gründe dafür, daß dieses "cogitatum" das Transzendente sein soll und in keiner Einheit mit dem "cogitare" steht, (trotzdem aber) von diesem "cogitare" unabtrennbar ist? Nun, dann kommen wir zurück zur Äquivalenz der Sätze "A existiert" und "Es ist prinzipiell ein Weg möglich, die Existenz von A auszuweisen". Man muß dann sagen: Obwohl das "cogitatum" etwas Zweites und Transzendentes ist, existiert es auf die Weise, daß es ohne das "cogitare" nicht existieren kann. Das ist das Wesen dieser Existenzweise. Das "cogitatum" ist eben, sagt Husserl, kein absolutes Sein; dagegen ist das "cogitare" der "cogitatio" ein absolutes Sein, das existieren kann, ohne daß das existierende Ding da ist. Es kann existieren, da es durch das Wahrgenommene nicht bedingt ist. Das ist diese asymmetrische Beziehung zwischen zwei Seienden: das erste Seiende ist das Bewußtsein, das Erlebnis, und das zweite Seiende ist das materielle Ding und die ganze materielle Welt. Ja, noch mehr. Auch ich als Mensch bin doch irgendwie im Materiellen gegründet. Aber hier kann gesagt werden: Mein Leib existiert nicht ohne das Bewußtsein. Wie Sie sehen, ist in diesen Bestimmungen des (ontischen) Transzendenzbegriffes bei Husserl die ganze weitere Theorie, die man dann den "transzendentalen Idealismus" Husserls nennt, im Keim schon enthalten. Man könnte natürlich sagen: Dies ist so, weil doch alles zusammenstimmen muß. Es muß aber ausgewiesen, es muß gezeigt werden, daß dieses "absolute Sein" eben so ist, und daß das Nichtabsolute, das Nur-Transzendente, Nur-Intentionale eben so ist. Dies muß in Analysen gezeigt werden in Analysen der Wahrnehmung, in Analysen des Bewußtseins, der Erkenntnis überhaupt. Ja, und für diese Analysen muß man jetzt auch einen Weg finden - eine Methode, die es möglich macht, dieses reine Bewußtsein in sich selbst zu haben und zu erfassen. Welches ist dieser Weg? Nun, es geht 75

V.d.Hg. statt ihm.

76

V.d.Hg. statt es.

186

Sechste Vorlesung

natürlich um die berühmte "phänomenologische Reduktion". Das ist wiederum ein großes Kapitel für sich. Darüber werde ich das nächste Mal sprechen und beginnen werde ich mit der sogenannten Generalthesis der natürlichen Welt. Im Gegensatz dazu gibt es nämlich diese Reduktion, die uns gemäß Husserl ein ganz anderes Sein eröffnet - eben das transzendentale Bewußtsein, das absolut existiert. "Nulla re indiget ad existendum", das ist ein Zitat aus Spinoza, der damit eine Bestimmung der Substanz (im Sinne Spinozas), der "causa sui", geben wollte, die ohne jede andere "causa" existiert, die keines anderen etwas zu ihrer Existenz bedarf. Ja, und das soll jetzt gemäß Husserl das reine Bewußtsein sein.

Siebte Vorlesung (27. Oktober 1967) (Eidetische und Transzendentale Reduktion) Ich werde heute meinem Plane gemäß über die natürliche Welt und die Generalthesis der natürlichen Welt sprechen und dann über die sogenannte transzendental-phänomenologische Reduktion. Es ist zur Zeit Sitte zu sagen, es gäbe zwei Reduktionen, nämlich die eidetische Reduktion und eben diese "transzendental-phänomenologische" Reduktion. Ich habe gesagt, es sei (zur Zeit) Sitte (so zu unterscheiden). Als ich in der Phänomenologie noch Anfänger war, sprach man in Göttingen nicht von zwei Reduktionen. Man sprach vor dem Jahre 1913, vor der Publikation von Husserls Ideen /, im allgemeinen von keiner eidetischen Reduktion, sondern bloß von der einen "Einstellung" auf das Wesen, auf die "Idee". In Husserls Vorlesungen trat das Wort Reduktion' natürlich auch früher auf, vor dem Jahre 1913. Aber erst nach den Ideen I hat man die Frage nach der Reduktion wirklich diskutiert; da sprach man aber fast ausschließlich von derjenigen Reduktion, die man "transzendentale" Reduktion nennt. In den Ideen I steht der Ausdruck 'eidetische Reduktion' nur ein einziges Mal, und zwar in der Einleitung. An einigen anderen Stellen kann man nur erraten, daß es sich darum handelt. Später habe ich den Ausdruck 'eidetische Reduktion' u.a. bei Max Scheler gefunden - und zwar in dem Sinne, daß er nicht bereit war, die transzendentale Reduktion mitzumachen, die eidetische Reduktion dagegen noch sinnvoll fand. Beide Reduktionen sind zweifellos zu berücksichtigen, weil Phänomenologie doch eine Wissenschaft des Bewußtseins sein soll, die sich von anderen Wissenschaften, welche sich auch mit dem Bewußtsein beschäftigen, vor allem von der Psychologie, wesensmäßig unterscheiden soll. Und da, sagt man, gibt es zwei Unterschiede. Erstens ist die Psychologie eine empirische Wissenschaft von Realitäten, von Menschen, die dies und jenes erleben und psychisch-physische Realitäten sind. Die Phänomenologie dagegen, so wie sie von Husserl geplant war, ist keine empirische Wissenschaft.

Siebte

188

Vorlesung

Denn zu Beginn der Ideen 1 gibt es ein Stelle 1 , wo Husserl sagt, wir könnten auch eine nicht-eidetische Phänomenologie bilden, die sich auf Erlebnisse, Bewußtseinserlebnisse richten würde, die dann aber Irrealitäten

heißen.

Eben dies ist der zweite Punkt, wodurch sich die Phänomenologie von der Psychologie unterscheidet. Die Psychologie beschäftigt sich mit Erlebnissen als Äußerungen eines realen, psycho-physischen Individuums. Die Phänomenologie dagegen beschäftigt sich mit Erlebnissen, die - wie man sagt "gereinigt" sind. "Gereinigt" wovon? Von der Auffassung, daß sie Realitäten innerhalb der Welt sind. Um diese Reinigung vollziehen zu können, muß man besondere Mittel haben, besondere technische Mittel - nämlich die epoche,

die "transzendentale"

Reduktion. 2 Wenn man aber von den

Tatsächlichkeiten oder, sagen wir, Realitäten zu etwas kommen will, was (nur) zufällig Realität ist, braucht man noch etwas anderes, muß man noch die Einstellung auf das Wesen vollziehen. 3 Und hier greift die zweite Reduktion ein, die eidetische Reduktion. Also das ist der Plan: Diese beiden Punkte sollen durch diese beiden Reduktionen irgendwie hergestellt, realisiert werden. Nun, ich werde mit der Reduktion anfangen, die sozusagen an zweiter Stelle steht, d.h. mit der eidetischen. Denn man kann die Phänomenologie ohne diese Reduktion betreiben, will man aber die Phänomenologie als eipe eidetische Wissenschaft betreiben, dann muß man über die individuellen Verläufe des reinen Bewußtseins hinausgehen und somit die eidetische Reduktion anwenden. Um zu erklären, was sie ist, muß man an die Auffassung des Wesens bei Husserl anknüpfen. Und da müssen wir zunächst in den Schriften Husserls eine Umschau halten. Denn es gibt (erstens bei Husserl)

Vgl. Husserliana

III (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 7.

[Ingarden] In den Ideen l scheint Husserl diese beiden Ausdrücke promiscue zu verwenden; erst in der Krisis hat er deutlich zwei zugehörige Funktionen unterschieden. [Poltawski] Das, was "zufallig Realität ist", ist die Wesensbestimmung eines Gegenstandes. Diese Wesensbestimmung kann entweder als vereinzelte und in einem konkreten Gegenstand verkörperte oder (in der "eidetischen Einstellung") als etwas Ideales und Allgemeines genommen werden. Wenn wir sozusagen von der "neutralen" Auffassung dieser Wesensbestimmung ausgehen, wenn wir sie momentan also weder als etwas Individuelles noch als etwas Allgemeines nehmen, so können wir sagen, daß sie nur zufälligerweise etwas Reales ist, weil sie in keinem individuellen Gegenstand verkörpert sein muß, sondern eine ideale Möglichkeit bleiben kann. Vgl. auch Ingarden (1971b), § 26.

Eidetische und Transzendentale

Reduktion

189

verschiedene Phasen der Auffassung des Wesens, und zweitens gibt es (bei Husserl) auch verschiedene Auffassungen der Erlebnisse, die uns zu dem Wesen führen. Der erste Schritt wurde von Husserl in den Logischen suchungen

Unter-

4

getan. Das habe ich bereits erwähnt. In der 2. und 6. Untersu-

chung ist von der "Species" die Rede. "Species" - das ist die ideale Qualität, das ist das, was man (z.B.) hat, wenn man beim Vergleich von zwei weißen Dingen sagt: Ja, sie sind beide gleich weiß. Und zwar können sie es im Bezug auf ein bestimmtes Was, das Weiß, sein. Das "Weiß" [ist] 5 nicht das Individuelle, das eine oder andere Ding, sondern das ist diese Species, die an den beiden verschiedenen Fällen identisch zur Erscheinung kommt. Vom Wesen der Dinge, vom Wesen des Menschen wird da eigentlich nicht gesprochen. Es wird bloß auf diese Species hingewiesen, und diese ist immer irgendeine

einfache oder

synthetische

blikationen Husserls [erscheint]

6

Qualität.

In

den

späteren

Pu-

das Wort 'Wesen' anstelle von 'Species';

neben dem 'Wesen' wird nicht mehr das Wort 'Species', sondern das griechische Wort 'Eidos' verwendet. Und da ist von eidetischen Wissenschaften die Rede, insbesondere von der eidetischen Phänomenologie. Und wenn wir fragen, wie dieses "Wesen" im ersten Band der Ideen eingeführt wird, so finden wir eine Reihe von ganz kurzen Behauptungen, die zum Teil miteinander nicht übereinstimmen und die zusammen auch sehr wenig darüber sagen, was dieses Wesen (eigentlich) ist. Ferner war in den Logischen

Untersuchungen

als ein Pendant zu der

"Species" auch von der Erfassung dieser Species die Rede, und sie hieß damals "Ideation". Ideation - das ist dieser besondere Akt, in dem man Species erfassen [will] 7 und eventuell wirklich erfaßt. In den Ideen I verschwindet der Ausdruck 'Ideation', er wird nur manchmal in Parenthese gesetzt; dafür tritt ein anderer Ausdruck auf: 'Wesensschau' oder 'Wesenserschauung'. Und eigentlich finden wir in den Ideen / nur zwei nähere Bestimmungen dazu. Zunächst, daß diese Wesensschau wirklich ein anschaulicher Akt ist, daß sie wirklich Erschauung ist - kein Gedanke, kein bloßes Denken, sondern "Schauen". (Dieses Wort 'Schauen' hat übrigens Scheler sehr geliebt.) [Das

Vgl. oben Vorlesung I. V.d.Hg. statt ist] schon. V.d.Hg. statt erscheint! in einem Moment. V.d.Hg. statt konnte.

190

Siebte

Vorlesung

ist also der erste Punkt: Die Wesensschau ist ebenso "Anschauung" wie die sinnliche Erfahrung.] 8 Und doch ist sie von der sinnlichen Anschauung verschieden, und sie ist auch von der immanenten Wahrnehmung des Individuellen radikal verschieden. Aber wie? Das wird nicht gesagt. An Beispielen sollen wir uns da irgendwie orientieren, so daß wir wissen: Jetzt haben wir es mit der Wesenserschauung zu tun und nicht mit einer empirischen Erfassung dieser Farbe da, dieses Tisches dort usw. Es muß da irgendeine andere Einstellung geben, [erst dann gelangt man zur Erschauung des Wesens] 9 . Später, viele Jahre nach den Ideen /, nämlich im Jahre 1925, hat Husserl eine [andere, in gewissem Sinne ergänzende Theorie dazugefügt] 1 0 . Ich habe im Jahre 1927 ein Manuskript von ungefähr 30-40 Seiten g e s e h e n . " Auf dem ersten Blatt stand mit blauem Bleistift geschrieben: "Variation 1925". Dieses Manuskript wurde später in das Buch aufgenommen, das nach dem Tode Husserls unter dem Titel Erfahrung

und UrteiO2

erschienen ist. Da

gibt es also etwas mehr über diese, sagen wir, unmittelbare apriorische Erkenntnis, und es taucht auch dieser Begriff der Variation auf, [der eine besondere Operation meint] 1 ·', die uns verhilft, das Wesen von etwas zu erfassen. Das ist also eine spätere Auffassung, die mit einer neuen, bei Husserl in den Ideen I noch nicht vorhandenen Auffassung der Idee zusammenhängt. Im Rahmen der Ideen I erfahren wir also zunächst bloß dies: Die Wesenserschauung ist eine Anschauung, ist aber wesentlich verschieden von der Erfahrung im engeren Sinne. Des weiteren wird noch gesagt, daß bei der Wesenserschauung auf die Zufälligkeit verzichtet wird, [wobei das Reale, das Tatsächliche als zufällig gilt] 1 4 . Auch auf die Individualität dessen, was uns da in der Erfahrung vorliegt, wird verzichtet, wenn wir zu dieser Anschauung übergehen. Warum soll da auf etwas verzichtet werden? Nun, weil hier mit einer empirischen 8

V.d.Hg.

statt A l s o das ist der eine Punkt. Es ist gerade so " A n s c h a u u n g " , wie die sinnliche

Erfahrung. 9

V.d.Hg. statt und dann b e k o m m t man erst die Erschauung. V.d.Hg. statt andere Theorie dazu in g e w i s s e m Sinne angebaut.

11

'2

Vgl. Ingarden (1965a), 248, A n m . 9. E. Husserl, Erfahrung

und Urteil.

Untersuchungen

hrsg. v. L. Landgrebe, Prag 1939; H a m b u r g '^

6

zur Genealogie

1985.

V.d.Hg. statt als besondere Operation. V.d.Hg. statt - zufällig ist das Reale, das Tatsächliche.

der Logik, redigiert und

Eidetische

und Transzendentale

Reduktion

191

Erfahrung oder empirischen Anschauung angefangen wird, mit einem, sagen wir, individuellen Ding, und erst als ein Überbau oder eine Transformation dieser ursprünglichen empirischen Erfassung tritt etwas anderes ein, nämlich die "Ideation", die Wesenserfassung. Und da muß auf etwas verzichtet werden, was in der ersten Anschauung da war und in der zweiten gar nicht mehr vorhanden ist: eben diese Individualität, die Individualität des zufälligen empirischen Dinges. Und dazu gehört jetzt die Theorie: Es gibt individuelle, tatsächlich existierende Dinge, wirkliche Dinge, die sich eben als Tatsächliches vor allem dadurch auszeichnen, daß sie zufällig sind. Zufällig worin? Im Sein? Im Beschaffensein? Es scheint da gar keine Notwendigkeiten zu geben, als Gegensatz zum Zufall. Nun, da sagt der Naturwissenschaftler: Es gibt doch Notwendigkeiten; es gelten ja die empirischen Gesetze, Kausalgesetze, die ganze Physik usw. Was ist denn das Zufällige in dieser Welt, wo nichts zufällig ist? fragt man. Es ist doch alles eindeutig bestimmt durch die Lage der kausalen Bedingungen, unter welchen es zu etwas kommt, nicht wahr? - Da sagt Husserl: Ja, ja, das sind empirische Regelungen, die eben gerade zufällig sind. Sie könnten doch ganz anders sein. Es müßte nicht so eine Welt sein wie diejenige, in der wir leben, eine solche Welt, in der solche kausalen Gesetze gelten. Das sind nur Regeln, das sind keine strengen Gesetze. Und er sagt weiter: Zum Wesen des Individuellen gehört es, daß es auch anders sein könnte. Es ist freilich so, wie es da ist, aber es könnte doch zerschlagen werden; es könnte nicht braun, sondern rot sein, es könnte nicht so durchsichtig, sondern undurchsichtig sein usw. Es gehört eben zu seinem Wesen, daß es anders sein könnte. Und dann noch weiter: Zu dem empirischen Ding da gehört es, daß es sich jetzt gerade hier befindet, gerade an dieser Stelle. Aber es müßte nicht unbedingt hier sein, es könnte dort sein, und es könnte in diesem Moment auch gar nicht da sein: Ich könnte ja z.B. mit dieser Brille dort hineingehen und sie unterwegs fallen lassen, sie würde zerbrechen und gar nicht mehr da sein, nicht wahr? Also zum Wesen des empirischen Dinges gehört es, daß es nicht so sein muß, wie es ist, und daß es auch in einem anderen Raum und in einer anderen Zeit sein könnte, als es tatsächlich ist. Daß es tatsächlich so ist und hier ist, dafür - sagt man - sind die kausalen Gesetze verantwortlich. Aber es könnte doch ganz anders sein, nicht wahr, es bräuchte nicht so zu sein.

192

Siebte

Vorlesung

Ja, und jetzt k o m m t dieser Kontrast z w i s c h e n d e m individuellen zufälligen G e g e n s t a n d , der anders sein könnte, i r g e n d w o anders sein könnte und in einer anderen Zeit sein könnte - und seinem W e s e n . Dieses W e s e n ist gerade so, daß es dem Gegenstand vorschreibt, so zu sein, oder es ihm ermöglicht, anders zu sein. Und da fragt man: Nun, w a s ist mit diesem " W e s e n " , und z w a r dem W e s e n eines D i n g e s , g e m e i n t ? Es k o m m t schon nicht mehr auf die S p e c i e s an, auf eine besondere Qualität, im Hinblick auf w e l c h e z w e i D i n g e z . B . rot sind. Es k o m m t auf das W e s e n eines Dinges, eines M e n s c h e n oder eines V o r g a n g s an, und z w a r dieses individuellen D i n g e s da. Ja, w a s ist aber dieses W e s e n ? D a s wird bei Husserl nicht eindeutig gesagt. Zunächst - und das wird bei Husserl unterstrichen -, zunächst ist es das Was des Dinges, also was es eigentlich ist. D i e s e s Wort 'Was' bei Husserl hat sich dann bei anderen Leuten zu einem besonderen Substantivum g e staltet. Z . B . spricht M a x S c h e l e r immer von "Washeiten". W e n n wir in der G e s c h i c h t e der Philosophie weit g e n u g zurückgehen, finden w i r e t w a s Ä h n liches: das ti, das ti einai von einem tode ti. Z . B . dieses D i n g ist eine Brille, dessen ti "Brillheit" ist (wenn S i e das Wort erlauben); und das ist ein T i s c h , dessen ti eben "Tischheit" ist usw. Es scheint, daß dieses W a s immer generell ist, aber z u g l e i c h in diesem Individuum da irgendwie verkörpert sein soll. Einerseits dieses Etwas, w a s diesen T i s c h z u m T i s c h e macht, aber andererseits diese "Tischheit" generell verstanden, die es auch zum

Tisch

macht. Es scheint dieselbe Situation vorzuliegen wie einst bei Aristoteles, nicht wahr, daß das Eine in d e m betreffenden D i n g selbst, in d e m tode ti, in dem Individuum irgendwie verkörpert sein soll, und dennoch zugleich to katholou

ist, das heißt " D a s - i m - A l l g e m e i n e n " . W e n n wir dabei bleiben soll-

ten, [dann würde es unverständlich sein, w a r u m ich die "Variation" als O p e ration des Entdeckens des W e s e n s überhaupt erwähnt habe; es würde unverständlich sein, w o z u sie dienen sollte] 1 5 . Es gibt aber noch eine andere Erklärung Husserls über das W e s e n : Ein individueller G e g e n s t a n d ist nicht nur überhaupt ein individueller, ein dies da, tode ti, ein einmaliger; er hat als in sich selbst so und so B e s c h a f f e n e r auch seine Eigenart,

seinen Bestand an wesentlichen Prädikabilien, die ihm

als S e i e n d e m z u k o m m e n müssen, w i e er an sich selbst ist, damit ihm andere,

' 5

V.d.Hg. stall dann würde diese ganze G e s c h i c h t e , die ich da über die "Variation" als O p e ration des Entdeckens des W e s e n s erwähnt habe, unverständlich sein, w o z u das dienen soll.

Eidetische

und Transzendentale

Reduktion

193

sekundäre, zufällige Bestimmungen zukommen können. 1 6 Jetzt also sieht die Sache ganz anders aus. [Es geht nicht um die Washeit - die Washeit ist nur ein Moment, z.B. "Tischheit", individuell men -, sondern es geht um den Bestand]

17

oder

nicht-individuell genom-

von wesentlichen Prädikabilien,

die einem individuellen Gegenstand zukommen müssen, damit ihm andere, sekundäre (Bestimmungen) zukommen können. Also in dem Gesamtbestand des Dinges, d.h. eines individuellen Gegenstandes, ist jetzt eine merkwürdige Scheidung vorgenommen worden. Nicht alle Bestimmtheiten sind, so kann man sagen, gleichwertig; nicht jede Bestimmtheit ist in demselben Sinne verankert und ist - wenn wir ein anderes Wort verwenden dürfen - in demselben Sinne für das betreffende Ding konstitutiv, sondern es gibt welche, die sekundär, konsekutiv sind. Da genügt also nicht diese Ideation, die mich zur Species führt; es ist jetzt notwendig, zunächst mal das "Was" (eines Dinges) zu fassen und dann diese sogenannten wesentlichen Prädikabilien zu entdecken, die eine besondere Rolle in dem ganzen Gegenstand ausüben. Nun, ich habe mir erlaubt, auf die Tradition zurückzugreifen. Wenn ich die Metaphysik

von Aristoteles studiere, kann ich mich schon etwas orien-

tieren. Das Was an einem tode ti, das ist das ti einai: was es ist, nicht wahr, und das habe ich "Natur" genannt. 1 8 Und das Andere, diese wesentlichen Prädikabilien, ist das poion einai., poion - wie ist das, was Tisch ist, wie ist das weiter bestimmt? Ja, es gibt viele Bestimmtheiten, die alle zusammen dieses poion ausmachen, aber jetzt muß eine Scheidung vorgenommen werden. Innerhalb dieses poion müssen manche Bestimmtheiten als wesentlich und konstitutiv herausgewählt werden, damit andere als unwesentlich, zufällig, sekundär oder konsekutiv davon abgeschieden werden können. W o f ü r - muß ich fragen - sollen diese Prädikabilien wesentlich sein? W o f ü r ? Irgendetwas muß doch sozusagen diktieren, was dieses Grundlegende und jenes Konsekutive ist. Nun, ich kann das nur in dem Sinne verstehen, daß Beides zu dem Wesen zählt, und sagen: 1 9 Das Was, das ist das dirigierende Moment. Dieses Was bestimmt, welche andere, nicht das Was

16

Vgl. Husserliana

17

V.d.Hg.

III/l (hrsg. v. K. S c h u h m a n n ) . Den H a a g 1976. 12t".

statt Es ist gar keine Washeit. die Washeit. das ist bloß ein M o m e n t , das ist die

Tischheit, individuell oder nicht-individuell g e n o m m e n . Es ist d e m g e g e n ü b e r ein Bestand. 18

Vgl. I n g a r d e n ( 1925a). 147-155: 211-218; (1965a). SS 3 9 . 4 0 .

19

Vgl. Ingarden (1925a), 191-206: 208-211: (1965a). SS 40. 41. 58. 59.

194

Siebte

Vorlesung

bildende Bestimmtheiten da hinzugehören (müssen), so daß eine bestimmte innere Kohärenz, eine innere gegenseitig Abhängigkeit zwischen dem "Was", dem ti, und einem Teil des poion, einem Teil der Mitbestimmtheit(en), [besteht] 20 . Da muß es irgendwelche strenge Abhängigkeiten geben, es muß etwas von dem anderen abhängen, es muß etwas in Bezug auf das andere unselbständig sein, damit es selbst existieren kann. Andererseits kann oder muß auch Verschiedenes aus dem betreffenden Gegenstand

ausgeschlossen

werden, denn sonst würde er

sozusagen

"explodieren", wie Husserl sagte. Ein Tisch kann keine solche Bestimmtheiten haben, wie sie z.B. für eine junge Dame charakteristisch sind, sondern er muß andere charakteristische Bestimmtheiten besitzen. Ein Tisch muß z.B. flach sein; es dürfen an seiner oberen Fläche nicht steile Berge vorhanden sein, sonst würde er nicht als Tisch dienen können. [Es ist von vornherein bestimmt] 21 : Ein Tisch kann rund oder rechteckig sein, er kann aus Holz oder aus Stein sein usw., aber er muß doch eine ganz bestimmte Form haben: Der obere Teil muß flach sein und er muß im Raum horizontal stehen, denn sonst würde [das Ganze] 2 2 nicht als Tisch dienen können. Also da beginnt sich aus der Menge aller Bestimmtheiten eine Segregation zu vollziehen, eine [Ausscheidung von] 2 3 Bestimmtheiten, die in engerem Zusammenhang mit der "Tischheit" stehen, und von solchen Bestimmtheiten, die wandelbar sind. D.h. ein Gegenstand kann sowohl dann ein Tisch sein, wenn er rechteckig ist, als auch dann, wenn er rund ist, als auch dann, wenn er elliptisch ist usw. Er kann sowohl dann ein Tisch sein, wenn er aus Holz ist, als auch dann, wenn er aus Stein ist usw. Es gibt die mit dem ti zusammenhängenden

konstanten

Bestimmtheiten,

und es gibt

andere

Bestimmtheiten, die freilich im Einzelfall da sind, aber es ist ein bloßer Zufall, daß sie auch da sind, nicht wahr, sie müssen nicht da sein, sie sind eben variabel, sie [könnten verschieden] 24 sein. Ja, dann gibt es noch Fragen. Es ist tatsächlich so, daß dieser Tisch da aus Holz ist und daß er rechteckig ist, und weil er aus Holz ist, macht er die-

20

V.d.Hg. statt bestehen müßte.

2

V.d.Hg. statt Husserl schreibt vor.

22

V.d.Hg. statt er.

23

V.d.Hg. statt Wahl dieser.

24

V.d.Hg. statt können Verschiedenes.

'

Eidetische

und Transzendentale

Reduktion

195

sen Radau, wenn ich darauf klopfe. Wenn er aus Gold oder Silber wäre, würde das ganz anders klingen usw. Dieser Klang ist auch eine von seinen Bestimmtheiten. Es ist eine Tatsache, daß dieser Tisch gerade so ist, indem er, dieser individuelle Tisch, da ist. Und da muß gefragt werden: Warum ist er gerade so? Warum sind alle diese variablen Momente da, aus denen dieser Fall da gerade realisiert worden ist? Nun, die Antwort lautet: Er ist deswegen so rechteckig usw., weil ihn jemand so gemacht hat, nicht wahr. Ursachen, Kombinationen von Ursachen haben es ermöglicht, daß dieses Individuum just in dieser Mannigfaltigkeit von Bestimmtheiten existiert. Wie soll es aber einem einfallen, wenn man es z.B. mit diesem Tisch zu tun hat, daß gerade die Tischheit konstitutiv ist, und daß sie dieses Flachsein, diese horizontale Stellung usw. vorschreibt, und daß die anderen Bestimmtheiten eben variabel sind? [Nun, da sagt Husserl nach dieser ganzen Analyse (in den Ideen I steht diese freilich nicht, Husserl kennt sie aber)] 25 : Ja, es gibt doch die Operation der "Variation". Ich halte die Tischheit fest, und jetzt gibt es eine Operation, die ich in der Imagination durchführen kann, ohne mich also auf die Erfahrung stützen zu müssen, nämlich: Diese rechteckige Gestalt kann - wie Sie wollen - in eine runde Gestalt, in eine elliptische usw. "ausgewechselt" werden - [der vorgestellte Gegenstand] 26 wird immer noch ein (vorgestellter) Tisch sein. Wenn ich aber aus dieser flachen Oberfläche Berge "mache", dann wird er aufhören, ein (vorgestellter) Tisch zu sein - es würde eine Rekonstruktion z.B. des Matterhorns sein. Also das sind diese Operationen der Variation und der Erfassung dessen, was konstant sein muß, wenn das betreffende Individuum, das betreffende Ding, Tisch usw. ist, dieses (oder jenes) ti hat. Aber da kommt noch etwas hinzu. Dieses individuelle Ding existiert real und wandelt sich. Es gab einen Moment, wo es aus verschiedenen Stücken zusammengesetzt wurde, z.B. dieser Tisch: unten ist Eisen, oben ist Holz usw., und es ist Tisch geworden und bleibt das noch weiter. Es gibt zwar verschiedene Wandlungen in diesem Realen da: Wenn es wärmer wird, wird es etwas breiter, und wenn es kälter wird, zieht es sich zusammen usw. Wenn es alt wird, wird es nicht mehr so schön hell sein, sondern es wird 25

V.d.Hg. statt Nun. da sagt Husserl nach dieser ganzen Analyse, die bei ihm nicht steht, aber die er kennt.

26

V.d.Hg. statt e s.

196

Siebte

Vorlesung

schmutzig sein usw. Der Gegenstand verändert sich auf verschiedene Weise. Aber trotz dieser Veränderungen in seiner Geschichte bleibt er doch dasselbe Ding, und zwar derselbe Tisch. Wie muß also dieses ti sein, das gewisse wesentliche Prädikabilien vorschreibt? Ja, es muß so sein, daß es sich [in allen Veränderungen] 27 des betreffenden Dinges als identisch erhält. Es muß so sein, wie es einst war. Wer spricht hier wiederum? Da spricht eben Aristoteles: Das to ti en einai - das ist das, was das Wesen eines Individuums konstituiert, nicht wahr? Warum erzähle ich das so breit? Weil ich glaube, daß das, was in den Ideen I über die sogenannte eidetische Reduktion gesagt wird, nicht ausreichend ist. Husserl sagt: Man muß auf die Individualität verzichten. 28 Und ich muß auf die Tatsächlichkeit verzichten. [Ich muß auf die Seinssetzung, daß etwas wirklich existiert, verzichten] 29 - da ist diese Transformation, also das ist diese eidetische Reduktion. Es wird auf die Individualität und auf die Tatsächlichkeit verzichtet. Aber dies ist noch viel zu wenig, ich kann damit noch nicht zum Wesen des Individuellen kommen. Denn ich muß jetzt noch dieses Was herausfinden, und ich muß mit Hilfe neuer Operationen, z.B. mit Hilfe jener Variationsoperation, zu diesem Was die konstanten Momente entdecken, die im Gegenstande vorhanden sein müssen, und die anderen, die in ihm vorhanden sein können - die muß ich aus dem Ganzen (eines Gegenstandes) herauslesen. Also man muß da sehr weit über das hinausgehen, was in den Ideen I "eidetische Reduktion" heißt. [Natürlich kann das Wesen jetzt noch auf doppelte Weise behandelt werden.] 30 Wenn wir ein individuelles Ding haben, dann ist sein Wesen natürlich ebenso individuell wie das Ding selbst. Husserl spricht in den Ideen I vom "Wesen in der Konkretion". Wenn ich feststellen soll, wie dieses individuelle Ding da sein individuelles Wesen hat, so stehe ich vor der schwierigsten Aufgabe, die es überhaupt gibt, nämlich wie ich da aus dem Ganzen dieses Was herausfinden soll. Warum kann es nicht, sagen wir, "hölzernes

27 28

V.d.Hg. statt in den Wandlungen der Geschichte. [Ingarden] Es ist eine besondere Schwierigkeit, was "Individualität" hier heißt, aber das kann ich jetzt beiseite lassen!

29

V.d.Hg. statt Ich muß auf die Seinssetzung als wirklich existierend verzichten. V.d.Hg. statt Natürlich, jetzt kann es auf doppelte Weise behandelt werden.

Eidetische und Transzendentale

Reduktion

197

Ding" sein, das Was von diesem Gegenstand da? Oder warum kann es nicht "Eigentum der Universität von Oslo" sein? Warum gerade "Tisch"? Wenn ich dagegen diese Washeit (eines Dinges) bereits (erfaßt) habe, dann kann ich schon versuchen, mit Hilfe der Variationsoperation und "Konstantenoperation" die dazugehörigen komplementären Momente in der Intuition herauszufinden. Das kann ich schon versuchen, mehr oder weniger auf die Gefahr hin, daß ich mich irren kann; es besteht aber die Möglichkeit, daß es mir gelingen wird, diese zu finden. Aber da bin ich schon über das Individuelle hinaus, da bin ich schon zu dem Punkt gekommen, wo Husserl sagt: Jedes Individuelle hat ein Eidos, das an sich, generell, zu erschauen oder zu erfassen ist. Da bin ich nicht mehr bei dem Wesen in der Konkretion dieses Dinges da, sondern da bin ich schon bei dem "reinen" Eidos. Da befinde ich mich schon in einer ganz anderen Welt, nicht mehr in der Welt der Individualitäten, sondern in einer ganz anderen Welt - die man platonisch oder nicht-platonisch nennt, das ist ganz egal. Da gibt es jetzt "Tischheit überhaupt", nicht diese Tischheit des individuellen Dinges, sondern Tischheit überhaupt. Und ob es eine Tischheit gibt, die Tischheit dieses Tisches da, und ausschließlich dessen Tischheit, das ist eine große Frage. Existiert so etwas überhaupt? Wie sie wissen, war das eine Frage, um die man im Mittelalter sehr kämpfte. Denn Duns Scotus sagte, daß es so etwas wie die ganz einmalige, nicht wiederholbare Wasbestimmtheit gibt. Es könnte nicht ein anderes gerade dies sein; das Beispiel war "Socratitas", das heißt dieses ti einer bestimmten Person. Ja, da kann man eventuell Duns Scotus zustimmen und sagen: 31 Vielleicht gibt es so etwas wie Socratitas, wie das, was Goethe als Goethe konstituiert, nämlich den großen Dichter Goethe, nicht seinen Sohn usw. Das ist das ganz Einmalige - haecceitas -, dem die verschiedenen Washeiten gegenübergestellt werden, die gerade generell sind wie z.B. Tischheit, Röte usw. Auch das kann ich hier im Rahmen der Konkretionen nicht herausfinden; ich muß es an sich erfassen, ich muß vom Individuellen ganz abgehen. Ob es möglich ist vielleicht ist es nicht möglich -, das ist eine andere Frage. Jedenfalls kann ich [nicht sozusagen beim Individuellen] 32 bleiben, ich muß mich [erst einer

3 32

'

Zum Problem der haecceitas vgl. Ingarden ( 1965a), §§ 58, 59 (besonders 424ff.). V.d.Hg. statt da nicht.

198

Siebte

Vorlesung

anderen Welt zuwenden] 3 3 und dann besondere analytische, anschauliche Operationen durchführen. Spricht man z.B. über das Bewußtsein, so soll man doch nicht über das Bewußtsein des Erlebnisses sprechen, das ich gerade jetzt habe, also nicht über das Wesen meines Erlebens in diesem Augenblick, in diesem Fall. Denn ob ich darin diese haecceitas finden könnte, das ist eine sehr große Frage. Aber ich kann es doch als Bewußtseinserlebnis überhaupt erfassen. Wenn ich jetzt z.B. denke, und wenn ich dies oder jenes beobachte und erfasse, so kann ich an diesem als Beispiel (genommenen) ein Generelles irgendwie erschauen, nicht wahr, das ist durchaus möglich. Wenn man also propagiert (und das ist bei Husserl natürlich ein Programm, das zu erfüllen ist!), man solle eine Wissenschaft vom Bewußtsein betreiben, die eine Wesenswissenschaft, eine "eidetische" Wissenschaft ist, so würde ich sagen: Es ist vielleicht möglich, dies zu tun, jedoch nur in der Einstellung auf das Generelle, auf das Bewußtsein überhaupt, auf die Wahrnehmung überhaupt usw. Und eben das macht Husserl, das will er haben, das stellt er der Psychologie gegenüber. Denn in der Psychologie heißt es: Herr X hat jetzt diese und jene sozusagen kausalen Eingriffe erlebt, und bei ihm ist dies und jenes passiert - einmal gerade dieses, ein anderes Mal wird es anders sein, nicht wahr. Also, wenn Sie mich ganz persönlich fragen: Glauben Sie an die Möglichkeit und an die Idee einer Phänomenologie als einer eidetischen Wissenschaft des Bewußtseins? - so würde ich sagen: Ja, ich glaube, daß es als ein Programm möglich ist. Es ist sehr schwierig zu realisieren, aber trotzdem verstehe ich die ganze Operation, die mich dazu führt, das zu analysieren und zu erschauen und die vorhandenen Abhängigkeiten [zwischen] 34 den entdeckten Momenten herauszustellen. Das würde ich glauben; ich kann verstehen, daß es eine vernünftige, obgleich sehr schwierige, sehr Gefahren ausgesetzte Arbeit ist. Jetzt gehe ich zum zweiten Hauptpunkt über, zur transzendentalen Reduktion. Wiederum müssen wir mit der (wie Husserl es nennt) Welt der natürlichen Einstellung oder mit der natürlichen Welt anfangen - mit dieser Welt, in der wir uns alle befinden, d.h. Menschen, Tiere, physische Dinge, 33

V.d.Hg. statt in einer anderen Welt befinden.

34

V.d.Hg. statt von.

Eidetische und Transzendentale Reduktion

199

Vorgänge usw. Husserl sagt: Ich als Person bin ein Teil, ein Element eines Ganzen, das ich vorläufig Welt nenne. Ich gehöre zu dieser Welt, ich bin von dieser Welt abhängig. Wenn da solche oder andere Strömungen sind, könnte ich sofort verbrennen, das hängt lediglich von der Temperatur ab. Und diese Welt - Husserl sagt relativ wenig darüber - zieht sich ins Unendliche im Raum und ins Unendliche in der Zeit, in die Vergangenheit und die Zukunft, und dann in den dreidimensionalen Raum - euklidisch oder nichteuklidisch, das ist ganz egal, jedenfalls immer weiter. Dabei war für Husserl die Welt noch viel kleiner als sie für uns heute ist, nicht wahr, weil damals diese bewundernswerte Astronomie noch nicht existierte, weil diese ganz wahnsinnigen Entfernungen im Raum, die wir heute so ungefähr kennen, damals noch nicht entdeckt waren. Husserl sagt: Nun, diese Welt, in der ich mich befinde, existiert für mich ständig, ob ich es will oder nicht will, ob ich gerade aufpasse oder nicht aufpasse. Wenn ich z.B. tief schlafe, kann ich nicht wissen, was los ist. Wenn ich aber aufwache, ist die Welt schon da; sie ist (für mich) da als vorhanden, noch bevor ich recht aufgewacht bin. Sie ist immer da, wenn ich einschlafe; sie bleibt da, wenn ich schlafe; ich wache auf in derselben Welt wie gestern. Wenn ich mich frage: Gibt es so etwas phänomenal wie diese ständige Selbstgegenwart einer realen Welt, einer realen Mannigfaltigkeit von zusammenhängenden Dingen und Prozessen? - dann muß ich sagen: Nun, ja, es ist so, ob ich es will oder nicht will; die Welt ist für mich da, und zwar liegt der Nachdruck nicht auf "für mich", sondern auf dem "da". Was sagt Husserl dann weiter? Daß es eine Thesis (in) jeder einzelnen Wahrnehmung eines einzelnen Dinges gibt. Wenn ich z.B. dieses Stück Papier sehe und es betrachte und sage: "Ja, es ist auf der einen Seite beschrieben und auf der anderen Seite ganz weiß" - dann ist diese Operation des Wahrnehmens, des Sehens, so, daß sie mir (einerseits) an ihrem Korrelat den Charakter der Realität irgendwie zeigt, der phänomenal ist, ein Phänomen; (andererseits) und subjektiv (gewendet ist diese Operation der Wahrnehmung) ein so vollzogener Akt, daß ich - wenn man so sagen darf - ganz sicher bin, daß dies da existiert. Das heißt nicht, das ich lange Zeit eine Überzeugung davon habe, die mir sozusagen innerlich gegenwärtig ist, die in mir phänomenal da wäre, sondern das Sichersein ist eben (unmittelbar) dieses von mir jetzt Erlebte. Und wenn ich weiter noch feststelle: "Es ist doch!" -

200

Siebte

Vorlesung

dann vollzieht sich in diesem "es ist doch" ein besonderer Akt der Zustimmung oder der Erfassung, der Feststellung, der Anerkennung - wie das einst Brentano sagte - der Existenz dessen da. Also in diesem Sinne ist dieser Akt - wie Husserl sagen würde - "thetisch": Es ist eine Thesis in diesem Akt enthalten. Wenn nun für mich die ganze Welt [so, wie dieses Stück Papier, vorhanden ist] 3 5 , dann müßte ich sagen: Es gibt eine Generalthesis in mir, die sich auf die ganze Welt bezieht, nicht wahr? Und zwar ist diese Thesis nicht so wie dieser Akt der Erfassung des Stücks Papier. Denn er hat begonnen und hat - sagen wir - so und so viele Sigmas gedauert und ist dann verschwunden; die Generalthesis aber ist beständig. An dieser Generalthesis, die in meinem ganzen Leben beständig sein soll, setzt nun die Operation der Reduktion ein. Es muß in der Thesis etwas passieren, etwas geändert werden oder nicht geändert werden. Wenn ich mich frage, was das ist, so muß ich persönlich zunächst sagen: Ich weiß es nicht. Ich kann zustimmen: Es gibt so etwas wie diesen thetischen Charakter meiner Wahrnehmung, den thetischen Charakter meines Schließens - wenn ich z.B. von A auf dies und dies schließe. Vollziehe ich aber ständig einen solchen Akt, der nicht vergeht und mir irgendwie ständig gegenwärtig ist? Kann ich es phänomenal aufzeigen, daß es so ist? Da weiß ich nicht, wo ich das suchen soll. Ich leugne nicht, daß die Welt, in der ich lebe, diesen ständigen Charakter der Realität hat, des autonomen Seins, mit dem ich von Angesicht zu Angesicht verkehre. Aber soll ich da in meinem Bewußtsein - in meinem Bewußtseinsstrom - so einen sich hinziehenden Akt der Annahme finden? Das kann ich nicht. Es ist schwierig für mich, zu diesem gegenständlichen Charakter der Realität der ganzen Welt in meinem Bewußtsein einen sozusagen ständigen Annahmeprozess zu finden. Ich gebe zu, es kann Momente geben, wo ich ausdrücklich den Akt der Feststellung vollziehe: Ja, die Welt ist doch da! Warum? Aus diesen oder anderen Gründen. Solche Akte kenne ich. Ich kann doch manchmal so etwas erleben wie Descartes unter der Einwirkung des bösen Geistes, daß ich manchmal doch im Zweifel bin: Gibt es diese Welt, oder ist sie nur eine Illusion, eine konsequente Illusion? Nun, dann kann ich das irgendwie lösen: Nein, nein, das ist keine Illusion, sie - die Welt - ist doch da! Das verstehe ich, es gibt solche Phänomene

V.d.Hg. statt so wie dieses Stück Papier, ist.

