Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Band 17 Frühe Vorlesungen im Exil: (1934-1935) 9783110251975, 9783110251968

This volume contains hitherto unknown lectures held by the Protestant philosopher and theologian Paul Tillich (1886–1965

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Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Band 17 Frühe Vorlesungen im Exil: (1934-1935)
 9783110251975, 9783110251968

Table of contents :
Vorwort
Editorischer Bericht
Historische Einleitung
1. Religionsphilosophie (Union Theological Seminary New York, Frühjahr 1934)
Einleitung
1. Die konkrete und die abstrakte Methode der Religionsphilosophie
2. Beispiele für die religiöse Lage der Gegenwart
a. Die religiöse Lage im Bereich der Politik
b. Die religiöse Lage im Bereich der Philosophie und Wissenschaft
c. Die religiöse Lage im Bereich der Kunst
d. Die religiöse Lage im Bereich der Ethik
3. Die Idee des Säkularismus
Erster Teil: Allgemeine Aspekte der Religionsphilosophie
Einleitung. Die Logik der Gegensätze
I. Das Heilige und das Profane
A. Fragen der Methode
(1) Die Methode von Rudolf Otto und die Trennung des Rationalen vom Irrationalen
(2) Die Methode Augustins und die dogmatische Methode
(3) Die rationale Natur des Menschen und die Idee der Freiheit
(4) Die Unmöglichkeit eines Systems der Kultur
(5) Der circulus vitiosus der empirischen Methode
II. Die Idee des Heiligen
(1) Das Heilige und das Wahre
(2) Das Heilige und das Gute
(3) Die Idee der Transzendenz
(4) Das Profane
(5) Der Gegensatz von heilig und profan
III. Religion und Kultur
(1) Der Begriff der Kultur
(3) Die drei Perioden in der Beziehung zwischen Religion und Kultur
(4) Die Idee der theonomen Kultur und der καιρός
Zweiter Teil: Spezielle Aspekte der Religionsphilosophie (nicht ausgeführt)
2. Einführung in die Existential-Philosophie (Columbia University, New York, Frühjahr 1934)
Einleitung
I. Hegels Wesensphilosophie und Schellings Angriff auf sie
II. Das politische Existenzverständnis der Junghegelianer
III. Kierkegaard
3. Lehre vom Menschen
3.1 Die Lehre vom Menschen. Skizze (Union Theological Seminary, New York, 1934/35)
3.2 Die Lehre vom Menschen (Union Theological Seminary, New York, 1934/35)
I. Der Bereich der Probleme: Die allgemeine und die spezielle Lehre vom Menschen
A. Der Mensch entfernt sich von sich selbst
B. Der Mensch sucht sich selbst fern von sich selbst
C. Der Mensch kehrt zu sich selbst zurück
D. Der Mensch findet sich und die Dinge in sich selbst
II. Allgemeine oder philosophische Anthropologie
A. Sich-selbst-Haben als ontologischer Charakter des Menschen
3.3 I. Die Lehre vom Menschen und die gegenwärtige Situation in Wissenschaft, Philosophie und Theologie (Union Theological Seminary, New York, 1934/35)
3.4 Die Lehre vom Menschen als der gegenwärtige Zugang zur Theologie (Union Theological Seminary, New York, 1934/35)
Gliederung
Einleitung
I. Die Endlichkeit des Menschen als der grundlegende Charakter menschlicher Existenz
A. Essenz und Existenz des Menschen
1. Die Lehre von der Essenz des Menschen als philosophische Lehre vom Menschen
2. Menschliche Freiheit und die Gefahr in der menschlichen Essenz
3. Menschliche Existenz und menschliche Endlichkeit
B. Die Grundqualitäten der menschlichen Endlichkeit
1. Angst oder Kontingenz
2. Verzweiflung und Schuld
II. Die menschliche Endlichkeit als Ausgangspunkt der Theologie
A. Die anthropologische Frage
B. Die theologische Antwort
3.5 Die Lehre vom Menschen. (Union Theological Seminary, New York, 1934/35)
Überblick über die Probleme, die zu bearbeiten sind
Erster Teil: Die gegenwärtige Situation der Lehre vom Menschen
Zweiter Teil: Die allgemeine Lehre vom Menschen
Dritter Teil: Die theologische Lehre vom Menschen
3.6 Die allgemeine und die theologische Lehre vom Menschen (Union Theological Seminary, New York, 1934/35)
Zweiter Teil: Die allgemeine Lehre vom Menschen
Dritter Teil: Die theologische Lehre vom Menschen
3.7 Die Lehre vom Menschen (Yale Divinity School, Yale University, New Haven, April 1935)
I. Die Lehre vom Menschen und die wissenschaftliche Erkenntnis von heute
II. Von der Freiheit des Menschen
III. Von der Endlichkeit des Menschen
IV. Anthropologische Fragen und theologische Antworten
3.8 Der Mensch im Christentum und im Marxismus (Universal Christian Council for Life and Work, Research Department, Dezember 1935)
I. Das Fehlen einer ausdrücklichen Anthropologie im Marx’schen Sozialismus und die Analogien im protestantischen Christentum
II. Die Grundideen der christlich-protestantischen Anthropologie als Material für den Vergleich mit der sozialistisch-marxistischen Anthropologie
III. Analogien zwischen der sozialistisch-marxistischen und der christlich-protestantischen Anthropologie
IV. Der Widerspruch zwischen der christlichen und der marxistischen Anthropologie
Personenregister
Sachregister

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PAUL TILLICH FRÜHE VORLESUNGEN IM EXIL (1934⫺1935)

ERGÄNZUNGS- UND NACHLASSBÄNDE ZU DEN GESAMMELTEN WERKEN VON PAUL TILLICH BAND XVII

DE GRUYTER EVANGELISCHES VERLAGSWERK GMBH

PAUL TILLICH

FRÜHE VORLESUNGEN IM EXIL (1934⫺1935) RELIGIONSPHILOSOPHIE (1934) EINFÜHRUNG IN DIE EXISTENTIAL-PHILOSOPHIE (1934) DIE LEHRE VOM MENSCHEN (1934⫺35)

HERAUSGEGEBEN, ÜBERSETZT UND MIT EINER HISTORISCHEN EINLEITUNG VERSEHEN VON ERDMANN STURM

DE GRUYTER EVANGELISCHES VERLAGSWERK GMBH

ISBN 978-3-11-025196-8 e-ISBN 978-3-11-025197-5 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Satz: Readymade, Berlin Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort In diesem Band werden die ersten im Exil in den USA gehaltenen Vorlesungen Paul Tillichs veröffentlicht. Es sind die in der Spring Session des Studienjahres 1933/34 am Union Theological Seminary New York gehaltene Vorlesung über „Religionsphilosophie“ sowie die parallel dazu am Department of Philosophy der Columbia University New York gehaltene Vorlesung „Einführung in die ExistentialPhilosophie“. Des weiteren enthält der Band Materialien zu seinem in den Jahren 1934 und 1935 am Union Theological Seminary gehaltenen Vorlesungszyklus über „die Lehre vom Menschen“, seine an der Yale University New Haven gehaltene Vorlesung und eine im Auftrag der Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum verfasste Abhandlung über die Lehre vom Menschen. Alle diese Arbeiten sind, wie Tillich in einem Brief 1934 formuliert, „Materialien zu einer ‚historisch-existentiellen Dogmatik‘“. In ihnen zeichnen sich bereits die Grundlinien seiner späteren „Systematischen Theologie“ ab. Mein erster Dank geht wiederum an Dr. Mutie Farris Tillich (New York) für die Erlaubnis der Publikation der deutschen Übersetzung der genannten Texte Paul Tillichs. Alle Originaltexte befinden sich im Paul-Tillich-Archiv der Andover-Harvard Theological Library der Harvard Divinity School, Cambridge, Massachusetts. Der Leiterin des Archivs, Ms. Fran O’Donnell, gilt mein Dank für die Mikroverfilmung der Texte und die Genehmigung der Veröffentlichung. Frau Christine Ahrendts (Münster), Ms. Ruth Tonkiss Cameron, Archivist der Union Theological Seminary & Burke Library, sowie Ms. Jocelyn K. Wilk, Archivist der Columbia University Archives, haben mich durch ihre Recherchen über Tillichs Vorlesungen an beiden Hochschulen sehr hilfsbereit unterstützt. Mein Dank gilt auch dem Lektor des Verlags Walter de Gruyter, Herrn Dr. Albrecht Döhnert, für die Aufnahme des Bandes in die Reihe der „Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich“ und für die bewährte gute Zusammenarbeit. Münster, im September 2011

Erdmann Sturm

V

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorischer Bericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V XI XV

1. Religionsphilosophie (Union Theological Seminary New York, Frühjahr 1934) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die konkrete und die abstrakte Methode der Religionsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beispiele für die religiöse Lage der Gegenwart . . . . . . . . . a. Die religiöse Lage im Bereich der Politik . . . . . . . . . . . b. Die religiöse Lage im Bereich der Philosophie und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Die religiöse Lage im Bereich der Kunst . . . . . . . . . . . d. Die religiöse Lage im Bereich der Ethik . . . . . . . . . . . . 3. Die Idee des Säkularismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erster Teil: Allgemeine Aspekte der Religionsphilosophie. . . . Einleitung. Die Logik der Gegensätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Heilige und das Profane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Fragen der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Methode von Rudolf Otto und die Trennung des Rationalen vom Irrationalen . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Methode Augustins und die dogmatische Methode (3) Die rationale Natur des Menschen und die Idee der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Unmöglichkeit eines Systems der Kultur . . . . . . . . (5) Der circulus vitiosus der empirischen Methode . . . . . . II. Die Idee des Heiligen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Heilige und das Wahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Heilige und das Gute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Idee der Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Das Profane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII

1 1 4 4 6 8 11 13 15 15 18 18 18 20 23 29 31 35 35 38 41 44

(5) Der Gegensatz von heilig und profan . . . . . . . . . . . . . III. Religion und Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Begriff der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die drei Perioden in der Beziehung zwischen Religion und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Idee der theonomen Kultur und der kairÒj . . . . . . Zweiter Teil: Spezielle Aspekte der Religionsphilosophie (nicht ausgeführt)

46 50 50 54 55

2. Einführung in die Existential-Philosophie (Columbia University, New York, Frühjahr 1934) Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 I. Hegels Wesensphilosophie und Schellings Angriff auf sie . 60 II. Das politische Existenzverständnis der Junghegelianer . . . 106 III. Kierkegaard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Lehre vom Menschen 3.1 Die Lehre vom Menschen. Skizze (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) . . . . . 157 3.2 Die Lehre vom Menschen (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) . . . . . I. Der Bereich der Probleme: Die allgemeine und die spezielle Lehre vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Der Mensch entfernt sich von sich selbst . . . . . . . . . . B. Der Mensch sucht sich selbst fern von sich selbst . . . C. Der Mensch kehrt zu sich selbst zurück . . . . . . . . . . D. Der Mensch findet sich und die Dinge in sich selbst . II. Allgemeine oder philosophische Anthropologie . . . . . A. Sich-selbst-Haben als ontologischer Charakter des Menschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158 158 158 163 170 178 181 181

3.3 I. Die Lehre vom Menschen und die gegenwärtige Situation in Wissenschaft, Philosophie und Theologie (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) . . . . 189

VIII

3.4 Die Lehre vom Menschen als der gegenwärtige Zugang zur Theologie (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) . . . . Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Endlichkeit des Menschen als der grundlegende Charakter menschlicher Existenz . . . . . A. Essenz und Existenz des Menschen . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Lehre von der Essenz des Menschen als philosophische Lehre vom Menschen. . . . . . . . . . . . . 2. Menschliche Freiheit und die Gefahr in der menschlichen Essenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Menschliche Existenz und menschliche Endlichkeit . . B. Die Grundqualitäten der menschlichen Endlichkeit . . 1. Angst oder Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verzweiflung und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die menschliche Endlichkeit als Ausgangspunkt der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Die anthropologische Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die theologische Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die Lehre vom Menschen. (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) . . . . Überblick über die Probleme, die zu bearbeiten sind . . . . Erster Teil: Die gegenwärtige Situation der Lehre vom Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil: Die allgemeine Lehre vom Menschen . . . . . Dritter Teil: Die theologische Lehre vom Menschen. . . . .

193 193 194 199 199 199 200 202 204 205 208 210 210 212 215 215 215 218 221

3.6 Die allgemeine und die theologische Lehre vom Menschen (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) . . . . 230 Zweiter Teil: Die allgemeine Lehre vom Menschen . . . . . 230 Dritter Teil: Die theologische Lehre vom Menschen. . . . . 253 3.7 Die Lehre vom Menschen (Yale Divinity School, Yale University, New Haven, April 1935) . . . . . . . . . . . . I. Die Lehre vom Menschen und die wissenschaftliche Erkenntnis von heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Von der Freiheit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Von der Endlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . IV. Anthropologische Fragen und theologische Antworten

IX

263 263 275 288 300

3.8 Der Mensch im Christentum und im Marxismus (Universal Christian Council for Life and Work, Research Department, Dezember 1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Fehlen einer ausdrücklichen Anthropologie im Marx’schen Sozialismus und die Analogien im protestantischen Christentum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Grundideen der christlich-protestantischen Anthropologie als Material für den Vergleich mit der sozialistisch-marxistischen Anthropologie . . . . . . III. Analogien zwischen der sozialistisch-marxistischen und der christlich-protestantischen Anthropologie. . . IV. Der Widerspruch zwischen der christlichen und der marxistischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315

315

324 331 343

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

X

Editorischer Bericht 1. Die Manuskripte Die vorliegende Edition basiert auf bisher unveröffentlichten Manuskripten Paul Tillichs, im Falle des letzten Textes (3.8) auf einem unveröffentlichten Typoskript Paul Tillichs. Diese befinden sich im Paul-Tillich-Archiv (Paul Tillich papers, bMS 649) der AndoverHarvard Theological Library, Harvard Divivnity School, Cambridge, Massachusetts. Text 1 (Religionsphilosophie). Das Manuskript trägt – von Tillichs Hand – die Überschrift „Philosophy of Religion“. Es umfasst 97 von Tillich paginierte Seiten in zwei Heften (in Box 302/3). Text 2 (Einführung in die Existential-Philosophie). Das Manuskript umfasst 185 von Tillich paginierte Seiten in drei Heften (Box 302/2). Eine Überschrift von Tillichs Hand fehlt. Die vom Archiv gegebene Überschrift lautet: „Philosophy of Existence“. Dem Manuskript liegt eine gedruckte [!] nachträgliche Vorlesungsankündigung des Department of Philosophy der Columbia University bei, die unter der Überschrift „Spring Session 1934 New Courses“ u. a. Tillichs Vorlesung ankündigt. Der (zweisprachige) Titel lautet nach dieser Ankündigung „The interpretation of existence in recent German philosophy. (Einführung in die Existential-Philosophie)“. Für die Übersetzung der Vorlesung ins Deutsche ist der deutsche Titel der Ankündigung übernommen worden. Texte 3.1 bis 3.8. Unter der Überschrift „Lehre vom Menschen“ sind in der vorliegenden Edition insgesamt acht Beiträge zusammengestellt worden. Die Texte 3.1 bis 3.6 finden sich in den fünf Heften mit der Signatur 303/3 und unter dem vom Archiv gegebenen Titel „The Doctrine of Man“. Die Texte 3.1 („The Doctrine of Man. Scetch“) und 3.2 („I. The realm of problems: the general and the special doctrine of man“) befinden sich in Heft I. Das Manuskript des Textes 3.5 („The Doctrine of Man. An outline of the problems to be studied“) verteilt sich auf die Hefte I und II. Unmittelbar auf Text 3.5 folgt die Niederschrift des Textes 3.6, der sich auf die Hefte II und

XI

III verteilt und dem ich entsprechend der in 3.5 und im Text selbst vorhandenen Gliederung die Überschrift „Die allgemeine und die theologische Lehre vom Menschen“ gegeben habe. Das Manuskript des Textes 3.3 („I. The Doctrine of Man and the recent situation in science, philosophy and theology“) befindet sich in Heft V, in das Tillich anschließend auch den Entwurf des autobiographischen Berichts „Auf der Grenze“ in deutscher Sprache [!] eingetragen hat. Das Manuskript des Textes 3.4 („The doctrine of man as the present approach to theology“) befindet sich in Heft IV. Die Eintragungen in Heft IV und V ähneln sich äußerlich (durch die Farbe der Tinte und das Schriftbild), sodass angenommen werden kann, dass Tillich die Texte 3.4 und 3.5 in einem engen zeitlichen Zusammenhang niedergeschrieben hat. Entsprechend gilt dies auch für die in die Hefte I, II und III eingetragenen Gliederungen und Texte. Das Manuskript der im April 1935 an der Yale Divinity School gehaltenen Vorlesung über die Lehre vom Menschen (= Text 3.7) befindet sich in der Box 402 mit der Signatur 18. Es trägt keine Überschrift, aber den Vermerk „Yale Lectures“. Der Text 3.8 stellt die Übersetzung des Typoskripts mit der Überschrift „The Christian and the Marxist View of Man“ (mit dem Zusatz: „by Paul Tillich“) dar. Der Kopf des 18 Seiten umfassenden Typoskripts lautet in der ersten Zeile: „Universal Christian Council for Life and Work“, in der zweiten Zeile: „Research Department“ und in der dritten Zeile: „Confidential!“ (unterstrichen) sowie „December 1935“. Es handelt sich also um ein Dokument der Forschungsabteilung des Weltrats der Kirchen in Genf zur Vorbereitung der ökumenischen Konferenz für Praktisches Christentum in Oxford (1937), die sich u.a. mit dem christlichen Menschenverständnis beschäftigte. Das Originaltyposkript ist ebenfalls in Box 402 (mit der Signatur 17) aufbewahrt. Eine fehlerhafte Abschrift aus dem Jahre 1959, die als „second edition“ bezeichnet wird, findet sich in Box 203. Der deutschsprachige handschriftliche Entwurf Tillichs ist als Fragment rückseitig in Heft 1 der Hefte mit der Signatur 1 in Box 301 erhalten. Er wurde von mir für die Übersetzung des englischen Textes ins Deutsche benutzt. Auffallend ist, dass Tillich in den genannten Handschriften zum erstenmal sich der lateinischen Ausgangsschrift bedient. In Deutschland hatte Tillich ausschließlich die deutsche Sütterlinschrift verwendet. Diese schnelle Umstellung Tillichs auf die für Amerikaner lesbare lateinische Handschrift ist bemerkenswert.

XII

2. Die Bearbeitung der Manuskripte durch den Herausgeber (1) Der englische Text und die Übersetzung ins Deutsche Kurz vor Beginn seiner Vorlesungen im Februar 1934 schreibt Tillich an seine Freunde in Deutschland, die Vorbereitung seines Kollegs sei für ihn „äußerst mühsam, weil jeder Satz im Englischen erarbeitet werden muss“1. So weisen denn auch die Manuskripte seiner ersten Vorlesungen zahlreiche rein sprachliche Korrekturen aus, die Tillich zwar selbst ausgeführt hat, aber sicherlich auf „Pädagogen in englischer Sprache“, wie er sie nennt, zurückgehen. Vielfach finden sich über bestimmten Wörtern Wörter in Lautschrift. Der englische Wortschatz ist noch nicht ausgeprägt. Im Satzbau und in der Stilistik des Englischen ist aber die deutsche Sprache deutlich erkennbar. Umso einfacher ist die Übersetzung ins Deutsche. Sie ist im Grunde eine „Rückübersetzung“. Bei der Übersetzung habe ich mich bemüht, die Eigentümlichkeiten der Sprache und Begrifflichkeit Tillichs aus seiner deutschen Zeit, die er ins Englische zu übersetzen versucht hat, in der Rückübersetzung beizubehalten. (2) Bei bestimmten Begriffen (z. B. „Schwermut“) habe ich in der Fußnote den englischen Begriff („melancholy“) zur Kontrolle mitgeteilt, ebenso auch bei summarisch formulierten Begriffen und besonders wichtigen Abschnitten den entsprechenden englischen Text Tillichs. Dabei habe ich in der Regel die falsche Orthographie des Englischen korrigiert. (3) Die Fußnoten haben zwei weitere Funktionen: (a) Sie geben – in deutscher Übersetzung – textkritische Informationen über Wörter, Satz- und Textteile, die Tillich im Zuge der Niederschrift des Textes gestrichen hat. Diese textkritischen Informationen werden eingeleitet durch: „Folgt gestr.“ (b) Sie liefern Belege und Nachweise aus der Literatur oder erläutern Namen, Begriffe, Sachverhalte etc., deren Kenntnis dem Verständnis des Textes dient. Alle Fußnoten stammen vom Herausgeber. Dies gilt auch für die Fußnoten zu dem Text 3.8.

1

EW V, 217.

XIII

3. Zeichen, Siglen, Abkürzungen …

Lücke im stenographierten Text, möglicherweise auch im Vortrag [] Ergänzung durch den Herausgeber Diem Hermann Diem, Philosophie und Christentum bei Sören Kierkegaard (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus hrsg. von P. Althaus, K. Barth und K. Heim, Zweite Reihe, Band I), München 1929 Entwurf Der von Tillich in deutscher Sprache verfasste fragmentarische Entwurf von „The Christian and the Marxist View of Man“ EW Paul Tillich, Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, bisher 16 Bände, Stuttgart 1971ff. Folgt gestr. Folgende Worte bzw. Sätze hat Tillich gestrichen GW Paul Tillich, Gesammelte Werke. Hrsg. von Renate Albrecht, 14 Bände, Stuttgart 1959ff. HW G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden. TheorieWerkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 18021845 neu edierte Ausgabe Frankfurt am Main 1969 kursiv Unterstreichung im Original Marx I Karl Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften. Hrsg von S. Landshut und J.P. Mayer unter Mitwirkung von F. Salomon. 1. Band, Leipzig 1932 (Kröners Taschenausgabe Band 91) Marx II Karl Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften. Hrsg. von S. Landshut und J.P. Mayer unter Mitwirkung von F. Salomon. 2. Band, Leipzig 1932 (Kröners Taschenausgabe Band 92) Ms. Manuskript, d.h. der englische Text Tillichs PTAM Paul Tillich-Archiv der Universitätsbibliothek Marburg STE P. Tillich, Systematic Theology, Vol. I-III, Chicago 1951, 1957, 1963 SW F.W.J. von Schellings sämmtliche Werke. Hrsg. von Karl F. August Schelling. 1. Abteilung: 10 Bände; 2. Abteilung: 4 Bände. Stuttgart/Augsburg 1856-1861. Zitiert: Abteilung, Band, Seite Typ. Typoskript

XIV

Historische Einleitung Die ersten Wochen in der neuen Umgebung2 Als Paul Tillich am Nachmittag des 3. November 1933 mit seiner Familie in New York von Bord ging, empfingen ihn schon am Hafen Freunde aus Deutschland, die in New York bereits Zuflucht gefunden hatten: der Literaturwissenschaftler Martin Sommerfeld und das Ehepaar Heimann. Erschienen war aber auch der Amerikaner Horace L. Friess, Philosophieprofessor an der Columbia University New York. Mit ihm hatte sich Tillich noch einige Wochen zuvor am Bahnhof in Heidelberg getroffen, um die Modalitäten seiner einjährigen Gastprofessur am Department of Philosophy der Columbia University und am Union Theological Seminary zu besprechen.3 Friess ermöglichte eine schnelle Abfertigung und brachte die Familie mit ihrem Gepäck in die neue Bleibe im Union Theological Seminary, wo sie in eine große Wohnung einziehen konnte, die das Seminar ihr, wie vereinbart, vorläufig zur Verfügung gestellt hatte. Dort empfing sie Ursula Niebuhr, die Frau von Reinhold Niebuhr, und Henry Sloane Coffin, der Präsident des Seminary. Letzterer hatte schon im Mai 1933, kurz nach Tillichs „Beurlaubung“, auf einer Zusammenkunft in der Columbia University angeboten, Tillich ein Stipendium für ein Jahr zu besorgen, wenn die Columbia University ihn in ihrer Philosophischen Fakultät ebenfalls anstelle. Am Seminary wie an der Columbia University sollte er je eine Vorlesung in englischer Sprache halten. Seine geringen Englischkenntnisse hatte er sicherlich als ein Problem empfunden und Friess gegenüber zur Sprache gebracht. 2

3

Folgende Literatur wurde benutzt: Henry Sloane Coffin, A Half Century of Union Theological Seminary 1896-1945. An Informal History, New York 1954, 134-140; Wilhelm and Marion Pauck, Paul Tillich: His Life and Thought, New York 1976 (deutsch: Paul Tillich. Sein Leben und Denken. Band 1: Leben, Stuttgart/Frankfurt am Main 1978); Hannah Tillich, From Time to Time (deutsch: Ich allein bin. Mein Leben, Gütersloh 1993). Die Darstellung von Wilhelm und Marion Pauck stützt sich auf Gespräche mit Tillich. Vgl. den Brief Tillichs an Horace L. Friess vom 3.9.1933 (Datum von mir korrigiert), in: EW V, 196f.

XV

Tillich hatte im Sommer 1933 lange gezögert, das Angebot der beiden Fakultäten anzunehmen. Hatte er doch gehofft, an die Frankfurter philosophische Fakultät zurückzukehren oder – durch die Fürsprache Erich Seebergs und „maßgebender rechtsgerichteter Persönlichkeiten“4 – an die Berliner theologische Fakultät berufen zu werden, notfalls auch im Verborgenen und in einer Art innerer Emigration, unterstützt durch Freunde, wissenschaftlich arbeiten zu können – immer in der Hoffnung auf bessere Zeiten in Deutschland. Die Entscheidung, nun doch das Angebot der beiden Fakultäten in New York anzunehmen, wurde ihm erleichtert dadurch, dass seine Beurlaubung vom 13. April 1933 auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentum, streng genommen, keine Entlassung aus dem Dienst, sondern nur eine Beurlaubung „bis zur endgültigen Entscheidung“ und ohne nähere Begründung war, dass die Gastprofessur in New York eine zeitlich befristete Tätigkeit sein sollte, dass das preußische Kultusministerium in Berlin durch Ministerialdirektor Dr. Jäger ihm eine zeitlich begrenzte Lehrtätigkeit im Ausland nicht nur genehmigt, sondern ausdrücklich auch angeraten hatte und dass schließlich auf seinen Antrag hin das Ministerium durch Schreiben vom 9. September 1933 ihn „ohne Gehalt für eine einjährige Vorlesungstätigkeit in New York“ beurlaubt hatte. Das alles waren Gründe, an einen zeitlich befristeten Gastaufenthalt in New York zu glauben. Die Vorlesungen des Studienjahres 1933/34 hatten bereits im Oktober begonnen. Im Vorhinein war aber mit Tillich vereinbart worden, dass er erst im zweiten Semester, der Spring Session, also vom Februar bis zum Mai 1934, zu unterrichten habe. Bis dahin sollte er Gelegenheit haben, „zuerst Englisch zu lernen, sich mit seiner neuen Umgebung vertraut zu machen und vielleicht auch Einladungen zu Vorträgen außerhalb New Yorks anzunehmen“.5 Über die ersten Wochen in seiner neuen Umgebung sind wir durch zwei ausführliche Rundbriefe Tillichs an seine Verwandten und Freunde in Deutschland informiert.6 Es ist klar, dass er sich in diesen in mehreren Exemplaren nach Deutschland versandten Briefen 4

5

6

Vgl. den Brief Tillichs an Erich Seeberg vom 19.3.1933 (Bundesarchiv Koblenz, NL E. Seeberg). So das telegraphisch übermittelte Angebot der Columbia University, zitiert bei W. und M. Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, 141. Rundbrief vom 9.11.1933, in: EW V, 199-206; Rundbrief vom 1.12.1933, in: EW V, 206-211.

XVI

vorsichtig ausdrücken musste. Von Anfang an, so berichtet er am 9. November, habe er sich bemüht, Englisch zu lernen. „Meine Hauptaufgabe ist Englisch lernen. Ich habe zwei Studenten, die täglich zwei Stunden mit mir arbeiten, außerdem besuche ich die Vorlesungen und will … auch viel Englisch lesen.“7 In den Vorlesungen von Reinhold Niebuhr findet er sich selbst „in hohem Maße wieder, und die Probleme, mit denen sich die Studenten beschäftigen, sind die gleichen wie bei uns, soweit ich es bisher bemerken konnte“.8 In seinem Rundbrief vom 1. Dezember bezeichnet er wieder „die Bemühung um die englische Sprache“ als seine wichtigste Aufgabe.9 Er beginne jetzt, so schreibt er, mit der Vorbereitung seiner englischen Vorlesungen. Im Kreis der New School for Social Research habe er alte Bekannte getroffen, mit denen er lange zusammen gesessen habe. Nebenbei teilt er mit, dass er an diese Fakultät – gemeint ist die weitgehend aus deutschen Wissenschaftlern bestehende New School for Social Research – „zuerst auch kommen sollte“.10 Demnach hatte Tillich im Sommer 1933 drei verschiedene Angebote aus New York erhalten! Die New School müsse, so Tillich, „noch um ihre Verwurzelung in der amerikanischen Bildungswelt kämpfen“. Er sei aber ganz froh, dass er und seine Familie „von vornherein unter Amerikanern leben und in die spezifisch amerikanischen Universitätskreise hineinkommen“.11 In den Kreisen der amerikanischen Professoren und Studenten seien, so berichtet er weiter, die gegenwärtigen politischen und vor allem die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland das Hauptgesprächsthema. „Was ihr tut“, so schreibt er seinen Angehörigen und Freunden in Deutschland, „ist für den ganzen Protestantismus von größter Wichtigkeit“.12 In den USA sieht Tillich eine allgemeine Krisenstimmung sich ausbreiten, die ihn an die zwanziger Jahre in Deutschland erinnert. Noch hatte Franklin D. Roosevelts New Deal die Folgen der Weltwirtschaftskrise und der Großen Depression, vor allem die große Arbeitslosigkeit und die wachsende Ungleichverteilung der 7 8 9 10 11 12

EW V, 205. Ebd., 205f. Ebd., 206. Ebd., 207. Ebd. Ebd., 208.

XVII

Einkommen, nicht beseitigen können. Die Krisis des sog. Social Gospel, der „eigentlichen Form des amerikanischen theologischen Liberalismus“, kommt, wie Tillich behauptet, seinen eigenen theologischen Problemen „sehr entgegen“.13 In der Philosophie habe man ebenfalls „starke Krisengefühle und weiß nicht recht, wohin man gehen soll“. Darum sei man sehr gespannt auf seine Darstellung der Existential-Philosophie. Im Januar 1934, so berichtet er, werde er wahrscheinlich Vorträge in Chicago halten. An der dortigen Divinity School lehrte der Kirchenhistoriker Wilhelm Pauck, der bei Karl Holl promoviert und einst auch Tillichs Vorlesungen in Berlin besucht hatte. Er gehörte ebenso wie Reinhold Niebuhr und Horace Friess, der Präsident der „Amerikanischen Philosophischen Gesellschaft“ war, zu den Förderern Tillichs, die ihn in philosophische und theologische Diskussionskreise auch außerhalb von New York einführen konnten. Manche Vortragsverpflichtung Tillichs wird auf die Vermittlung durch dieses Netzwerk zurückzuführen sein. In seinem Weihnachtsbrief an seine Schwester Elisabeth in Berlin und deren Familie unterscheidet er zwischen seiner äußeren Existenz, über die er in den beiden Rundbriefen berichtet habe, und seiner inneren Existenz, die er nun so beschreibt: „Viel Sehnsucht, überdeckt durch Arbeit, Stadt, Meer, Landschaft, viele Menschen, aber ohne das Gefühl letztlich sinnvoller Tätigkeit. Die Übersetzung meiner Gedanken ins Englische, mit der ich jetzt begonnen habe, ist unendlich mühsam, und man hat das Gefühl, dass man doch nicht mehr selbst ganz in der Sache drin ist. Von Amerikanisierung also noch keine Spur.“14

Tillichs Entlassung Tillich war, formal gesehen, beurlaubt und nicht entlassen worden. Zu Weihnachten schrieb ihm sein Vater: „Es ist auch mein sehnlicher Wunsch, dass Dir wieder ein Amt in der Heimat beschieden werden möchte – eine Dir zusagende Stellung. Und das scheint mir nicht ausgeschlossen. Von den Härten, die das Jahr gebracht hat, mildert sich ja schon manches ab.“ Er berichtet dann von den Schwierigkeiten, die 13 14

Ebd. Paul Tillich an Elisabeth Seeberger, Weihnachten 1933, Kopie im PTAM.

XVIII

ihm die Lektüre des Buches Die sozialistische Entscheidung bereite. Man müsse seine „gedrängten Sätze und komprimierten Begriffe erst auseinander reißen und zergliedern, um zu verstehen, was gemeint ist“. Eine Übersetzung ins Englische sei kaum möglich. „Du wirst Dich wohl gewöhnen müssen, bei Vorträgen in englischer Sprache in einfacheren Hauptsätzen zu reden. Scheue nicht Wiederholungen und bringe oft erläuternde Beispiele.“15 Weder Tillich selbst noch sein Vater konnten wissen, dass der Kultusminister in Berlin ihn kurz vor Weihnachten endgültig aus dem Staatsdienst entlassen hatte. In dem Schreiben, das an Tillich (an seinem Frankfurter Wohnsitz!) adressiert war, wird erstmals die Entscheidung mit § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums begründet.16 Danach können Beamte, „die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“, aus dem Dienst entlassen werden.

Zwei Einsprüche gegen die Entlassung Anfang Januar 1934 verbreiteten die deutschen Zeitungen die Nachricht von der endgültigen Entlassung Tillichs. Unter Berufung auf diese Zeitungsmeldung und auf entsprechende Mitteilungen der Schwester Tillichs sowie der Leiterin der nationalsozialistischen Berliner Studentinnenschaft, der Theologiestudentin Gerda Vielhaber, die bei ihm in Frankfurt studiert hatte, wandte sich schon am 6. Januar ein Mitglied der Marburger theologischen Fakultät, der Systematiker H. Frick, in einem Schreiben an Ministerialdirektor Dr. Jäger im Kultusministerium.17 Er berichtet, er habe Anfang Dezember Tillich in New York besucht. Tillich habe ihm von einem Gespräch erzählt, das er mit ihm, Jäger, im Kultusministerium geführt habe und dass 15 16

17

Johannes Tillich an Paul Tillich, Weihnachten 1933, Kopie im PTAM. Schreiben des Preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 20. Dezember 1933, unterschrieben von Dr. Wilhelm Stuckart, an Rektor und Senat, an die philosophische Fakultät der Universität Frankfurt a. M. und an Tillich, Frankfurt a. M. Kopie im PTAM. Das maschinenschriftliche Schreiben ist als Kopie (oder Durchschrift?) im PTAM erhalten und an „Ministerialdirektor Dr. Jäger, Kultusministerium Wilhelmstrasse“ adressiert. Absender und Unterschrift fehlen in der Kopie bzw. Durchschrift.

XIX

er in diesem Gespräch „ganz bestimmt“ den Eindruck gewonnen habe, Jäger, werde sich „wohlwollend dafür einsetzen, dass Tillich die Rückkehr in ein deutsches Lehramt offen gehalten werde“. Eine große Anzahl angesehener Professoren wie „die deutschen Christen“ Arthur Titius, Emanuel Hirsch, ebenso wie Erich Seeberg und Adolf Deißmann, kirchliche Führer wie Siegfried Knak, ebenso auch die männliche und weibliche Studentenschaft setzten sich, so heißt es in dem Schreiben weiter, für „den genialen und hochbedeutenden Tillich“ ein. Er selbst, der Verfasser dieses Schreibens, dürfe dies umso unbefangener tun, da er weder mit der theologischen und philosophischen noch mit der früheren religiös-sozialen Stellung irgendwelche Sympathien habe. Tillich sei der Typ eines ausgezeichneten deutschen Gelehrten. Er sei vier Jahre im Krieg gewesen, habe das Eiserne Kreuz I. und II. Klasse und gelte in den Kreisen seiner Berufsgenossen als „aufgehender Stern“. Im Kreise „unserer theologischen Fakultät“, so berichtet der Schreiber des Briefes weiter, habe man zweimal „sehr ernstlich“ überlegt, ihn auf eine Dreier-Liste zu setzen. Aber die Fakultät habe wegen seiner theologisch-philosophischen Einstellung davon Abstand genommen, „aber unsere Hochachtung für ihn ist dadurch nicht vermindert“. Es sei ihm, Jäger, bekannt, dass Tillich gegenwärtig einen Lehrauftrag an der Columbia Universität habe. „Es würde in New York und weiterhin in Nordamerika einen Sturm der Entrüstung auslösen, wenn dieser ausgezeichnete Mann, der in Amerika eine Anzahl der einflussreichsten Freunde hat, unter so schimpflichen Bedingungen aus dem deutschen Lehramt entfernt würde.“ Da er soeben aus New York zurückkomme und die Lage drüben einigermaßen genau kenne, wage er es, ihn, Jäger, dringend und herzlich zu bitten, „dass Sie dieses Verhängnis von Paul Tillich abwenden möchten“. Von demselben Gespräch mit Dr. Jäger im Kultusministerium berichtet Tillich selbst in seinem eigenen Schreiben an das Berliner Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 20. Januar 1934.18 Er, Tillich, habe sich „trotz mehrfacher Aufforderungen zu Auslandskursen und trotz des Angebotes einer ausländischen Professur“ bis Ende Oktober in Deutschland aufgehalten und alle Angebote abgeschlagen. Er habe den vom Ministerium bewilligten Urlaub an die Columbia Universität in New York angenommen, 18

Der vollständige Text des Schreibens in: Wilhelm und Marion Pauck, Paul Tillich. Sein Leben und Denken, 156f.

XX

nachdem ihm Ministerialdirektor Jäger versichert habe, „dass er von meiner Loyalität überzeugt sei und einen einjährigen Auslandsaufenthalt sachlich und persönlich für günstig hielte“ und nachdem er über Dr. Kullmann in Genf gehört habe, Staatssekretär Dr. Stuckart habe ihm versichert, „mein Fall sei minder schwer und eine baldige günstige Entscheidung sei zu erwarten“. In der Sache legt er gegen seine Entlassung auf Grund von § 4 des Gesetzes, also gegen den Vorwurf nationaler Unzuverlässigkeit, Verwahrung ein. Seine „zeitweise Zugehörigkeit zur ehemaligen S.P.D.“ allein sei kein Entlassungsgrund. Seine bisherige wissenschaftliche und politische Tätigkeit sei nicht als „national unzuverlässig“ zu beurteilen. Er sei 1914 freiwillig in den Krieg gezogen, habe an „fast allen schweren Kämpfen im Westen“ teilgenommen, das Eiserne Kreuz I. Klasse erworben, sei Mitbegründer des „deutschen religiösen Sozialismus“ auf Grund seiner Erfahrungen mit Mannschaften und Offizieren im Kriege geworden, habe „als Theoretiker des religiösen Sozialismus von Anfang an den Kampf gegen den dogmatischen Marxismus der deutschen Arbeiterbewegung geführt und habe auf diese Weise den nationalsozialistischen Theoretikern einen Teil ihrer Begriffe geliefert“. Sein Buch „Die sozialistische Entscheidung“ sei von den Vertretern des dogmatischen Marxismus als „Kampfbuch gegen sie“ empfunden worden, sofern es mit Nachdruck auf die „naturgebundenen Kräfte im menschlichen Sein“ hinweise. Dass er sich als Theologe die biblische Kritik an dem „ungebrochenen Walten der natürlichen Kräfte“ zu eigen mache, könne nur dann als national unzuverlässig betrachtet werden, wenn der Nationalsozialismus sich nicht auf den Boden des positiven Christentums gestellt hätte. Dieses aber sei nicht der Fall. Er habe die Ratschläge des Ministeriums befolgt und das Angebot neuer Arbeits- und Existenzmöglichkeiten abgelehnt. Infolge seiner „ungewöhnlich langen Wartezeit“ seien ihm auch andere Möglichkeiten verloren gegangen. Er sei also durch seinen „entschlossenen Willen, nicht Emigrant zu werden“, „äußerlich schwer geschädigt“ worden und spreche nun die dringende Bitte aus, ihm bald Bescheid über seine „endgültige Lage“ zukommen zu lassen. Sollte eine Revision des Urteils nicht möglich sein, so müsse er erfahren, „ob ich in den nächsten Jahren mit Hülfe einer ausreichenden Pension meine seit einem Jahrzehnt begonnenen großen Arbeiten über Dogmatik und Metaphysik in deutscher Sprache und auf deutschem Boden zum Abschluss bringen kann, oder ob ich gezwungen werden soll,

XXI

unter Verzicht auf diese Pläne in den Dienst eines fremden Volkes und einer fremden Kultur zu treten“. Der wichtigste Satz in diesem langen Brief ist der letzte Satz. Auf ihn läuft die ganze Argumentation des Briefes zu. Er beteuert seine nationale Zuverlässigkeit, den deutschen Charakter seines Sozialismus, seinen entschlossenen Willen, „nicht Emigrant zu werden“, seinen Willen, „in deutscher Sprache und auf deutschem Boden“ als Pensionär arbeiten zu wollen. Zur Arbeit im „Dienst eines fremden Volkes und einer fremden Kultur“ kann er also nur gezwungen werden. Die Entscheidung liegt – dies will sein Brief vom 20.1.1934 klarstellen – einzig und allein bei den politisch Verantwortlichen in Berlin. Bedenken wir: Tillich ist noch nicht drei Monate in den USA, er hat noch nicht begonnen, seine Vorlesung zu halten, seine berufliche Zukunft in Amerika ist völlig unsicher. Es ist ihm abzunehmen, dass er eine irgendwie geartete positive Lösung, eine „innere Emigration“ auf deutschem Boden einer „äußeren Emigration“ vorzieht. „Es ist alles sehr schwer, auch ich selbst habe nichts Sicheres und nicht viel und meine Zukunft ist nun nach der Entlassung ganz dunkel“, schreibt er im Januar 1934 an Dolf Sternberger, der bei ihm in Frankfurt mit einer Untersuchung über Heideggers Existentialontologie promoviert hatte.19 New York, so fährt Tillich fort, sei „großartig und interessant“, aber die menschlichen und arbeitsmäßigen Möglichkeiten seien noch gering wegen der englischen Sprache. „Ob ich hier oder in Deutschland oder sonst wo in der Welt bleibe, ist völlig unbestimmt.“ Erst seit etwa acht Tagen sei es so weit, dass sich „der erste Streifen am Horizont“ zeige, „wenn auch nur ein sehr schwacher“. Meint Tillich etwa, dass eine namhafte „rechtsgerichtete Persönlichkeit“ sich für ihn im Ministerium in Berlin eingesetzt hat? Immerhin hat Tillich auch nach seiner Entlassung die Hoffnung auf einen Sinneswandel in Berlin noch nicht aufgegeben.

19

Paul Tillich an Dolf Sternberger, New York, undatiert [Januar 1934], in: Alf Christophersen und Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), „Scherben ihrer Bilder, verlorne Klänge ihrer Stimmen …“ Die Korrespondenz zwischen Paul Tillich und Dolf Sternberger (Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/ Journal for the History of Modern Theology 16, 2009, 75-111 [92]).