Eidetische

und Transzendentale

Reduktion

201

- richtig oder nicht richtig, begründet oder nicht begründet. Es gibt solche Phänomene. Soll man es also so sagen, wie es im Texte bei Husserl steht? Er sagt: 36 [Die Generalthesis der natürlichen Einstellung] 37 ist eine potentielle Thesis, die sich in eine aktuelle Thesis verwandeln darf, wenn ich gerade solche Geschichten wie mit dem bösen Geist und dem (Kartesianischen) Zweifel erlebe. Ist die Generalthesis eine potentielle Thesis, und ist dies der Grund, weshalb ich sie nicht in der Aktualität finden kann? Husserl sagt dann, eine potentielle Thesis kann ebenso behandelt werden wie eine aktuelle Thesis. Was "potentielle Thesis" ist, weiß ich eigentlich nicht. Doch will ich nun nicht eine ziemlich schwierige Geschichte über die Möglichkeit, über die Potentialität entwickeln, um zu verstehen, worum es sich eigentlich handelt. Ich möchte aber auch nicht sagen, daß diese [Generalthesis] 38 bei Husserl bloß eine schöne Dichtung ist. Ich möchte nur sagen, daß es sehr schwierig ist, das irgendwie zu fassen, zu entdecken, obwohl es vielleicht Wege gibt, das zu entdecken. Die sozusagen ständige Anwesenheit der Generalthesis ist (für) uns so [selbstverständlich] 39 , daß wir überhaupt nicht mehr fassen, daß es so etwas gibt, nicht wahr? Vielleicht kennen Sie den Namen eines sehr bedeutenden Psychiaters und Philosophen aus Frankreich, Pierre Janet. Er hat insbesondere die sogenannte Psychastenie studiert. Das ist eine Krankheit. Er spricht nicht von der Generalthesis, sondern vom "sens de réalité", also von einem gewissen Sinn [für die] 4 0 Realität. Psychastenie ist für ihn eine Transformation dieses [Sinnes] 41 für die Realität. Psychasthenic ist eine Krankheit, die bei einem Menschen, der daran leidet, bewirkt, daß für ihn die ganze Welt auf einmal gar nicht real ist. Die Welt spricht ihn gar nicht als real an; er hat den Sinn dafür verloren, diese Realität zu fassen. Alles ist irgendwie Phantasmagorie, irgendwie keine Realität an sich, sondern bloß eine Phantasie. Ja, ich habe das nie in meinem Leben erlebt, war nie psychastenisch und weiß nicht, wie

36

Vgl. Husserliana

37

V.d.Hg. statt es.

38

V.d.Hg. statt aktuelle Generalthesis.

39

V.d.Hg. statt gewöhnlich.

40

V.d.Hg. statt der.

4

V.d.Hg. statt S i n n e s j der Realität, Sinnes.

'

III/l (hrsg. v. K. S c h u h m a n n ) , Den H a a g 1976, 62.

202

Siebte

Vorlesung

das in concreto aussieht. Ich nehme an, daß auch Janet es nicht weiß - das weiß nur ein daran Erkrankter. Die Beschreibungen aber - es gibt ein ganzes Buch darüber -, die Beschreibungen, die Janet da gibt, sind sehr überzeugend; sie sind so, daß man glaubt: Nun, es gibt vielleicht so etwas, so ein ganz merkwürdiges Sichfühlen in der Welt, daß die Welt den Charakter der Autonomie verloren hat; wir sind dann entsetzlich unglücklich, wir haben gar keine Realität mehr. Und wenn wir sie haben, so wissen wir nicht, daß wir sie haben. Das, was sich bei uns von der psychastenischen zur normalen Einstellung wandelt - das ist eben dies, was wir jetzt gewinnen, das ist eben diese Generalthesis. Sie ist so etwas Selbstverständliches, so alltäglich und so natürlich, daß wir nicht wissen, daß wir sie überhaupt haben. Wir wissen es erst in dem Moment, wo [sie "verdorben"] 42 wird. Einst hat unser Dichter Mickiewicz über das Vaterland gesagt, daß es so etwas wie die Gesundheit sei: Man weiß, was es ist, wenn man es verloren hat. Vielleicht ist es mit dem Sinn für die Realität ebenso - man entdeckt erst dann, was das ist, wenn das irgendwie ins Schwanken gekommen ist. Es ist nicht Potentialität. Was das aber positiv ist, wie man das finden soll - bleibt für mich ein Problem. Doch bin ich nicht in dem Sinne skeptisch, daß ich sage: Es gibt keine Generalthesis. Sie ist nur etwas ganz anderes als ein Akt, in dem eine Realità'tserfassung vollzogen wird, in dem etwas aus der Welt herausgefaßt wird und festgestellt wird, was es ist. Husserl aber sagt: Wenn wir in die transzendentale Phänomenologie kommen wollen, müssen wir versuchen, gerade an diesem Punkte, der so unklar und doch irgendwie überzeugend ist, eine Wandlung durchzuführen eine Wandlung, die uns, wie Husserl sagt, das Gebiet einer ganz neuen Forschung eröffnet. Diese Wandlung ist eben die transzendental-phänomenologische epoche oder Reduktion. Nun ist es aber sehr schwierig zu sagen, was diese Reduktion eigentlich ist. Husserl bedient sich da zunächst eines Vergleiches mit einer aus der Geschichte bekannten Sache - das ist der Zweifelversuch aus der ersten und zweiten Meditation von Descartes. Husserl sagt dazu: Ja, ich werde mich dessen bedienen, um Ihnen den Zugang zu verschaffen zu dem, was gemacht wird oder gemacht werden muß, damit ich von der Generalthesis der natürlichen Welt zu der phänomenologischen Ein-

V.d.Hg. statt es verdorben.

Eidetische und Transzendentale Reduktion

203

Stellung und zum reinen Bewußtsein kommen kann. Er sagt aber auch, daß bei Descartes dies alles ganz anders war: Er wollte einen Generalzweifel zu einem bestimmten Zweck durchführen, nämlich um das absolut Sichere, das Gebiet des absolut Sicheren, Unbezweifelbaren zu finden. Das war, wie Sie alle wissen, das Cogito; der ganze Rest des vom Cogito verschiedenen Seins war für ihn gerade darin bezweifelbar, ob es überhaupt existiert oder nicht existiert. Und Descartes durchläuft einen langen Weg, bevor er mit bezug auf Gott usw. beweist, daß dieser Rest doch existiert. Husserl dagegen sagt: Mein Ziel ist nicht dieses, ich will nicht so ein Gebiet des absolut Sicheren, des absolut Unbezweifelbaren finden. Aber und darauf werde ich später noch zurückkommen - ich zweifle, ob es wirklich so ist, daß das Problem des absolut unbezweifelbaren Seins für Husserl ohne Bedeutung ist. Gewiß versucht er, ein Gebiet von individuellen Tatsachen zu finden, das uns früher ohne diese Reduktion angeblich nicht zugänglich war - das ist wahr. Hierfür könnte es zwei Motive geben, entweder: Er möchte die Wirklichkeit des Geistes sehen, erfassen - oder: Er möchte außerdem das Gebiet des Geistes als des Letzt-Unbezweifelbaren haben. Forschen wir nach, was unter die Klausel der Reduktion fällt, als das Reduzierte, das Nicht-Absolute, dann fühlen wir: Es läuft doch darauf hinaus, daß das Bezweifelbare "reduziert" wird und das Unbezweifelbare, nämlich das reine Bewußtsein, als Residuum übrigbleibt. Wie verhält es sich aber mit diesem Zweifelversuch, mit dem Husserl operiert - als Versuch, zu dieser transzendentalen Reduktion Zugang zu finden? Ja, sagt Husserl: Ich bin freilich davon überzeugt, daß die Welt da ist, aber ich werde dieses Anerkennen, daß die Welt da ist, von nun an nicht mehr mitmachen. Diese Überzeugung, daß die Welt da ist, setze ich "außer Aktion". Und noch etwas: Ich "klammere sie ein" und in der Klammer bleibt nunmehr die Welt mit dem Wirklichkeitscharakter. Dies ist eben jene

epoche ! Also eine Reihe solcher Bilder wird da benutzt: "Einklammerung", "Außer Aktion setzen" usw. Alles, was da gesagt wird, ist metaphorisch. Und dies kommt nicht nur in den Ideen

1 vor, sondern auch in anderen

Schriften Husserls, späteren wie früheren, bis zum Schluß, bis zur Krisis, wie sie zur Zeit vorliegt (zu Lebzeiten Husserls ist nur der erste Teil der Krisis erschienen). Die Frage nach dem, was diese Reduktion ist, taucht immer

204

Siebte

Vorlesung

wieder auf, und Husserl macht immer wieder neue Versuche, sie zu beschreiben und die Wichtigkeit dieser Operation zu zeigen. Im Grunde handeln beide Bände der Ersten Philosophie nur davon. Handelt es sich jedoch direkt um die Beschreibung dessen, was da passiert, wenn ich diese Reduktion vollziehe, so bekommen wir von Husserl nur die Wendung: "Ja, es wird eingeklammert." Nichts mehr. Husserl meinte, diese Operation sei so wichtig, daß, wer sie nicht wirklich nachvollziehen könne, überhaupt keinen Zugang zur Philosophie habe. Das war eben der Punkt des sozusagen ständigen Zwistes oder der zumindest nicht sehr guten Beziehungen zwischen Husserl und München, d.h. Pfänder usw. Husserl sagte immer: "Nein, nein, Pfänder und die anderen, das sind doch Psychologen und keine Philosophen, sie haben keine Ahnung von der Philosophie. Erst wenn man diese Einklammerung mitmacht, dann erst sind wir auf einem gemeinsamen Boden und können uns um Einzelheiten streiten. Bevor das nicht vollzogen ist, ist es keine Philosophie - höchstens irgendeine Wissenschaft, positive Wissenschaft." [Doch muß diese radikale Umwendung nicht vollzogen werden, damit sich uns, wenn überhaupt, philosophische Probleme stellen.]43 Die Schwierigkeit ist außerdem die, daß diese Einklammerung, dieses Außer-Aktion-Setzen, an der Generalthesis anknüpfen soll, wobei gerade jene Schwierigkeiten auftauchen, die ich Ihnen (in Bezug auf die Generalthesis) eben zu skizzieren versucht habe. Man weiß jedenfalls, was die Reduktion nicht ist. Sie ist kein Zweifeln, kein Negieren der Existenz der Welt; sie ist kein bloßes Sich-Denken, daß die Welt existiert oder nicht existiert. Bei jedem Zweifel, sagt Husserl, hat man den Ansatz des Nicht-Seins, und das machen wir nicht mit, keinen solchen Ansatz machen wir bei der Reduktion. Wir zweifeln nicht einen Moment daran, daß die Welt existiert, weil die Generalthesis nach der Reduktion unverändert bleibt. - Und doch hat sich alles verändert. Aber was und woran? An der Thesis sollte sich nichts verändern, nicht wahr? Ich habe natürlich, wenn ich das sagen darf, viele Versuche gemacht, um doch zu verstehen, worum es sich für Husserl handelt. Denn das ist der erste Schritt, um "ja" oder "nein" sagen zu können. Husserl hat doch verstanden, was er will:

V.d.Hg. statt Aber es ist nicht diese radikale Umwendung, die gemacht werden muß, wenn überhaupt philosophische Probleme auftauchen sollen.

Eidetische und Transzendentale

Reduktion

205

Es ist keine Phantasie, es ist keine Dichtung, es ist da doch irgend etwas erforscht, entdeckt worden. So habe ich eine Zeitlang gedacht: Ja, es ist vielleicht das, was Husserl später in den Ideen / "Neutralitätsmodifikation" nennt. 44 Nehmen wir zum Beispiel einen Satz, eine Behauptung, sagen wir den pythagoreischen Satz aus der Mathematik. Ich habe aber keinen Beweis. Man hat mich diesen Satz gelehrt und hat gesagt: Ja, er ist sicher wahr, also sei ruhig, es ist alles in Ordnung. Doch möchte ich mir das selbst ansehen, um zu wissen: Ist das richtig oder ist das nicht richtig. Dann erst würde ich nicht mehr zweifeln, daß er wahr ist. Aber ich ziehe mich zurück von der aktiven Annahme, daß er richtig ist, daß dieser Satz gilt; ich "neutralisiere" den Charakter des Wahrseins und den Charakter des Annehmens. So bekomme ich Sätze, die keine Behauptungsfunktion haben. Wie Sie wissen, hat sich ein großer Gegner von Husserl - Bertrand Russell - damit beschäftigt. Er sagte: Hier haben wir einen Satz, (sagen wir p). Aber das ist noch kein Satz des Systems, noch keine Behauptung; das wird er erst durch dieses Assertionszeichen '|—' vor dem Satz, nicht wahr. Z.B. |— ρ - das ist schon eine Behauptung. Ohne dieses Zeichen handelt es sich um reine Sätze (im philosophischen Sinne), nicht aber um Thesen. Man kann also diese Behauptungsfunktion irgendwie neutralisieren. Pfänder unterscheidet zwei Funktionen des 'ist': einerseits die Prädikatsfunktion: "A ist B", andererseits die Behauptungsfunktion "!A ist B" - das Ganze also. Diese zweite Funktion, diese Behauptungsfunktion, kann man neutralisieren, und dann bekommt man "Annahmen" im Meinongschen Sinne, reine Sätze, Aussagesätze. Ist es vielleicht so mit der phänomenologischen Reduktion, daß sie eine Neutralisierung der Generalthesis ist? Wenn das der Fall wäre, würde es bedeuten, daß die transzendentale Reduktion die Generalthesis veränderte, und Husserl könnte dann nicht sagen, es bleibt alles so wie es war, es wird nichts geändert, es wird nichts modifiziert. Und es darf auch nichts modifiziert werden, denn diese Reduktion gibt mir doch erst den Zugang dazu, daß ich verstehen kann, was die Generalthesis ist: Sie ist doch eine Operation oder irgendwie eine Verhaltungsweise des reinen Ich im reinen Bewußtsein. Bevor ich das entdeckt habe, kann ich nicht wissen, was das eigentlich ist. Also

44

Vgl. Husserliana III/I (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, §§ 109-117.

206

Siebte

Vorlesung

es soll alles dasselbe bleiben, und [auch das Korrelat soll dasselbe] 4 5 bleiben - das ist der Seinscharakter, Realitätscharakter der Welt, der phänomenale Charakter.

Somit

ist

die

Reduktion

im

Husserlschen

Sinne

keine

Neutralitätsmodifikation. Ja, und jetzt ist es schwierig weiterzugehen. Ich glaube, man muß versuchen, das zu verstehen. Ich glaube auch, daß es möglich ist, (in der Erklärung noch) manche Schritte

weiterzugehen, als Husserl selbst getan hat.

Vielleicht meinen Sie, daß meine Darlegung in gewissem Sinne auch metaphorisch ist, daß, was ich Ihnen jetzt sagen werde, auch nicht direkt und streng [gefaßt] 4 6 ist. Aber es ist die Frage, ob es doch nicht gut ist, das zu versuchen. Zunächst werde ich versuchen zu erzählen, wie es eigentlich ist, wenn ich einen, sagen wir, Behauptungssatz schlicht als Behauptung aufstelle. Ich nehme also ausdrücklich eine effektive Thesis: Ich behaupte, daß z.B. auf diesem Tische dieses Ding da liegt. Ich behaupte, daß der große Fermatsche Satz richtig ist - es liegt bloß kein Beweis vor. In Situationen, die gefährlich sind, werden uns manchmal Fragen gestellt: Warst du damals an der Stelle? Hast du den Menschen gesehen? Was hat er da getan? Der Betreffende steht - sagen wir - vor Gericht. Und ich muß bezeugen: Ja, ich habe ihn gesehen; er hat das und das getan. Da ist ein schlichter Vollzug in vollem Ernst: Es ist so! Was ist da zunächst? Ich vollziehe natürlich einen Akt, einen Urteilsakt. Und (das wird vielleicht wiederum eine Metapher für Sie) dieser Akt, den ich da vollziehe, ist sozusagen zentral in meinem Ich verankert, er quillt aus dem Zentrum meines Selbst hervor. Und es ist nicht nur dies, daß er aus meinem Zentrum heraus vollzogen wird, sondern mein Zentrum - das heißt Ich - ist dabei persönlich engagiert, es selbst tut das. Und noch etwas: Wenn ein solches Urteil so persönlich, ernst, schlicht vollzogen wird, so bedeutet das nicht nur, daß ich engagiert bin, daß ich es tue und daß es zentral aus mir herauswächst. Es ist noch etwas da. Ja, ich bin engagiert, das heißt, ich stehe dafür ein: Es ist so! Ich stehe dafür ein, das heißt, mit mir fällt und steht die ganze Sache; ich bin bereit, mich für das einzusetzen, was ich so vollzogen habe. Auf gar keine Weise ziehe ich mich davon zurück, ich distanziere mich nicht davon. Ich sage nicht: Ja, ich habe ihn gesehen, aber ich bin ganz unschuldig bei der 45

V.d.Hg. statt es soll auch das Korrelat desselben.

46

V.d.Hg. statt erfaßt.

Eideüsche

und Transzendentale

Reduktion

207

ganzen Geschichte; ich weiß nicht, ob es so war oder nicht so war. Nein, nein, ich weiß es; ich behaupte, daß es so war. Wie ist es nun, wenn ich mir sage: O ja, ich weiß, der große Fermatsche Satz ist doch wahr. Sie wissen, Fermât schrieb eine Behauptung an den Rand eines Buches und sagte: "Nun, den Beweis habe ich nicht geschrieben, weil kein Platz da ist." Und 200-300 Jahre lang haben die Mathematiker diesen Satz beweisen wollen; sie glaubten alle, daß er richtig sei. Aber den Beweis gibt es nicht. Wenn ich mir das nun ansehe und sage: Ich weiß, daß er wahr ist, ich bin davon überzeugt, aber ich möchte doch den Beweis finden - so distanziere ich mich zunächst von dem Akt, den ich vollziehe. Er hat das Zentrum meines Ich irgendwie verlassen, oder ich habe mich im Vergleich zu ihm zurückgezogen, ich bin schon irgendwo anders mit meinem Zentrum - obwohl ich noch behaupte. Aber dieses Behaupten ist nicht so, daß ich dafür einstehe, daß ich engagiert bin; ich habe mich von diesem Behaupten schon ein wenig zurückgezogen. Nun kann leicht gesagt werden - und leider benutzt auch Husserl diese Wendung, von der ich glaube, daß sie nicht zutreffend ist - : Es gibt da jetzt eine Spaltung im Inneren, nämlich zwischen dem Ich, das behauptet, also die Generalthesis vollzieht, und dem Ich, das jetzt diese Einklammerung macht; das Ich ist also in gewissem Sinne gespalten. Der Eine ist der Vollziehende und der Andere ist der sich vom Vollzug irgendwie Zurückhaltende, Zurückziehende, seine Bürgschaft Verleugnende - Bürgschaft für die Echtheit des Urteils. Ich glaube nicht, daß alle Phänomenologen gespalten sind, wenn sie diesen Akt innerlich vollziehen, daß es Einen gibt, der erlebt, und einen Anderen, der zuschaut, daß sie zwei Verschiedene sind, so daß die Einheit des Ich verloren geht - das glaube ich nicht. Ich meine, die Einheitlichkeit des Ich ist doch erhalten geblieben, aber das Ich ist irgendwie nicht so kondensiert, so vereinfacht zu einem Akt; es ist fähig, zwei verschiedene Funktionen auszuüben: das Vollziehen der Generalthesis und zugleich - als zweiten Akt - eine gewisse Reservierung, eine Reserve, die man gegenüber der ersten Thesis einnimmt, so daß beides möglich ist. Dadurch hat das Ich irgendwie an Dimension gewonnen, es ist sozusagen nicht diese letzte Spitze des Ich, aus dem alles herausquillt. Mit einem neuen Ausdruck möchte ich den Vorgang so umschreiben: Ich solidarisiere mich nicht in der gleichen Weise mit der Generalthesis, wie ich mich (mit ihr) zu solidarisieren pflege, wenn ich sie schlicht vollziehe. Denn

208

Siebte

Vorlesung

dabei gibt es noch nicht die beiden Ich. Also, wenn das Ich sich mit etwas solidarisiert - das ist Thesis. Das Ich vollzieht zentral die Thesis, es ist völlig eins mit ihr, es braucht da keinen Akt der besonderen Solidarisierung. Man kann aber auch sagen, es ist dies gerade der Fall der höchsten Solidarisierung. Sobald ich aber die Reduktion mache, ziehe ich mich etwas von dem gerade von mir vollzogenen Akt zurück. Ich vollziehe ihn noch, nicht wahr, die Solidarität aber mit dem Ich, das diese Thesis vollzieht, ist schon nicht mehr vorhanden - es ist eine Distanz da, es ist auch das Ansehen-wollen da. Ich bin sehr wohl davon überzeugt, daß das, was ich Ihnen darzustellen versuchte, im Grunde sehr miserabel ist in Bezug auf das, was es da zu beschreiben gilt, was da zu entdecken ist - und daß es nicht adäquat ist, und daß es auch irgendwie metaphorisch gefaßt ist. Aber mich persönlich hat es doch dem Phänomen näher gebracht, welches Husserl nicht "aus der Luft" gegriffen hat und das er doch viele Jahre zu fassen suchte. In diesem Sinne also würde ich (zustimmen und) sagen, daß es möglich ist, so etwas wie eine transzendentale Reduktion zu vollziehen - (zustimmen,) daß sie (in diesem Sinne für mich) verständlich ist. Ob es zweckvoll ist, ob diese Reduktion das leistet, was Husserl von ihr erhofft, und ob sie um das reine Bewußtsein zu entdecken, so unentbehrlich ist, wie Husserl das glaubt - ja, das ist natürlich eine neue Frage. Und wenn ich sage: Ja, ich versuche zu verstehen, wie das eigentlich ist, dann sage ich noch nicht: Es ist richtig, es muß so gemacht werden. Denn da gibt es große [Unsicherheiten]47, was die Effekte des echten Vollzugs einer transzendentalen Reduktion bzw. epoche sind. 48 Sie müssen beachten, es handelt sich hier nicht um das, was Husserl später sagt: Ich klammere alle Wissenschaften ein. Es kommt jetzt nicht auf die Wissenschaft an noch darauf, wie ich mich zu den Wissenschaften verhalte. Ich sage: [Fortan nehme ich in der Phänomenologie gar keinen naturwissenschaftlichen Satz als Grund für meine Theorie an.] 49 Das ist leicht. Hier aber handelt es sich um eine erste prinzipielle, radikale Wendung. Nun bin ich also anschaulich in dieser Welt da - da ist der Vorlesungssaal, dann Oslo, das Meer, mein Vaterland usw. usw. Jetzt, angesichts dieser Welt, dieser

47

V.d.Hg. statt Gefahren.

48

Vgl. unten Vorlesung VIII.

49

V.d.Hg. stall Fortan nehme ich keinen naturwissenschaftlichen Satz als Grund für meine Theorie in der Phänomenologie an.

Eidetische und Transzendentale

Reduktion

209

selbst gegenwärtigen Welt, soll ich jene "Reduktion" zu vollziehen versuchen. Und das erst soll jene Wendung hervorrufen. Ich weiß nicht, ob ich Husserl richtig verstehe, aber ich glaube, ich müßte in der Richtung weitergehen, um herauszufinden, was sich da eigentlich abspielt, wenn so eine Reduktion vollzogen wird. Eine andere, eine völlig andere Sache ist es zu entscheiden - und da habe ich allerdings meine Zweifel -, ob die transzendentale Reduktion wirklich so bedeutend ist, wie Husserl meinte, ob sie so leistungsfähig ist, wie er meinte, ob sie für die Philosophie so unentbehrlich ist, wie Husserl meinte.

Achte Vorlesung (3. November 1967) (Transzendentale Reduktion und Idealismus (I)} Meine Damen und Herren! Ich möchte Sie zunächst um Verzeihung bitten, wenn das, was ich heute sagen möchte oder sagen werde, schwierig oder nicht ganz klar sein wird. Denn die Probleme, um die es sich handelt, liegen sozusagen in der ganzen philosophischen Problematik sehr weit, sie setzen verschiedene Analysen voraus; und da ich hier die Sache kurz fassen muß, wird manches noch einer näheren Erklärung bedürfen, die ich jedoch momentan nicht geben kann. Was ich heute behandeln möchte, sind im Grunde verschiedene Fragen, Fragen an Husserl, an den Text von Husserl, mit gewissen Perspektiven auf die Konsequenzen der Antworten auf diese Fragen. Es geht jetzt natürlich um die transzendentale Reduktion, welche Husserl für die ganze Philosophie für ganz entscheidend hielt. Er wußte, daß ich kein Freund der Reduktion bin, und er war in unserer Korrespondenz viele Jahre sehr traurig, daß ich seine Forderung nach der Durchführung der Reduktion nicht mitmachen konnte, obgleich er die Bedeutung der Reduktion immer wieder betonte. Über einige Jahre, zwischen 1928 und 1933, zieht sich der Briefwechsel hin, Briefe von ihm, Antworten von mir, und da schreibt er immer ungefähr so: "Wenn Sie die transzendentale Reduktion mitmachen, dann erst haben Sie den Weg zur Philosophie offen. Solange man das nicht tut, bleibt man nur an der Pforte zur Philosophie stehen; das ist noch keine Philosophie." Für ihn handelte es sich in der Diskussion mit mir vor allem darum, daß ich - darauf werde ich heute auch eingehen - einmal sagte: Nun schön, ich verstehe die Problematik, welche sich da eröffnet, sobald man den Weg geht; und ich verstehe nicht nur, [sondern bin (oder war damals) überzeugt]', daß das wirklich eine sehr wichtige Sache ist, die da im Gange ist. Aber ich dachte mir zugleich, daß diese Problematik, die sich dann eröffnet, wenn man den Weg der transzendentalen Betrachtung des reinen Bewußtseins einschlägt (und insbesondere wenn man die sogenannten konstitutiven Probleme behandelt, auf die ich noch zurückkommen werde) - daß diese

V.d.Hg. statt sondern

ich glaube, oder glaubte, überzeugt zu sein.

212

Achte

Vorlesung

Problematik zunächst einer anderen Vorbereitung bedarf. Eben das war eine Erfahrung, die ich selbst in meinem Leben gemacht habe. Nach meiner Doktorprüfung im Jahre 1918, als ich schon mit dem Examen und der Dissertation fertig war und selbständig weiterarbeiten konnte, habe ich nämlich mehrere Jahre versucht, eine Analyse des Bewußtseins und insbesondere der äußeren Wahrnehmung durchzuführen und die konstitutiven Probleme zu behandeln. 2 Mit den konstitutiven Problemen war ich dank Husserl schon mehrere Jahre vorher sozusagen in Kontakt gekommen; besonders im Jahre 1916 habe ich mit Husserl fast jeden Tag über die konstitutiven Probleme gesprochen. 3 Deswegen wollte ich diese Probleme weiterbehandeln. Ich war davon überzeugt, daß die idealistisch klingenden Ergebnisse Husserls zu schnell erarbeitet worden waren, daß manche Tatbestände der weiteren Ausarbeitung bedurften, daß da irgendetwas noch unklar blieb. Aber wenn man es klärte, wenn man dann die Fragen präziser stellte, so würde man (- so glaubte ich -) doch zu einem ganz anderen Resultat kommen. Und so waren es ungefähr vier bis fünf Jahre, in denen ich versuchte, die verschiedenen Analysen der äußeren Wahrnehmung durchzuführen, so ungefähr zwischen 1918 und 1922. Ich kam damals zu der Überzeugung, 4 daß schon der Versuch des Entwurfs einer transzendentalen konstitutiven Problematik etwas voraussetzt, nämlich vor allem die Klärung der gegenständlichen Struktur dessen, was da konstituiert wird, die Klärung der formalen Struktur der Welt, die Klärung des Sinnes der Existenz, des Seins, eine Ausarbeitung des Sinnes der Kategorien, Kategorien im Kantischen Sinne oder, wenn Sie wollen, im Aristotelischen Sinne. Ich begann somit formal-ontologisch zu arbeiten. Und da sagte mir Husserl: Das ist eben falsch! Sie sind Ontologe geworden, aber Sie sollten doch die Reduktion vollziehen, sich sogleich ins Wasser stürzen, um im Fluß der konstitutiven Probleme die Leistung der Konstitution zu erfassen. Da werden Sie sehen, daß die Ontologie doch ein gesperrter Weg ist, daß alles schließlich doch reduziert werden muß. Erst dann zeigt es sich, daß die ganze ontologische Betrachtung eine verlorene Mühe ist! - Deswegen hat er mir immer wieder von der Wichtigkeit der transzendentalen Reduktion ge2

Vgl. Ingarden (1964c), VHff.

3

Vgl. Ingarden ( 1968a), 121 ff.

4

Vgl. Ingarden (1968a), 166; (1925b), 30ff.; (1929), 180ff.

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(I)

213

schrieben. 5 Nicht nur seine Briefe zeugen davon, sondern überhaupt der Gang seiner eigenen Arbeit nach den Ideen I. Schon die Ideen II hat er nicht akzeptieren wollen, nachdem sie von Edith Stein redigiert worden waren. Dann nahm Landgrebe eine zweite Bearbeitung vor, die Husserl aber auch zurückgewiesen hat: Nein, es ist nicht fertig, es ist nicht gut! In mehreren Vorträgen (das fing, so viel ich weiß, mit den sogenannten "Londoner Vortragen" an, dann kamen die "Amsterdamer Vorträge", dann die "Pariser Vorträge" 6 ) hat er immer wieder aufs neue und von Anfang an versucht, den Sinn und die Unentbehrlichkeit der Reduktion aufzuzeigen. Augenscheinlich meinte Husserl, müßte man jetzt doch dazu kommen, die Wichtigkeit und die Funktion der transzendentalen Reduktion und der transzendentalen Analyse anzuerkennen. Erst dann würde sich die ganz neue, echte philosophische Problematik eröffnen. Schließlich waren die Méditations

Cartésien-

nes - auf der Basis der Pariser Vorträge ausgearbeitet - abgeschlossen und wurden ins Französische übersetzt. Ich schrieb an Husserl, er solle sie doch auf deutsch publizieren, da sie ja auch in dieser Sprache ausgearbeitet worden waren. 7 Aber Husserl schrieb nur: Nein, nein, das werde ich jetzt nicht publizieren. Es ist nicht fertig, es ist augenblicklich für das deutsche Publikum nicht publizierbar, es muß ganz neu überarbeitet werden. So hat er seit der Pariser Zeit - das war 1929 - bis ungefähr 1932-33, also beinahe fünf Jahre, weiter gearbeitet und hat mir immer wieder geschrieben: "Jetzt kommt mein Hauptwerk!" Ich dachte, es sei die neue Redaktion der Méditations Cartésiennes. Aber sie kam doch nicht zustande. Voriges Jahr 8 war ich in Louvain und wollte die Papiere dieser neuen Redaktion der Méditations Cartésiennes aufspüren, denn ich war überzeugt, es gäbe eine solche. Deswegen war ich auch sehr verwundert, daß man im Jahre 1952 die alte Redaktion publizierte, die Husserl gar nicht publizieren wollte. Es hat sich jedoch gezeigt, daß die neue Bearbeitung gar nicht vorhanden war. Ich fand eine große Menge von Manuskripten - etwa 50-60, jedes von etwa 20 Seiten -, die aus mehreren Jahren stammten. Jedesmal war die Behandlung eines

Vgl. Ingarden (1968a), 73f. Vgl. respektive Husserliana

IX (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1968, 237-349; Husser-

liana I (hrsg v. S. Strasser), Den Haag 1950, 1-39. Vgl. Vorlesung I, Anm. 17. Also 1966, vgl. Vorlesung I, Anm. 18.

214

Achte

Vorlesung

Problems angefangen worden, ohne aber vollendet zu werden. Zur Vollendung einer einheitlichen Redaktion kam es nicht. 9 Irgendwie, aus einem anderen Gesichtswinkel, ist im Winter 1928/29 die Formale und transzendentale

Logik entstanden. Husserl hat ursprünglich

eine Vorlesung darüber gehalten, die er dann - einige Monate vor seinem siebzigsten Geburtstag - niedergeschrieben hat. 1 0 Eine gelungene Arbeit aber nicht das, was er wollte, nicht das, was er von Anfang an, seit der Prima Philosophia, onsproblemen]

11

[über die natürliche Einstellung bis zu den Konstituti-

zu entwickeln versuchte. Es kam zwar die neue Problema-

tik des konstitutiven Ursprungs der logischen Gebilde (die in einer um mehrere Jahre älteren Vorlesung zuerst behandelt worden war) zu einer konsequenten Entfaltung und Bearbeitung. Die vorbereitenden Einzelarbeiten zu einer systematischen Entwicklung der transzendentalen konstitutiven Betrachtung [bzw.] 12 der richtigen Durchführung der phänomenologischen Reduktion dauerten bis etwa zum Jahre 1934, aber die ersehnte systematische Bearbeitung kam nicht zustande. Dann kam die letzte Phase mit der Enstehung der Krisis, wovon, wie Sie wissen, der erste Teil von etwa 100 Seiten vor dem Tode Husserls erschienen ist. Die Problematik, die da ersteht, hat mit einem Briefe Husserls an den 8. Internationalen Kongress in Prag angefangen. Er hat mir das selbst geschrieben. 13 Und bei allen Wandlungen ist da auch dieselbe Grundidee vorhanden: Man muß doch endlich auf überzeugende Weise darlegen: Erst dann, wenn man die transzendentale Reduktion richtig durchführt, entwikkelt sich die ganze Philosophie, und erst dann hat man das System der transzendentalen konstitutiven Probleme - und zwar bis zum Schluß. Nun, leider wurde Husserl krank, die Krisis wurde nicht vollendet und ist auch zu Lebzeiten Husserls nicht mehr erschienen. Aber Vorarbeiten dazu befinden sich in Menge in Louvain.

9

Vgl. I. Kern, Einleitung zu Husserliana liana-Dokumente

X V , Den Haag 1973, X X X I V f f . sowie

XII. 10 1

'

Husser-

II/l (hrsg. v. H. Ebeling, J. Holl, G.v. Kerckhoven), Den Haag 1988, VII-

Vgl. Ingarden (1968a), 160/1. V.d.Hg. statt von der natürlichen Einstellung, über die Konstitutionsprobleme.

12

V.d.Hg. statt ν on.

13

Vgl. Ingarden ( 1968a), 89 (Brief v o m 26.11.1934).

Transzendentale Reduktion und Idealismus (I)

215

Ich möchte mich also mit dieser transzendentalen Reduktion etwas beschäftigen. Ich habe schon gefragt, was sie ist. Ob der Versuch, den ich da vor einer Woche gemacht habe, gelungen ist, ob es richtig und im Sinne Husserls ist, wie ich die Sache verstehe - das weiß ich nicht. Leider kann ich mit ihm nicht mehr sprechen. Aber es ist ein Versuch, und vielleicht ist er richtig. Ich möchte meinerseits alles unternehmen, um die Sache richtig zu verstehen, mich dann mit mir selbst auseinandersetzen, mit meinen eigenen Fragen, die ich dazu zu stellen habe. Meine erste Frage ist nun diese: Wie kann ich hier, in dieser Vorlesung, am besten an das Problem herantreten? Soll ich zunächst über die Reduktion, über ihre Funktion und über ihre Konsequenzen sprechen? Oder soll ich zuerst darüber sprechen, was man als den Standpunkt Husserls in den Ideen l bezeichnet, den man kurz gesagt "transzendentalen Idealismus" nennt? Soll ich mit der Reduktion anfangen und dann zum Idealismus übergehen? Oder soll ich mit dem Idealismus beginnen und dann zur Reduktion zurückkehren? Wenn Sie die Ideen I lesen, entdecken Sie nämlich, daß die Paragraphen, von denen man gewöhnlich sagt, sie brächten den von Husserl in dieser Phase vertretenen transzendentalen Idealismus zum Ausdruck, vor den Paragraphen stehen, die der Reduktion gewidmet sind! Und femer: Die Ergebnisse, die einzelnen Behauptungen, welche in jenen Paragraphen enthalten sind, dienen als Argumente dafür, daß die Reduktion durchgeführt werden kann. Das Wichtigste aber, was die Durchführung der Reduktion ermöglicht, ist im Grunde nichts anderes als die scharfe Scheidung zwischen dem reinen Bewußtsein und dessen Wesen einerseits und anderererseits dem, was da dem Bewußtsein gegenübersteht und ihm gegenüber transzendent ist, also insbesondere die reale Welt. Man muß also zunächst das Wesen des reinen Bewußtseins erfassen und dann sehen, daß dasjenige, was nicht reines Bewußtsein ist, dem reinen Bewußtsein gegenüber im ontischen Sinne transzendent ist. Infolgedessen ist es möglich, die Reduktion durchzuführen und die Sphäre des reinen Bewußtseins für sich als Residuum, als dasjenige zu haben, was bleibt. Und außerdem gibt es auch das Andere, das ist das Transzendente. Oder ist es umgekehrt? Muß man

zunächst die Reduktion vollziehen,

damit sie uns erst das reine Bewußtsein enthülle? Solange wir "natürlich" eingestellt sind, haben wir noch nicht das reine Bewußtsein, sondern nur das

216

Achte

Vorlesung

psychische, das menschliche Bewußtsein. Welches ist nun sozusagen Husserls Hoffnung, und was bildet den Zweck der transzendentalen Reduktion? Es ist eben - so sagt Husserl ganz genau im Text - die Enthüllung eines neuen Seinsgebietes, und zwar eines Gebietes individuellen Seins. Was für ein Seinsgebiet ist es aber? Das Seinsgebiet des reinen Bewußtseins, meines reinen Bewußtseins, meines reinen Ich. Erst die Reduktion also soll mir überhaupt die Augen dafür öffnen, was das reine Bewußtsein ist, sie soll mir das Wesen des reinen Bewußtseins zeigen. Nun, wenn ich schon weiß, was es ist, dann weiß ich auch, was mir nach dem Vollzug der Reduktion bleibt, und was das Transzendente ist, was ich da jetzt irgendwie durch die Analyse des reinen Bewußtseins ans Tageslicht bringen soll - diese Welt. Wenn ich es aber nicht weiß, kann mir dies die Reduktion selbst sagen? Im Gange der vorliegenden Erwägungen habe ich es so gemacht, daß ich zuerst über die Reduktion gesprochen habe. Diejenigen Paragraphen, welche die idealistische Entscheidung Husserls in den Ideen I enthalten, und die auch die Thesis über das reine Bewußtsein enthalten, habe ich zunächst beiseite geschoben. Habe ich somit Husserls Gedanken verfälscht? Ja, in Bezug auf Husserls Text in den Ideen I habe ich etwas verschoben. Aber, Husserl hat mir einst während eines Gesprächs selbst gesagt: "Natürlich, wenn ich das schreiben sollte, so müßte ich doch zunächst den Weg der Reduktion [gehen] 14 . Tatsächlich ist all das, was im Text der Ideen vor der Reduktion steht - über das Bewußtsein, über das Wesen, über die Welt -, schon auf Grund der Reduktion gesagt worden." Nun, das ist also seine Erklärung über seinen tatsächlichen Gang der Betrachtung, und in gewissem Sinne glaube ich, daß das richtig ist. Es muß so sein, wenn die Funktion der Reduktion wirklich die Eröffnung eines Ausblicks auf ein neues Seinsgebiet sein soll auf das Seinsgebiet des individuellen Seins zunächst, dieser sogenannten "Irrealitäten", die dann eidetisch erfaßt werden. Es ist so richtig, ich habe also Husserl doch nicht verfälscht. Das ist doch der Sinn der Reduktion, daß sie das leistet bzw. leisten soll, und das hat Husserl mir selbst gesagt. Also werde ich jetzt so weiter verfahren, daß ich mich zuerst mit der Reduktion beschäftige. Alle Bedenken, die ich dagegen habe, werde ich Ihnen kurz andeuten. Und dann erst werde ich zum idealistischen Standpunkt

14

V.d.Hg. statt sehen.

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

217

(!)

kommen, zur Beschreibung des sogenannten Idealismus von Husserl - des Idealismus', wie er in den Ideen

I zum Ausdruck kommt. Denn der Stand-

punkt des Husserlschen Idealismus in den Ideen I ist nicht identisch mit dem Standpunkt, den Husserl später

als transzendentaler Idealist eingenommen

hat - in den Méditations Cartésiennes, in der Formalen und transzendentalen Logik

und auch nachher. In den Ideen I sind die Hauptthesen dieses Idealis-

mus' so formuliert, daß manche von ihnen auch später ohne Änderung auftreten. Andere Behauptungen sind aber so formuliert, daß man mit dieser Formulierung noch bei dem sogenannten "Realismus" bleiben kann. [Das bleibt zum Teil in der Formulierung der Argumentation, der Thesis, zum Teil auch im Sinn der einzelnen Begriffe, die Husserl verwendet, verdeckt.] 1 5 Der erste Begriff, auf den es zunächst ankommt, ist der Begriff der Setzung, den ich schon ganz zu Beginn 1 6 erwähnt habe und der ursprünglich "Im-Sein-Anerkennen" bedeutet. Später, also schon in den späten zwanziger

Jahren, in den Méditations transzendentalen

Logik,

Cartésiennes

und in der Formalen

und

ist das schon konsequent in einem anderen Sinne

gemeint. Es kommt nicht so sehr auf "Setzung" als auf "Stiftung" an - die Welt wird "gestiftet". Und damit ändert sich jetzt der Sinn der Funktion j e des transzendenten Erkenntnisaktes. In jedem solchen Akte ist dieses Moment der Stiftung enthalten. Ab dem Jahre 1929 heißt es: Alle transzendenten Gegenstände werden "gestiftet", kurz gesagt, transzendental intentional

geschaffen. Wenn ich hier über den "transzendentalen Idealismus" von Husserl spreche, so spreche ich ausschließlich von dem Standpunkt, der in den Ideen enthalten ist, und zwar genauer sogar nur in einem Teil der Ideen wenn Sie die Ideen Husserl

die

I

I. Denn,

I bis zum Schluß lesen, werden Sie sehen, daß, sobald

konstitutive

Problematik

entwickelt

-

die

sogenannten

Vernunftfragen, die "Rechtsfragen" -, sich da schon eine Problematik eröffnet, die ihn dann später zu einem idealistischen Schluß führt. Dieser Weg ist da schon vorgezeichnet. Er wußte in dem Moment, als er das schrieb, daß ein Gebiet des reinen Bewußtseins vorliegt, welches in den Ideen

I noch gar

nicht behandelt wird, nämlich das ursprüngliche, das sogenannte "innere"

15

V.d.Hg. statt Das ist zum Teil Formulierung der Argumentation, der Thesis, zum Teil ist das auch in dem Sinn der einzelnen Begriffe verdeckt, die Husserl verwendet.

16

Vgl. oben Vorlesung IV.

218

Achte Vorlesung

Bewußtsein, das Bewußtsein im Fluß, wo es noch keine - wie muß ich das sagen? - konstituierten Erlebnisse gibt. In den Ideen 1 aber wird das zunächst so dargestellt: Es sind im Bewußtsein Akte vorhanden, welche alle Einheiten, Bewußtseinseinheiten sind. Es ist nicht dieser letzte Fluß des Bewußtseins, der da behandelt wird; dieser wird mit Absicht zurückgeschoben. Die Analyse dieses ursprünglichen Flusses wird erst später in den zur Phänomenologie

des inneren Zeitbewußtseins

Vorlesungen

ihren literarischen Nieder-

schlag finden. Jetzt aber zurück zu den Fragen, die ich stellen will! Es besteht für mich vor allem das folgende Problem: Was ist die Reduktion - strukturell? Ist sie ein einzelner Akt, und zwar ein Akt, in dem sie (aktuell) vollzogen wird und zugleich eine Entscheidung, ein Entschluß? Mit anderen Worten, ich vollziehe jetzt die Reduktion und entschließe mich daran festzuhalten. Warum soll ich daran festhalten? Nun, weil ich erst dann, wenn ich sie durchführe, eine Untersuchung in der Einstellung der Reduktion durchführen kann. Natürlich, der Anfang der Reduktion - das ist ein Akt, das ist ein Beschluß. Aber wie ist das nun: Geht dieser Entschluß vorüber? Oder bleiben irgendwelche Spuren davon? Erhält sich diese besondere Einstellung, die ich willentlich und mit einem Akt erzwinge? Oder geht sie vorüber? Welche "Wirkungen" - wertn es erlaubt ist, so zu sprechen - hat dieser Akt der Reduktion auf mich selbst? Laufen dann meine Erlebnisse so ab, daß sie alle in (dem Rahmen) der Reduktion fungieren? Oder geht dies vorbei, kehre ich zur natürlichen Einstellung, die ich vor (der Durchführung) der Reduktion einnahm, zurück? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich jedoch, wie schwierig es war, als wir damals, 1913 oder 1914, alle versuchten, es zu tun. Wenn man das ganz ernst nimmt, wie junge Leute das gewöhnlich tun, so ist das wie ein Traum, in den man sich hineinversetzt. Man kehrt zurück zum täglichen Leben, aber sobald man (philosophisch) arbeitet, muß man diese Einstellung einnehmen - sonst wäre es falsch, sagt Husserl. Es scheint, daß der Effekt dieses Aktes der Reduktion in gewissem Sinne ein Zustand ist. Nicht wahr? Es müßte eigentlich ein Zustand sein. Denn sonst müßte man sich jeden Moment von neuem sagen: Jetzt mache ich Reduktion, jetzt reduziere ich, jetzt ziehe ich mich (von der natürlichen Einstellung) zurück usw. Dann ist also die Reduktion nicht als Akt zu verstehen, sondern als Wandel des Bewußtseins überhaupt, und zwar durch und durch. Ist es aber richtig,

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

(!)

219

wenn ich "durch und durch" sage? Nein, das ist nicht richtig. Es sollte eigentlich so sein. Aber Husserl selbst sagt: Nein, ich will die Reduktion, die ich da als eine Operation benutze, nicht so weit durchführen. Sie könnte so weit gehen, daß alles, mein ganzes Bewußtsein, reduziert wird, alles in der Position "der Einklammerung" oder besser des "Einklammerns" verläuft. Ich vollziehe freilich die Setzungen der realen Welt, meiner Bekannten usw., aber trotzdem immer mit der Einschränkung der "Ausschaltung", ich ziehe mich etwas von den Setzungen zurück. Aber auch dieses Erlebnis des SichZurückziehens und dann auch die Erlebnisse, in denen ich mich jetzt auf meine Erlebnisse richte, die immanenten Wahrnehmungen also, mit denen ich die Analyse des reinen Bewußtseins betreiben soll, sind "thetische" Akte. Sollen sie auch reduziert werden? Nein, sagt Husserl, so weit geht es nicht. Das kann man tun, wenn man will. Aber ich will doch, sagt Husserl, gerade eine Wissenschaft vom reinen Bewußtsein betreiben - mit immanenten Wahrnehmungen als thetischen Akten und darauf gegründeten Urteilen über meine Erlebnisse, die wiederum thetisch sein sollen. Alles also "thetisch". Das Merkwürdige ist nun: Ich bin in gewissem Sinne gespalten. Nämlich das, was sich auf die transzendente Welt und auf Transzendentes überhaupt bezieht, ist reduziert, da muß ich jene besondere Einstellung einnehmen, wenn es gelingen soll. Und zugleich muß ich sozusagen den Rest, das, was ich jetzt tue, das heißt die wirkliche wissenschaftliche philosophische Arbeit - ja, das muß ich in der thetischen Einstellung, also ohne Reduktion, durchführen. Die Situation ist also kompliziert. Denn einerseits habe ich zunächst die natürliche Generalthesis der Welt, die reduziert wird; es wird also irgendwelche Distanz dazu eingenommen, so als ob ich mir überhaupt verbieten würde, irgendetwas zu behaupten, zu Thesen überzugehen. Zugleich soll sich jedoch wiederum eine Umkippung vollziehen. Ich muß das, was ich aktuell tue, also meine auf meine Erlebnisse gerichtete immanente Wahrnehmung, die Analyse des in ihr Gegebenen usw., wiederum ganz seriös machen, nämlich in der natürlichen thetischen Einstellung. Dies wird doch von Husserl gefordert, nicht wahr? Sonst kann er keine Phänomenologie als Wissenschaft treiben. Das ist also die erste Gruppe von Fragen, die sich auf die Struktur und auf die Funktion der Reduktion beziehen. Ich glaube, man muß beides sa-

220

Achte Vorlesung

gen: Es geht um einen Akt, und es gibt mehrere solcher Akte, wenn man zur (philosophischen) Arbeit zurückkehrt, und dann gibt es eine dauerhafte Einstellung. Wie dies möglich ist, das ist eine andere Frage. Das muß jeder bei sich selbst erfahren. Die zweite Frage - eine Frage, die sogleich ein Punkt des Streites wird lautet: Ist die transzendentale Reduktion, die natürlich eine hinreichende Bedingung für eine philosophische Betrachtung ist, auch eine notwendige Bedingung für jede philosophische Betrachtung? Oder ist sie nur eine Übergangsphase einer philosophischen Betrachtung? Viele meiner Freunde, ältere Freunde von mir, waren der Meinung: Nun schön, machen wir also diese Reduktion und nehmen wir an, daß es uns gelungen sei, das reine Bewußtsein zu beschreiben, zu analysieren, die Funktionen der verschiedenen Erlebnisse zu erfassen, Leistungen zu erfassen, die durch diese Funktionen Zustandekommen. Schließlich kommt der Moment, wo wir schon wissen, wie das ist, was da in meinem Bewußtsein geschieht, z.B. wenn ich jetzt diesen Saal sehe und ihn als eine Realität behandle. Und so geht es weiter in Bezug auf die ganze Welt. Also habe ich das Erkennen der realen Welt analysiert, und zwar - sagen wir zunächst, um die Situation zu vereinfachen der physischen Welt. Was dann? Da war ich die ganze Zeit mit der Analyse der Erkenntnisoperationen, der Leistungen, Erkenntnisleistungen beschäftigt. Es ist alles in gewissem Sinne Erkenntnistheorie, nur daß sie auf dem Grunde des reinen Bewußtseins und innerhalb des Immanenten behandelt wird. Soll ich jetzt einfach sagen: Nun, es ist mir gelungen zu zeigen, daß die Konstitution des physischen Dinges in diesen Wahrnehmungen rechtmäßig 17 ist, und so ist nun Schluß mit der ganzen philosophischen Problematik? Oder soll ich sagen: Nein, es ist nicht Schluß. Wenn die Erkenntnis (in) der äußeren Wahrnehmung sich so abspielt und rechtmäßig ist, nun, was heißt das? Das heißt, daß das, was da in der Erfahrung festgestellt wird, wirklich so ist, wie es erfaßt wird. Nicht wahr? Und das Schlußergebnis lautet: Es gibt eine Welt dieser Dinge, welche in der sinnlichen Erfahrung analysiert worden sind. Ist das so einfach zu machen? Oder sind da (noch) mehrere Komplikationen vorhanden? Jedenfalls fragt es sich: Ja, um Gottes willen, wozu haben wir diese ganze Analyse des reinen Bewußtseins betrie-

'7

Zum für eine konstitutive Rechtsbetrachtung wichtigen Begriff der Rechtmäßigkeit von Aktverläufen vgl. Ingarden (1972c), 369ff.

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

(!)

221

ben - diese Analysen, wie das beim Erkennen verläuft, welche Funktionen da [ausgeübt werden] 18 . Ja, um zu wissen, ob die Welt wirklich ist und wie sie ist. Das war eben das, was uns berührte, nicht wahr? Es eröffnet sich also nach der ganzen Analyse das Postulat, eine metaphysische Entscheidung zu erzielen. Nicht wahr? Oder wenigstens eine ontologische Entscheidung - die Ontologien sind ja auch eingeklammert, wie es sich gezeigt hat. Ist also die Reduktion vielleicht nur eine notwendige Phase des Philosophierens? Und soll sie dann in einem (gewissen) Moment aufgehoben werden? Man muß sich doch einmal entschließen, über die Welt zu urteilen und dann Metaphysik und Ontologie zu treiben, was um so wichtiger ist, als die ganze phänomenologische Analyse unter der Klausel der Reduktion ja doch eidetisch betrieben wird. Sie wird nicht an Individuen, an gerade vollzogenen Wahrnehmungen betrieben. Und das, was ich am Ende (als Ergebnis der Analyse) erhalte, das ist, wenn es positiv ist, nur dies: Es ist prinzipiell möglich, daß eine in ihrem Wesen so und so verlaufende Erfahrung zu einem positiven Ergebnis führt. Damit ist noch nicht gesagt, ob das, was ich faktisch tue, wirklich eine solche Erfahrung ist. Nicht wahr? Damit ist auch noch nicht gesagt, womit ich es individuell in dieser Welt da zu tun habe - ob es wirklich real und so beschaffen ist, wie es mir jetzt in individuo erscheint? In der Phänomenologie ist immer nur von einer möglichen Welt die Rede - einer möglichen, realen Welt. Aber das interessiert mich letzten Endes gar wenig. Ich möchte doch wissen, wie diese Welt, [in der ich] 19 lebe, wirklich ist. Wie lautete Husserls Antwort? Ich weiß jetzt nicht genau, ob er mir das wirklich persönlich gesagt hat oder ob ich das bei ihm nur gelesen habe. Es ist (- so Husserl -) nicht nötig, die Reduktion aufzuheben und auf die natürliche Einstellung zurückzugreifen und Metaphysik zu treiben. Denn alles wird erledigt in der Analyse, die unter der Klausel der Reduktion durchgeführt wird. Die Reduktion soll eine für jede Philosophie unentbehrliche und für immer unentbehrliche Bedingung des Philosophierens über das Sein sein. 2 0

ικ V.d.Hg. statt ausgeübt w e r d e n | - ist das alles richtig oder unrichtig? V.d.Hg. statt in der ich] noch. 20

Vgl. dazu Husserls Briefe an Ingarden, neben Ingarden (1968a), 63f. und 78f. z.B. auch: "Es giebt kein echtes Philosophieren, es sei denn auf d e m Boden der t r | a n s c e n d e n t a l e n | Reduktion u. ihres 'Idealism', keine p h i l o s o p h i s c h e n ] Erörterungen, die f ü r sich schon endgilt| igen I Sinn haben können" (Ingarden 1968a, 80).

222

Achte

Vorlesung

Die in dieser Einstellung gewonnenen Ergebnisse lösen alles, alle Probleme auf, man braucht keine Metaphysik mehr. Denn in gewissem Sinne ist die Entscheidung, die man auf diesem Gebiet erreicht, schon eine metaphysische Entscheidung. Und es ist natürlich klar: Wenn die Lösung transzendental-idealistisch ist, wenn Realität nichts anderes als Korrelat einer unendlichen Mannigfaltigkeit von bestimmt geregelten Wahrnehmungen und Gedankenoperationen ist, nun, dann kann man alles schon in der Analyse des reinen Bewußtseins am Akt und am Korrelat finden. Nur eines ist wahr, wie das die Neukantianer auch sagen, daß dies eine unendliche Aufgabe ist. Aber der Effekt ist doch eindeutig. Das war also der andere strittige Punkt zwischen Husserl und manchen seiner älteren Schüler. Denn die späten Schüler Husserls, d.h. seine Schüler aus der Freiburger Zeit, sahen schon keine Schwierigkeit darin, sie sind irgendwie in das ganze Fahrwasser der transzendentalen Phänomenologie gekommen und waren überzeugt, es sei alles in Ordnung, und es sei auch nichts mehr zu machen. Das dauerte übrigens nicht lange. Dann kam es zu einer Katastrophe in der Entwicklung der sogenannten Freiburger phänomenologischen Schule. Das war die Wirkung Heideggers, der eine ganz andere Problematik eingeführt hat, welche für die jungen Leute damals besser verständlich war und ihnen auch näher stand, weil er zu derselben Nachkriegsgeneration gehörte und sich deswegen viel besser mit der Jugend, die aus dem Krieg zurückkehrte, verstand. Heidegger war auch sicher ein größeres Rednertalent als Husserl. Komplikationen traten ein. Diejenigen Probleme, die früher infolge der Logischen

Untersuchun-

gen und des ersten Bandes der Ideen lebendig waren, sind eigentlich verschwunden. Husserl, der sich nach dem Kriege entschieden zum transzendentalen Idealismus bekannt hatte, kannte mit den neuen Schülern keine Schwierigkeiten auf dem Gebiete der transzendentalen Reduktion. Als ich im Herbst 1927 zu Husserl kam (ich zitiere nicht ein Gespräch mit ihm, sondern mit einem Schüler 21 , der Husserl damals sehr nahe stand, es war jedoch nicht Heidegger), stellte ich die Frage: Wie ist das mit der Konstitution? Gibt es da nicht ein Gebiet, das vor der Konstitution liegt? Und gibt es nicht auch Probleme, die vor (dem Problem) der Konstitution [kritisch] 22 behandelt werden müssen? - Da sagte er mir: Nein, alles ist konstituiert. Es 21

Mit L. Landgrebe, vgl. Ingarden ( 1968a), 157.

22

V.d.Hg. statt problematisch.

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

223

(I)

gibt nichts, was nicht konstituiert wäre. Alles ist Effekt einer Konstitution, und alles als solches geht in gewissem Sinne über die letzte ursprüngliche immanente Sphäre hinaus. Alles ist konstituiert. Zu dem Nicht-Konstituierten, also zu dem, woraus diese ganze Konstitution sich entwickelt bzw. sich entwickeln soll, kann man im Grunde nicht vordringen. So weit war das. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß die Frage besteht: Soll die transzendentale Reduktion und die transzendentale Analyse die endgültige, die erste und letzte Operation in der Philosophie sein? Oder ist sie nur ein Weg, manche höchst wichtige Probleme zu lösen, um dann mit dem Apparat, den man da gewonnen hat, doch zu den alten metaphysischen

Problemen

zu-

rückkehren? Als nächstes etwas, das ich schon erwähnt habe und deshalb kurz behandeln kann. Ich glaube, daß es als Operation zweierlei ist, die transzendentale Reduktion durchzuführen und die positiven Wissenschaften bei den phänomenologischen Analysen "auszuschalten". Die Reduktion, die bei der Generalthesis

der

natürlichen

Einstellung

[ansetzt

und

sie] 2 3

irgendwie

"reduziert", bringt eine radikale Wandlung in der allgemeinen Einstellung und in der Behandlungsweise hervor. Dasjenige aber, was in den Ideen 1 und sonst von Husserl mit Recht gefordert wird, daß man die positive Wissenschaft bei bestimmten Problemen der Philosophie und insbesondere bei allen richtig formulierten erkenntnistheoretischen Problemen ausschalten m u ß , 2 4 bedeutet nur, daß man sich in der Philosophie auf gar keine positivwissenschaftliche Behauptung berufen darf. Es heißt nur dies, daß kein Satz der positiven Wissenschaft, also Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Mathematik usw. (dem man übrigens nichts vorzuwerfen hat und für den die Physiker, Chemiker, Mathematiker usw. verantwortlich sind), vorausgesetzt werden darf. Wir Philosophen bedienen uns dessen nicht als Voraussetzung unserer Analysen. 2 5

23

V.d.Hg. statt angreift oder sie.

24

Vgl. Ingarden (1921b); (1925b); (1930).

25

IIngarden] Reinach hat im Herbst 1913 in seinem S e m i n a r das Problem der B e w e g u n g gestellt. Er hat es in Z u s a m m e n h a n g gebracht mit den Paradoxien von Zenon, nämlich mit j e n e m Problem des Achilles und der Schildkröte usw. Er wollte die Schwierigkeiten, die den Paradoxien zugrundeliegen, irgendwie überwinden. Er entwickelte die Paradoxien viel

224

Achte

Vorlesung

In diesem Sinne sollen alle positiven Wissenschaften ausgeschaltet werden. Ich meine, diese Forderung muß angenommen werden. Wir müssen uns sagen: Auch die schönste, die bestbegründete Wissenschaft nehmen wir nicht als Prinzip, als Voraussetzung für unsere weiteren Erwägungen an. Der Physiker und der Physiologe sagen, es geschieht dies und dies im Raum, es gibt nämlich eine Welle oder einen kosmischen Strahl, und dieser Vorgang trifft auf den Endpunkt meines Nervs, und daraus entsteht dies und dies im zentralen Nervenapparat, und dann sehe ich rot, nicht wahr? Das behauptet man immer wieder, neue Entdeckungen auf diesem Gebiet sind gerade gemacht worden. Dann sagt der Phänomenologe: Ja, das ist schön und gut, aber da haben Sie schon vorausgesetzt, daß physikalische Dinge überhaupt existieren. Damit haben Sie zugleich vorausgesetzt, daß die Erkenntnis der physikalischen Dinge rechtmäßig ist. Ja, wenn Sie das getan haben, so brauchen Sie nicht weiter zu philosophieren, es wäre entweder ein Widerspruch oder eine petitio principii

- und Schluß. In dem Sinne ist es, glaube ich,

möglich und notwendig, bei gewissen Problemen der Erkenntnistheorie, nämlich in der Erkenntniskritik 26 , diese Reduktion, diese Ausschaltung der sogar schönsten positiven Wissenschaft zu vollziehen. - Aber das ist nicht

weiter als Zenon das gemacht hatte, und hat gesagt, das Achilles-Paradoxon sei doch nicht zu überwinden, der Vorsprung des Tieres sei nicht annulierbar. Ja, das sagt im Grunde auch die Mathematik. Natürlich: Die Reihe 1, 1/2, 1/4,... usw. enthält keine Null. Der Vorsprung ist annulierbar - dies ließe sich mathematisch so ausdrücken, daß es in der Reihe der Vorgänge eine Null gäbe, aber die gibt es eben nicht. Was war nun die Lehre Reinachs? Er hat die These aufgestellt: Es sei falsch, daß ein Körper bei einer Bewegung in einem Moment und zwar in einem physikalischen Moment - an einem Punkt ist. Das sei falsch. Man müsse annehmen, d a ß der sich bewegende Körper in einem Moment einen kleinen Abschnitt, eine kleine Strecke passiert. Diese These hat Reinach mehrere Monate verteidigt, dann hat er sie zurückgezogen. Aber die erste Reaktion von meinem Freunde und Kollegen Professor Ajdukiewicz, der damals junger Doktor und in der Mathematik, Physik usw. weit fortgeschritten war, war die: "Herr Doktor, wie können Sie da so etwas behaupten? Es steht doch im Widerspruch mit der Axiomatik der Mengenlehre - in krassem Widerspruch! Kennen Sie die Mengenlehre nicht?" - Reinach antwortete: "Ja, es tut mir sehr leid, Herr Doktor, aber das ist Mathematik, und ich bin Philosoph. Ich darf nicht die Axiomatik der Mengenlehre voraussetzen. Vielleicht ist es sehr weise, aber in meinen Analysen darf das nicht angenommen werden." 26

Zu Ingardens Unterscheidung zwischen reiner Erkenntnistheorie, Kriteriologie und angewandter Erkenntnislehre oder Erkenntniskritik vgl. Ingarden (1925b); (1964c), 54.

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

(I)

225

dasselbe und nicht so schwierig wie die Reduktion der Generalthesis der realen Welt in der natürlichen [Einstellung] 27 . Eine weitere Frage ist: Worauf soll die transzendentale Reduktion, die phänomenologische Reduktion angewendet werden? Dies ist natürlich bei Husserl gesagt worden. Zunächst nämlich soll die Generalthesis der realen Welt reduziert werden. Deswegen habe ich ja gefragt, was die Generalthesis sei. Und Husserl hat selbst in den Ideen I gesagt, daß die Generalthesis kein Akt ist, kein Urteilsakt, sondern etwas, was irgendwie beständig ist. Ja, wie soll ich jetzt die Reduktion auf diese beständig daseiende Stellungnahme (oder wie Sie das nennen wollen) anwenden? Ich habe versucht, das - durch den Kontrast mit der Psychastenie usw. - irgendwie aufzuklären. Aber wie geht das zu? Wie kann dieser ständige Zustand jetzt irgendwie modifiziert werden? Vielleicht gelingt es. Aber diese Reduktion bezieht sich nicht nur auf die Generalthesis selbst, auf meinen Zustand, sie bezieht sich (auch) auf das unter der Generalthesis Stehende. Was ist das, was unter der Generalthesis steht? Das ist die Welt - ja, und da sagt Husserl: die Welt der natürlichen Einstellung. Das soll reduziert werden. Was soll da reduziert werden? Der Seinscharakter, das Korrelat zur Generalthesis, der Seinscharakter der realen Welt, der Seinscharakter jedes Dinges, das ich da [wahrnehme.] 28 Das soll doch irgendwie modifiziert werden! Aber es kommt mir (jetzt) auf etwas anderes an: Wie weit reicht diese Welt? Was gehört zu dieser realen Welt? Es wird gesagt: die räumlich-zeitliche Mannigfaltigkeit von Dingen - und von Menschen und Tieren, mich auch eingerechnet. Gehört dazu auch das physikalische Ding, und zwar das, was wir heute darüber wissen? Was Husserl wußte, hat sich inzwischen verändert. Auf welchem Stand war damals, also vor 1913, die Theorie des Atoms? Die Bohrsche Theorie war schon da, aber das hat sich auf verschiedene Weise gewandelt, und dann kam die Zerstörung des Atoms usw. - Gehört das auch zur realen Welt der natürlichen Einstellung? Und analog, wenn Sie an die Astronomie denken, an die Astrophysik insbesondere, die Theorien darüber, was z.B. in unserer Sonne geschieht [usw.] 29 - Gehört das auch

27

V.d.Hg.

statt Einstellung.] In der Anschauung m u ß jetzt etwas ganz Besonderes passieren,

nicht wahr?. 28

V.d.Hg. statt w a h r n e h m e ?

29

V.d.Hg. statt usw. | Gerade hat irgendein Herr einen Nobelpreis d a f ü r bekommen.

226

Achte

Vorlesung

zur natürlichen Welt? Oder ist es nur Produkt eines weiteren Konstitutionsvorgangs, das aber in gewissem Sinne nicht zu unserer Welt gehört? Husserl wollte das später genauer bestimmen. Denn in der Krisis hat er an Stelle des Begriffes der natürlichen Welt doch einen anderen Begriff eingeführt, nämlich den der Lebenswelt. Die Lebenswelt, das ist zwar auch die Welt in der natürlichen Einstellung, [aber sie ist (genauer formuliert) doch nicht dasselbe wie die natürliche Welt] 3 0 . Denn es wird gesagt: Die Lebens weit - das ist das, was noch bleibt, wenn ich alle Theorien beiseite schaffe, alle Theorien sozusagen ausschalte, also die theoretische Physik, die Biochemie, die Mikrobiologie usw. Das soll ich alles ausschalten. Aber die Lebenswelt - das ist zugleich die Welt, in der wir leben. Das ist die zweite Bestimmung. Die Welt, in der wir hantieren usw. - die ganze Technik gehört dazu, meine Technik auch. Ist es wirklich so, daß wir in einer Welt leben, eine Lebenswelt gemeinsam haben, in der die Atome nichts zu sagen haben, in der es noch keine Atome, keine Atomkerne gibt? Rechnen wir damit nicht in unseren Handlungen? Könnten wir unsere heutige Technik aufbauen, ohne das zu berücksichtigen? Wenn man z.B. so einen "Sputnik" baut, der von außen her nicht verbrannt werden darf - ja, da muß er an der Außenseite mit einer besonderen Substanz belegt sein, welche Strahlen verschiedener Art zurückwirft. Er enthält in sich eine große Menge höchst präziser Apparate, deren Konstruktion die Gültigkeit der modernsten Ergebnisse der heutigen Naturwissenschaft voraussetzt. Ganze Zweige der hochleistungsfähigen Industrie sind im Zusammenhang damit entstanden und bereichern unsere Lebenswelt mit ihren Erzeugnissen. Dasselbe gilt in bezug auf die moderne Biologie, Biochemie und deren praktische Anwendungen in der Medizin, in der Zootechnik usw. usw. Das alles ist etwas, was zu unserer heutigen Lebenswelt gehört. Das aber ändert sich beständig. Im Zusammenhang damit und in dem Sinne ist zunächst der Umfang dessen, worauf die Reduktion angewendet werden soll, irgendwie unbestimmt. Später, nach der Einführung der Reduktion, sagt Husserl freilich, daß die positiven Wissenschaften reduziert, "ausgeschaltet" werden sollen. Aber jetzt frage ich: Mit welchem Recht? Denn dieser ganze Bereich geht schon über die Generalthesis vieler von uns hinaus. Es muß ihn bei diesem ganzen Verfahren etwas leiten, wenn

V.d.Hg. statt aber es ist doch nicht dasselbe, nicht so ganz ungenau gesagt, wie die natürliche Welt.

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

227

(I)

er, im Endeffekt, sagt, daß ich auch dies ausschalten soll. Was ist das, was ihn da leitet? - Husserl spricht von verschiedenen "Ausschaltungen": der Naturwissenschaften, der Geisteswissenschaften, Mathematik, Logik formaler mathesis universalis.

als

Dann sollen auch alle materialen Ontologien

ausgeschaltet werden. Warum? Ja, das sind doch Wissenschaften, die ohne Reduktion durchgeführt werden. Und womit beschäftigen sie sich? Mit transzendenten Wesen. Und alle transzendenten Wesen sind eben nicht immanent. Aber wenn die formalen und materialen Ontologien ausgeschaltet werden, dann ist doch der Grund vieler phänomenologischer Entscheidungen fortgefallen. Es läßt sich dann z.B. das reine Bewußtsein nicht von allen transzendenten Gebieten abscheiden. Es soll auch die Transzendenz Gottes ausgeschaltet werden. Dies alles hat mit der Generalthesis (der natürlichen Einstellung) nichts zu tun. Es entscheidet die "Transzendenz" im ontischen Sinne dem reinen Bewußtsein gegenüber. Dann aber hat Husserl Schwierigkeiten: Wie steht es mit "meinem" reinen Ich? Das reine Ich - ist doch kein Erlebnis, ist auch kein beständiges Datum im Erlebnisstrom, es ist ihm doch transzendent. Soll mein reines Ich auch unter die Klausel der Reduktion fallen? Da sagt Husserl: Nein, nein, das nicht! - Das Ich gehört also zur Struktur des Bewußtseins. Dann zitiert er Kant und im Grunde auch Descartes. Ich formuliere das etwas anders: Jedes Erlebnis hat eine besondere IchForm, die Form der ersten Person. Alle meine Erlebnisse sind "Erste-PersonErlebnisse",

nicht

"Er-Erlebnisse",

nicht

"Sie-Erlebnisse"

und

"Du-Er-

lebnisse", sondern "Ich-Erlebnisse". A l s o an der Struktur (der Erlebnisse) liegt es, obwohl das reine Ich kein Element des Bewußtseins ist; die Struktur des Bewußtseins weist eindeutig darauf hin. Es ist nicht möglich anders zu verfahren, als das reine Ich mit seinen reinen Erlebnissen absolut anzuerkennen. Das sind also (der Reihe nach aufgelistet) Husserls Antworten auf die Frage, was reduziert werden soll. So weit geht das, also nicht nur die natürliche Welt, auch verschiedene andere (Gegenstände), auch die Gegenstände der Mathematik, der Logik, der formalen Ontologie usw. und auch Gott. Was leitet ihn da? Leitet ihn das Wesen des reinen Bewußtseins? Ja, aber das Wesen des reinen Bewußtseins soll doch erst vermittels der Reduktion entdeckt werden, nicht umgekehrt - das habe ich Husserl folgend bereits gesagt. Wenn man dann sozusagen nachspürt und schon weiß, worin seine Position besteht, die man "transzendentalen Idealismus" nennt, dann glaube

228

Achte

Vorlesung

ich, daß der Begriff, der da dirigierend ist, der zur Abscheidung dessen führt, was als das Residuum der Reduktion bleiben soll, der Begriff der ontischen Transzendenz ist. Deswegen habe ich früher die verschiedenen Begriffe, erkenntnistheoretische Transzendenz-Begriffe, ontische

Transzendenz-Be-

griffe usw. unterschieden. In wenigen Worten gefaßt lautet Husserls Entscheidung: Immanent ist bloß dies, was reelles Element meines Bewußtseins ist, Element meines

Bewußtseinsstromes

ist. Immanent

gerichtete

Er-

kenntnisakte, Bewußtseinsakte sind solche, die sich auf etwas beziehen, was Element meines Bewußtseinsstromes, reeller Teil, reelles Bestandstück dieses Bewußtseins ist. Und transzendent gerichtet sind diejenigen Akte, w o das nicht stattfindet. Ich erinnere: Die immanente Wahrnehmung - das [meint eine besondere Art] 3 1 von immanent gerichteten Akten, nämlich diejenigen Akte, in denen (eine) unvermittelte Einheit zwischen dem Wahrgenommenen, meinem Erlebnis, [und] 32 meinem Wahrnehmen besteht. Das Wahrnehmen meines Erlebnisses ist sozusagen aufgebaut auf dem Erlebnis, worauf das Wahrnehmen gerichtet ist. Es ist relativ zu diesem wahrgenommenen Erlebnis seinsunselbständig. Es existiert nur dann, wenn das Erlebnis existiert, auf das sich die Wahrnehmung richtet. W o das nicht stattfindet, also z.B. bei Erinnerungen an Erlebnisse des die Erinnerung vollziehenden Ich, ist diese Immanenz schon nicht mehr vorhanden. Denn vergangene Erlebnisse bilden keine unvermittelte Einheit mit meinem Erinnern, nicht wahr, und auch nicht mit der Reflexion in der Erinnerung. Da sind schon Distanzen vorhanden. Streng immanent ist eigentlich nur das, was sich im Bereich des

aktuellen

"Jetzt" der immanenten Wahrnehmung vollzieht; w o das nicht stattfindet, ist schon Transzendenz. Und das Transzendente in dem Sinne, daß es nicht reell zu meinem Bewußtseinsstrom gehört, ist - jetzt kommen die anderen Begriffe der Transzendenz ins Spiel - nur durch Abschattungen, durch Erscheinungen gegeben, ist immer einseitig gegeben und immer in einem [Wahrnehmen, das transzendierend über das eigentlich Gegebene hinausgeht] 3 3 . Was hinten ist, was im Innern ist, das ist nicht gegeben, kann aber

3 32 33

'

V.d.Hg. statt ist ein besonderer A k t . V.d.Hg. statt und] meiner immanenten W a h r n e h m u n g . V.d.Hg.

statt W a h r n e h m e n g e g e b e n , das transzendierend ist über das eigentlich G e g e b e n e

an der Vorderseite.

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

(I)

229

beim nächsten Schritt gezeigt werden. Also ich schneide den Apfel in zwei Teile und sehe, was im Innern ist. Aber das Innere ist nicht zu beseitigen; auch wenn ich ins Unendliche schneide, immer bleibt das Innere und die andere Seite. Es könnte passieren, daß nach 100 Jahren, wie Husserl sagt, alles explodiert, und es sich zeigte, daß es im Grunde gar keinen Apfel gab, und daß alles bisher Gegebene lediglich in gewissem Sinne geregelte Täuschungen waren. Es ist nie sicher, absolut sicher, daß das existiert, was transzendent erkannt wird. Das absolut Sichere ist ausschließlich das eigene momentan wahrgenommene Erlebnis in seiner Existenz. In Bezug auf alles Andere kann prinzipiell Zweifel erhoben werden, das ist prinzipiell denkbar - deswegen eröffnet es zunächst auch einen Ausblick auf neue Probleme. Da ist Descartes mit im Spiel, nicht wahr? Nur das immanent Wahrgenommene ist absolut selbstgegeben, nicht durch Erscheinungen, und es ist nicht einseitig gegeben, sondern voll, und es ist absolut gesichert in seiner Existenz. Da ist dieses Motiv, das Husserl diktiert: Das, was ausgeschaltet, was reduziert werden soll, ist das, was seinsmäßig nicht absolut notwendig ist, was sich aus der Struktur [von Akten] 3 4 oder deren Mannigfaltigkeit nicht ergibt. Die äußere Wahrnehmung ist so strukturiert, daß sich aus dieser Struktur die Existenz des Wahrgenommenen nicht ergibt; es kann trotzdem, obwohl es wahrgenommen wird, nicht sein. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß es das nicht gäbe - aber es kann doch nicht sein. Und als solches soll es eben der Reduktion verfallen. Da bleibt nur das aktuelle reine Bewußtsein übrig. Es scheint nun, daß wir sozusagen die Lösung gefunden haben: Der dirigierende Begriff der Abgrenzung des reinen Bewußtseins von allem Anderen ist zunächst der Begriff der ontischen Transzendenz und dann diese Begriffe der erkenntnistheoretischen Transzendenz, die wir in Bezug auf das Einseitige usw. erfassen. Warum aber verwendet Husserl die beiden Transzendenzbegriffe, die er freilich zwar inhaltlich - wie das aus dem Obigen deutlich hervorgeht - auseinanderhält, aber terminologisch nicht voneinander abgrenzt. Konnte er sich nicht mit dem ontischen Begriff zufriedenstellen? Diese Transzendenz entscheidet ja über die rein sachliche Differenz zwischen Bewußtsein und Nicht-Bewußtsein. Um aber zu wissen, daß etwas -

V.d.Hg. statt desselben Aktes.