XXII

Die Vorlesung über Religionsphilosophie (Frühjahr 1934) „Über mich ist nichts zu sagen“, lesen wir in Tillichs oben erwähntem Brief an Dolf Sternberger, „als dass ich im Februar meine Vorlesung beginne, eine über Religionsphilosophie, eine über ExistentialPhilosophie“.20 Es sind dies die ersten beiden im vorliegenden Band herausgegebenen Vorlesungen. Sie waren mit dem Seminary und der Columbia University so vereinbart worden. Im Annual Catalogue des Union Theological Seminary für das Studienjahr 1933/34 wurde eine Vorlesung Tillichs unter der Rubrik „Philosophy of Religion“ angekündigt mit dem Titel „Some problems in philosophy of religion“. Das entsprechende Vorlesungsmanuskript Tillichs trägt indessen den Titel „Philosophy of Religion“. Dass dieses Manuskript wirklich das Manuskript der in der Spring Session 1934 gehaltenen Vorlesung ist, geht aus der Datierung der Vorlesung hervor, die Tillich selbst vornimmt. Die Nöte, die uns zu den Fragen der Religionsphilosophie treiben, sind, so heißt es in dieser Vorlesung, die Probleme der Gegenwart, „that is, in the 20th century, the first third of which is ending in a few weeks“. Die Vorlesung besteht aus einer langen Einleitung, in der er die religiöse Lage der Gegenwart behandelt, und einem ersten Teil, dessen Gegenstand „allgemeine Aspekte der Religionsphilosophie“ sind. Ein zweiter Teil, der sich mit speziellen Aspekten der Religionsphilosophie beschäftigen sollte, blieb unausgeführt. Die Einleitung ähnelt seiner 1926 publizierten und 1932 in englischer Übersetzung erschienenen Schrift Die religiöse Lage der Gegenwart.21 So behandelt er in der Vorlesung die religiöse Lage im Bereich der Politik, der Philosophie und der Wissenschaft, der Kunst und der Ethik. Hinzu kommt als weiteres Beispiel der Säkularismus, den Tillich in seiner Studie von 1926 noch nicht genannt hatte. Er nimmt damit einen in der Missionsarbeit und im Ökumenischen Rat der Kirchen geprägten Begriff auf, der für eine weltweite Bewegung der Loslösung von Gott steht. Im Hauptteil der Vorlesung behandelt Tillich – wie schon in der Berliner Vorlesung über „Religionsphilosophie“ von 1920 und in der Abhandlung „Religionsphilosophie“ von 1925 – Methodenfragen der Religionsphilosophie. Bemerkenswert ist seine Kritik der Methode von Rudolf Otto, die er bisher nicht 20 21

Siehe die vorige Anmerkung. GW X, 9-93. The Religious Situation, New York 1932.

XXIII

geäußert hat. Er wirft ihm die Trennung des Rationalen vom Irrationalen vor. „Das Rationale verliert, wenn es in das Profane verbannt ist, seine innere Kraft, seine Macht zur Gestaltung und zur Kritik, und das Heilige wird, wenn es vom Rationalen verlassen wird, zur Arena ungezügelter irrationaler Mächte, die letzten Endes auch den profanen Bereich erobern und ein Reich der Dämonen errichten. Wie wir an der historischen Entwicklung, die wir heute erleben, sehen können …“ (20)22 Gegen Rudolf Otto und unter Berufung auf Augustin und Descartes verteidigt Tillich die rationale Struktur des Geistes. In ihr ist die Fähigkeit, zu denken, zu fragen und zu zweifeln zugrundegelegt. Tillich beschreibt sie zum erstenmal als die Freiheit des Menschen, d.h. als die Fähigkeit des Menschen, den Zusammenhang von Rezeption von Eindrücken und unmittelbarer Reaktion auf sie zu durchbrechen. „Die Macht, die ungebrochenen vitalen Tendenzen zu unterdrücken, die Macht, sie zu brechen, ist das, was den Menschen zum Menschen macht.“ (24) Tillichs Religionsphilosophie ist im Kern also Anthropologie. Wer dem Menschen das Denken nehmen will, tue Unrecht. In einem „Exkurs über die Philosophie des Faschismus“ (24) nennt Tillich nicht Deutschland, sondern „die vielen Länder“, in denen die, „die dem Menschen das Denken nehmen wollen“, die politische Macht bekommen haben. Das Unrecht werde Unrecht bleiben, „selbst wenn sie in der Mehrheit der Länder an die Macht kommen“ (24). „Sie können die menschliche Natur nicht ändern, ohne die menschliche Existenz zu vernichten, ohne den Menschen in ein Tier zu verwandeln.“ (24) Tillich beschreibt die Freiheit des Menschen in der theoretischen Sphäre als die Macht, Fragen zu stellen, und in der Sphäre der Praxis als die Freiheit, nach Normen oder gegen Normen zu handeln. Ausdrücklich nimmt er Stellung gegen den Behaviorismus und für die Gestaltpsychologie. Mit seinem Frankfurter Kollegen Adhémar Gelb grenzt er die „europäische Psychologie“ vom Behaviorismus ab, er beschreibt sie als Anthropologie. Er hält am Begriff „Anthropologie“ im Sinne des deutschen Sprachgebrauchs fest, den er von „Anthropology“ als einem Teil der Biologie und Ethnologie scharf unterschieden wissen will (29).

22

Die im Text dieser Einleitung angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf den vorliegenden Band.

XXIV

Die Vorlesung „Einführung in die Existential-Philosophie“ (Frühjahr 1934) In der Spring Session 1934 hielt Tillich, wie vereinbart, auch am Department of Philosophy der Columbia University eine zweistündige Vorlesung. Sie wurde nachträglich unter der Überschrift „New Courses“ angekündigt. Das Thema lautete zweisprachig: „The interpretation of existence in recent German philosophy (Einführung in die Existential-Philosophie)“. In der gedruckten Ankündigung23 wird Tillich als „visiting professor from the University of Frankfurt am Main“ vorgestellt. Es folgt der Hinweis: „The lectures are intended as an introduction to a central theme in recent German philosophy. They will be given in English and will be followed by opportunity for discussion.“ Das Thema dieser Vorlesung hatte Tillich in Deutschland noch nicht behandelt. Es war wohl mit Horace Friess bereits in Deutschland so vereinbart worden. Folgende Teile wollte Tillich laut Ankündigung behandeln: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Hegel’s essence philosophy and Schelling’s attack on it. The political understanding of existence by the Young-Hegelians. The religious understanding of existence by Kierkegaard. The understanding of existence as life (Bergson – Nietzsche – Dilthey). The renewal of existence-philosophy by Husserl’s phenomenology. The turn to a philosophy of existence in Husserl’s school (Heidegger). The present situation: the problem of existence and the problem of history.

Das erhaltene Manuskript dieser Vorlesung weist lediglich die ersten drei der angekündigten sieben Kapitel der Vorlesung auf. Es ist kaum anzunehmen, dass Tillich über das dritte Kapitel hinausgekommen ist. Leider hat er den angekündigten Überblick über die Existential-Philosophie nicht gegeben. Statt dessen werden die ersten drei Kapitel ausführlich behandelt, gelegentlich umständlich und immer wieder unterbrochen durch Exkurse zu bestimmten Stichworten. Ihm liegt daran, in die Geschichte zurückzugehen und die entscheidenden Begriffe der Existenzphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung darzustellen. So beschränkt er sich auf die drei Themen „Schelling gegen Hegel“, „Marx gegen Hegel“

23

Sie ist dem Vorlesungsmanuskript Tillichs beigefügt.

XXV

und „Kierkegaard gegen Hegel“.24 Die Existenzphilosophie Heideggers wird also als Fortsetzung der Geschichte des Begriffs der Existenz verstanden. Jedes System der Philosophie ist für ihn Teil einer geschichtlichen Entwicklung. „Denn in der Philosophie können System und Geschichte nicht von einander getrennt werden … Es ist das Geheimnis der dialektischen Kunst, dass kein Begriff in sich selbst feststeht, unabhängig von anderen, sondern dass jeder Begriff er selbst ist und gleichzeitig nicht er selbst, dass er sich durch viele Veränderungen seiner selbst hindurch bewegt und niemals festgelegt werden kann … Wir müssen, wenn wir die Geschichte behandeln, ein System konstruieren, und wenn wir ein System konstruieren, in die Geschichte eindringen. Wenn wir diese wechselseitige Durchdringung von System und Geschichte nicht beachten, verfehlen wir das Wesen beider.“ (58) Für Tillich ist somit eine Einführung in die Philosophie der Existenz eine „Einführung in die Geschichte …, in der die neue Idee der Existenz entstanden ist“ (59). In der genannten Vorlesungsankündigung hatte Tillich die Existenzphilosophie als „das zentrale Thema der gegenwärtigen deutschen Philosophie“ bezeichnet. Sie habe, so stellt er zu Beginn seiner Vorlesung fest, „einen speziell deutschen Charakter“ und könne „nur auf dem Hintergrund der Geschichte des deutschen Geistes“ (57) verstanden werden. Es sei deshalb schwierig, sie für die transparent zu machen, die „an der Geschichte des deutschen Geistes nicht teilgenommen haben“ (57). Tillich ist sich also der Schwierigkeit bewusst, als Deutscher ein Thema, das, wie er behauptet, nur Deutsche verstehen können, vor einem amerikanischen akademischen Publikum zu behandeln. So stellt sich die Frage, warum er dieses deutsche Thema dennoch in seiner Gastvorlesung behandeln will. Er will darauf mit seiner Vorlesung selbst antworten. Wenn es ihm in seiner Vorlesung gelinge, „die Idee der Existenz auf die Situation dieses Landes zu beziehen“ (59), dann sei die Philosophie der Existenz auch für eben dieses Land von Bedeutung. Er nennt allerdings drei Argumente im vorhinein. Sie alle widerlegen im Grunde seine Behauptung vom deutschen Charakter der Existenzphilosophie. Erstens habe der Begriff der Existenz eine universale Bedeutung. Zweitens seien Hegel, 24

In dem Kapitel über Kierkegaard folgt er einschließlich der Zitate immer wieder der Darstellung von Hermann Diem, Philosophie und Christentum bei Sören Kierkegaard (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus, hrsg. von P. Althaus, K. Barth und K. Heim, Zweite Reihe, Band I), München 1929.

XXVI

Marx und Nietzsche keineswegs nur deutsche Philosophen, sondern Philosophen von weltweiter Bedeutung. Husserls Erneuerung der Wesensphilosophie gehe auf den Platonismus des Mittelalters zurück, sei also nicht spezifisch deutsch. Das dritte Argument formuliert er mit Vorsicht: „Ich wage zu glauben, dass die soziale, religiöse und politische Situation in diesem Lande viele Ähnlichkeiten mit der Situation in Deutschland vor zehn Jahren aufweist, dass die Übernahme der Philosophie der Existenz wahrscheinlich ist, wenn auch in einer modifizierten Form.“ (60) Er sieht also sowohl in Deutschland wie auch in den USA einen Zusammenhang zwischen der Krisensituation und der Existenzphilosophie. Schon in seinem Rundbrief vom 1. Dezember 1933 hatte er auf das Krisengefühl hingewiesen, das in den USA die Theologie und Philosophie bestimme. Tillich will in dieser Vorlesung zeigen, dass die Existenz, wie sie Schelling, Marx und Kierkegaard verstehen und beschreiben, nicht an die Stelle der Essenz tritt. Wenn Marx z.B. vom völligen Verlust des Menschen und von der Entmenschlichung spreche, setze er ein Wesen des Menschen und die Idee des Menschen und der Menschlichkeit voraus. „In der Existenz ist die Menschlichkeit verloren gegangen, aber Menschlichkeit als Wesensforderung ist geblieben. Die Möglichkeit, die Zerspaltung der Existenz zu empfinden, hat ihren Grund in der Möglichkeit, die Wesenseinheit zu empfinden. Marx’ Idee der Menschlichkeit … setzt eine Wesensphilosophie voraus, in der das wahre menschliche Wesen beschrieben wird. Marx setzt Hegel voraus. Die Philosophie der Existenz setzt eine Art Wesensphilosophie voraus.“ (129) Dies gilt nach Tillich entsprechend auch für Kierkegaard. Die Verzweiflung kann nur von einem Ort „oberhalb der Verzweiflung“ (154) aus analysiert werden, d.h. nach Kierkegaard in der Situation des Glaubens oder der Erlösung. „Voraussetzung der wahren Philosophie ist wahre Existenz, das heißt Existenz im Glauben.“ (154) Damit ist ein Grundgedanke seiner Anthropologie, wie Tillich sie in seinen Vorlesungen über die Lehre vom Menschen entwickeln wird, aber auch das Einteilungsprinzip seiner späteren Vorlesungen über die Systematische Theologie vorweggenommen: die Unterscheidung von Essenz und Existenz.

XXVII

Rückkehr nach Deutschland? Für Ende Mai 1934, also unmittelbar nach Abschluss des zweiten Semesters des Studienjahrs 1933/34, plante Tillich, wie er an Hermann Schafft schrieb, „eine Forschungsreise nach Deutschland zu machen, in der die vorläufige Entscheidung über mein nächstes Jahr oder vielleicht die ganze Zukunft zu fallen hätte“.25 So bat er Schafft, ihm doch mitzuteilen, was er „über die Möglichkeiten eines rein arbeitsmäßigen völlig zurückgezogenen Daseins in Deutschland“ denke. Denn dies sei im Grunde seine „einzige Sehnsucht“.26 Etwa zur gleichen Zeit äußerte sich zu diesem Thema sein Vater in Berlin in einem Brief an ihn, in dem er ihn verschlüsselt vor einem Besuch in Deutschland warnt: „Wenn ein Emigrant dich gefragt hat, ob Du ihn zur Rückkehr nach Deutschland raten könntest, so würde ich an Deiner Stelle dies verneinen und gerade auch dann, wenn der Frager an seinem Vaterland hängt. Er würde sich gemäß seiner bisherigen Einstellung hier wie in einem fremden Lande fühlen. Es würde ihm auch schwer möglich sein, in der Stille zu leben und für sich zu arbeiten. Die täglichen Vorgänge bringen notwendig Erregung und Spannungen, denen man sich nicht entziehen kann. Diese ernsten Bedenken muss man aussprechen, so sicher auch seine Familie wünschen mag, ihn wieder hier zu haben. Im übrigen muss er ja selbst entscheiden. Falls er … einen Besuch in der alten Heimat machen will und kann, soll er sich gesundheitlich sehr in acht nehmen. Auch im Mai wehen hier oft noch schwerste Winde, wie zur Zeit, wo es aus allen Richtungen Zugluft giebt.“27 Das Union Theological Seminary hatte – im Unterschied zur Columbia University – Tillichs Tätigkeit als visiting professor um ein weiteres Jahr, also bis zum 1. August 1935, verlängert. Er musste zwar die bisherige Wohnung im Seminar räumen und zwischenzeitlich bei Niebuhr wohnen, bekam dann aber eine moderne Vierzimmerwohnung im Haus gegenüber.28 Die für die Ferien (vom Mai bis Ende September) geplante Forschungsreise nach Deutschland trat Tillich nicht an. „Es freut mich“, so schrieb ihm sein Vater, „dass Du Dich entschlossen hast, Deine dortige Kur zu verlängern und dass 25 26 27 28

Paul Tillich an Hermann Schafft, undatiert [1934], in: E VI, 225f.[226]. Ebd., 226. Johannes Tillich an Paul Tillich, 25.3.1934, Kopie im PTAM. Paul Tillich in der Beilage zu seinem Rundbrief vom 1.2.1934.

XXVIII

Dir dies wirtschaftlich ermöglicht ist …“ Wäre er selbst fünf Jahre jünger, würde er seine Einladung annehmen und ihn in New York besuchen. Er schildert den 1. Mai in Berlin, „die wogenden, sichtbar und fühlbar von innerer Freude erfüllten Menschenmassen und Aufmarschgruppen“. „Das Straßenbild war wunderschön. Der Tag war ein Zeugnis von dem, was ich Dir in dieser Hinsicht … schrieb. Die Dinge laufen noch weiter so, wie ich es damals sah. Ich blicke dabei weniger auf die äußeren Maßnahmen als auf die innere Dynamik der Ideen, die sich ebenso auswirkten, wie ich es letztlich schrieb. Dass die Spannung auf kirchlichem Gebiet am stärksten hervortritt, ist zwangsläufig. Ich nehme an, dass Du darüber aus Zeitschriften unterrichtet bist.“29

Die Wiedergeburt des Geistigen in der Verfolgung und Vertreibung Die Nachrichten, die er in den letzten vier Wochen erhalten habe, schriftlich und mündlich, so schreibt Tillich im Mai oder Juni 1934 an einen Freund in Deutschland30, zeigten ihm, dass für ihn an einen dauernden Aufenthalt in Deutschland „zur Zeit überhaupt nicht zu denken ist“ und dass ein vorübergehender nicht nur ihn selbst gefährde, sondern auch die, mit denen er zusammen sei. Ihm sei das gerade von denen deutlich gesagt worden, die ihn am liebsten da haben würden. Die Möglichkeit, „den Mund aufzutun“, sei ihm in Deutschland in keiner Weise gegeben. Die Frage eines freiwilligen Märtyrertums, „sein Sinn oder seine Sinnlosigkeit“, sei weder innerlich noch äußerlich so weit geklärt, dass er darüber eine Entscheidung treffen könne. „So bleibt einfach die Lösung, für ein weiteres Jahr die hiesige Lage für menschliche und geistige Wandlung und Formung, ebenso wie für wissenschaftliche Konzentration zu benutzen.“31 Wissenschaftlich konzentriert sich Tillich in den Jahren 1934 und 1935 auf sein neues Arbeitsgebiet, die Lehre vom Menschen, die er als „Zugang zur Theologie“ versteht.Was er in dem genannten Brief an seinen deutschen Freund seine „menschliche und geistige Wandlung 29 30

31

Johannes Tillich an Paul Tillich, 23.5.1934, Kopie im PTAM. Paul Tillich an ungenannten Empfänger (Hermann Schafft?), undatiert [Mai/ Juni 1934], in: EW V, 221-224. Ebd., 221.

XXIX

und Formung“ nennt, ist zunächst die illusionslose Anerkennung seiner Lage. Er begreift, dass er vorläufig nach Deutschland nicht wird zurückkehren können, dass er seine wissenschaftliche Arbeit nur hier, in den USA, „fortsetzen“ kann, mit anderen Worten: Er hat seine Emigrantenexistenz anzuerkennen. So entdeckt er, „auf’s Tiefste erschüttert“, wie er an Lily Pincus schreibt32, seinen Hegelvortrag von 193233, Sätze, an die er keinerlei Erinnerung mehr hatte, dass er sie gesagt hatte, Sätze, die „die ganze Zukunft“ enthalten, „die gegenwärtige und die kommende“.34 Was er da gesprochen habe, habe nicht er gesprochen, sondern habe eine ihm fremde Kraft durch ihn gesprochen, der „Geist der Propheten“35, über den niemand verfügen könne. Gemeint ist die Einsicht, dass das deutsche wie das jüdische Volk von Anbeginn ein „Volk der Entgegensetzungen“36 ist. Sein Schicksal sei bestimmt durch das Prinzip, das Hegel als das jüdische Prinzip abgeleitet habe. Es sei verständlich, so heißt es in Tillichs Hegelvortrag von 1932, wenn ein Volk mit diesen Entgegensetzungen einmal ein Ende machen wolle, „wenn heute im Namen eines ungeformten Lebensdranges Kampf angesagt wird allem, was objektiv, was Geist, was Entzweiung ist“.37 Wieder werde dieser Versuch unternommen, „wieder ist es die Idee des Volkes, sind es Begriffe der Ganzheit, des Lebens, des Eros, der Macht, mit denen der Gegenstoß geführt wird …“38 „Wir haben die Entgegensetzung in unserem Geiste, wir haben sie in unserem Blute und darum in unserem Schicksal“, wir haben sie „zu tragen, durchzukämpfen, das Leiden des entzweiten Lebens auf uns zu nehmen, um der Wahrheit des Lebens willen uns zu hüten vor voreiligen Synthesen“.39 Die Bewegungen, die geistigen und die politischen, „die heute unter Überspringung der realen Gegensätze, vor allem derjenigen des kapitalistischen Systems, eine nationale Einheit, eine Versöhnung, eine ‚Integration‘ erzwingen wollen, erfüllen deutsches Schicksal nicht; sie verwirren es und ver32 33

34 35 36 37 38 39

Paul Tillich an Lily Pincus, undatiert [1934], in: EW V, 218. GW XII, 125-150 („Der junge Hegel und das Schicksal Deutschlands“, in: Paul Tillich, Hegel und Goethe. Zwei Gedenkreden, Tübingen 1932). EW V, 219. Ebd., 218. GW XII, 148. Ebd., 149. Ebd. Ebd.

XXX

letzten es und treiben zu Reaktionen des verletzten Schicksals, die den völligen Untergang bedeuten können“.40 Tillich erkennt diese Sätze von 1932 als Wahrheit. „Lerne die entscheidenden Sätze auswendig und stärke damit die Schwankenden“, so schreibt er an Lily Pincus.41 In einem weiteren Brief an sie erinnert er an den Befehl an Abraham, „radikal neu an[zu]fangen, in einem Land, das ich dir zeigen will“.42 In dem Brief an den ungenannten Freund in Deutschland knüpft er an den Befehl an Abraham an. Dieser Auswanderungsbefehl an Abraham charakterisiert die Existenz „des Geistigen“.43 Der Geistige ist seit dem Befehl an Abraham „immer in irgendeiner Weise Emigrant“. „Er steht zwischen den Räumen wie der Prophet zwischen den Zeiten.“44 „Zwischen den Räumen“ – mit dieser Metapher, mit der er sich von der Zeitlosigkeit absetzt, die in dem „Zwischen den Zeiten“ mitschwingt, meint er eine dialektische Haltung, die sich an keinen Raum bindet, an keine Heimat, auch an keine neue Heimat. Sie bezeichnet für Tillich die Haltung der Autonomie inmitten von Heteronomien. Sie kann „nur noch in der Form der verfolgten, gejagten, teils heroischen, teils schlangenklugen Existenz des ‚Geistigen‘ gerettet werden“.45 Der Typus des Geistigen ist, wie Tillich hervorhebt, nicht der höchste (der religiöse stehe höher, der politische sei vielleicht notwendiger), aber er ist „der beweglichste, lebendigste, der nie ruhende, immer dialektische, immer aufs höchste gefährdete Typ“.46 Gefährdet ist er, weil er als solcher eine reale Existenz nicht begründen und übergehen kann z.B. in die Existenz des Gelehrten, wie die deutschen Professoren „nach dem großen Zerbrechen der Rückgrate“.47 Er nennt in diesem Zusammenhang Emanuel Hirsch, der nicht seine religiöse und wissenschaftliche, wohl aber seine geistige Existenz schlechthin verloren habe, indem er sie „dem Dämon des faschistischen Machtwillens geopfert hat“.48

40 41 42 43 44 45 46 47 48

Ebd., 150. EW V, 219. Paul Tillich an Lily Pincus, 29.11.1935, in: EW V, 220. Ebd., 222. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 223. Ebd., 224.

XXXI

Tillich erkennt: Jetzt, „mit der durch Verfolgung und Vertreibung sich vollziehenden Wiedergeburt des Geistigen“49 erfahren wir auch seine Grenze – angesichts der Opfer, „die jetzt freiwillig und gezwungen überall gebracht werden“.50 So gehört zur geistigen Existenz auch das Wissen um die Tragik des Geistigen „im Zeitalter des Zusammenbruchs einer autonomen abendländischen Kultur und Religion“, die „grausame Desillusionierung über den geschichtlichen Augenblick, in dem wir leben“.51 Fast ein halbes Jahr hatte Tillich auf eine Antwort des Ministeriums auf seinen Einspruch vom 20. Januar 1934 warten müssen. Durch ein Schreiben vom 15. Juni 1934, unterschrieben von Dr. Stuckart, teilte ihm der Minister mit: „Ihrem Einspruch vom 20. Januar 1934 gegen Ihre Entlassung aus dem Staatsdienst auf Grund von § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7.4.1934 [!] vermag ich nicht stattzugeben.“

Der religiöse Anspruch des totalen Staates Hatte Tillich noch bis zum Frühjahr 1934 gehofft, nach Deutschland zurückkehren zu können, so war für ihn nun die Situation klar: der Auswanderungsbefehl an Abraham galt auch ihm. Mit drei im Sommer 1934 verfassten Publikationen52 trat er erstmals seit der Sozialistischen Entscheidung wieder an die Öffentlichkeit. Die ersten beiden, auf Vorträgen beruhenden, in deutscher Sprache verfassten und ins Englische übersetzten Aufsätze sind scharfsichtige Analysen der politischen und religiösen Situation in Deutschland. Mit ihnen knüpft er an seine „Zehn Thesen“ von 1932 an, in denen er „dem Heidentum des Hakenkreuzes das Christentum des Kreuzes“

49 50 51 52

Ebd., 222. Ebd., 224. Ebd. The Totalitarian State and the Claims of Church, in: Social Research Vol. 1, 1934, 405-433, deutsch: Der totale Staat und der Anspruch der Kirchen, in: GW X, 121-145; The Religious Situation in Germany To-day, in: Religion in Life Vol. 3, 1934, 163-173, deutsch: Die religiöse Lage im heutigen Deutschland, in: GW XIII, 227-238 [das dort angegebene Datum 1936 ist zu korrigieren]; Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage. Offener Brief an Emanuel Hirsch, in: Theol. Blätter Jg. 13, 1934, 305-328 sowie EW VI, 142-176.

XXXII

entgegengesetzt hatte.53 Jetzt gibt er die „schlangenkluge“ Verstellung auf, mit der er sich mit seinem Schweigen und in seinen Gesprächen und Briefen an E. Seeberg und an das Ministerium zu verteidigen versucht hatte. Nun äußert er sich offen und klar über Deutschland, den totalen Staat und seine heidnisch-völkische Mythologie, über die Kirchen und über den Missbrauch seiner Kairos-Lehre durch seinen Freund Emanuel Hirsch. Die Idee des totalen Staates leitet er aus der ökonomischen und politischen Bedrohtheit der geschichtlichen Existenz des Menschen im Spätkapitalismus ab. Die Bedrohtheit führt zu einer geistigen und seelischen Desintegration des Massen. Unter „Desintegration“ versteht er die Auflösung aller Lebensformen und Traditionen, der religiösen Bindungen und den Sinnverlust. Die Antwort darauf ist die nationalstaatliche Konzentration mit ihrem Programm der Reintegration. Sie ist nur möglich in antidemokratisch-autoritären Formen, wie sie in Ost- und Mitteleuropa existieren. Die Idee des totalen Staates kann nur auf dem Boden einer Weltanschauung gelingen, „die die Kraft hat, den ganzen Menschen zu erfassen und zu unbedingter Hingabe zu treiben“.54 „Eine solche Weltanschauung aber hat religiösen Charakter, ihr Ausdruck ist ein Mythos.“55 Kern der deutschen nationalen Mythologie ist der „Mythos des Blutes, des Bodens, der Rasse, des Staates, des Führertums usw.“56 Der totale Staat ist „zur Theorie gemacht, mit mythischen Kräften durchblutet und erwärmt, mit Leidenschaft und rücksichtsloser Konsequenz verwirklicht, da, wo die Desintegration und Unsicherheit am fühlbarsten geworden sind – auf deutschem Boden“.57 Tillich spart nicht mit Kritik an der Bekennenden Kirche. Im Unterschied zur katholischen Kirche habe die evangelische Kirche in Deutschland, die vom Luthertum geprägt ist, sich in ihrem Widerstand auf innerkirchliche und theologisch-dogmatische Bestände beschränkt. Sie habe jeden Schein einer Einmischung in politische Angelegenheiten vermieden. So werden die Judenfrage, das Kommunismusproblem, die Frage der Gewerkschaften, die Sterilisierungs53

54 55 56 57

Wortlaut der „Zehn Thesen“ in: GW XIII, 177-179 und in MW/HW 3, 269271. GW X, 130. Ebd. Ebd., 131. Ebd., 132.

XXXIII

frage als rein politische Fragen aufgefasst, die die Kirche nichts angehen. Nur wenn Dogmenfragen berührt werden, werde der Widerstand von der Kirche organisiert. Gegen den Arierparagraphen als solchen wandte man sich nicht, sondern nur, als er auf die Kirche Anwendung finden sollte. Dabei müsse doch der totalitäre Staat mit seiner Theorie und Praxis den Widerstand der Kirchen herausfordern. Darum treibe der Konflikt, der im deutschen Protestantismus ausgebrochen ist, zu Konsequenzen, „die weit über die Ziele der Begründer des Widerstandes hinausgehen“.58 Er muss zum Widerstand gegen den verborgenen religiösen Anspruch des totalen Staates werden. Das ist die religiöse Lage in Deutschland, wie Tillich sie sieht. Sein Blick richtet sich also nicht auf die innerkirchlichen religiösen Fragen, sondern auf die gesamte politische und geistige Wirklichkeit, den Mythos von Volk und Staat, Rasse und Führertum. Hier gelten das erste Gebot, das Doppelgebot der Liebe und der Auswanderungsbefehl Gottes an Abraham. Die Welt tue gut daran, so lautet die Schlussfolgerung Tillichs, diese Lage des deutschen Protestantismus und alles, was im Zusammenhang damit steht, „mit größter Aufmerksamkeit“59 zu betrachten. Sie sei von außergewöhnlicher Bedeutung für den Protestantismus überhaupt, ja das Christentum im ganzen. Gemeint ist der in den letzten zweihundert Jahren mit dem Protestantismus entstandene Säkularismus, der die gesamte moderne Welt erfasst hat. Tillich beschreibt ihn als Diesseitigkeit, in der alles der Vernunft unterworfen und „alle heiligen, übernatürlichen und göttlichen Elemente … aus dem Leben und der Welt ausgemerzt [sind]“.60 Die Transzendenz darf in die Immanenz nicht einbrechen. Alle Dinge sind berechenbar geworden. Gott ist „zu nichts“ geworden.61 „Auf diese Weise haben wir eine Welt, die von der rationalen Erkenntnis erforscht und von der technischen Wissenschaft beherrscht wird, eine Gesellschaft, die nach rationalen Prinzipien erzogen und geleitet wird, und einen menschlichen Geist, der auf sich selbst steht und sich durch sämtliche Kulturwerte bildet und bereichert, und ein Humanitätsideal ohne

58 59 60 61

GW XIII, 230. Ebd. Ebd., 231. Ebd., 232.

XXXIV

Gott oder Dämon, das heißt ohne irgendeine Macht – weder von oben noch von unten –, die die eigene transzendiert.“62

„Das tiefste Problem der modernen Kirchengeschichte: das Problem des Säkularismus“ In seiner Beschreibung der religiösen Situation in Deutschland konzentriert sich Tillich auf den Begriff des Säkularismus, den er bereits in seiner Vorlesung über „Religionsphilosophie“ behandelt hatte. Es gibt für Tillich aber keinen „Säkularismus überhaupt“. Der herrschende Säkularismus ist für ihn ein christlicher Säkularismus. Sein Humanismus beruht auf dem christlichen Liebesgedanken, er würdigt das Individuum und die individuelle Seele, er hält an der Idee der Einheit der Welt fest.63 Sobald aber der religiöse Hintergrund dieses Humanismus dahinschwinde, so Tillichs These, entstehe in der menschlichen Seele ein Vakuum. In dieses Vakuum drangen zwei Mächte ein: die sozialistische und kommunistische Bewegung und die Bewegung des „Neuheidentums“. Die erste der beiden Mächte, der Sozialismus und Kommunismus, blieb in den Grenzen des christlichen Humanismus. Sie hat die Idee des Reiches Gottes in die Idee eines irdischen Reiches der Gerechtigkeit und des Friedens umgeformt. Die inneren Widersprüche zwischen Ideologie und Wirklichkeit der sozialistischen Bewegung hat, wie Tillich hervorhebt, der religiöse Sozialismus erkannt. Er hat versucht, die Grenzen der Immanenz des Sozialismus zu durchbrechen und die Idee von einem kommenden Reich Gottes zu erneuern. Doch die marxistische Orthodoxie hat eine religiöse Interpretation ihrer Gedanken verhindert. In gleicher Weise hat die protestantische Orthodoxie, wie Karl Barth sie vertreten hat, eine Verbindung zwischen einer religiösen und einer politischen Interpretation des Reiches Gottes verhindert. Sie habe dazu beigetragen, „die Wirkung des Religiösen Sozialismus zunichte zu machen“.64 Die Niederlage des Religiösen Sozialismus könne als Niederlage der proletarischen Bewegung in Deutschland angesehen werden. „Denn nur ein neuer religiöser Enthusiasmus, der imstande ist, die Tendenz zur Säkularisation zu überwinden, hätte sie retten 62 63 64

Ebd., 233. Ebd., 234. Ebd., 235.

XXXV

können.“65 Es erschien eine andere Bewegung, der es gelang, den Sozialismus und den Religiösen Sozialismus zu verdrängen. Tillich nennt sie „Neuheidentum“. Ihr Fundament ist die Heiligkeit von Blut und Boden, Macht, Rasse und Volk. Es sind die Mächte von unten, die von Christus besiegten Dämonen, die sich auf’s neue erhoben. Es gibt nur zwei Mächte in Deutschland, die Widerstand leisten: die protestantische Orthodoxie unter der Führung von Karl Barth und die katholische Kirche. Den Kampf, den sie führen, nennt Tillich „das erregendste Ereignis in der heutigen Geschichte der Kirche, weil in ihm das tiefste Problem der modernen Kirchengeschichte sichtbar wird, nämlich das Problem des Säkularismus“.66 Der Kampf, den die beiden Kirchen führen, sei darum nicht nur ein Kampf gegen das Heidentum als solches, sondern auch gegen dessen „säkularistischen Hintergrund“.67 Tillich unterscheidet also zwischen dem Neuheidentum und dem Säkularismus. Er vermutet, dass der Kampf der Kirchen gegen das Heidentum innerhalb der Kirche „zum Teil“ Erfolg haben wird. „Können wir aber auch hoffen“, so fragt er, „dass der Kampf gegen den Säkularismus ebenso Erfolg haben wird?“68 Wird der Kampf nur innerhalb der Kirche erfolgreich sein, mit der Folge, dass die übrige Gesellschaft säkularistisch bleibt, „bis in das Vakuum eines solchen Säkularismus abermals ein neues Heidentum eindringt – so, dass wir eine kleine orthodoxe Kirche als eine Insel im Ozean des Heidentums haben werden?“69 So gesehen, sei die religiöse Lage in Deutschland von außerordentlicher Bedeutung für das Verständnis der religiösen Lage in der übrigen Welt, einschließlich der USA. „Denn der Säkularismus herrscht auf der ganzen Welt, und die Dämonen des Heidentums, die Mächte von unten, liegen überall auf der Lauer – bereit, in das Vakuum eines entleerten Säkularismus einzubrechen.“70 Auch hier, in den USA, könne der Humanismus verfallen und leer werden, „so dass auch hier die Mächte von unten auf ihre Chance warten, um das Vakuum mit heidnischem Inhalt zu füllen“.71 65 66 67 68 69 70 71

Ebd., 235f. Ebd., 237. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 238. Ebd.

XXXVI

Tillichs „Offener Brief“ an Emanuel Hirsch Tillichs „Offener Brief“ an Emanuel Hirsch72 ist eine Verabschiedung seiner Kairos-Lehre. Ihrer Vereinnahmung durch Hirsch musste er sich, um seine geistige Existenz zu retten, widersetzen. Tillich gesteht, durch Hirschs jüngstes Buch zu der klaren Einsicht gekommen zu sein, „dass Offenbarung und Kairos, reines Ergriffensein und Wagnis, Exklusivität des Kriteriums und Relativität der konkreten Entscheidung auf verschiedenen Ebenen liegen“.73 „Der Kairos, die geschichtliche Stunde, kann … nie von sich aus Offenbarung sein … Offenbarung ist Prius, nicht Gegenstand des Wagnisses.“74 Die Richtung auf dieses Prius, die Offenbarung, „macht den Theologen zum Theologen, sie gibt ihm das letzte Kriterium; das Stehen im zweiten gibt ihm die Gegenwartsnähe und Geschichtsmächtigkeit.“75 Diesen klaren Unterschied zwischen Offenbarung und Kairos habe Hirsch in seinem Buch „unsichtbar gemacht“ – „und zwar in einem Augenblick, wo infolge des Hervorbrechens der Ursprungsmächte das Kreuz als Kriterium machtvoller herausgehoben werden mußte denn seit Jahrhunderten“.76 Der Augenblick, von dem Tillich hier spricht, ist der Augenblick des „Hervorbrechens der Ursprungsmächte“. Tillichs – durch den Widerspruch gegen Hirsch provozierte – Einsicht schlägt sich in der strikten Unterscheidung zwischen Frage und Antwort bzw. Existenz und Offenbarung nieder, die er seiner Lehre vom Menschen77 wie auch seiner Kritik der dialektischen Theologie78 sowie seinem Vorlesungszyklus Advanced problems in systematic theology von 1936/37 und 1937/38 zugrunde legt. 72

73 74 75 76 77 78

Paul Tillich, Die Theologie des Kairos und die gegenwärtige geistige Lage. Offener Brief an Emanuel Hirsch, in: Theol. Blätter Jg. 13, 1934, 305-328. Vgl. dazu A. James Reimer, The Emanuel Hirsch and Paul Tillich Debate. A Study in the Political Ramifications of Theology, Lewiston u.a. 1989, deutsch: Emanuel Hirsch und Paul Tillich. Theologie und Politik in einer Zeit der Krise, Berlin/ New York 1995; Alf Christophersen, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik (Beiträge zur historischen Theologie, Band 143), Tübingen 2008, bes. 157-215. Paul Tillich, Die Theologie des Kairos [s. vorige Anmerkung], Sp. 319. Ebd., 318. Ebd., 319. Ebd. Vgl. Announcement, 73: Anthropological questions and theological answers. What is wrong with the „Dialectic“ Theology?, in: The Journal of Religion Vol. 15, 1935, 127-145, deutsch in: Die Christliche Welt 50, 1936, 353-364 sowie GW VII, 247-262.

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Religionsphilosophie und Lehre vom Menschen als „Materialien zu einer ‚historisch-existentiellen Dogmatik‘“: Das Studienjahr 1934/35 Am 1. Oktober begann das erste Semester des Studienjahres 1934/35, Tillichs „zweites Semester“ am United Theological Seminary. „Eben habe ich die beiden Stunden meines ersten Kollegs hinter mir“, schreibt er an diesem Tage an seinen Freund und Schwager Alfred Fritz, und: „Ich habe zwei Vorlesungen, diese über Geschichte der Religionsphilosophie79, die andere am Mittwoch über Anthropologie“.80 Seinem Brief legt er die Dispositionen beider Vorlesungen bei. Die Disposition der Vorlesung über die Lehre vom Menschen nennt er „eine Art Arbeitsprogramm für die nächsten Jahre“. Es sei kein Zufall, erklärt er, „dass die Frage nach dem Menschen immer mehr in den Mittelpunkt aller theologischen und philosophischen Fragen rückt, und zwar individuell und sozial“.81 Beide Vorlesungen nennt er auch in seinem Brief an Hermann Schafft.82 Seine zweite Vorlesung, „eine philosophisch-theologische Anthropologie“, bezeichnet er als „eine Metaphysik oder Dogmatik vom Gesichtspunkt der ‚menschlichen Existenz‘ aus“. Das alles sind, so Tillich, „Materialien zu einer ‚historisch-existentiellen Dogmatik‘“83 Beide Vorlesungen werden im Announcement des Seminary ihrem Inhalt nach von Tillich wie folgt vorgestellt: Philosophy of Religion 35. Modern trends in the European philosophy of religion. The influence of the foremost critics of religion, viz., Feuerbach, Marx, Nietzsche, and Freud; the rational defense of religion as attempted by Kantians and idealists; and the attempts to defend religion by irrationalism in phenomenology, philosophy of life, and existential philosophy.84 Systematic theology 17. The doctrine of man The principal problems to be considered during the semester are the following: man as a creature; finiteness as the characteristic of human 79

80 81 82 83 84

Im Rundbrief vom 17.4.1935 nennt er den Titel genauer: „die moderne Entwicklung der europäischen Religionsphilosophie“ (EW V, 225). EW VI, 84. Ebd. Paul Tillich an Hermann Schafft, 14.9. [1934], in: EW VI, 227f. Ebd., 228. Union Theological Seminary in the City of New York. Annual Catalogue 1933-1934. Announcement 1934-1935, New York 1934, 71.

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existence; man in his corporate and individual existence; man and nature; existence, Eros, and power; suffering and death; finiteness and sin; human existence and history.85

„Es ist doch schon alles viel leichter als im vorigen Jahr, vor allem wegen der Sprache“, heißt es in Tillichs Weihnachtsbrief 1934 an seine Schwester Elisabeth in Berlin.86 Ein Jahr zuvor hatte er noch über seine Sehnsucht geklagt, über seine Arbeit „ohne das Gefühl letztlich sinnvoller Tätigkeit“ und die Mühe, die ihm die Übersetzung seiner Gedanken ins Englische bereite. „Von Amerikanisierung also noch keine Spur“, hieß es im Weihnachtsbrief 1933. Nun, ein Jahr später, zeigt sich, dass Tillich die Existenz des Emigranten angenommen hat. Das äußere Zeichen dieser Wandlung ist seine neue Handschrift, die lateinische Schrift, die nun an die bisherige deutsche Sütterlinschrift tritt. Auch ist von einer Sehnsucht nach Deutschland keine Rede mehr. Er kann nun Englisch sprechen, wie er seiner Schwester mitteilt: „So konnte ich gestern auf einer kleinen Gesellschaft im Bohème-Viertel von New York, genannt Greenwich-Village, mich einen ganzen Abend über alle möglichen Dinge englisch unterhalten, so schnell wie in Deutsch, und ohne zu ermüden – was im ersten Jahr immer noch der Fall war.“ Inzwischen ist auch, wie er berichtet, „der alte deutsche Freundeskreis jetzt fast zur Hälfte hier. Wir haben z.B. einen Diskussionsabend, der genau zu 50 % aus den Teilnehmern unseres Frankfurter Diskussionsabends besteht.“ Allerdings ist „der Arbeitsbetrieb hier unglaublich. Ich schlafe eigentlich nie mehr als sechs Stunden und bin den ganzen Tag in Bewegung.“ Er erwähnt seine unmittelbar bevorstehende Lehrtätigkeit an der Chicago Divinity School, vor der ihn „etwas graut“, aber andererseits sei Chicago „in jeder Beziehung nützlich, Geld, Sprache, Aufgabe“. Wie zuvor in seinem Brief an Alfred Fritz teilt er auch seiner Schwester die an die Studenten verteilte Disposition seines Kollegs über die Lehre vom Menschen mit – „damit Ihr seht, dass ich auch noch an anderen Dingen arbeite“. Im April werde er, so teilt er mit, an der Yale University vier Vorträge über dieses Thema halten, „die nachher gedruckt werden“.87 Im übrigen betrachte er „diese Dinge als das Programm meiner kommenden wissenschaftlichen Lebens-Arbeit“. 85 86 87

Ebd., 72. Paul Tillich an Elisabeth Seeberger, Weihnachten 1934, Kopie im PTAM. Das Manuskript der vier Vorträge ist nie publiziert worden.