230

Achte Vorlesung

wie z.B. das materielle Ding, von dem Husserl dies ja expressis verbis behauptet - so wesensverschieden von dem Bewußtsein ist, daß es kein "reelles Bestandstück" von demselben ist und sein kann, muß man doch wissen, was dieses Etwas und insbesondere welchen Wesens es ist. Wie kann man aber von Husserls Standpunkt aus - so etwas wissen? Auf Grund der Erfahrung bzw. der Ergebnisse der positiven Wissenschaft. Ja, aber darauf konnte sich Husserl nur vor der Durchführung der Reduktion berufen. Sobald aber die Reduktion durchgeführt wird, muß dieses Wissen über das ontisch Transzendente "eingeklammert" werden, so daß man sich nicht darauf berufen darf. Das Fundament der Scheidung zwischen Bewußtsein und Nicht-Bewußtsein und damit mindestens der Grund der Reichweite der Reduktion ist (also) hinfällig geworden. Man muß gewissermaßen alles aufs neue anfangen. Aber wie? Oder soll man das Wissen über das Wesen des Transzendenten auf dem Wege der ontologischen Analyse gewinnen? Zunächst scheint es, daß dem wirklich so ist, daß die Ontologie im Husserlschen Sinne dazu berufen ist, uns das apriorische Wissen über das Wesen (bzw. über die Idee) der Gegenstände zu liefern. Aber die Ontologien verfallen doch auch der Reduktion, man darf sich also nach der Reduktion auf sie nicht berufen. Die Situation ändert sich also nicht im mindesten. Auf Grund der Einsicht in das Wesen eines Gegenstandes darf man also auf dem transzendental reduzierten Boden nicht behaupten, daß dieser Gegenstand dem Bewußtsein gegenüber ontisch transzendent ist. Es muß also ein anderer Weg gesucht werden. Er eröffnet sich - wie es scheint -, wenn man auf die Berufung auf das Wesen (die Idee) dieses Gegenstandes verzichtet und nach der Weise seiner Gegebenheit in entsprechenden Erlebnissen fragt. Diesen Weg schlägt Husserl tatsächlich ein, und dieser Weg bringt ihn zu den von mir früher auseinandergesetzten erkenntnistheoretischen Begriffen der Transzendenz. Von da aus, durch die Analyse z.B. der äußeren Wahrnehmung, kann man wissen, daß das physische Ding im erkenntnistheoretischen Sinne "transzendent" ist, also mit seinen Beschaffenheiten über das in der jeweiligen Wahrnehmung Gegebene hinausreicht. Und von da aus, wenn man schon weiß, was ein "reelles Bestandstück" des Erlebnisses bildet bzw. bilden kann, könnte man auch entscheiden, was - wenn es überhaupt existierte - kein "reelles Bestandstück" des Erlebnisses bilden kann.

231

Transzendentale Reduktion und Idealismus (I)

Nun, auf diese Weise würde es sich klären, warum Husserl zwei Transzendenzbegriffe

verwendet

und

gewissermaßen

zwischen

ihnen

schwankt. Das bedeutet noch nicht, daß auf dem neu eingeschlagenen Wege schon alle Schwierigkeiten überwunden sind. Denn es gilt auch hier: Man muß schon wissen, was zum Wesen des reinen Bewußtseins gehört, um die Reduktion richtig durchzuführen; aber erst die Reduktion soll uns den erkenntnismäßigen Zugang zur Erfassung des reinen Bewußtseins seinem Wesen nach ermöglichen, sie erst kann uns zu entscheiden erlauben, was reelles Bestandstück des reinen Bewußtseins ist und was nicht, sie erst kann also die Entscheidung über die Reichweite ihrer selbst ermöglichen. Müßte man nicht sagen, daß die Reduktion selbst zuerst sozusagen nur probeweise durchgeführt wird und erst im Laufe der Betrachtung nachkontrolliert wird und auch den Sinn und die Reichweite der Anwendung des Begriffes der ontischen Transzendenz festlegt? Nehmen wir an, daß der Begriff eines reellen Bestandstückes des reinen Bewußtseins festgelegt ist. Ist aber damit bereits entschieden, was denn ein solches "Bestandstück" des Erlebnisses jeweils bildet? Mitnichten! Denn erst jetzt steht vor mir die Frage: Was ist das, was in der immanenten Wahrnehmung erfaßbar ist? Was ist das wirklich immanent Gegebene, und zwar so Gegebene, daß es sicher ist, daß es ein reelles Bestandstück meines momentanen Erlebnisses ist? Was gehört zur Einheit des Erlebnisses? Also das wahrgenommene Ding gehört nicht dazu - das ist transzendent, sagt Husserl. Und die Ansicht, die ich jetzt von dem Ding habe? Nun, die ist nicht physisch; aber ist sie schon ipso facto ein Element des Bewußtseins? Die Ansicht, die ich habe, ist nicht das wahrgenommene physische Ding, sie ist das, was ich erlebe, wenn ich das betreffende Ding wahrnehme. Entscheidet dies aber, daß sie ein reelles Bestandstück der Wahrnehmung ist? Da sie in ihrem Gehalt Farbelemente enthält, würde Brentano sie vielleicht ein "physisches Phänomen" nennen. Es ist bekannt, daß Farben nach Brentano "physische Phänomene" und nicht "psychische Phänomene" sind. Psychisch sind nur die intentionalen (Intention habenden) Erlebnisse; dagegen Farben, Töne usw. - das sind physische Phänomene. Aber die physischen Phänomene sind doch nichts Physisches, nichts Materielles im Sinne der Physik, der Naturwissenschaft. Das sagt Brentano. Er ist im Grunde, so wollen wir sagen, kritischer Realist. Dasjenige aber, was er "Farbe" nennt,

232

Achte

Vorlesung

sind nichts anderes als besondere qualitative Momente, die in der Wahrnehmung als konkrete Bestimmtheiten (Eigenschaften) des wahrgenommenen farbigen Dinges, z.B. des weißen Papiers oder des grauen Anzugs, gegeben sind. Daß es so etwas wie eine "Ansicht" gibt, die sowohl von dem farbigen Ding als auch von dem Akt des Sehens verschieden ist, weiß Brentano überhaupt nicht, und es ist nicht sicher, ob er sie zu den "physischen" Phänomenen oder zum Psychischen rechnen würde. Aber schon seine "physischen" Phänomene bilden sozusagen ein Zwischending zwischen dem realen und materiellen Ding und den "psychischen Phänomenen", die das Psychische bilden. Warum würde aber Brentano z.B. von den visuellen Ansichten nicht sagen, daß sie "psychische Phänomene" sind? Weil sie keine "intentionalen", eine Intention in sich bergende Phänomene sind. So werden auch wir sagen müssen, eine Ansicht ist nicht "Bewußtsein", nicht "Erlebnis". Husserl sagt zwar früher "Abschattung ist Erlebnis" 35 , aber auch er würde nicht sagen, "Abschattung" sei ein "intentionaler Akt". Sie ist ein "Erlebtes", sie wird von demjenigen, der einen Akt der Wahrnehmung vollzieht, "erlebt". Entscheidet dies aber, daß sie ein "reelles Bestandstück" des Erlebnisses ist, oder daß sie die Grenze, die durch den Begriff des reellen Bestandstückes eines Erlebnisses gezogen wird, schon überschreitet? Ich muß jetzt auf das hier bereits an früherer Stelle 36 Besprochene zurückgreifen. Eine "Ansicht von" hat in ihrem Untergrund eine Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten, die mit den qualitativen Bestimmungen des wahrgenommenen Dinges nicht identisch sind. Es sind fließende Daten, die ich erlebe, von denen ich nichts weiß, wenn ich Dinge sehe, aber die doch für mich irgendwie da sind und mich in meiner Verhaltensweise bestimmen, und die auch bestimmen, was ich eigentlich sehe, höre und wie ich es sehe. Sie sind nicht physisch, sind keine physischen Realitäten. Husserl sagt von ihnen ganz deutlich: Die jetzt von mir gehabten fließenden Sinnesdaten sind reelle Bestandstücke des Erlebnisses. 37 Nun, ich habe sehr viele Stunden mit Husserl zusammen verbracht, und ich stellte immer wieder die Frage: 38 Ist das wirklich "Bewußtsein" - dieser

35

Vgl. Husserliana

36

Vgl. oben Vorlesung V.

37

Vgl. Husserliana

38

Vgl. Ingarden (1968a), 123-131.

III/1 (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 86.

III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, § 41.

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

(!)

233

rote Fleck da an der Peripherie meines Blickfeldes? Ist das Erlebnis? Hat es eine Ich-Struktur? Ist es Vollzug eines Aktes? Ist es ein Wissen von etwas? Husserl sagte mir: Eins kann ich Ihnen zugeben: Das Empfindungsdatum ist nicht ich-lich, es ist ich-fremd. Ein Akt dagegen ist ich-lich. 3 9 Ein Akt, ein Bewußtseinsakt, das Meinen, das Denken, das Wahrnehmen - das alles quillt aus meinem Ich, und ich bin daran nicht nur beteiligt, sondern ich lebe damit, obwohl ich nicht mit dem Akte identisch bin. Aber der rote Fleck, dort an der Peripherie oder hier im Zentrum, alles, was sich im Blickfeld ändert das ist etwas vom Akt völlig Verschiedenes. Husserl hat auch zugegeben, daß sie ich-fremd sind, und trotzdem hat er weiter behauptet, sie seien Bestandteile, reelle Bestandstücke des Bewußtseins. Warum? Da sagte mir Husserl: Ja, denken Sie, daß solche Flecken sozusagen selbst in der Welt spazieren? Gewiß nicht! Daraus folgt aber nicht, daß sie durch einen Akt des Sehens oder Tastens irgendwie so mit dem Bewußtsein verbunden sind, daß sie mit ihm ein Ganzes bilden, dessen reeller Bestandteil [sie wären!] 4 0 Oder anders gesagt: Sind die erlebten Empfindungsdaten, die ich irgendwie empfange und von denen ich - indem ich sie empfange - doch ein gewisses Wissen habe, seinsunselbständig in Bezug auf meinen Akt des Wahrnehmens? Denn ich müßte sagen: Bewußtseinsakte sind in bezug auf die Empfindungsdaten nicht seinsunselbständig. Ich kann Akte vollziehen ohne Empfindungsdaten zu haben. Die Empfindungsdaten ändern sich auf verschiedene Weise und trotzdem vollzieht sich der Wahrnehmungsakt als ein Ganzes für sich ... Oder ist es vielleicht umgekehrt? Ist es vielleicht so, daß die Empfindungsdaten seinsunselbständig in Bezug auf das Ich sind, daß sie also nur dann existieren, wenn es ein erlebendes Ich gibt, wenn es ein Erleben von ihnen gibt? Das müßte jetzt nachgewiesen werden, es ist aber noch nicht nachgewiesen worden. 4 1 Die Behauptung, daß sie "reelle Beständstücke" des Bewußtseins sind, würde (auf diese Weise) entschieden [werden] 4 2 .

39

[Ingarden] J e m a n d hat mich verbessert und gesagt, es sollte auf deutsch nicht "ich-lich", sondern "ich-haft" heißen; ich-lich' aber ist ein Ausdruck von Husserl.

40

V.d.Hg. statt sie w ä r e n ?

4

Z u m ganzen vgl. oben Vorlesung V, A n m . 70.

'

42

V.d.Hg. statt w e r d e n ] o h n e d a ß man weiter gefragt hätte.

234

Achte Vorlesung

Nach Husserl umfaßt das reine Bewußtsein Akte, Empfindungsdaten und auch die auf diesen Empfindungsdaten aufgebauten Sinneinheiten, das heißt die "Ansichten von". Zwar gibt es, wie eine genauere Analyse zeigt, verschiedene Typen oder Stufen dieser Ansichten, die mehr oder weniger über die zugrundeliegenden Empfindungsdaten hinausgehen oder durch sie erfüllt werden. Schon im Jahre 1914 habe ich mit Husserl und unter Husserls Einfluß gesehen, daß es da viele "Schichten" solcher immer höher konstituierter Ansichten gibt. Die Tatbestände, die da vorliegen, sind sehr kompliziert, und es ist unmöglich, sie hier zu entwickeln. Aber in Bezug auf alle konstitutiven Schichten der "Ansichten" ist dieselbe Frage zu stellen, nämlich ob und inwiefern sie "reelle Bestandstücke" des Bewußtseins sind. Und bei allen diesen Ansicht-Schichten müßte man diese Frage verneinen, solange nicht gezeigt ist, daß sie alle in Bezug auf das Erleben (eines Subjektes) seinsunselbständig sind. Aber dies wurde bis heute nicht gezeigt. Schließlich noch eine Sache, nämlich das vermeinte Ding, das erscheinende Ding. Wenn man jene Ansichten in der natürlichen Einstellung erlebt, dann ist ein Ding gegeben, z.B. diese Uhr: Sie zeigt halb acht, sie ist ein physisches Ding, ein Werkzeug. Und jetzt führe ich die Reduktion durch. Dann bleibt diese Uhr, diese reale Uhr, weiter im Blickfeld, obwohl ich die Reduktion vollzogen habe. Husserl sagt, es bleibt alles, wie es war, es fällt nichts fort. Aber das Ding selbst habe ich reduziert, ich darf jetzt darüber nichts aussagen. Was bleibt, was mir noch zugänglich ist, ist das Phänomen der Uhr, und zwar Phänomen nicht im Sinne dieser oder jener Ansicht, sondern der Sinn dieser anschaulich bzw. wahrnehmungsmäßig vermeinten Uhr, derselben Uhr, die ich seit 20 Jahren trage. Das ist der aus einer großen Mannigfaltigkeit von Erfahrungen, die ich (in dieser Zeit) von dieser Uhr gehabt habe, irgendwie resultierende Sinn, der da vermeint wird und der dem realen Gegenstand da zugeschrieben wird, auf dieses Reale aufgelegt wird, das da angeblich existiert bzw. sich mir als existierend gibt. Ob es wirklich existiert, weiß ich jetzt nicht - das darf ich auch nicht sagen, vor allem da ich die phänomenologische Reduktion durchgeführt habe. Aber eins weiß ich: So ein Vermeintes habe ich; "Vermeintes" - das ist nicht selbst real, sondern nur als real vermeint; das Vermeinte, das ist das, was Husserl das Ding-Noema nennt, d.h. das "Ding in Anführungszeichen", wie Husserl sagt; das ist das Cogitatum als solches, vermöge dessen ich mit der realen Welt zu tun

Transzendentale Reduktion und Idealismus (I)

235

habe. Das Cogitatum, sagt Husserl ganz ausdrücklich, ist unabtrennbar von meinem Erleben, insbesondere von meinem Wahrnehmen, von der ganzen Mannigfaltigkeit (der Erlebnisse), in der es sich konstituiert hat. Das Cogitatum bildet irgendeine Einheit mit dem Cogitare - zwar nicht diejenige Einheit, die zwischen Akten und Akten besteht, und auch nicht diejenige Einheit, die nach Husserl angeblich zwischen dem Ich und den Empfindungsdaten, dem Ich und den Ansichten besteht. Das Cogitatum ist transzendent, es ist kein Stück von mir. Und doch ist es als Sinn in gewissem Sinne auch Teil des ganzen Erlebens. Es gehört dazu, sagt man. Wenn man nun dem nachgeht, wie sich ein bestimmtes Cogitatum im Fluß des Bewußtseinsstroms konstituiert, also wenn man von der Geschichte der Erkenntnis dieser Uhr eine Erfahrung macht, dann sieht man, daß sich dieses Vermeinte, der gegenständliche Sinn dieser Uhr, ständig in gewissem Sinne wandelt. Je reicher meine Erkenntnis ist, desto mehr bereichert und wandelt sich der Sinn des vermeinten Gegenstandes. Diese "Sinne", die gegenständlichen Sinne, die noematischen Sinne - das sind doch Bildungen meiner Erfahrung. Sie sind empfindlich auf das, was ich gerade erlebe und wie ich da dabei denke und schließe, welche Analysen und welche synthetischen Bildungen dabei entstehen. Der noematische Sinn ist von mir im hohen Maße abhängig: Je nachdem, wie ich erfahre, wie ich meine, modifiziert sich das Vermeinte, obwohl es vor allem davon abhängig ist, welche Mannigfaltigkeiten von Empfindungsdaten mich bedrängen und wie sie aufeinanderfolgen. Demgegenüber scheinen die physischen Dinge selbst von mir, von meinem bewußtseinsmäßigen Verhalten, unabhängig zu sein. 43 Alles das zusammen genommen, also: der intentionale Akt, die Empfindungsdaten, die sich darauf aufbauenden Ansichten (Abschattungen) verschiedener Stufen und die gegenständlichen Sinne (das Ding-Noema) - all dies gehört zum reinen Bewußtsein und gehört zum Residuum, das erhalten bleibt, wenn wir die Reduktion durchgeführt haben. Sie sehen, im Laufe der Entwicklung der Husserlschen Phänomenologie wandelt sich der Sinn des Bewußtseins. Denn zunächst, als Husserl sozusagen noch Schüler von Brentano war - und das war er noch in den Logischen 43

(Ingarden] Wie darf ich aber nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion noch zwischen "Ding-Noema" (noematischem Sinn), also dem Cogitatum, und dem "Ding selbst" unterscheiden?

236

Achte Vorlesung

Untersuchungen!

-, war für ihn "Bewußtsein" natürlich das psychische Phä-

nomen, also alles, was Intention in sich enthält, was somit in diesem Sinne "intentional" ist. Alles andere waren physische Phänomene. - Dann ist aber etwas geschehen, was Husserl zur Änderung des Bewußtseinsbegriffes gebracht hat. Und zwar geschah dies sicher vor den Ideen /, vor dem Jahre 1913, wahrscheinlich in den Jahren 1905-1908, als Husserl die großen Analysen der Wahrnehmung, der wahrgenommenen Zeit, des wahrgenommenen Raumes usw. durchgeführt hat. Da hat sich sein Begriff des Bewußtseins gewandelt und umfaßt in der Folge fast alles, worüber gesprochen werden darf, auch das, was angeblich ontisch transzendent ist. Denn das Cogitatum ist doch nicht "immanent", aber es gehört nach Husserl irgendwie notwendig zur Ganzheit des Erlebnisses. Husserl sagt: Natürlich besteht zwischen Cogitatum und Cogitatio eine andere Einheit als diejenige zwischen Akt und Akt, es ist aber doch eine Einheit. Wenn wir über dieses so mannigfache und in seinem Aufbau komplizierte Feld des reinen Bewußtseins, das sich nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion als Residuum ergab, nachdenken, so fällt uns auf, daß da ein völlig anderes Prinzip zur Abgrenzung dessen, was das reine Bewußtsein ist, auftaucht, als es dasjenige war, das vor der Reduktion zur Abgrenzung zwischen Bewußtsein und Nicht-Bewußtsein diente. Denn früher war das die ontische Transzendenz im Gegensatz zur Immanenz. Was ontisch transzendent war, gehörte nicht zum Bewußtsein und verfiel der Reduktion. Jetzt aber wird nicht nach dem gefragt, was ontisch transzendent oder nicht-transzendent ist 4 4 , sondern nach dem, was mit dem Bewußtseinsakt noch in einer Einheit besteht. Dabei werden zudem verschiedene derartige "Einheiten" einander gegenübergestellt, obwohl keine von ihnen von Husserl befriedigend geklärt und präzisiert wurde. Und gerade das Auftauchen dieses neuen Abgrenzungsprinzips und die dabei belassenen Unklarheiten machen uns stutzig und erschweren es uns, ge-

4 4

[Ingarden] Man müßte vielleicht behaupten, daß jede obere konstitutive Schicht der jeweils niederen Schicht gegenüber (z.B. ein wahrgenommener Gegenstand als solcher (Ding) im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit von Ansichten, eine Ansicht im Gegensatz zur zugrunde liegenden Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten) transzendent ist und zwar im ontischen Sinne. Diese Transzendenz muß anerkannt werden, da man sonst zugeben müßte, daß im Bereich des - so weit verstandenen - "Bewußtseins" lauter Widersprüche effektiv bestehen (wie das z.B. Hegel behauptet hat, der über den Begriff der ontischen Transzendenz nicht verfügt!).

Transzendentale Reduktion und Idealismus (I)

237

genüber dieser Auffassung des reinen Bewußtseins eine Stellungnahme einzunehmen. Wir müssen aber zunächst zur Kenntnis nehmen, daß uns ein solches Residuum bleibt, daß uns also nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion ein solches Residuum erhalten bleibt. Und jetzt - sagt uns Husserl sollen wir die Elemente analysieren, die auf dem Bewußtseinsfeld auftreten: Akte, Erlebnisse, Empfindungsdaten und -felder, Ansichten verschiedener Stufen, gegenständliche Sinne usw. Das alles müssen wir jetzt analysieren, und dann die Zusammenhänge sowie die Abhängigkeiten (zwischen diesen Elementen) finden und u.a. danach fragen, nach welchem Verlauf von Akten, Empfindungsdaten und Ansichten sich so ein gegenständlicher Sinn aufbaut ("konstituiert"). Weiter müssen wir nachforschen: Geschieht das alles vernunftsmäßig, rechtmäßig? Da eröffnen sich die - von Husserl in den Ideen

/ so genannten - "Rechtsfragen" der Konstitution. Konstitutionspro-

zesse sind - würde Husserl sagen - keine rein mechanischen oder kausalen Vorgänge, es herrscht überall Sinn, vernünftige Motivierung oder auch Widerstreit, überall Nachdenken, überall Erwägen usw. Und es muß gezeigt werden, wann alle diese Operationen vernünftig sind und zu einem positiven gültigen Ergebnis führen. Zu diesem Z w e c k e brauchen wir nicht die reale Welt, die Physik usw. zu verwenden. Hier, auf dem Felde des reinen B e wußtseins, haben wir alles, was wir dazu benötigen. 4 5 Ich versuche darzulegen, wie Husserl das sah, und auch, wie er das behauptet hat. Ich darf aber nicht verschweigen, daß in mir die Frage entsteht, ob es wirklich so ist, daß da alles so zusammenhängt und eine Ganzheit bildet. Ich weiß: Wenn ich sage: Dinge sind keine Ansichten, Dingansichten; materielle Dinge sind keine Empfindungsdaten und sind nicht Akte, nicht Bestandteile, reelle Stücke der Akte, der Erlebnisse selbst, sondern sie sind "ich-fremd" - dann habe ich große Schwierigkeiten (und ich weiß nicht), was ich mit all dem machen soll. Alles Physikalische ist schon "draußen", und damit beschäftigt sich die Physik usw. Die Aufgabe der Phänomenologie besteht darin, die Akte selbst zu analysieren. Und da kann ich nun entscheiden: Ist das absolute Realität, absolutes Sein - oder nicht? W a s soll ich aber mit den Ansichten m a c h e n ? W a s soll ich mit den gegenständlichen Sinnen ma-

Zur konstitutiven Phänomenologie vgl. unten Vorlesung X .

238

Achte

Vorlesung

chen? Das ist, meiner Ansicht nach, kein Bewußtsein. Bewußtsein ist - gemäß meiner Analyse 4 6 - nur das Aktmäßige und das Ich; es ist bewußt dadurch, daß es aktmäßig durchlebt wird. 47 Aber Farbenflecken, die Ansichten von Dingen, der vermeinte Sinn? Die Frage geht sehr weit. Denn Begriffe sind auch "Sinne", und Sätze und ganze Theorien sind ebenfalls "Sinne". Nun, wenn ich sage, daß dies alles "Bewußtsein" ist, dann komme ich auf den psychologistischen Standpunkt zurück. Aber was soll ich jetzt damit machen? Ist dies ein selbständiges Sein, unabhängig von mir und von der realen Welt? Oder ist es Ergebnis einer Konfrontation zwischen zwei Realitäten, zwischen mir und der realen Welt? So wie ich das z.B. beim literarischen Kunstwerk und beim Bild sage: Das physische Fundament existiert, wie ich auch, für sich, von mir, von meinen Erlebnissen seinsunabhängig. Dagegen das Bild, das sich auf diesem Fundament aufbaut, braucht zu seiner Existenz zwei seinsautonome Gegenständlichkeiten: das physische Fundament und mich, den Betrachter; sonst ist es nicht faßbar; es ist in seinem Sein irgendwie auf mich und auf das Reale relativ. Ist es nicht ebenso mit dem noematischen gegenständlichen Sinn? 4 8

46

Vgl. dazu oben Vorlesung V.

47

Im Jahre 1916, als Ingarden mit Husserl das Problem der E m p f i n d u n g s d a t e n intensiv diskutierte, verfügte Ingarden noch nicht über die Unterscheidung zwischen d e m Durchleben d e r Akte, d e m Erleben der ursprünglichen E m p f i n d u n g s d a t e n und d e m gegenständlichen Vermeinen. Diese Unterscheidung bringt erst Ingarden (1921b). Vgl. dazu Ingarden (1968a), 131, A n m .

4 8

Zur hier angedeuteten A u f f a s s u n g des N o e m a s als "rein intentionalem G e g e n s t a n d " im Sinne von Ingarden (1931a) vgl. die folgende Stellungnahme Ingardens in einem Brief vom 12.7.1969 an Prof. G u i d o K ü n g (Fribourg): "Der Begriff des N o e m a s bei Husserl scheint zunächst eindeutig eingeführt zu sein, aber b e i m näheren Zusehen erweist er sich e n t w e d e r sehr weit, so d a ß verschiedene Tatbestände unter ihn fallen, oder aber selbst vieldeutig; deswegen ist es nicht ganz leicht, das 'Noema' mit d e m intentionalen Gegenstand zu vergleichen. Das Noema duktion

durchführt,

erscheint

während

bildet wird und einer s.zs. s.z.s. sekundäre

jedenfalls

erst nachdem

der intentionale

neuen Erfassung,

Blickrichtung

auf ihn richtet.

man die phänomenologische

Gegenstand ohne Reduktion,

in der Geradehineinstellung zugänglich

ist, wenn man

Regeeine

Dann ist auch eine s.z.s. doppelte Einstellung

ihm gegenüber möglich, indem man entweder auf seinen 'Gehalt' oder auf seine intentionale Struktur gerichtet ist, bzw. auch noch die Einstellung, in welcher beides, sowohl d e r Gehalt als auch seine Struktur, sichtig wird. Zu j e d e r dieser Einstellungen gibt es - nach Vollzug der Reduktion - ein anderes

N o e m a , das eben erst nach dieser neuen Einstellung zur Sich-

tigkeit k o m m t . Der intentionale Gegenstand kann so gebildet werden, daß er als Identisches

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(!)

239

Es ist sehr schwierig, dies weiter darzulegen und zu begründen. Aber das ist die andere Lösung, wo ich kein Idealist bin und doch fast alle positiven Analysen von Husserl annehme. Nur, daß ich da und dort manche neue Fragen stelle und verlange, daß dies oder jenes doch irgendwie geändert werde. Aber es gibt natürlich Akte, es gibt Empfindungsdaten, es gibt Ansichten, es gibt Sinne, gegenständliche Sinne, und es gibt Gegenstände, d.h. besser Dinge, es gibt Realitäten. Und aus diesem Ganzen muß der ganze Prozess des Erkennens herausgearbeitet werden, und zwar ohne Berufung auf die Realität.

in einer Mehrheit von Akten erfaßt werden kann, also über den Erfahrungsbereich eines Aktes hinausgeht. Dagegen scheint das Noema immer nur einem Akte oder einer

Konti-

nuität von Akten ... zu entsprechen. Als ich im Literarischen Kunstwerk' zum ersten Mal versucht habe, den Gehalt von der Struktur eines intentionalen Gegenstandes zu analysieren, habe ich gar nicht an Noemata gedacht, und ich glaube, daß, wenn man es täte, es nicht richtig wäre." [vgl. G. Küng, "Nowe spojrzenie na rozwój filozoficzny Husserla" (Ein neuer Blick auf Husserls philosophische Entwicklung), in: Instytut Filozofii i Socjologii Polskiej Akademii Nauk (ed.). Fenomenologia 1972, 155, Anm. 33).

Ingardena,

Warszawa: Studia Filozoficzne

Neunte Vorlesung (10. November

1967)

(Transzendentale Reduktion und Idealismus (II)) Die Zeit, die ich noch habe, d.h. heute und das nächste Mal, möchte ich noch zwei Problemen widmen, nämlich einer Reihe von Fragen, eventuell Vorwürfen, im Zusammenhang mit der transzendentalen Reduktion bei Husserl, und dann der Konsequenz, d.h. dem transzendentalen Idealismus in der Gestalt, wie er sich uns in den Ideen I darstellt. Ich werde mich hier vor allem auf eine Darstellung und Ausdeutung beschränken - um dem Ergebnis höchstens noch einige Fragezeichen hinzuzufügen. Heute werde ich mit den Bemerkungen zum Idealismus vielleicht nur anfangen. Dagegen möchte ich für die Reduktion noch etwas mehr Zeit haben. Die erste Frage ist: Was erhoffte sich Husserl, vermöge der Reduktion zu erreichen? Und die zweite Frage, die damit im Zusammenhang steht: Was leistet die transzendentale Reduktion? Hat sie Husserls Hoffnung erfüllt, und kann sie sie überhaupt erfüllen? Um es gleich zu sagen: Es scheint, daß die Reduktion in der Gestalt, wie sie in den Ideen I dargestellt wurde, zu dem Zwecke, dem sie dienen sollte, nicht ausreicht. So ist es nicht verwunderlich, daß Husserl später mehrmals versuchte, die Reduktion aufs neue aufzugreifen, um sie irgendwie besser oder ausführlicher darzustellen, weil er doch wohl zur Überzeugung gelangte, daß die ganze Darstellung in den Ideen 1 noch ergänzungsbedürftig ist. Freilich das, was mir ein gewisses Manko zu sein scheint - nicht ein praktisches, sondern ein theoretisches Manko -, hat Husserl später doch nicht mehr berührt. Also, was hat sich Husserl erhofft? Das ist kurz gesagt: Entdeckung, Enthüllung - um es Heideggerisch zu sagen - des transzendentalen, reinen Bewußtseins, und zwar zunächst des Bewußtseins im Sinne des intentionalen Aktes, des Erlebnisses. Nach Husserls Auffassung geht aber dieser Akt mit einer Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten oder - wie er sich auch ausdrückt - hyletischen Daten zusammen und bildet mit ihnen eine gewisse Einheit. So sollen auch diese Daten vermöge der Reduktion zur Entdeckung gebracht werden. Aber das ist nicht alles, was entdeckt werden soll. Denn es kommt noch etwas hinzu, was ich früher erwähnt habe, und zwar das sogenannte Cogitatum oder das Noema oder das Vermeinte genau so wie es ver-

242

Neunte Vorlesung

meint ist - das soll auch entdeckt werden. Am Hintergrund der Mannigfaltigkeiten von Erlebnissen, Empfindungsdaten, Ansichten bzw. Abschattungen soll entdeckt werden, was das letzte ist, das Vermeinte als solches. Das (alles) soll also vermöge lediglich jener sogenannten Ausschaltung oder Einklammerung oder jenes Sich-nicht-Solidarisierens1 mit dem Vollzug der Generalthesis entdeckt werden. Nichts mehr soll gemacht werden, nur dieses. Beim Vollzug der Generalthesis in Bezug auf die äußere Welt soll noch etwas geleistet werden und doch nicht geleistet werden: das ist dieses Sich-Zurückziehen, dieses Sich-irgendwie-Distanzieren von dieser Thesis selbst, [die doch vollzogen werden soll]2. Dieses "Vermeinte" - das muß man beachten - ist etwas, wovon Husserl sagt, es sei unabtrennbar vom Akt und eventuell von den Empfindungsdaten. 3 Es ist nichts separat für sich Existierendes, obwohl es - und das ist jetzt die Frage - doch dem Akte selbst und den Empfindungsdaten gegenüber transzendent ist. Dies zu sagen, ist sehr gefahrlich. Transzendent ist zunächst das wahrgenommene Ding, also das als Räumliches, Physisches usw. Gegebene. Wenn ich nun die Reduktion durchführe, bleibt alles anscheinend als dasselbe weiter bestehen, und doch ist es schon Noema. Was ist eigentlich transzendent? Das Ding selbst? Ja. Und das Noema - das Vermeinte als solches? Danach ist jetzt zu fragen, das ist noch zu erwägen. Aber jedenfalls ist es etwas irgendwie im Verhältnis zum Akt selbst und zu den Empfindungsdaten und auch zu den Abschattungen durchaus Neues - das Vermeinte als solches. Es ist eine merkwürdige Auffassung der ganzen Situation. Denn zunächst scheint es, daß es zwei verschiedene Seinsgebiete gibt: Das eine ist die reale Welt, dem Bewußtsein überhaupt transzendent, und das andere ist das reine Bewußtsein. Dann wird jenes eingeklammert, die transzendente Welt ist irgendwie als nicht vorhanden zu rechnen und doch irgendwie mitzunehmen. Und doch bleibt eine Dualität in dem, was noch geblieben ist, eine ganz besondere Art Dualismus, [Dualität in der Einheit]4. Denn man sagt: Zu jedem Akte gehört das Noema, und das Noema bzw. das Vermeinte, das Cogitatum,

Vgl. dazu oben Vorlesung VII. V.d.Hg. statt aber sie soll doch da sein. Vgl. Husserliana III/l (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, §§ 88, 97. V.d.Hg. statt und zwar Dualismus in einer Einheit zugleich.

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(II)

243

ist vom Akt nicht abzutrennen. Und dann wird das alles so gemacht, daß es doch zu einer Gestalt von Monismus kommt - trotz des Dualismus, trotz der Transzendenz, und zwar der Möglichkeit von zwei Transzendenzen, des Dinges selbst und des vermeinten Dinges, des Dinges "im Anführungszeichen", wie Husserl auch sagt, d.h. des Vermeinten. Was kann aber diese Reduktion wirklich leisten? Die Reduktion, das ist nichts anderes als eine gewisse - um es lateinisch zu sagen - reservatio mentis in Bezug auf die Existenz und das Sosein, wie das auch manche sagen, des zur Welt Gehörenden, insbesondere des realen Dinges. Soll das jedoch schon ausreichen, um etwas zu entdecken? Die Akte, die Erlebnisse, die irgendwie mit diesen Akten verbundenen Empfindungsdaten? Ja, gemäß der alten Tradition, die auch Husserl gar nicht fremd ist. War nicht sein geistiger Vater Franz Brentano? Und Brentano würde sagen: Was soll da entdeckt werden? Zunächst sollen die psychischen Phärtomene entdeckt werden. Und was braucht man dazu, um das zu entdecken? Ja, man muß eine ganz gewöhnliche Reflexion haben. Das aber ist etwas mehr und etwas anderes als lediglich die "Reduktion". Also abgesehen von der Reduktion muß noch etwas Neues, nämlich das Reflektieren, anders gesagt die immanente Wahrnehmung, vollzogen werden; sie selbst ist durch den Vollzug der Reduktion allein noch nicht da. In diesem Sinne zeigt es sich, daß das Wichtigste, was da zu entdecken ist, mittels der Reduktion nicht entdeckbar ist. Man muß einen wirklich neuen Akt vollziehen, nicht nur den schon bestehenden reduzieren. Wir müssen also dann die immanente Wahrnehmung vollziehen. Selbstverständlich, würde Husserl sagen, müssen wir das tun. Ich habe diese Frage einst in Royaumont gestellt - das war 1957, so ein kleiner Kongress der Phänomenologen 5 -, und da sagte man mir damals: Nun ja, Husserl dachte, daß natürlich das eine mit dem anderen zusammengeht; es ist ganz natürlich, daß wir da diese Reflexion vollziehen. Vielleicht aber ist es doch nicht das Ergebnis der Reduktion selbst! Reicht aber wiederum die Refle-

Illème colloque philosophique de Royaumont du 23 au 30 avril 1957. Die Akten sind enthalten in: Husserl, Cahiers de Royaumont, Philosophie III, Paris 1958. Die Diskussion, auf die sich Ingarden bezieht, wurde vermutlich im Anschluß an Van Bredas Referat: "La réduction phénoménologique" geführt, vgl. S. 329ff. - Der Titel von Ingardens Referat lautete: "Le problème de la constitution et le sens de la réflexion constitutive chez Edmond Husserl" [vgl. Ingarden (1958)].

244

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Vorlesung

xión dazu aus, um die reinen Erlebnisse wahrzunehmen, zu erfassen? Nein, dazu reicht sie nicht aus, da braucht man auch die Reduktion. Denn wenn man nur reflektiert, so wie ich das hier jetzt tue, wenn ich auf meinen Gedanken reflektiere - so ist das in dieser Reflexion Gegebene mein psychisches Verhalten, ich selbst als ein Mensch. Psychisches Verhalten, d.h. meine Bewußtseinsverläufe, die bei der normalen Auffassung Phänomene, aber zugleich Symptome meiner Seele, meines Geistes und natürlich auch meines Leibes sind. Sie sind Symptome von etwas, was in mir als in einem Ganzen passiert, und als solche sind sie doch irgendwelche Elemente des realen Menschen und des weiteren der realen Welt. 6 Die normale, alltägliche Reflexion bringt mich nicht von selbst zum reinen Bewußtsein, zu meinem reinen Erlebnis. Ich muß die Reduktion zu Hilfe nehmen. Da meint Husserl: Wenn ich einmal die ganze reale Welt reduziert habe, und ich als Mensch zusammen mit meinen psychischen Tatsachen zu dieser Welt gehöre, dann genügt bereits diese Reduktion, daß ich nicht nur die äußeren Dinge als das (nur) Vermeinte nehme, sondern auch mich selbst mit meinen Erlebnissen, also mit Erlebnissen als Symptomen von meinem Selbst. Aber das wird dann so gesagt: Ich als Mensch mit meinen psychischen Tatsachen, mit meinen physiologischen Tatsachen, mit meinen Beziehungen zur äußeren Welt, also kausale Beziehungen usw. - das ist jetzt alles "in Anführungszeichen", das ist das Vermeinte. Schön. Aber nun soll ich in dem Vermeinten oder aus dem Vermeinten irgendwie das reine Erlebnis von mir selbst herausfassen, das reine Bewußtsein (von mir selbst) aus diesen wie Husserl sagt - "Auffassungen" sozusagen herausschälen, wobei nicht unbeachtet bleiben darf, daß dieses Erlebnis gerade Symptom meiner psycho-physischen Situation ist. Da genügt es wiederum nicht, bloß zu sagen, daß ich Mensch bin und daß meine Erlebnisse Symptome meiner psychophysischen Organisation sind. Es genügt nicht zu sagen: Es wird reduziert. Es muß jetzt dieser Charakter der Realität und der Charakter des Hineingehörens in eine konkrete Welt, der Verflechtung in alle möglichen, verschiedenen kausalen Beziehungen, in denen ich gerade stehe, und endlich das Gepräge der "Menschlichkeit" meiner Erlebnisse von der "Bewußtmäßigkeit" dieser Erlebnisse abgehoben werden, damit das Bewußtsein von al-

6

Vgl. dazu Ingarden ( 1965b), Kap. XVI.

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(II)

245

len diesen Charakteren "abgeschält", "gereinigt" werde. Es genügt nicht, nur Distanz davon zu nehmen. Husserl sagt an einer Stelle, daß all dies schon nicht immanent sei - dieser Realitätscharakter, dieses als realer Vorgang in die ganze Welt Verwoben-zu-sein. Sobald ich mich also auf das Immanente konzentriere, fällt das Nicht-Immanente fort. Genügt aber die Reduktion, daß es dann von selbst zu der Konzentration auf das Immanente kommt? Ich muß doch irgendwie das Immanente vom Nicht-Immanenten unterscheiden können. - Ja, wie soll ich wissen, was ich da tun soll? Von selbst fallen jene Charaktere gar nicht ab, sondern ich muß das reine Bewußtsein von ihnen abschälen, sie von ihm irgendwie abnehmen oder entwerten. Da hilft weder die Reflexion - denn die Reflexion nimmt natürlich alles mit - noch die Reduktion, weil ich ihr zufolge nur weiß, das Reale sei nur als das Vermeinte zu nehmen, es sei irgendwie in Frage zu stellen. Es müssen also verschiedene Charaktere7: der [bloße Realitätscharakter]8, aber auch der Charakter, daß das Erlebnis Element eines realen Menschen, Symptom von Vorgängen ist, die in dessen Gehirn geschehen usw., irgendwie beseitigt oder sozusagen entkräftet werden. Wie soll man das aber machen? Diese Aufgabe bereitet gewisse Schwierigkeiten für Leute, die in die Phänomenologie hineinkommen wollen. Ich kann das gut verstehen. Nach meiner Habilitation kam ich nach Lemberg, wo Twardowski der Meister war. Er war Brentanist, sein ganzes Leben lang war er im Grunde deskriptiver Psychologe, obwohl er sich für einen Philosophen hielt. Seine Schüler haben mich damals immer wieder gefragt: Nun, was ist das "reine Bewußtsein"? Ist es dasselbe wie mein individuelles psychisches Bewußtsein, oder ist es ein anderes Bewußtsein? - Da ist man versucht, den Leuten zu sagen, es sei dasselbe, nur sei es {als psychisches Bewußtsein genommen) irgendwie mit einer Menge von Charakteren umkleidet. Gemäß den Texten in den Ideen I scheint es, daß dies auch bei Husserl so gedacht wird, daß das [originale]9 reine Bewußtsein durch ge-

[Ingarden] Husserl verwendet den Ausdruck 'Auffassung'. Dieses Wort präjudiziell aber, daß die Quelle dieser "Auffassung" im transzendentalen Subjekt liegt, was auf dieser Stufe der Betrachtung nicht einmal suggeriert werden darf. V.d.Hg. statt bloßen Realisierungscharaktere. V.d.Hg. statt originelle.

246

Neunte

Vorlesung

wisse Auffassungen sozusagen beschattet wird, die fortfallen sollen, sobald man die Reduktion gemacht hat. Damals war ich überzeugt, daß es bei Husserl tatsächlich so ist, daß immer derselbe Kern, ein Bewußtseinskern, da ist und daß an ihm nur diese verschiedenen Charaktere wie gewisse Schalen auftreten. Aber später, nach den Ideen /, gibt es bei Husserl doch manche Stellen , die das in Frage stellen, [die darauf hindeuten, daß dieses reine Bewußtsein als Bewußtsein doch etwas ganz anderes sein soll] 1 0 als nur das gereinigte psychische Bewußtsein. Es gibt solche Stellen in der Krisis und auch in manchen nach dem Kriege publizierten Schriften Husserls. Das ist aber nicht ganz klar. Insbesondere wenn ich z.B. höre, daß der Strom des reinen Bewußtseins doppelseitig unendlich sei, und daß sozusagen im Verlaufe dieses Stroms Kontinuität bestehe. In Bezug auf mein psychisches Bewußtsein ist das nicht wahr. Ich schlafe jeden Abend ein, und wenn ich ganz gut schlafe, habe ich gar kein Bewußtsein: Ich schlafe einfach, ich träume nicht. Es gibt da also ständig, jeden Tag oder jede Nacht, Unterbrechungen. Auch wenn ich nachmittags etwas müde bin, schlafe ich manchmal ein. Manchmal kann es auch passieren, daß ich während der Stunde, in der ich vortrage, schlafe. Wenn es z.B. halb drei nachmittags ist, kann ich während eines Gespräches einschlafen. Wie kann ich dann sagen, daß ich ein sich nach rückwärts unendlich erstreckendes Bewußtsein habe? Ja, ich kann (in der Erinnerung) sehr weit zurückreichen, aber schließlich verschwimmt irgendwie alles, wird ausgelöscht. Bis zu meinem zweiten Lebensjahr kann ich zurückkehren, aber weiter zurück weiß ich unmittelbar aus meinem Leben nichts. Was ich weiß, weiß ich nur aus Überlieferung: Es gab das Jahr 1893, in dem ich geboren wurde, sagt man mir; früher gab es irgendeine Zeit, eine Welt; aber das ist für mich ein bloßer Gedanke, erlernte Geschichte, das ist kein Erlebnis. Was aber vor mir in der Zeit liegt, das ist ganz unklar, glücklicherweise oder unglücklicherweise. Kann ich diese Unendlichkeit der Zeit annehmen - wie Husserl behauptet -, und zwar die Unendlichkeit der erlebten Zeit, nicht der berechneten Zeit oder der astronomischen Zeit, oder auch der historischen Zeit?

Ό

V.d.Hg. statt als ob dieses reine Bewußtsein doch als Bewußtsein etwas ganz anderes wäre.

Transzendentale Reduktion und Idealismus (II)

247

Wenn man dies also nicht konstruiert, sondern vermutet, daß bei Husserl irgendwelche Intuitionen zugrunde lagen, dann, glaube ich, muß man die Sache ganz anders [sehen]11 und fragen: Ist dieses reine Bewußtsein wirklich mit meinem psychischen Bewußtsein identisch? Bestreitet man diese Identität, so kommt man in Schwierigkeiten mit der Reduktion und der Reflexion, inwieweit sie es nämlich vermögen, uns zu diesem anderen Bewußtsein zu [führen] 12 . Etwas anderes wird nun in Betracht gezogen, was meiner Ansicht nach Husserl mittels der Reduktion zu entdecken gelungen ist. Das ist nämlich das Folgende: Sobald ich die Reduktion in Bezug auf meine Umwelt, auf die reale Welt, auf die Generalthesis der Welt durchführe, bringe ich mir zum ersten Mal zum Bewußtsein, daß ich nicht schlechthin mit Dingen zu tun habe, die ich wahrnehme, sondern daß ich mit Dingen zu tun habe, die durch "Abschattungen" erscheinen, welche ich mir dann "nach dem Vollzug der Reduktion" zum Bewußtsein bringe, obwohl die Abschattungen nicht das Ding selbst sind. Eines wird sicher auf diesem Wege ermöglicht: Das ist der Übergang vom Ding zum Vermeinten, zum vermeinten Ding, vom Ding zum Dingsinn, Dingnoema. Ich nehme diesen Tisch wahr, ich bin in einer normalen Situation; so wie ich in der natürlichen Einstellung lebe, habe ich mit Dingen zu tun, die mir direkt gegeben, selbst gegeben sind, obwohl vermittels der Abschattungen, wie Husserl sagt, der Ansichten. Möge folgende Wendung erlaubt sein: Vom intentionalen Objekt meiner Wahrnehmung weiß ich in der natürlichen Einstellung nichts, es ist mir nicht zugänglich. Wenn ich sage: Ich sehe diesen Saal, ich sehe da meine Bekannten und ich ziehe mich zugleich von der Generalthesis irgendwie zurück - dann kann ich auch sagen: Ich weiß nicht (sicher), ob das, was ich da sehe, Wirklichkeit ist. Aber eins weiß ich doch, nämlich daß sich mir etwas als Wirklichkeit phänomenal zeigt. Dieses Sich-phänomenal-Zeigen dessen, was da ist, entdecke ich vermittels der Reduktion. Ich könnte dies vielleicht auch ohne besondere Methode entdecken; aber wenn man es methodisch erfassen will - und das möchte Husserl eben erreichen -, so muß diese Operation durchgeführt werden, die er transzendentale Reduktion nennt. Da wird es wirklich enthüllt, 11

V.d.Hg. statt stellen.

12

V.d.Hg. statt überführen.

248

Neunte Vorlesung

wir werden darauf aufmerksam, daß es so etwas wie Erscheinung von etwas, eine Ansicht von etwas gibt, und zwar nicht nur in einem Zeitmoment, sondern auch in der Wandlung. Ich sehe z.B. diesen Saal und sehe, daß es derselbe Saal ist, den ich vor einer Woche gesehen habe oder in dem ich vor einem Jahr auch Vorträge gehalten habe; dann ziehe ich mich auf die Position der Reduktion zurück und bringe mir zum Bewußtsein, wie sich der Sinn dieses Saales langsam wandelt. Sagen wir, er hat jetzt für mich die soganannte "Bekanntheitsqualität" an sich, früher hatte er das nicht. Als ich hier vor einem Jahr zum ersten Mal einen Vortrag hielt, geschah es am Tage, um 11 Uhr vormittags, und ich war fest davon überzeugt, daß Licht durch dieses Fenster dort fiel. Daß der Saal auch elektrisch beleuchtet war, merkte ich damals gar nicht. Der Saal hatte damals einen ganz anderen Sinn für mich als jetzt. Ich hatte z.B. nicht gesehen, daß da rote Wände sind und daß diese Ziegel aus der Mauer heraustreten. Denn ich war auf das Thema konzentriert, das ich vorzutragen hatte, außerdem war ich in einer ganz fremden Gesellschaft usw., so daß ich den Saal selbst (sozusagen) nicht sah. Also Sie sehen, der Sinn dessen, was ich gesehen habe, wandelt sich im Laufe meiner Erfahrung. Und zwar ist diese Wandlung des Sinnes in jeder neuen Phase der Wahrnehmung eine andere Wandlung, als die Wandlung bzw. Veränderung der Dinge, die da sind - deren physische Veränderung ist etwas völlig anderes. Auf diesem Wege also, sobald ich die Reduktion vollzogen habe, entdeckte ich nicht nur das Vermeinte als solches, sondern auch besondere, eigentümliche, neue, nicht in der realen Welt sich abspielende Vorgänge, Verwandlungen des Sinnes, des Vermeinten als solchem. Da gebe ich also zu, daß hier die Reduktion wirklich leistungsfähig ist, daß sie mir dieses Gebiet entdeckt - das Gebiet dessen, was Brentano einst "physische Phänomene" nannte, obwohl es nicht nur physische Phänomene sind, denn es sind außerdem - ich nehme ja z.B. meine Bekannten wahr, ich lebe mit ihnen zusammen - auch fremde psychische Phänomene vorhanden. Damit war bei Brentano die Sache schon beendigt, und er sagte im Geiste des kritischen Realismus: Das Wirkliche - das sind die physischen Dinge; und die physischen Phänomene - das sind Illusionen, das sind in gewissem Sinne Phantome. Und Husserl sagte: Ja, ja, das sind eben die Phantome, mit denen wir uns beschäftigen müssen, damit wir erfahren können, wie sich aus diesen

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

(II)

249

Phantomen der Sinn der Welt, der Sinn der realen Welt ergibt, wie ich da zu dieser Welt einen Zugang gewinne. Ich bekomme also infolge der Reduktion ein reiches Material von Phänomenen, von sehr komplizierten, oft zusammengewachsenen Phänomenen, aus denen ich alles herauslesen und sie analysieren muß. Mag das erst einmal getan sein! Husserl hat uns den W e g gewiesen, und er hat uns - ich glaube in einer Weise wie niemand sonst in der Philosophie - gezeigt, wie auch der Sinn des Vermeinten, das Vermeinte, das Ding "in Anführungszeichen", wie er sagt, sich selbst in Mannigfaltigkeiten von Abschattungen präsentiert, in Mannigfaltigkeiten von Ansichten, wie ich lieber sagen möchte. Husserl hat meiner Ansicht nach als erster diese Abschattungen, diese Ansichten in ihrer Mannigfaltigkeit wirklich analysiert, so daß wir heute nicht mehr im Dunklen wandeln; wir wissen, den W e g zu verfolgen, zurück bis zu den Empfindungsdaten, zu den "hyletischen Daten". Wiederum entsteht die Frage: Leistet dies die Reduktion selbst, daß ich nicht nur das Vermeinte entdecke, also das gegenständliche Noema, sondern auch die Abschattungen, und genauer: die Abschattungen verschiedener Schichten, so daß ich also mehr oder weniger in den Vorgang der Objektivation Einblick gewinne, wenn dieser Ausdruck verständlich ist? Da muß ich sagen: Nein, nein, das wird durch die Reduktion selbst nicht entdeckt. Man muß, wie

Husserl auch selbst behauptete, auf eine besondere

Weise

"reflektieren", und zwar nicht auf meine Akte, sondern man muß auf den phänomenalen Hintergrund reflektieren, aus dem das Vermeinte als solches entspringt. Das ist wiederum eine ganz besondere Operation, und es ist zugleich auch eine andere Art, die "Reduktion" anzuwenden, nach einem in gewissem Sinne ganz anderen Prinzip. [Man kann, wenn man das analysiert, sagen, daß eine Reihe von Reduktionen durchzuführen ist, um in das komplizierte Material des Erlebten im fließenden ursprünglichen Bewußtsein eindringen zu können.] 1 3 Jetzt wird das Immanente und das Transzendente nicht nach demselben Prinzip wie früher geschieden. Das Transzendente, das erste Transzendente, die reale Welt, ist schon nicht mehr da, ist schon eingeklammert; es ist nur die Welt der Sinne, insbesondere der Dingsinne

'

3

V.d.Hg.

statt M a n kann sagen, w e n n man das analysiert, d a ß eine Reihe von Reduktionen

durchzuführen ist, damit man erst in das komplizierte Material des Erlebten im fließenden ursprünglichen B e w u ß t s e i n eindringt.

250

Neunte Vorlesung

geblieben. Wenn ich mich mit einem besonderen Ding, das ich wahrnehme, beschäftige und mich frage, wie nehme ich eigentlich dieses Vermeinte wahr, oder besser: Wie habe ich dieses Vermeinte?, Was ist denn an diesem Vermeinten da? - ja, dann komme ich auf jene Sachen, von denen ich schon früher 14 bei der Analyse der Wahrnehmung gesprochen habe: Das Vermeinte wird zum Teil in erfüllten Qualitäten und zum Teil in nicht-erfüllten Qualitäten gezeigt. Es gibt, wie Husserl sagt, anschauliche Intentionen. Das, was ich da vor mir sehe, das weist mich auf den Hintergrund, auf das Innere usw., weist mich auch manchmal auf das Psychische, das Fremd-Psychische hin. Das von mir in erfüllten Qualitäten Gesehene scheint durch diese Erfüllung der Qualitäten, die mich da bedrängen, sozusagen bewahrheitet zu sein, scheint begründet zu sein. Dagegen das, was da alles noch zum Vermeinten gehört, das Innere, die Hinterseite, das Fremd-Psychische - das wird leer, obwohl doch phänomenal vermeint. Und die Erfahrung lehrt: Wenn ich das Ding von der anderen Seite sehe, wenn der betreffende Herr sich zu mir umkehrt, dann zeigt sich die vermeinte Hinterseite oft doch ganz anders, als sie früher (vermeint) war. Also hat das, was sich uns da von dem Vermeinten an der Vorderseite zeigt, ein anderes Geltungsgewicht als das, was da bloß leer mitgegeben, mitvermeint wird. Das Geltungsgewicht des ersten überwiegt das Gewicht des zweiten. Und was das zweite postuliert, das \st schon nicht sicher, das kann doch irgendwie anders sein, das erfordert eine Verifizierung im weiteren Verlauf der Erfahrung. Also Vorsicht! Glauben wir nicht alles, was wir angeblich sehen! Und jetzt führen wir aufs neue die Reduktion durch, jedoch nicht mit Rücksicht darauf, daß es prima facie ontisch transzendent ist, sondern mit Rücksicht darauf, daß es "transzendent" im erkenntnistheoretischen Sinne ist, das heißt, daß es nur vermeint und nicht gesehen wird, nicht auf erfüllte Weise gegeben wird. Also alle unerfüllten Qualitäten, die ich dem wahrgenommenen Dinge zuschreibe, die "klammere" ich jetzt ein, "schalte" ich aus. Und da bleibt mir von dem vollen vermeinten Ding, genauer gesagt: vom Sinn des vollen Dinges, nur ein Teil, und das andere ist jetzt bloß eine noch zu verifizierende Intention. Da mache ich also die Reduktion zum zweiten Mal, nicht in Bezug auf die Generalthesis, sondern in Bezug auf die Geltung dessen, was in der Wahr-

Vgl. oben Vorlesung V.

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

(II)

251

nehmung nur mitvermeint wird. Ja, nun ziehe ich mich bei dieser zweiten Reduktion weiter zurück und bringe mir zum aktuellen Bewußtsein die bis jetzt nur schlicht erlebten Ansichten, Abschattungen, also z.B. die "perspektivischen Verkürzungen". An der Vorderseite gibt es auch nicht-erfüllte Qualitäten, obwohl sie besser erfüllt sind als diejenigen, die der Hinterseite zugedèutet werden. Wenn ich eine rote Kugel sehe, so sind die Hinterseite und das Innere dieser Kugel nur mitvermeint, fast leer vermeint auf Grund dessen, was ich da in erfüllten Qualitäten sehe. Aber, wenn ich [auf] 1 5 die Vorderseite, auf die Ansicht der Vorderseite reduziere, so bemerke ich noch etwas Merkwürdiges, was die Maler entdeckt haben: Die Kugel sehe ich rot, ganz einheitlich rot, und dazu sehe ich sie glatt und lichtspiegelnd usw. Da frage ich mich: Ja, sehe ich wirklich, daß sie so einheitlich rot ist? Wenn ich genau hinsehe, bemerke ich: Hier ist es heller, dort ist es dunkler, dort tritt ein Reflex auf, da ist ein Licht usw. Die einheitliche Farbe des Dinges als solche ist auch nicht voll erfüllt, sie ist auch nur anschaulich vermeint. Es ist die Frage, ob ich das wirklich richtig vermeine, ob diese Vermeinung der einheitlichen Farbe durch die erfüllten Qualitäten, also die verschiedenen Abschattungen der Farbe, begründet ist. In der normalen, nicht reduzierten Wahrnehmung ist das natürlich als gültig vermeint. Ich sage zu jemanden: Gib mir diese rote Kugel da! Und man gibt mir die "rote" Kugel. Ich sage nicht: diese "vielfarbige" Kugel; das würde man vielleicht nicht verstehen, man würde mir dann vielleicht eine ganz andere Kugel bringen, die eben wirklich vielfarbig ist. So, wie man z.B. Krawatten mit vielfarbigen Flecken kauft. Ich muß also eine neue Reduktion durchführen, nicht nur in Bezug auf die Hinterseite, sondern auch in Bezug auf die Vorderseite, z.B. auf diese vereinheitlichte einzige Farbe - etwas, was hier wiederum nicht voll erfüllt ist. Wenn man das ganz genau macht und konsequent durchführt, dann zeigt es sich, daß bei normaler Wahrnehmung, wo ich auf Dinge eingestellt bin, sehr viele verschiedene Schichten von verschiedenen Typen von Ansichten vorhanden sind - immer mehr und mehr erfüllt, je weiter ich zum Untergrund zurückgehe. Und immer weniger enthalten sie dann Intentionen, intentionale Momente, anschauliche Intentionen. Je mehr anschauliche

V.d.Hg. statt mich auf.

252

Neunte Vorlesung

Intentionen die jeweilige Ansichten-Schicht enthält, desto mehr "fraglich" scheint sie zu sein und veranlaßt uns zum Vollzug einer "Reduktion". Mehrere solcher Reduktionsschritte muß man dann vollziehen. Alle diese Vorkehrungen liegen in erster Linie nicht im Rahmen [des ersten Verfahrens, das zur Entdeckung des reinen Bewußtseins führt] 16 , sondern vielmehr im Rahmen [eines Verfahrens zur Entdeckung] 17 immer neuer Phänomene, die zunächst im Hintergrund irgendwie verborgen zu sein scheinen, und die man zu Zwecken einer Erkenntnistheorie analysieren muß. Eine neue Reduktion und eine neue besondere "Reflexion" bezieht sich wiederum nicht auf Akte, sondern auf die Untergründe der Ansichten, bis man zu dem kommt, was die Engländer "sense data" nennen und was bei Husserl "hyletische Daten" genannt wird. Da scheint es wiederum, daß ich sozusagen eine Kombination von Flecken bekomme, die für sich ein Ganzes bilden; sie bilden z.B. den Untergrund einer Ansicht der Kugel. Wenn ich diese intentionalen Momente, diese intendierten Farben nun reduziere und dahinter sehe, so zeigt es sich, daß es wiederum eine besondere Auffassung gibt, und zwar einen Ganzheitscharakter, der innerhalb des ganzen Feldes verschiedener Flecken besondere Farbenerscheinungen als zusammengehörig vom Rest des Feldes abscheidet und ihnen Einheit verleiht. Diese Erscheinungsganzheit,' von uns empfunden, bildet den Untergrund einer Ansicht, die (von uns erlebt) die Kugel zur Gegebenheit bringt. Es fragt sich aber, ob und wenn ja, worin dieser Ganzheitscharakter einer Mannigfaltigkeit von fließenden Farbendaten begründet ist. Im allgemeinen gibt es gar keine Konturen, welche dies in manchen Fällen bewerkstelligen. Manche Maler verwenden derartige Konturen, um eine Ansicht eines Dinges mit technischen Mitteln zu rekonstruieren, aber andere brauchen gar keine Konturen, sondern legen einfach Flecken um Flecken nebeneinander. Dann stellt sich die Frage, was diese Einheitsbildungen innerhalb des Feldes begründet bzw. ermöglicht. Hat das seinen Grund in den Farbendaten selbst, oder ist dies lediglich vom empfindenden Subjekt als eine Einheitsauffassung aufgeworfen? Da ist also wiederum eine "Reduktion" zu vollziehen, d.h. es gilt diesen Einheits- oder Ganzheitscharakter "einzuklammern" und zugleich zum Empfindungsdatenfeld reflektiv zurückzukehren. Es zeigt sich 16

V.d.Hg. statt der Entdeckung des reinen Bewußtseins.

17

V.d.Hg. statt einer Entdeckung.

Transzendentale

Reduktion

und Idealismus

(II)

253

aber beim behutsamen Erfassen dieses Feldes, daß da die Rede von Empfindungsdaten unkorrekt ist - was sich zuerst Bergson zum Bewußtsein gebracht hat, obwohl er hier auch die Zeitform des Pluralis verwendet. Dieses Feld ist aber nicht eintönig, und deswegen spricht Bergson von einer "continuité hétérogène". Diese scheint während einiger Zeit stabil zu sein, sich als identisches Ganzes zu erhalten. Aber dieser Konstanz- und Stabilitätscharakter

kann

in Frage gestellt

werden.

Ist er im Gehalt

des

Empfindungsdatenfeldes genügend begründet oder ist er nur eine vom empfindenden Subjekt aufgeworfene Auffassung? So ist zunächst dieser Konstanz· und Stabilitätscharakter wiederum zu "reduzieren", einzuklammern. Und es muß versucht werden, nicht im Gegenwartsmoment des Empfindens zu verharren und sozusagen den Wandel, den Fluß des Geschehens der Zeit (des Dauerns) zu übersehen; es muß vielmehr versucht werden, zum ursprünglichen Zeitfluß, zur reinen, im unaufhörlichen Werden begriffenen Dauer zurückzukehren und mit dem sich immer neu gebärenden Jetzt zu fließen und korrelativ den fließenden, werdenden Strom der ursprünglichen Daten in seinem ständigen Wandel zu erfassen. Dann ist man Zeuge dessen, wie gewisse Daten aktuell werden, die Kulmination der Aktualität erlangen und dann in die retentionalen Modifikationen übergehen und sich als das soeben Vorübergehende mit den neuen, aktuell werdenden Daten verschmelzen. Da kommen wir zum letzten Fluß der Daten. Aber zugleich gibt es innerhalb dieses Stroms das empfindende und sich auch anders verhaltende Ich, aus dem jetzt Akte hervorquellen, die in sich Intentionen enthalten und die in diesem ganzen Strom gewissermaßen pulsieren. Wobei das Auftreten dieser Akte und ihre Funktionen für die Gestalt des fließenden Stromes der Daten nicht irrelevant sind. Es gibt also eine ganze Reihe von Reduktionsschritten, in denen immer das "eingeklammert" wird, was nur vermeint ist oder letztens nicht "erfüllt" wird und den Ausgangspunkt eines Rückganges zu dem bildet, was mehr und mehr erfüllt, mehr und mehr ursprünglich "erlebt" oder nur "empfangen" wird. Es sind also nicht nur die erste Reduktion, die die Generalthesis reduziert, zu vollziehen, sondern immer neue Reduktionen in bezug auf das nur Vermeinte auf jedem eventuell neuen, tieferen Niveau der Erfahrung. All das, was ich da zuletzt sagte, wäre für Husserl gar keine Neuigkeit. Er hat dieses ganze Gebiet selbst erforscht und selbst große Entdeckungen

254

Neunte Vorlesung

gemacht, ohne aber darauf hingewiesen zu haben, daß da neue und andere Reduktionen vorhanden sind. Im zweiten Band der Ersten Philosophie hat er dieses ganze Problemgebiet betreten; es gibt dort aber sehr komplizierte Situationen, die ich hier nicht auseinandersetzen kann. Ein Problem möchte ich doch mit einigen Sätzen noch andeuten: Muß man den Strom des reinen Bewußtseins im Fluß der Zeit nehmen, in der ursprünglichen Zeit? Es zeigt sich, daß die intentionalen Akte selbst, die sich zunächst als Einheiten im Fluß irgendwie abgrenzen, selbst im Fluß erst werden oder selbst einen besonderen Fluß hinter sich haben, so daß man dann diese Einheitlichkeit des Aktes in der echten letzten Reflexion, die auf sich selbst gerichtet ist und sich im Durchleben vollzieht,

wiederum

"reduzieren" muß, da gefragt werden kann, ob sie voll erfüllt, letztlich begründet ist. Hier kommt man letzten Endes zu dem, was Bergson "la durée pure" genannt hat, und was er z.B. in den Vorträgen in Oxford unter dem Titel "Perception du Changement" 1 8 behandelt hat. Dieses Gebiet, das auch von Husserl entdeckt und in vielen höchst wichtigen Untersuchungen durchforscht worden ist, bildet das Thema der tiefsten philosophischen Probleme, aber auch die Quelle der größten Schwierigkeiten, die zu überwinden sind. Ein schwieriges Problem ergibt sich aus der soeben erwähnten Situation, in welcher es sich zeigt, daß intentionale Akte selbst in der ursprünglichen Dauer im Werden begriffen sind und [sich nur in diesem fließenden Werden als Einheitsbildungen entwickeln] 1 9 : Sie zeichnen sich dann im ursprünglichen Fluß als Einheiten, als Ganzheiten ab. Um aber diese Einheitsbildung der Akte - die letzte Genese der Akte - im reflektiven Durchleben zu erschauen und die Rechtmäßigkeit dieser Genese zu durchforschen, muß man nicht nur einfach in der ursprünglichen Zeit [den] 2 0 Fluß selbst, sondern bereits einen Akt, also eine über den kontinuierlichen Fluß hinausragende Einheit haben. Auf diesen Tatbestand bin ich einst (1916) bei der kritischen Vorbereitung zu Bergsons Intuitionstheorie gestoßen und habe auch damals mit Husserl darüber gesprochen. 2 1 Es zeigte sich, daß Husserl über die da

18

H. Bergson, La perception du changement. Conférences faites à l'Université d'Oxford les 26 et 27 mai 1911, Oxford 1911, Oeuvres, Paris 1959; 2 1963, 1365-1392.

19

V.d.Hg. statt in diesem fließenden Werden nur Einheitsbildungen sich entwickeln.

20

V.d.Hg. statt im.

21

Vgl. Ingarden ( 1968a), 121 ff.

Transzendentale Reduktion und Idealismus (II)

255

drohende Gefahr gut unterrichtet war. Er sagt nur: "Ja, es droht da ein teuflischer Zirkel." W i e aber dieser Zirkel zu lösen bzw. zu vermeiden ist - das habe ich damals und später von Husserl nicht erfahren. Alle diese in neuen, noch zu bestimmenden Sinnen

verschiedenen

"Reduktionen" sind hilfreich bei allen sich da eröffnenden Analysen. Sie sind aber nie allein zu vollziehen, sondern müssen immer mit neuen Reflexionsoperationen zusammengehen. Dann eröffnet sich wirklich das komplizierte, weite, mehrstufige Feld des reinen Bewußtseins, [wenn dies alles denn überhaupt "Bewußtsein" ist] 22 . Dann noch ein paar kleinere Probleme, die ich hier in einigen Sätzen erledigen möchte: Husserl postuliert, daß die transzendentale Reduktion auf verschiedene Wissenschaften angewendet werden soll. Es ist ziemlich klar, daß die Naturwissenschaft nicht vorausgesetzt werden darf und daß dasselbe die Mathematik betrifft. Aber Husserl geht dann weiter und sagt, man dürfe auch die Logik, die mathesis universalis nicht voraussetzen. Sie wissen, bei Husserl sind die Logik und die formale Ontologie sozusagen zwei Spiegelbilder, die streng zueinander gehören. A l s o es ist nicht nur die Logik in der Sphäre der Sätze, der Sinne, in der Sprache, sondern auch irgendwie die formale Struktur der Welt als solche zu "reduzieren". Zuerst kommt es hier auf die Logik an. Die Phänomenologie soll doch eine "strenge" Wissenschaft sein. Wenn wir fragen, was zu einer strengen Wissenschaft gehört, so muß man in erster Linie anführen: Natürlich gehört dazu eine regelrecht durchgeführte Erfahrung, eine Interpretation der Erfahrung und dann verschiedene Denkoperationen, logische Operationen wie das Schließen, Vergleichen usw. Das alles soll ich "reduzieren". Was heißt "reduzieren"? Das heißt, daß ich mich der Anwendung der logischen Gesetze enthalte. Ich muß die Stellung einnehmen, wo ich mich frage: Ist die ganze Logik wahr oder falsch? Ist sie richtig oder ist sie ein Phantasma des verrückten Menschen, der sich so eine Logik ausgedacht hat? Wenn ich das nicht entscheiden darf, so fragt es sich: Kann ich eine Wissenschaft aufbauen, wenn ich keine logischen Operationen vollziehe? Husserl selbst hat natürlich viele logische Operationen vollzogen, sonst hätte er keine Bücher schreiben können. Er mußte aufpassen, daß er sich nicht wiederholte, daß

22

V.d.Hg. statt wenn das überhaupt nur "Bewußtsein" ist.

256

Neunte Vorlesung

sich alles konsequent entwickelte, daß in dem Ganzen eine logische Ordnung herrschte usw. Husserl sagt da: Was für uns eigentlich wichtig ist, das sind lediglich die logischen Axiome, nicht die ganze Logik mit ihren komplizierten Operationen. Denn die Phänomenologie soll eine nur deskriptive Wissenschaft sein, sie braucht und soll auch nicht schließen, Schlüsse ziehen - sie soll beschreiben. Was wir da brauchen, nun, das sind vielleicht die logischen Axiome, z.B. der Satz des Widerspruchs. Dieses Prinzip kann entweder logisch oder auch ontologisch verstanden werden. Es gab bekanntlich bereits bei Aristoteles diese verschiedenen Deutungen. Husserl sagt: Nun, das ist leicht, ein Axiom ist intuitiv einsichtig. An einem Beispiel können wir seine Geltung jedesmal aufs neue einsehen, zur Intuition bringen. Das logische Axiom wird dann nicht bloß rein gedanklich vermeint, sondern wir haben dann den betreffenden Seinszusammenhang z.B. der sich ausschließenden, widersprechenden Sachverhalte zur schlichten Gegebenheit gebracht. So lautet die Antwort von Husserl. Also kann man die Phänomenologie als eine deskriptive Wissenschaft betreiben, man muß nur aufpassen, daß keine Widersprüche auftreten. Und wenn sie drohen, dann muß man sich das Prinzip wieder anschaulich machen und am individuellen Fall erschauen. Ich möchte das nicht speziell weiter entwickeln, aber ich sehe da eine Gefahr. Ich bin etwas skeptisch: Kann man sich wirklich an einem individuellen Fall das Widerspruchsprinzip anschaulich machen? Das ist jedenfalls wiederum ein großes Thema, das ich hier nicht entwickeln möchte. Ich fürchte jedoch, daß, wenn man die Logik konsequent ausschaltet, sich daraus eine Gefahr für die Phänomenologie als Wissenschaft ergibt. Wie kann man sie dann betreiben? Ich weiß das momentan nicht, aber die Antwort Husserls scheint mir nicht befriedigend zu sein. Schwieriger ist etwas anderes. Husserl sagt nämlich: Nicht nur die mathesis universalis als eine formale Wissenschaft, sondern auch die materialen Ontologien sollen "reduziert" werden. Das bringt jedoch die Gefahr mit sich, den Grund der phänomenologischen Reduktion selbst zu unterminieren. Was veranlaßte Husserl zur Durchführung der Reduktion? Welches war sein Motiv? Es war die Scheidung zwischen dem (ontisch) Transzendenten

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(II)

257

und dem Immanenten. Er sagte: 23 Ja, so etwas wie ein physisches Ding kann seinem Wesen nach nicht reelles Bestandstück des Bewußtseins sein. Es ist seinem Wesen nach so, daß es sozusagen nicht in das Bewußtsein eindringen kann, daß es immer außerhalb desselben bleibt. Später wiederholt er diese Behauptung bei der Aufstellung des Idealismus. Dort kommt sie sehr scharf zum Ausdruck: Nichts, was nicht Erlebnis ist, kann mit einem Erlebnis in einer Einheit zusammen sein - "in einer Einheit", d.h. so, daß es mit ihm eins ist. So ist das Wesen des Transzendenten, daß nichts aus der Welt in den Strom des Bewußtseins hineingefügt werden kann. Nichts, was transzendent ist, kann, seinem Wesen nach, das Bewußtsein oder irgendetwas im Bewußtsein kausal bedingen. 24 So ist auch das Wesen des Bewußtseins derart, daß es nicht von außen her kausal bedingbar ist. Das Wesen der Vorgänge, die sich in der transzendenten Welt abspielen, ist derart, daß sie das, was im Bewußtseinsstrom auftritt, kausal nicht zu bedingen oder zu verändern vermögen. Schalten wir jedoch alle Ontologien aus! Es ist doch einerseits Ontologie des Bewußtseins und andererseits Ontologie der realen Welt, des Physischen usw., der kulturellen Gebilde usw., die da in Betracht gezogen werden. In Bezug auf das erste würde Husserl sagen: Nun, gewiss, das schalten wir aus, das. betrifft das Immanente, genauer etwas, dessen Wesen selbst immanent ist. Denn Husserl unterscheidet zwischen immanenten und transzendenten Wesen. 2 5 Die verschiedenen Ergebnisse, die wir bisher in Bezug auf das Bewußtsein verwendet haben, können wir also ausschalten, denn nach der Reduktion kommen wir doch noch darauf zurück. Wir können (nach der Reduktion) nunmehr bewußt, absichtlich und korrekt die entsprechenden Analysen des Immanenten durchführen und das Wesentliche aus dem konkreten Material herausschälen. Husserl sagt: Ja, da schäle ich eben das Reine aus dem zunächst als psychisch Aufgefaßten heraus. Lassen wir das zu! Nichtdestoweniger ist jetzt der Grund, der es uns erlaubt hat, die Reduktion durchzuführen, selbst unterminiert, und so ist auch die Scheidung zwischen Bewußtsein und Nicht-Bewußtsein durch die Ausschaltung der materialen Ontologien in Frage gestellt und müßte nach der 23

Vgl. Husserliana

III/I (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, §§ 41, 42.

24

Vgl. Husserliana

III/1 (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag, 1976, 105.

25

Husserliana

II1/1 (hrsg. v. K. Schuhmann), Den Haag 1976, 128; 131.

258

Neunte

Vorlesung

bereits vollzogenen Reduktion aufs neue erwogen werden. Denn alles, was über das Wesen des physischen Dinges und über die materielle Welt ontologisch behauptet wurde, ist durch den Vollzug der Reduktion der Welt-Ontologie zu etwas geworden, worauf man sich nicht berufen darf - also auch dann nicht, wenn die Grenze zwischen Welt und Bewußtsein gezogen werden soll, wenn insbesondere über die ontische Transzendenz der materiellen Welt dem reinen Bewußtsein gegenüber entschieden werden soll. Diese Entscheidung ist andererseits für die Durchführung der Reduktion unentbehrlich. Als ich Husserl z.B. das Buch Das literarische Kunstwerk26 schickte, forderte er von mir: "Sie müssen doch die Ontologie des Kunstwerks zurückstellen, sobald Sie zu einer letzten Entscheidung kommen wollen. Sie müssen Ihre Ergebnisse der Reduktion unterziehen und eine konstitutive Betrachtung des literarischen Kunstwerkes auf dem Boden des reinen Bewußtseins durchführen!" 27 - Sachlich wäre dagegen nichts zu sagen. Aber bei mir handelte es sich nicht um die letzte Abgrenzung zwischen dem literarischen Kunstwerk und dem das Werk erfassenden Bewußtsein. Ich habe auch nicht versucht, das Wesen des Bewußtseins z.B. aus dem Gegensatz zwischen ihm und dem Kunstwerk zu bestimmen. Gerade darum geht es jedoch bei Husserl, wenn er vermittels der transzendentalen Reduktion den Zugang zum reinen Bewußtsein gewinnen will. Die Auffassung dieses Bewußtseins, wie sie sich bei Husserl seit den Ideen I abzeichnet, ist gerade der strittige Punkt, von dem aus man einen neuen Zugriff zur Behandlung des transzendenta'en Idealismus bei Husserl finden könnte. Husserl sagt, daß zum reinen Bewußtsein sowohl Akte als auch Empfindungsdaten, Ansichten und Dingnoemata hinzugerechnet werden sollen. Demgegenüber entsteht der Gedanke, daß es vielleicht ganz anders ist. Vielleicht bilden das Bewußtsein im strengen Sinne nur die intentionalen Akte und kein Vermeintes, gar keine Ansichten und Empfindungsdaten. Das muß man aufs neue durchdenken. Aber in diesen Vorlesungen kann ich dies nicht weiter entwickeln. 28 Ich komme jetzt zur letzten Frage, die ich noch zu besprechen habe. Husserl behauptet: Wenn ich zunächst natürlich eingestellt bin, da lebt in mir irgendwie die Generalthesis der natürlichen Welt, und das Korrelat dazu ist 26

Ingarden ( 1931 a); Tübingen 4 1972.

27

Vgl. Ingarden (1968a), 62; 159; 161.

28

Vgl. Ingarden ( 1965b), Kap. XVI.

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(II)

259

das Phänomen des Real-Seins. Die materiellen Dinge, die Menschen, die ganze Umgebung - die Welt überhaupt gibt sich mir im Charakter des Realseins. Und das ist für mich etwas ganz Selbstverständliches, so selbstverständlich und angeblich so klar, daß ich am Ende nicht weiß, was es eigentlich ist. Ja, das (angeblich) Evidente ist immer das Dunkelste. Husserl sagt: Damit ich klar weiß, was Realität oder Real-Sein eigentlich ist, muß ich zunächst die Reduktion durchführen, und erst danach entdecke ich das Phänomen der Realität oder des Real-Seins. Das Vermeinte im Sinne des als Real-Vermeinten soll also vermöge der Reduktion geklärt werden. Und ich habe zugegeben: Die Reduktion ermöglicht es mir, von den Dingen zum Vermeinten und weiter zum vermeinten Sein, zur vermeinten Realität überzugehen. Und aus dem Sinngehalt des Vermeinten als solchem soll sich der Sinn des Real-Seins ergeben. Ich möchte mich nicht näher mit der Frage beschäftigen, ob sich durch die Reduktion nichts geändert hat in dem Beschaffensein der Dinge (genauer gesagt: in dem Sinn dieses Beschaffenseins), von denen ich wahrnehme, daß sie rot, hart oder süß sind usw. Denn es scheint, daß nach der Reduktion die Phänomene, das Phänomen des Rotseins, des Hartseins usw. erhalten bleiben und ich sie mir zur deutlichen Erschauung bringen kann. Aber wie ist das .mit dem Sein, mit dem Real-Sein und mit dem Sinn des Real-Seins? Ändert sich an dem Sinn der Realität nichts, wenn ich die Reduktion vollzogen habe? Ich kann mich da in gewissem Sinne in die Position eines Psychasthenikers hineinversetzen. 29 Der arme Psychastheniker ist unglücklich deswegen, weil er nicht glauben kann, daß das, womit er verkehrt, wirklich ist. Und ich bin in gewissem Sinne ein künstlicher Psychastheniker; ich mache es absichtlich, daß ich nicht alles so naiv hinnehme, was als real gegeben wird. Denn ich habe die Reduktion durchgeführt. Hat sich an dem Phänomen des Real-Seins dann nichts geändert? Husserl sagt: Nein, die Generalthesis ist geblieben, ich habe mich nur etwas von ihr zurückgezogen. Ich muß jetzt an viele Diskussionen zwischen Husserl und seinen Schülern denken, die immer wieder gerade dies als das Peinlichste empfunden haben, daß das Realsein als Realsein durch die Reduktion in seinem spezifischen Charakter, in seinem Sinn modifiziert wird. Da haben wir z.B. den

29

Vgl. oben Vorlesung VII.