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Nach dem Erfolg seines im zurückliegenden Semester gehaltenen Kollegs und eines zusammenfassenden Vortrags darüber, den er vor zwei Tagen vor Professoren der Fakultät gehalten habe, scheine er mit diesem Thema, der Anthropologie, „gerade in die hiesige theologische Übergangs-Situation hineinzuspringen“. In seinem Rundbrief vom 17. April 1935 blickt Tillich auf das zurückliegende zweite Semester (Spring Session) des Studienjahres. Am Seminary in New York war er von Lehrverpflichtungen befreit. Dafür hatte er an der Divinity School Chicago eine Lehrstuhlvertretung für einen Religionsphilosophen übernommen und ein wöchentlich vierstündiges Kolleg über die Geschichte der Religionsphilosophie88 gehalten, zu dem sich, wie er berichtet, 40 Studenten angemeldet hatten, „so ziemlich die höchste Belegschaft in der Fakultät überhaupt“.89 Dort hatte er auch Gelegenheit, im QuadrangleClub der Universität das Clubleben der Fakultäten kennen zu lernen. Unterbrochen wurde seine Tätigkeit durch Reisen zu Vorträgen an verschiedenen großen und kleinen Universitäten, wo er immer auch auf deutsche Professoren traf, wo er aber nicht nur Vorträge hielt, sondern z. B. zur Faschingszeit mit Deutschen „ein richtiges deutsches Kostümfest“ organisierte.90 Seine Berichte vermitteln den Eindruck, dass ihm allmählich die Fremde mehr und mehr zur Heimat wird, zumal er an den Universitäten und in ihren Diskussionsclubs Emigranten aus Deutschland begegnet. So berichtet er in dem genannten Rundbrief vom 17. April von der New School for Social Research in New York (er nennt sie „deutsche Fakultät für politische Wissenschaften“), dass sie es jetzt auf 17 Ordinarien gebracht habe, „davon 15 deutsche, die ich alle von Deutschland her kenne“.91

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Über die Geschichte der Religionsphilosophie hat Tillich auch in einem viersemestrigen Zyklus, beginnend im Studienjahr 1936/37, am Union Theological Seminary gelesen. Das Vorlesungsmanuskript zeigt, dass er sich im Inhalt weitgehend an die entsprechenden seit dem Wintersemester 1920/21 in Berlin gegebenen Vorlesungen gehalten hat (veröffentlicht in EW XIII). Dies wird auch für die Vorlesung in Chicago gelten. EW V, 225. Ebd., 228. Ebd.

XL

In der Tradition deutscher Universitätstheologie In seinem Selbstverständnis als akademischer Lehrer sieht er sich in Amerika durchaus in der Tradition deutscher Universitätstheologie. Bei einem Vergleich der amerikanischen mit den deutschen Studenten der Theologie fällt ihm auf, dass die deutschen Studenten „geschichtlich und philosophisch besser vorgebildet“ sind, „auch die Sprachkenntnisse, Lateinisch, Griechisch und Hebräisch … verbreiteter sind“ als in Amerika, wo man Theologie ohne Griechisch und Hebräisch studieren könne. Das theoretische Interesse sei bei den deutschen Studenten intensiver. Dafür seien die amerikanischen Studenten „menschlich reifer“ und „dem Leben näher“. Der Zielpunkt alles Denkens der amerikanischen Theologiestudenten sei die Praxis. „Nur von hier aus würdigen sie die theoretischen Probleme.“92 Praxis sei aber nicht einfach Berufstätigkeit, sondern Gestaltung der Wirklichkeit. So gebe es in jeder theologischen Fakultät je eine große Abteilung für religiöse Erziehung und für Sozialethik. Die Sozialethik habe an den theologischen Fakultäten die Bedeutung, die in Deutschland die systematische Theologie habe. Die Frage der sozialen Gestaltung stehe so im Vordergrund des theologischen Interesses, „dass die eigentlich theologischen Probleme häufig darunter leiden“. Er zitiert einen Schweizer Studenten, der bei seinem Abschied bekannt habe, er hoffe, „dass die reine Theologie in den theologischen Fakultäten nicht ganz ausstürbe“. Hier sieht Tillich nun seinen Platz und seine Aufgabe. „Diesem Interesse verdanke ich selbst einen großen Teil meiner hiesigen Tätigkeit, vor allen Dingen meiner ziemlich ausgedehnten auswärtigen Vortragstätigkeit“.93 Allerdings sieht er, dass bei den besten seiner Studenten, „die naive Anwendung der Theologie für soziales und politisches Handeln infolge der schweren Erschütterungen der Krise einigermaßen ins Wanken geraten ist“, mit der Folge, dass, „wenn auch nur bei kleinen Gruppen, ein gelockerter Boden auch für tiefere und grundsätzlichere Probleme vorhanden ist“.94 Dies sei die Voraussetzung für einen, wenn auch begrenzten Erfolg seiner Lehre vom Menschen, die er in vier Vorträgen an der Yale Divinity School in New Haven, wie er betont, „zum erstenmal zusammenfassend und systematisch 92 93 94

Ebd., 226. Ebd. Ebd.

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dargeboten hat“. Die Dinge, die er in diesen Vorträgen behandelt habe, seien nur für wenige hier zugänglich. Es sei aber eine Hilfe, dass Leute wie William James und Alfred North Whitehead in ähnlicher Richtung gearbeitet haben. In der amerikanischen Theologie sieht er eine Kampfsituation zwischen einem radikalen Liberalismus und einem Barthianismus, der von der alten Orthodoxie unterstützt wird. Namentlich in Chicago sei er in leidenschaftliche Diskussionen mit den Liberalen geraten, die sich nur langsam davon überzeugen ließen, dass er selbst weder Orthodoxer noch Liberaler sei. Eine „fast völlige Übereinstimmung“ habe er mit Reinhold Niebuhr und Wilhelm Pauck gefunden. Beide seien sehr einflussreich in Amerika und „fast uneingeschränkte Repräsentanten meiner eigenen Theologie“ [!]. Mit Kurt Goldstein, dem Frankfurter und Berliner Neurologen, und Robert Ulich, dem Dresdner Pädagogen, versuche er, ein Zentrum für Fragen der Anthropologie aufzubauen, wobei das frühere Frankfurter Institut für Sozialforschung – gemeint ist die New School for Social Research in New York – Unterstützung geben könne. Es stehe mit der Columbia University in der gleichen Verbindung wie früher mit der Frankfurter Universität. Die Arbeit, die in Deutschland durch den Nationalsozialismus zerstört wurde, wird hier also fortgeführt.

Religionsphilosophie und Lehre vom Menschen (Fortsetzung): Das Studienjahr 1935/36 Zum Studienjahr 1935/36 kehrt Tillich an das Union Theological Seminary zurück. Im ersten Semester hielt er wieder je eine religionsphilosophische und eine systematisch-theologische Vorlesung: eine zweistündige Vorlesung über ein Thema, das er bereits in Dresden und Leipzig in einem Kolleg behandelt hatte: die religiöse Geschichtsdeutung, sowie eine zweistündige Vorlesung über die Lehre vom Menschen. Im Announcement werden beide Vorlesungen wie folgt von ihm vorgestellt: Philosophy of Religion 33. The religious interpretation of history. Prophetism and sacramentalism in religion. Prophetism and the consciousness of history. The categories of the prophetic interpretation of history; the end of history as the basic category. The source of history; human essence and human existence. The central point and the periods of history. Two types of Christian interpretation of history; St. Augustine

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and Joachim of Floris. Religious and profane interpretation of history. Religious socialism and Marxism. Religious nationalism and Fascism. Prophetism and progress.95 Systematic Theology 17. The doctrine of man. Anthropological questions and theological answers: Human finiteness and transcendent infinity (the idea of God). Human contingency and transcendent necessity (the idea of creation). Human insecurity and transcendent security (the idea of providence). Human mortality and transcendent eternity (the idea of eternal life). Human guilt and transcendent perfection (the idea of salvation).96

Die religionsphilosophische Vorlesung über die religiöse Geschichtsdeutung ist, wie das Announcement erkennen lässt, weitgehend mit seinem ebenfalls 1935 publizierten Aufsatz Marx and the Prophetic Tradition97 identisch. Die systematisch-theologische Vorlesung über die Lehre vom Menschen ist die Fortsetzung seiner ein Jahr zuvor gehaltenen Vorlesung über dieses Thema. Allerdings konzentriert er sich nun auf den letzten Teil seiner Anthropologie, die theologische Anthropologie, die im Kern bereits sein späteres System vorwegnimmt. Die im vorliegenden Band publizierten Texte 3.1 bis 3.6 stellen die wesentlichen Teile der beiden Vorlesungen dar, die Tillich über die Lehre vom Menschen in den Studienjahren 1934/35 sowie 1935/36, jeweils im ersten Semester, gehalten hat. Die in den Texten 3.1 und 3.5 vorliegenden Gliederungen zeigen einen dreiteiligen Aufbau des Vorlesungszyklus.98 Der einzige Text, in dem alle drei Teile entsprechend den Gliederungen (3.1 und 3.5) im 95

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Union Theological Seminary in the City of New York. Annual Catalogue 1934-1935. Announcement 1935-1936, 72. Ebd., 73. In: Radical Religion, Vol. 1, No. 4, 1935, 21-29, deutsch: Marxistische und prophetische Geschichtsdeutung, in: GW VI, 97-108. Den ersten Teil bildet eine wissenschaftstheoretische und geschichtliche Darstellung der Entwicklung der Philosophie zur Lehre vom Menschen. Der zweite Teil behandelt Fragen der allgemeinen oder philosophischen Lehre vom Menschen. Thema des dritten Teils ist die theologische Lehre vom Menschen. Ausführungen zum ersten Teil finden sich in den Texten 3.2 (dort: 158-181), 3.3 (dort: 189-192), 3.4 (dort: 194-198), 3.5 (dort: 215-217) und 3.7 (dort: 263-275). Den zweiten Teil bilden folgende Texte: 3.2 (dort: 181-188), 3.4 (dort: 199-209), 3.5 (dort: 218-221), 3.6. (dort 230-252) und 3.7 (dort: 275300). Der dritte Teil wird in folgenden Texten behandelt: 3.4. (dort: 210-214), 3.5 (dort: 221-229), 3.6. (dort: 253-262).

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Zusammenhang dargestellt werden, ist Text 3.7, der die an der Yale Divinity School im April 1935 gehaltenen Gastvorträge enthält. In seinem Rundbrief vom 17.4.1935 gibt er folgende Zusammenfassung seiner vier Vorträge: Die erste Vorlesung enthielt einen Überblick über die wissenschaftliche Entwicklung in Deutschland und Europa vom Standpunkt der Anthropologie, vor allem also der Psychologie und Biologie einerseits, der Lebensund Existentialphilosophie andererseits. Die zweite Vorlesung betraf die Lehre von der menschlichen Freiheit, wo ich vor allem die Forschungen von Gelb und Goldstein und meine eigenen religionsphilosophischen Analysen über Freiheit und Bedrohtheit der menschlichen Existenz entfaltet habe. Der dritte Vortrag bezog sich auf die wichtigsten Kategorieen Kierkegaards und der Existentialphilosophie und entwickelte zugleich meine Lehre von der tragischen und moralischen Schuld. Im vierten Vortrag versuchte ich unter dem Titel „Anthropologische Fragen und theologische Antwort“ eine Neuformulierung der christlichen Grunddogmen mit Hilfe der neu gewonnenen Kategorieen zu geben.99

(1) Die Entwicklung der Wissenschaften und die Anthropologie Die Krise der Wissenschaften ist für Tillich eine „Krise der Abstraktion“ (177). Mehr und mehr hat der Mensch in der Welt, die er erkennt und gestaltet, sich selbst verloren. In der Gegenwart aber ist überall in den Wissenschaften, besonders in der Biologie, Psychologie und Soziologie, vor allem in der Philosophie, eine Gegenbewegung feststellbar hin zu einem Einheitspunkt. Dieser Einheitspunkt ist der Mensch. Alle Wissenschaften fragen bewusst oder unbewusst nach einer Lehre vom Menschen. Dies gilt selbst für die Physik.100 Für Tillich hat sich die Entwicklung der Wissenschaft in einer aus fünf Stufen bestehenden Kurve vollzogen (215f.). Auf der ersten Stufe verlässt der Mensch seine archaische, unmittelbare Einheit von Subjektivität und Objektivität (196). Die Welt wird zum Gegenstand. Die zweite Stufe, die Stufe der Abstraktion und Objektivation, ist bestimmt durch das Ideal der reinen bzw. rationalen Erkenntnis (Aristoteles, Descartes). In ihr wird der Mensch sich selbst fremd. In der dritten Stufe sucht sich der Mensch in der Distanz zu sich selbst, d.h. in den Wissenschaften, aber er findet sich in ihnen nicht. Auf der vierten Stufe beginnt der Mensch, zu sich selbst als Subjekt 99 100

EW V, 226f. Vgl. auch Tillichs Ansprache zur 425jährigen Gründungsfeier der Universität Marburg am 26.5.1952, in: GW XIII, 359-363.

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seiner Erkenntnis zurückzukehren. Die Wissenschaften fragen nach einer Lehre vom Menschen. Ihre Grenzen werden durchlässig. Am auffälligsten ist dies in der Biologie, Psychologie, Soziologie, Medizin und Theologie. Auf der fünften Stufe findet der Mensch sich selbst und seine Welt in sich selbst. Sie wird in der Existentialphilosophie erreicht und führt zur philosophischen und theologischen Anthropologie. Die Existentialphilosophie wollte aber keine Anthropologie, „sie wollte eine Ontologie, aber sie spürte, dass sie nur einen einzigen Zugang zum Sein hatte, den Menschen“ (275). „So erhielt die Ontologie den Charakter einer Lehre vom Menschen. Nicht die Dinge, nicht die Abstraktionen vom Wesen, sondern die konkreten Elemente menschlicher Existenz sind das Tor in die Welt und in die Beschaffenheit des Seins. Das Sein ist verstehbar nur als unsere eigene Existenz …“ (275) (2) Das gedoppelte Sein des Menschen Die Grundstruktur seiner in den Jahren 1934 und 1935 entfalteten Lehre vom Menschen hat Tillich bereits in seiner im Jahre 1932 verfassten Schrift Die sozialistische Entscheidung formuliert. In der Einleitung schreibt Tillich: Der Mensch ist im Unterschied von der Natur ein in sich gedoppeltes Wesen. Ganz gleich, wo die Natur aufhört und wo der Mensch anfängt, ganz gleich, ob es langsame Übergänge oder einen Sprung zwischen beiden gibt: Irgendwo wird der Unterschied sichtbar. Dort ein Lebensprozess, der ganz eins ist mit sich selbst und ohne zu fragen oder zu fordern seine Natur entfaltet, gebunden an das, was er an sich und seiner Umwelt vorfindet. Hier ein Lebensprozess, der nach sich und seiner Umwelt fragt, der an sich und seine Umwelt Forderungen stellt, der also nicht eins ist mit sich, sondern die Doppelung hat, in sich zu sein und zugleich sich gegenüber zu stehen, sich zu denken, von sich zu wissen. Der Mensch hat Bewusstsein von sich, oder im Verhältnis zur Natur ausgedrückt: Der Mensch ist das Sein, das in sich zu selbstbewusstem Sein gedoppelt ist. Der Natur fehlt diese Doppelung. Der Mensch ist also … nicht ein Wesen, das aus zwei selbständigen Teilen zusammengesetzt ist, etwa aus Natur und Geist, oder aus Leib und Seele, sondern er ist ein Sein; aber in sich, in seiner Einheit gedoppelt.101

101

GW II, 226.

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(3) Das Sich-selbst-Haben, Freiheit und Endlichkeit Allerdings wird Tillich den in diesem Zitat noch vorausgesetzten und auf den Menschen übertragenen Seinsbegriff durch einen Begriff ersetzen, den er aus unserer Selbsterfahrung ableitet und der die beiden Irrwege der Objektivierung und Subjektivierung vermeiden soll: den Begriff „Sich-selbst-Haben“, den er mit dem Begriff der Totalität verbindet. „Das Sich-selbst-Haben umfasst mehr als Selbstbewusstsein“, „es beschreibt die Totalität der menschlichen Natur“ (278). Es „impliziert den dynamischen Charakter unserer Natur: Sich-selbstHaben, das heißt handeln an sich selbst, sich selbst ändern, über sich selbst entscheiden, fähig sein, sich selbst zu verlieren usw. So umfasst dieser Ausdruck die wesentlichen Elemente unserer Natur: die innere Zweideutigkeit, den dynamischen Charakter, die Freiheit und die Gefährdung unserer Existenz.“ (278) Zum Sich-selbst-Haben gehört das Welt-Haben. Welt haben heißt eine Totalität haben, die uns gegenüber steht und zu der wir doch gehören. Der Doppelung unserer inneren Beziehung entspricht eine Doppelung unserer äußeren Beziehung. Tillich unterscheidet ein dreifach gestuftes Sich-selbst-Haben und Welt-Haben (279): ein Sich-selbst-noch-nicht-Haben der anorganischen Natur, das zugleich Umgebung hat, ein Sich-selbst-einfachHaben des Tieres, das zugleich Umwelt hat, und das Sich-selbstausdrücklich-Haben des Menschen, das Welt-Haben einschließt. Das Tier ist gebunden an sich selbst, hat keine Macht über sich, ist einfach identisch mit sich selbst. Demgegenüber hat der Mensch Macht über sein Sich-selbst-Haben, fragt nach sich selbst, denkt sich selbst, kann an sich selbst Forderungen stellen, sich von sich selbst distanzieren, sich selbst widersprechen, sich selbst verlieren. Diese dritte Stufe des Sich-selbst-Habens, das Sich-selbst-ausdrücklich-Haben, bezeichnet Tillich auch als „Sich-selbst-haben-als-sich-selbst-habend“ (281) oder kurz als „Selbstmächtigkeit“ (185, 186, 187). Welt-Haben heißt eine Einheit des Unendlichen oder Totalität haben. Wie aber können wir, die wir auf einen bestimmten Raum begrenzt sind, in diesem Sinne Welt haben? Das ist möglich, weil Welt Kosmos, d.h. Ordnung, ist und weil wir mittels Kategorien, Begriffen, Formen uns auf die Welt beziehen können. „Die Beziehung des Sich-selbst-Habens zu diesen Formen der Einheit ist das, was wir den Geist des Menschen nennen.“ (281) Durch diese Allgemeinbegriffe und Kategorien ist der Mensch frei gegenüber allen konkreten

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Situationen. Hier hat die Freiheit des Menschen ihren Ursprung und Ort. „Die Freiheit des Menschen ist seine Beziehung zu den Prinzipien, die seine Welt konstituieren, eine Beziehung, die wir den Geist des Menschen nennen. Indem der Mensch sich selbst hat, transzendiert er sich selbst, weil er Geist ist; und indem der Mensch sich selbst transzendiert, bewahrt er sich selbst, weil er Körper ist. Aber in letzter Hinsicht ist er weder Körper noch Geist, er ist Seele oder Sich-selbst-ausdrücklich-Haben.“ (282) Die Freiheit des Menschen ist also diejenige Stufe des Sich-selbst-Habens, in der das Selbst mit der Unendlichkeit oder der Totalität der Welt verbunden ist. In der Auffassung der Freiheit sieht Tillich die entscheidende Differenz zwischen einer rein philosophischen Anthropologie und der philosophisch-theologischen Anthropologie. Sein Freiheitsbegriff schließt die Freiheit des Menschen ein, seinem Wesen zu widersprechen. „Der Mensch hat sich selbst in seiner Endlichkeit, getrennt von seiner eigenen Unendlichkeit, er empfängt Gebote von ihr [der Unendlichkeit], widersetzt sich ihnen durch die Notwendigkeit seiner individuellen Existenz; schuldig jedoch durch seinen Widerspruch, weil frei und verbunden mit seiner Unendlichkeit.“ (204) Die Endlichkeit des Menschen ist also die Trennung von seiner Unendlichkeit. „Endlichkeit-Haben ist eine besondere Qualität des UnendlichkeitHabens, nämlich die Qualität des Unendlichkeit-haben-Müssens und des Von-ihr-Ausgeschlossenseins.“ (204) Diese mit der Unendlichkeit verknüpfte Endlichkeit bildet für Tillich die Brücke von der Philosophie zur Theologie. Die Grundqualitäten der menschlichen Endlichkeit sind, subjektiv ausgedrückt, die Angst und die Verzweiflung, objektiv ausgedrückt, Kontingenz und Schuld. Entsprechend den drei Modi der Zeit unterscheidet Tillich drei Formen der Angst bzw. der Kontingenz: das Gefühl der Heimatlosigkeit und Fremdheit der Existenz (subjektiv) bzw. das Sich-selbst-Empfangenhaben durch Zufall (objektiv), die Angst um seine Existenz (subjektiv) bzw. das Sich-selbst-Haben ohne Sicherheit (objektiv), die Schwermut der Existenz (subjektiv) bzw. das Sich-selbst-loslassen-Müssen (objektiv). Mit der Angst bzw. der Kontingenz verbinden sich Verzweiflung bzw. Schuld. Im Anschluss an Kierkegaards Analyse sieht Tillich die Voraussetzung der Verzweiflung im individuellen Selbst, das von der Totalität getrennt, aber zu ihr gehört und sich ihr entweder unterwerfen oder sie in sich hineinziehen will. Diese Situation ist durch unsere Freiheit verursacht, also Schuld. „Meine gespaltene Situation, meine Existenz in

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der Trennung ist Schuld. Sie drückt meine eigene Totalität aus. Ich bin nicht imstande, sie zu überwinden, denn ich selbst bin es, der sie herbeigeführt hat. So wenden wir uns gegen das, was wir sind.“ (209) Angst und Kontingenz sind somit nicht nur Notwendigkeit, sie sind gleichzeitig schuldhafte Trennung von der Totalität. (4) Die Frage nach der Teilhabe am Sich-selbst-absolut-Haben Alle Versuche des Menschen, aus eigener Kraft der Angst und der Verzweiflung zu entkommen, bleiben innerhalb der Möglichkeiten unserer Endlichkeit. Diese Aporie führt zur religiösen Frage an unsere Endlichkeit. Sie ist die Frage nach der Teilhabe an der Totalität, „das heißt: am Sich-selbst-absolut-Haben“ (211). Im Sich-selbst-absolutHaben haben wir unsere „eigene Totalität“. So führt also die Lehre vom Menschen, „die Lehre vom Sich-selbst-Haben in Freiheit und Endlichkeit, notwendig zur Frage nach der Teilhabe am Sich-selbstabsolut-Haben“ (211). Die menschliche Endlichkeit kann von sich aus keine Antwort auf diese Frage geben. Die Lehre vom Menschen liefert die Kategorien und Formen, mit denen die Theologie auf der Grundlage der Offenbarung und des Glaubens arbeitet. Die Antwort – religiös gesprochen: die Offenbarung – ist eine Sache des Glaubens. Sie bedarf aber der Interpretation durch die Theologie, die ihrerseits auf die Hilfe der Lehre vom Menschen angewiesen ist. Die Angst und Kontingenz werden überwunden durch die Ideen102 der Schöpfung, der Vorsehung und des ewigen Lebens. Verzweiflung und Schuld werden durch die Idee der Erlösung überwunden. Gott ist, wie Tillich in der an der Yale University gehaltenen Vorlesung formuliert, „der Ausdruck für das Paradox, dass wir in dem endlichen und kontingenten Uns-selbst-Haben an dem absoluten Sich-selbstHaben teilhaben“ (307). (5) Die Korrelation von anthropologischen Fragen und theologischen Antworten Damit ist die Methode der Korrelation von anthropologischer Frage und theologischer Antwort durchgeführt, allerdings zunächst konzentriert auf die Idee Gottes, der Schöpfung, der Vorsehung und der Erlösung. Seiner viersemestrigen Vorlesung Advanced problems in systematic theology, die er in den Studienjahren 1936/37 und 102

Tillich verwendet hier also nicht den Begriff des Symbols.

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1937/38 am Union Theological Seminary halten wird, legt er folgende Gliederung zugrunde: I. Revelation and reason. II. God and the world. III. Christology and human existence. IV. The Kingdom of God and history.103

Wir haben hier die Urfassung der späteren „Systematischen Theologie“ Tillichs. Sie weicht allerdings in zwei Punkten von dem uns bekannten Aufbau ab. Sie geht von der Christologie unmittelbar zur Lehre vom Reich Gottes und der Geschichte über, enthält also noch nicht die Korrelation „Das Leben und der Geist“. Tillich hat sie erst später als Teil IV in sein System eingefügt und den bisherigen Teil IV (Das Reich Gottes und die Geschichte) als Teil V angefügt. Sodann fällt auf, dass Tillich in der ursprünglichen Version seines Systems – laut Announcement von 1936/37 und 1937/38 – die theologische Antwort der anthropologischen Frage vorordnet. Dies hat, wie seiner an der Yale University gehaltenen Vorlesung zu entnehmen ist, seinen Grund in Tillichs These, dass die anthropologischen Fragen auf Voraussetzungen beruhen, die wir als vorgängige Antworten auf Fragen verstehen können. Die Fragen entstehen nicht willkürlich oder zufällig, sie setzen Antworten und damit Geschichte voraus. So ist die Frage nach dem Transzendenten „nur möglich durch Antworten, in denen das Transzendente als eine Möglichkeit wahrgenommen worden ist“ (302). Den Antworten geht wiederum eine Frage voraus usw. – bis zu dem Punkt, an dem Antwort und Frage, Frage und Antwort eins sind. Dieser Punkt ist für Tillich „der Akt, in dem der Mensch Mensch wurde mit Freiheit und Endlichkeit“ (302). Durch diesen Akt ist der Mensch von Anfang an mehr als Natur, er hat Geschichte. Hier verbindet sich Tillichs Anthropologie mit seiner Geschichtsphilosophie.104 Das Sich-selbst-Haben versteht Tillich also als Geschichte-Haben. Dies meint, „dass die Totalität unserer Existenz sich offenbart in der Form des Kommens von-her und des Gehens auf-zu“ (303). Die Endlichkeit unserer Existenz ist eingebettet in die Sinnstruktur der 103

104

Union Theological Seminary in the City of New York. Annual Catalogue 1935-1936. Announcement 1936-1937, New York 1936, 74. Vgl. Tillichs Frankfurter Vorlesung über Geschichtsphilosophie von 1929/30 (in: EW XV, 1-289), auf die er in seiner Lehre vom Menschen immer wieder zurückgreift.

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Geschichte, die auf Erlösung und Erfüllung zugeht. Tillichs Anthropologie ist geschichtlich-prophetisch bestimmt, im Unterschied zur tragischen und mystischen Interpretation der menschlichen Existenz, für die Zeit und Geschichte bedeutungslos sind.105 Tillichs Metaphysik oder Dogmatik ist in diesem Sinne eine „historisch-existentielle Dogmatik“.106 In seiner Schrift Die sozialistische Entscheidung107, aber auch in dem 1935 publizierten Aufsatz Marx and the Prophetic Tradition108 hat er die Strukturanalogien zwischen der prophetischen und sozialistischen Geschichtsdeutung untersucht. Alle prophetische Erwartung sieht er durch Forderung und Verheißung charakterisiert. Dies gelte auch für den Sozialismus, namentlich auch für den Marxismus, und kennzeichne ihn „unzweideutig als prophetisch“.109

Der Mensch im Christentum und Marxismus Um Analogien zwischen der christlichen und der marxistischen Auffassung vom Menschen geht es auch in der Studie The Christian and the Marxist View of Man (= Text 3.8). Tillich hat sie mit dem Datum „Dezember 1935“ der Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum in Genf zur Vorbereitung auf die Weltkirchenkonferenz von 1937 in Oxford vorgelegt. Sie ist die für ihn „wichtigste“ unter den vielen Arbeiten, die er „in diesen Monaten“ verfasst hat.110 Beunruhigt durch den Totalitätsanspruch, der von verschiedenen Seiten „im Namen des modernen Staates“ erhoben wird und der darauf gerichtet ist, „das gesamte Leben des Volkes zu kontrollieren und zu gestalten“, beschloss das Exekutivkomitee des Ökumenischen 105

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109 110

Vgl. dazu die Ausführungen Tillichs im vorliegenden Band S. 303 Anm. 1 („Folgt gestr.“). So Paul Tillich in seinem Brief an Hermann Schafft, EW VI, 228. GW II, 310f. In: Radical Religion Vol. 1, 1935, 21-29 (Übersetzung eines deutschen Typoskripts mit dem Titel Profetische und marxistische Geschichtsdeutung). GW II, 313. Paul Tillich an Eugen Rosenstock-Huessy, undatiert [Dezember 1935], EW VI, 294-296 [296]. In EW VI, 297 Anm. 5 wird fälschlich „Marx and the Prophetic Tradition“ mit dieser der Forschungsabteilung vorgelegten Arbeit identifiziert.

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Rates der Kirchen auf seiner Tagung in Chamby (im April 1935), „den großen Ernst der neuen Lage“ allen Christen nahe zu bringen und den Kirchen zu einem „christlichen Zeugnis von größerer Geschlossenheit und Klarheit über die gegenwärtigen Probleme“ zu verhelfen.111 Das Thema der Weltkirchenkonferenz sollte aber zuvor in Studienkonferenzen, Diskussionsgruppen und Einzelgesprächen intensiv vorbereitet werden. Zweihundert bis dreihundert „der fähigsten christlichen Denker, Laien wie Theologen“ in den verschiedenen Ländern sollten sich mit dem Thema befassen.112 Das Thema wurde in neun Einzelthemen aufgeteilt. An erster Stelle stand das Thema „Das christliche Menschenverständnis“, gefolgt von dem Thema „Gottesreich und Geschichtswelt“. Zu beiden Themen hat Tillich speziell für den Ökumenischen Rat einen Beitrag geliefert. Während seine Arbeit zum ersten Thema unveröffentlicht blieb113, wurde sein zweiter Beitrag, ein vor der Weltkirchenkonferenz in Oxford gehaltener Vortrag, als offizielles Dokument des Ökumenischen Rates veröffentlicht.114 Dass Tillichs Beitrag nicht in das Studienbuch der Konferenz aufgenommen wurde, mag seinen Grund darin haben, dass sein Ansatz, der Aufweis von Strukturanalogien zwischen der christlichen und der marxistischen Anthropologie, dem Arbeitsprogramm der Forschungsabteilung nicht entsprach. Der publizierte Beitrag des exilrussischen Rechtswissenschaftlers Nicolas N. Alexeiev, der sich ebenfalls mit der marxistischen und christlichen Auffassung vom 111

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Arbeitsprogramm für die Vorbereitung der Weltkirchenkonferenz von 1937, 42, in: J. H. Oldham, Kirche, Volk und Staat. Ein ökumenisches Weltproblem. Forschungsabteilung des Ökumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1936, 41-48. Ebd. Sein Beitrag The Christian and the Marxist View of Man wurde nicht in das offizielle Studienbuch der Konferenz (T. E. Jessop, The Christian Understanding of Man [The Church Community, and State Series 2], London 1938) aufgenommen. Tillichs Thema wurde von dem in Prag bzw. Berlin lehrenden exilrussischen Rechtswissenschaftler Nicolas N. Alexeiev behandelt und in dem genannten Studienbuch publiziert (The Marxist Anthropology and the Christian Conception of Man, in: The Christian Understanding of Man, 83-137. Dort findet sich auch Emil Brunners Aufsatz The Christian Understanding of Man (ebd., 141-178). Paul Tillich, The Kingdom of God and History, in: Herbert George Wood, The Kingdom of God and History (The Official Oxford Conference Books. Vol. 3), Chicago, New York 1938, 107-141.

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Menschen befasste115, arbeitete sehr stark die Differenzen im Sinne einer Abgrenzung heraus. So forderte er u.a., dass der Marxismus die materialistisch-naturalistische Form seiner Antwort auf den Idealismus, seine Ablehnung der Idee der persönlichen Verantwortung, seine Doktrin vom Aufgehen des Individuums in der Gesellschaft und seinen militanten Atheismus aufgeben müsse, wenn es zwischen Christen und Marxisten einen modus vivendi geben soll.116 Im Arbeitsprogramm des Ökumenischen Rates war gefordert worden, die christliche Auffassung vom Menschen solle „durch die Gegenüberstellung mit anderen Menschenauffassungen, wie sie im Idealismus und im naturalistischen Humanismus, im Marxismus, in den modernen biologischen Lebensphilosophien und in den Rassetheorien, in der modernen Psychologie und im chinesischen Geistesleben wirksame sind“, noch deutlicher herausgearbeitet werden.117 Tillichs die Strukturanalogien betonender Beitrag wird dieser Forderung nur unzureichend gerecht. Tillich nennt folgende sieben Problemkreise protestantischer Anthropologie, um sie mit entsprechenden Anschauungen der sozialistisch-marxistischen Anthropologie zu vergleichen und Analogien festzustellen: 1. Der Urstand des Menschen, 2. der Übergang des Menschen vom Urstand zum Stand der Wesenswidrigkeit, 3. der Charakter dieser Wesenswidrigkeit, 4. die Existenz in der Wesenswidrigkeit, 5. die Überwindung der Wesenswidrigkeit, 6. das wahre Ziel des Menschen und 7. das wahre Ziel der Menschheit. Die vielen Analogien, die Tillich feststellt, bezeichnet er als Strukturanalogien zwischen zwei Systemen von Ideen. Strukturanalogien sind für ihn „funktionale Ähnlichkeiten, die auf der Tatsache beruhen, dass trotz aller individuellen historischen Differenzen gewisse grundlegende Typen der Denkstruktur sich immer wieder durchsetzen …“ (342). So weisen das Christentum, besonders in seinen stärker prophetisch ausgerichteten Formen, und der Marxismus, besonders in seiner ursprünglichen Form, „eine enge typologische Affinität“ (342) auf. In beiden finden 115 116

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Siehe Anmerkung 113. In seinem Reisetagebuch berichtet Tillich, Alexeiev habe seinen Beitrag an Stelle von N. Berdjajew geschrieben. Er selbst (Tillich) habe seinen Entwurf, „der recht gut ist“, gelesen und soll ihn kritisieren (Paul Tillich, My Travel Diary: 1936. Between two worlds, ed. by Jerald C. Brauer, New York, Evanston, London 1970, 111). Arbeitsprogramm für die Vorbereitung der Weltkirchenkonferenz von 1937, in: J. H. Oldham, Kirche, Volk und Staat, Genf 1936, 43.

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sich die Strukturen einer „prophetischen Anthropologie“ (342), die zu einer Fülle von Analogien geführt haben „und dies in einem solchen Maße, dass man von einer engen typologischen Verwandtschaft von christlicher und marxistischer Anthropologie sprechen muss“ (343). Dies könne aber nicht von der Aufgabe dispensieren, auch die strukturellen Widersprüche zwischen beiden Anthropologien zu zeigen. So sieht er den grundlegenden Gegensatz zwischen beiden in der transzendenten Begründung der Anthropologie im Christentum und der immanenten Begründung im Marxismus. Tillich bestimmt ihn als den Gegensatz zwischen göttlichem Handeln zum Heil des Menschen und menschlichem Handeln in den Grenzen der Gesellschaft. Dieser Gegensatz wirkt sich dann in den sieben genannten Problemfeldern aus. Tillich beschreibt ihn klar. Das zukünftige Verhältnis zwischen Christentum und Marxismus hängt nach seinem Urteil aber davon ab, ob der Gegensatz zwischen einer transzendenten und immanenten Begründung als exklusiv oder als partikular verstanden wird. Im ersten Falle werde es trotz der Strukturanalogien zu einem „Kampf um Leben und Tod“ zwischen ihnen kommen. Im zweiten Falle würde das Christentum den Marxismus als „das prophetisch-immanente Element seines eigenen Wesens verstehen“ müssen. Es müsste dieses Element wieder in sich aufnehmen. Dies sei das Bestreben des religiösen Sozialismus gewesen und es sei dies nach seiner Auffassung auch die Aufgabe, vor der die christliche Kirche und Theologie überall in der kapitalistischenWelt stehe (347).

Auf der Grenze zwischen Philosophie und Theologie In seiner im Jahre 1935 verfassten Selbstdarstellung mit dem Titel Auf der Grenze118 kommt Tillich im 7. Abschnitt auf die drei hier publizierten Vorlesungen der Jahre 1934 und 1935 zurück. Zunächst berichtet er, er sei durch das Aufkommen der Existentialphilosophie Heideggers zu einem neuen Verständnis des Verhältnisses von Philosophie und Theologie geführt worden.119 Auf die Aufnahme dieser Philosophie sei er in dreifacher Weise vorbereitet gewesen. Einmal durch die genaue Kenntnis von Schellings Spätperiode, „in der er im Kampf mit Hegels Wesensphilosophie einer Existentialphiloso118 119

GW XII, 13-57. Ebd., 36.

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phie den Weg zu bahnen suchte“. Zweitens durch „eine, wenn auch begrenzte Kenntnis von Kierkegaard, dem eigentlichen Begründer der Existentialphilosophie“, drittens durch seine „Abhängigkeit von der Lebensphilosophie“. „Diese drei Elemente, zusammengefasst und in eine augustinisch gefärbte Mystik getaucht, erzeugten das Faszinierende von Heideggers Philosophie“. Durch ihre Auslegung der menschlichen Existenz begründe sie, „ohne es unmittelbar zu wollen“, „eine Lehre vom Menschen, die zugleich Lehre von der menschlichen Freiheit und von der menschlichen Endlichkeit ist und die der christlichen Interpretation von der menschlichen Existenz so nahe steht, dass man hier trotz des betonten Atheismus Heideggers von einer ‚theonomen Philosophie‘ reden muß“.120 Tillich unterscheidet aber scharf zwischen dieser Philosophie, der Existentialphilosophie, und der Theologie. Die Existentialphilosophie gibt keine theologische Antwort. Wollte sie dies tun, wäre sie „Idealismus und das Gegenteil von Existentialphilosophie“. Der entscheidende Satz Tillichs über das Verhältnis von Philosophie und Theologie lautet: „Wohl aber stellt die Existentialphilosophie durch ihr Dasein in neuer und radikaler Weise die Frage, deren Antwort in der Theologie für den Glauben gegeben ist.“121 Durch diesen Gedanken, den er in seiner Vorlesung an der Yale University ausgeführt habe, habe er die Grenze zwischen Theologie und Philosophie „schärfer gezogen“ als in seiner früheren Religionsphilosophie, fügt aber hinzu, „das wechselseitige Umfassungsverhältnis“ habe er damit nicht aufgegeben.122 Von der Unterscheidung von Frage und Antwort, aber vor allem von dem „wechselseitigen Umfassungsverhältnis“ handelt auch Tillichs 1935 publizierter Aufsatz What is Wrong with the „Dialectic Theology“?123 Veranlasst durch den Begriff „dialektische Theologie“, betont Tillich in diesem Aufsatz die von ihm als Dialektik bezeichnete Wechselseitigkeit von Frage und Antwort: „Dialektisch ist es, in der Religionsgeschichte Antworten, Irrtümer und Fragen zu finden, die auf die endgültige Antwort hinführen und ohne die die endgültige Antwort ein Ungefragtes, Unverstandenes und Fremdes bleiben 120 121 122 123

Ebd. Ebd. Ebd., 37. In: The Journal of Religion Vol. 15, 1935, 127-145, deutsche Fassung in: Die christliche Welt 50, 1936, Sp. 353-364, und in GW VII, 247-262.

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müsste“.124 Das „wechselseitige Umfassungsverhältnis“ von Frage und Antwort wird durch die Unterscheidung von „vorhergehendem irrenden Wissen“ und „endgültiger Antwort“ näher bestimmt.

Zwischen Heimat und Fremde Im Herbst 1935 ließ Tillich einen großen Teil seiner Bücher und seiner Habe aus Deutschland nach New York kommen, „auch eine Vervollständigung der Emigration!“, wie er bemerkt.125 Er kann nun, wie er weiter berichtet, in einem „fabelhaften Office“ im Seminary mit seinen eigenen Büchern, „von aller Welt abgesperrt“, wieder arbeiten. Der beherrschende Mittelpunkt in der Wohnung aber ist das im Sommer geborene Baby, René. Der „Vervollständigung der Emigration“ soll gewiss auch die für das kommende Jahr geplante erste Sammlung seiner früheren Aufsätze zur Geschichtsdeutung (nicht zum religiösen Sozialismus!), nun in englischer Übersetzung, sein.126 Der Band wird mit einer „Selbstdarstellung“ eröffnet werden. Schon vorab sendet er sie einigen Freunden, wie z.B. Robert Ulich und Eugen Rosenstock-Huessy, zu. Mit ihr und seinen geschichtsphilosophischen Aufsätzen aus der deutschen Zeit will Tillich sich dem akademischen Publikum in Amerika vorstellen. Die Selbstdarstellung zwingt ihn, kurz vor Vollendung seines 50. Lebensjahres, über seine persönliche und intellektuelle Entwicklung nachzudenken und öffentlich Rechenschaft abzulegen. Er stellt sie unter den Begriff der Grenze. Fast immer sei es sein Schicksal gewesen, so begründet er die Wahl dieses Symbols, „zwischen zwei Möglichkeiten der Existenz zu stehen, in keiner ganz zu Hause zu sein, gegen keine eine endgültige Entscheidung zu treffen“. So fruchtbar diese Haltung für das Denken gewesen sei, „weil Denken Offenheit für neue Möglichkeiten voraussetzt“, so „schwierig und gefährlich“ sei sie für das Leben, „das ständig Entscheidungen und damit Ausschließen von Möglichkeiten fordert“.127 124 125

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GW VII, 257. Paul Tillich an Eugen Rosenstock-Huessy, undatiert [Oktober/November 1935], in: EW VI, 289. Paul Tillich, The Interpretation of History, New York, London 1936. GW XII, 13.

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Am Schluss seiner Selbstdarstellung reflektiert Tillich über das Denken und Leben auf der Grenze zwischen Heimat und Fremde. Der Befehl an Abraham „Gehe aus deiner Heimat … in ein Land, das ich dir zeigen will“ könne die Forderung bedeuten, Boden und Volksgemeinschaft zu verlassen, also äußere Emigration. Häufiger bedeute die Forderung aber, „sich von den herrschenden Mächten, sozialen und politischen Strömungen zu trennen, ihnen aktiv oder passiv Widerstand zu leisten“, also innere Emigration. Tillich kennt aber auch noch eine rein innerliche Bedeutung des Befehls, die Heimat zu verlassen. Gemeint ist die „Trennung von Glaubens- und Denkgewohnheiten, Überschreiten jeder Grenze dessen, was selbstverständlich ist, radikales Fragen und Vorstoßen zu dem Neuen, Unbekannten, dem ‚Kinderland‘ im Gegensatz zu allen Vater- und Mutterländern (Nietzsche)“.128 Schließlich könne die Fremde aber auch „das Gefühl einer letzten Fremdheit gegenüber dem Nächsten, Vertrautesten bedeuten, jenes metaphysische Fremdheitserlebnis, das die Existentialphilosophie als einen Ausdruck der menschlichen Endlichkeit beschreibt“.129 Er habe, so deutet Tillich seine bisherige geistige Entwicklung, „von jeher, und je länger desto mehr“, zwischen Heimat und Fremde gestanden. Er habe sich also „nicht einseitig für die Fremde entschieden“. Dies gelte sowohl für die äußere wie die innere Emigration, auch für das „geistige Überschreiten der Grenzen“.130 Anders ausgedrückt: Heimatgebundenheit im äußeren wie im inneren Sinne, auch im Sinne geistiger Existenz, war für ihn immer „selbstverständlich“. Tillich nennt dieses Stehen „auf der Grenze“ und „zwischen den Räumen“ „das Dialektische der Existenz“.131 Das ist das Bild, das Tillich in seiner Autobiographie von 1935 von sich zeichnet: „An vielen Grenzen stehen, heißt in vielerlei Formen die Bewegtheit, Ungesichertheit und innere Begrenztheit der Existenz zu erfahren und zu dem Ruhenden, Sicheren und Erfüllten, das auch zu ihr gehört, nicht gelangen zu können.“132 Das gebe dem Leben wie dem Denken „etwas Fragmentarisches, Tastendes, Ungesichertes“. Das Schicksal, das ihn auf den Boden eines neuen Kontinents geworfen habe, habe 128 129 130 131 132

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

54. 54f. 55. 57.

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seinen Wunsch, seinen Gedanken eine abschließende Form zu geben, „wieder einmal durchkreuzt“.133 Die Vollendung seiner Gedanken sei Hoffnung, deren Erfüllung im Alter von fast fünfzig Jahren ungewiss sei. Die Rede vom Stehen „auf der Grenze“ ist also auch Ausdruck der Bewegtheit und Ungesichertheit im Leben wie im Denken.

Das religiöse Zeugnis als Unheils-Prophetie Tillichs Brief an E. Seeberg (1935) Hatte Tillich zu Beginn des Jahres 1934 noch auf eine Rückkehr nach Deutschland gehofft, selbst unter entwürdigenden Bedingungen, so ist er nun, im Jahre 1935, bereit, Abschied zu nehmen von Deutschland und Europa. Selbst die für 1936 geplante Europareise – unter Umgehung Deutschlands – versteht er als einen Abschied134, obwohl er doch in Amerika weder Heimat noch eine feste Stellung gefunden hat. Nun ist ihm klar: Es gibt, solange der Nationalsozialismus Deutschland im Griff hat, kein Zurück. So schreibt er kurz vor Weihnachten 1935 an seinen einstigen akademischen Lehrer Fritz Medicus in Zürich: „Von mir ist nicht viel mehr zu sagen, als dass ich weiter als Gastprofessor hier am Union Theological Seminary arbeite, ohne eine feste Stellung zu haben oder in Aussicht zu haben. Der Gedanke einer Rückkehr nach Deutschland ist inzwischen in weitere Ferne gerückt denn je. Gibt es doch kaum etwas in der Geschichte wozu ich ein stärkeres Nein haben könnte als zu dem, was jetzt in Deutschland geschieht.“135 Tillich hatte sich in den zurückliegenden Jahren, schon von Dresden aus, mehrfach an Erich Seeberg, den Sohn von Reinhold Seeberg und einflussreichen Berliner Kirchenhistoriker, gewandt mit der Bitte, ihm zu einer Stelle an der Berliner theologischen Fakultät zu verhelfen. Noch im März 1933 hatte er ihn gebeten, seinen Einfluss bei „maßgebenden rechtsgerichteten Persönlichkeiten“ geltend zu machen und eine drohende Entlassung in Frankfurt abzuwenden. Seine Schrift Die sozialistische Entscheidung hatte er als den Versuch 133 134 135

Ebd. EW VI, 296. Paul Tillich an Fritz Medicus, undatiert [Dezember 1935], in: Friedrich Wilhelm Graf und Alf Christophersen (Hrsg.), Die Korrespondenz zwischen Fritz Medicus und Paul Tillich, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/ Journal for the History of Modern Theology 11, 2004, 126-147 [138].

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verteidigt, „einen zugleich profetischen und der deutschen Situation angemessenen Sozialismus zu schaffen“. Wenn man ihn in Frankfurt aus der Universität beseitige, aber die Existenz in Deutschland ermögliche, bleibe ihm kaum etwas anderes übrig, „als – eine Habilitation für Religionsphilosophie in Berlin zu versuchen“. Vielleicht komme es, so schrieb er an Erich Seeberg im März 1933, nun doch zu einer gemeinsamen Arbeit mit ihm an der Berliner theologischen Fakultät.136 Einen ganz anderen Ton schlägt Tillich nun in seinem Brief an Erich Seeberg vom Dezember 1935 an.137 Es ist sein erster Brief aus dem Exil an ihn und auch sein letzter. Den Tod von Erich Seebergs Vater, des modern-positiven Berliner Systematikers und Dogmenhistorikers Reinhold Seeberg, nimmt Tillich zum Anlass, von dessen „vollendetemWerk“ zu sprechen – „bei dem Gedanken an das vorerst zerbrochene und geschändete eigene Werk“, wie er hinzufügt. „Ihr Vater wie auch mein Vater“, so Tillich, „gehören zu den letzten einer Generation, eines Zeitalters, in der das noch möglich war“, d.h. in der ein Lebenswerk noch abgeschlossen werden konnte. „Wir sind die erste Generation eines Zeitalters, in dem es die Wahrheit nur noch in der Form des Zeugnisses und des Standes der Verfolgung geben kann“. Erich Seeberg hatte wohl in seinem (nicht erhaltenen) Brief nicht ohne eine gewisse Apologetik behauptet, er stehe in der Theologie und Kirche in Deutschland auf Seiten der Minorität. Tillich nimmt nun darauf Bezug: „Ihr Stehen zur Minorität wird von mir geachtet.“ Doch es sei ja nur „in der begrenzten kirchlichen Sphäre Minorität“, in der „umfassenden staatlichen“ sei es „Majorität oder zum mindesten Macht“. Darum könne heute weder die Minorität noch die Majorität maßgebend sein, sondern nur „die Wahrheit selbst, von der ich, wie Sie wissen, glaube, dass sie heut an die Einheit des religiösen und sozial-antidämonischen Zeugnisses gebunden ist“. Dieses religiöse und zugleich sozial-antidämonische Zeugnis sei „Unheils-Prophetie über ein System von Systemen sich selbst absolut setzender Souveränitäten mit heidnischem Wertsystem und einem Machtaufbau, der sich den Korrektiven der Wahrheit und 136

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Paul Tillich an Erich Seeberg, 19.3.1933 (Bundesarchiv Koblenz, NL E. Seeberg). Paul Tillich an E. Seeberg, undatiert [kurz vor Weihnachten 1935] (Bundesarchiv Koblenz, NL E. Seberg).

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Gerechtigkeit entzieht“. Als er von ihm gegangen sei, sei „etwas von diesem Gefühl“ in ihm, Erich Seeberg, gewesen. Er wisse nicht, ob und wieweit es heute noch sei. Er unterstellt also, Erich Seeberg könne inzwischen sich an die staatliche Majorität angepasst haben, und er schließt mit dem Satz: „Ich weiss aber, dass Theologie heut ein leeres Wort ist, wenn sie aus einem anderen als aus dem Geiste des prophetischen Angriffs auf die ganze, nicht nur innerkirchliche Existenz getan ist.“138

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Ein halbes Jahr später trifft Tillich Erich Seeberg auf dem 3. Ökumenischen Seminar in Genf (28.7. - 15.8.1936). Er berichtet in seinem Reisetagebuch: „Zur Universität, wo ich den jungen Seeberg und den Privatdozenten Meinhold treffe. Wir gehen ins Café. Der Sinn ihres Wunsches wird sofort klar: Man will mich überzeugen, dass es in Deutschland ‚gar nicht so schlimm ist‘, und zugleich aushorchen, was ich denke. Ich entwickle offen meine Theorie des Kampfes zwischen nationalsozialistischer Weltanschauung und Reaktion. Sie behaupten, dass die Dinge sich langsam milderten. So hätte Rosenberg neulich Erich Seeberg zu sich gebeten und sich sehr vernünftig, fast schüchtern, mit ihm unterhalten. Die Bekenntnis-Kirche hält der junge Seeberg mit seinem Vater für ein Unglück. Am wichtigsten war die Äußerung zur Kriegsfrage: ‚Es ist unvermeidlich, dass das System die Weihe und Sanktion durch die Waffen erhält‘.“ (EW V, 263f.)

LIX

1. Religionsphilosophie

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(Union Theological Seminary, New York, Frühjahr 1934)

Einleitung 1. Die konkrete und die abstrakte Methode der Religionsphilosophie Es gibt Antworten, für die es niemals Fragen gegeben hat. Denn nicht jede Frage in der Philosophie und in der Wissenschaft ist eine echte Frage. Echte Fragen entstehen in der Wirklichkeit, in der Nötigung zu handeln, in der Not des Lebens.2 Fragen, die ihre tiefsten Wurzeln nicht in der Wirklichkeit und nicht im Leben haben, sind scholastische Fragen, die nur in Gedanken entstehen. Viele Fragen, auch in den nichtscholastischen Zeiten in der Philosophie, Theologie und Wissenschaft sind scholastisch. Sie werden in Vorlesungen und Büchern diskutiert, weil sie in früheren Vorlesungen und Büchern diskutiert wurden. Und die Antworten der Vergangenheit werden weitergegeben an die Gegenwart und erweitert durch die Gegenwart3 für die Zukunft und so weiter, aber niemand versteht wirklich die Antworten, weil niemand die Fragen verstehen kann, d. h. niemand kann die Not des Lebens verstehen, die in früheren Zeiten die Fragen entstehen ließ. Eine Frage und die Antworten auf sie verstehen, heißt die Not des Lebens verstehen, in der die Frage geboren wurde. Der Grund für die Abneigung vieler Menschen gegenüber philosophischen Problemen rührt daher. Sie sehen nicht, wo die philosophischen Fragen ihr eigenes Leben, die Not ihres Lebens berühren. Darum lautet die erste Schulregel: Gib keine Antworten, wenn du nicht sicher sein kannst, dass du es mit Fragen zu tun hast, seien sie ausgesprochen oder unausgesprochen. Diskutiere nicht Probleme in der Gegenwart 1 2 3

Ms.: Philosophy of Religion Ms.: in the need for acting, in the necessity of living. Ms.: augmented by the present

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von Menschen, die die Realität dieser Probleme für sich selbst nicht spüren können. (Exkurs über die Rechtfertigungslehre, die Menschen erklärt wird, die kein Sündenbewusstsein haben und nicht nach einem gnädigen Gott fragen wie Luther, weil es für sie keine Herrschaft des Gesetzes und keine Unruhe des Gewissens gibt.) Nach dieser Regel will ich versuchen zu zeigen, wo die Religionsphilosophie, ihre Fragen und ihre Antworten aus der Not unserer Zeit geboren werden. Ich will versuchen, Ihnen die Konflikte deutlich zu machen, in die die Religion in unserer Zeit hineingeraten ist, und den wirklichen Fragen nachzugehen, die aus diesen Konflikten hervorgegangen sind. Aber zunächst muss ich ein Missverständnis beseitigen, das durch meine Bemerkungen über scholastische Fragen verursacht sein könnte. Ich bin nicht der Meinung, dass die große Philosophie der Scholastik einen ausschließlich scholastischen Charakter im schlechten Sinne des Wortes hatte. Es gibt in den Systemen der großen Scholastiker viele wirkliche Lebensprobleme, Probleme, auf deren Hintergrund wir heute erneut stoßen. Doch die scholastische Methode verleitet mich natürlich zu Fragen und Antworten, die ihre Grundlage nicht in Tatsachen haben, sondern allein in Gedanken. Die scholastische Philosophie ist darum der Archetyp einer Schulphilosophie ohne Lebensgrundlage geworden. Dennoch soll diese Tatsache uns nicht hindern, Informationen über unsere Probleme auch bei den Scholastikern zu suchen. So werden wir z. B. zu Beginn unserer Überlegungen die Methode des Augustinus und seiner Schüler im Mittelalter übernehmen und weiterentwickeln. (Exkurs über verschiedene Arten von Engeln und ihre Geistleiber oder über das Tun Gottes vor der Schöpfung oder den Stein, den Gott so schwer gemacht hat, dass er ihn selbst nicht tragen kann. Oder die gewöhnliche Diskussion über die Willensfreiheit.) Ein zweites Missverständnis, das ich ausräumen möchte, dürfte die Auffassung sein, dass abstrakte Begriffe das Symptom von Gedanken ohne Leben, von Antworten ohne wirkliche Fragen seien. Eine solche Annahme wäre aber ein schwerwiegender Irrtum. Jede Wissenschaft ist abstrakt. Sie abstrahiert von der Vielfältigkeit und der Überfülle der Wahrnehmung,1 und sie muss abstrahieren, um das Wesen und die Wirklichkeit des Gegebenen zu finden. Die exaktesten Wissenschaften sind die abstraktesten Wissenschaften. Je größer die Fortschritte sind, 1

Ms.: of the perception (gestr.: intuition).

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die die Physik gemacht hat, desto abstrakter ist sie geworden. [In ihrer Entwicklung] von der Idee einer Ursubstanz zum Begriff der Atome und von dort zu den Ionen, von der Substanz zur Energie und von dort zur Idee des Kraftfeldes ist sie immer abstrakter geworden. Das Kraftfeld besteht nur aus mathematischen Relationen ohne irgendeine Substanz. Und dieser höchste Grad von Abstraktion ist das beste Mittel, die Bewegungen der entferntesten Sterne und der nächsten irdischen Dinge mit dem höchsten Grad von Exaktheit zu berechnen. Die Abstraktion allein macht das Denken nicht leblos, wie auch die Konkretion allein es nicht mit Leben erfüllt. Ein anderes Beispiel: Die Geschichte und ihre großen Abstraktionen. Betrachten Sie ein Wort wie „Renaissance“! Welche unzähligen Ereignisse, Personen und Dinge werden in diesem Begriff zusammengefasst, in dem ihr individueller Charakter ausgelöscht ist! Und dennoch ermöglicht uns diese gewaltige Abstraktion, schon auf den ersten Blick das Jahrhundert zu erkennen, in welchem eine Kirche erbaut und ein Bild gemalt worden ist. Gerade durch den abstrakten Begriff „Renaissance“ bekommen diese Kirche und dieses Bild ihren konkreten Charakter. Denn die Konkretion lässt erkennen, dass viele allgemeine Eigenschaften zu einem individuellen Ding zusammengewachsen sind. Wir abstrahieren, wenn wir diese allgemeinen Eigenschaften, aus denen das konkrete Ding besteht, entfernen. Diese Beispiele sollen genügen, um zu beweisen: Nicht die Abstraktion als solche ist schlecht, sondern nur die schlechte Abstraktion, und nicht die Konkretion als solche ist gut, sondern nur die gute Konkretion ist gut. Jeder Begriff ist schlecht, sei er abstrakt oder konkret, in dem wir eine Antwort haben ohne eine lebendige Frage, und nur solche Begriffe sind gut, in denen die Not,1 die zur Frage führte, wahrgenommen werden kann. (Exkurs über die Beziehung zwischen scholastischer und klassischer deutscher Philosophie. Der Unterschied zur klassischen Philosophie in England. Ihre empirischen Methoden, der Platonismus des Deutschen Idealismus. Der Versuch von Troeltsch in seinen „Gesammelten Schriften“ über Platonismus und Empirismus in Europa und Amerika.2) 1 2

Ms.: exigency Gemeint ist der Aufsatz „Empirismus und Platonismus in der Religionsphilosophie“, in: Harvard Theological Review 1912 = E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, 2. Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 364-385.

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2. Beispiele für die religiöse Lage der Gegenwart Wir fragen nun: Was sind die Nöte, die uns zu den Fragen der Religionsphilosophie treiben, nicht allgemein, sondern speziell heute, d. h. im 20. Jahrhundert, dessen erstes Drittel in wenigen Wochen zu Ende geht, und in unseren Ländern, d. h. in Europa und Amerika, als ein Ganzes, als der Westen betrachtet, im Gegensatz zum asiatischen Osten? Lassen Sie uns, um eine Antwort zu finden, die religiöse Lage verschiedener Menschen von heute untersuchen und lassen Sie uns fragen: Was ist deren Religion? Wo sollen wir in ihrem Handeln und Denken die Sache suchen, die in der Vergangenheit „Religion“ genannt wurde? Wie exakt auch immer wir „Religion“ definieren, es ist klar, dass „Religion“ den ganzen Menschen, alle Seiten seiner Existenz berührt, gemäß den Worten Jesu: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt“.1 Die Worte „Herz“, „Seele“, „Kräfte“, „Gemüt“ sind unterschiedliche Begriffe für die ganze menschliche Existenz. Wir müssen darum fragen: In welchem Bereich2 leben die Menschen heute mit ihrer ganzen Existenz, für welches Ziel setzen sie sich mit ihrem Leben ein, nicht nur mit ihrem Leib, sondern auch mit ihrer Seele? a. Die religiöse Lage im Bereich der Politik Betrachten wir die jüngsten politischen Bewegungen in Europa, den Kommunismus und den Faschismus! Schauen wir nicht auf die offiziellen Theorien, auf die Parteiorganisationen, die öffentlichen Erklärungen und Reden. Schauen wir auf den täglichen Kampf und das Opfer der gläubigen privaten Anhänger dieser Bewegungen, auf ihren Eifer, für ihr Ideal zu leiden und zu sterben, und beantworten wir dann die Frage: Wo ist ihre Religion? Ist nicht ihre politische Weltanschauung ihre Religion, die Sphäre, in der sie ihre ganze Existenz einbringen? Ich denke, wir müssen bekennen: So ist es! Aber auf der anderen Seite denke ich: Wir dürfen nicht zulassen, dass dies Religion im vollen Sinne des Wortes genannt wird. Ein anderes Bild stellt sich ein, wenn wir das Wort „Religion“ hören, das Bild einer Sphäre, in der wir Offenbarung, Gebet zu Gott, Got1 2

Lk 10, 27. Ms.: In what sphere

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tesdienst und Kirchen finden. Dürfen wir eine Haltung, die all diese Dinge leugnet, „religiös“ nennen? Oder dürfen wir die Haltung der Faschisten „religiös“ nennen, weil sie im Allgemeinen die Kirchen und deren Ideen nicht ablehnen? Haben die Faschisten recht, wenn sie behaupten, Verteidiger des Glaubens zu sein, weil sie gegen den Atheismus der Kommunisten kämpfen? Während sie doch mit ihrem ganzen Reden und Handeln beweisen, dass sie allein an die Nation glauben „mit all ihren Kräften und von ganzem Gemüt“. Und umgekehrt: Haben die Kommunisten recht, wenn sie Atheisten zu sein behaupten, weil sie gegen den Gott des Christentums kämpfen, während sie doch mit ihrem ganzen Reden und Tun beweisen, dass sie an ein Reich der Gerechtigkeit „mit all ihren Kräften und von ganzem Gemüt“ glauben? Es gibt für uns auch nicht den Ausweg zu behaupten, der Glaube an Gott entscheide zwischen Religion und Nicht-Religion. Denn es ist ja gerade die Frage, ob Religion und Theismus dasselbe sind. Wenn wir mit Luther sagen, dass Gott das ist, woran wir unser Herz hängen, dann können wir die Idee der Religion nicht von der Gottesidee im theistischen Sinne abhängig machen. Aber wenn nicht im theistischen Sinne, in welchem anderen Sinne könnte der Glaube an Gott das Wesen der Religion sein? Wenn wir versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben und einen allgemeineren Sinn von Glaube an Gott zu finden, werden wir zurückgeworfen auf die Probleme, auf die wir zuvor schon hingewiesen haben. (Exkurs über kommunistische und christliche Märtyrer. Die Tatsache, dass der heidnische römische Staat die Christen wegen ihres Atheismus als eines politischen Verbrechens verfolgte. Die Erhärtung dieser Anklage durch die Betonung des religiösen und polytheistischen Charakters des Staates. Es gibt keinen Unterschied zwischen einem religiösen und politischen Verbrechen.) Wir haben die religiöse Lage der Menschen in der politischen Sphäre beschrieben, um den Antagonismus zu zeigen, der heute zur Religionsphilosophie treibt. Derselbe Antagonismus kann aber auch in den anderen Bereichen beobachtet werden, in der Ethik, in der Wissenschaft, in der Kunst.1 1

Folgt gestr.: In der Betrachtung der politischen Sphäre haben wir die subjektive Haltung der gläubigen Anhänger der politischen Bewegung betont. Wenn wir die Wissenschaft betrachten, wenden wir uns der objektiven Seite zu, dem Wesen des Seins, das jede Wissenschaft zu begreifen sucht. Wenn die moderne Philosophie das Leben als Wesen des Seins bezeichnet …

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b. Die religiöse Lage im Bereich der Philosophie und Wissenschaft Jede Philosophie und letztlich auch jede Wissenschaft will das Wesen des Seins1 begreifen, den Grund aller Dinge. All die großen Konzeptionen der Philosophie, all die letzten Annahmen der Wissenschaft sind Versuche, einzudringen in das Geheimnis des Seins. Nehmen wir als Beispiel die Idee des Lebens. Sie ist das bestimmende Prinzip in den Systemen einer maßgeblichen Gruppe von Philosophen. Leben ist für diese Philosophie nicht nur das Ganze der lebendigen Dinge im Gegensatz zu den toten Dingen, denn auch die toten Dinge gehören zum Leben, zum Universum des Lebens. Und Leben umfasst nicht nur das Ganze der Dinge, der lebenden und der toten, es umfasst auch den Geist, der nicht ein Ding, sondern machtvolles Leben ist. (Exkurs über philosophische Hymnen auf das kosmische Leben. Übersetzung von Nietzsche oder eines anderen. Vielleicht Giordano Bruno als Märtyrer für seinen Glauben an das Leben?) Und nun fragen wir: Ist diese Konzeption des Lebens eine religiöse Konzeption? Dürfen wir ihren religiösen Charakter bestreiten?2 Dürfen wir mit Recht behaupten: Gott ist lebendig, aber das Leben ist nicht Gott? Dürfen wir den höchsten philosophischen Begriff vom Gottesbegriff trennen? Fromme Menschen sprechen oft von Gott wie von einem Ding, natürlich dem höchsten aller Dinge, aber von einem Ding, neben dem es noch andere Dinge gibt, während die Philosophie, wenn sie vom Leben spricht, auf den Grund der Dinge verweist, welcher selbst mehr ist als alle Dinge, sogar mehr als das höchste Ding. Das ist der Sinn des Wortes „absolut“ in der Philosophie. Und jetzt wiederhole ich meine Frage: Ist Gott, der für viele fromme Menschen das höchste Ding ist, ein religiöser Begriff? Und ist das philosophische Prinzip des Lebens, das absolut ist und das alle Höhen und Tiefen der Dinge transzendiert, ein nicht-religiöser Begriff?3 Bei den Antworten auf diese Frage geraten wir in denselben Konflikt wie bei der Beschreibung der religiösen Lage im politischen Bereich. Wir fühlen die Unmöglichkeit, den religiösen Charakter eines 1 2 3

Ms.: the essence of being Ms.: Are we right in denying its religious character? Folgt gestr.: Wir behaupten die Unmöglichkeit, so zu urteilen. Doch zugleich fühlen wir die Notwendigkeit, dies zu behaupten. Wir fühlen, dass da ein Unterschied ist zwischen dem Leben, wie die Philosophie es versteht, und dem Gott der Religion.

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philosophischen Begriffs wie z. B. des absoluten Lebens zu bestreiten. Und doch können wir den Unterschied zwischen diesem Begriff und dem religiösen Gottesbegriff nicht leugnen. Jede Wissenschaft versucht, die Wahrheit zu finden. Wir könnten behaupten: Die von der Wissenschaft gefundene Wahrheit ist eine säkulare Wahrheit, ist Wahrheit nur in Bezug auf Natur und Geschichte, sie ist nicht wirkliche Wahrheit; denn Natur und Geschichte werden vergehen, und die Wissenschaften und ihre Resultate werden mit ihnen vergehen. Aber die wirkliche Wahrheit ist ewig, sie bleibt, weil ihr Gegenstand ewig bleibt. Darum ist die Wahrheit, die von der Wissenschaft gesucht wird, keine wirkliche, keine religiöse Wahrheit. Religiöse Wahrheit wird durch Offenbarung gegeben, Wissen aber wird durch die Vernunft gesucht. Solche Unterscheidung scheint unwiderleglich zu sein. Religiöse und säkulare Wahrheit scheinen durch eine weite Kluft voneinander getrennt zu sein. Aber wenn es berechtigt wäre, so zu denken, was ist der Grund dafür, dass um die angebliche säkulare Wahrheit genau so eifrig gekämpft wird wie um die angebliche religiöse Wahrheit, dass es Märtyrer im einen wie im anderen Fall gibt, dass das Opfer des Lebens und der Seele ebenso ganz1 für die Wissenschaft gebracht wird wie für den Glauben? Ist es wahrscheinlich, dass Menschen das Opfer des Lebens und der Seele für eine vergängliche, letzten Endes unwichtige Sache bringen? Müssen wir nicht bekennen, dass die Haltung vieler Wissenschaftler eine sehr religiöse Haltung ist, ein Symbol des Glaubens an die wirkliche Wahrheit, um die die Wissenschaft sich bemüht? Ich denke, wir müssen zugeben, dass es so ist. Und dann können wir nicht behaupten, dass die Wahrheit, die die Wissenschaft sucht, keine religiöse Wahrheit ist. Wir müssen bestreiten, dass zwischen beiden eine tiefe Kluft besteht.2 Aber dieses Eingeständnis bringt uns in große Schwierigkeiten. Denn die Frage erhebt sich: Was sollen wir tun, wenn es um die Wahrheit geht? Sollen wir uns an die Offenbarungen der Vergangenheit halten oder sollen wir versuchen, eine neue Erkenntnis zu gewinnen, indem wir der Vernunft folgen? Oder gibt es einen dritten Weg? (Exkurs über Galilei und seinen Kampf gegen die katholische Kirche. Beweis, dass es kein Kampf um die Freiheit der Wissenschaft war, sondern ein Kampf um zwei Arten eines Weltgefühls. Die Erde 1 2

Gestr.: oft Ms.: We are compelled to deny any gulf (gestr.: difference) between them.

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als Mitte im Mittelalter. Gott an jedem Punkt der unbegrenzten Welt. Die Entstehung aller Formen des Relativismus und Enthusiasmus für das Unbegrenzte.) Diese Fragen zwingen uns erneut, uns dem Problem der Religionsphilosophie zu stellen. c. Die religiöse Lage im Bereich der Kunst Lassen Sie uns diese paradoxe Lage noch an einem weiteren Beispiel betrachten, dem Bereich der Ästhetik. Lassen Sie mich eine Geschichte erzählen aus der Zeit, als ich zum erstenmal eine Vorlesung über Religionsphilosophie hielt. Es war an der Universität Berlin, ein Jahr nach der Revolution, 1919. Gegenüber dem Universitätsgebäude liegt ein königliches Palais, das die republikanische Regierung in ein Museum für moderne Kunst umgewandelt hatte.1 In diesem Museum waren moderne Bilder ausgestellt, die von der Schule der sog. Expressionisten gemalt worden waren. Vor diesen Bildern kam es zu erregten Diskussionen über den Wert und den Sinn dieses neuen Kunststils. Eine Gruppe von Betrachtern, hauptsächlich gebildete Leute und auch einige Arbeiter, sahen in dem neuen Stil den Ausdruck ihrer eigenen Existenz. Sie betrachteten die Bilder mit Ehrfurcht. Es war mehr als ein rein ästhetisches Vergnügen, es war ein sehr religiöses Gefühl. Und ich erinnere mich, dass ich das gleiche Gefühl hatte. Eine andere Gruppe von Menschen eilte durch die Räume, ganz aufgeregt. Für sie waren die Bilder ein Skandal, gemalt entweder von schlechten Malern oder mit der bewussten Absicht, den allgemeinen Geschmack zu verletzen. Es waren Leute aus der Mittelschicht, die so fühlten, und es waren dann auch Leute aus der Mittelschicht, die diese Bilder nach der jüngsten Revolution abhängten und in spezi1

Gemeint ist das im Kronprinzenpalais am Beginn der Straße Unter den Linden in Berlin am 4. 8. 1919 eröffnete weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst („Galerie der Lebenden“). Es stellte die Neue Abteilung der Nationalgalerie Berlin dar. Gezeigt wurden 150 Gemälde und Skulpturen der französischen Impressionisten, u. a. Werke von Manet, Monet, Cézanne und Renoir sowie Werke der Berliner Sezession. Der von Tillich geschilderte Skandal wurde aber ausgelöst durch die im Obergeschoss gezeigten Werke von Heckel, Kirchner, Mueller, Pechstein, Nolde, Schmidt-Rottluff, Franz Marc, Rohlffs, Munch, Feininger und van Gogh, um nur einige der radikalen Moderne zu nennen. Zu den Kritikern der „Galerie der Moderne“ gehörten auch Max Liebermann, der Präsident der Berliner Akademie der Künste, und der Verleger Paul Cassirer. 1933 wurde von Hitler die „Säuberung“ der Galerie angeordnet. Etwa 100 expressionistische Werke aus dem Kronprinzenpalais wurden 1937 in der Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt.

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elle Räume brachten, die die Entartung der Kunst der vergangenen vierzehn Jahre zeigen sollten. Aber die Gewalt ihrer Feinde beweist auch den gewaltigen Eindruck, den diese Kunst auf sie ausübte, ein Eindruck, der niemals ästhetisch genannt werden konnte. In diesem Museum hing auch ein Bild des berühmten Malers Franz Marc, genannt „der Turm der blauen Pferde“. Einige blaufarbige Pferde drängten sich dicht zusammen und formten mit ihren Körpern und Köpfen einen Turm. Sie fressen nicht, sie tragen keine Reiter, sie tun nichts, sie existieren nur. Ihre Farbe und ihr Verhalten zeigen: Sie sind keine natürlichen Wesen, sie sind keine Pferde, die man irgendwo auf der Welt findet, sondern sie sind Symbole für das Wesen des Pferdes und sogar eher Symbole für das Wesen des Universums1 und darum sind sie religiöse Symbole. Mit dem Hinweis auf dieses Bild begann ich meine Vorlesung und gab eine Analyse des Stils und des religiösen Charakters der expressionistischen Kunst.2 Der Stil einer Kunstepoche manifestiert ihren religiösen Hintergrund, und es ist in der Tat eine wichtige, von Theologen noch nicht erkannte theologische Aufgabe, durch die Analyse des Stils der Kunstwerke in diesen Hintergrund einzudringen. Wenn Sie dies tun, werden Sie wichtige Unterschiede zwischen den Stilen bezüglich ihrer religiösen Qualität finden. Einige sind eindeutig religiös, einige eindeutig säkular. Je mehr der kosmische Hintergrund durchscheint, desto mehr hat der Stil einen religiösen Charakter. Ein religiöser Gegenstand gibt einem Kunstwerk noch keine religiöse Qualität, wie auch ein säkularer Gegenstand ihm noch keine säkulare Qualität gibt. Ein Bild Christi im naturalistischen Stil kann sehr säkular sein, und das Bild eines Tisches im expressionistischen Stil kann sehr religiös sein. Es war das Ergebnis meiner Analyse, dass religiöse Kunst eine Kunst ist, die in einem religiösen Stil Gestalt gewinnt. Denn der Kunststil ist die Offenbarung des transzendenten Hintergrundes des Universums in den Kunstwerken.

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Ms.: symbols for the essence of the universe Gemeint ist die im Wintersemester 1920/21 gehaltene Vorlesung „Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie“, in: EW XIII, 1-198, hier: 4 und 9. Dort zum „Turm der blauen Pferde“: „die kosmische Einheit der Tierleiber als ein Universum für sich … Die Form in Linie und Farbe ganz dem Gehalt dienstbar gemacht, losgelöst von dem speciellen Inhalt, den Pferden …“ (9)

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(Exkurs über die Wandgemälde von Rivera.1 Rat an die Hörer, dahin zu gehen und mit mir darüber zu sprechen. Mein gewaltiger Eindruck. Die Kompliziertheit der Probleme durch die Einheit des politischen, ästhetischen und religiösen Gesichtspunktes. Eine Antwort wird später gegeben.) Unsere letzte Bemerkung über die Offenbarung des Unbedingten durch das Kunstwerk führt zu vielen Konflikten. Es gibt nämlich eine starke Richtung der religiösen Kunst, die allgemein anerkannt und vor allem in den Kirchen zu sehen und zu hören ist. Ihre Gegenstände sind heilige Geschichten und Ideen. Ihre Gestalt richtet sich nach den Erfordernissen religiöser Verehrung. Einige behaupten, dass nur eine solche Kunst religiöse Kunst genannt werden darf. Wir können das Gewicht dieses Arguments nicht leugnen. Die speziell religiöse Qualität der Musik von Palestrina oder Bach, der mittelalterlichen Kathedralen, der Mosaiken der frühen Kirche bedarf keines Beweises. Und im Gegensatz zu diesen Kunstwerken scheint alle spätere Kunst säkular geworden zu sein. Aber ich muss fragen: Wie steht es um die gotischen Kathedralen am Broadway, wie um die Christusbilder, die man in den Läden nahe der Wallstreet kaufen kann, wie um die frommen Weisen, die an den Straßenecken unterhalb der Hochbahn gesungen werden? Ich muss keine Antwort geben. Und nun vergleichen Sie diese Art religiöser Kunst mit einigen Werken so genannter säkularer Kunst! Vergleichen Sie die originären Linien einer modernen Brücke oder einige der neuesten Bürogebäude mit der kopierten Gotik, vergleichen Sie die metaphysische Interpretation einer Landschaft von Cézanne oder van Gogh mit den schlecht imitierten Christusbildern, vergleichen Sie Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ oder ähnliche Werke mit den süßlichen Melodien vieler religiöser Lieder! Können wir im Zweifel darüber sein, wo religiöse Kunst zu finden ist, wo der transzendente Hintergrund unserer Existenz erscheint und wo er verborgen ist? In all diesen Beispielen ist säkulare Kunst religiöse Kunst, und die religiöse Kunst ist keineswegs Kunst, sondern schlechte Imitation früherer religiöser Kunst. Aber all das, die Tendenz, das Gefühl in einem speziellen religiösen Stil auszudrücken, Kirchen in einem Stil zu bauen, der sie von Hallen unterscheidet, religiöse Symbole losgelöst vom Alltag zu wählen, bestimmte Harmonien und Rhythmen für den musikalischen Ausdruck des religiösen Gefühls zu verwenden – diese Tendenz ist immer lebendig und führt zu immer 1

Gemeint ist der mexikanische Maler Diego Rivera (1886-1957).

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neuen Versuchen, spezifisch religiöse Formen zu schaffen. Das ist ein sehr ernstes und drängendes Problem, es zwingt uns, das Problem der Religionsphilosophie aufzuwerfen. d. Die religiöse Lage im Bereich der Ethik Lassen Sie uns zum Schluss die religiöse Spannung in dem vierten Bereich des menschlichen Geistes, in der Ethik, betrachten! Als ich studierte, gab es in den Vorlesungsverzeichnissen zwei Vorlesungen über Ethik an den deutschen Universitäten: die eine in der Theologie mit dem Titel „Theologische Ethik“, die andere in der Philosophie mit dem Titel „Philosophische Ethik“. Derselbe Student hatte beide Vorlesungen zu besuchen, derselbe Geist hatte beide Ethiken zu befolgen, derselbe Mensch musste in Übereinstimmung mit beiden Normsystemen leben. Es entstand eine unerträgliche Situation. Die Folge war, dass keine der beiden Ethiken einen Einfluss auf unser Leben hatte. Diese Koexistenz zweier unterschiedlicher Normsysteme ist ein sehr deutliches Symbol für die prekäre religiöse Situation in der Gegenwart. Denn es ist offensichtlich, dass die Situation sich seit fast 30 Jahren nicht geändert hat. Heute werden andere Normen diskutiert, aber der Dualismus in der Ethik ist geblieben. Sie kennen die moderne Bewegung der Psychoanalyse. Sie muss als ein ausgezeichneter Versuch gewertet werden, die menschliche Seele ohne religiöse Bilder und Gebote zu führen. Sie zielt darauf ab, den Menschen zu befreien von inneren Störungen, die durch falsche Unterdrückung vitaler Triebe verursacht werden und oft seit der frühesten Kindheit zurückgeblieben sind. Solche Störungen, die in ihren Wurzeln immer unbewusst sind, können die ganze menschliche Existenz zerstören; sie können den Menschen dazu bringen, kriminell zu werden, sich selbst zu töten, geisteskrank zu werden, und in weniger schweren Fällen, unfähig zum Leben zu werden. Die Elemente solcher Störungen der Balance finden wir in jedem Menschen. (Exkurs über die Psychoanalyse und ihre religiöse Bedeutung, vor allem in den calvinistischen Ländern. Die Aussage in der „Medical Society“, dass die Psychoanalyse in Amerika außerordentlich an Bedeutung gewinnt. Der psychoanalytische Charakter mancher Furcht vor der Psychoanalyse. Das Lebensgebäude wird durch die Offenbarung seines Grundes bedroht. Die falschen Grundlagen sollen bleiben. Die Wahrheit über uns selbst, die vitalen Tendenzen sollen unterdrückt werden. Die Lockerung der Spannung der Psyche durch die Revision der entscheidenden Elemente in ihr; Beunruhigung des

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Bewusstseins und seiner gewohnten Weise zu denken und zu handeln. Vorbereitung auf die Veränderungen in der einzelnen Psyche und der Haltung einer Epoche.) Ich muss diese kurze Beschreibung geben, um die Frage zu stellen: Ist dieser Versuch der Psychoanalyse ein religiöser oder ein säkularer Weg, die Seele zu führen und zu heilen? Ihre erste Antwort mag vielleicht sein: Es ist ein säkularer Weg, denn es fehlt die Bezugnahme auf Gott, es fehlt das Sündenbewusstsein, es gibt keine Erlösung durch Christus usw. Und der übliche Vergleich der Psychoanalyse mit der Beichte scheint auch die weite Kluft zwischen der religiösen und der säkularen Art der Führung und Heilung der Seele zu zeigen. Die Beichte vollzieht sich in der Gegenwart Gottes. Die Menschen, die beichten, blicken nicht nur in sich selbst hinein, sondern auch über sich hinaus auf Gott. Die Psychoanalyse bleibt innerhalb des Menschen selbst. Die Beichte geschieht vor einem Priester, der die Gebote Gottes, seine Drohungen und seine Gnade repräsentiert. Die Psychoanalyse kennt keine solche objektive Ordnung von Gebot und Gnade. Der Mensch muss selbst das für ihn Richtige suchen. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, muss aus eigener Kraft leben. Dieser Unterschied ist offensichtlich. Wir wollen ihn nicht gering schätzen. Trotzdem müssen wir fragen: Ist der Weg der Psychoanalyse ein rein säkularer Weg? Ist er säkular einfach deswegen, weil es in dieser Methode keinen Blick auf Gott gibt? Ich denke, nein. Die Ähnlichkeit beider liegt tiefer als die genannten Unterschiede. Die Psychoanalyse ist wie die Beichte ein Weg, der durch schwere Leiden führt. Er ist nicht nur eine intellektuelle Haltung, er ist eine Erschütterung der ganzen Existenz, des Fühlens wie des Wollens. Und sein Ziel besteht darin, Menschen zu schaffen, die in der Lage sind, eigene Entscheidungen zu treffen für sich selbst. Die Psychoanalyse will alle Hindernisse auf dem Wege zur Freiheit des inneren Menschen beseitigen, sie will die Kluft zwischen seinem Willen und seiner Handlungsfähigkeit überwinden. Der religiöse Name für diese Kluft ist „Macht der Sünde“ oder „dämonische Macht“. Aber die Sache ist dieselbe. Die Psychoanalyse, die auch Tiefenpsychologie genannt wird, will die ursprüngliche Quelle des menschlichen Seins wieder öffnen, sie will den schöpferischen Grund der Seele öffnen, in dem sie dieselben Kräfte zu finden glaubt, die in der Religion „Gnade“ genannt werden. Wir können an dieser Stelle die vielen Probleme nicht erörtern, die in diesen Ausführungen impliziert sind. Aber wir können erneut die Frage stellen: Ist es ein verhüllter religiöser

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Weg oder nicht? Ist die Beichte religiöser oder ist sie im Gegenteil eine profane Methode wie die Tiefenpsychologie, nur verhüllt in mythologische Bilder? Ist die Beichte die unaufgeklärte, unbewusste Psychoanalyse der Zeit vor der Aufklärung? Solche Fragen haben nicht nur eine theoretische, sondern auch eine große praktische Bedeutung. Es gibt viele Menschen, über die man im Zweifel sein kann, ob es für sie besser ist, sie zum Priester oder zum Psychoanalytiker zu schicken, wenn es um ihre Heilung geht. Und es gibt viele Erziehungsprobleme, die die Frage provozieren, ob sie eher durch den einen oder durch den anderen Weg zu lösen sind. Die Antwort hängt vom Ideal des Menschen ab, denn das Ideal des Menschen ist entscheidend für den ganzen Bereich der Erziehung. (Exkurs über die Idee der Spaltung im Menschen ohne Erlösung. – Der Wille zur Macht usw. – oder die Möglichkeit des Fortschritts infolge der einen ungespaltenen und vollkommenen Natur des Menschen – oder dämonische Spaltung und göttliche Erlösung.) Eine Antwort können wir nur geben, wenn wir das Problem der Religionsphilosophie gelöst haben, wenn wir in der Lage sind, die Eigenart religiöser und nichtreligiöser Seelenführung zu beschreiben und religiöse und nichtreligiöse Erziehung klar und überzeugend zu unterscheiden oder aber gleichzusetzen. 3. Die Idee des Säkularismus Am Beginn dieses Abschnitts hatten wir gefragt: Was sind die Nöte, die uns zu den Problemen der Religionsphilosophie treiben, nicht allgemein, sondern speziell heute? Ich denke, die Frage ist ausreichend beantwortet. Wir haben damit kein einziges Problem der Religionsphilosophie gelöst, aber die Fakten, die diesen Problemen zugrunde liegen, haben wir aufgezeigt. Wir haben sie aufgezeigt in vier großen Bereichen der menschlichen Existenz: in der Politik, in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Ethik. Und wir haben sie aufgezeigt als unausweichlich, als sehr konkret, als unserem Geist auferlegt durch unser historisches Schicksal. Wir können ihnen nicht entkommen, wir sind verpflichtet, eine Lösung zu suchen, aber wie immer es sein mag, wir brauchen eine Lösung, wir können ohne sie nicht leben. Lassen Sie mich zum Abschluss dieser Einleitung auf eine Bewegung hinweisen, die die Kirchen und vor allem die protestantischen Missionsgesellschaften in Unruhe versetzt: den Säkularismus. Auf der großen Missionskonferenz in Jerusalem vor einigen Jahren war

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der Säkularismus das zentrale Problem.1 Er schien der gemeinsame Feind für alle Arten der Mission und für alle Kirchen ungeachtet der Unterschiede ihres Bekenntnisses und der Denomination zu sein. Man stellte dort fest, dass in allen Ländern der Welt ein nichtreligiöser säkularer Geist rapide Fortschritte macht, auch in den alten christlichen Nationen und sogar in den neubekehrten Gemeinden. Die Missionsführer waren angesichts dieser Tatsachen äußerst beunruhigt. Sie konnten die Ursache dieser Bewegung nicht verstehen, sie konnten ihren religiösen Charakter nicht würdigen. Es ist wirklich eine sehr schwierige Aufgabe, in ihren Hintergrund einzudringen, aber es ist nötig. Andernfalls werden die Religionen, während sie nach und nach das religiöse Heidentum überwinden, von hinten mit Erfolg angegriffen durch eine nichtreligiöse christliche Kultur, d. h. durch den Säkularismus. In den alten christlichen Nationen hat die „Innere Mission“, wie wir sie in Deutschland nennen, gegen die Säkularisation des christlichen Volkes gekämpft, aber wir können nicht behaupten, mit großem Erfolg in dieser Hinsicht. In den alten heidnischen Nationen gewinnt der Säkularismus an Boden, bevor das Christentum in ihren Geist eingedrungen ist, und versperrt das Eindringen der christlichen Lehre. Es ist eine sehr gefährliche Situation für die christliche Mission, insbesondere in China und Indien. Die christlichen Missionen müssen eine Methode suchen und finden, wie sie mit dem Säkularismus umzugehen haben, eine Methode, die hilft, ihm zu widerstehen. Wenn aber ein Widerstand nicht möglich ist, müssen sie2 ihre eigene Haltung, ihre Ziele und ihre Wege ändern. Vielleicht sehen wir einer Periode der Menschheit entgegen, in welcher die Religion als ein besonderer Bereich verschwunden ist, in welcher ein christlicher Humanismus dem Dualismus von Religion und säkularem Leben ein Ende gesetzt hat. Dies war das Ziel der Aufklärung, aber die Reaktion der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1

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Auf der Konferenz des Internationalen Missionsrates in Jerusalem (Ostern 1928) ist der Begriff „Säkularismus“ „Zusammenfassung der von Gott gelösten Seinshaltung geworden, der wir jetzt in der ganzen Welt begegnen“ (so M. Schlunk, Artikel „Säkularismus“, in: RGG, 2. Aufl., Bd. V[1931], Sp. 37-39 [37]). Vgl. auch Report of the Jerusalem Meeting of the International Mission Council, London 1928, Vol. I, 284ff.; J. H. Oldham, Die unchristliche Weltkultur als Menschheitsgefahr, Gütersloh 1929; S. Knak, Säkularismus und Mission, Gütersloh 1929. Zum Problem des Säkularismus und zur Jerusalemer Konferenz von 1928 vgl. auch Tillichs Ausführungen in den Bampton Lectures von 1961 (GW V, 57f.). Folgt gestr.: sich selbst

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hinderte die Aufklärung daran, dieses Ziel zu erreichen. Vielleicht geschieht es jetzt.1 Auf der anderen Seite gibt es Tatsachen, die auf eine Wiederkehr des alten Heidentums und seinen Kampf gegen die christlich-orthodoxe Religion und den aufgeklärten christlichen Säkularismus hindeuten. (Exkurs über die religiöse Situation in Russland und Deutschland: dort der Säkularismus in Form eines Glaubens an das marxistische Dogma und die exakten Wissenschaften, hier ein neues Heidentum. In den meisten Fällen kehren die Massen zur Staatskirche zurück. Der säkulare naturalistische Charakter dieses Paganismus. Das Rassendogma. Der Kampf der Pfarrer gegen den Paganismus ist eine Fortsetzung ihres Kampfes gegen den Säkularismus, aber die neuen Elemente im Paganismus. Die schwierige Situation der Kirche zwischen diesen Tendenzen.) Mit diesem Blick auf die Welt, den ich jetzt gegeben habe, will ich die Einleitung abschließen. Er muss unbeantwortet bleiben, denn niemand kennt die kommende Entwicklung. Aber er zeigt einmal mehr die Wurzeln, aus denen das Problem der Religionsphilosophie erwächst. Er zeigt, dass ihre Fragen lebendige Fragen sind, und deswegen hoffe ich, dass die Antworten, die in diesen Vorlesungen gegeben werden, auch wenn sie abstrakt sind, lebendige Antworten sein werden.