260

Neunte

Vorlesung

Streit zwischen Husserl und Frau Conrad-Martius. Husserl sagt: Das Reale ist nicht selbständig, das ist irgendwie nur vermeint, nur intentional. Im Gegensatz zum Bewußtsein hat es kein absolutes Wesen; es ist in bezug auf das Bewußtsein nicht unabhängig, d.h. es kann ohne das Bewußtsein nicht sein. Frau Conrad-Martius sagt: 30 Was ist das Grundphänomen des Real-Seins? Das ist, wie sie es nannte, "Seinsautonomie". Husserl war sehr gegen diese Auffassung. Es ist sogar zu einem gewissen Bruch zwischen ihm und Frau Conrad-Martius gekommen. Der Realität Autonomie zuzuschreiben - sagte Husserl -, ist eine absurde Verabsolutierung der Realität. Autonom im echten Sinne ist nur das reine Bewußtsein; alles jedoch, was sich im Bewußtsein konstituiert, ist nicht autonom, ist gerade seinsabhängig, kann in sich selbst kein Seinsfundament haben. Wir können natürlich fragen: Ist es vielleicht so, daß Husserl die Reduktion wirklich vollzogen hat und daß die schlechten Schüler es nicht zu tun vermochten? Husserl meinte, sie hätten noch nicht verstanden, wie man die Reduktion richtig vollziehen müsse. Vielleicht ist dem so, aber trotzdem frage ich: Wird das Phänomen der Realität, um das es sich handelt, nicht doch durch die Reduktion irgendwie modifiziert? Denn z.B. für Frau Conrad-Martius ist es nicht möglich zuzugeben, daß die Realität in bezug auf die Wahrnehmung seinsabhängig ist. Sie spricht auch von einer anderen Transzendenz, verschieden von allen, die hier bisher besprochen wurden, von einer Transzendenz, die sie für die Realität für wesentlich hält. Und zwar führte sie den Begriff der realen Transzendenz ein, indem sie sagte: Kein Bewußtseinsakt, keine Bewußtseinsoperation vermag irgend etwas am Realen zu ändern, kann es weder vernichten noch schaffen, kann es weder blau machen noch hart machen usw. Die Realität ist untangierbar durch meine Bewußtseinsoperation - so autonom, so unabhängig ist sie. Diese "reale Transzendenz" ist sozusagen eine existentiale Transzendenz, sie setzt, wie es scheint, die ontische Transzendenz voraus. Die letzte Frage ist also, wie es da mit der Wandlung oder Nicht-Wandlung des Phänomens des Seins steht, wenn man die transzendentale Reduktion wirklich vollzogen hat. Besteht die Gefahr, daß das Phänomen der Realität durch die Reduktion geändert wird, so kann ich sie nicht und darf ich

Vgl. Vorlesung II, Anm. 44.

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(II)

261

sie nicht durchführen. Denn sie brächte eine gewisse Verfälschung in der Analyse der Realität. Das sind also alles nur Fragen. Vielleicht kann man alle diese Fragen so beantworten, daß man an der transzendentalen Reduktion alles in Ordnung findet, und daß wir alle sie durchführen dürfen und sollen. Aber alle Bedenken, die ich selbst und meine Kollegen und Freunde öfters erhoben haben, sind es doch wert, daß man sie durchdenkt. Und darauf wollte ich hier nur hinweisen. Was ist aber das Ergebnis der Durchführung der transzendentalen Reduktion? Es gibt unzweifelhaft sehr viel Gutes. Vor allem die sehr reichen und wirklich wertvollen Analysen des Bewußtseins und der verschiedenen Gestaltungen des Bewußtseins, die Husserl, und nicht nur Husserl, durchgeführt hat, und die im Vergleich mit den vorphänomenologischen Analysen einen reellen Fortschritt bedeuten. Vielleicht waren sie gerade nur auf diesem Wege zu erreichen. Oder vielleicht hat die Reduktion uns wenigstens verholfen, all das zu entdecken. Es gibt aber unter all dem noch ein besonderes Ergebnis, nämlich dasjenige, was man so kurz und natürlich vieldeutig als Husserls "transzendentalen Idealismus" bezeichnet. Ich möchte jetzt noch jene Behauptungen kurz zusammenfassen, die alle zusammen die besondere Theorie dieses Idealismus' bilden - ein Standpunkt, der Husserl so wichtig und heilig war, daß er fast bereit war, die Freundschaft aufzulösen, wenn man in diesem Punkte nicht mit ihm zusammenging. Und tatsächlich ist es zwischen ihm und manchem seiner nahen Schüler am Ende zum Bruch gekommen. Nun ist die Sache die, daß der sogenannte "transzendentale Idealismus" auch in einem historischen Prozess befangen war, daß er sich im Laufe der fast 30 Jahre, während derer Husserl daran noch weiter gearbeitet hat, also von ungefähr 1910 bis zu seinem Tode, noch auf verschiedene Weise gewandelt hat. Ich beschränke mich hier auf die Darstellung seines Standpunktes, wie er in den Ideen I angedeutet wurde. Das bedeutet: Ich beschränke mich auf den transzendentalen Idealismus im Bezug auf die reale Welt. Denn bei Husserl ist in den Ideen I noch kein voller, umfassender Idealismus da. Ich habe in einer Abhandlung 31 , die einige Monate nach dem

31

Vgl. Ingarden ( 1939/45) bzw. ( 1963), 383-452.

262

Neunte Vorlesung

Tode Husserls auf polnisch publiziert wurde, gezeigt, daß Husserl in den Logischen Untersuchungen

noch kein "Idealist" war, obwohl er bereits Phä-

nomenologe war. In den Ideen 1 ist er - wenn Sie mir das Wort erlauben noch Halb-Idealist, und zwar in dem Sinne, daß nicht alles als intentionale Leistung verschiedener Konstitutionsprozesse behandelt wird. Die Ideen I bestehen aus vier Abschnitten. Der erste Abschnitt, ungefähr 40 Seiten umfassend, behandelt das Wesen und die Wesenserkenntnis. Er dient als Einleitung zur Phänomenologie, die als eine "eidetische" Wissenschaft, d.h. als Wissenschaft über das Wesen des Bewußtseins behandelt und entwickelt werden soll. Man mußte also zunächst etwas über das Wesen wissen. Diese Auffassung des Wesens und der Wesenserkenntnis ist in einem wesentlichen Punkte dieselbe wie diejenige, welche Husserl früher, vor den Ideen I, vor allem in den Logischen Untersuchungen

vertreten hat. Sie

ist sozusagen "realistisch" vermeint. Das heißt: "Wesen", eidos, ideale Gegenständlichkeiten existieren autonom. Sie werden also nicht "gestiftet" oder geschaffen, wie dies in der späteren Sprache Husserls ausgedrückt wird, sie sind nicht nur Phänomene, identisch vermeinte Gegenständlichkeiten, die aus konstitutiven Prozessen hervorgehen. Sie werden rein ontologisch behandelt - wenigstens in der sich andeutenden Thesis: Es gibt so etwas! Das ist ganz deutlich fühlbar, wenn man den ersten Abschnitt der Ideen I mit den darauf folgenden Abschnitten vergleicht, wo die Lehre vom reinen Bewußtsein und von der transzendentalen Reduktion durchgeführt wird. Man hat mir während der Phänomenologentagung in Royaumont 3 2 aus den Kreisen des Husserl-Archivs in Louvain gesagt, daß der erste Abschnitt der Ideen I aus einem Manuskript stamme, das älter sei als der Rest der Ideen I, und daß dieser Rest dann beim Verfassen der Ideen I ohne jede Andeutung den Ideen I beigefügt worden sei. Das mag natürlich historisch stimmen und interessant sein, aber es bekräftigt nur die Behauptung über den Unterschied des prinzipiellen Standpunktes bei Husserl betreffs des eidos im Vergleich mit seiner Auffassung betreffs der realen Welt. Im Zusammenhang mit dem angedeuteten Charakter der Wesensauffassung steht bei Husserl eine ganz bestimmte Idee der Wahrheit. Diese Idee der Wahrheit tritt am Schluß des ersten Bandes der Logischen

Vgl. oben Anm. 5.

Untersuchun-

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(¡I)

263

gen auf. Da wird die Logik auf eine besondere Weise aufgefaßt und mit einer streng realistisch verstandenen Theorie der Wahrheit in Beziehung gebracht. 33 Als ich zehn Jahre nach meinem Doktorat zu Husserl nach Freiburg kam, hat er mich eines Tages gefragt: "Was lesen Sie mit Ihren Studenten im Seminar?", und ich habe geantwortet: "Ich habe Verschiedenes getan. Unter anderem habe ich mit meinen Studenten den ersten Band der Logischen Untersuchungen durchgenommen." "Ach, wozu machen Sie das? Das ist doch alles am Ende nicht richtig - diese ganze Theorie der Wahrheit, diese ganze Theorie der Sätze als idealer Gegenständlichkeiten! Ich habe schon längst eingesehen, daß dies alles falsch ist." - so ungefähr hat er sich damals ausgedrückt. Das sieht man aber in den Ideen I nicht. Man ersieht es erst aus der im Jahre 1929 publizierten Transzendentalen und formalen Logik. Das Wort 'ideale Gegenständlichkeit' ist zwar geblieben, aber die idealen Gegenständlichkeiten werden da ebenso sehr "gestiftet" - wie es Husserl damals sagte - wie die realen. Es gehört, verglichen mit den Operationen, welche zu realen Gegenständlichkeiten führen, nur eine andere Mannigfaltigkeit von intentionalen Erlebnissen bzw. Operationen dazu, wenn man sogenannte ideale Gegenständlichkeiten "schafft". 34 Wenn man - in Bezug auf den ersten Band der Logischen Untersuchungen - Husserl den Vorwurf machen könnte, daß er da "Platoniker" sei, so kann man ihm diesen Vorwurf in bezug auf die spätere Phase, also in bezug auf die Formale und transzendentale Logik, nicht mehr machen. Ich glaube übrigens, daß Husserl auch in der ersten Phase kein Platoniker war, weil die sogenannte Ideenlehre von Piaton, so berühmt sie auch ist, tatsächlich nur ein erster Anfang einer Theorie ist. Es sind lediglich verschiedene literarisch gefaßte Erzählungen von den "Ideen", die streng gefaßt doch nicht haltbar sind. Das Einzige, was Husserl in der Phase der Logischen Untersuchungen mit Plato verbindet, ist die Behauptung: Es gibt zwei verschiedene Seinsgebiete, das Reale und das Ideale. In den Ideen I ist das Ideale als seinsautonom erhalten geblieben, dagegen wird die reale Welt im Sinne des transzendentalen Idealismus gedeutet. In der Formalen und transzendentalen Logik werden schon beide Seinsgebiete als in Erlebnissen konstituiert aufgefaßt, beide werden "gestiftet". In den Ideen I bleibt der Idealismus also auf 33

Vgl. Ingarden ( 1976b), i f f .

34

Vgl. Ingarden (1933).

264

Neunte

Vorlesung

die Sphäre der Realität der Welt beschränkt, und es besteht kein "Idealismus" in Bezug auf die Idealität und Seinsautonomie der idealen Gegenständlichkeiten. Ich werde jetzt den sogenannten "transzendentalen Idealismus" in einer Reihe von Behauptungen zusammenfassen, von denen einige gar nicht so "idealistisch" klingen und nur im Zusammenhang mit den übrigen Behauptungen diesen Charakter annehmen. Fast alle diese Behauptungen wurden hier bereits angegeben. Es handelt sich also jetzt um eine Zusammenfassung. Die grundlegende Scheidung ist natürlich die zwischen Immanentem und Transzendentem, und zwar im ontischen Sinne verstanden; das Transzendente ist das, was kein reelles Bestandstück des Erlebnisses ist. Die zweite These lautet: Das Real-Dingliche ist dem reinen Wahrnehmungsbewußtsein gegenüber transzendent - transzendent, weil es seinem Wesen nach kein reelles Bestandstück des Erlebnisses sein kann. Diese beiden Thesen sind als solche im Grunde gar nicht "idealistisch". Sie lauten vielmehr wie objektive Feststellungen über zwei Seinsgebiete, die zunächst gleich real, gleich existierend, seinsmäßig gleichwertig zu sein scheinen. Bei naiver Einstellung besonders bei naiver vorphilosophischer Einstellung - hat dabei die Sphäre des Transzendenten in der Seinsautonomie eine gewisse Priorität, während das Bewußtsein irgendwie sekundär, nicht so selbständig [wie] 35 das [RealDingliche] 36 , aber doch gleich real zu sein scheint. Also ist die reale Welt in ihrer Existenz sozusagen "stärker", und das Bewußtsein ist irgendwie schwächer, wenn Sie mir erlauben, das so bildlich zu sagen. Und dann, sagt Husserl, sobald man den ganzen Tatbestand nach Vollzug der transzendentalen

Reduktion

analysiert,

kehrt

sich

die

Sache

um:

Die

reale

(transzendente) Welt ist das Sekundäre, gewissermaßen vom reinen Bewußtsein Abgeleitete. Worin bestehen nun die Schritte, die zu dieser neuen Auffassung führen, daß nämlich das Ursprüngliche, wirklich Absolute das Bewußtsein ist, daß aber das Andere - die reale Welt - diesen Seinscharakter nicht mehr hat? Man fängt wiederum mit gewissen Behauptungen an, die man ohne Zögern annehmen kann: Das reale Ding und alles Reale wird erfahren, wird erkannt in Abschattungen, Ansichten oder Erscheinungen und zeigt sich als das 35

V.d.Hg. statt in Bezug auf.

36

V.d.Hg. statt Reale.

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

(II)

265

Identische in diesen Erscheinungen. Das Bewußtsein dagegen zeigt sich uns nicht in Erscheinungen, sondern wird ohne Erscheinungen immanent, gewissermaßen direkt und schlicht erlebt; es ist absolut selbst da. Das ist eine Behauptung über die verschiedenen Gegebenheitsweisen des Realen und des Bewußtseins - über verschiedene Gegebenheitsweisen oder verschiedene Erkenntriisweisen, wenn Sie wollen. Das ist also eine erkenntnistheoretische Behauptung, die sich aus der Analyse des Wahrnehmungsvorganges ergibt. Und hierin steckt ohne Zweifel etwas Wichtiges. Das reine Bewußtsein "schattet sich nicht ab", das Reale "schattet sich ab", sagt Husserl. Nun tritt eine ganz merkwürdige Verschiebung ein, ein Übergang zu einer ganz anderen Auffassung, als ob Gegebenheitsweise und Seinsweise dasselbe wären. Dies geschieht bei Husserl ohne eine besondere Erwägung. Sobald er von einem Gegenstande gezeigt hat, daß er anders gegeben wird, anders erkannt wird, stellt Husserl ohne weiteres fest, daß er anders existiert. Da erhebt sich gleich die Frage, ob dies richtig sei. Denn die erste Feststellung ist erkenntnistheoretisch, die zweite dagegen ontologisch oder besser metaphysisch. Wenn man sinnlich wahrgenommen wird, existiert man auf eine ganz andere Weise als dann, wenn man immanent erfahren wird. Darin liegt der Grund dafür, daß Husserl so schockiert war, wenn jemand behauptete, daß die reale Welt gerade so gut wie das reine Bewußtsein existiert. Nein, nein, das ist eine Verfälschung, sagt Husserl, das ist ein Verabsolutierung. Warum? Ja, weil doch das eine in Abschattungen gegeben wird, und das andere immanent, direkt, absolut wahrgenommen wird. Der Unterschied in der Gegebenheitsweise ist bei Husserl irgendwie so mit dem Unterschied in der Existenzweise verbunden, daß die Feststellung des ersten für ihn das intuitiv einsehbare Argument für die Behauptung des zweiten zu sein scheint. 37 Eine weitere Thesis soll nun klären, in welchem Maße das Reale anders ist als das reine Bewußtsein. Husserl sagt ungefähr: Wissen Sie, die äußere Wahrnehmung ist doch ein transzendierendes Erlebnis - das habe ich schon dargelegt 38 -, es hat solch eine Struktur, daß sich aus ihr das [Sein des Wahrgenommenen nicht notwendig ergibt] 39 . Es könnte alles so verlaufen, 37

Vgl. Ingarden (1959), 191 f.; (1976b), 13ff.

38

Vgl. oben die Vorlesungen V und VI.

"IQ

V.d.Hg. statt notwendige Sein des Wahrgenommenen nicht ergibt.

266

Neunte Vorlesung

wie es tatsächlich verläuft, und das Wahrgenommene - besser gesagt: das reale Ding, das da wahrgenommen wird - könnte trotzdem doch nicht existieren. Worin liegt der Grund dieses "Könnte doch nicht existieren"? Er liegt darin, daß die Wahrnehmung nur partiell ist, daß sie mehr vermeint, als in ihr voll erfüllt gegeben wird und auch gegeben werden kann. Sie ist eine in dem Wahrgenommenen Lücken lassende Wahrnehmung. In dem Wahrgenommenen bleiben unausgefüllte Unbestimmtheitsstellen40 stehen, die in anderen Wahrnehmungen derselben Dinge beseitigt werden können, aber nicht beseitigt werden müssen. Die äußere Wahrnehmung gleicht dem Versuch, irgend etwas von außen her zu fassen, aber das Fassende ist nicht so konstruiert, daß das Erfaßte nicht doch entschlüpfen und überhaupt ganz illusionär sein könnte. In der immanenten Wahrnehmung von meinem momentanen Erleben ist die Situation ganz anders. Hier ist das Wahrnehmen aufgebaut auf dem Wahrgenommenen, und zwar so, daß es dem Wahrgenommenen gegenüber seinsunselbständig ist; es ist nur ein Etwas des ganzen, aus dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmenden zusammengesetzten Erlebnisses, das sich (an diesem Erlebnis) nur abstraktiv hervorheben läßt. Das immanente Wahrnehmen könnte nicht sein, wenn es das immanent Wahrgenommene nicht gäbe. Ich habe dies an früherer Stelle41 bereits referiert: Zwischen depi immanent wahrgenommenen Erlebnis und dem wahrnehmenden Erlebnis besteht eine, wie Husserl sagt, "unvermittelte Einheit". D.h. es gibt keine Vermittlung durch Abschattungen, keine Unbestimmtheitsstellen, und auch kein bloß Vermeintes, also leer Vermeintes. Ihrer Struktur wegen verbürgt die immanente Wahrnehmung die Existenz des eben wahrgenommenen Erlebnisses. Es kann nicht sein, daß die immanente Wahrnehmung existiert und das immanent Wahrgenommene nicht existiert. Dies ist durch die Struktur des Erlebnisses selbst ausgeschlossen. Also ganz anders als bei der äußeren Wahrnehmung, wo die Struktur des Wahrnehmens es wesensmäßig

40

'Unbestimmtheitsstellen': ein Terminus technicus, den Ingarden in seiner Formalontologie für die Beschreibung des ontischen Baues von "rein intentionalen Gegenständen" verwendet hat, vgl. Ingarden (1931a), § 20; (1965a), Kap IX. Im Text der Vorlesung verwendet Ingarden diesen Term in einem anderen, grosso modo "erkenntnistheoretischen" Sinne.

4

'

Vgl. oben die Vorlesungen V und VI.

Transzendentale

Reduktion und Idealismus

267

(II)

zuläßt, in gewissem Sinne erlaubt, daß das, was da wahrgenommen wird, nicht existiert - obwohl alles sonst unverändert verläuft. Da erklärt Husserl: Ja, sehen Sie, das wahrgenommene Erlebnis existiert notwendig - es ist Widersinn zu denken, daß das wahrgenommene Erlebnis nicht existiert, wenn es wahrgenommen wird. Es ist aber nicht widersinnig zu denken, daß das wahrgenommene Ding nicht existiert, obwohl ich es wahrnehme. Husserl geht sogar weiter: Wenn ich andere Menschen wahrnehme, und zwar so, daß ich mich in das Fremd-Psychische einfühle, so entdecke ich in gewissem Sinne ein zweites reines Ich, einen zweiten Bewußtseinsstrom. Ich gewinne einen Einblick in das, was bei dem Anderen erlebnismäßig passiert. So wird die Einfühlung bei Husserl verstanden. Es ist nicht die Lippsche "Einfühlung". Es kann aber sein, daß es diesen anderen Menschen gar nicht gibt und daß es gar keine Erlebnisse von ihm gibt. Mein Einfühlen dagegen, wenn ich es zugleich noch immanent erlebe, muß notwendig existieren, wenn ich es erlebe. Es wurde in den Ideen I ausdrücklich festgestellt, daß die anderen Ich gerade nicht existieren könnten, obwohl sie wahrgenommen werden. (Später in den Cartesianischen

Meditationen,

in

der 5. Meditation, ändert sich die Problemlage wesentlich. Da werden die anderen Ich, die alter ego, in das Problem der Konstitution der realen Welt miteinbezogen.) Aus der Struktur der verschiedenen Erkenntniserlebnisse selbst ergibt sich also wiederum ein Seinsunterschied: Das Eine existiert notwendig, das Andere zufällig. In welcher Hinsicht aber notwendig und in welcher Hinsicht zufällig? Etwas muß immer in bezug auf etwas anderes notwendig bzw. zufällig sein. Notwendig ist das Sein des Bewußtseins in bezug auf das immanente Wahrnehmen. Zufällig dagegen ist das reale dingliche Sein in bezug auf das äußere sinnliche Wahrnehmen - es muß nicht bestehen, wenn das erfassende Bewußtsein existiert. So gefaßt scheint dieser Satz richtig zu sein. Im Grunde ist er nicht weit entfernt vom Standpunkt Descartes' in den Meditationen,

indessen mit dem

wesentlichen Unterschied, daß bei Husserl die Analyse der verschiedenen Strukturen des Bewußtseins wesentlich weiter durchgeführt wurde, und damit auch der Satz selbst eine Begründung erlangt, die es bei Descartes nicht gibt. Es besteht wirklich ein Unterschied der Struktur und - wenn Sie das Wort erlauben - ein Unterschied der Leistungsfähigkeit zwischen der äuße-

268

Neunte

Vorlesung

ren Wahrnehmung einerseits und der immanenten Wahrnehmung andererseits. Das kann man also zugeben. Es gibt hier aber zwei Punkte, auf die noch hingewiesen werden muß. Erstens kann man die Notwendigkeit der Existenz des wahrgenommenen Erlebnisses zugeben, wenn man weiß, daß das immanente Wahrnehmen existiert. Wenn es existiert und wenn ein anderes Erlebnis in ihm immanent wahrgenommen wird, dann existiert unzweifelhaft auch das wahrgenommene Erlebnis. Ja, woher weiß ich denn aber, daß mein immanentes Wahrnehmen existiert? Diese Frage habe ich früher 42 schon berührt. Da muß ich, wie es scheint, ein neues, sozusagen eine Stufe höher sich abspielendes Wahrnehmen haben, woraus sich dann ein unendlicher Regressus ergibt, falls man die Existenz des Durchlebens 43 nicht zugibt, was aber Husserl nicht tut. Das sind vielleicht schwierige, aber jedenfalls einleuchtende Thesen über das Erkennen, die man annehmen kann. Ob die Welt existiert, kann bezweifelt werden. Ob die gerade jetzt von mir erlebten und wahrgenommenen Erlebnisse existieren, kann nicht bezweifelt werden - das wäre Widersinn. Aber das hat noch nichts zu tun mit dem Idealismus - das ist eine erkenntnistheoretische Frage. Es ist vielleicht wirklich so, daß wir nicht sicher sein können, in aller Erkenntnis der Welt, daß sie doch so ist und daß sie ist - es bleibt immer nur eine Annäherung. Es könnte doch eines Tages passieren, daß es anders wäre. Der zweite Punkt ist der, daß Husserls Behauptung über die Notwendigkeit der Existenz des reinen Bewußtseins und die Zufälligkeit der realen physischen Dinge (Welt) sich zwar unzweifelhaft aus der hier rekonstruierten Analyse der Erkenntiserlebnisse ergibt, aber in letzter Fassung so formuliert wird, daß dieser Seinsunterschied nicht auf diese Erlebnisse relativiert wird. Und dann gewinnt er den Charakter eines Unterschiedes, der einerseits im Wesen des Realen als solchem und andererseits im Wesen des reinen Bewußtseins fundiert ist. Damit beginnt aber diese Behauptung zweifelhaft zu werden und erfordert eine andere, nicht erkenntnistheoretische Begründung. Ich werde auf diesen Punkt in der nächsten Vorlesung zurückkommen.

42

Vgl. oben Vorlesung VI.

43

Vgl. Ingarden (1921b).

Zehnte Vorlesung (17. November

1967)

(Der transzendentale Idealismus (III)) In dieser letzten Vorlesung, die ich noch zur Verfügung habe, möchte ich die Darstellung des sogenannten Idealismus bei Husserl in den Ideen 1 zum Abschluß bringen und dann noch einige Kommentare hinzufügen, um das Ganze irgendwie abzurunden. Zunächst aber etwas in Parenthese. Wie Sie wissen, habe ich gewisse Bedenken, ob dieser ganze sogenannte Idealismus Husserls haltbar ist oder mindestens auf eine befriedigende Weise von ihm begründet wurde. Dieser Idealismus bildet aber die zentrale und wichtigste Frage in den Ideen /. Gerade deswegen möchte ich betonen, daß ich diesem Buche viel verdanke; ich habe aus ihm sehr viel gelernt. Erstens sind die Ideen I vielleicht das bestgeschriebene Werk Husserls. Und zweitens liegt die Bedeutung der Ideen 1 nicht so sehr in der Entwicklung des Idealismus, in der ganzen Sache der phänomenologischen Reduktion usw., sondern gerade in etwas ganz anderem. In diesem Werk nämlich liegt meines Wissens die erste, wirklich systematische Durchführung einer Analyse des Bewußtseins in seinen verschiedenen Abwandlungen, verschiedenen Kombinationen und von verschiedenen Gesichtspunkten aus vor. Es gibt da ein sehr reiches und fruchtbares Material, eine sehr reiche Sammlung von Ergebnissen einer positiven Arbeit an den Strukturen des Bewußtseins. Und ich glaube, daß der Inhalt der Ideen I einen wesentlichen Fortschritt in der Philosophie des 20. Jahrhunderts bildet. Obwohl man bezüglich mancher Analysen Bedenken tragen kann, und obwohl Husserl später in einzelnen Betrachtungen gewiß viel weiter gegangen ist, wie man dies aus seinen Manuskripten und später publizierten Werken erfahren kann, so ist dieses Buch doch eine große wissenschaftliche Leistung, die uns noch lange Zeit dazu zwingen wird, zu diesem Buche zurückzukehren. Nicht so sehr die relativ zahlreichen Betrachtungen über die phänomenologische Methode, als die vielen, konkret durchgeführten

Analysen

haben

uns

ad

oculos

gezeigt,

wie

man

phänomenologische Analysen betreiben kann. Um mich jetzt auf das Thema des Idealismus zu konzentrieren, möchte ich Sie zunächst daran erinnern, daß ich das vorige Mal einige Hauptthesen,

270

Zehnte Vorlesung

die sich auf diesen Idealismus beziehen, zitiert habe und gesagt habe, daß die bereits besprochenen Behauptungen von solcher Art sind, daß sie nicht unbedingt im Sinne des Idealismus gedeutet werden müssen und auch nicht zum Idealismus führen müssen. Sie können so verstanden werden, daß die Position, gemäß welcher man die reale Welt als unabhängig vom Bewußtsein und somit als seinsautonom annimmt, noch bewahrt werden kann. Dagegen haben die heute zu besprechenden Behauptungen schon einen solchen Inhalt und Charakter, daß es vermutlich sehr schwierig sein dürfte, unter ihrer Berücksichtigung bei Husserl noch eine realistische Entscheidung zu vermuten oder seinen Standpunkt irgendwie so auszudeuten, daß dann doch gesagt werden kann: Es liegt gar kein "Idealismus" vor. Ich möchte an die Behauptung anknüpfen, über die ich zuletzt referiert habe, nämlich die Behauptung, daß die reale Welt in ihrem Sein prinzipiell bezweifelbar ist, während das reine Bewußtsein, und zwar mein (reines) Bewußtsein, prinzipiell nicht bezweifelbar ist. Es ist widersinnig, sagt Husserl, das zu bezweifeln. Diese Behauptung gehört noch zu denjenigen, die gar nicht im idealistischen Sinne gedeutet werden müssen. Sie hat aber gewisse Hintergründe, auf die ich jetzt noch eingehen möchte. Was ist der Grund dafür, daß es zufolge Husserls Ideen I prinzipiell möglich ist, an der Existenz der Welt zu zweifeln, oder - wie Husserl es sagt - daß dieser Zweifel prinzipiell denkbar ist? Also vor allem: Was besagt das Wort 'denkbar'? Denn dieses Wort wird in der deutschen Sprache in verschiedenem Sinne verwendet. 'Denkbar' kann bedeuten, daß es überhaupt möglich ist, (etwas) zu denken. Unter dieser Deutung des Wortes kann man allen möglichen Widersinn denken. Aber eben deswegen, weil man Widersinn denken kann, gibt es dann die normative Logik - Regeln, die bestimmen, daß man dies oder jenes nicht tun soll. Aber es gibt auch eine zweite Bedeutung des Wortes 'denkbar', ohne daß irgend etwas noch hinzugefügt wird, und es wird auch so im lebendigen Sprechen verstanden, nämlich, daß man das Vernünftige denken kann, daß kein Widersinn in dem enthalten ist, was da "denkbar" ist. Und natürlich handelt es sich bei Husserl nicht um den ersten, sondern um den zweiten Sinn des Wortes, wenn er sagt, daß der Zweifel am Sein der realen Welt prinzipiell "denkbar" sei. Das heißt, es gibt keinen Widersinn in der Denkbarkeit des Zweifeins an der Existenz der Welt, also im Denken an die Möglichkeit der Nicht-Existenz der Welt. Dies muß ich be-

Der transzendentale

Idealismus

(III)

271

tonen, denn dazu gehört die zweite Behauptung, daß es Widersinn ist zu • denken - obwohl man das auch "denken" kann -, daß das reine Bewußtsein in dem Moment, wo es in der immanenten Wahrnehmung erfaßt wird, nicht existiert. Warum ist jetzt die Nicht-Existenz der realen Welt denkbar in diesem zweiten Sinne des Wortes? Nun, es gibt ja verschiedene Argumente, die Husserl angibt, und die ich das vorige Mal im Zusammenhang mit der Struktur der äußeren sinnlichen Wahrnehmung auseinandergesetzt habe, daß also die Wahrnehmung einseitig ist, daß die in ihr enthaltenen Vermeintheiten durch Anschauung nicht voll gedeckt werden usw. Es gibt aber noch etwas, worauf Husserl gerade in diesem Zusammenhang hinweist, was ich schon früher besprochen habe, worauf aber jetzt Nachdruck gelegt werden muß. Das ist eben dies, daß die reale Welt, eventuell jedes in der realen Welt befindliche Ding, transzendent ist, und zwar transzendent im ontischen Sinne, das heißt, daß es seinem Wesen nach kein reelles Bestandstück irgendeines Bewußtseins(erlebnisses) ist und sein kann. Die Welt ist, wenn sie existiert, einfach ein im Vergleich zum reinen Bewußtsein zweites Seiendes, und es gibt, wie Husserl sagt, bei der transzendenten Wahrnehmung keine unvermittelte Einheit zwischen einerseits dem da wahrgenommenen Gegenstand, dem Ding und der ganzen Welt, und andererseits dem Wahrnehmen es handelt sich um zwei verschiedene Seinsgebiete. Also kann das Eine existieren und das Andere nicht. Es sind zwei Dinge, zwei Realitäten, zwei Seiende. Das setzt manches voraus, was wir explizieren müssen. Denn erstens setzt das etwas über die Welt voraus; sie bildet nämlich ein Zweites und ein vom Ersten derart Unabhängiges, daß sie entweder sein oder nicht sein könnte. Mit diesem Argument, das Husserl da mit Bezug auf die Transzendenz gibt, wird stillschweigend [vorausgesetzt] 1 : Daß diese reale Welt eben real ist, daß sie ein zweites Seiendes im Verhältnis zum Bewußtsein, zum Wahrnehmen bildet, und daß sie vom Bewußtsein in ihrem Sein noch unabhängig ist. Später, sobald man die ganze Argumentation mitgemacht und noch andere Behauptungen angenommen hat, wird das also nicht mehr so sein. Hier aber wird die Welt noch im "realistischen" Sinne gedacht. Zwei-

V.d.Hg. statt vorausgesetzt,] noch in diesem Moment.

272

Zehnte

Vorlesung

tens: Es ist "denkbar", also es ist ohne Widersinn möglich zu denken, daß die wahrgenommenen Dinge nicht existieren, obwohl das Erlebnis des Wahrnehmens doch erhalten bleibt. Und da kann es sogar zwei Situationen geben, auf die ich noch eingehen will. Das Erlebnis kann entweder so erhalten bleiben, daß, obwohl das Ding nicht mehr da ist, im Verlaufe der Wahrnehmung nichts verändert wird. Oder es kann so sein, daß sich das Erlebnis des Wahrnehmens infolge der Nicht-Existenz des Gegenstandes irgendwie modifiziert. Das heißt im ersten Falle, daß etwas stillschweigend vorausgesetzt wird, was später auch ausdrücklich gesagt wird, aber schon bei der Feststellung der Zweifelbarkeit der realen Welt implizite gedacht wird, nämlich: Daß das, was bleibt, falls es die Welt nicht gäbe, unabhängig von dem, was es nicht gäbe, existieren kann. M.a.W.: Daß das reine Bewußtsein und insbesondere die äußere Wahrnehmung von der realen Welt seinsunabhängig ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann man ohne Widersinn denken, daß die Welt nicht ist und das reine Bewußtsein doch bleibt. Denn, wenn man annehmen würde, daß das reine Bewußtsein eben seinsabhängig oder auch seinsunselbständig von dem ist, was da (per Annahme) nicht existieren soll, dann könnte man vernünftigerweise gar nicht sagen, daß, falls das Eine fortfiele, das Andere (unverändert) bleiben würde. Also sehen wir: In der Behauptung, daß es einen Unterschied hinsichtlich der Bezweifelbarkeit bzw. der Nicht-Bezweifelbarkeit dieser beiden Seinssphären gibt, wird bezüglich des Bewußtseins bereits stillschweigend vorausgesetzt, daß dieses seinsunabhängig und seinsselbständig der realen Welt gegenüber ist. Und dies spricht Husserl später ganz ausdrücklich aus. Das ist sogar [eine] 2 Grundthese seines Standpunktes. Liegt da nicht ein Zirkel vor? Ich habe gesagt: Es sind zwei Möglichkeiten (denkbar). Und beide Möglichkeiten werden von Husserl berücksichtigt, obwohl expressis verbis wiederum bloß die zweite Möglichkeit besprochen wird. Es sind - wie gesagt zwei Möglichkeiten (denkbar), gemäß denen die reale Welt nicht existieren kann oder könnte, während das reine Bewußtsein doch bleiben würde. Nämlich im ersten Fall - nehmen wir jetzt ein konkretes Erlebnis, z.B. sehe ich diesen Saal und alle anwesenden Personen. Das ist natürlich eine sinnliche äußere Wahrnehmung, welche die und die Struktur hat, wie das früher be-

V.d.Hg. statt die.

Der transzendentale

Idealismus

(II!)

273

sprachen wurde. Der ganze Saal und die Menschen, die hier sind usw., sind keine reellen Bestandstücke meines Bewußtseins, meines Wahrnehmens. Als das Zweite zu meinem Wahrnehmen könnte dies alles nicht sein, obwohl sich in meinem Erleben dadurch nichts verändern würde. Das ist eigentlich diese wichtige Situation, daß ich da zwar etwas wahrnehme, obwohl die Welt nicht existiert. Es ist nicht so, daß es jetzt etwas anderes gibt, sondern es ist überhaupt eine Leere, ein pures Nichts an der Stelle der Welt. Und nun die zweite Situation, nämlich: Falls es so eine Welt nicht gäbe, wenn wir das annehmen dürften, wenn wir das Recht hätten, bei unserem Erleben und Wahrnehmen zu sagen, daß die Welt nicht existiert, so müßte diese Behauptung, daß die Welt nicht existiert, erwiesen werden. - Sowohl die positive als auch die negative Behauptung muß doch auf Grund entsprechender Bewußtseinsverläufe begründet werden, sonst wäre es eine leere Behauptung. Wann könnte es dazu kommen, daß wir keine Welt hätten? Nun, eben dann, wenn die ganze Erfahrung, die wir haben, unstimmig wäre, wenn die eine Erfahrung mit der anderen widerstreiten würde. M.a.W. wenn unsere Erfahrung sich so gestaltete, daß wir - sagen wir zunächst - lauter Täuschungen hätten. Aber Täuschung - das ist etwas, was sich als Täuschung ausweist; das ist nicht bloß so eine Illusion, [die ich als Illusion nicht erfasse] 3 . Wenn ich z.B. einen Stock ins Wasser stecke und er geknickt "wird", so ist Erfahrung notwendig um zu zeigen, daß eine Täuschung vorliegt, obwohl man das ganz deutlich sieht. Und es gibt sogar eine physikalische Theorie, die erklärt, warum man das so sieht. Also, es könnte doch so sein - und diese Möglichkeit bespricht Husserl in den Ideen I -, daß unsere Erfahrung so verläuft, daß ständig sozusagen "Explosionen" stattfinden. Es formiert sich irgendein Gegenstand, ein Ding, und dann kommen weitere Erfahrungen, die zeigen, daß dies falsch ist, daß es so etwas nicht gibt. Es gibt keine Möglichkeit einer ständigen Synthese der verschiedenen Wahrnehmungen, die uns eine einheitliche existierende Welt zeigt, eine existierende, sich in der Erfahrung bewährende Welt. Das also ist diese Möglichkeit, gemäß der wir einen Grund haben zu sagen: Obwohl wir existieren und Wahrnehmungen haben, gibt es keine Welt. Es

V.d.Hg. statt von der ich nichts weiß.

274

Zehnte

Vorlesung

wurde gerade auf Grund dieser Erfahrungsverläufe erwiesen, daß sie nicht existiert. Es ist dieser Fall, den Husserl bespricht. [Diese Möglichkeit, daß das Bewußtsein doch auch dann existiert und existieren kann, wenn sozusagen erwiesen wäre, daß die Welt nicht existiert, ist für Husserl 4 ein weiteres Argument für seinen Standpunkt.]5 Das ist natürlich ein Spiel mit Gedanken, mit Möglichkeiten. Aber wissen Sie was? Wir sind stolz darauf, daß wir psychisch gesund sind, und die armen Kranken bezeichnen wir als Verrückte. Ja, wie ist das nun aber bei einem Schizophrenen, und zwar bei einem schwer Erkrankten? Wie sieht seine Welt aus? Es ist überhaupt die Frage, konstituiert sich für ihn eine Welt, und zwar (numerisch)

[Oder gibt es (für ihn) weder eine noch mehrere

eine?

Welten, sondern überhaupt keine

Welt?]6

Weil sich die Krankheit bei einem

schwer Schizophrenen oft drastisch ins Schlimme entwickelt, so kann es sein, daß alles zerschlagen wird, daß nichts als bloße Phänomene, bloße Phantome bleiben. Es wird sich dann (bei ihm auch) nichts mehr konstituieren. Also, es geht nicht um bloße Gedanken. Man kann weiter in dieser Richtung gehen und sagen: Es kommt ein Moment, wo dies alles explodiert. Viele Jahre nach den

Ideen

/, wahrscheinlich 1927, habe ich mit Husserl

darüber gesprochen, und er sagte: "Wissen Sie was, ich war in dieser Zeit ein bißchen zu gewagt. Vielleicht bin ich zu weit gegangen in der Möglichkeit der Destruktion des reinen Bewußtseins in Bezug auf die Erfahrung." Nun, wie dem auch sei, wie die Grenzen auch sein mögen, wie weit die Möglichkeiten, die da vorliegen, auch gehen mögen. Als den ganz letzten Grenzpunkt können wir uns jedenfalls ein Bewußtsein denken, in dem es keine einstimmige Erfahrung der Welt gibt. Dann gibt es für denjenigen, der das so erlebt, auch keine Welt. Dazu sagt Husserl: Ja, aber die Erlebnisse, die Wahrnehmungserlebnisse, die eben nicht synthetisch sind, die immer zu Explosionen führen - sind sie nicht doch alle in unserem Bewußtseinsstrom? Das ist nur eine besondere Selektion, denn wir erleben verschiedenes an-

[Ingarden] Vgl. Edmund Husserl, Ideen /, 1. Auflage, Seite 91 und 92. V.d.Hg. stati Und das ist auch ein Argument jetzt für seinen Standpunkt, daß das Bewußtsein doch auch dann existiert und existieren kann, obwohl sozusagen erwiesen sein würde, daß die Welt nicht da ist. V.d.Hg. statt Oder gibt es weder eine (sondern mehrere Welten) noch eine Weif!.