Erster Teil: Allgemeine Aspekte der Religionsphilosophie2 Einleitung. Die Logik der Gegensätze3 Lassen Sie mich einen kurzen Überblick über die gesamte Vorlesung geben. Ich will das Thema in zwei großen Teilen behandeln. Der erste Teil wird die allgemeinen Begriffe enthalten, die die Religion kennzeichnen. Der zweite wird spezielle Probleme enthalten, die sich für die verschiedenen Funktionen des Geistes ergeben, soweit sie religiöse Qualität erhalten. Es handelt sich dabei um die Probleme des Verhältnisses von Religion und Politik, Wissenschaft, Kunst und Ethik. Wir begannen bereits bei diesen Problemen, indem wir ihre Wurzeln in der gegenwärtigen Situation aufzeigten, aber wir haben keine Lösungen angeboten. Es ist aber nicht möglich, zu 1 2 3

Ms.: Perhaps now it will happen. Ms.: General Aspects of the Philosophy of Religion Ms.: Introduction. The logic [gestr.: method] of contrasts

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einer Lösung zu kommen, ohne die grundlegenden Begriffe der Religionsphilosophie erfasst zu haben. Wir müssen darum mit einer Behandlung ziemlich abstrakter Ideen beginnen, deren Kenntnis aber nicht das eigentliche Ziel dieser Vorlesung ist. Ich möchte Ihnen gern helfen in Ihren konkreten Entscheidungen, die in der jetzigen religiösen Situation unausweichlich sind. Zu diesem Zweck muss ich die Grundlagen der Idee der Religion erklären, aber dies dient einem anderen Ziel, es ist nicht das Ziel selbst. Darum muss ich Sie um Verständnis für die folgenden abstrakten Abschnitte bitten. Ich will versuchen, Ihnen den Wirklichkeitsgehalt auch der abstraktesten Begriffe zu zeigen, denn Wissenschaft ohne Abstraktion ist keine Wissenschaft, sondern leeres Geschwätz und unfähig, zur Tiefe des Gegenstandes vorzudringen. (Exkurs über die Furcht vor der Abstraktion. Eine gute Abstraktion ist die Einung des menschlichen Geistes mit dem Wesen der Dinge.1 Diese Einung setzt ein Durchbrechen der Oberflächenschicht der Dinge voraus, die in der Erstbegegnung mit den Dingen erscheint. Der Durchbruch durch die erste Einung, um eine zweite Einung zu erreichen, ist eine wirkliche Revolution, sie beunruhigt unsere Existenz. Die Furcht vor dieser Beunruhigung ist dieselbe Furcht, der wir in der Psychoanalyse begegnet sind, die Furcht davor, sich selbst in seinem wahren Charakter zu begegnen. Sie korrespondiert mit der Furcht, dem wahren Charakter der Dinge zu begegnen, und beides meint die Furcht, Gott zu begegnen, eine Furcht, die in der Religion sehr bekannt ist.) Eine Idee, nur für sich selbst genommen, ist nichts. Jede Idee bekommt ihren Inhalt erst durch die Beziehung zu anderen Ideen, aber die Art2 dieser Beziehung ist unterschiedlich. Es gibt Ideen, die erst durch eine höhere Idee, zu der sie gehören, definiert werden, z. B. das Pferd durch seine Spezies, das Säugetier, das Säugetier durch sein genus, das Tier, und das Tier durch sein genus, das Lebewesen usw. Das ist die typisch griechische, genauer gesagt, aristotelische Art der Definition, passend zu Gegenständen der Natur, besonders der lebenden Natur. Aber es ist unmöglich, auf diese Weise Ideen wie die Religion zu definieren. Religion ist nicht eine Spezies, für die wir ein genus suchen müssen. Die Methode der Verallgemeinerung ist 1

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Ms.: The good abstraction is union of human mind with the essence of things. Ms.: type

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ungeeignet, wenn es darum geht, Religion zu verstehen. Wir müssen eine andere logische Methode finden, und wir können sie finden, indem wir den Charakter des geistigen1 Lebens untersuchen. Geistiges Leben ist Leben in der Spannung, im Hin und Her von Bejahung und Verneinung. Im Ja und Nein haben alle Dinge ihren Grund, sagt Jakob Böhme, der sog. Philosophus Teutonicus, und Hegel führt diesen Gedanken weiter zu der Aussage, dass das Leben des Geistes und in Konsequenz alles Leben eine Bewegung durch Gegensätze ist. Seine berühmte Idee des Dreischritts von These, Antithese und Synthese drückt seine tiefe Intuition in den Charakter des Geistes aus. Sie enthält auch eine neue Methode der Definition von Begriffen, die Methode der Definition durch Gegensätze. Es gibt keine andere Möglichkeit, einen Gegenstand wie die Religion zu definieren, als die Methode des Gegensatzes. Folglich wird unsere erste Aufgabe darin bestehen, die wichtigsten Begriffe zu suchen, durch deren Kontrastierung wir das Wesen der Religion verstehen können. Alle Seiten2 der Religion haben eine charakteristische Eigentümlichkeit. Wir nennen sie das Heilige. Das Reich der Religion ist das Reich des Heiligen. Das Territorium des Tempels ist heiliges Territorium. Außerhalb dieses Territoriums, jenseits seiner Grenzen, begegnen wir dem profanen Bereich. Um das Heilige zu verstehen, müssen wir das Profane verstehen und umgekehrt. Beide Begriffe sind miteinander verknüpft, sie können nur durch die Methode des Gegensatzes begriffen werden. Wir müssen darum dieses Kapitel mit der Erklärung dieser beiden Begriffe, des Heiligen und des Profanen, beginnen, indem wir sie einander gegenüberstellen. Das soll im 1. Abschnitt dieses 1. Kapitels geschehen. Religion hat zwei Bedeutungen, eine subjektive Bedeutung als menschliche Haltung und eine objektive Bedeutung als Handeln Gottes. Folglich haben wir das Heilige in beiden Richtungen zu betrachten, als eine subjektive und als eine objektive Sache. Auf der subjektiven Seite3 sind die gegensätzlichen Begriffe Religion und Kultur. Religion ist die Haltung des Menschen gegenüber dem Heiligen, und Kultur ist die Haltung des Menschen gegenüber dem Profanen. Wir haben darum in einem zweiten Abschnitt über Religion und Kultur zu sprechen. 1 2 3

Ms.: spiritual Ms.: sides Ms.: side

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Die objektive Seite1 betrifft den Gegensatz von heiliger und profaner Wirklichkeit. Das ist der Gegensatz von Gott und Welt. Darum wird der dritte Abschnitt dieses Kapitels von Gott und der Welt handeln. Aber es gibt noch einen weiteren Gegensatz. Er liegt im Bereich des Heiligen selbst. Wenn wir das Heilige als einen Wert betrachten, finden wir in ihm den Gegensatz, der jeden Wert charakterisiert, den Gegensatz von positiv und negativ. Dieser Gegensatz findet sich in jeder Sphäre, z. B. gibt es den Gegensatz von gut und böse, von wahr und falsch, von schön und hässlich. Ebenso finden wir in der religiösen Sphäre den Gegensatz von göttlich und dämonisch. Das Dämonische gehört auch zum Heiligen, nicht zum Profanen, wie schon sein Name zeigt. Aber es ist das Heilige mit negativem Charakter. Es ist das Göttliche, das sich gegen das Göttliche erhebt. Wir werden über diesen sehr wichtigen Gegensatz im letzten Abschnitt des ersten Teils handeln. Was den zweiten Teil betrifft, so will ich nur darauf hinweisen, dass wir die Methode des Gegensatzes fortsetzen und heilige und profane Erkenntnis, heilige und profane Kunst, heilige und profane Ethik und heilige und profane Politik behandeln werden. Ich wiederhole: Diese vier Abschnitte des zweiten Teils werden der Hauptgegenstand dieser Vorlesung sein. Wir schließen nun diese Einleitung ab und beginnen mit dem 1. Abschnitt des ersten Teils, dem Heiligen und Profanen. I. Das Heilige und das Profane A. Fragen der Methode (1) Die Methode von Rudolf Otto und die Trennung des Rationalen vom Irrationalen Das wichtigste Buch über dieses Thema stammt von Rudolf Otto, Professor für systematische Theologie in Marburg (Deutschland). Es trägt den Titel: „Das Heilige“. Es ist seit 1917 in vielen Auflagen erschienen. Die englische Übersetzung lautet: The Idea Of The Holy, übersetzt von John W. Harvey, erschienen in Oxford University Press.2 Der ausführliche Titel dieses Buches lautet in der englischen Übersetzung: „An Inquiry Into The Non-Rational Factor In The Idea Of The Divine And Its Relation To The Rational“. Indem ich 1 2

Ms.: side London, Humphrey Milford Oxford University Press, 1924.

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dieses berühmte Buch zitiere und dem Autor meinen Dank sage für alles das, was ich von ihm gelernt habe, lassen Sie mich gleichzeitig auf einen grundlegenden Unterschied zwischen Otto und mir selbst aufmerksam machen. Otto bietet eine Phänomenologie der irrationalen Elemente im Heiligen. (Exkurs über Phänomenologie.) Seine Auffassung des Heiligen ist bestimmt durch dessen irrationale und emotionale Elemente. Das Heilige kann nur durch das Gefühl wahrgenommen werden. Die Beziehung zur rationalen Sphäre ist für diese Konzeption schwierig. Es handelt sich mehr um eine zufällige als um eine wesentliche Beziehung. Die Beziehung ist möglich, aber nicht notwendig. Die Wahrheit der Religion kann daher nicht vom Standpunkt des normalen rationalen Bewusstseins erfasst werden. Logisch und moralisch kann eine Religion wahr, aber auch falsch sein. Im Abgrund des Irrationalen gibt es kein Kriterium für wahr und falsch. Im Gegenteil, die Irrationalität verschlingt die rationalen Normen, das Theoretische und das Praktische. Die Religionsphilosophie Rudolf Ottos hat darum die gefährliche Konsequenz, dass das religiöse Leben und die rationale menschliche Existenz durch eine unüberwindliche Kluft getrennt sind. Das menschliche Leben ist in zwei Teile gespalten, und es gibt keinen Weg vom einen zum anderen. (Exkurs über den Mangel an überzeugenden1 Predigten in der Schleiermacher-Schule.) Diese Spaltung führt zum Verzicht der Religion auf ein Handeln im Bereich des Rationalen, besonders in der Politik. Der rationale Bereich wird allein gelassen, die Welt, d. h. das Ganze der rationalen Beziehungen, wird verlassen, es wird ihr befohlen, ihren eigenen profanen Gesetzen zu folgen. Und umgekehrt wird die Religion allein und ohne irgendeine rationale Kritik gelassen. Ihr werden alle möglichen irrationalen Ideen und Aktivitäten erlaubt. Es gibt kein rationales Urteil.2 Diese Trennung von Religion und rationaler menschlicher Existenz hat aber schon furchtbare Konsequenzen im praktischen Leben gehabt. Der Versuch, die religiöse Idee in das politische Leben einzuführen, wie er vom religiösen Sozialismus unternommen wurde, konnte nicht gelingen, weil die herrschende Theologie an der Trennung beider Bereiche festhielt. So erhoben

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Ms.: effective Ms.: There is no rational judgement.

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sich also in der politischen Sphäre Kräfte, die keine transzendente1 Kritik an ihnen selbst zuließen. Und so sind also in die religiösen Ideen Kräfte eingedrungen, die keine rationale, ethische oder philosophische Kritik an einer neuen irrationalen Mythologie zuließen. Und sogar noch mehr! Der rationale kritische Geist, der zuerst in der Religion gebrochen wurde, wurde auch aus den anderen Sphären vertrieben und zwar in einem solchen Ausmaß, dass die irrationalen Kräfte ungehindert sich erheben und einen schrecklichen Sieg über eine ganze Nation erringen konnten. Der rationale Geist hat sich zurückgezogen in den technischen Bereich, wo es möglich war, die Herrschaft über die Natur, den Staat und die öffentliche Meinung auszuüben. Ich zweifle nicht, dass dies die letzte Konsequenz der Trennung des Heiligen von der rationalen Sphäre ist. Das Rationale verliert, wenn es in das Profane verbannt ist, seine innere Kraft, seine Macht zur Gestaltung und zur Kritik2, und das Heilige wird, wenn es vom Rationalen verlassen wird, zur Arena ungezügelter irrationaler Mächte, die letzten Endes auch den profanen Bereich erobern und ein Reich der Dämonen errichten. Wie wir an der historischen Entwicklung, die wir heute erleben, sehen können, sollten wir gewarnt sein, das Rationale nicht dem Profanen und das Heilige nicht dem Irrationalen auszuliefern. (Exkurs über Religion und Gefühl.) (2) Die Methode Augustins und die dogmatische Methode Die Tendenz, deren klarster Ausdruck das Buch von Rudolf Otto ist, gründet sich auf die wahre Einsicht, dass das Heilige die rationale menschliche Existenz in einer gewissen Weise transzendiert. Und es ist die Hauptaufgabe einer Religionsphilosophie, den Charakter des religiösen Transzendierens aufzuzeigen. Dabei müssen wir die Gefahr vermeiden, dass aus der Transzendenz eine Trennung wird. Um diesen Fehler zu vermeiden, wollen wir die rationale Struktur des Menschen untersuchen, mit dem Ziel, in der rationalen Sphäre selbst das irrationale Element zu finden, nicht als ein fremdes Element, sondern als deren innersten Bestandteil. Vielleicht ist der Weg, den ich Sie führe, Ihrem Denken fremd. Vielleicht sind Sie gewohnt, die religiöse Wirklichkeit außerhalb der rationalen Struktur oder sogar ganz außerhalb des Menschen zu 1 2

Ms.: transcendental Ms.: loses its interior force, its might to order and to criticize

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suchen. Viele Menschen untersuchen die Natur der Religion, indem sie nach Zeichen Gottes in der Welt suchen und von der Existenz und den Eigenschaften der Welt auf die Existenz und die Eigenschaften Gottes schließen. Aus der Existenz Gottes ziehen sie den Schluß, dass der Mensch diesen Gott anerkennen und verehren muss, und diese Akte der Verehrung nennen sie Religion. Das ist die Methode der sog. Gottesbeweise, die dogmatische Methode, von vielen Theologen und Philosophen der Antike angewandt, in ihrer dogmatischen Form aber von Kant angegriffen und widerlegt. Denn diese Methode ist so ungenügend, wie die Beweise brüchig sind. Wir können Gott nicht beweisen, indem wir die Welt außerhalb von uns betrachten. „In interiorem animam redi“1, sagt Augustinus, d. h. „Kehre zurück in deine eigene Seele“. Das ist der erste Schritt, den die Religionsphilosophie zu tun hat. Und Augustinus fährt fort: „Si tuam naturam mutabilem inveneris, transcende te ipsum“.2 Das heißt: „Wenn du deine Seele veränderlich3 findest, transzendiere dich selbst.“ Das ist der zweite Schritt, den die Religionsphilosophie tun muss. Diese Worte des Augustinus zeigen die richtige Methode, die wir anwenden müssen. Wenn wir seinem Rat gefolgt sind und zwei Schritte gemacht haben, werden wir den dritten Schritt tun, zur Welt, die wir verlassen haben, zurückkehren und in ihr den Grund der Religion suchen, wie wir ihn zuvor im inneren Menschen gesucht hatten. Auf diesem Weg transzendieren wir die Seele und die Welt gleichzeitig. Die Methode der Gottesbeweise bleibt in einer Ungewissheit, die alles Denken über die Dinge außerhalb von uns kennzeichnet. Die uns umgebende Welt ist von unserem Geist durch eine Kluft getrennt. Wir haben Gewissheit nur über das, was wir selber sind. Das heißt nicht, dass die Erkenntnis unseres Leibes oder unserer Seele, die Anthropologie oder Psychologie, den höchsten Grad von Gewissheit hat. Das Gegenteil ist wahr. Diese Wissenschaften sind die schwierigsten und unsichersten. Aber der Gegenstand dieser Wissenschaften ist nicht das, was wir unter unserem Selbst verstehen. „Wir selbst“ meint unser eigenes tiefstes Sein, welches nicht Gegenstand irgendeiner Wissenschaft oder irgendwelcher Argumente sein kann.4 Es ist nur 1

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„In te ipsum redi, in interiore homine habitat veritas“ (Augustinus, De vera religione 39, 72). Ebd. Ms.: changeable (gestr.: uncertain) Ms.: Ourselves means our deepest (gestr.: ownest) being which cannot become the subject of any science or any arguments.

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Gegenstand für eine innere Anschauung.1 Wir selbst sind das, was wir selbst machen, und das hängt ausschließlich von unserer Selbstbestimmung ab.2 Und weil das nicht außerhalb von uns liegt,3 weil wir selbst es sind, kann es nicht in Zweifel stehen, kann es keinen Irrtum über es geben.4 Ich kann alle Dinge bezweifeln, ich kann aber nicht im Zweifel sein über mich selbst insofern, als ich zweifle.5 Nur weil ich Gewissheit über mich selbst habe, d. h. über mein Denken und Fragen und Zweifeln, kann ich fragen und zweifeln. Alles Fragen, alles Zweifeln hat diese Voraussetzung, nämlich das Selbstbewusstsein, das immer seiner selbst gewiss ist. Diese Idee, die Augustin und Descartes gemeinsam ist, ist für die Religionsphilosophie wichtiger als für alle anderen Teile der Philosophie. Denn die Gottesgewissheit muss absolut sein, andernfalls ist sie nicht Gottesgewissheit. Diese Gottesgewissheit darf nicht weniger sicher sein als die Gewissheit meiner eigenen Existenz. Im Gegenteil, sie muss sicherer sein. Religiöse Menschen verlieren leichter sich selbst als Gott. „Wenn du deine Seele unsicher findest, transzendiere dich“6, aber indem ich mich selbst transzendiere, begegne ich mir selbst Auge in Auge.7 Es gibt keine Möglichkeit der Trennung von „deus“ und „anima“, von Gott und Seele. Und in dieser untrennbaren Einheit muss die Religionsphilosophie ihren sicheren Grund finden. (Exkurs über Descartes. Seine „Meditationes“ muss jeder lesen, der sich mit Philosophie überhaupt beschäftigt. Der radikale Zweifel, die radikale Suche nach Gewissheit führt ihn auf der einen Seite zu Gott, auf der anderen Seite zu dem rationalen Prinzip. Während für Augustin das erste das wichtigste ist und das letzte fehlt, ist für Descartes das letzte das Ziel in Übereinstimmung mit der Situation der modernen Wissenschaft, aber er benötigt die Idee Gottes für 1 2

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Ms.: It is only a subject for inner intuition. Ms.: Ourselves are what we make ourselves; and this depends exclusively on our self-determination. Folgt gestr.: it has the certainty what I have myself about myself. There is no doubt, no error, both are impossible if my thinking remains in itself; the self-consciousness may be doubting about all things, it cannot doubt about itself, it is about the subject of all doubts. Ms.: And because it doesn’t lie outside of us, because it is ourselves, it cannot be in doubt, there cannot be error about it. Ms.: I may doubt all things; I cannot doubt myself, insofar as I am doubting. Ms.: „If you find your soul uncertain, transcend yourselves.“ Ms.: in transcending myself I come face to face with myself

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die Rationalität der Welt. Und nur weil er in Gott das Prinzip des rationalen Wissens findet, kann er auch der Begründer des englischen Empirismus und des amerikanischen Pragmatismus werden. Beide haben oft ihren geistigen Vater vergessen, aber ich hoffe, Sie sind mit mir einig in dem Wunsch, sich an ihn zu erinnern und sein ebenso kleines wie fundamentales Buch zu lesen.) (3) Die rationale Natur des Menschen und die Idee der Freiheit Wir müssen darum mit der Untersuchung der rationalen Struktur des menschlichen Seins beginnen. Menschliches Sein ist lebendiges Sein, und jedes lebendige Sein zeigt zwei Arten des Verhaltens zur Welt: gemäß seinem Existieren einerseits als Teil der Gesamtheit der Dinge, andererseits als eine unabhängige Totalität für sich selbst. Jedes lebendige Sein empfängt Eindrücke von der es umgebenden Welt und reagiert seinerseits auf diese Eindrücke. Das Empfangen von Eindrücken und das Reagieren auf sie innerhalb seiner selbst sind die beiden Arten des Verhaltens, das das Leben charakterisiert. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen menschlichem Leben und Leben allgemein. Auch menschliches Leben besteht aus dem Wechsel von Empfangen und Reagieren. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied in einer anderen Hinsicht. Alles lebendige Wesen außer dem Menschen reagiert unmittelbar nach dem Empfang eines Eindrucks von außen. Seine Reaktionen haben den Charakter einer Reflexbewegung, einer unwillentlichen Handlung. Alles, was auf ein Tier zukommt, fordert es zu einer unmittelbaren Aktion heraus. Ohne diese Herausforderung zum Handeln haben die Dinge für das Tier keine Bedeutung. Sie sind Gegenstände zum Fressen oder zur Abwehr oder zum Angriff usw., aber sie sind niemals Gegenstände, die ohne eine sofortige Handlung betrachtet werden. Das ist der Unterschied zwischen der Reaktion eines Menschen und eines Tieres, dass der Mensch die Fähigkeit hat, diesen Zirkel von Rezeption von Eindrücken und unmittelbarer Reaktion zu durchbrechen, dass der Mensch die Macht hat, die unmittelbare Reaktion durch ein Hinschauen und Denken aufzuhalten.1 Darum sind die Dinge für den Menschen nicht nur Aufforderungen zum Handeln, sondern auch Aufforderungen zu einem interesselosen

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Ms.: to stop the immediate reaction by looking (gestr.: regarding) and thinking

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Erkennen1. Die Dinge werden vom Menschen nicht nur in ihrer Beziehung zu dem sie betrachtenden Menschen betrachtet, sondern auch als sie selbst.2 Der Mensch untersucht die Natur der Dinge, nicht nur deren Nutzen für ihn selbst. Diese Macht, von der Beziehung der Dinge zu sich selbst abzusehen, ist eine speziell menschliche Macht, es ist die Macht des Denkens.3 Das Denken ist diejenige Tätigkeit des Geistes, die die vitale Tendenz zur unmittelbaren Reaktion durch die Offenbarung der Natur der Dinge und ihrer Beziehungen zueinander unterbricht. Die Macht, die ungebrochenen vitalen Tendenzen zu unterdrücken, die Macht, sie zu brechen, ist das, was den Menschen zum Menschen macht. Menschen, die dem Menschen das Denken nehmen wollen, tun Unrecht. Was sie tun, ist Unrecht,4 obwohl sie heute eine große und ständig wachsende Zahl geworden sind. (Exkurs über die Philosophie des Faschismus.) Es ist Unrecht, obwohl sie in vielen Ländern die politische Macht bekommen haben, und es wird Unrecht bleiben, selbst wenn sie in der Mehrheit der Länder an die Macht kommen. Sie können die menschliche Natur nicht ändern, ohne die menschliche Existenz zu vernichten, ohne den Menschen in ein Tier zu verwandeln. Doch der Mensch kann seine eigene Natur nicht ändern. Die menschliche Natur kehrt, selbst wenn sie radikal unterdrückt wird, zurück und durchbricht alle Barrieren. Das ist unsere Hoffnung bezüglich der jüngsten Ereignisse in vielen Teilen der Welt. Die menschliche Natur5 ist die Macht des Denkens und der Herrschaft über alle vitalen Tendenzen. Wir verlassen diesen Exkurs in die Aktualität und betrachten nun sorgfältig die Konsequenzen, die sich aus dem fundamentalen Charakter des Menschen ergeben. – Die Macht des Denkens, d. h. nicht gezwungen zu sein, unmittelbar zu reagieren, verändert die beiden Seiten des allgemeinen Verhaltens, das Rezipieren von Eindrücken und das Reagieren auf sie. Die eine Seite, die Fähigkeit, Eindrücke zu empfangen, ohne zu reagieren, erzeugt6 das theoretische Verhalten 1

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Ms.: Therefore things are for men not only challenges to action but also challenges to desinterested knowledge. Ms.: in themselves Ms.: This power of disregarding (gestr.: to abstract from) the relation of things to himself, is the special human power, it is the power of thinking. Ms.: They are wrong Folgt gestr.: ist denkende Natur Ms.: produces

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des Menschen. Und die andere Seite, die Fähigkeit,1 von sich selbst aus zu handeln, ohne unmittelbare Notwendigkeit, erzeugt das praktische Verhalten des Menschen und seine natürliche Eigenschaft, die Freiheit. Bleiben wir für einen Moment bei diesem Punkt! Es hat in der Geschichte der Philosophie und noch mehr in der Geschichte der Theologie breite Diskussionen über die Willensfreiheit gegeben. Es gibt auf diesem Gebiet in der Tat wirkliche Probleme, besonders bezüglich des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch und zwischen dem Menschen und den natürlichen Gesetzen.2 Aber bevor wir diese Probleme diskutieren, müssen wir ein Bild vom Menschen haben, müssen wir den Menschen von den anderen natürlichen Wesen unterscheiden können. Wir können das Verhältnis zwischen Mensch und Gott oder zwischen Mensch und Natur nicht erfassen, wenn wir nicht eine klar definierte Vorstellung vom Menschen haben. Wenn wir die menschliche Natur z. B. von der Natur der Tiere unterscheiden wollen, benötigen wir das Attribut3 der Freiheit. Es ist unmöglich, die menschliche Natur ohne das Attribut der Freiheit zu definieren, aber Freiheit nicht in jedem beliebigen Sinn des Wortes, sondern Freiheit in einem speziellen Sinn. Freiheit ist die Macht, nicht mit einer Reflexbewegung zu handeln, sondern durch Denken. Freiheit von der unmittelbaren Reaktion. Diese Erkenntnis bedeutet für die theologische Diskussion, dass wir begreifen müssen, dass selbst Gott den Menschen nicht gegen die menschliche Freiheit zwingen kann, wenn er die menschliche Natur unverändert lässt. Wenn er aber die menschliche Natur verändert, wird der Mensch „truncus et lapis“, d. h. Block und Stein, wie es in der lutherischen Konkordienformel4 heißt. Dann aber hat der Mensch aufgehört, Mensch zu sein, und das Problem ist nicht gelöst, sondern beseitigt. Und ebenso muss auch der Philosoph begreifen, dass das Problem der Beziehung zwischen natürlichem Gesetz und Mensch beseitigt ist, wenn der Mensch auf1 2 3 4

Folgt gestr.: als ein unabhängiges Wesen Ms.: natural laws Ms.: attribute In der Konkordienformel, Solida Declaratio II wird aus Luthers Kommentar zu Psalm 91 zitiert: „… homo est … similis trunco et lapidi ac statuae vita carenti“ (Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. 4. Aufl., Göttingen 1959, 880). Im Anschluss daran aber wird erklärt: „Ad hanc vero spiritus sancti renovationem nullus lapis, nullus truncus, sed solus homo creatus est“ (ebd.). Tillich greift aus der Konkordienformel also lediglich die Wortverbindung „truncus et lapis“ auf.

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hört, Mensch zu sein, d. h. wenn er die unmittelbare Notwendigkeit der Reaktion nicht mehr durchbrechen kann. Das ist das wirkliche Problem, herauszufinden, wie in der Natur, durch die Natur erzeugt, ein Wesen entstehen konnte, das die Macht hat, zu denken und gemäß seinen Gedanken zu handeln. Es ist eine einfache Lösung, erst die menschliche Natur zu beseitigen und dann zu zeigen, dass sie keine Freiheit hat bezüglich der natürlichen Gesetze, aber es ist eine oberflächliche Lösung. Sie kennen nun den Sinn der menschlichen Freiheit in dieser Vorlesung: Sie bedeutet die Freiheit von der Notwendigkeit einer unmittelbaren Reaktion. Dies und nur dies wollen wir Freiheit nennen. Alle anderen Probleme, die die Idee der Freiheit berühren, lassen wir beiseite. Wir haben gezeigt, wie sich die Veränderung der beiden Seiten des Lebendigen vollzieht, hervorgerufen durch die Macht des Menschen, die unmittelbare Reaktion zu unterbrechen. Die Seite der Rezeption von Eindrücken erzeugt das theoretische Verhalten, die Seite der Reaktion erzeugt das praktische Verhalten, d. h. das Handeln in Freiheit. Die menschliche Natur muss als die Einheit dieser beiden grundlegenden Vermögen1 betrachtet werden, des theoretischen und des praktischen Vermögens, beide gegründet auf die Macht, die Notwendigkeit unmittelbarer Reaktion zu durchbrechen. Alle Fähigkeiten2 des menschlichen Geistes können auf diese beiden zurückgeführt werden. Sie entsprechen den beiden Tendenzen des Lebens, der Tendenz des Empfangens und des Reagierens.3 1 2 3

Ms.: faculties Ms.: habilities Folgt gestr.: Erinnern Sie sich an die Absicht dieser Analysen: Wir wollten das religiöse Verhältnis finden, d. h. das transzendentale Element innerhalb der Vernunftstruktur des Menschen. Jetzt haben wir die fundamentalen Elemente der Vernunftstruktur des Menschen gefunden, aber mehr nicht. Darum müssen wir nun unsere Erklärung fortsetzen, erstens indem wir die verschiedenen Fähigkeiten zeigen, die aus den beiden grundlegenden Vermögen des menschlichen Geistes hervorgehen. Beide grundlegende Vermögen enthalten in sich selbst eine Spannung zwischen zwei Tendenzen. Die eine, die Tendenz, ihren eigenen Charakter so gut wie möglich wahrzunehmen. Die theoretische Seite neigt dazu, rein theoretisch zu sein, und die praktische Seite dazu, rein praktisch zu sein. Auf diese Weise schaffen sie reine Wissenschaft und reine Politik. Beide haben zueinander die größte Distanz. Aber es gibt auch eine andere Tendenz, die Tendenz der Vermögen, sich miteinander zu vereinigen und gemischte Formen menschlichen Verhaltens zu schaffen. Es gibt zwei Wege, die Einheit der Vermögen zu erreichen. Das erste ist möglich,

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Lassen Sie uns nun noch einmal und genauer das theoretische und das praktische Vermögen der rationalen Struktur des Menschen betrachten. Wir haben gelernt: Die theoretische Haltung ist die Rezeption von Eindrücken, die praktische Haltung die Reaktion. Rezeption und Reaktion, insofern sie sich im menschlichen Geist ereignen, ereignen sich in der besonderen Form, die wir Freiheit nennen. Die Freiheit in der theoretischen Sphäre ist die Macht, Fragen zu stellen, und die Freiheit in der praktischen Sphäre ist die Macht, nach Normen oder gegen Normen zu handeln. Ein Tier muss auf den kräftigsten Eindruck, den es empfangen hat, unmittelbar reagieren. Es kann nicht fragen, ob dieser Eindruck der Wirklichkeit entspricht, und es kann nicht zweifeln, ob es in dieser oder jener Weise reagieren soll. Dem Tier fehlt die Idee der Wahrheit und die Idee des Guten, denn beide Ideen bedeuten die Möglichkeit ihres Gegenteils, des Falschen und des Bösen. Der Mensch hat die Möglichkeit der Wahrheit, weil er die Möglichkeit der Unwahrheit hat, und er hat die Möglichkeit des Guten, weil er die Möglichkeit des Bösen hat. Die Wahl zwischen wahr und falsch nötigt den Menschen, nach der Wahrheit zu fragen, und die Wahl zwischen gut und böse nötigt den Menschen, nach Normen zu entscheiden oder gegen sie. Die Suche nach der Wahrheit und die Entscheidung für Normen konstituieren das rationale Leben des Menschen. Das ist seine Größe und sein Schicksal. Das ist sein Macht, und hier liegt auch seine Gefahr. Und hier, in diesem Grund der menschlichen Existenz, müssen wir die Religion suchen. bevor die grundlegenden vollständig getrennt sind. Das ist die Konsequenz einer ursprünglichen Einheit beider Seiten der menschlichen Natur. Im theoretischen Bereich ist es das ästhetische Vermögen, speziell das Vermögen der Kunst. Im praktischen Bereich ist es das ethische Vermögen. Der andere Weg, vereinte Formen des Verhaltens zu finden, ist möglich nach der vollständigen Trennung der beiden grundlegenden Vermögen. Es ist eine neue Einheit, nicht eine ursprüngliche wie die erste, aber gegründet auf dem radikalen Erreichen beider Seiten. Sie bedeutet das technische Wissen im theoretischen Bereich und die ökonomische Tätigkeit im praktischen Bereich. Wir haben nun einen Kreis menschlicher rationaler Vermögen, der die rationale Struktur des Menschen ausdrückt. Der eine Halbkreis enthält die theoretischen, der andere die praktischen Vermögen. Die ersten sind die Ästhetik, in der ein Element des praktischen Verhaltens wirksam ist, dann die reine Wissenschaft, die der praktischen Seite direkt entgegengesetzt ist, dann das technische Vermögen, die auch ein praktisches Element hat. Und die letzten sind die Ethik, in der sich ein Element der theoretischen Intuition in sich selbst befindet, dann die Politik, einschließlich Staat und Recht, die der theoretischen Seite direkt entgegengesetzt ist; dann die ökonomische Fähigkeit, die das technische Wissen einschließt.

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(Exkurs über die Anthropologie der neuesten philosophischen Entwicklungen. Anstelle der Trennung von Leib und Seele, von Geist und Natur die Einheit, die fundamentaler ist als diese Trennungen. Diese Einheit ist der Mensch, die Trennungen sind Abstraktionen, sie sind für bestimmte Zwecke nützlich, drücken aber nicht die Wirklichkeit aus. Es gibt keinen Geist ohne Leib und keinen Leib ohne Geist.1 Mit Max Scheler hat diese Tendenz begonnen. Sein Buch „Die Stellung des Menschen im Kosmos“2 sollte so schnell wie möglich ins Englische übersetzt werden. Aber auch die Psychologie, sowohl die europäische als auch die amerikanische, tendieren zu dieser Auffassung. In Deutschland versuchen die jüngsten Entwicklungen in der Schule der Gestaltpsychologie (jetzt in Amerika vertreten durch Prof. Wertheimer3, New School for Social Reasearch), die Psychologie durch Anthropologie zu ersetzen. Einer von ihnen, Prof. Gelb4, 1 2

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Ms.: There is no spirit without body and body without spirit. Es erschien erstmalig im Jahrbuch „Der Leuchter“, Otto Reichl Verlag Darmstadt 1927, als Sonderdruck im gleichen Verlag in 1., 2., 3. Aufl. 1928, 1929, 1931. Max Wertheimer (1880-1943), Begründer der Gestaltpsychologie, begann seine Hochschullehrerlaufbahn am Frankfurter Psychologischen Institut (1910-1916), setzte sie von 1918 bis 1929 an der Berliner Universität fort, um im Rahmen der Frankfurter philosophischen Fakultät die Professur für Psychologie am Frankfurter Psychologischen Institut zu übernehmen. Nach dem im April 1933 verhängten Berufsverbot fand er Aufnahme an der New School for Social Research in New York. Im Sommersemester 1930 führte er zusammen mit Gelb, Tillich und Riezler ein philosophisches Seminar durch, im Sommersemester 1931 mit denselben ein philosophisches Kolloquium. Zu seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit an der Frankfurter Universität vgl. Viktor Sarris, Max Wertheimer in Frankfurt. Beginn und Aufbaukrise der Gestaltpsychologie, Lengerich, Berlin, Riga 1995. Der Gestaltpsychologe Adhémar Gelb (1887-1936) war seit 1929 (zusammen mit Max Wertheimer) Direktor des Frankfurter Psychologischen Instituts. „Die international anerkannte Leistung Gelbs ist die theoretisch und experimentell fundierte genaue Analyse der Störungen der Sinneswahrnehmung, der Sprache und der Erkenntnisvorgänge nach Hirnverletzungen. Bereits die mit K. Goldstein und M. Wertheimer zusammen abgehaltenen Seminare über ‘Hirnverletzten-Psychologie’, an denen neben Neurologen und Psychologen bekannte Wissenschaftler anderer Fachgebiete (z. B. P. Tillich, M. Horkheimer, Th. Adorno) teilnahmen, waren Höhepunkte des Frankfurter Universitätslebens.“ (Rudolf Bergius, in: Neue deutsche Biographie, Band 6, Berlin 1964, 168) 1931 folgte Gelb einem Ruf auf das Ordinariat für Philosophie an der Universität Halle, wo er die Leitung des von ihm aufgebauten Psychologischen Seminars übernahm. 1933 wurde er entlassen. Wegen einer Tuberkuloseerkrankung konnte er eine Professur an der Universität Stockholm (1934), ebenso die von Tillich erwähnte Professur in Kansas City nicht wahrnehmen.

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jetzt – wie ich hoffe — Professor in Kansas City, sagte mir: „Ich weiß nicht, was Psychologie ist. Ich kenne nur Anthropologie, weil ich nur eine ungeteilte Natur des Menschen kenne.“1 Und der amerikanische Behaviourismus sucht jegliche Trennung von Teilen in der Natur von Menschen und Tieren zu vermeiden. Diese sehr empirische Schule unterstützt also diesbezüglich die Tendenzen europäischer Psychologie und metaphysischer Anthropologie.2 Denn es muss scharf unterschieden werden zwischen der Anthropologie, über die ich jetzt spreche, und der Anthropologie, die Teil der Naturwissenschaften und mit der Ethnologie verbunden ist.)3 (4) Die Unmöglichkeit eines Systems der Kultur Es hat viele Versuche gegeben, auf den zwei grundlegenden Tendenzen des menschlichen Geistes ein System der rationalen Vermögen aufzubauen. Den berühmtesten Versuch haben Kant und der Neukantianismus unternommen, indem sie drei Kulturbereiche (Logik, Ethik, Ästhetik) entsprechend den drei psychischen Funktionen (Denken, Wollen, Fühlen) unterschieden. Aber dieses Schema ist ungenügend, erstens weil das Gefühl nicht als eine isolierte Funktion der Vernunft behauptet werden kann. Es ist die subjektive Seite alles menschlichen Handelns, aber nicht eine Seite an sich. Und die Ästhetik gehört zum theoretischen Bereich, insofern als sie nicht intendiert, die Wirklichkeit zu formen und zu verändern. Es scheint mir unmöglich zu sein, ein solches System der Vernunftfunktionen zu konstruieren. Es ist möglich – das räume ich ein –, die Bereiche der Kultur, die wir kennen und in denen wir leben, in eine gewisse Ordnung zu bringen.4 Aber dies ist eine praktische Angelegenheit. Es ist nützlich für das Reden und Handeln, aber diese Schemata haben einen geringen Erkenntniswert. Es gibt dafür einen klaren Grund. Geistiges Leben ist schöpferisches Leben. Jede Periode, sogar jedes große Werk schafft nicht nur neue Gegenstände, sondern auch neue Kategorien von Gegenständen. Die griechische Tragödie ist keine 1

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Ms.: „I don’t know what Psychology is. I know only anthropology, because I only know undivided human nature.“ Ms.: metaphysical anthropology Ms.: For you have sharply to distinguish between the anthropology about which I am speaking and the Anthropology which belongs to the natural sciences and is connected with Ethnology. Folgt gestr.: Aber diese Anordnung von Departments scheint mir wenig Bedeutung zu haben. Es mag in vielen Fällen nützlich sein, zu unterscheiden …

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Sammlung von einzelnen Tragödien, die jederzeit vermehrt werden könnten, sondern sie ist eine Kategorie für sich selbst, die einmal gelebt hat und nicht mehr lebt und nie wieder lebendig werden kann. Sie ist mit der religiösen und sozialen Existenz Griechenlands in einer bestimmten Periode seiner Geschichte verbunden, und es ist unmöglich, sie aus dieser Verbindung herauszunehmen und sie zu einer allgemeinen Kategorie für spätere Zeiten für uns und für die ganze Menschheit zu machen. Auf die gleiche Weise müssen wir z. B. die Philosophie betrachten. Sie hat wie die Tragödie ihre Wurzeln in der religiösen und sozialen Situation des alten Griechenland. Sie war ein Ereignis, das es nur einmal in der Welt gab. In der späteren Zeit gab es keine Philosophie im strikten Sinne des griechischen Wortes mehr. Wir haben philosophische Abteilungen an den Universitäten. Wir haben berufene Philosophen. Aber wir haben nicht mehr Philosophie, wie die Griechen sie hatten. Dieser Unterschied ist nicht nur ein Unterschied der Methode und der Resultate, es ist ein Unterschied in der Haltung, begründet in den Unterschieden des religiösen und sozialen Lebens. Die Kürze der Zeit erlaubt es mir nicht, dies in dieser Vorlesung zu behandeln. Aber ich rate Ihnen, seien Sie vorsichtig bei dem Gebrauch des Begriffes „Geschichte der Philosophie“! Es gibt keine Geschichte der Philosophie im Sinne einer Linie von Ideen, die auf einander folgen und aus einander resultieren. Im Gegenteil: Zwischen den Perioden gibt es tiefe Einschnitte, es gibt ein Ende und einen Anfang mit ganz neuen Haltungen der Existenz und des Denkens, und wir irren, wenn wir diese ganze Vielfalt zusammenpacken und eine Kategorie wie Geschichte für alle Zeiten konstruieren, mit der Behauptung, dass es eine ewige Funktion des menschlichen Geistes gebe. Schauen wir auch auf den praktischen Bereich! Wir sind gewohnt, Moral und bürgerliche Gesetze zu unterscheiden, aber diese Unterscheidung ist nicht älter als 200 Jahre. Sie stammt aus der Neigung der Aufklärung, die einzelne Persönlichkeit aus ihren sozialen Zwängen zu befreien, sie wird aber mit dem Ende der kapitalistischen Kultur verschwunden sein. Es wäre falsch, zwei ewige Kategorien Moral und bürgerliches Recht zu behaupten, denn beide sind etwas anderes, je nachdem, ob sie sich mit der anderen verbinden oder ob sie getrennt für sich selbst existieren. (Exkurs über die Idee des totalen Staates als Beseitigung des Unterschiedes zwischen beiden Kategorien. Durch den totalen Staat verliert das religiöse und moralische Gewissen seine Freiheit. Das Gewissen

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muss allem, was der Staat befiehlt, zustimmen, weil der Staat der höchste Wert ist und weil die Gesetze des Staates nicht entsprechend einer moralischen Norm aufgestellt wurden, sondern allein entsprechend den Bedürfnissen des Staates und dem unbedingten Willen zur Macht. Vielleicht können wir diese Idee als Niedergang beider, der Gerechtigkeit und der Moral, interpretieren, aber in jedem Fall ist die Unterscheidung zwischen den beiden beseitigt.) Ich könnte die Beispiele vermehren. Doch die Beispiele, die ich gegeben habe, genügen, um uns am Entwurf eines Systems der Vernunftfunktionen zu hindern. Darum gilt es nun, das religiöse Element nur in den beiden grundlegenden Bereichen aufzuzeigen, dem theoretischen und dem praktischen. Nur diese beiden sind unabhängig vom geschichtlichen Wandel, denn sie sind Attribute alles lebendigen Seienden. Und das Leben ist älter als die Geschichte. (Exkurs über die gegenseitige Immanenz der Funktionen). (5) Der circulus vitiosus der empirischen Methode Lassen Sie mich in diesem methodologischen Abschnitt einige weitere Bemerkungen über die Frage der Methode machen. Die Methode in der Philosophie ist mehr als eine Formsache, sie ist die Vorwegnahme der Lösung selbst. Ich muss darum den Unterschied zwischen dieser und anderen Methoden behandeln, wenn auch in äußerster Kürze. Ich nannte die Methode, die meiner Methode am nächsten kommt, die von Rudolf Otto, die phänomenologische Analyse des Heiligen. Ich nannte auch die Methode der rationalen Beweise für die Existenz Gottes, aber ich erwähnte noch nicht die empirischen Methoden, deren Ziel die Gewinnung eines allgemeinen Religionsbegriffs mittels der Abstraktion von allen historischen Religionen ist, andererseits aber auch die Aufklärung über die Entstehung der Religion durch die Suche nach deren soziologischen und psychologischen Ursachen. Es scheint, dass diese beiden Methoden den anderen überlegen sind, weil sie in Tatsachen begründet sind. Sie scheinen auf den ersten Blick mehr Sicherheit zu bieten als die Methoden der Selbstintuition. Sie scheinen wissenschaftlicher zu sein, eher Beweise liefern und exakt argumentieren zu können. Was könnte einfacher sein als die historischen Religionen zu beschreiben, sie miteinander zu vergleichen, ihre Unterschiede wegzudenken und von ihnen einen allgemeinen Religionsbegriff abzuleiten? Aber versuchen Sie dies, und nach kurzer Zeit werden Sie den Versuch aufgeben. Oder Sie werden den Ver-

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such nicht einmal beginnen zu können. Denn um die historischen Religionen beschreiben zu können, müssen Sie einen Religionsbegriff haben, um sie von Nicht-Religion zu unterscheiden. Wie können Sie diesen Begriff von Religion in einer Wissenschaft finden, deren Ziel es ist, diesen Begriff zu suchen? Sie müssen ihn gefunden haben, um ihn suchen zu können. Zum Beispiel: Sie zeichnen ein Bild des ursprünglichen Buddhismus und unterstellen dabei seinen religiösen Charakter. Dann kommt jemand und bestreitet, dass der Buddhismus eine Religion ist, weil es in ihm keinen Glauben an Gott gibt, er behauptet, der ursprüngliche Buddhismus sei nur eine ethische Haltung. Was können Sie ihm antworten, ohne einen Begriff der Religion vorauszusetzen? Aber Sie haben sich mit dem Buddhismus beschäftigt, um vom Buddhismus und den anderen Religionen die Idee der Religion zu abstrahieren. Es besteht keine Möglichkeit, aus diesem Zirkel, in den die empirische Methode hineingeraten ist, herauszukommen. – Aber wenn Sie sagen: Ich setze voraus, dass der Buddhismus eine Religion ist, und abstrahiere meinen Religionsbegriff von ihm wie von anderen Religionen, geraten Sie in eine andere Schwierigkeit. Sie werden so viele Merkmale abstrahieren, dass nichts mehr übrigbleibt. Sie werden einen Religionsbegriff erhalten, der weder Buddhismus noch Christentum noch Islam noch Heidentum noch irgendeine der primitiven Religionen ist. Dieser Ihr Religionsbegriff ist ohne Inhalt, er ist leer und nutzlos. (Exkurs über das „Wesen des Christentums“ von Harnack. Von allen wissenschaftlichen Büchern das am meisten gekaufte und übersetzte Buch. Übersetzt in alle zivilisierten Sprachen der Welt. Aber es war nicht das Wesen des Christentums, es war eine der vielen möglichen Interpretationen des Christentums, die repräsentative Interpretation des Christentums durch die bürgerliche Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts in der Zeit des Hochkapitalismus. Diese Konzeption war weder der Kirchengeschichte noch dem Neuen Testament entnommen, es war eine Auswahl von wenigen Elementen nach Maßgabe der Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft.) Es gibt keinen anderen Weg, als mit einem konkreten Religionsbegriff zu beginnen, der sich allein in mir selbst findet. Das heißt nicht, dass ich sagen muss: Diese meine Religion ist die wahre Religion, und alle anderen sind falsch, sondern das heißt, dass ich einen Zugang zur Existenz und Essenz der Religion nur durch meine eigene Religion habe. Ich wiederhole: nur durch meine eigene Religion. Dies ist die Tür, die einzige Tür zur Religion. Aber die Tür ist nicht das

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ganze Gebäude. Und meine eigene Religion ist nicht das Wesen der Religion. Die philosophische Kritik richtet sich auch gegen meine eigene konkrete Religion, aber auch diese Kritik ist nur möglich auf Grund meiner eigenen Religion. Wir haben die drei Schritte der Religionsphilosophie hervorgehoben. Der erste Schritt führt in den inneren Menschen, der zweite transzendiert die Seele, der dritte führt in die Welt, um sie wie auch die Seele zu transzendieren. Und nun haben wir die Möglichkeit eines vierten Schrittes gefunden. Er besteht darin, die historische Religion im Lichte eines Religionsbegriffs zu betrachten, den wir durch die bisherigen Schritte gewonnen haben, um somit diesen Begriff zu erweitern und zu füllen. Aber dies ist der vierte Schritt, nicht der erste, wie die empirische Methode uns glauben machen möchte. Und nun können wir den fünften Schritt zeigen und den anderen Weg der empirischen Methode bestreiten, den Weg der Aufklärung über die Entstehung der Religion. Es gibt Wissenschaftler, die glauben, sie hätten die Religion widerlegt, indem sie ihre Ursprünge aufzeigen. Sie suchen die Entstehung der Religion in der sozialen oder psychologischen Struktur des menschlichen Lebens. Sie führen sie zurück auf die Furcht oder den Willen zur Macht oder auf die Hoffnung auf ein ewiges Leben oder auf die primitiven Versuche, die Natur oder das kindliche Bild eines mächtigen, drohenden Vaters zu deuten, das abgeleitet ist vom Bild des menschlichen Vaters usw. Es gibt in der Tat im sozialen und psychologischen Leben des Menschen solche Tendenzen. Aber niemand kann erklären, warum diese Tendenzen sich in religiösen Vorstellungen und Handlungen ausdrücken. Wenn Religion vorausgesetzt ist, ist es leicht zu zeigen, warum der Wille zur Macht oder die Furcht oder die Hoffnung oder der frühe Eindruck des Vaters sich an die Religion hängen kann. Es ist z. B. nicht schwierig zu verstehen, dass die herrschenden Klassen religiöse Hoffnungen und Ängste benutzen können, um andere Klassen zu unterdrücken. Aber wir können nicht verstehen, wie solche Praktiken erfolgreich sein können, wenn es in der menschlichen Natur nicht ein Element gäbe, das diese Praktiken unterstützt. Die herrschende Klasse kann sich Religion zurechtlegen, aber sie kann Religion missbrauchen, wenn Religion eine Realität ist. Deshalb muss auch die empirische Methode die Idee der Religion voraussetzen, obwohl sie sie doch durch die Erforschung ihrer Ursprünge suchen will. Sie setzt die Idee der Religion voraus oder, genauer gesagt, sie setzt voraus, dass die Idee der Religion keine Realität hat und dass wir deshalb andere Elemente

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in der menschlichen Natur finden müssen, von denen die Religion abzuleiten sei. Folgen wir diesem Weg, ist die empirische Methode in einem Zirkel gefangen, aus dem sie nicht ausbrechen kann. Die soziale und psychologische Seite der Religion ist für die Religionsphilosophie sehr wichtig. Wir müssen einräumen, dass die theologischen und idealistischen Forscher auf dem Gebiet der Religion die große Bedeutung dieser Probleme nicht gesehen haben. Daher haben die Empiristen sie bekämpft; sie glaubten, die Tatsachen des sozialen und psychologischen Lebens könnten die Religion widerlegen. Und die Theologen und Idealisten konnten deren Argumente nicht widerlegen. So entstanden zwei Zugänge zur Religionsphilosophie, die sich gegenseitig in Frage stellten. Und beide zerstörten die Gewissheit der Religion in den Köpfen vieler Leute. (Exkurs über Marxismus und Psychoanalyse als wichtigste Formen der Ableitung der Religion von anderen Tendenzen mit dem Ziel, ihren unwirklichen Charakter zu entlarven. Der Begriff Ideologie meint Vorstellungen, die geeignet sind, den Willen zur Macht und die Interessen von Gruppen zu verhüllen, um für sie Realität zu beanspruchen. Ein großer Teil der marxistischen Forschung hat das Ziel, diesen ideologischen Charakter der religiösen Vorstellungen nachzuweisen. Auf dieselbe Weise versucht die Psychoanalyse zu zeigen, dass die religiösen Vorstellungen Ausdruck der Verhüllung vitaler, speziell erotischer Tendenzen sind und nichts anderes. Die Fülle von Tatsachen, auf die sich beide Theorien berufen können, gibt ihnen eine große Überzeugungskraft für Menschen, die die verborgenen Voraussetzungen in diesen Methoden nicht sehen und die zwischen dem rechten und falschen Gebrauch von Ideen nicht unterscheiden können.) Der fünfte Schritt der Religionsphilosophie hat darum eine große Bedeutung. Er ist zu einem gewissen Grade der Maßstab für die vier früheren Schritte. Diese führen, wenn sie richtig durchgeführt werden, zu einem Religionsbegriff, der auch die soziale und psychologische Realität der Religion erklären kann. Aber das ist der Abschluss, nicht der Anfang der Religionsphilosophie. Der Anfang ist die Selbstanschauung im Sinne Augustins.

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II. Die Idee des Heiligen (1) Das Heilige und das Wahre Wenn wir den ersten Schritt der Religionsphilosophie tun und in den inneren Menschen gehen, finden wir zwei Fähigkeiten1 unserer rationalen Struktur: die Fähigkeit zu fragen und die Fähigkeit zu entscheiden. Beide sind möglich nur durch die Freiheit. Wir finden uns selbst ständig vor als Fragende. Indem wir dies tun, setzen wir zwei Dinge voraus.2 Erstens setzen wir eine Distanz zwischen uns selbst, die wir fragen, und der Wahrheit, die wir suchen, voraus. Zweitens setzen wir voraus, dass wir, die wir fragen, und die Wahrheit, die wir suchen, essentiell nicht getrennt sind, sondern dass der menschliche Geist und die Wahrheit zusammengehören.3 Wir setzen voraus, dass die Wahrheit im Inneren des Menschen ihre Wohnung hat. Ohne diese Voraussetzung könnten wir die Möglichkeit wahrer Erkenntnis durch den menschlichen Geist nicht verstehen. Doch mit dieser Voraussetzung transzendieren wir den menschlichen Geist. All unser Erkennen ist bedingt durch anderes Erkennen und das andere wiederum durch anderes usw. All unser Erkennen ist bedingt durch unsere veränderliche menschliche Natur, durch unsere Endlichkeit, durch unsere Schwäche, durch unsere historische, soziologische und psychologische Situation. Die Macht zu fragen ist auch die Gefahr zu irren. Das Tier hat nicht die Macht zu fragen, es befindet sich auch nicht in der Gefahr zu irren. Ein Tier ist nicht von sich und seiner Welt getrennt, es lebt ungebrochen in sich selbst und seiner Welt, es hat keine Distanz zu all den Dingen, in denen die Möglichkeit des Fragens begründet ist. Ein Tier ist darum unbeweglich4 in sich selbst und seiner Welt. Es muss sterben, aber auch sein Sterben gehört zu seiner Welt. Es fragt nicht nach dem Sinn des Todes, es hat nicht den Abstand zu seinem eigenen Sterben, den der Mensch hat und der ihn zur Frage nach dem Sinn des Todes treibt. Die Existenz des Menschen ist eine gebrochene Existenz, gebrochen, insofern als er in einem Abstand zu sich selbst und seiner Welt lebt. Der Mensch muss die Wahrheit über sich selbst und seine Welt suchen, indem er Fragen stellt. Er lebt darum mehr als irgendein Tier in Gefahr, 1 2 3 4

Ms.: Ms.: Ms.: Ms.:

faculties assume belong together unmoved (gestr.: sure)

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nämlich in der Gefahr, die Wahrheit über sich selbst und seine Welt zu verfehlen. Menschliches Leben ist höchst gefährliches Leben, nicht weil es Gefahren gibt, die seine Existenz in Raum und Zeit bedrohen (in dieser Hinsicht unterscheidet er sich nicht von der gesamten Natur), sondern weil er seine wahre Existenz verfehlen kann. Seine Fragen können ohne Antwort bleiben.1 Darum stellt der Mensch eine Frage, die alle anderen Fragen transzendiert, er fragt nach einer transzendenten Sicherheit, nach der Wahrheit, die mit ihm geeint ist, nach der unbedingten Wahrheit. Und diese Frage ist die Frage nach der Religion. Unbedingte Wahrheit ist heilige Wahrheit. Hier ergeben sich viele Probleme. Erstens müssen wir den Charakter des Begriffs der unbedingten Wahrheit analysieren. Die Fähigkeit des Menschen zu fragen, die gleichzeitig die Gefahr bedeutet, die Wahrheit zu verfehlen, hat ihren Grund, wie wir sahen, in dem Abstand zwischen ihm und der Wahrheit. Dieser Abstand ergibt sich aus der Tatsache, dass wir in einer gespaltenen Welt leben, gespalten in eine subjektive und eine objektive Seite. Der Irrtum ist unvermeidlich, weil das Subjekt sich niemals vollständig mit dem Objekt einen kann. Es bleibt immer ein Rest im Objekt, in den unser Denken nicht eindringen kann, auch nicht durch den größten Fortschritt des Wissens. Dieser bleibende Rest im Objekt kann durch das Denken nicht aufgelöst werden, er bleibt für immer dem Subjekt entgegengesetzt. Diese Kluft zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Denken und Sein macht unbedingte Wahrheit unmöglich. Aber in jedem Denken wird unbedingte Wahrheit vorausgesetzt, d. h. eine ursprüngliche ewige Einheit von Subjekt und Objekt, ein Denken, das Sein ist, und ein Sein, das Denken ist, ohne eine Spaltung zwischen einer subjektiven und einer objektiven Seite.2 Aber diese Voraussetzung, die jedem Denken, jeder Frage und jedem Wissen innewohnt, kann selbst nicht Gegenstand des Wissens sein.

1

2

Folgt gestr.: In diesem Falle (und dieser Fall trifft für jeden Menschen zu) muss der Mensch das Ziel seiner Existenz verfehlen. Auf der anderen Seite kann der Mensch nicht aufhören zu fragen. Ms.: This remaining part in the object cannot be resolved by thinking, it stays overlastingly set over against the subject. This gulf between subject and object, between thinking and being makes impossible unconditioned truth, but in every thought unconditioned truth is supposed, that is, an original eternal union of subject and object, a thinking which is being, and a being, which is thinking without cleavage in a subjective and an objective side.

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In dem Moment, in dem wir versuchen, diese Voraussetzung von Subjekt und Objekt selbst zu objektivieren, machen wir es nur zu einem einzelnen Teil und nehmen ihm seinen Charakter als Unbedingtes, als heilige Wahrheit. Das bedeutet, dass die heilige Wahrheit nicht auf dieselbe Weise Gegenstand werden kann, wie alle Dinge der Welt Gegenstand werden können. Religiös gesprochen, wir können Gott nicht zu einem Teil der Welt machen, auch nicht zum höchsten Teil. Wir können ihn nicht zu einem Gegenstand des Wissens machen, wie wir dies der ganzen Welt gegenüber tun. Er ist weder Subjekt noch Objekt, er ist – jetzt wieder in philosophischer Terminologie – die ungespaltene und darum unbedingte und darum heilige Wahrheit. Weil wir die heilige Wahrheit nicht zu einem Gegenstand machen dürfen, bleibt sie für unser Denken ein Geheimnis. Die Voraussetzung allen Denkens ist ein Geheimnis für alles Denken. Diese paradoxe Aussage zeigt die Beziehung zwischen der heiligen Wahrheit und dem Inneren des Menschen und gleichzeitig die Transzendenz der heiligen Wahrheit gegenüber dem Inneren des Menschen. Das Heilige ist in der rationalen Natur des Menschen zu finden, in der Macht zu fragen und in der Subjekt-Objekt-Spaltung, aber es ist nur dadurch zu finden, dass wir die rationale Natur, d. h. die Subjekt-Objekt-Spaltung, transzendieren und die ursprüngliche Einheit suchen, die in allem rationalen Erkennen vorauszusetzen ist. So müssen wir sagen, dass das Heilige das Geheimnis ist, das die rationale Natur transzendiert, und gleichzeitig der Grund1 ist, in dem die rationale Natur wurzelt. Insofern als das Heilige die rationale Natur transzendiert, ist es der Abgrund, der sie bedroht. Insofern als das Heilige die Macht zum rationalen Handeln verleiht, ist es der Grund für solches Handeln. Was der Grund für uns ist, ist zugleich der Abgrund für uns. Die heilige Wahrheit ist der Abgrund für jede einzelne Wahrheit. Die heilige Wahrheit ist der Grund für jede einzelne Wahrheit. Ohne die heilige, die unbedingte Wahrheit gibt es keine rationale, bedingte Wahrheit. Aber angesichts der unbedingten Wahrheit ist jede bedingte Wahrheit Unwahrheit. Blicken wir auf den Weg, den wir zurückgelegt haben. Wir haben drei Ebenen der Einheit und der Spaltung aufgezeigt. Zuerst haben wir die Existenz des Tieres beschrieben. In ihr gibt es noch keine Subjekt-Objekt-Spaltung, vielmehr eine ursprüngliche Einheit, jedoch 1

Folgt gestr.: und die Voraussetzung

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in einer dunklen, unbewussten, machtlosen Form. Sodann haben wir die rationale Existenz des Menschen mit ihrer Spaltung von Subjekt und Objekt analysiert. Hier gibt es ein Selbstbewußtsein, hier gibt es Klarheit und die Macht zu fragen, aber hier besteht auch die Gefahr, unsere eigene wahre Existenz zu verfehlen, weil wir durch eine Kluft von ihr getrennt sind, weil wir fragen und suchen müssen, um unsere wahre Existenz zu finden. Darum haben wir auf eine dritte Ebene verwiesen, die wir nicht erreichen können, weil sie das menschliche Sein transzendiert, die1 wir aber voraussetzen müssen, die transzendente Einheit, in der unsere gespaltene menschliche Existenz ihren Grund hat. Es ist wiederum eine Einheit, aber eine unfassbare Einheit, Geheimnis und Abgrund unseres Denkens und zugleich der es tragende Grund, der ihm die Macht gibt, die bedingte Wahrheit zu erfassen. Durch den Hinweis auf diese höhere Einheit haben wir zwei falsche Wege, das Heilige zu erfassen, vermieden: den falschen Weg des Rationalismus, der das Heilige mit der rationalen Macht des Menschen identifiziert, und den falschen Weg des Irrationalismus, der das Heilige von der rationalen Macht des Menschen trennt. Der richtige, durch die ganze Geschichte der Religion bewährte Weg ist der, den wir zu gehen versucht haben, nämlich in der rationalen Struktur des menschlichen Geistes das Element zu suchen, in welchem der menschliche Geist seinen Grund hat und das ihn zugleich transzendiert. Auf diesem Wege haben wir die Idee der heiligen Wahrheit gefunden.2 Wir haben die eine Seite der Idee des Heiligen durch die Analyse der einen Seite der rationalen Struktur des Menschen gefunden. (2) Das Heilige und das Gute Wir müssen nun die andere Seite der rationalen Struktur des Menschen untersuchen, um auch die andere Seite der Idee des Heiligen zu finden. Der Mensch fragt nicht nur, er entscheidet auch. Auch die Macht zu entscheiden ist in der menschlichen Freiheit fundiert und sie ist auch mit einer Spaltung in der menschlichen Existenz verbunden. Der Mensch versucht nicht nur, die Wahrheit durch sein Fragen zu finden, er versucht auch, das Gute durch sein Handeln zu verwirklichen. Dass er das Gute nicht hat, gehört zu seiner vollkommenen 1 2

Folgt gestr.: der Grund unserer Existenz ist Folgt gestr.: den unbedingten Grund und Abgrund für alles bedingte Wissen.

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Existenz.1 Ein Tier ist von Natur aus vollkommen. Es kann mehr oder weniger mächtig sein, aber es ist, was es ist, ohne das Streben, anders zu sein. Es lebt aus eigener Kraft, indem es unmittelbar reagiert, wenn es Eindrücke empfangen hat. Es weiß nichts über Befehle, über die es entscheiden muss. Die Macht zu entscheiden setzt die Macht voraus, eine unmittelbare Reaktion zu unterlassen. Ein Tier kann nicht im strikten Sinne des Wortes gehorchen. Es muss tun, wozu der stärkste Eindruck es drängt. Wenn der Klang der menschlichen Stimme auf den Hund einen stärkeren Eindruck macht als sein Hungergefühl, frisst er das vor ihm liegende Stück Fleisch nicht. Aber diese Reaktion ist kein Gehorsam, denn es gibt, weil die Reaktion unmittelbar ist, keine Möglichkeit für den Ungehorsam. Der Mensch kann gehorchen oder nicht gehorchen, er hat die Macht zu entscheiden. Er muss entscheiden. Wir empfangen Befehle nicht nur von anderen Personen und von den Gesetzen des Staates. Diese Art von Befehlen kann unser inneres Sein nicht berühren. Wir können gehorchen oder nicht gehorchen. In beiden Fällen müssen wir die Konsequenzen tragen. Diese Konsequenzen können uns um unser Leben bringen, aber sie müssen nicht unsere Seele berühren. Wenn sie unsere Seele berühren, gehören sie zu einer anderen Art von Befehlen. Sie gehören zu denjenigen, die von uns selbst kommen, aus unserem Gewissen. Der Mensch empfängt Befehle von sich selbst gegen sich selbst. Diese paradoxe Situation zeigt wiederum, dass´der Mensch getrennt ist von seiner eigenen wahren Existenz, von seinem eigenen Guten als seiner eigenen Wahrheit. Wir können hier wieder die Gefahr sehen, in der der Mensch lebt. Sein eigenes inneres Selbst gibt ihm Befehle, um ihn zu sich selbst zu führen. Er muss entscheiden, ob er gehorchen will oder nicht. Den Befehlen des eigenen inneren Selbst nicht gehorchen, heißt seine eigene innere, wahre Existenz verfehlen, sein eigenes Selbst verfehlen. Die schreckliche Gefahr der Freiheit zu entscheiden ist die Möglichkeit, gegen sich selbst zu entscheiden, gegen seine wahre Existenz zu entscheiden und sie so zu verfehlen. Wir sind getrennt von unserem Guten, wir müssen es suchen durch unser Handeln, aber all unser Handeln ist das Handeln eines Wesens, das von seinem eigenen Grund getrennt ist, d. h. ein Handeln, das gut sein muss und nicht gut sein kann. Ein Tier ist in seiner Existenz vollkommen. Sein Gutes und sein Leben sind eins. Das Gute des Menschen und das Leben des Menschen sind voneinander getrennt. 1

Ms.: It supposes that he does not have the good, is his perfect existence.

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Seine vollkommene Existenz ist das Ziel seines Handelns, aber ein unerreichbares Ziel. Unser Gutes ruft uns durch die Stimme unseres Gewissens. Es ruft uns, um mit uns geeint zu werden. Wir hören diesen Ruf und wissen, dass es der Ruf unserer wahren Existenz nach unserem Guten ist, von dem wir getrennt sind.1 Die Befehle selbst beweisen, dass wir getrennt sind. Wo es Befehle gibt, da gibt es keine vollkommene Existenz, denn was befohlen wird, existiert nicht. Und es kann nicht existent werden, weil jede Handlung, die von der gespaltenen menschlichen Existenz ausgeht, selbst gespalten ist, wie Paulus sagt: „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“2 Wir stehen unter dem Gebot, das Gute zu tun, weil es unser eigenes Gutes ist3, von dem wir getrennt sind, aber wir können es nicht tun, weil wir von ihm getrennt sind. Denn nur das Gut-Sein macht das Gut-Handeln möglich. Nichtsdestotrotz handeln wir in Richtung auf das Gute, wobei wir das Gute, das in uns ist, von uns aber nicht getan wird, voraussetzen, eine Einheit von uns mit unserem Guten, die unsere böse Existenz transzendiert. Das religiöse Wort für dieses transzendente Gute heißt „Gnade“, Gnade ist heiliges Gutes.4 Es ist in uns, aber nicht von uns, es ist das transzendente Gute, welches dem Menschen, der böse ist, die Möglichkeit zum Tun des Guten gibt, wie das transzendente Wahre dem Menschen, der irrt, die Möglichkeit der Erkenntnis gibt. Gnade oder heiliges Gutes ist die transzendente Einheit unseres Guten und unserer Existenz, die wir in jedem guten Tun voraussetzen. Und weil es transzendent ist, ist es unbedingt, d. h. nicht bedingt durch5 den Befehl, den wir anerkennen, aber nicht befolgen. So haben wir wieder drei Ebenen6: erstens die Vollkommenheit eines Tieres, d. h. die natürliche Einheit seines Guten und seiner Existenz, zweitens die Unvollkommenheit des Menschen, d. h. die Trennung des Guten von seiner Existenz, die Befehle in ihm selbst gegen ihn selbst und die Unfähigkeit, das Gute zu tun. Und drittens die transzendente Vollkommenheit, die nicht

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Folgt gestr.: Und wir haben keine Macht, es zu erreichen. Röm 7, 19. Folgt gestr.: our own deepest essence. Ms.: Grace is holy good. Folgt gestr.: die Schwäche des Menschen, das Gute zu tun. Ms.: degrees

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von uns abhängt, die unbedingt ist und die1 eine Einheit jenseits der Spaltung der menschlichen Freiheit schafft. Das heilige Wahre und das heilige Gute sind in uns zu suchen, in unserer rationalen Natur, sie sind aber durch unsere rationale Struktur nicht bedingt; eher ist unsere rationale Struktur durch sie2 bedingt. Es gibt keine Wahrheit ohne die heilige Wahrheit, und es gibt kein Gutes ohne das heilige Gute, aber das heilige Wahre und das heilige Gute transzendieren alles Wahre und Gute. Sie sind durch die rationale Struktur, durch die menschliche Freiheit nicht bedingt. (3) Die Idee der Transzendenz In der scholastischen Philosophie gab es die Lehre von den transcendentalia. Dieser Terminus meint Begriffe, die alle anderen Begriffe übersteigen und die gleichzeitig allen anderen Begriffen die Möglichkeit der Existenz geben. Die Scholastiker zählten vier transcendentalia: ens, unum, verum, bonum, das Sein, das Eine, das Wahre und das Gute. Nach ihrer Auffassung können wir keinen Begriff bilden, der nicht an diesen vier Kategorien Teil hat. Alles, insofern als es ist, hat Teil an der Idee des Seins; insofern als es ein Ding ist, getrennt von allen anderen, hat es Teil an der Idee des Einen; insofern als es Gegenstand wahrer Erkenntnis ist, hat es Teil an der Idee des Wahren; insofern als es seine eigene Vollkommenheit hat, hat es Teil an der Idee des Guten. Wir haben versucht, diese Lehre zu erneuern, indem wir von anthropologischen Ideen ausgingen, statt einer rein ontologischen Methode zu folgen. Folglich mussten wir mit den Ideen des Wahren und des Guten beginnen, während die Scholastiker mit der Idee des Seins begannen. Aber wir müssen uns auch mit den Ideen des Einen und des Seins beschäftigen, weil beide zur Idee des Heiligen gehören. Das transzendente Wahre und Gute ist als das unbedingte Wahre und Gute zu charakterisieren. Bedingt ist jedes Ding, das von anderen Dingen abhängt, dessen Wesen (Essenz) und Existenz Bedingungen außerhalb seiner selbst hat. Es gibt nichts, was nur durch sich selbst bedingt ist. In der deutschen Sprache wird dies klar ausgedrückt durch das Wort „bedingt“, abgeleitet vom Wort „Ding“. Ein Ding zu sein, heißt durch andere Dinge bedingt zu sein. Das Unbedingte hat nicht den Charakter eines Dinges. Es gibt nichts neben ihm, von dem es 1 2

Folgt gestr.: in jedem guten Tun vorauszusetzen ist. Ms.: by them

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Bedingungen und Begrenzungen erhielte. Das ist gemeint mit dem Terminus „unum transcendentale“. Das nicht-transzendente Eine ist Eines neben anderem Einen; beide von ihnen bedingen einander. Das transzendente Eine1 negiert2 jedes andere Eine neben ihm selbst. Es negiert erstens, wie wir gesehen haben, die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Handlungen und Befehlen, und mit dieser alles umfassenden Spaltung negiert es jede andere Spaltung. Die große Bedeutung dieser Idee des transzendenten Einen kann heute erkannt werden in den vom nationalistischen Neuheidentum unternommenen Versuchen, entsprechend den vielen Nationen viele Götter zu verkündigen.3 Denn zum Heiligen gehört die Idee des Einen. Mehrere heilige Mächte sind dämonische Mächte, wie wir später sehen werden. Heilige Wahrheit ist eine Wahrheit, heiliges Gutes ist ein Gutes. Sogar der Dualismus von wahr und gut muss in der Beschreibung der Idee des Heiligen verschwinden. Die Dualität von Empfangen und Reagieren ist fundiert in der Situation eines lebendigen Wesens gegenüber der Welt. Indem wir die Sphären des Lebendigen und der rationalen Natur transzendieren, transzendieren wir auch die stärkste4 Dualität, die beiden gemeinsam ist, und verweisen5 auf den einen Grund aller möglichen Dualitäten. Die Scholastik nannte diesen Grund ens, d. h. das Sein. Was immer existiert, hat mit allen anderen Dingen das Attribut, Sein zu besitzen, gemeinsam. Das ist das höchste, allgemeinste Attribut, und es ist das geheimnisvollste. Denn was ist Sein? Was meint dieser Begriff? Auf diese Frage können wir keine Antwort geben, weil wir das Problem der Ontologie nicht lösen können, aber wir können auf die folgende äußerst wichtige Erkenntnis aufmerksam machen. Das Heilige ist Sein, und darum hat das Heilige keine Existenz. Es transzendiert die Existenz. Mit anderen Worten: Alles, was ist, hat Teil am Sein, aber das Sein selbst hat nicht Teil am Sein. Das Sein selbst ist nicht. Vielmehr gibt es allen Dingen die Möglichkeit zu sein. Es ist die Möglichkeit zu sein, aber es ist nicht

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Ms.: the one transcendental Ms.: puts away Folgt gestr.: Diese Versuche, für sich selbst die Idee des Heiligen zu beanspruchen, … Ms.: widest Ms.: indicate

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ein seiendes Ding.1 Darum hat der gläubige Atheismus ebensoviel Recht wie der gläubige Theismus. Beide sind charakterisiert durch eine Glaubenshaltung.2 Und beide, Theismus und Atheismus, sind in gleicher Weise vor dem Mysterium des Seins im Unrecht. Wir haben eine religiöse Haltung nicht zu prüfen, ob sie atheistisch oder theistisch ist. Aber wir müssen fragen, ob dieser Atheismus oder dieser Theismus gläubig ist oder nicht. Es gibt gläubigen Atheismus und ungläubigen Theismus. Ein Theismus, der den transzendenten Charakter im strikten Sinne unserer Erklärung nicht anerkennt, ist ungläubiger Theismus. Er macht das Heilige zu einem höheren Ding neben anderen Dingen. Aber selbst das höchste Ding ist ein Ding. Es ist etwas Bedingtes, es ist nicht das Sein selbst, und darum ist es nicht das Heilige. Dieses Argument gibt uns eine starke Waffe für die Verteidigung der Religion gegen die Angriffe von Seiten der Philosophie der Immanenz. So fordert z. B. Friedrich Nietzsche die Theologen heraus, wenn er sie „Hinterweltler“ nennt, d. h. Menschen, die an eine Welt hinter der Welt glauben, an eine zweite, höhere Welt außerhalb der empirischen Welt. Er verspottet eine solche Auffassung und behauptet eine einzige, unendliche Welt ohne eine zweite Welt. Diese eine Welt ist für ihn das Leben, er bejaht sie mit all ihren Gegensätzen, Kämpfen und Leiden und leugnet die Möglichkeit einer Versöhnung dieser Welt durch eine andere Welt. Wir müssen zugeben, diese zweite Welt jenseits unserer Welt ist ein Phantasiegebilde, über das wir nichts aussagen können. Aber wir behaupten auch klar die Idee eines transzendenten Seins3, des Unbedingten oder des Heiligen. Wir müssen scharf unterscheiden zwischen dem transzendenten Sein4, dem Einen und Wahren und Guten, welches die Voraussetzung für alle seienden Dinge und die ganze Fülle der Dinge ist, und auf der anderen Seite einer transzendenten Welt, die eine Welt hinter dieser Welt ist und die eine andere Art von seienden Dingen enthält und die nur ein Phantasiegebilde ist. Nietzsche hat Recht, wenn er diese Vorstellung verspottet, er hat aber keineswegs Recht, wenn er die erstgenannte 1

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Ms.: All that is shares in being; but being itself does not share in being; being [itself] does not be, it gives the possibility of being to all things. It is the possibility of being, but it is not a being thing. Am Rand: „The word belieffull, which I use here and later, is the translation of the German word ‚gläubig‘, that is a believing attitude.“ Ms.: a transcendental being Ms.: a transcendental being

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Idee, die Idee des Unbedingten und Heiligen, missversteht. Die letztere Idee ist eine Verzerrung der ersten Idee, und der gut begründete Angriff gegen die Verzerrung trifft nicht die Idee selbst. Ein guter Rat für solche Diskussionen, in denen Sie die Idee der Transzendenz verteidigen müssen: Analysieren Sie die transzendenten Voraussetzungen in jeder These Ihres Opponenten. Zeigen Sie ihm, dass er in jedem seiner Sätze die Idee, die er angreift, selber benutzen muss. Beweisen Sie ihm, dass sein Eifer in der Bekämpfung einer zweiten Welt in seiner religiösen Haltung wurzelt. Entdecken Sie die gläubige Haltung der Mehrheit der Menschen, die den Atheismus für sich in Anspruch nehmen. Das ist die einzige Methode, die Idee der Transzendenz mit Erfolg zu verteidigen. Wenn Sie die rationale Sphäre verlassen und versuchen, Ihren Opponenten in die irrationale Sphäre zu führen, kann er Ihnen ohne Schwierigkeiten entkommen, indem er auf den völlig willkürlichen Charakter des Irrationalen verweist. Das beendet jede Diskussion. Sie müssen ihn aber im Gegenteil mit der Analyse der rationalen Struktur des menschlichen Geistes packen. Sie müssen ihn zur tiefsten Analyse dieser Struktur drängen und dürfen nicht nachlassen, bis er anerkennt, dass die transzendentalen Voraussetzungen im Bereich des Rationalen zu finden sind. Ich meine nicht, dass dies eine Methode ist, die irgendwen bekehrt, aber ich denke, dass dies eine Methode ist, die seine rationale Sicherheit erschüttert. Das kann der erste Schritt sein in Richtung auf den religiösen Glauben. (4) Das Profane Wir haben die Idee des Heiligen erklärt, indem wir die rationale Struktur des menschlichen Geistes untersuchten und dessen transzendenten, unbedingten Grund und Abgrund entdeckten. Wir haben das heilige Wahre und das heilige Gute entdeckt1, das das Eine ist und das als das transzendente Sein2 gedacht werden muss und das wir nicht als ein einzelnes Sein3, auch nicht als höchstes Sein denken dürfen, sondern als die Idee des Seins, an welchem alle einzelnen Seienden teilhaben. Aber diese Idee ist ohne ihren Gegensatz nicht zu verstehen. Das Heilige muss durch seinen Gegensatz zum Profanen 1

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Folgt gestr.: welches gleichzeitig das heilige Eine ist und die Attribute des Einen hat. Ms.: transcendental being Ms.: single being

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definiert werden. In den Argumenten, die wir vorgetragen haben, war die Idee des Profanen impliziert. Wir müssen sie nun offen darlegen. Die einfachste Formel könnte lauten: Das Unbedingte ist das Heilige, das Bedingte ist das Profane. Oder das Transzendente ist das Heilige, und das Immanente ist das Profane. Aber diese Formeln sind nicht nur einfach, sie sind auch irreführend. Denn sie erwecken den Anschein, dass es zwei Welten gibt, die Welt des Heiligen und die Welt des Profanen. Aber das wäre ein Irrtum, den wir mit vielen wichtigen Argumenten zu widerlegen versucht hatten. Das Unbedingte ist nicht ein Ding neben anderen bedingten Dingen, sondern es ist der Grund der bedingten Dinge. Und das Transzendente ist nicht eine neue Welt neben der immanenten Welt. Dies würde eine Immanenz höheren Grades bedeuten, sondern es bedeutet den transzendentalen1 Charakter alles Denkens und Handelns. Folglich haben wir das Heilige im Profanen zu suchen, nicht neben ihm. Die Beziehung zwischen beiden müssen wir genauer beschreiben. Das Profane ist nicht ein Bereich neben dem Bereich des Heiligen, sondern beide sind gewisse Qualitäten, die die Dinge in ihrer Beziehung zu uns erhalten. Sie erhalten die Qualität des Heiligen, wenn sie den unbedingten Hintergrund ihrer bedingten Existenz zeigen. Sie erhalten die Qualität des Profanen, wenn sie nur ihre bedingte Existenz zeigen. Ein heiliger Mensch ist nicht einer, der von sich aus zu einer anderen Welt gehört als andere Menschen. Er ist heilig, insofern er in seiner endlichen Existenz den unendlichen Grund und Abgrund seiner Existenz zeigt. Darum kann alles in seiner Beziehung zu uns heilig werden oder profan bleiben. Es hängt allein von der Konstellation ab, in welcher ein Ding mit anderen Dingen und mit uns sich befindet. Alles ist irgendwann und irgendwo heilig geworden, und dieselben Dinge sind wieder profan geworden und manchmal wieder heilig. Diese Veränderungen hängen nicht vom Wert der Dinge ab. Nicht die besten Menschen oder die wahrheitsgetreuesten Schriften oder die mächtigsten Dinge sind heilig. Und nicht schlechte Menschen und nicht unglaubwürdige Schriften oder weniger machtvolle Dinge sind profan, sondern nur solche Dinge sind heilig geworden, durch die hindurch einige Menschen zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten Lande das transzendente Wahre oder das transzendente Gute oder die transzendente Macht des Seins angeschaut haben. Ein bestimmtes Ereignis kann genügen, um einem Ding oder einer Person 1

Ms.: transcendental

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die Qualität des Heiligen zu geben, und dasselbe Ereignis kann dazu führen, dass andere Dinge oder Personen mit viel höherem Wert in der Profanität bleiben. Es hängt nicht allein von den Dingen selbst ab und nicht allein von uns und unserem Willen, es hängt von der Art ab, wie wir den Dingen begegnen, von der Beziehung zwischen uns und ihnen. In dieser Beziehung entsteht der Unterschied zwischen heilig und profan. Wir kennen den Ausdruck „Ein Ding ist heilig für mich oder für die Juden oder für die Christen oder für die Wissenschaftler oder für die Bolschewiken usw.“ Diese Ausdrücke zeigen, dass die Sprache fühlt, dass das Heilige von der Person oder Gesellschaft abhängt, für die ein Ding die Qualität des Heiligen bekommt, wenn es ihnen begegnet. Dieses Gespür der Sprache kann uns zum rechten Verständnis beider Begriffe, des Heiligen und des Wahren, anleiten. Die Sprache hat hier und oft auch sonst einen vorphilosophischen Charakter. (5) Der Gegensatz von heilig und profan In seinem Buch „Das Heilige“ gibt Rudolf Otto eine vorzügliche Beschreibung der Eigenschaften des Heiligen. Er verwendet dabei die lateinischen Begriffe numinosum, fascinosum, tremendum; sie drücken den irrationalen, erregenden Charakter des Heiligen aus. Ich wiederhole meine Empfehlung an Sie, dieses Buch zu lesen. Es ist eine wichtige Ergänzung zu meiner Vorlesung. Aber wir haben nun unseren Weg der Untersuchung fortzusetzen und die Gegensatzbegriffe zu beschreiben, indem wir jeweils ihre Beziehungen zu den rationalen Formen zeigen. – Ein allgemeiner Charakter des Heiligen ist die Ekstase. Dies lässt sich auf Grund unserer Argumentation leicht verstehen. Wäre das Heilige nur der Grund des Rationalen, wäre es selbst rational. Aber es ist auch der Abgrund, der das Rationale transzendiert und bedroht. Der Ausdruck dessen ist sein ekstatischer Charakter. Denn Ekstase, griechisch „ekstasis“, meint „Aus-Stand“. Was ist mit diesem „aus“ gemeint? Außerhalb wovon? Es bedeutet: außerhalb des normalen Bewußtseins, außerhalb der rationalen Struktur des menschlichen Geistes. In der Ekstase bricht der Abgrund und Grund des menschlichen Geistes in ihn ein und treibt ihn1 jenseits seiner selbst. In der Ekstase denkt und spricht der Mensch in einer Weise, die wir nicht mit rationalen Kategorien begreifen können, und er handelt in einer Weise, die von 1