Der transzendentale

Idealismus

(Hl)

275

deres in unserem Leben, nicht nur Wahrnehmungen, sinnliche Wahrnehmungen von solcher oder anderer Art. Es gibt noch andere Bewußtseinserlebnisse. Husserl sagt: Man sieht eben, die [nicht-einstimmigen] 7 Erlebnisse sind vorhanden und sie existieren, obwohl die Welt in dieser Situation nicht existiert. Aber außerdem gibt es noch andere Erlebnisse, die sich gar nicht auf die Welt beziehen. Sie beziehen sich auf verschiedenes anderes, auf mich selbst usw., auf unsere Phantasmagorien, auf Dichtungen usw. Also, auch wenn wir zugeben, daß es einen Fall gibt, in dem sich uns gar keine Welt konstituiert, so ist doch noch ein Bewußtsein da, und zwar erfüllt durch die anderen Erlebnisse, die sich nicht auf die reale Welt beziehen. Also braucht das Bewußtsein zu seiner Existenz gar kein Sein außerhalb des Bewußtseins - nulla re indiget ad existendum. Die Welt dagegen braucht, um zu existieren, eben das reine Bewußtsein, in dem sie ihr Sein ausweist. Das ist diese kolossale "Umkippung" der "natürlichen Weltansicht": Das Bewußtsein braucht, um zu sein, nichts anderes, es ist absolut selbstständig, auch wenn die Welt eventuell nicht existiert; die Welt dagegen ist nicht seinsselbständig, sie hat gar keine Selbständigkeit in Bezug auf das reine Bewußtsein. Ich möchte zu diesem Punkt noch einen Kommentar geben. Mit dem, was ich soeben sagte, wollte ich hier nicht Husserls Text in den Ideen I lesen; trotzdem habe ich die Behauptungen fast wörtlich zitiert, was geschieht, wenn die Erfahrung unstimmig ist und doch andere Erlebnisse bleiben. Das sind Worte von Husserl: "andere Erlebnisse" und "nicht erfahrungsmäßige Erlebnisse". Sobald man aber das sagt, wird etwas stillschweigend vorausgesetzt, was vielleicht nicht evident und nicht selbstverständlich ist, und zwar, daß diese anderen Erlebnisse von solcher Art sind und sein können, daß sie sich ohne die sinnliche äußere Erfahrung entwickeln, daß es in unserem Bewußtseinsstrom solche von unserer äußeren Erfahrung seinsunabhängige und selbständige Erlebnisse gibt, oder daß sie mindestens möglich sind. Ich möchte demgegenüber keine Stellung einnehmen. Aber jedenfalls darf man dies nicht ohne weiteres entscheiden, es müßte da eine besondere Analyse durchgeführt werden. Der Standpunkt der Empiristen ist bekannt. Sie sagen, daß man zunächst "ideas of sensation" haben muß, wie es Locke behauptet

V.d.Hg. statt nicht-unstimmigen.

276

Zehnte Vorlesung

hat, und dann erst kann es "ideas of reflection" geben. Zuerst muß man Dinge und Menschen wahrnehmen, und dann erst kann man sich freuen oder traurig sein usw. Fehlt der ganze Unterbau der Erfahrung von den Dingen der Welt, dann sind die anderen Erlebnisse auch nicht da, weil sie bloß einen Überbau der ursprünglichen Erlebnisse bilden, in denen sich uns die Welt konstituiert. Die Begründung dieser Behauptung machen sich die Empiristen etwas leicht. Es sind aber auch in Husserls Ideen I kaum Stellen zu finden, in denen dieses Problem auf begründete Weise gelöst wird. Es kann also nach Husserl so sein, daß es die Welt nicht gibt und unser Bewußtsein sich doch entwickelt. Ein Physiologe oder Anatom würde dazu sagen: "Das ist doch ganz lächerlich! Wenn Sie überhaupt ein Bewußtsein haben, so nur deswegen, weil Sie ein Gehirn besitzen. Und im Gehirn gibt es 12 Milliarden kleiner Zellen, die mit Sauerstoff ernährt werden müssen, und außerdem gibt es noch elektrische Funktions-Ströme usw." Es gibt heute eine wohl ausgebaute Wissenschaft über den Aufbau, die Struktur und die Funktionen des Gehirns und des ganzen Nervensystems, die immer neue Ergebnisse liefert, aber auch große Umwandlungen erlebt. Wie dem auch sei, es gibt aber keinen Zweifel daran, daß man Erlebnisse nur dann haben kann, wenn es das Zentralnervensystem in einem intakten Zustand gibt und wenn alles "normal" funktioniert. Man braucht nur irgendein Gift zu nehmen, und dann schläft man schön ein oder versammelt sich einfach bei den Vätern und hat schon keine Schwierigkeiten mehr mit der Philosophie. - Ja, hat Husserl niemals darüber nachgedacht, daß es so ist? Husserl antwortet darauf: Nein, die Anatomie und Physiologie des Menschen ist ja ausgeschaltet. Es ist auch ein ganz widersinniger Gedanke. Denn - das wird von Husserl ganz ausdrücklich ausgesprochen! - das Bewußtsein ist nicht und kann auch nicht durch irgend etwas anderes ursächlich bedingt werden, was nicht zum Bewußtseinsstrom selbst gehört. Es kann auch nichts von außen her in den Strom eindringen, und es kann nichts aus dem Strom unseres Bewußtseins oder meines Bewußtseins in dieses Draußen übergehen. Der Strom ist eine ganz besondere notwendige Einheit, ein Zusammenhang von Erlebnissen eine Einheit, die nach außen hin geschlossen ist. Es gibt keinen Zugang von außen her und auch keinen Ausgang. Insbesondere kann das Bewußtsein nicht durch etwas, was draußen ist, kausal bedingt sein. Ja, es ist überhaupt kein "Draußen" in dem Sinne, daß es irgend etwas gegenüber dem Wesen

Der transzendentale Idealismus

(III)

277

d e s reinen B e w u ß t s e i n s F r e m d e s gäbe. U n d dann n o c h etwas. Es wird g e sagt, z w i s c h e n d e m B e w u ß t s e i n und der Realität gähnt "ein wahrer Abgrund des Sinnes" 8 . B e w u ß t s e i n und Realität sind z w e i - w e n n e s erlaubt ist, e s s o zu s a g e n - S e i n s g e b i e t e , z w e i S e i e n d e , die s o verschieden sind, daß sie überhaupt nicht vergleichbar sind. Ich w e r d e d i e s e Stelle nun aus den Ideen

I zitieren. Es wird

zunächst

über die Reinheit und über das B e w u ß t s e i n g e s p r o c h e n , und dann sagt H u s serl: "Andererseits ist die ganze räumlich-zeitliche Welt, der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zurechnen, ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein, also ein solches, das den bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins fiir ein Bewußtsein hat (als in Bewußtseinssubjekten durch Erscheinungen erfahrbares und sich als BeWährungseinheit von Erscheinungen möglicherweise in infinitum bewährendes). Es ist ein Sein, das das Bewußtsein in seinen Erfahrungen setzt, das prinzipiell nur als Identisches von (einstimmig) motivierten Erfahrungsmannigfaltigkeiten anschaubar und bestimmbar - darüber hinaus aber ein Nichts ist, (oder genauer, für das ein Darüber-hinaus ein widersinniger Gedanke ist)." 9 Ich werde g l e i c h darauf z u r ü c k k o m m e n . Es gibt aber n o c h e i n e andere w i c h tige Stelle i m T e x t der Ideen

/, w o g e s a g t wird: D i e reale W e l t und j e d e s

D i n g in dieser Welt, j e d e s dingliche S e i n in dieser W e l t hat i m G e g e n s a t z z u m B e w u ß t s e i n kein absolutes W e s e n , e s ist nichts A b s o l u t e s , während das B e w u ß t s e i n gerade s o ein absolutes W e s e n hat. "Realität, sowohl Realität des einzeln genommenen Dinges als auch Realität der ganzen Welt, entbehrt wesensmäßig (in unserem strengen Sinne) der Selbständigkeit. Es ist nicht in sich etwas Absolutes und bindet sich sekundär an anderes, sondern es ist in absolutem Sinne gar nichts, es hat gar kein 'absolutes Wesen', es hat die Wesenheit von etwas, das prinzipiell nur Intentionales, nur Bewußtes bzw. Vorstellbares, in möglichen Erscheinungen zu Verwirklichendes ist."'«

[Ingarden] Vgl. Edmund Husserl, Ideen I, 1. Auflage, Seite 93. 9

[Ingarden] Die in eckige Klammem gesetzten Worte stammen nicht aus der ersten Auflage der Ideen. Es sind Zusätze aus dem zweiten Handexemplar Husserls. [Hg: Vgl. Husserliana III/l (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 117 sowie 474.]

10

[Ingarden] Edmund Husserl, Ideen /, S. 93-94. [Hg.: Vgl. Husserliana III (hrsg. v. W. Biemel), Den Haag 1950, 118 - Gemäß T y p ^ zitiert Ingarden nicht ganz korrekt: Anstelle von

278

Zehnte

Vorlesung

Das ist also die Kulmination der ganzen Entscheidung. Die Realität oder die Welt, die von meinem Bewußtsein verschieden ist, hat kein absolutes Wesen, sie ist im absoluten Sinne Nichts. Ja, und jetzt besteht eine besondere Schwierigkeit für mich. Wenn ich dem Texte ganz getreu seift und nichts beiseite lassen soll, muß ich mich fragen: In welchem Sinne ist da vom "absoluten Wesen" die Rede, von dem, daß [die Welt] 11 in sich nichts Absolutes sei? Entweder ist das in gewissem Sinne eine Wiederholung der Thesis, daß nur absolute Erlebnisse, also dasjenige, was "absolut" existiert, weil es immanent wahrgenommen wird, ein "absolutes Wesen" haben - dann ist es eine Selbstverständlichkeit. Denn die Dinge und die Welt werden nicht immanent wahrgenommen und gehören somit nicht zu dieser Sphäre. Ja, ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn dies eine Wiederholung der alten Thesis ist. Ist das aber wirklich eine bloße Wiederholung der schon besprochenen Thesis? Oder soll dieses Nicht-Haben des "absoluten Wesens", das "NichtsAbsolutes-in-sich-Sein" etwas anderes bedeuten? Das hat mir später, also nach der Studienzeit bei Husserl, sehr viel zu denken gegeben, was das heißt: ein "absolutes-Wesen-Haben" einerseits und "gar-kein-absolutes-Wesen-Haben" und doch irgendwie existieren andererseits. Viel später habe ich da versucht, mir eine Reihe von existentialen Begriffen zu bilden, und ich habe mir da so einen Gegensatz ausgedacht. 12 Ich habe versucht, dies so zu präzisieren, daß es vor allem ein Seiendes geben kann, das "seinsautonom" ist. Und zwar ist es eben deswegen seinsautonom, weil alle seine Bestimmtheiten ihm immanent sind, in ihm verkörpert sind, in ihm "verleiblicht" sind. Ist etwas wirklich rot, dann ist das Rot ein immanentes, reelles Bestandstück des roten Dinges. Und in demselben Sinne ist natürlich das reine Bewußtsein seinsautonom, weil es seinsautonome, ihm immanente Bestimmtheiten hat. Da würden einige sagen, ja, das ist die einzige Möglichkeit der Existenz eines Dinges überhaupt, daß es effektiv bestimmt wird und daß die Bestimmtheiten in ihm "inhärieren", wie man sich ausdrückte. Andere wiederum sagen: Nun, es besteht noch eine zweite Möglichkeit - es gibt möglicherweise

'Es ist nicht in sich etwas Absolutes und bindet sich sekundär an anderes' steht nämlich 'Es ist nicht in sich etwas Absolutes und bindet sich nicht nur bloß sekundär an etwas anderes'.] 11

V.d.Hg. statt es.

12

Vgl. Ingarden (1929), 165ff; (1964c), Kap. III.

Der transzendentale Idealismus

(III)

279

Dinge, die nur gedacht oder bloß phantasiert werden usw., denen man immer etwas zuschreibt, die man als so und so bestimmt vermeint. Und mein Zuschreiben, mein Vermeinen, mein Setzen ist so kraftlos, daß es nicht wirklich schöpferisch ist. Ich kann Dinge nicht effektiv schaffen, ich kann sie bloß denken, kann sie bloß ausmalen usw. Und diese Dinge haben deswegen keinen immanenten Bestand an Bestimmtheiten; alles ist bloß hinzugedacht, hinzugefügt, hinzuvermeint. Ich sage in diesem Falle, daß solche "Dinge" "seinsheteronom" existieren. Hat Husserl das sagen wollen, daß die realen Dinge eben seinsheteronom sind, daß sie nicht in sich selbst ihr Seinsfundament haben - das Seinsfundament in dem Sinne sind jetzt die immanenten Bestimmtheiten, das immanente So-Sein -, sondern daß sie bloß von jemandem vermeint werden und als Vermeintes da sind, in einem anderen Seienden ihr Seinsfundament haben? - Das würde stimmen, denn er behauptet, daß sie intentionale Gegenstände sind. Deswegen habe ich mich vor etwa 40 Jahren mit literarischen Werken beschäftigt, insbesondere z.B. mit einem Drama, mit literarisch fingierten Personen, die nie real existieren. Und ich habe gedacht: Es ist aufzuklären, welche Struktur diese bloß vermeinten Gegenständlichkeiten haben, ob sie zufälligerweise formal nicht anders gebaut sind und gebaut werden müssen, als Gegenständlichkeiten, die individuell und seinsautonom sind, also insbesondere real sind. Das Ergebnis war, daß die vermeinten Gegenständlichkeiten, die intentionalen Gegenständlichkeiten, nur teilweise bestimmt sind, daß sie Leerstellen, Unbestimmtheitsstellen haben. 13 Ein wirklich seinsautonomer, realer Gegenstand kann dagegen in seinem Sein keine solche Lücken haben, sondern muß allseitig und durch niederste Differenzen eindeutig bestimmt sein. 14 Der Grund 15 meiner Beschäftigung mit Kunstwerken lag darin, daß ich verstehen wollte: Was heißt dies, daß die Realitäten kein "absolutes Wesen" haben, d.h. daß sie nach Husserl nicht seinsautonom, sondern bloß seinsheteronom sind und sein sollen, also bloß zugeschriebene und nicht effektiv zukommende Bestimmtheiten haben? Das ist also noch der Punkt, der zu klä13

Vgl. Ingarden (1931a), §§ 3, 20, 65-67; (1965a), Kap IX.

14

Vgl. Ingarden ( 1965a), §§ 39-41.

15

Vgl. neben Ingarden ( 1931 a), Xllf. auch Ingarden ( 1968a), 167.

280

Zehnte Vorlesung

ren ist, was das "absolute Wesen" bei Husserl bedeutet. Soll das heißen, daß das "absolute Wesen" in der Seinsautonomie des Gegenstandes liegt? Kann es aber jetzt noch einen Zweifel geben, daß Husserls Thesen über die reale Welt, über die Realität und über das Bewußtsein keine "realistische" Entscheidung im traditionellen Sinne darstellen? - Ich erinnere mich des zweiten Kongresses der Phänomenologen nach dem Kriege, der 1956 in Krefeld stattfand. Da behauptete Professor Müller aus Freiburg, der allerdings kein Schüler von Husserl war: "Es gibt gar keinen Idealismus bei Husserl, es geht nur um eine Sinnanalyse und nicht um eine Behauptung über die Welt." Nun, ich sollte damals einen Vortrag über etwas anderes halten. Ich habe auf diesen Vortrag verzichtet und in ein paar Stunden einen neuen Vortrag 16 vorbereitet, in welchem ich einfach alle die Behauptungen zusammengestellt habe, die ich Ihnen eben vorgelegt habe, und ich behauptete damals: Es ist klar, daß doch eine "idealistische Entscheidung" des Problems der realen Welt vorliegt. Und doch kann man noch im Zweifel darüber sein, wovon da bei Husserl die Rede ist. In welcher Sachlage oder Situation befinden wir uns in diesem Moment? Man kann sagen: Husserl hat schon die Reduktion durchgeführt und spricht nicht über Realitäten, über Dinge, sondern er spricht über DingNoemata, über den Sinn dieser Ding-Noemata, die Korrelate des Bewußtseins von besonderer Art sind. Und in bezug auf diese Gegenständlichkeiten als Korrelate unserer Bewußtseinsverläufe wird behauptet, daß sie bloße intentionale Gegenständlichkeiten sind, nur mit der Einschränkung, daß sie sehr (gut) geregelten Verläufen der Erfahrung entsprechen. Dann gäbe es bei Husserl lediglich Behauptungen, die in den Rahmen einer Sinnanalyse gehören. Da wird eine Analyse des allgemeinen Sinnes eines Ding-Noemas durchgeführt, es werden Analysen der Gehalte der Abschattungen gemacht, und dann werden auch die ihnen zugrunde liegenden Empfindungsdaten analysiert, wozu noch die analytische Klärung der Noesen, d.h. der Akte gehört. Und es handelte sich in diesen Untersuchungen lediglich darum zu zeigen, daß zu einer solchen und solchen Mannigfaltigkeit von Abschattungen oder Ansichten ein identischer Sinn gehört, und zwar, gegenständlich gedeutet, ein Ding-Noema, aber (gerade) ein Ding-Noema. Und dabei wird nur

16

Vgl. Ingarden (1959).

Der transzendentale

darauf

hingewiesen:

Wenn

die

281

Idealismus (III)

Ansichten

solche

und

solche

Man-

nigfaltigkeiten von Empfindungsdaten zum Grunde haben und so und so nacheinander so und so verlaufen, dann konstituiert sich eben dieses DingNoema. Nichts mehr wird behauptet. Und wenn alle diese Untersuchungen zu Ende gebracht werden, dann kann man sagen: Diese Verläufe sind von solcher Art, daß sie mit Notwendigkeit zum Konstituieren eines solchen Ding-Noemas, eines solchen Dingsinnes führen müssen. Das sind keine psychologischen Zufalle, sondern dieses Ergebnis folgt aus der Struktur des Bewußtseins, aus der Struktur der Erfahrungsverläufe - es kann nicht anders sein. Es kann nicht keine Welt geben, denn die "Welt" ist jetzt nichts anderes als Weltsinn, und die Welt ist streng gesprochen nichts anderes als das Cogitatum, und das Cogitatum ist mit dem Cogitare untrennbar verbunden. Und da wird bloß dies behauptet, daß es einen solchen Strom von Bewußtseinserlebnissen gibt, und daß es in diesem Strom solche wesensmäßige Regelmäßigkeiten gibt, daß [diese Erlebnisse] 17 zu solchen Dingsinnen führen. Aber jetzt - wie soll man das sagen? - ergibt sich die Welt und ergeben sich die Dinge mit Notwendigkeit aus den Erfahrungserlebnissen? Das ist einfach die Konsequenz: Sie sind wie Schatten, die sich da bilden, sobald diese Erlebnisse so und so sind. Es gibt dann (aber) auch keinen Unterschied in der Bezweifelbarkeit der Welt und des Bewußtseins: Ebenso notwendig wie die Bewußtseinsverläufe existiert auch die Welt ("in Anführungszeichen"), d.h. genau gesagt: das Noema "Welt", das Ding-Noema, der Dingsinn. Husserl hat mir im Jahre 1927 einmal gesagt: "Ich habe nie bezweifelt, daß die Welt existiert." Ja, also, wenn "Welt" von Anfang an nichts anderes als Korrelat gewisser Bewußtseinsmannigfaltigkeiten bedeutet, dann ist das natürlich alles richtig. Ist das aber etwas anderes als eine Tautologie? Denn wenn sich die Analyse wirklich von Anfang an (nach dem Vollzug der Reduktion) auf die Ding-Noemata bezog, so ist es natürlich (so), daß diese Noemata eben "intentionale Gegenstände" sind. 18 Um dieses Ergebnis zu erzielen, brauchte man aber nicht alle diese schwierigen Analysen durchzuführen. Außerdem fragt es sich, was jetzt mit denjenigen Paragraphen zu machen ist, die bereits im Titel eine damit widerstreitende Behauptung enthalten z.B.: "§ 46. Zweifellosigkeit der immanenten, Zweifelhaftigkeit der 17

V.d.Hg. statt sie.

18

Vgl. oben Vorlesung VIII, Anm. 48.

282

Zehnte

Vorlesung

transzendenten Wahrnehmung". Dieser Titel weist korrelativ darauf hin, daß auch das transzendent Wahrgenommene, also die realen Dinge, in ihrem Sein zu bezweifeln sind. 19 Denn noch eine Sache ist zu beachten: Alle diese Behauptungen, die ich Ihnen heute rekonstruiert habe, wurden vor dem Vollzug der transzendentalen Reduktion aufgestellt. Sie dienen dazu, uns zu zeigen, daß die transzendentale Reduktion möglich ist, und zwar, daß nach ihrem Vollzug das reine Bewußtsein als Residuum übrigbleibt, während die reale Welt selbst aus dem Gesichtskreis eigentlich verschwunden ist - nur Weltsinne, Dingsinne sind da. Also nicht auf Grund der Reduktion, sondern als ein Weg zu ihrer Durchführung, zur Erweisung ihrer Möglichkeit, werden diese Behauptungen aufgestellt. Wenn ich das beachte, kann ich die besprochenen Behauptungen nicht so lesen, daß in ihnen vom Weltsinn, vom Dingsinn, von den intentionalen Korrelaten die Rede sei; vor der Reduktion kann in ihnen nur von den Dingen selbst, von der Welt selbst gesprochen werden. Darauf erwidert Husserl: Ja, das ist gerade Widersinn, wenn Sie das so denken, denn es gibt kein Draußen, es gibt nichts, was über die bloßen Intentionalitäten, über die Dingsinne, über den Weltsinn usw. hinaus sein könnte. Es gibt nichts "darüber hinaus" - das sind die letzten Worte des § 49. 20 Warum gibt es nichts? Wo ist der Beweis dazu? Ja, da sagt Husserl: Natürlich führen Sie jetzt den Gedanken von unerkennbaren, unentdeckten, nicht-bewußten "Dingen an sich" ein. Doch das ist ein Widersinn, und ich habe das "Ding an sich" schon längst durchgestrichen. Kant war im Irrtum, als er das Ding an sich noch annahm. Das haben doch die Neukantianer verbessert, indem sie diesen Begriff abgelehnt haben. Die Frage nach einer autonomen Welt, die "darüber hinaus" etwas wäre, ist Widersinn, weil sie unerkennbare Dinge voraussetzt, Dinge, die sich in den Bewußtseinsverläufen nicht zeigen. Und sobald sie sich (in den Bewußtseinsverläufen) zeigen, dann sind sie bloße [Ingarden] Vgl.: "Die soeben durchgeführte Überlegung macht es auch klar, daß keine aus der Erfahrungsbetrachtung der Welt geschöpften Beweise erdenklich sind, die uns mit absoluter Sicherheit der Weltexistenz vergewisserten." (Edmund Husserl, Ideen 1, 1. Auflage, S. 87). [Ingarden] "Es ist ein Sein, das das Bewußtsein in seinen Erfahrungen setzt, das prinzipiell nur als Identisches von einstimmig motivierten Erfahrungsmannigfaltigkeiten anschaubar und bestimmbar - darüber hinaus aber ein Nichts ist, oder genauer, für das ein Darüberhinaus ein widersinniger Gedanke ist." (E. Husserl, Ideen /, 1. Auflage, S. 93).

Der transzendentale

Idealismus

(III)

283

intentionale Korrelate, die wesenslos sind, also im absoluten Sinne ein Nichts. Husserl würde also ungefähr auf diese Weise argumentieren und hätte gesagt: Nun, jetzt können wir zur Reduktion zurückkehren und sie vollziehen, um das reine Bewußtsein zu analysieren. Ich frage aber: Wozu? Die allgemeine Auffassung des reinen Bewußtseins und der realen Welt würde in diesem Falle ja schon festgestellt sein. Wozu noch die Analyse des Bewußtseins? Wozu die so sehr komplizierte, sehr - wie ich am Anfang (der Vorlesung) betont habe - verdienstvolle Analyse verschiedener Abwandlungen und Gestaltungen des Bewußtseins? Husserl will ja eine eidetische Wissenschaft vom reinen Bewußtsein entwickeln. Nun, wir können uns vorstellen, daß Husserl so antworten würde: "Wissen Sie, das, was ich da über das reine Bewußtsein und die Welt bereits gesagt habe, das war nur ein erster Zugriff, ein Anfang, als ich noch in gewissem Sinne naiv war." Husserl hat mir einmal gesagt, daß er damals, als er die Logischen

Untersuchungen

schrieb, ein großes philosophisches Kind gewesen sei. - Also vielleicht würde uns Husserl jetzt sagen: "Da war ich noch Kind, und es schien mir so, daß die Welt bloß ein intentionales Gebilde ist, und daß nur das reine Bewußtsein absolut existiert usw. Freilich hat mir dies geholfen, die Methode der Reduktion durchzuführen; aber jetzt gilt es ernst, jetzt müssen wir aufhören, Kinder zu sein, naiv zu sein. Jetzt werden wir das alles systematisch untersuchen, die Analyse der Bewußtseinsverläufe in ihrem Wesen eidetisch betreiben. Alles werden wir genau behandeln und dann wird sich erst zeigen, ob dieser erste Zugriff richtig oder falsch war. Es ist jetzt der Weg zur Kontrolle geöffnet, ' zur Aufweisung und Ausweisung dieser zunächst konstruierten Thesen, die da eben besprochen wurden." Und Tatsache ist, daß Husserl, nachdem er die Ideen I geschrieben hatte, während vieler Jahre immer wieder an den sogenannten konstitutiven Problemen gearbeitet hat, d.h. an Problemen, durch deren Lösung die Rechtmäßigkeit der Konstitution der realen Gegenständlichkeiten verschiedener Art und letzten Endes der realen Welt überhaupt erwiesen werden soll, und die hier in den Ideen I erst ganz am Schluß auf drei bis vier Seiten angedeutet werden, dort aber überhaupt nicht gelöst sind. Was sind also diese konstitutiven Probleme? Nun, dasjenige, was in den Ideen I behandelt wurde, schuf nur den ersten Einblick auf das Bestehen ge-

284

Zehnte Vorlesung

wisser Problemzusammenhänge. Wenn man nicht selbst auf diesem Gebiet gearbeitet hat, versteht man relativ wenig davon, um was es sich bei diesen Problemen eigentlich handelt. Ich muß sagen, daß meine Kollegen und ich damals im Seminar 21 bei Husserl diese Seiten in den Ideen I22 nie so naiv gelesen haben. Wir waren ja schon Husserls Schüler, und er war ganz dabei und hat dann immer wieder neue Tatsachen, neue Ergebnisse von Analysen gegeben, so daß wir schon eine ziemlich gute Ahnung hatten, was die konstitutive Analyse ist. So war sie für uns keine so geheimnisvolle Geschichte. Aber diejenigen, welche nicht in Göttingen waren und andere Werke Husserls auch nicht kennen, können sich nicht darüber orientieren, was die konstitutive Analyse ist, besonders weil Husserl in den Ideen /, worauf er selbst ausdrücklich hinweist, eine ganze Sphäre des Bewußtseins verschwiegen hat, an welche die konstitutive Analyse anknüpfen muß, damit man den Sinn dieser Probleme überhaupt verstehen kann. In den Ideen I beginnt die Betrachtung auf dem Gebiet, wo Erlebniseinheiten bereits vorhanden sind, wo die Erlebnisse als Erlebnisse schon konstituiert sind. Der schlichte Bewußtseinsstrom ist da sozusagen rhythmisiert, weist gewisse Takteinheiten auf, welche durch die sich vollziehenden Erlebnisse bestimmt werden. Diese "Takteinheiten" bilden Phasen der Zeit, die in ihrer Aufeinanderfolge sich deutlich voneinandër abheben und in deren Innern eine gewisse Stabilität herrscht. Aber hinter diesem relativ geordneten, pulsierenden Milieu verbirgt sich bis zu einem gewissen Grade, aber doch nur so weit, daß es (noch) spürbar ist, ein fließendes Bewußtsein, in dem die in der oberen Schicht sich als momentane Einheiten abzeichnenden Erlebnisse sich (in) einem im Werden begriffenen Fluß entfalten und in diesem Sich-Entfalten sich voneinander weder [klar]23 abzeichnen noch im Inneren (in der Entfaltungsphase) [klar]24 zusammenhängend sind, sondern im kontinuierlichen Werden und Vorbeigehen miteinander verschwimmen. Und alles geschieht in einer im Werden begriffenen, qualitativ bestimmten, durch das fließende Bewußtsein "erfüllten" Zeit, die sich selbst nicht deutlich von den sie erfüllenden Erlebnissen unterscheidet. Das alles wird hier in den Ideen I nicht besprochen,

2

'

Vgl. oben die Einleitung d. Hg.

22

[Ingarden] Es geht um die §§ 149-153 der Ideen I.

23

V.d.Hg. statt so.

24

V.d.Hg. statt so.

Der transzendentale

Idealismus

285

(III)

sondern nur als ein Hintergrundhorizont erwähnt. Und auf diese Sphäre des "fließenden" Bewußtseins muß man zurückkehren, es in seiner [Urgestalt] 25 - alle durch die Analysen hervorgebrachten Verunstaltungen vermeidend bloß zur größeren Lebendigkeit und Klarheit bringen und dann mitfließend verfolgen,

wie

sich

aus

diesem

ursprünglichen

Fluß

gewisse

Ein-

heitsbildungen und Sinneinheiten sowohl noetisch wie noematisch entwikkeln. 2 6 In diesem Strom, wo ursprünglich alles zusammenfließt, beginnen sich einerseits die Erlebniseinheiten zu konstituieren und (korrelativ) die fließenden Empfindungsdaten zu stabilisieren, sie beginnen sich qualitativ deutlicher zu differenzieren und voneinander abzugrenzen, andererseits sich zu gewissen aus einer Mannigfaltigkeit von Qualitäten bestehenden

Ge-

staltungen zusammenzuschließen. Und wenn der ganze Prozess noch weitergeht, sieht man, wie sich in den Feldern der Empfindungsdaten die Ansichten von, Abschattungen von etwas bilden. Und sobald wir eine Mannigfaltigkeit von zueinandergehörenden oder kontinuierlich in sich übergehenden Abschattungen erleben, ist das schon ein konstitutives Gebilde, etwas, was bis zu einem gewissen Grade stabil ist, was im Bergsonschen Sinne eher schon zum statischen Aspekt des Bewußtseins gehört und nicht "la durée pure" ist. Natürlich sollen die "Abschattungen" nicht im Sinne Bergsons als eine handlungsrelative Verfälschung des ursprünglichen Flusses betrachtet werden. Erlebt man eine Mannigfaltigkeit von solchen relativ stabil gewordenen Ansichten, dann erscheint eine neue konstitutive Einheit: das Ding (bzw. genauer "Dingsinn"). Wenn dies alles genau verfolgt wird, so zeigt es sich, daß es eine ganze Reihe von "Schichten", von - wie Husserl sagt - Konstitutionsschichten gibt, die sich gewissermaßen übereinander bauen. Man muß alle diese Schichten für sich behutsam herausschälen und so analysieren, daß nichts verunstaltet wird. Was bildet dann den nächsten Schritt? Das sind die Zuordnungsprobleme. Zuordnungsprobleme zwischen was? Zwischen dem einheitlichen erscheinenden Ding, das so und so bestimmt ist -

25

V.d.Hg. statt Ungestalt. [Ingarden] Als Husserl die Ideen

I schrieb, hatte er diese Sphäre der letzten Ur-

sprünglichkeit bereits in manchen Richtungen erforscht. Aber erst viele Jahre später nach den Ideen I wurde ein Fragment davon unter dem Titel "Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins" (1928) publiziert [Hg.: Vgl. Vorlesung I, Anm. 52].

286

Zehnte Vorlesung

und der unmittelbar unteren "Schicht", das heißt einer in der Zeit sich entfaltenden Mannigfaltigkeit von bestimmten Ansichten "des" betreffenden Dinges. Dahinter steckt eine Mannigfaltigkeit von stabil gewordenen Empfindungsdaten und dahinter noch etwas. Also immer wieder neue Schichten wie in einer Torte, wo sozusagen die eine Schicht eine andere Schicht überdeckt. Als oberstes Schlußergebnis gibt es die Sinne der Dinge. Konstitutive Probleme - das meint Probleme, die sich in der Analyse dieser verschiedenen Schichten, die sich da während der Wahrnehmung ausbilden, eröffnen, und (meint Probleme,) die die Zuordnung der Gebilde der einen Schicht zu einem Gebilde einer (höheren) Schicht betreffen. Zu dieser "noematisch" gerichteten Verfolgung der konstitutiven Gebilde gehört notwendig auch die Verfolgung der Wandlungen, die sich im Empfinden, im Erleben der Ansichten selbst und endlich im gegenständlichen Vermeinen vollziehen. Sobald das geklärt wird, entsteht die Frage, was zu was notwendig gehört, das heißt, welche konstitutiven Gebilde (notwendig) zu welchen anderen gehören. Im Zusammenhang damit eröffnen sich auch die sogenannten "funktionellen" Probleme: Wenn im Feld der Empfindungsdaten diese oder jene Daten zugleich auftreten und ihnen dann andere in bestimmter Anordnung nachfolgen, wenn das Ich da solche und solche Retentionen hat, daß es bei den jetzigen Daten noch irgendwie die früheren gerade vorbeigehenden Daten empfindet, und zugleich auch bestimmte Protentionen hat, und sich dies alles so regelmäßig gestaltet, dann gehört dazu der einheitliche Sinn eines so und so bestimmten Dinges. Es gibt da Notwendigkeitszusammenhänge, Notwendigkeitszuordnungen, Notwendigkeitsabhängigkeiten. Und es wird immer gefragt: Wenn ein solches Ding, z.B. die Uhr da, die so und so ist, als so und so objektiv von mir bestimmt wird - wenn dieses Ding als Uhr, und zwar als eben solche Uhr erscheinen soll, dann muß es in den unteren Schichten solche und nicht andere Verläufe der Ansichten, mehr oder weniger erfüllten Ansichten, Empfindungsdaten und einen Verlauf solcher und nicht anderer Verhaltungsweisen des Ich (Empfinden, Erleben (von Ansichten), gegenständliches Vermeinen und Erfassen) geben. Das ist das Programm einer konstitutiven Betrachtung der Prozesse und Wandlungen, die sich beim Wahrnehmen eines Dinges vollziehen. In den Ideen I wird das nur angedeutet. Am Ende der Ideen I deutet Husserl noch

Der transzendentale

Idealismus

(III)

287

eine andere Problematik an. Es wird da nicht bloß von Schichten der Konstitution, sondern auch von "Stufen" gesprochen. Und zwar wird da z.B. zwischen einem Ding-Schema und einem voll konstituierten Ding unterschieden. Ein Ding-Schema ist z.B. ein "visuelles Ding". Ein solches Schema ist nicht ein volles Ding, es hat ausschließlich visuelle Bestimmtheiten; ein anderes Ding-Schema ist ein konstituiertes Sinnending, ein Ding also, das schon viele verschiedene Sinneventualitäten hat, aber noch nicht im strengen Sinne "materiell" ist. Und ein Sinnending, oder auch ein rein visuelles Ding, kann kein Glied einer Ursache, eines Ursachenzusammenhanges sein. Nun, dann geht man eine Stufe höher und dann hat man schon konstituierte Dinge als solche, die materiell und zugleich "sinnlich" (mit sinnlichen Qualitäten ausgestattet) sind, und die schon Substanzen sind und als Glieder in der Ursache/Wirkung-Beziehung stehen usw. - alles aber nur so genommen, wie es nur für mich konstituiert ist. Da habe ich also erst die Stufe der für mich als für ein einzelnes Ich konstituierten Welt. Dann gibt es eine noch höhere Stufe. Wir haben gemeinsam eine Welt; wenn wir alle hier in diesem Saal sitzen, dann ist das derselbe Saal, dann sind das dieselben Bänke usw. für uns alle. - Das sind schon Dinge, die intersubjektiv konstituiert werden, vermöge des zwischen verschiedenen Menschen erlangten Verständnisses, zwischen Menschen, die alle zusammen dasselbe wahrnehmen und vermittelst der Sprache und der "Einfühlung" sich untereinander bezüglich ihrer gemeinsamen Umwelt verständigen. Das ist die nächste Konstitutionsstufe: die uns gemeinsame, anschaulich gegebene materielle Welt. Ja, und dann gibt es weiter eine noch höhere Stufe, wo wir zur "physikalischen Welt" kommen. Viele verschiedene Schichten konstituieren sich also, die eine nach der anderen, in verschiedenen Mannigfaltigkeiten von Erlebnissen, von Gedanken, von Argumenten usw. usw., bis auf eine nur für mich konstituierte Welt und dann bis [auf die intersubjektive,]27 anschaulich und qualitativ bestimmte Welt. Das Konstitutionsproblem geht [dann] 28 weiter, bis auf die physikalische Wirklichkeit, aber dann natürlich auch in anderer Richtung gewendet, bis auf die gemeinsame kulturelle Wirklichkeit, auf die Wert27

V.d.Hg. statt an die unsrige sich uns.

28

V.d.Hg. statt also.

288

Zehnte

Vorlesung

Wirklichkeit usw. Das sind kolossale Gebiete, die jetzt alle durchforscht werden müssen, in ihrer Konstitutionsweise aus den letzten ursprünglichen Erlebnissen. Das hat Husserl in den Ideen I (bloß) angedeutet, er hat aber daran Jahrzehnte gearbeitet. Was er aber da wirklich durchforscht hat, wovon ich nur einen Bruchteil kenne, das wurde nie bis zum Abschluß gebracht. Es werden noch, wie Husserl sagte, Generationen daran arbeiten um zu zeigen, wie das alles zusammenhängt und sich notwendig bedingt. Daß Husserl uns diese Perspektive in seinen vielen Arbeiten enthüllt hat, und zwar in dieser Konkretion, in Einzelarbeiten, Einzelanalysen, die man sonst bei anderen Forschern gar nicht findet, daß er das in ganz kleinen Analysen von ganz begrenzten Situationen bzw. Phänomenen getan hat, an denen man dann mehrere Wochen arbeitet, um die zunächst verborgenen Phänomene und Funktionen herauszustellen - das ist eben das, was ich als Husserls größtes Verdienst einschätze. Er hat uns sozusagen gelehrt, die Sachen selber weiterzumachen und uns selbst zu korrigieren und zu verbessern und sich auch verbessern zu lassen - um die großen Probleme, die da vorliegen, anzugreifen und sie konkret zu gestalten und mindestens ihre Lösung vorzubereiten. Die Problematik, die dann in bezug auf eine eventuell realistische oder idealistische Auffassung auftaucht, ist bloß ein kleiner Ausschnitt aus dieser großen Problematik. Es müßte dabei natürlich gefordert werden, daß die konstitutive Problemtik selbst als Problematik viel genauer und viel konkreter gestaltet wird. 2 9 Jetzt ist noch zu erwägen, ob die Frageweise, die Fragestellung, die Husserl als Konstitutionsprobleme der realen Welt formuliert, befriedigend ist. Nicht ob sie richtig ist - vielleicht ist sie [nur bei gewissen Forschungszielen richtig]30 -, sondern ob sie befriedigend ist, sofern es sich in der konstitutiven Betrachtung um eine letzte Rechtsentscheidung, um eine Entscheidung bezüglich der Gültigkeit der in der Konstitution sich vollziehenden Erkenntnis der Welt und damit auch [um eine Entscheidung] 31 der Seinsfrage dieser Welt handelt. 32 Denn Husserl sagt immer: "Da habe ich den betreffenden Dingsinn erfaßt, und jetzt frage ich: Was muß in den verschiedenen Konsti-

29

Vgl. dazu die äußerst wichtige, programmatische Skizze bei Ingarden ( 1972c).

30

V.d.Hg. stall bei gewissen Forschungszielen auch richtig.

31

V.d.Hg. stall bezüglich.

32

Zu diesem zentralen Punkt vgl. Ingarden (1972c), 369ff. sowie Ingarden (1968a), 165ff.