Ms.: drags it

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seinem rationalen Charakter nicht abgeleitet werden kann. Es ist etwas in ihm, das nicht von ihm stammt. Ihn treibt eine Kraft über sich hinaus, Dinge zu verstehen, die er mit seinen rationalen Kräften nicht verstehen konnte, und Dinge zu tun, die er mit seinem eigenen Willen nicht erreichen konnte. Aber nicht jede Ekstase ist heilige Ekstase. Wir werden später zwischen göttlicher und dämonischer Ekstase zu unterscheiden haben. Beide sind Ekstasen, aber nur die göttliche Ekstase ist diejenige, die, indem sie die rationale Struktur des menschlichen Geistes transzendiert, sie gleichzeitig trägt, während die dämonische Ekstase sie zerstört. Heute nennen wir nur die göttliche Ekstase heilig. Wir werden wissen, dass es in früheren Zeiten eine solche Unterscheidung zwischen der göttlichen und der dämonischen Form des Heiligen nicht gegeben hat und dass auch heute in vielen Fällen die Grenzen fließend sind. Aber wir halten den üblichen Sprachgebrauch bei und bezeichnen als heilige Ekstase nur diejenige, die die rationale Natur des Menschen ebenso trägt wie transzendiert. Wenn wir dies annehmen, können wir nicht eine Ekstase heilig nennen, in der die rationale Natur zerstört wird, z. B. ein Gutes, durch das das rationale Gute, d. h. die Gesetze der moralischen Natur, gebrochen werden. Die Ekstase einer Liebe, die die Regeln der Gerechtigkeit verletzt, ist keine heilige Liebe. In seinem Kapitel über die Liebe preist Paulus die Liebe, die auf der einen Seite die höchste Art der Ekstase ist, wie er schreibt1, auf der anderen Seite aber der niedrigste Dienst am Nächsten. Die Liebe transzendiert alles moralische Gute, denn die Liebe ist ein Geschenk der Gnade, ja noch mehr, sie ist die Gnade selbst, handelnd durch den Menschen, aber die Liebe kann das moralische Gute nicht beiseite schieben. Indem die Liebe das moralische Gute transzendiert, bejaht sie es.2 Wir müssen darum sagen, dass die Ekstase nur dann ein Zeichen des Heiligen ist, wenn ihre Handlungen mit dem rationalen Guten geeint sind. Die Liebe ist überströmend, aber ihr Überströmen wirkt nicht weniger Gerechtigkeit, nicht weniger des rationalen Guten, sondern mehr. Es gibt in der Tat kein Gutes ohne Gnade und Liebe, weil es kein gutes Handeln ohne ein Gutsein gibt. Und trotz der bösen menschlichen Existenz ist Gutsein ein Sein in der Ekstase der Liebe. Deshalb gibt es kein rationales Gutes ohne die Liebe, ohne das Überströmen der Liebe. 1 2

1

1 Kor 13, 13. Ms.: transcending the moral good love approves it

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Auch die heilige Wahrheit überströmt die rationale Wahrheit, aber sie zerstört nicht die rationale Wahrheit. Die Gesetze der Logik können durch die ekstatische Verkündigung der Wahrheit nicht zerstört werden. Die Ekstase transzendiert die Gesetze des logischen Denkens, aber sie setzt sie nicht außer Kraft. Die Ekstase füllt die logischen Formen mit neuem transzendenten Gehalt1, aber sie zerstört nicht ihr Gefäß. Würde es zerstört, würde in der menschlichen Existenz der transzendente Gehalt nicht empfangen werden können, denn die menschliche Existenz ist rationale Existenz, Existenz in Freiheit. Die Geschichte des menschlichen Denkens zeigt, dass der Gehalt der religiösen Ekstase überall Substanz und Fundierung aller rationalen Ideen einer Periode geworden ist. Die Ekstasen des Dionysos und des Apollo sind der tiefste Grund, auf dem die wahrhaft rationalen Systeme der griechischen Philosophie gewachsen sind. Ebenso hat die ekstatische Verkündigung des Evangeliums die Grundlage geliefert für die großen Systeme der patristischen Philosophie. Und die rationalen und methodischen Argumente der Väter der modernen Philosophie wurzeln im kosmischen Enthusiasmus der Renaissance. Ekstase, heilige Ekstase ist nicht nur „das Ganz-Andere“, wie Rudolf Otto betont hat, sondern auch das Eigene, das „oikeion“, d. h. das zum Hause Gehörende, wie Aristoteles sagt, das Eigene auf der tiefsten Ebene der menschlichen Natur. Wir müssen nun fragen: Wenn die Ekstase die menschliche Natur trägt, aber zugleich auch transzendiert, wie haben wir dann das Profane zu charakterisieren? Müssen wir nicht jeden Unterschied zwischen dem Heiligen und dem Profanen bestreiten? Wenn die Ekstase die Fundierung alles rationalen Denkens ist, welche Art des Denkens kann dann profan genannt werden? Und wenn Ekstase die Fundierung aller rationalen Handlungen ist, welche Art des Handelns kann dann profan genannt werden? Wir begannen mit der Frage, was das Heilige ist, und wir enden mit der Frage, was das Profane ist, weil das Heilige sozusagen den ganzen Bereich der rationalen Natur eingenommen hat. Eine Idee universaler Ekstase, eines allgemein ekstatischen Lebens scheint sich über die rationalen Felder des Geistes auszubreiten. Unsere erste Antwort lautet: Es ist so, und wir können keine andere Antwort geben, weil wir Christen sind. Die Trennung eines heiligen 1

Folgt gestr.: und sie treibt die Logik zu höheren Formen. Aber auch die Formen der Religion …

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Bereichs von einem profanen Bereich ist heidnischen Ursprungs. Denn das Heidentum verbannt seine Götter in einen abgetrennten Raum. Das Heidentum trennt die göttliche Sphäre von der profanen Sphäre, weil die heidnischen Götter nicht universal sind wie der eine Gott des Christentums. Gott, der in Wahrheit Gott ist, lässt keinen Raum außerhalb seiner Macht frei. Er ist weder näher noch ferner, es sei denn im symbolischen Sinne. Er ist überall ganz, was er ist. Er ist die Mitte in jedem Ding und nicht in einem Ding mehr als in einem anderen. Der Vorhang im Tempel, der das Allerheiligste verdeckte, zerriss darum in dem Moment, als der sterbende Christus das Heidentum überwand.1 Diese symbolische Geschichte zeigt klar den heidnischen Charakter der Trennung von heilig und profan, der im Judentum bis zur Zeit des Christus erhalten blieb. Aber wenn wir nun erklären, dass es im Prinzip keinen Unterschied gibt zwischen dem Heiligen und dem Profanen, so behaupten wir damit nicht, dass es auch in der Wirklichkeit so ist. Im Gegenteil, wir müssen all unsere Argumente aufbieten, weil das Prinzip durch die Wirklichkeit in einem solchen Maße verdeckt wird, dass viele Bemühungen nötig sind, die Wahrheit über das Prinzip zu offenbaren. Die Wirklichkeit schafft in jedem Moment zwischen dem Menschen und den Dingen Verhältnisse, in denen der transzendente Hintergrund der Dinge unsichtbar bleibt und in denen nur die rationale Beziehung wirksam ist. Die rationale Erkenntnis der Welt durch Wissenschaft und Geschichte, die technische Beherrschung aller Dinge, der lebendigen wie der nicht-lebendigen, die rationale Formung der Gesellschaft haben eine ständig wachsende Profanisierung aller Dinge hervorgebracht. Die Dinge zeigten nur ihre rationale Beziehung zu den anderen Dingen. Die Wissenschaft fragte nur nach den kalkulierbaren Elementen der Welt, die Geschichtswissenschaft nur nach den Ursachen und Wirkungen historischer Ereignisse, die Technologie vernichtete die innere Kraft der Dinge, indem sie sie zwang, menschlichen Zwecken zu dienen. Durch die rationale Konstruktion der Gesellschaft haben die heiligen Mächte und Personen der Vergangenheit ihre frühere Heiligkeit verloren. Wir werden diese Entwicklungen im zweiten Teil unserer Vorlesung behandeln. Ich musste sie hier erwähnen, um auf den besonderen Charakter des Profanen im Gegensatz zum Heiligen aufmerksam zu machen. Jede Haltung ist profan, die in der bedingten, endlichen 1

Mk 15, 38.

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Beziehung der Dinge verbleibt, die die Grenzen der gespaltenen Welt gegenüber dem unbedingten, ungespaltenen Grund und Abgrund aller Spaltung nicht durchbricht. Ebenso ist jede Haltung profan, die die heilige Ekstase nicht kennt, weil sie im rationalen Teil des Bewusstseins und in der rationalen Beziehung zu den Dingen bleibt. Der Prozess der Profanisierung ist ein Prozess der Rationalisierung, in welchem die Dinge ihre ekstatischen Qualitäten in der Beziehung zum menschlichen Geist verlieren und in welchem der menschliche Geist folglich innerhalb der Grenzen des rationalen Bewusstseins bleibt. Die Titel zweier Bücher über die Religion sind symbolisch für eine solche Einstellung. Das eine enthält die wichtigste Religionsphilosophie in der Zeit der Aufklärung: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, von Immanuel Kant. Das andere enthält die charakteristischste Religionsphilosophie im Kaiserreich in Deutschland, es hat den Titel: „Religion innerhalb der Grenzen der Humanität“ von Paul Natorp,1 einem Führer des Neukantianismus. Beide Titel enthalten das Wort „Grenze“, sie zeigen den philosophischen Versuch, das Profane sogar zur Religion selbst zu machen. Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft oder der Humanität ist Religion innerhalb der Grenzen der rationalen Struktur des menschlichen Geistes und unekstatische Religion und folglich (wir müssen es betonen) keine Religion, sondern profane Kultur. Denn Religion ist zu definieren als Durchbruch durch die Grenzen der rationalen Struktur. (Nebenbei möchte ich beide Bücher denen von Ihnen empfehlen, die sich etwas tiefer mit dem Problem der Religionsphilosophie beschäftigen wollen.) Wir beenden jetzt das Kapitel über das Heilige und das Profane, das grundlegende Kapitel in unserer Vorlesung.2 III. Religion und Kultur (1) Der Begriff der Kultur Wir können unsere Ausführungen über Religion und Kultur nicht beginnen, ohne zuvor den Begriff „Kultur“ definiert zu haben. 1 2

Tübingen 1894, 2. Aufl. 1908. Folgt gestr.: Seine Schwierigkeit ist begründet in seinem prinzipiellen Charakter. Ich hoffe, dass die folgenden Kapitel nicht nur einfacher zu verstehen sind, sondern auch die Argumente des ersten Kapitels des allgemeinen Teils klären werden.

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Vielfach kann dieses Wort durch das englische Wort „civilisation“ ersetzt werden, während im Deutschen zwischen Zivilisation und Kultur scharf unterschieden wird. Erklärung des deutschen Begriffs „Zivilisation“: Das Wort „Zivilisation“ ist abgeleitet von „civis“ (Bürger): technische Zivilisation und Anpassung an die Formen der Gesellschaft, äußerliche Lebensweise, Sitten des Volkes, „das Haar kämmen mit goldenen Kämmen“. Protest gegen die Zivilisation vom Standpunkt der Kultur. „Kultur“ abgeleitet von „cultura“, Pflege, kultivieren. Kann sich auf jeden Gegenstand beziehen. Darum ein Bereich der Identität [mit „Zivilisation“], aber ein unterschiedlicher Gesichtspunkt. Der Akt und sein Ergebnis, aber keine Beziehung zur Gesellschaft, Wirkung der Kultur auf die Gesellschaft. Der Unterschied zwischen Zweck und Sinn. Der Zirkel der Zwecke. Aktivität um ihrer selbst willen. Die Voraussetzung eines unbedingten Sinnes = absoluter Zweck, der nicht Mittel für etwas anderes ist. Kultur und Sinn 1. Der Sinn des Lebens an sich: Das bleibende Problem der Endlichkeit.1 2. Der absolute Sinn setzt Freiheit der Endlichkeit voraus, insofern als Endlichkeit durch unbedingte Forderungen gedacht und geformt werden kann. Das Denken der Endlichkeit treibt [?] die Endlichkeit in einer bestimmten Weise.2 3. Sinnsphären nur die, in welchen das Unbedingte in der Form des Tragens, Forderns und Drohens erscheint. 4. Darum Kultur im primären Sinn nur solche Sinnsphären, in welchen ein unbedingtes Element impliziert ist. Kultur und Sinnerfüllung Kultur ist der Bereich, in welchem Möglichkeiten des Sinns, welche in jedem Ding sind, durch menschliche Sinnerfüllung realisiert werden.3

1

2

3

Am Rand, von anderer Hand: Der Instinkt der Selbsterhaltung und der Selbsterfüllung oder Selbstverwirklichung Ms.: The absolute meaning presupposes freedom of finiteness insofar as finiteness can be tought [sic!] and formed by unconditional commands. The thinking of finiteness dinges [sic!] finiteness in a certain way. Über gestr.: zu einer Sinnwirklichkeit zusammenkommen

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Gemäß dem Sinn der kultivierten Ablehnung beider falscher Arten, Sinn zu erklären, des subjektivistischen Idealismus und des objektivistischen Realismus. Wir photographieren nicht eine gegebene Wirklichkeit, wir stellen sie nicht nur in unserem Geist vor. Jedes sinnvolle Ding ist eine Einheit zwischen wirklicher Potentialität und menschlicher Realisierung. (2) Die fundamentale Beziehung zwischen Religion und Kultur I. Die Transzendenz des unendlichen Sinnes über jedem endlichen Sinn. II. Die Notwendigkeit für die Religion, sich auszudrücken in den Formen der Freiheit, Kultur, Sinnerfüllung, z. B. das religiöse Wort, die religiöse Forderung, das religiöse Bild, Musik, Sozialarbeit, Kirchenpolitik, Architektur. III. Dennoch Ausdruck des unendlichen Sinnes nur möglich nach Maßgabe eines endlichen Sinnes. – Gleichzeitig die Unmöglichkeit, im endlichen Sinn zu bleiben, da Sinn als solcher die Endlichkeit transzendiert. Durch jeden endlichen Sinn geht ein Oberton des Unendlichen.1 Die Unerschöpflichkeit des Sinns verhindert die absolute Sinnlosigkeit der Existenz. IV. Darum die allgemeine Formel: Kultur ist der Bereich der Formen, durch welche Religion Existenz hat. Religion ist der transzendente Sinn in allen Formen der Kultur. Oder kurz: Kultur ist die Form der Religion, Religion ist der Gehalt oder die Substanz der Kultur. V. Die Beziehung zwischen dieser Formel und der Lehre von den transcendentalia. In jedem theoretischen Sinn ist transzendente Wahrheit gemeint, und in jedem praktischen Sinn ist das transzendente Gute gemeint. VI. Widerspruch, von der gespaltenen Wirklichkeit her gesehen. Religiöse und kulturelle Sphäre. Wir haben die Wirklichkeit, darum die Möglichkeit, aber nicht die Notwendigkeit: Jede Form hat beide Elemente, eine rationale Notwendigkeit und eine transzendente Spannung. Je mehr die Form als Form beabsichtigt [wird], um so mehr müssen wir über die Kultur sprechen. Je mehr die Form nur 1

Ms.: Through every finite meaning goes an overtone of the infinite.

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eine Voraussetzung ist, um so mehr müssen wir über Religion sprechen; z. B. ein Bild der Jungfrau Maria und unsere unterschiedlichen Einstellungen dazu. VII. Die religiöse Idee von Gesetz und Gnade. Kultur, insofern als sie Kultur ist = Gesetz. Religion, insofern als sie Religion ist = Gnade, aber nichts ist ausschließlich das eine oder das andere. VIII. Die Voraussetzung der Spaltung ist die Tendenz des Menschen, durch sich selbst die Wahrheit und das Gute zu haben.1 Und diese Tendenz ist der irrationale Charakter der Existenz, aber wir müssen in diesem Zusammenhang über den rationalen und essentiellen Charakter der Religion sprechen. IX. Glaube und Unglaube. Glaube, nicht Meinung, nicht geringerer Grad von Gewissheit, nicht intellektuelle Gewissheit über transzendente Objekte, sondern innere Beziehung zur unbedingten Voraussetzung alles Sinns durch allen Sinn hindurch.2 Unglaube ist die Haltung, in der wir ausgerichtet sind auf den bedingten Sinn aller Dinge und ihre Verbindung und ihre Totalität, genannt Kultur, ohne zum unbedingten Sinn durchzubrechen. X. Beide Haltungen können nicht vollkommen verwirklicht werden, weil in der gläubigen Haltung stets ein Element der Kultur, der Weltanschauung, der Wissenschaft, der Moral, der Phantasie, der Philosophie usw. mitschwingt. Wenn wir glauben, empfangen wir solche Elemente und nehmen sie in unseren Glauben auf. Und umgekehrt: Die Haltung des Unglaubens richtet sich objektiv und unbewusst auf den unausschöpflichen, transzendenten Charakter des Sinns, und insofern als sie dies tut, ist sie gläubig in all diesen Richtungen. XI. Wir haben den Glauben als menschlichen Akt beschrieben. Aber er ist nicht in jeder Beziehung wahr, denn menschliche Akte gehören zum menschlichen Geist, und der Glaube transzendiert den menschlichen Geist. Wir benötigen darum eine Formel, in der die Passivität des menschlichen Geistes hinsichtlich des Glaubens zum

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Am Rand: Die Schlange und ihre Frage nach dem Guten und Bösen meint im Hebräischen „nützlich und nutzlos“. Ms.: Presupposition of all meaning through all meaning.

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Ausdruck kommt. Ich möchte über die radikale1 Affektion2 des Geistes sprechen. Es ist eine Affektion des Geistes in seiner tiefsten Wurzel,3 es ist von einer sinnlichen Emotion und einer intellektuellen oder ästhetischen Affektion getrennt.4 Dieses Letzte ist Kultur. (Im Neuen Testament ist das Affiziertwerden durch den Heiligen Geist zu Pfingsten Ausdruck einer radikalen Affektion. Es gibt viele Formen, von der höchsten Ekstase bis zur Niedrigkeit der Liebe, und für Paulus ist dies die höchste Form.) XII. Das Problem Glaube und Wissen. Es kann nicht gelöst werden in der alten apologetischen Methode, einige Probleme der Wissenschaft zu diskutieren, z. B. die Entstehung des Lebens auf der Erde oder die Abstammung des Menschen vom Tier, der Darwinismus oder das historische Problem der Bibel und des Lebens Jesu oder Naturgesetze, Wunder usw. Der Glaube hat keinen besonderen Wissensinhalt. Glaube ist die reale Voraussetzung alles Wissens. Unmöglichkeit, Offenbarung durch Wissen zu erzeugen, aber der Hintergrund alles Wissens ist Offenbarung. Das Wissen ohne sie ist leer. Glaube und Wissen können sich nicht widersprechen, da sie sich nicht auf der gleichen Ebene befinden. Nur wenn die Religion hinabsteigt in die Arena der wissenschaftlichen Kämpfe, ist sie verloren. Der defensive Charakter schlechter apologetischer Methoden, bis sie bankrott sind (viele Beispiele: Leben Jesu, Abstammung vom Affen, Wunder). XIII. Glaube und Werke. Unmöglichkeit, die Gnade durch Werke zu erlangen. Gnade ist die Voraussetzung für die Werke. Und insofern als die Gnade sich auf den Glauben bezieht, ist Glaube Voraussetzung der Werke. 3. Die drei Perioden in der Beziehung zwischen Religion und Kultur I. Die fundamentale Beziehung sagt: Religion ist die Substanz der Kultur, Kultur ist die Form der Religion. In dieser Wesensdefinition ist ein Ideal impliziert: Eine menschliche Existenz, in der eine 1 2 3

4

Folgt gestr.: oder reine Ms.: affection Folgt gestr.: oder es ist reine, unvermischte Affektion, d. h. eine solche, in der es kein vitales Gefühl und keine Art geistiger Affektion gibt. Am Rand: Ergriffensein = gripped by transcendent action (in the grasp of).

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vollkommen formale Kultur mit der vollkommenen Substanz der Religion erfüllt ist. Dieses Ideal wird Theonomie genannt. Der nÒmoj, das Gesetz der Kultur, ist erfüllt mit göttlichem Gehalt. (Beispiele in verschiedenen Bereichen) II. Der Verlust der Transzendenz durch die Vorherrschaft der Formtendenzen. Archaische und klassische Formen. Die rein rationalen Formen. Die Idee der Autonomie. Die zwei Elemente in dieser Idee. Kant als Beispiel. III. Der Widerstand besonderer religiöser Symbole gegen die Profanierung aller anderen [Symbole]: Heteronomie. Die besonderen religiösen Charaktere als kulturelle Charaktere: erlaubte und nicht erlaubte Formen der Philosophie, Wissenschaft, Kunst, Moral, Politik, Erziehung. Kampf zwischen Staat und Kirche, Gebet und Arbeit, Dogma und Philosophie, Wunder und Wissenschaft. IV. Der Kampf zwischen Autonomie und Heteronomie. Die Lehre von der doppelten Wahrheit als klarster Ausdruck des Kampfes. Die Unmöglichkeit eines vollkommenen Sieges einer Seite, weil beide innerhalb der Theonomie sind. Denn die Theonomie ist Voraussetzung beider, und diese Voraussetzung, d. h. die wesentliche Beziehung beider kann in der Existenz nicht ausgelöscht, wenn auch verzerrt werden. Darum ist die Tendenz der Geschichte stets die, die Theonomie zu erreichen, sofern sie nicht in vielen Perioden durch die Autonomie und Heteronomie und ihren Kampf hindurchgehen muss. V. Symbolische Perioden: Frühmittelalter, Hochmittelalter, Spätmittelalter, Aufklärung. Der symbolische Charakter solcher Bezeichnungen, wichtig vor allem für den handelnden Menschen. Die politische Romantik. 4. Die Idee der theonomen Kultur und der kairÒj I. In diesem Thema ist das Problem der Entwicklung der Kultur enthalten, insofern als es von der Aktivität des Menschen abhängig ist. Zweiter Teil: Spezielle Aspekte der Religionsphilosophie [nicht ausgeführt]

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2. Einführung in die Existential-Philosophie

1

(Columbia University, New York, Frühjahr 1934) Einleitung Es gibt nur wenige Deutsche, die mit Recht behaupten können, die sogenannte Existential-Philosophie2 verstanden zu haben. Diese Philosophie, die die jüngste Entwicklung der deutschen Philosophie darstellt und als Ergebnis vieler Tendenzen der Geschichte unserer früheren Philosophie entstand, hat einen speziell deutschen Charakter und kann nur auf dem Hintergrund der Geschichte des deutschen Geistes verstanden werden.3 Es ist deshalb schwierig, sie transparent zu machen für alle die, die an der Geschichte des deutschen Geistes nicht teilgenommen haben.4 Die erste Aufgabe (sie wird schwer auszuführen sein) wird deshalb darin bestehen, die wichtigsten Begriffe und vor allem (was noch schwerer sein wird) die ungewohnte Terminologie dieser Philosophie zu übersetzen. Für dieses Ziel müssen wir sozusagen eine doppelte Übersetzung vornehmen. Zuerst aus dem Deutsch der Existential-Philosophie in die gewöhnliche Sprache der deutschen Philosophie und dann von da aus ins Englische. Ich fürchte, auf diesem umständlichen Wege wird sich der Originalsinn vieler Worte verschieben, aber eine gewisse Sinnverschiebung kann in keiner Übersetzung vermieden werden. Es gibt auch eine Methode, diesen Mangel zu kompensieren. Ich meine die Methode der Beschreibung an Stelle der Methode der Definition, die Methode, den Sinn eines Begriffs aufzuzeigen, indem verwandte und gegensätzliche Begriffe 1

2 3 4

Im Vorlesungsmanuskript fehlt eine Überschrift. Die zweisprachige Ankündigung der Vorlesung in der Columbia University New York für Spring Session 1934 lautet: „The interpretation of existence in recent German philosophy. (Einführung in die Existential-Philosophie.)“. Ms.: the so called Existential-Philosophy Ms.: only against the background of the German spiritual history Ms.: who have not shared in the history of German spirit.

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herangezogen werden und die Konfiguration einer Idee durchsichtig gemacht wird. Auf diese Weise begeben wir uns in die Geschichte zurück, in der die zentralen Ideen der Existential-Philosophie ihre Wurzel haben. Ich hoffe, Sie in die Ideen selbst einführen zu können, indem ich die Perioden ihrer Entwicklung behandle. Denn in der Philosophie können System und Geschichte nicht voneinander getrennt werden. Kein philosophischer Begriff lebt außerhalb der Geschichte, in der er geboren wurde und in der er sich entwickelt hat, kein Begriff kann losgelöst von der Situation des Denkens verstanden werden, in der es manche Lösung für manches Problem gegeben hat. Darum ist jede Behandlung eines Begriffs eine Fortsetzung der Geschichte dieses Begriffs. Wie es unmöglich ist, neue Gesetze in einem Staat zu schaffen ohne einen gewissen Zusammenhang mit den bisherigen Gesetzen, und sei dies auch deren Abschaffung, so ist es auch unmöglich, neue philosophische Begriffe zu schaffen, ohne sie von den vorgegebenen Begriffen abzuleiten. Folglich ist die Konstruktion eines neuen Systems in der Philosophie eine ständige ausdrückliche oder unausdrückliche Auseinandersetzung mit den schon vorgegebenen Ideen und Begriffen. Es ist das Geheimnis der dialektischen Kunst, dass kein Begriff in sich selbst feststeht, unabhängig von anderen, sondern dass jeder Begriff er selbst ist und gleichzeitig nicht er selbst, dass er sich durch viele Veränderungen seiner selbst hindurch bewegt und niemals festgelegt werden kann. Wir können nicht heute Geschichte der Philosophie studieren und lehren und morgen Systematische Philosophie. Wir müssen, wenn wir die Geschichte behandeln, ein System konstruieren, und wenn wir ein System konstruieren, in die Geschichte eindringen. Wenn wir diese wechselseitige Durchdringung von System und Geschichte nicht beachten, verfehlen wir das Wesen beider. Denn die Geschichte der philosophischen Ideen ist ein Jahrmarkt von Begriffen, die aufeinander folgen und einander in Bewegung setzen und miteinander kämpfen – eine Theaterbühne, aber nicht die Wirklichkeit, wenn sie nicht Wirklichkeit erhält durch unsere eigene Auseinandersetzung mit ihren Problemen und dem Wechsel ihrer Begriffe. Wird die Geschichte der Philosophie in dieser Weise behandelt, dann wird aus ihr Systematische Philosophie. Und umgekehrt: Die Konstruktion eines Systems ist eine sehr willkürliche Angelegenheit und leicht zu widerlegen, wenn sie nicht aus einer gewissen Problemsituation hervorgeht, aus den Kämpfen und Tendenzen einer Zeit. Die Konstruktion eines Systems ist die Fortsetzung der historischen

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Diskussion – oder sie sollte es sein. Diese Behauptungen sollen die Methode unseres Vorgehens rechtfertigen. Ich denke, dass eine Einführung in die Philosophie der Existenz eine Einführung in die Geschichte ist, in der die neue Idee der Existenz entstanden ist. Diese Idee der Existenz ist der eigentliche Gegenstand unserer Vorlesung. Sie werden deshalb jetzt noch nicht den genauen Sinn des Begriffs „Existenz“ verstehen. Wir übersetzen „Existential-Philosophie“ mit „Philosophy of existence“. Aber „existence“ ist nicht genau dasselbe wie „Existential“. Dieser Unterschied lässt sich nicht vermeiden. Wir können „Existential-Philosophie“ nicht wörtlich übersetzen. Aber wir können das Wort „existence“ (Existenz) als ein unbekanntes Wort nehmen, das zu verstehen das Ziel dieser Vorlesung ist. Wir müssen deshalb jede Bedeutung, die Sie bis jetzt mit dem Wort „Existenz“ in Ihrem Kopf verbinden, vergessen. Sie müssen z. B. auch die Frage vergessen, ob eine Seeschlange Existenz hat oder ob der Geist Existenz hat oder ob Gott Existenz hat usw. Hüten Sie sich vor einer solchen Verwendung des Wortes „Existenz“, wenn Sie den Titel „Philosophie der Existenz“ hören! Aber wir haben noch nicht die Frage beantwortet, ob die Philosophie der Existenz nur für die deutsche Situation von Bedeutung ist, angesichts derer sie allein verstanden werden kann. Ich denke, dass diese Frage nicht im Vorhinein beantwortet werden kann. Die Vorlesung selbst ist die Antwort. Wenn es mir gelingt, die Idee der Existenz auf die Situation dieses Landes zu beziehen1, ist die Antwort positiv. Wenn nicht, ist die Antwort nicht negativ, sondern sie steht zur Beantwortung noch an. Nur das kann im Vorhinein gesagt werden: Erstens: Alle bedeutenden Konzepte2 der Philosophie haben eine universale Bedeutung. Wenn die Philosophie der Existenz zu diesen fundamentalen Philosophien gehört, hat ihr Hauptbegriff eine universale Bedeutung. Zweitens: Einige Perioden der Entwicklung dieser Philosophie überschreiten in ihren Ursachen und Wirkungen die Grenzen Deutschlands. Hegel ist mehr als ein deutscher Philosoph, er ist ein europäisches Ereignis, wie Nietzsche es für Schopenhauer behauptet. Die politischen Jung-Hegelinaner haben eine weltweite Bedeutung erlangt, besonders in der Person von Karl Marx. Kierkegaard ist, auch wenn er durch die deutsche Philosophie geprägt worden ist, kein Deutscher. Die Lebensphilosophie wird nicht nur 1 2

Ms.: in applying the idea of existence for the situation of this country Ms.: all the deepest conceptions

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durch Nietzsche und Dilthey, sondern auch durch Bergson und Sorel vertreten. Die Erneuerung der Wesensphilosophie durch Husserl geht offensichtlich auf den Platonismus des Mittelalters zurück. Diese Internationalität der Philosophie der Existenz wird die Rezeption der jüngsten Interpretation der Existenz auch außerhalb Deutschlands, auch in diesem Lande, erleichtern. Drittens: Ich wage zu glauben, dass die soziale, religiöse und politische Situation in diesem Lande viele Ähnlichkeiten mit der Situation in Deutschland vor zehn Jahren aufweist, dass die Übernahme1 der Philosophie der Existenz wahrscheinlich ist, wenn auch in einer modifizierten Form. Nun ein paar technische Bemerkungen zur Vorlesung. Ich denke, dass für diese Vorlesung eine Diskussion wichtig ist. Deshalb schlage ich vor, dass wir in der Regel eine Stunde für die Vorlesung und eine weitere Stunde für die Diskussion haben. Aber das soll keine strenge Regel sein; wir machen es von der Einteilung der Vorlesung und von den Erfordernissen der Diskussion abhängig. Für den Fall, dass ich die Fragen nicht verstehe oder keine exakte Antwort in englischer Sprache geben kann (was, wie ich hoffe, im Laufe der Vorlesung immer seltener der Fall sein wird), wird jemand hier sein, der das eine oder andere übersetzen wird. Die Wichtigkeit der Diskussion, die in der Schwierigkeit der Kommunikation dieser Philosophie ihren Grund hat, drängt mich, Sie zu bitten, Fragen zu stellen, wenn immer Sie meine Ausführungen nicht genau verstehen. Und nun zur Sache! I. Hegels Wesensphilosophie und Schellings Angriff auf sie 1. Blicken wir zurück auf die Zeit vor ungefähr hundert Jahren, stellen wir uns die Universität Berlin und insbesondere den Hörsaal vor, in dem Schelling seine erste Vorlesung nach seinem Eintreffen in der deutschen Metropole hielt! Sie fand im Jahre 1841 statt und wurde ein wichtiges Ereignis in der deutschen Geistesgeschichte und darüber hinaus. Schelling war 66 Jahre alt, als er den Ruf nach Berlin erhielt. Fast ein halbes Jahrhundert war vergangen seit den Anfängen seines Weltruhms, seit der Begründung seiner Naturphilosophie, seit der Zeit, da sein älterer Freund Hegel, ein unbekannter Privatlehrer, an ihn schrieb und ihn um einen Lehrauftrag bat. Die Zeiten änderten sich, und Hegel wurde der allmächtige Philosoph des preußischen 1

Ms.: adoption (gestr.: reception)

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Staates, er beherrschte das geistige Leben seiner Zeit. Schelling lebte weit ab von seinem früheren Freund, er führte das Leben eines Privatgelehrten, der immer tiefer eindrang in die Probleme der Religionsphilosophie, schweigend Jahr für Jahr, ohne eine größere Publikation. Hegel starb auf dem Höhepunkt seines Ruhmes im Jahre 1831. Nach seinem Tode zerfiel seine Schule in mehrere Richtungen. In einigen von ihnen wurden die liberalen Tendenzen seiner idealistischen Philosophie mächtig. Aber es war das Zeitalter der Reaktion. Der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., „der Romantiker auf dem Thron“, berief Schelling, der schon ein alter Mann war. Er sollte gegen die Hydra des revolutionären Hegelianismus (so die Worte des Königs) kämpfen. Schelling nahm den Ruf an und hielt nur eine einzige Vorlesung, nicht mehr. Dann zog er sich zurück. Aber diese Vorlesung hatte symbolische Bedeutung nicht nur wegen der in seiner Vorlesung vorgetragenen Ideen, sondern auch hinsichtlich des Auditoriums. Im Hörsaal sassen Friedrich Engels, der Freund und Mitarbeiter von Karl Marx, und Sören Kierkegaard, der dänische Philosoph und Theologe. Diese Namen – Schelling, Engels, Marx, Kierkegaard – repräsentieren die neue philosophische Bewegung gegen den Hegelianismus. Sie alle trieben die Idee der Existenz gegen die Idee des Wesens voran. 2. Der zweite Band von Hegels „Logik“ beginnt mit diesem Satz „Die Wahrheit des Seins ist das Wesen“.1 Wenn wir ihn mit den Worten „The truth of being is the essence of being“ übersetzen, haben wir ihn zwar ziemlich wörtlich übersetzt, aber wir haben den Sinn dieses Satzes nicht wiedergegeben. Wir können ihn nur durch eine Paraphrase, nicht durch eine wörtliche Übersetzung wiedergeben. Lassen Sie uns dies versuchen, indem wir zunächst einen weiteren Satz aus demselben Kapitel zitieren. Hegel schreibt: „Das Wesen steht zwischen Sein und Begriff und macht die Mitte derselben und seine Bewegung[,] den Übergang vom Sein in den Begriff aus.“2

1

2

HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 13. Tillich zitiert Hegel in deutscher Sprache. HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 13. – Ms.: „Essence is midway between being and concept, it is the mean between them. And its movement constitutes the transition from being to concept.“

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Wir haben also drei Kategorien: Sein, Wesen, Begriff.1 Das Wesen ist die Mitte, nicht nur insofern es die Mitte zwischen den beiden anderen ist, sondern auch indem es das Denken von der ersten bis zur dritten Kategorie in Bewegung setzt. Lassen Sie uns diese Beziehung klären. Das Sein ist derjenige Charakter aller Dinge, der alle anderen Qualitäten ermöglicht. Bevor das Ding eine andere Qualität annehmen kann, muss es sein. Oder abstrakter gesagt: Jedes Ding muss am Sein teilhaben, an diesem primären, fundamentalen Charakter aller Dinge. Das Sein ist darum ein und dieselbe Qualität in allen seienden Dingen. Das Sein ist im Himmel kein anderes Sein als auf der Erde, das Sein des Menschen ist kein anderes Sein als das Sein eines Steins. In Bezug auf das Sein, nur das Sein, sind alle Dinge identisch. Diese Idee des reinen Seins ist die abstrakteste Idee, sie abstrahiert von allen anderen Qualitäten, die die einzelnen Dinge charakterisieren. Diese radikale Abstraktion war der große Beginn der griechischen Philosophie. Die Entdeckung dieser Möglichkeit des menschlichen Geistes war die große Tat von Parmenides. Niemand hat das Recht, sich einen Philosophen zu nennen, der nicht schauderte vor diesem Abgrund des reinen Seins, der nicht den Gedanken dachte, dass auch nichts hätte sein können2, dass es keine Notwendigkeit dafür gibt, dass Sein ist und nicht nichts. Wenn Sie versuchen, diesen ersten Schritt zu gehen, wie alle großen Philosophen, werden Sie einen der modernsten Gedanken der Philosophie der Existenz verstehen, das Stehen des Menschen unmittelbar vor dem Nichtsein3, die Fähigkeit des Menschen, dem Abgrund des Nichtseins4 ins Auge zu sehen. Aber die Dinge sind nicht nur seiend, sie sind auch etwas seiend. Etwas sein und nicht nichts unterscheidet Sein von Nichtsein. Die Idee des Seins treibt zur Idee etwas zu sein. Das unbestimmte reine Sein drängt darauf hin, bestimmt zu werden. Nur durch das Bestimmtsein erreicht es Existenz. Aber wenn wir die Dinge betrachten, sehen wir, dass sie sich verändern. Dieselbe Menge Wasser ist jetzt Wasser, dann Eis, dann Dampf. Dampf wird wieder zu Wasser usw. Wenn wir solche Vorgänge beobachten, die sich überall finden, werden wir zu der Frage 1 2 3 4

Ms.: Ms.: Ms.: Ms.:

Thus we have three categories: being, essence, concept. that also nothingness (gestr.: non-being) could have been nonentity the faculty of man to face the abyss of non-being

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getrieben: Wo sollen wir suchen, was die Dinge sind? Während wir die Eigenschaft eines Dinges feststellen, verliert es diese Eigenschaft und nimmt eine andere an. Wir müssen erkennen: Die Dinge sind nicht, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Ihr Sein und ihre Erscheinung differieren. Sie sind nicht, was sie zu sein scheinen. Vielleicht kommt Ihnen diese Feststellung trivial vor, sie ist aber wahrhaft überraschend. Sie verweist auf eine Spaltung innerhalb der Dinge selbst zwischen ihrem Sein und ihrer Erscheinung in Raum und Zeit. Es gibt sozusagen zwei Schichten in jedem Ding, die Schicht des wahren Seins und die Schicht des scheinbaren Seins. Die erste Schicht ist das, was wir Wesen (Essenz) nennen. Sie meint die Schicht der Dinge, die in allem Wechsel der Erscheinung unveränderlich ist. Insofern die veränderliche Seite der Dinge ihre manifeste, sichtbare Seite ist, nennen wir sie ihre äußere Seite, und die unveränderliche Seite nennen wir im Gegensatz dazu ihre innere Seite. Das Wesen (die Essenz) der Dinge ist ihr inneres, wahres Sein. Nichts kann wahres Sein sein, was sich ändert, was heute ist und morgen nicht mehr ist. Wahres Sein ist unveränderliches Sein, ist Wesen (Essenz).1 Wir können jetzt auch besser Hegels Wort verstehen: „Die Wahrheit des Seins ist das Wesen.“2 Die Wahrheit des Baumes ist sein Wesen; weder seine Erscheinung im Frühling oder im Herbst oder im Winter noch seine Erscheinung in den ersten Jahren oder im Alter ist seine Wahrheit, ist das, was den Baum zum Baum macht. Denn all das verändert sich, und es gibt einen Zeitpunkt, in dem all das, was einmal war, nicht mehr ist. Nur das Wesen bleibt unberührt von diesen Veränderungen. Darum ist das Wesen des Baumes die Wahrheit des Baumes. Nehmen Sie sich selbst anstelle des Baumes! Was ist die Wahrheit Ihrer selbst? Was Sie in Ihrer Kindheit waren oder was Sie gestern waren oder morgen sein werden oder was Sie in Ihrem Alter sein werden? Jeder Abschnitt unseres Lebens zeigt unterschiedliche Eigenschaften von uns, und doch sind wir bei allem Wechsel dieselben; und dieses Identische, das wir sind, ist vom Gesichtspunkt der Ewigkeit aus betrachtet, unser Wesen, und das ist unsere Wahrheit.3 Was ist das? Unsere Antwort kann nur die Form der Verneinung haben. Wir müssen sagen, dass unser Wesen mit dieser und der und der Periode unseres Lebens nicht identisch ist, dass es auch mit unserem Denken 1 2 3

Gestr.: is being in the kind of essence. HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 13. Folgt gestr.: Denn das Wesen des Seins ist die Wahrheit des Seins.

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oder Fühlen oder Handeln nicht identisch ist. Trotzdem müssen wir bekennen, dass wir all das sind. Wir sind es, und wir sind es nicht. Das Wesen umfasst alle Elemente der Existenz, aber in einer besonderen Weise. Es ist sehr schwer zu erklären, in welcher Weise, denn alle Begriffe sind von den einzelnen Elementen abgeleitet, die vom allgemeinen Charakter des Wesens völlig absorbiert werden. Aber ich will Ihnen eine Antwort geben, die eher vorläufig als endgültig ist: Mein Wesen ist das Gesetz meiner Entwicklung als Individuum, das mit anderen Individuen und schließlich mit der ganzen Welt verbunden ist. Mein Wesen ist darum ein Element des Wesens der Menschheit, lebendiger Wesen, von Wesen allgemein.1 In diesem Sinne sprachen die Platoniker von einer Hierarchie des Wesens.2 Jedes niedere Wesen ist in dem nächsthöheren Wesen enthalten usw. Heute können wir es die allgemeine Struktur des Seins nennen, die in jedem individuellen Seienden wirksam ist. Aber ich wiederhole: Die Antwort ist eher vorläufig und exemplarisch als endgültig. Wir können darüber in der Diskussion sprechen. Die nächste Frage, die wir zu erörtern haben, betrifft Hegels dritte Kategorie, den Begriff. Das Wesen, so Hegels These, ist das Mittlere zwischen Sein und Begriff. Ich denke, es ist nicht schwer, diese Aussage zu verstehen. Wir sprachen über die Spaltung innerhalb der Dinge, die Spaltung zwischen Wesen und Erscheinung, und wir fragen: Hat diese Spaltung innerhalb der Dinge ihren Grund in den Dingen selbst oder im menschlichen Denken? – Dieselbe Frage kann auf eine andere Weise gestellt werden. Wir sprachen über die Wahrheit des Seins. Und wir müssen wieder fragen: Ist die Wahrheit des Seins eine Qualität des Seins selbst oder gibt es Wahrheit nur in der Beziehung zwischen dem Sein und dem menschlichen Denken? Mir scheint, dass Platon diese beiden Fragen so beantwortet, dass er betont, dass das Wesen der Dinge unabhängig vom menschlichen Denken gedacht werden kann. „Idea“ im strikt platonischen Sinne ist das Wesen des Seins, getrennt von ihm, sich an einem himmlischen Ort befindend, jenseits der sichtbaren Welt.3

1 2 3

Ms.: of living beings, of beings in general. Ms.: hierarchy of essence. Folgt gestr.: Aber schon im Neuplatonismus bildet sich eine andere Bedeutung.