Der transzendentale

Idealismus

{III)

289

tutionsschichten enthalten sein, damit erst ein bestimmtes Ding zur geltenden Erscheinung gebracht werden kann, damit dieser Sinn sich konstituieren kann?" Er fragt also nach der unentbehrlichen

Bedingung eines bestimmten

konstituierten Dingsinnes. Im Grunde handelt es sich bei dem damit angedeuteten Forschungsziel (bei der "Rechtsfrage", wie Husserl sagt) um das umgekehrte Problem. Es handelt sich um die Frage: Wenn ich zunächst ganz passiv fließe, ein fließendes Bewußtsein und fließende, ursprüngliche Empfindungsdaten habe, kann ich mich dann bei diesen Verhaltensweisen, die ich jetzt angesichts dieser ganz eigentümlichen Situationen (die teilweise z.B. auch Bergson beschrieben hat) vollziehen kann, so benehmen, daß ich durch etwas, was Nicht-Ich ist, was nicht meine Verhaltungsweise ist, gezwungen werde, nach dem Verlauf des ganzen Prozesses zu Dingen zu kommen, und zwar zu so (oder so) bestimmten Dingen? Oder verhält es sich so, daß ich da beständig in der ursprünglich vorgegebenen Situation etwas von mir selbst hinzugebe und deute, umdeute, konstruiere und forme usw., und erst nach all dem die (so und so) bestimmte Erscheinungswelt habe? Von dort aus muß man anfangen, von dem aus, was Husserl viel später "passive Synthese" nannte - wo ich noch gar nicht aktiv bin, wo ich eigentlich noch keine wirklich bewußt durchgeführten Erkenntnisakte und Operationen vollziehe. Zunächst fließe ich ganz passiv, und da synthetisiert sich mir etwas, synthetisiert sich mir so, daß ich gezwungen werde, etwas zu meinen und zu vermeinen. - Oder ist es im Gegenteil so, daß ich das, was ich da zunächst vorfinde, sozusagen auf mein Gewissen umforme, umdeute, ausdeute usw.? Von dort aus, also in der umgekehrten Richtung, muß man ausgehen, um allererst zu zeigen, daß sich das, was sich da konstituiert, wirklich konstituieren mußte, ohne daß ich etwas verfälscht habe, ohne daß ich etwas willentlich oder nicht-willentlich hinzukonstruiert habe. Zum Schluß möchte ich noch etwas sagen, was Husserl nicht direkt betrifft, aber doch mit Husserl und seinem Idealismus in engstem Zusammenhang steht. Wir wissen noch nicht, wie die ganze Arbeit Husserls aussieht, denn höchstens 20-30 Prozent dessen, was er erarbeitet und zurückgelassen hat, ist publiziert worden. Der Rest aber ist zur Zeit noch nicht publiziert und kann noch nicht gelesen werden. Aber wenn wir uns bloß auf die bereits publizierten oder noch besser auf die von Husserl selbst veröffentlichten Schriften beschränken und uns jetzt zu Bewußtsein bringen wollen, was ei-

290

Zehnte

Vorlesung

gentlich geleistet wurde, dann müssen wir feststellen: Die (idealistische) These wurde aufgestellt und zahlreiche Materialien wurden gesammelt; es gibt aber trotzdem enorme Lücken in der Beweisführung, in der Begründung der Thesen durch konkret durchgeführte Analysen. Was soll man in dieser Situation machen? Soll man einfach sagen: "Die Lösung ist falsch! - da sind diese und jene Fehler gemacht worden!" Und soll man sich damit schon begnügen? Natürlich, wenn falsche Analyseergebnisse da sind, wenn man z.B. Seinsweise und Erscheinungsweise miteinander vermengt, und wenn dies oder jenes über verschiedene Seinsweisen behauptet wird, wo doch bloß festgestellt wird, daß verschiedene Erscheinungsweisen vorhanden sind dann muß natürlich auch kritisiert werden. Aber das Erste und Wichtigste ist: Zu suchen, wo es in den Betrachtungen Lücken gibt; wo etwas behauptet wird, ohne daß man dazu entsprechende Analysen als Argument vorlegen kann; wo Begriffe stehen, die wir so oder anders deuten können oder die wir nicht verstehen, weil nicht gesagt wird, womit man es eigentlich zu tun hat wie dies heute z.B. mit Bezug auf den Begriff des absoluten Wesens von etwas besprochen wurde. Was habe ich persönlich angesichts der Husserlschen Ausführungen zu machen versucht? Ich konnte mich mit der "idealistischen" Entscheidung, von der ich da gesprochen habe, nicht zufriedenstellen, war nicht damit zufrieden, konnte das nicht annehmen. Nun, ich habe schon im Sommer des Jahres 1918 einen umfangreichen Brief an Husserl geschrieben 33 - der einzige übrigens, der noch existiert, weil das zugehörige Konzept zufällig erhalten blieb - über das, was ich damals bei ihm nicht mitmachen konnte, bzw. welche von seinen Thesen ich nicht anerkennen konnte. Damit war sozusagen die Front gezogen, und dann wurde gesucht. Ja, was soll ich jetzt dazu sagen? Nun, das war im Jahre 1918 - es sind also schon bald 50 Jahre her -, und fast die ganze Zeit hindurch habe ich mich mit jener Ergänzung der Lücken beschäftigt, die ich in Husserls Ausführungen (als schmerzlich) empfand. Ich kann Ihnen das natürlich jetzt nicht entwickeln; die Ergebnisse liegen gedruckt vor und sind zum Teil auch in fremden Sprachen zugänglich. Ich will Ihnen hier nur ein Beispiel geben. Husserl sagte: "Wenn ich eine immanente Wahrnehmung von meinem sinnlichen Wahrnehmen habe,

33

Vgl. Ingarden (1972c).

Der transzendentale

Idealismus

(III)

291

dann ist es ganz zweifellos, daß dieses sinnliche Wahrnehmen, das ich jetzt immanent erfasse, existiert. Es wäre Widersinn, daran zu zweifeln." Das ist Husserls These. Nun, falls ich weiß, daß ich jetzt eine immanente Wahrnehmung von meinem sinnlichen Wahrnehmen vollzogen habe, (falls ich weiß), daß das wirklich eine immanente und keine transzendente Wahrnehmung ist, daß ich da (wirklich) auf das reine Bewußtsein und nicht auf das psychische, also das reale, zur Welt gehörende (Bewußtsein) gerichtet bin wenn es so ist, dann kann ich (der These) zustimmen, daß da zweifellos auch die sinnliche Wahrnehmung, die wahrgenommen wurde, existiert, und daß sie so bestimmt ist, wie ich sie wahrnehme. Wie soll ich es aber wissen, daß es wirklich eine immanente Wahrnehmung ist, die sich jetzt in mir vollzieht? Darauf sagt Husserl: Man kann da doch eine immanente Wahrnehmung der immanenten Wahrnehmung zu Hilfe nehmen. [Aber wenn man auf die Möglichkeit einer immanenten Wahrnehmung der immanenten Wahrnehmung rekurriert, droht ein regressus in infinitum - wenn dies überhaupt vorkommt, daß es mir gelingt, eine immanente Wahrnehmung der immanenten Wahrnehmung ... von der immanenten Wahrnehmung zu vollziehen.] 34 Denn gewöhnlich muß da Schluß gemacht werden; vielleicht kann die dritte Stufe noch erreicht werden, was da aber noch Neues ist, wissen wir nicht. Man muß einfach abschließen und sagen: Es ist nichts weiteres zu machen, diese η-te immanente Wahrnehmung ist einfach richtig. Also entweder hat man einen regressus in infinitum, was wissenschaftlich unbefriedigend ist, oder man hat eine petitio principii,

d.h. man hat vorausgesetzt, das die

Wahrnehmung immanent ist und daß sie existiert, ohne weiter danach zu fragen. Nun, da dachte ich mir, das ist nicht möglich, das ist wissenschaftlich nicht in Ordnung. Ich muß damit rechnen, daß da eine Gefahr besteht, entweder die Gefahr eines regressus' oder die Gefahr einer petitio principii. Und da habe ich einst eine kleine Abhandlung "Über die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie" 35 geschrieben und versuchte da etwas zu ergänzen. Vielleicht ist es nicht gelungen, das ist natürlich mög-

34

V.d.Hg. statt Und da ist jetzt die Möglichkeit der immanenten Wahrnehmung der immanenten Wahrnehmung usw., regressus

in infinitum,

sobald es überhaupt mir passiert hat,

daß es mir gelungen ist, immanente Wahrnehmung von der immanenten Wahrnehmung von der immanenten Wahrnehmung ... zu vollziehen. 35

Ingarden (1921b).

292

Zehnte

Vorlesung

lieh. Aber ich sagte mir: Ich brauche nicht eine immanente Wahrnehmung der immanenten Wahrnehmung zu vollziehen, weil es mir genügt, daß ich die immanente Wahrnehmung und die äußere Wahrnehmung einfach durchlebe. 36 Wenn ich das Durchleben habe, dann brauche ich nicht etwas vorauszusetzen, also brauche ich keine petitio zu begehen. Es besteht ein Ausweg aus dieser Gefahr, ein Ausweg ohne regressus

und ohne petitio.

Denn wenn ich mein Denken jetzt durchlebe, so ist es kein zweites Erleben, sondern es ist ein Erleben, ein Denken, das in sich selbst Selbstbewußtsein ist. Vielleicht habe ich nicht recht, vielleicht ist meine Lösung eine Konstruktion, vielleicht ist sie eine Dichtung. Aber es kommt mir (jetzt) nur darauf an: Wenn man aus solchen Schwierigkeiten, die bei Husserl einfach stehen gelassen wurden, einen Ausweg suchen will, dann muß man versuchen, gerade solche Analysen wie die über das Durchleben zu machen. Noch ein zweites Beispiel. Husserl sagt: "Realität ist ihrem Wesen nach unselbständig." (Das ist ein Ausdruck von Husserl!) Das ist eigentlich alles, was Husserl über die Realität gesagt hat, daß sie unselbständig in Bezug auf das reine Bewußtsein sei. Das sei die Seinsweise der Realität. Und die zweite Seinsweise sei die Seinsweise des Bewußtseins, [das] 37 eben selbständig sei, ein selbständiges Sein sei. Hier empfinde ich wiederum eine Lücke in der Klärung der verschiedenen Seinsweisen bzw. des Sinnes der Realität. Ist es wirklich so, daß das Reale seinsunselbständig auf etwas anderes sein muß? Nun, da muß ich (die Bedeutung von) Termini wie 'seinsselbständig', 'seinsunselbständig', 'seinsautonom', 'seinsheteronom' eindeutig festlegen. Das muß ich klären, da zunächst eine Analyse durchführen, damit ich mir auf dieser Grundlage [allererst] 38 wirklich bestimmte Begriffe des Seins oder der Seinsweise bilden kann. Ich darf mich nicht immer mit dem: "Ach, ich weiß schon, worum es sich handelt" begnügen. Ich meine, wenn man versucht, solche Analysen durchzuführen und schließlich zum Ergebnis kommt, daß Husserl gerade nicht recht hatte, sondern daß diese (unsere) Ergebnisse besser sind, dann wirkt man im Sinne Husserls nicht gegen ihn, sondern für ihn - indem man seine Theorie besser 36

[Ingarden) Ich habe schon oben gesagt, was da unter dem Durchleben der Erlebnisse zu verstehen ist [Hg.: Vgl. oben Vorlesung V],

37

V.d.Hg. statt die.

38

V.d.Hg. statt allererst] irgendwie.

Der Iranszendentale Idealismus (III)

293

ausbaut. Und dann werden noch Andere kommen, die wiederum verbessern, was da gemacht wurde und eventuell schlecht war. Dann liegt eben eine wirkliche Begründung, Vertiefung der Theorie und Klärung vor. Und wenn es da zu Konflikten mit Husserls Thesen kommt, so ist dies etwas ganz Natürliches. Man kann nicht alles auf einmal wissen, sondern man muß die Sachen langsam analysieren und sich selbst eventuell zehnmal korrigieren. Das mit der sogenannten "eidetischen" und "apriorischen" Erkenntnis usw. - das ist ein schönes Ideal, [das man sich macht] 39 , das man aber nicht sogleich erreicht. Man kann da auch Fehler machen, und über die Fehler wird man zu etwas Besserem kommen. Das also sind die Ausblicke, die sich ergeben, wenn man einerseits von Husserl sehr viel gelernt und bekommen hat, andererseits einem aber zum Bewußtsein kommt, daß man doch nicht alles unterschreiben kann - wenn man sich entschieden hat, für Husserl gegen seine Behauptungen zu kämpfen. A l s o das ist alles, was ich Ihnen in diesen Vorlesungen sagen wollte. Und natürlich bin ich mir wohl bewußt, daß alles, was ich hier gesagt habe, nur Anfänge sind. Und ich habe es bloß deswegen getan, weil ich glaube, daß dies alles für meine verehrte Zuhörer bei den eigenen Studien von Husserls Werken nützlich sein wird. Vielleicht werden Sie später zum Ergebnis kommen, daß ich hier viel Falsches über Husserl gesagt habe. Aber bitte schön, dies alles ist gesagt worden, um es mit Husserls Behauptungen konfrontieren zu können. - Zum Schluß möchte ich allen Anwesenden noch herzlich dafür danken, daß Sie so lange Zeit ausgehalten und diese schwierigen Sachen mit mir zusammen durchdacht haben.

•JQ

Jy

V.ä.Hg. stau zu dem man kommt.

ANHANG

1.

Zur Textgeschichte

Im Herbst 1966 hat Roman Ingarden auf Einladung der Universitäten von Oslo und Bergen Vorträge zum allgemeinen Thema " Die Erkenntnis des literarischen Kunstwerks" gegeben (vgl. A. Aarnes, "Roman Ingarden en Norvège", Revue de Métaphysique et de Morale, 72/3(1967), 332-343). Ingarden hat dabei sein Publikum so nachhaltig beeindruckt, daß er ein Jahr später - auf die Initiative von Prof. Asbj0rn Aarnes - erneut nach Oslo eingeladen wurde, um einerseits (unter dem Titel: "Einführung in die Theorie der Kunst und die damit verbundenen ästhetischen Probleme") über phänomenologische Ästhetik und andererseits über Husserls Phänomenologie zu lesen (vgl. J. Nygaard, "Druga wizyta Romana Ingardena w Norwegii" (Ingardens zweiter Besuch in Norwegen), in: Fenomenologia Ingardena. Wydanie specjalne

"Studiów Filozoficznych",

Romana

Warszawa 1972,

503-506). So hat Ingarden die "Osloer"-Vorlesungen, die - unter dem Titel: "Zehn Vorlesungen zu Husserls Phänomenologie" angekündigt - nach Ingardens eigenen Worten eine "Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls" geben sollen, in der Zeit vom 15. September bis zum 17. November 1967 an der Universität Oslo, in deutscher Sprache gehalten. ' Ingarden hat diese Vorlesungen, die auf Tonband aufgenommen wurden, ohne ein ausformuliertes Manuskript gehalten. Der Urtext, vom Autor eigenhändig verbessert, liegt in Form eines aufgrund dieser Tonbandaufnahme angefertigten Typoskripts vor (fortan: "TypA")· Dieses von Ingarden später mehrfach überarbeitete und mit handschriftlichen Einträgen (Zusätze, Tilgungen, Verbesserungen) versehene Typoskript bildete die Text-Grundlage für die norwegische Edition von Per Fr. Christiansen (vgl. R. Ingarden, Innf0ring i Edmund Husserls Fenomenologi,

übersetzt und herausgegeben

von Per Fr. Christiansen, Oslo 1970). Teile der Vorlesungen V und VI sowie der Vorlesungen VII-IX wurden in einer deutschen Bearbeitung von A.T. Tymieniecka 1970 resp. 1976 in den Analecta

Husserliana publiziert (vgl.

Ingarden (1971a); (1976a)). In polnischer Übersetzung wurden die Vorlesungen im Jahre 1973 posthum von A. Póltawski herausgegeben (vgl. Ingarden (1974a)). Schließlich existiert eine unpublizierte deutsche Bearbeitung, die P. Taranczewski (Krakau) besorgt und im Jahre 1981 abgeschlossen hat (fortan: "Type")·

298

Für die vorliegende Edition verfügte der Herausgeber über den Urtext (TypA)> die Bearbeitungen von Tymieniecka, die polnische Ausgabe von Póltawski sowie über die Bearbeitung von Taranczewski (Typß). Wie entsprechende Textvergleiche gezeigt haben, enthalten die von Tymieniecka besorgten Teileditionen eine stattliche Anzahl von sachlichen Fehlern sowie von "Eingriffen", die - entgegen einer kritischen Editionspraxis - nicht kenntlich gemacht werden. Demgegenüber war die Bearbeitung von Taranczewski für den Herausgeber von größtem Wert. Im Vorwort von TypB lesen wir aber: "Bei der weiteren Arbeit [sc. an TypA. d. Hg.] wurde mir die polnische Übersetzung und Bearbeitung desselben Textes von Andrzej Póltawski eine große Hilfe. In Bezug der engen Verbindung der unmittelbaren Niederschrift der Vorträge, welche in unüberarbeiteter literarischer Form vorlagen, entschied ich mich für eine Anlehnung an die Ausgabe von Póltawski, weil diese bereits nötige Korrekturen und Kürzungen enthielt." Doch eine kritische deutsche Gesamtedition der "Osloer"-Vorlesungen durfte sich natürlich nicht derart an der posthumen polnischen Übersetzung von Póltawski orientieren. M.a.W.: Abgesehen davon, daß Type seinerseits in einer sprachlich nicht überarbeiteten Form vorliegt, mußte für die vorliegende Ausgabe TypA als maßgebliche Text-Grundlage gewählt werden.

2

Editorische Richtlinien

2.1

Zur sprachlichen und sachlichen Bearbeitung

Bei der sprachlichen Bearbeitung von T y p ^ (vgl. oben zur Textgeschichte) war die Maxime leitend, möglichst wenig in den Text einzugreifen. Insbesondere sollten allgemeine stilistische Eigenheiten Ingardens sowie auch solche sprachliche Eigenheiten, die sich aus der gesprochenen

Rede

(Vorlesungen) ergeben, möglichst gewahrt bleiben. Trotzdem mußte an zahlreichen Stellen - entweder zugunsten der Verständlichkeit (z.B. Abtrennung von kilometerlangen Parataxen) oder aber in Fällen, wo Ingardens Deutsch allzu eigenwillig klingt bzw. grammatikalisch unkorrekt ist - mehr oder weniger stark eingegriffen werden. Alle diese sprachlichen Eingriffe tangieren aber den Sinn von Ingardens Ausführungen nicht. An mehreren Stellen m u ß t e jedoch auch unter sachlichen Gesichtspunkten eingegriffen werden. Es handelt sich entweder um Zusätze des Herausgebers, die den Sinn von Ingardens Ausführungen verdeutlichen sollen, oder aber um Änderungen des Urtextes, die Unklarheiten beheben sollen oder falsche Informationen (z.B. betreffs Jahreszahlen) korrigieren. Sämtliche Eingriffe des Herausgebers in der Schlußredaktion kenntlich zu machen, hätte die Lesbarkeit der Vorlesungen extrem und (ohne sachlichen Gewinn) über Gebühr strapaziert und zudem die textkritischen Anmerkungen mit sachlich Unwichtigem überlastet. Wir haben uns deswegen entschlossen, sprachliche Eingriffe des Herausgebers, die unter (mindestens) eine der nachfolgend aufgezählten "Kategorien" fallen, textkritisch

nicht

nachzuweisen: Korrekturen betreffs Orthographie, Interpunktion, Kasus und Tempus; Bloße Umstellung von W ö r t e r n und W o r t g r u p p e n (mit eventueller Kasusangleichung); Abtrennung langer (meist parataktischer) Satzgefüge (mit eventuell eingefügten nominalen oder pronominalen Anschlüssen); -

Tilgung von inhaltlich eindeutig unerheblichen (Füll-)Wörtern; Inhaltlich eindeutig unerhebliche, aufgrund grammatikalischer und/oder stilistischer Erwägungen vorgenommene Abänderungen bzw. Ergänzungen:

300

-

Korrekturen von Aufsatz- und Buchtiteln; Verwendung einfacher Anführungszeichen für die suppositio materialis von Ausdrücken (sc. Anführungsausdrücke).

Demgegenüber wurden im Vorlesungstext selbst sämtliche Eingriffe des Herausgebers kenntlich gemacht, die sachlich (gegebenenfalls mehr oder weniger) relevant sind und jedenfalls auch vom Leser als Eingriffe des Herausgebers erkannt werden sollten. Für alle Eingriffe von dieser Art gilt: Zusätze des Herausgebers wurden in der Schlußredaktion durch

schräge

Klammern () markiert, und Änderungen des Textes von TypA wurden in der Schlußredaktion durch eckige Klammern ([.])angezeigt. Außerdem gibt es zu jedem in eckigen Klammern stehenden Ausdruck eine erklärende Anmerkung, wo gegebenenfalls die zugehörige Textvariante aus Typ A (bisweilen zusätzlich Type) hergesetzt wird. Falls also spezielle Angaben fehlen, stammen alle diese Textvarianten aus Typ^. Die übrigen Anmerkungen enthalten entweder

bibliographische

Angaben (wobei die von Póltawski und Taranczewski stammenden Angaben in den meisten Fällen korrigiert oder ergänzt werden mußten) oder aber (und zwar in der Hauptsache) "Querverweise" auf Schriften Ingardens, die nach dem Verständnis des Herausgebers für die jeweilige Stelle der Vorlesungen besonders wichtig oder zumindest informativ sind.

2.2

Zur Gestaltung der Anmerkungen

Die Anmerkungen werden pro Vorlesung durchnummeriert. Die (seltenen) Anmerkungen, die von Ingarden selbst stammen, werden nach dem folgenden Muster angezeigt: *)[Ingarden]. Analog werden jene (ebenfalls seltenen) Anmerkungen behandelt, die von Póltawski stammen und die mehr als bloße bibliographische Angaben enthalten. Alle übrigen Anmerkungen stammen vom Herausgeber und werden nicht besonders markiert. Grundsätzlich werden (um unübersichtliche Rückverweise mit Abkürzungen wie 'a.a.O.', 'ibid.' zu vermeiden) alle bibliographischen Angaben, Nachweise usw. in den einzelnen Anmerkungen vollständig gegeben. Ausnahmen von dieser Regel werden unten im Abschnitt "3. Literatur- und Abkürzungsverzeichnis " aufgeführt.

3.

Literatur- und Abkürzungsverzeichnis

Schriften Ingardens werden hier auf der Grundlage von der in: R. Ingarden, Selected Papers in Aesthetics,

ed. by Peter McCormick, München 1985

enthaltenen Bibliographie aufgelistet. Ingardens Schriften sind in zwei Gruppen unterteilt: in eine (vollständige) Gruppe von monographischen Studien zu Husserl und in eine Gruppe von sonstigen, im kommentierenden Anmerkungsteil häufiger berücksichtigten Schriften.

3.1

Ingardens Monographische Studien zu Husserl

1915:

Rezension von: E. Husserl, Logische

Untersuchungen,

in: Przeglqd Filozoficzny 18(1915)/3-4,305-311. 1928/29a:

"Idealizm transcendentalny E. Husserla" [E. Husserls transzendentaler Idealismus], Ruch Filozoficzny

9(1928-29)/l-10,

167-168. 1928/29Ò:

"Zagadnienia tkwiqce w problematiyce idealizmu i realizmu" [Im Idealismus- und Realismus-Problem inhärente Fragen], Ruch Filozoficzny 9(1928-29)/l-10,168-169.

1933:

Rezension von: E. Husserl, Formale und transzendentale

Lo-

gik, in: Kantstudien 37(1933)/l-2, 206-209; neugedruckt in: H. Noack (Hrsg.), Husserl, Darmstadt 1973, 168-173; Erweiterte polnische Fassung in Ingarden (1963). 1934:

"Edmund Husserl, twórca fenomenologii" [Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie], Wiadomosci

Literackie

11(1934)/41,4. 1939/45:

"Glówne linie rozwoju pogl^dów filozoficznych Edmunda Husserla" [Hauptlinien in der Entwicklung der philophischen Anschauungen Edmund Husserls], Przeglqd

Filozoficzny

42(1939-45)/2,25-76; Neue Fassung in Ingarden (1963). 1950:

"Kritische Bemerkungen zu Husserls Cartesianischen Meditationen", in: Edmund Husserl, Cartesianische Mediationen, 2 Husserliana I, Den Haag 1950, 1963,203-218; Erste vollständige Ausgabe (auf Polnisch) Ingarden (1982).

1958:

"Le problème de la constitution et le sens de la réflexion constitutive chez Edmond Husserl", in: Husserl,

Cahiers de

302

Royaumont, vol. 3, Paris 1958, 242-264; Polnische Übersetzung in Ingarden (1963). 1958/59·.

"Edmund Husserl zum 100. Geburtstag", Zeitschrift für philosophische

Forschung

13(1958-59)/3, 459-463; Polnische

Übersetzung in Ingarden (1963). 1959:

"Über den transzendentalen Idealismus bei E. Husserl", in: Husserl et la pensée moderne. Actes du II-ième Colloque International de Phénoménologie,

Krefeld 1956, Den Haag 1959,

190-204/204-215 (französische Übersetzung);

Polnische

Übersetzung in Ingarden (1963). 1963:

Ζ badañ nad filozofiq

wspólczesnq [Studien zur zeitgenössi-

schen Philosophie], PWN, Warszawa: 1963. 1964a:

"Fenomenologia" und "Edmund Husserl", in: Wielka Encyklopedia PWN, Warszawa 1964, Bd. 3,616 und Bd. 4,776.

1964b:

"Husserls Betrachtungen zur Konstitution des physikalischen Dinges", Archives de Philosophie 27(1964), 356-407; neugedruckt in: Archives théoriques,

de l'Institut

International

No. 13: La phénoménologie

des

Sciences

et les sciences de

la nature. Colloque de l'Academie internationale des Sciences 2.-4. Septembre 1963, Fribourg 1965,35-87. 1967:

"Przedmowa" [Einleitung] zu: Edmund Husserl, Idee czystej fenomenologii

i fenomenologicznej

filozofii. Ksiçga pierwsza,

[Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie phänomenologischen

und

Philosophie. Erstes Buch], Przelozyla D.

Gierulanka [übersetzt von D. Gierulanka], PWN Warszawa 1967;21975, XIII-XXIV. 1968a:

"Meine Erinnerungen an Husserl" und "Erläuterungen zu den Briefen Husserls", in: Edmund Husserl, Briefe an Roman Ingarden. Mit Erläuterungen

und Erinnerungen

an

Husserl,

Den Haag 1968, 106-135 und 136-184; vgl. polnische Übersetzung Ingarden (1981). 1970:

"Co jest nowego w ostatniej pracy Husserla?" [Was ist neu in Husserls letztem Werk?], Studia Filozoficzne Englische Übersetzung Ingarden (1972b).

1970/4-5, 3-14;

303 1971a:

"Die vier Begriffe der Transzendenz und das Problem des Idealismus", Analecta Husserliana 1(1971), 36-74; Polnische Übersetzung in Inngarden (1974a).

1972a:

"Filozofia Edmunda Husserla" [Die Philosophie Edmund Husserls], in: Fenomenologia specjalne

Romana

"Studiów Filozoficznych"

Ingardena.

Wydanie

[Die Phänomenologie

Roman Ingardens, Sonderausgabe der Studia

Filozoficzne],

Warszawa 1972,5-17. 1972b:

"What is New in Husserl's Crisis?", Analecta

Husserliana

2(1972), 23-47; vgl. Ingarden (1970). 1972c:

"Der Brief an Husserl über die VI. Logische Untersuchung und den Idealismus", Analecta Husserliana 2(1972), 357-374; Polnische Übersetzung in Ingarden (1963); englische Übersetzung Ingarden (1976c).

1973a:

"A Priori Knowledge in Kant versus A Priori Knowledge in Husserl", Dialectics and Humanism 1973, Autumn, 5-18.

1973b:

"About the Motives that led Husserl to Transcendental Idealism", in: D. Riepe (ed.), Phenomenology and Natural Science, Albany NY 1973, 95-117; Teilübersetzung aus Ingarden (1963); vollständige Übersetzung Ingarden (1976b).

1974a:

Wstçp do fenomenologii

Husserla [Einführung in die Phäno-

menologie Husserls], Ubersetzt von A. Póltawski, PWN, Warszawa 1974. 1976a:

"Probleme der Husserlschen Reduktion", Analecta

Husser-

liana 4(1976), 1-71; vgl. Ingarden (1974a). 1976b:

On the Motives which led Edmund Husserl to Transcendental Idealism,

übersetzt von A. Hannibalsson, The Hague 1976;

Übersetzung aus Ingarden (1963); vgl. Ingarden (1973b). 1976c:

"The Letter to Husserl about the VI Logical Investigation and Idealism", übersetzt von H. Girndt, Analecta

Husserliana

4(1976), 419-438; Übersetzung von Ingarden (1972c); Polnische Übersetzung Ingarden (1963). 1981:

"Moje wspomnienia o Edmundzie Husserlu" [Meine Erinnerungen an Edmund Husserl], übersetzt von Z.H. Mazurek/St. Jurzycki, Studia Filozoficzne (1968).

1981/2(182), 3-24; vgl. Ingarden

304

1982:

"Uwagi krytyczne Romana Ingardena do Medytacji jahskich"

kartez-

[Roman Ingardens kritische Bemerkungen zu den

Cartesianischen Mediationen], in: Edmund Husserl, Medytacje kartezjahskie, übersetzt und herausgegeben von A. Wajs, PWN, Warszawa 1982,237-291; vgl. Ingarden (1950).

3.2 1921a:

Andere Schriften Ingardens Intuition und Intellekt bei Henri Bergson. Darstellung und Versuch einer Kritik, Halle a.d.S. 1921; und in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung 5(1922), 286-

461. 1921b:

"Über die Gefahr einer Petitio Principii in der Erkenntnistheorie", Jahrbuch für Philosophie und

phänomenologische

Forschung, 4(1921), 546-568. 1925a:

"Essentiale Fragen. Ein Beitrag zum Problem des Wesens", Jahrbuch

für Philosophie

und phänomenologische

For-

schung 7(1925), 125-304. 1925b:

Über die Stellung

der Erkenntnistheorie

im System

der

Philosophie, Halle a.d.S. 1925; Polnische Fassung in Ingarden (1971b). 1929:

"Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus", Jahrbuch für Philosophie Ergänzungsband,

und phänomenologische

Forschung.

Festschrift, Edmund Husserl zum 70. Ge-

burtstaggewidmet, Halle a.d.S. 1929,159-190. 1930 :

"Psycho-fizjologiczna teoria poznania i jej krytyka" [Die psychophysiologische Erkenntnistheorie und ihre Kritik], Ksiçga Pamiqtkowa

Gimnazjum im. K. Szajnochy, Lwow 1930; vgl.

Ingarden (1971b). 1931a:

Das literarische

Kunstwerk.

Eine Untersuchung

Grenzgebiet der Ontologie, Logik und

aus dem

Literaturwissenschaft,

Halle a.d.S. 1931. 1931b:

"Niektóre zalozenia idealizmu Berkeleya" [Einige Voraussetzungen von Berkeleys Idealismus], Ksiçga

Pamiqtkowa

Polskiego Towarzystwa Filozoficznego, Lwow 1931, 215-258.

305 1935:

"Vom formalen Aufbau des individuellen Gegenstandes", Studia Philosophica 1(1935), 29-106.

1936 :

"Der logistische Versuch einer Neugestaltung der Philosophie. Eine kritische Bemerkung", Actes du Vlllième Congrès International de Philosophie à Prague, Prague 1936, 203-208.

1962:

"Bemerkungen zum Problem der Begründung", Studia Logica 8(1962), 153-176.

1964c.

Der Streit

um

die Existenz

der

Welt.

Band

1: Exi-

stentialontologie, Tübingen 1964. 1965a:

Der Streit um die Existenz

der Welt. Band II/l:

For-

malontologie. Erster Teil: Form und Wesen, Tübingen 1965. 1965b:

Der Streit um die Existenz malontologie.

Zweiter

der Welt. Band

11/2: For-

Teil: Welt und Bewußtsein,

Tübin-

gen 1965. 1968b:

Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Darmstadt 1968.

1969:

Erlebnis, Kunstwerk und Wert. Vorträge zur Ästhetik 19371967, Darmstadt 1969.

1971b:

U podstaw

teorii poznania

[Zur Grundlegung der Er-

kenntnistheorie], PWN, Warszawa 1971. 1974b:

Der Streit um die Existenz der Welt. Band III: Die kausale Struktur der realen Welt, Tübingen 1974.

3.3

Abkürzungen

a) Werke Ingardens: gemäß Literaturliste 3.1; b) Typ¿. für den Urtext der Vorlesungen; c) Typß. für die deutsche Bearbeitung der Vorlesungen von Taranczewski; d) Husserliana: für E. Husserl, Gesammelte Werke. Aufgrund des Nachlasses veröffentlicht in Gemeinschaft mit dem Husserl-Archiv an der Universität Köln vom Husserl-Archiv (Louvain), Den Haag 1950 ff. (z.B.: Husserliana I (hrsg.v. R. Boehm), Den Haag 1950,157); e) Jahrbuch: für Bände aus dem Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung (z.B. Jahrbuch 1(1913), 156).

Personenverzeichnis Aarnes, Α. IXn, 295

Cohen, H. 55

Ajdukiewicz, Κ. 224n

Comte, Α. 60, 72, 73

Ameriks, K. XXIn, XXIIn

Conrad, Th. 52η

Avé-Lal!emant, Ε. ΧΙΧη, 35n, 39n,

Conrad-Martius, H. XVIIn, 43-45,

44n, 156n, 162n

52η, 105, 108, 162f„ 260

Aristoteles 30,51, 192ff„ 256 Avenarius, R. 85,90, 110

Daubert,J. 35

Angelelli, I. 20n

Descartes, R. 13, 22, 24, 63, 78, 156f„

Augustinus 119n

183, 200ff„ 227, 229, 267 Dilthey, W. 3 , 4 1 , 4 9 , 50, 69f.

Bell, W. 52n

Doppler, Chr. 167, 168

Berg, J. 21n

Dreyfus, H L. XXIIn

Berger, Κ. 38n

Duhem, P. 93, 168

Bergson, H. 15, 22, 24, 65, 66, 94,

Duns Scotus 197

118, 127, 145, 147-152, 156, 157, 159, 171,253ff., 285, 289

Ebeling, H. 6n, 2I4n

Berkeley, G. 13, 64, 302

Eddington, A.S. 136

Bernet, R. 14n, 15n, 173n

Eley, L. 10η

Biemel, Μ. 12n, 13n Biemel, W. 2n, 6n, 7n, 50n, 69n, 177n,

Fraunhofer, J. von 167, 168

178η, 179η, 181n, 183n, 184n,

Fechner, G.Th. 18

188n, 213n, 277n

Fermât, P. 207

Boehm, R. 15n, 16n, 150n, 303

Fichte, J.G. 54, 59, 171

Bohr, N. 136, 225

Findlay, J. XXIn

Bolzano, Β. 20f.

Fischer, K. 53

Brentano, F. 11, 17-19, 22, 27, 48, 56,

Fleischer, M. 7n, 145n

60, 73,90,99-101, 104, 120,

Frankfurter, U. 52n

121, 155, 171,200, 231 f., 235,

Frege, G. 20, 21

243, 248

Fresnel, A.J. 93 Frings, M.S. In, 39n, 48n

Cairns, D. 33 Carnap, R. 172

Galilei,G. 45

Cassirer, E. 55

Geiger, M. 8, 9, 35, 38

Chisholm, R.M. 120n

Gerber, L. 48n

Christiansen, Fr. 295

Gierulanka, D. 300

Claesges, U. 15n

Girndt, H. 301

Clemens, R. 52n

Gladiator, R. ΧΙΧη, 156n

308 Goethe, J.W. von 197 Grimme, Α. 173η Gurwitsch, Α. 33

Kant, I. 1,9, 1 3 , 2 1 , 3 0 , 5 4 , 5 5 , 5 6 , 57ff., 70, 102, 147-152, 156, 169-171, 176f„ 227, 282 Katz, D. 42, 89

Haefliger, G. ΧΙΙΙη, XXIVn

Kaufmann, F. 51, 52η

Hall, H. XXIIn, 1,89, 112, 302

Kern, I. 6n, 14η, 15η, 56η, 173η, 214η

Haller, R. 25n

Körner, St. 120η

Hannibalsson, A. 301

Kopernikus 45

Hartmann, M. 27

Koyré, Α. XVIIn, 34, 45, 46, 52η

Hartmann, N. 39, 55, 56n

Kraus, Ο. 17η

Hegel, G.W.F. 1, 54, 59, 171, 236n

Kuhn, Η. XIXn,156n

Heidegger, M. 4, 5, 7, 8, 9, 15, 33, 34,

Küng, G. ΧΙΧη, XXIn, 155n, 156n,

41,50, 59, 139, 161, 170, 222

238n, 239n

Heller, Ε. 35n Helmholtz, H. von 18,93, 167n

Landgrebe, L. 12, 190n, 213, 222n

Henckmann, W. 38n

Lange, F.A. 54

Hering, E. 108

Lask, E. 4

Hering, J. XVIIn, 34, 45f„ 52n

Leibniz, G.W. 26

Herrmann, F.-W. von 50n

Leuven, R. 48n

Hilbert, D. 38

Lévinas, E. 6n

Hildebrand, D. von 9, 33, 35

Liebert, A. 6

Hitler, A. 7

Liebmann, 0 . 5 4

Hofmann, H . 4 1 f „ 162

Lipps, H. 51, 52η

Holenstein, Ε. 1 η

Lipps, Th. 3, 34, 35, 36,48, 267

Holl, J. 6n,214n

Locke, J. 23, 24,60, 63,64, 83,90,

Holmes, R. XXIIn

141,275

Holzhey, Η. 55n

Low, F. 35n

Hume, D. 13, 24, 43, 100, 103, 104,

Lotze, H. 1 8 , 4 5 , 4 6

105 Husserl, E. passim

Mach, E. 18, 64, 65, 85,90, 93, 135 Me Cormick, P. 238

Ingarden, R. passim

Marbach, Ε. 14η, 15η, 154η, 173η Marcel, G. 7

James, W. 2 3 , 6 5 , 6 6

Marty, Α. 27,120η

Janet, P. 201, 202

Mazurek, Z.H. 301

Janssen, P. 5n

Meinong, Α. 25, 26, 56, 205

Jurzycki, St. 301

Merleau-Ponty, M. 7, 33, 34 Meyer, R. 51 η

Kambartel, F. 21 η

Mickiewicz, Α. 202

Personenverzeichnis

309

Mill, J.St. 17,64

Schopenhauer, A. 59, 171

Morriston, W. XXHn

Schröder, E. 10, 20

Mulligan, K. XVIIn, 35n, 43n

Schuhmann, Κ. ΧΙΙη, XVIIn, XXVIIn,

Müller, Ε. 10η

2η, 9η, 12η, 35η, 43η, 66η,

Müller, G.E. 41, 42, 60, 61

71η, 75η, 138η, 139η, 140η,

Natorp, P. 55,56, 171, 172

205η, 232η 242η, 257η

158η, 159η, 173η, 193η, 201η, Noack, H. 5In, 55n, 299

Schütz, Α. 33

Nenon, Th. 11 η

Sepp, H.R. 11η

Nygaard, J. 295

Simmel, G. 54 Smith, Β. XXVIIn, 9η, 35η, 43η, 156η

Ortmann, M. I73n

Sokolowski, R. ΧΧΙΙη Spiegelberg, Η. 43η

Panzer, U. 1 η, 154n

Spi leers, S. 173η, 174η

Pawlow, I.P. 73

Spinoza, Β. 186

Peiffer, G. 6n

Stein, Ε. XVIIn, 4, 11, 15, 46-51,213

Pfänder, A. 1, 8, 9, 34, 35, 36-38, 43n, 204, 205

Strasser, S. 6n, 213η Stumpf, C. 120η

Pivcevic, E. XXIn Planck, M. 136

Taine, Η.-Α. 65

Platon 24, 25, 26, 263

Taranczewski, P. 296, 298, 303

Poltawski, A. 153n, 188n, 295, 296,

Tavuzzi, P. 65n

298, 301

Thomas von Aquino 51 Twardowski, K. 23, 56, 90, 245

Rang, Β. 20n, 22n, 23n

Tymieniecka, A T. 33, 295, 296

Reinach, A. XVIIn, 3 , 4 , 9, 35f„ 42f„ 52n, 55, 223n, 224n

Van Breda, H.L. I20n, 243n

Rickert, H. 4

Van Kerckhoven, G. 6n, 2l4n

Ricoeur, P. 8

Volkelt, J. 48

Riepe, D. 301 Russell, B. 205

Wahl, J. 7, 34

Salmon, C.V. 50n

Wajs, A. 301

Sartre, J.P. 7, 33, 34, 176

Weierstraß, Κ. 17

Schapp, W. 39ff„ 89, 128, 134

Windelband, W. 4

Scheler, Maria 5n

Wundt, W. 18

Wallner, I.M. XXIIn, XXIIIn

Scheler, Max In, 2, 5, 8, 9, 26, 34, 37, 38f., 47, 55, 187, 189, 192 Schelling, Fr.W. 54, 59, 171

Zenon 43, 223n, 224n