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Wo ist dieser Raum? Nirgendwo! Denn schon eine solche Frage setzt die Raumvorstellung voraus. Doch Platons Idea muss jenseits jeden Raumes gesucht werden. Ändern wir die Frage ab in die Form unseres vorigen Beispiels! Wo ist das Gesetz unserer eigenen Existenz? Vielleicht antworten Sie: in uns. Aber auch diese Antwort setzt die Raumvorstellung voraus. Innen, außen gibt es nur im Raum. Wo ist das Gesetz der Menschheit? In diesem Falle werden Sie wohl zögern zu antworten: innen, innerhalb der Menschheit, denn solch ein Bild kann man sich nicht vorstellen. Aber wir können nicht leugnen, dass das Gesetz meiner Existenz, d. h. mein Wesen, eine Realität ist, dass es in jedem Moment wirksam ist und solch eine Macht über meine Existenz hat, dass es mein Schicksal bestimmt.1 Folglich müssen wir eine Wirklichkeit annehmen, die mächtiger ist als alle sichtbare Wirklichkeit, die aber in keinen Raum hineinpasst. Im Gegenteil: Der Raum selbst hat ein Wesen, und sein Wesen gehört zum Wesen des Seins allgemein. Raum zu haben ist eines der wichtigsten Elemente der Struktur des Seins. Darum kann diese Struktur nicht im Raum sein. Wo aber soll man sie suchen? Hören wir die Antwort des späteren Platonismus und des Neuplatonismus. Sie behaupten: Unser Wesen hat sozusagen seinen Raum gefunden, aber es ist kein Raum im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Es ist ein geistiger Raum. Das Gesetz jedes Dinges ist der göttliche Gedanke in ihm. Die Macht dieses Gesetzes, d. h. das Wesen der Dinge, wurzelt darin, dass es von der absoluten Macht, von Gott, gedacht wird. Denn die Gedanken in Gott sind schöpferisch.2 (Beispiel: Paulus) Die Idea im platonischen Sinne ist nicht getrennt vom göttlichen Denken. Das Wesen der Dinge ist ihr Von-Gott-Gedachtsein. Denn Gott denkt das Innere der Dinge, ihr unveränderliches Wesen. Und nur weil er sie denkt, sind sie. Die Wahrheit der Dinge ist ihr VonGott-Gedachtsein. Unsere Frage wird nach dieser Konzeption durch die Lehre beantwortet, dass das Wesen, das wahre Sein der Dinge nicht unabhängig vom göttlichen Geist ist, der sie denkt. Diese Auffassung wurde, nachdem sie im ganzen Mittelalter geherrscht hatte, in der Periode der Renaissance säkular. Auch die Philosophie der Renaissance ist Neuplatonismus. Aber es gibt einen 1 2

Ms.: creates Ms.: It is spiritual space. The law of everything is the divine thought in it; the power of this law, that is of the essence of things, roots in their being thought by the divine power, by God; for in God thought is creative.

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großen Unterschied zwischen dem frühen Neuplatonismus und dem Neuplatonismus der Renaissance. Der spätere ersetzt mehr und mehr den göttlichen Geist, der das Wesen der Dinge trägt, durch den Geist der Menschheit. Die Ideen befinden sich im menschlichen Geist. Der menschliche Geist hat das Wesen der Dinge, indem er es denkt. Die Wahrheit des Seins ist der wahre menschliche Begriff des Seins. Nicht jede menschliche Meinung hat den Charakter einer Idee, d. h. des Wesens der Dinge und ihrer Wahrheit. Nur ein wahrer Gedanke, ein objektiver Gedanke, ein Begriff, der das Wesen erfasst, kann „Idee“ genannt werden. Ein solcher Gebrauch des Wortes „Idee“ ist ein völlig anderer Gebrauch als der heute übliche. Idee ist heute die höchst subjektive, höchst willkürliche Meinung jedes Menschen. Die Möglichkeit eines solchen Gebrauchs oder besser Missbrauchs des Wortes „Idee“ hat zu der Auffassung geführt, dass das Wesen der Dinge, ihr wahres Sein, im menschlichen Geist zu finden ist, insofern der menschliche Geist wahre Begriffe hat. Jetzt können wir Hegels These verstehen, dass das Wesen zum Begriff drängt, wie das Sein zum Wesen drängt. Diese Bewegung ist keine reale Bewegung in Raum und Zeit, sie ist eine logische Bewegung. Indem wir das Sein denken, werden wir getrieben, das Wesen des Seins zu denken. Und indem wir das Wesen des Seins denken, werden wir getrieben, den Begriff des Seins zu denken. Denn allein im Begriff hat das Wesen Realität. Aber umgekehrt hat nur ein Begriff Realität, der das Wesen eines Dinges erfasst. Die Wahrheit des Seins ist das Wesen des Seins, und die Wahrheit des Wesens ist der Begriff des Wesens. Das Wesen ist das Mittlere. Das Wesen ist das, was der Begriff vom Sein begreift. Wenn wir ein Ding zu begreifen suchen, suchen wir seine Erscheinung zu durchbrechen und sein Wesen zu finden. Anders gesagt: Sein wird gespalten in Wesen und Erscheinung, um durch den Begriff wieder zusammengefügt zu werden.1 Das Sein, das vom Begriff getrennt ist, ist unvollständig. Darum strebt es zu seiner Erfüllung, d. h. zu seinem Begriff. Die Mitte dieser Bewegung ist das Wesen. Denn durch das Wesen wird das Sein begriffen und wieder zusammengefügt. Es ist klar, dass jede Philosophie demgemäß Feststellung Wesensphilosophie sein muss. Durch die Schaffung wahrer Begriffe bringt die Philosophie die unvollkommenen Dinge zu ihrer Vollkommenheit, denn wahre Begriffe erfassen das Wesen der 1

Ms.: Being becomes cleft between essence and appearance in order to be completed by a concept.

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Dinge, und ihr Wesen ist ihre Wahrheit.1 (Denken Sie an die Worte des Apostels Paulus: Röm 8, 21: Denn auch die Kreatur wird frei werden von dem Dienst des vergänglichen Wesens zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.) Wenn wir nun auf diese seltsame Konzeption blicken, stellen wir fest, dass es sich um eine Einheit von Logik und Metaphysik handelt. Die Bewegung der Logik ist identisch mit der der Metaphysik. Hier hat die Schwierigkeit, Hegels Philosophie zu verstehen, ihren Grund. Es ist überall dasselbe in allen Teilen seines Systems. Sein und Begriff des Seins sind identisch. Das Gedachtwerden ist kein Ereignis, das den Dingen geschieht und sie unverändert lässt, sondern es gehört zum fundamentalen Charakter der Dinge. Sie sind nicht, was sie sind, ohne den Gedanken, der ihr Wesen begreift. Nur durch die Spaltung in Wesen und Erscheinung finden sie ihre Vollkommenheit. Der Gedanke ist die Macht, durch die das Sein sich selbst vervollkommnet. Das ist der tiefste, mystische Grund der Philosophie Hegels. – Sie ist mystisch, weil sie versucht, alle Gegensätze der Existenz zu überwinden, auch und vor allem den höchsten, ursprünglichen Gegensatz, den zwischen Sein und Denken, zwischen Sein und Begriff des Seins. Es ist das Mysterium des Wesens, dass es weder nur subjektiv noch nur objektiv ist. 3. Aber hier bleibt ein Problem. Das Denken muss die Dinge spalten, um sie zu erkennen, um das Wesen zu begreifen2. Diese Notwendigkeit zeigt, dass die Dinge in einer gewissen Weise von ihrem Wesen getrennt sind. Die Dinge und das Wesen der Dinge sind nicht identisch. Die Dinge haben nicht nur ihr Wesen, sie haben auch ihre Existenz. Und nun berühren wir erstmals den Begriff, der unserer Vorlesung den Titel gegeben hat. Hegel behandelt die Existenz in dem Abschnitt, der die Überschrift „Die Erscheinung“ trägt. Der erste Satz dieses Abschnitts lautet: „Das Wesen muss erscheinen.“3 Er besagt, dass das Wesen notwendigerweise erscheint, es hat nicht die Möglichkeit, nicht zu erscheinen. Existenz ist, so Hegel, nach der wörtlichen Bedeutung 1

2 3

Ms.: Philosophy by creating true concepts leads the incomplete things to their completion; for true concepts comprehend the essence of things; and their essence is their truth. Gestr.: zu durchdringen HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 124.

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von existentia, „ein Herausgegangensein“.1 Das Wesen geht aus sich heraus, es gibt seinen rein innerlichen Charakter auf und wird ein Ding. Hegel betont, dass wir nicht sagen dürfen: Wesen hat Existenz.2 Solch eine Interpretation des Wesens findet sich in einigen Versuchen, die platonische Konzeption der Idee zu erklären. Platons symbolische Art, über die Idee und den himmlischen Ort zu sprechen, an dem die Idee zu finden sei, hat einige Interpreten dazu verleitet, die Existenz auch für die Ideen, d. h. das Wesen der Dinge, zu behaupten. Hegel wendet sich gegen dieses Missverständnis, indem er betont, dass die Idee nicht Existenz hat, sondern3 ein existierendes Ding wird.4 Das Wesen entkleidet5 sich selbst in der Existenz. Und nichts vom Wesen bleibt in diesem Moment, in dem das Wesen sich seiner selbst entäußert und Existenz wird. Was bedeutet diese Aussage? Sie bedeutet, dass die Wahrheit der Wirklichkeit nicht in einer zweiten Welt hinter dieser Welt zu suchen ist, in einer Welt des Wesens oder der platonischen Ideen, sondern dass das Wesen in der Existenz, in Natur und Geschichte, erscheinen muss und auch wirklich erscheint. Das Wesen ist die Wahrheit des Seins, aber Wesen ist nicht eine Welt an sich, sondern findet sich nur in den existierenden Dingen. Diese Behauptung drückt ein modernes Lebens- und Weltgefühl aus. Neuplatonismus, Augustinismus und die ersten Jahrhunderte des Mittelalters fühlten anders. Sie suchten die Wahrheit der Dinge hinter den Dingen. Sie errichteten eine zweite Welt des Wesens hinter und über der Welt der Existenz. Sie hatten darum eine asketische Moral; sie versuchten, der Existenz zu entfliehen, um das Wesen zu erreichen. Hegel gibt die Formel für dieses moderne Lebensgefühl. Er behauptet, dass das Wesen ganz und ohne, dass etwas von ihm zurückbleibt, Existenz wird.

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HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 124: „ein Herausgegangensein aus der Negativität und Innerlichkeit“. HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 128: „So ist die Existenz hier nicht als ein Prädikat oder als Bestimmung des Wesens zu nehmen, dass ein Satz dann hieße: ‘Das Wesen existiert oder hat Existenz’, sondern das Wesen ist in die Existenz übergegangen“. Folgt gestr.: in Existenz übergeht. Existenz ist die absolute Entkleidung des Wesens selbst. HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 129: „So ist das existierende Etwas ein Ding“. Ms.: divests itself in existence

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Nun könnten Sie mit Recht fragen, warum ich Hegels Philosophie eine Wesensphilosophie genannt habe. Wenn Hegel zeigt, dass das Wesen sich seiner selbst entäußert und in Existenz übergeht, warum nennen wir ihn dann nicht einen Existenzphilosophen? Sie könnten Ihre Frage noch untermauern mit dem berühmten Satz Hegels „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“1 Wenn die Vernunft und die Wirklichkeit identisch sind nach dieser Auffassung, haben wir es dann nicht mit einem vollkommenen Realismus, mit einer eindeutigen Philosophie der Existenz zu tun? Aber Sie können so nur fragen, wenn Sie Hegels Satz vergessen haben: „Die Wahrheit des Wesens ist der Begriff des Wesens.“ Nicht die Existenz, sondern der Begriff ist das Ziel der logischen Bewegung. Und im Begriff wird das Wesen noch einmal es selbst. Es kommt zurück zu sich selbst, aber in einer höheren, vollkommenen Form seiner selbst. Im Begriff triumphiert das Wesen über die Existenz. Hegel spricht ekstatisch über den Charakter des Begriffs. In der Sphäre der reinen Existenz sind die Dinge der Notwendigkeit unterworfen. Die Sphäre des Begriffs aber ist das Reich der Freiheit. Reine Existenz ist dunkel und sich selbst nicht durchsichtig. Dinge stehen neben Dingen, die sich gegenseitig stoßen und von einander abhängig sind, ohne einander oder sich selbst zu kennen. Der Begriff aber verwandelt die Dunkelheit der reinen Existenz in Licht.2 Dadurch dass die Dinge in den Begriff aufgenommen werden, werden sie sich selbst durchsichtig. Der Begriff, so betont Hegel, ist die Offenbarung der reinen Existenz.3 Wenn wir nach dem Sinn des Satzes „Im Begriff hat sich […] das Reich der Freiheit eröffnet“4 fragen, hören wir folgende Antwort Hegels: „Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frei ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewusstsein […]. Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Dasein gekommen ist.“5

1

2 3 4 5

HW 7 (Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse), 24. Gestr.: Klarheit Ms.: Concept, emphasizes Hegel, is the revelation of pure existence. HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 251. HW 6 (Wissenschaft der Logik II), 253.

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Hegel erklärt diesen Gedanken auf folgende Weise: Ich habe ein Ding begriffen, wenn ich es so durchdrungen habe, dass ich es in mein Eigenes verwandelt habe. Wenn ich ein Ding nur sehe oder es mir nur vorstelle, bleibt es für mich fremd, außerhalb meiner selbst, nicht durchdrungen. Aber wenn ich es denke, wenn ich seinen Begriff suche und finde, ziehe ich es in mich selbst hinein, gebe ich ihm die Form meines Geistes, bekommt es den Charakter des Geistes. Und dieser Charakter, so fährt Hegel fort, ist der eigene Charakter des Dinges selbst. Was ein Ding ist, indem es gedacht wird, das ist sein Wesen, seine Wahrheit. Die Dinge bekommen ihre Vollkommenheit1 dadurch, dass sie in die Einheit des Selbstbewusstseins aufgenommen werden. Und diese Aufnahme geschieht dadurch, dass wir ihren Begriff denken und begreifen. Der Begriff ist die Wahrheit des Wesens, und das Wesen ist die Wahrheit des Seins. Daraus folgt, dass nicht die abstrakte Wirklichkeit, sondern nur die begriffene Wirklichkeit wahre Wirklichkeit ist. Nur wenn der Begriff die Dinge durchdrungen hat, haben die Dinge ihre Vollkommenheit erreicht. Die wahre Natur ist nicht Natur außerhalb des menschlichen Geistes, und die wahre Geschichte ist nicht Geschichte, ohne dass sie der menschliche Begriff erfasst. Getrennt vom menschlichen Denken, sind die Dinge nicht das, was sie wirklich sind. Nur im menschlichen Selbstbewusstsein, nur dadurch, dass sie begriffen und in die Klarheit des Begriffs verwandelt werden, werden sie das in Wirklichkeit, was sie ihrer Möglichkeit nach sind. Zur Beschreibung dieser Tendenz aller Dinge hin zur Klarheit des Begriffs, zur Selbstdurchsichtigkeit in der Einheit des Selbstbewusstseins dürfen wir einen religiösen Begriff gebrauchen. Wir können sagen (und Hegel selbst verwendet diesen Ausdruck), dass die Dinge dadurch, dass sie gedacht werden, erlöst werden.2 Die Einheit aller Dinge im menschlichen Geist ist ihre Erlösung aus der Dunkelheit, Notwendigkeit und wechselseitigen Fremdheit. Es ist ihre Erlösung in die Klarheit, Freiheit und Gemeinschaft (vgl. Röm 8, 17). Wenn der Geist des Menschen die Dinge in ihre Erlösung führt, muss das Denken des Menschen das Innere der Dinge durchdringen können. Es kann keine undurchdringliche Tiefe in den Dingen geben. Der menschliche Geist kann Natur und Geschichte, Seele und Gesellschaft, lebendige und tote Dinge durchsichtig machen für sich 1 2

Ms.: completion Ms.: receive their salvation

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selbst. Der menschliche Geist ist die Mitte der Welt, der Punkt, auf den alle Dinge hinstreben. Die Philosophie kann ein System schaffen, in dem alle Dinge begriffen werden, in dem sie vollendet werden dadurch, dass sie in die Klarheit des Begriffs erhoben werden. Darum glaubt Hegel, ein vollständiges System der Welt schaffen zu können, ein System, in dem das Wesen aller Dinge begriffen und dadurch vollendet worden ist. 4. Wir müssen aufs neue fragen: Warum nennen wir das Wesensphilosophie? Gewiss ist sie mehr als eine reine Wesensphilosophie. Wesen und Existenz sind geeint im Begriff, im lebendigen Selbstbewusstsein des Menschen. Hegel versucht, die platonische Trennung von Wesen und Existenz zu überwinden. Zu diesem Zweck zeigt er zunächst, dass das Wesen in die Existenz eintreten muss.1 Dann zeigt er, dass die Existenz in den Begriff eingeht und dass das Ich die Wirklichkeit ist, in der Wesen und Existenz vereint sind. So gesehen, ist Hegel kein Wesensphilosoph. Bekanntlich hat er auch mehr als jeder andere Philosoph den Weg zum philosophischen Denken der wirklichen Geschichte eröffnet. Die „Philosophie der Geschichte“ ist sein wichtigstes Werk. Und Geschichte gehört zur Existenz. Andererseits wird die Geschichte wie alle anderen Bereiche der Wirklichkeit von Hegel in ein logisches Schema hineingezwungen. Die Geschichte bricht aus dem philosophischen System nicht aus, sie ist Teil des Systems. Das heißt, die Geschichte ist im Prinzip an ihr Ende gelangt, und der Philosoph kann das Wesen der Geschichte begreifen. Es ist eine höchst seltsame Idee Hegels, dass er in einer gewissen Weise am Ende aller Geschichte steht, dass die Geschichte nicht die Macht hat, eine neue Wirklichkeit zu schaffen, eine Wirklichkeit, die durch keine bisherigen Begriffe erfasst werden kann. Um das Wesen der Geschichte zu begreifen, muss Hegel die Möglichkeit einer zukünftigen Geschichte ausschließen. Er minimalisiert die schöpferische Macht der Existenz, weil er sie in den Begriff hineinziehen will, d. h. in die Einheit des Selbstbewusstseins. Die zukünftige Geschichte kann in den menschlichen Geist nicht aufgenommen werden. Folglich gibt es für den Philosophen nur zwei Möglichkeiten. Entweder schneidet er die zukünftige Geschichte heraus oder er gibt zu, dass die Existenz nicht in Begriffe überführt werden kann, weil in der 1

Ms.: that essence must enter [gestr.: go over] into existence.

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Existenz immer eine schöpferische Dunkelheit zurückbleibt. Hegel wählt den ersten Weg. Er hat den Mut, die Zukunft zu verleugnen. Er sagt das nicht ausdrücklich, doch die Struktur seines Systems lässt keinen Raum für die zukünftige Geschichte. Darum hat die real zukünftige Geschichte, die Geschichte des 19. Jahrhunderts, sein System zerstört. Die Geschichte, von seinem System verleugnet, hat sein System zerstört. Genauer gesagt: Hegel hat eine Begriffsphilosophie geschaffen. Aber weil in Hegels Idee des Begriffs das Wesen die Existenz überwältigt und deren schöpferische Kräfte verhindert, dürfen wir Hegel zu den Wesensphilosophen zählen. Vielleicht meinen Sie, es sei besser, ihn einen Idealisten und seine Philosophie Idealismus zu nennen. Ich habe diese Begriffe vermieden, weil sie keinen Philosophen und keine Philosophie von heute charakterisieren können. Diese Begriffe gehören zu denjenigen, die man in jeder ernsthaften philosophischen Wissenschaft vermeiden sollte; denn niemand hat einen genauen Begriff von ihrem Sinn. Sie gleichen Münzen, die durch so viele Hände gehen, dass die ursprüngliche Prägung undeutlich geworden ist. Ein Wort wie Idealismus erzeugt viele unterschiedliche Eindrücke bei denen, die es hören. Der eine denkt an eine metaphysische Idee, ein anderer an ein logisches Problem, wieder ein anderer an eine moralische Haltung, ein anderer wieder an das Fehlen von Kritik usw. Darum gebe ich Ihnen den Rat: Vermeiden Sie dieses Wort oder, wenn Sie es nicht vermeiden können, geben Sie eine genaue Definition. Ich will es so lange wie möglich vermeiden und ich bitte Sie, benutzen Sie das Wort „Wesensphilosophie“ in dem Sinne, in dem ich es bis jetzt benutzt habe. (Exkurs über Entfremdung des Absoluten von sich selbst dadurch, dass es Existenz wird. Die Rückkehr durch die Geschichte. Die Rettung ist vollendet. Die Entfremdung ist überwunden. Darum haben die Philosophen die Möglichkeit, in einer erneuerten Wesenswelt zu stehen und ihre Notwendigkeit und mit ihrer Notwendigkeit das Wesen anzuerkennen. – Die Folge von Hegels Philosophie als Ende; keine Möglichkeit, weiterzugehen, entweder Unterwerfung oder Leugnung, aber keine Veränderung) 5. Diese Philosophie Hegels wurde von Schelling angegriffen. Die Existenz erhebt sich gegen das Wesen. In der Annahme, dass Sie Schelling weniger gut kennen als Hegel, will ich Ihnen einen kurzen Überblick über Schellings Entwicklung geben.

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Wir können nicht das ganze System Schellings darstellen, denn er hat kein abgeschlossenes System hinterlassen. Er hat seine Ideen ziemlich schnell gewechselt, immer unter dem Einfluss anderer Systeme, die er in seine eigenen Ideen einfügte. So haben die Philosophiehistoriker sieben oder mehr Perioden seiner Entwicklung unterschieden. Aber eine solche Betrachtung dringt nicht wirklich in die innere Bewegung seines Denkens ein. Um sie verstehen zu können, unterscheiden wir nur zwei Perioden, zwischen denen es einen Bruch gibt. Die erste Periode ist durch das Identitätsprinzip bestimmt. Je mehr Schellings Philosophie in dieser Periode voranschreitet, desto mehr wird das Identitätsprinzip durchgeführt. Einsetzend mit der Identität des absoluten Ich Fichtes, entdeckte er die Identität von Subjekt und Objekt zuerst in der Natur, d. h. den rationalen Charakter aller Formen der Natur, dann im Bereich des Geistes, d. h. die Identität der unbewussten und der bewussten Mächte im menschlichen Geist, und schließlich verkündigte er die vollständige Identität von Natur und Geist. Er sprach von der absoluten Identität als dem ersten Prinzip aller Unterschiede. Aber es blieb in dieser Identitätsphilosophie ein schwieriges Problem bestehen. Wenn die Identität das erste Prinzip ist, wie kann dann die Existenz verschiedener Dinge verstanden werden? Aus welchem Grunde verlässt die Identität sich selbst und wird eine Welt unendlicher Verschiedenheit? Vom Gesichtspunkt einer Identitätsphilosophie aus ist die Existenz nicht begreiflich, denn eine solche Philosophie ist im striktesten Sinne dieses Wortes eine Wesensphilosophie. Identität ist das Wesen aller Wesen, sie ist das höchste, abstrakteste Wesen, so abstrakt, dass selbst die umfassendsten Qualitäten wie Natur und Geist, Subjekt und Objekt in ihrer absoluten Indifferenz ausgelöscht werden. Man hat zusammen mit der Identitätsphilosophie jede Art von Wesensphilosophie in Frage gestellt. Der Übergang vom Wesen zur Existenz kann nicht vom Prinzip des reinen Wesens abgeleitet werden. Es gibt keinen Grund für diesen Übergang. Es kann nicht gezeigt werden, warum es für das Wesen wesentlich ist, in die Existenz überzugehen. Die Existenz bleibt außerhalb des Systems des Wesens. Es gibt dafür innerhalb der rationalen Konstruktion keinen Platz. Die außerordentliche Bedeutung von Schellings Wechsel von seiner ersten zu seiner zweiten Periode liegt in seiner Erkenntnis, dass die Existenz nicht durch ein System des Wesens begriffen werden kann.

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6. Lassen Sie mich an dieser Stelle innehalten. Ich habe die große Bedeutung der Radikalität betont, mit der Schelling das Identitätsprinzip durchgeführt hat. Ich habe dieses Prinzip nicht erklärt und kann es auch nicht erklären, aber ich kann und muss Ihnen einige Konsequenzen dieses Prinzips zeigen, weil die spätere Philosophie der Existenz in all ihren verschiedenen Ausprägungen seit der zweiten Periode Schellings diese Konsequenzen deutlich gemacht hat. Die Identitätsphilosophie vernichtet die Freiheit und mit der Freiheit Geschichte, Ethik und Politik. Niemand ist ein besserer Zeuge für diese Tatsache als Schelling selbst. Unmittelbar vor der großen Wende seines Denkens leugnet er die Freiheit und die moralische Verantwortlichkeit. Indem er behauptet, dass die Perfektion jedes Dinges darin besteht, dass es das ist, was es ist, nicht mehr und nicht weniger, beseitigt er den Gegensatz von gut und böse. Obwohl er Unterschiede der Perfektion und niedrigere und höhere Wertabstufungen einräumt, leugnet er die Freiheit, auf einen geringeren oder höheren Wert hin handeln zu können. Wie ein Stein nicht dafür verantwortlich ist, dass er ein Stein ist, ist der Mensch nicht dafür verantwortlich, dass er schlecht ist. „Absolut betrachtet“, schreibt Schelling im Anschluss an Spinoza, „ist auch er als Glied der Welt notwendig und insofern nicht strafbar und sogar entschuldbar“.1 Und er führt weiter aus, dass alle Grade der Perfektion vom geringsten bis zum höchsten in die Wirklichkeit überführt werden müssen. Alles, was geschieht, ist die Handlung der absoluten Substanz, d. h. der Identität. Nicht wir selbst sind die Handelnden, sondern die absolute Substanz, die Identität von Natur und Geist, von Subjekt und Objekt, von Notwendigkeit und Freiheit, handelt in uns und durch uns. In einer solchen Sicht ist die Freiheit beseitigt. Denn in der absoluten Identität von Freiheit und Notwendigkeit wird die Freiheit von der Notwendigkeit absorbiert, denn Freiheit, die an die Notwendigkeit gebunden ist, ist selbst Notwendigkeit. Die Idee der individuellen Freiheit ist eine Illusion. Je mehr wir denken, dass wir frei handeln, um so mehr werden wir durch die Notwendigkeit gezwungen und umso mehr sind wir nur ein Werkzeug des Schicksals. Mit der Freiheit ist auch das politische Handeln entwertet. „Wozu all die Angst und das unruhige Streben? Was geschehen soll, geschieht 1

SW 1, VI (System der gesammten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere [1804]), 547.

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doch.“ Wir müssen die vollkommene Harmonie des Universums betrachten und die verborgene Harmonie aller Ereignisse anerkennen. Folglich sollten wir nicht wünschen, irgendetwas zu ändern. Wir haben nicht das Recht zu versuchen, die Welt zu verbessern. Die ganze Wesensphilosophie, vor allem natürlich die Identitätsphilosophie, sie fordert die Weltverbesserer heraus und sie fordert eine heitere Betrachtung der Dinge. Es ist klar, dass eine solche Haltung den Willen, politisch zu handeln und gegen schlechte Regierungen und Institutionen zu protestieren, nicht stärkt. Es ist eine mehr mystische als aktive Haltung, eine Haltung, die bis heute mit der lutherischen Lehre und dem absoluten Staat übereinstimmt, eine Haltung, die die deutsche idealistische Bewegung, obwohl sie unter dem Einfluss der französischen Revolution stand, daran gehindert hat, die Idee der Humanität auf den Bereich der politischen Aktion zu übertragen. Natürlich gibt es einen großen Unterschied zwischen der mystischen und der lutherischen Einstellung, insofern die letzte um die Sünde und Verderbtheit in der Welt weiß, während erstere den Gegensatz von gut und böse relativiert. Aber dieser Unterschied widerspricht nicht der Tatsache, dass beiden eine Aktivität mit dem Ziel der Weltverbesserung fehlt. Beide verzichten auf den Versuch, die Existenz zu verändern, erstere, weil für sie keine Existenz, sondern nur das Wesen hat,1 das in ihr erscheint, Realität hat, letztere, weil die Existenz durch kein menschliches Handeln, sondern nur durch ein göttliches Wunder veränderbar ist. Darum gilt für die eine Richtung der Philosophie der Existenz die Existenz als schlecht und unveränderbar, während für die andere die Forderung gilt, zu handeln und die schlechte, aber veränderbare Existenz zu verändern. Die erste Richtung wird durch Kierkegaard repräsentiert, die zweite durch Karl Marx. Aber diese Abschweifung ist eine Vorwegnahme des Inhalts späterer Kapitel. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt will ich nur betonen, dass die Wesensphilosophie vor allem in ihrer radikalen Form als Identitätsphilosophie2 den Impuls zum politischen Handeln unterdrückt hat. Außerdem gibt sie die Idee der Geschichte auf, insofern als sie sich von der Idee der Natur unterscheidet. Dazu macht Schelling folgende bezeichnende Aussage: „Die Geschichte ist ein Epos, im 1

2

Gestr.: weil für sie die Existenz keine Realität hat angesichts des Wesens, das in ihr erscheint. Folgt gestr.: takes away history and …

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Geiste Gottes gedichtet; seine zwei Hauptpartien sind: die, welche den Ausgang der Menschheit von ihrem Centro bis zur höchsten Entfernung von ihm darstellt, die andere, welche die Rückkehr. Jene Seite ist gleichsam die Ilias, diese die Odyssee der Geschichte.“1 Der Philosoph, der diese beiden Perioden erkennt, steht in der zweiten Weltperiode, genauer gesagt: am Ende der zweiten Weltperiode, und zwar da, wo die Geschichte sich ihrer selbst bewusst wird. Das Ziel der Geschichte ist prinzipiell erreicht. Eine Idee, die sich auch in Hegels Geschichtsphilosophie findet, wie wir gesehen haben. Aber Schelling betont noch stärker als Hegel, dass es in der Geschichte keinen Fortschritt gibt. Die Identitätsphilosophie, so unterstreicht er, vernichtet alle Zeit und setzt mitten in der Zeit die absolute Ewigkeit. „Nur im Verstand gibt es Fortschritt, in der Vernunft keinen.“2 Um diese Worte zu verstehen, muss man wissen, dass Vernunft und Verstand im Idealismus seit Kant unterschieden werden. Vernunft enthält nach dieser Terminologie ein Element irrationaler Anschauung; Vernunft ist die Fähigkeit, die transzendenten Ideen im Sinne des Platonismus zu schauen. Schelling nennt diese Fähigkeit „intellektuelle Anschauung“ und er behauptet, dass dies das Vermögen der Vernunft ist, während der Verstand die Fähigkeit der Reflexion und Berechnung ist. Nur darin gibt es Fortschritt. Die Idee des Fortschritts ist die Anwendung des Gesetzes der mechanischen Stetigkeit auf die Geschichte. Aber dieser Fortschritt ist kein wahrer Fortschritt; er ist nur das Ersetzen eines Vergänglichen durch ein anderes. Es gibt nur einen wahren Fortschritt, den vom Verstand zur Vernunft, vom Bereich der Reflexion zum Bereich der Intuition.3 Aber dieser Fortschritt ist ein Fortschritt hin zum Verzicht auf Fortschritt. So kann Schelling schreiben: „Das Individuum kann also der Gattung, deren Schicksal in die endlose Zeit ausgedehnt ist, zuvoreilen und das Höchste für sich zum voraus nehmen.“4 Wir brauchen die Geschichte nicht, um zur höchsten Perfektion zu gelangen. Jenseits aller Geschichte kann jeder die Erfüllung seiner Existenz finden. Vielleicht ist dies die wichtigste Konsequenz der Wesensphilosophie. Sie zerstört vollständig den Glauben an den Fortschritt, das Recht der Geschichte, die Pflicht zur Veränderung der 1 2 3 4

SW 1, VI (Philosophie und Religion, 1804), 57. SW 1, VI, 564. Gestr.: zur Mystik SW 1, VI, 563.

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Existenz in Richtung auf ein höheres Ziel. Der Fortschritt gehört zum berechnenden Verstand und erfährt mit ihm dieselbe Abwertung. Die Vernunft steht jenseits des Fortschritts und der Geschichte, sie steht mitten in der Zeit jenseits der Zeit. Sie transzendiert die unendliche Zeit und betrachtet die Ewigkeit in der intellektuellen Anschauung. Die mystische Haltung triumphiert über die praktische Haltung, die intellektuelle Anschauung über die Geschichte.1 Die Identitätsphilosophie eliminiert Politik und Geschichte, wie ich Ihnen gezeigt habe. Sie eliminiert sogar die Ethik. Schelling leugnet jeden Unterschied zwischen Erkennen und Handeln; er nennt diese Unterscheidung eine „falsche […] Abstraktion“.2 Der Mensch handelt unmittelbar durch seine Natur, er kann nicht durch seine eigene freie Entscheidung handeln. Die Meinung, dieses zu können, ist die erste Lüge. Im Gegenteil, nur der kann „ein Mann Gottes“ genannt werden, der in der vollkommenen Einheit von Denken und Handeln steht3, für den es keine Möglichkeit gibt, gegen seine Erkenntnis zu handeln. Die idealen Typen der Menschheit sind die großen Männer, „die im Großen und Ganzen gehandelt haben ohne Bekümmerniß um das Einzelne“.4 Schelling stellt in dieser Konzeption das Ideal des ethischen Genies auf. Genialität ist in erster Linie eine Eigenschaft des schöpferischen Künstlers. Durch die verborgene Identität des Bewussten und Unbewussten im Künstler werden die Werke der Kunst hervorgebracht. Ein Genie schafft halb unbewusst. Er schafft nicht, indem er sich erst um ein genaues Konzept seines Werkes bemüht, das er wiederum aus allgemeineren Konzepten ableitet und das er dann verwirklicht. Sondern er schafft unter der Führung einer dunklen Imagination5, und sein Genius treibt ihn zum vollkommenen Werk. In derselben Weise handelt nach Schelling der moralische Mensch, er handelt nicht in Richtung auf das Gute, 1

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Folgt gestr.: Jetzt will ich die historische Bedeutung dieser Konzeption für die Entwicklung in Deutschland aufzeigen. Die Wesensphilosophie … SW 1, VI, 540: „Das Wesen der Seele ist eines. Es gibt keine Vermögen, die etwa in der Seele ruhten, nicht ein besonderes Erkenntniß- und ein besonderes Willensvermögen, wie die falsche psychologische Abstraktion dichtet, sondern es ist nur Ein Wesen, nur Ein An-sich der Seele, in welchem alles ein und dasselbe ist, was die Abstraktion trennt …“ SW 1, VI, 559: „Diejenigen nennt man Männer Gottes, in denen das Erkennen des Göttlichen unmittelbar zur Handlung wird …“ SW 1, VI, 559. Folgt gestr.: und indem er schafft, verschwindet die Dunkelheit, und er sieht klarer und klarer

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getrieben durch göttliche Gebote oder durch sein Gewissen, sondern er handelt in Richtung auf das Gute, weil er nicht anders handeln kann. Die Wahl zwischen dem Bösen und dem Guten ist Schelling zufolge eine schlechte Freiheit, eine Freiheit, die viele Rückfälle von einer guten zur schlechten Entscheidung nicht verhindern kann. Solange ich frei bin, das Gute oder das Böse zu tun, bin ich von Gott, d. h. von der absoluten Identität getrennt. Moralische Freiheit ist Trennung. Das ethische Genie ist weder frei noch unfrei. Es steht jenseits dieses Gegensatzes. Es handelt ohne inneren Kampf, ohne Erwägung und ohne den Gebrauch seines Willens. Er handelt wie ein Künstler schafft in dieser göttlichen Identität von Bewusstsein und Unbewusstsein. Er handelt in der Sphäre des Wesens. Die Gegensätze der Existenz liegen unterhalb von ihm. Die Idee des ethischen Genies ist ein Angriff auf die Sphäre des Moralischen allgemein. Wie so oft in der Geschichte zerstört die mystische Haltung die ethische Haltung. Die Wesensphilosophie zieht den Menschen aus der Sphäre der Existenz einschließlich der Geschichte, der Politik und der Ethik. Statt den Versuch zu unternehmen, die Existenz zu korrigieren und zu vervollkommnen, transzendiert der Mensch die Existenz und sucht die Vollkommenheit des Wesens. Die Folgen dieser Handlung und der entsprechenden Philosophie in der deutschen Geschichte sind groß. Wir können dies für die Bereiche zeigen, von denen wir gesprochen haben. Durch die Transzendierung der wirklichen Freiheit des Menschen zugunsten einer wesentlichen und mit der Notwendigkeit identischen Freiheit hat diese Philosophie den Willen zur politischen Freiheit, d. h. zur existentiellen Freiheit gebrochen. Nahezu alle Philosophen des deutschen Idealismus waren, wie ich gezeigt habe, durch die französische Revolution stark beeinflusst. Doch hat keiner von ihnen an dem Kampf für die politische Freiheit gegen den absoluten Staat teilgenommen. Die Freiheit der Existenz, d. h. die persönliche und politische Freiheit, wurde nicht benötigt, weil wahre Freiheit transzendente, wesentliche Freiheit ist. Auf diese Weise haben die Philosophen1 die reaktionären Kräfte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterstützt, obwohl die deutsche Philosophie anfangs den absoluten Staat und den Mangel an Freiheit in ihm in Frage stellte. Die Leichtigkeit, mit der die Deutschen von heute alle persönlichen Freiheiten zugunsten des totalitären Staates aufgegeben haben, eine 1

Folgt gestr.: Hegel nicht weniger als Schelling

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Tatsache, die allen ausländischen Beobachtern auffällt, hat zu einem gewissen Grade ihre Wurzeln in der Haltung, die in der Wesensphilosophie zum Ausdruck kommt. Denn diese Philosophie war, wenn auch in popularisierter Form, die Basis der gesamten höheren Bildung in Deutschland. Auch die kirchliche Erziehung stimmte mit dieser Haltung überein. Die Auffassung, dass die Freiheit nicht etwas Äußeres, sondern ein Inneres sei, dass sie zum Wesen gehört und nicht zur Existenz, war ein unbewusstes Element unseres gesamten Denkens geworden. Auch wenn zuzugeben ist, dass die lutherische Tradition in dieser Richtung länger und tiefer gewirkt hat als jede Philosophie, können wir doch den Einfluss der Philosophie im letzten Jahrhundert nicht unterschätzen. 7. Die Wirkung der Wesensphilosophie auf das Verständnis der Geschichte im 19. Jahrhundert ist also offensichtlich. In der Wesensphilosophie gründet auch der sog. Historismus1 der bürgerlichen Kultur. Der Historismus ist eine Art der Geschichtsbetrachtung, in der Geschichte nur eine Sache der Vergangenheit ist. Die Historiker dieser Periode teilten nicht den Glauben Hegels, dass die Geschichte im Prinzip an ihr Ende gekommen sei, aber sie hatten kein Interesse an der Gegenwart und an der Zukunft. Ihre geschichtliche Weltanschauung hatte nur eine theoretische Bedeutung und nur wissenschaftliche Ziele. Die Intention ihrer Forschungen war es, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen“ ist.2 Diese Haltung mag erfolgreich sein in der Erforschung historischer Tatsachen, aber sie verhindert jegliche radikale Aktivität im Blick auf die Zukunft. Die bürgerliche Gesellschaft verherrlicht sich selbst, indem sie zeigt, wie sie allen Widerstand gegen sich überwunden und eine Periode der Freiheit und der Humanität geschaffen hat. Die Gegensätze der Existenz sind verschwunden.3 Das Ideal menschlichen Lebens war im Prinzip erreicht, es war lediglich in die Wirklichkeit umzusetzen. Und das soll durch einen

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Ms.: historicism Vgl. Leopold von Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Vorrede („Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.“) Folgt gestr.: Ein wesentlicher menschlicher Standard ist erreicht.

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allmählichen Fortschritt1 geschehen. Wesentliche Veränderungen sind weder erwünscht noch zu erwarten. Diese Haltung ist Historismus, einfach weil es im Blick auf die Gegenwart und die Zukunft kein gechichtliches Bewusstsein hat. Darum war die historisch gebildete bürgerliche Klasse auf die Angriffe radikaler Gruppen nicht vorbereitet, die, obwohl sie von der Vergangenheit nicht viel wussten, ein ekstatisches Bewusstsein hatten vom Niedergang der Gegenwart und einem radikal neuen Zeitalter der Menschheit in der Zukunft. Der Historismus ist eine der wichtigsten Konsequenzen der Wesensphilosophie, weil er den menschlichen Geist unfähig macht, sich mit der gegenwärtigen Geschichte aktiv auseinanderzusetzen. Eine dritte Wirkung der Wesensphilosophie ist die moralische Haltung, die sich aus der Idee des ethischen Genies ergibt:2 nämlich scharfe Proteste gegen die bürgerliche Moral und deren unterstellte Scheinheiligkeit, Opposition gegen Gesetze, die zur Unterdrückung individueller Freiheiten geschaffen waren, Behauptung des Rechts eines jeden Menschen, seine eigene Natur ungehindert durch allgemeine Vorschriften zu verwirklichen. Wenn der Mensch in der Lage ist, seinem Wesen nach in Selbstbestimmung zu leben,3 braucht er keine Vorschriften von außen. Die Existenz ist dem Gesetz unterworfen. Das Wesen aber handelt ohne ein Gesetz, allein durch sich selbst bestimmt. Viele Tatsachen moralischer Zerrüttung sind auf solche Tendenzen zurückzuführen, für die die Wesensphilosophie die Theorie geliefert hat und mit dieser Theorie ein gutes Gewissen. 8. Schellings Angriff auf die Wesensphilosophie beginnt mit einer Philosophie der Freiheit. Sein berühmtes Buch trägt den Titel „Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“. Seine Theorie der Freiheit entwickelt er in drei Schritten. Der erste Schritt ist Spinozas Theorie: Freiheit ist das Vermögen zu handeln, allein bestimmt durch die eigene Natur und nicht durch fremde, äußere Dinge. Gott handelt auf diese Weise; alle Dinge und Ereignisse gehen aus ihm mit derselben unbedingten Notwendigkeit hervor, wie geometrische Regeln aus ihren Voraussetzungen resultie1 2 3

Ms.: by slow progress Folgt gestr.: Wir finden diese Haltung in weiten Kreisen der Oberschicht. Ms.: If man is able to live essentially by himself

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ren. Diese Notwendigkeit ist die Notwendigkeit des Wesens, und sie ist gleichzeitig Freiheit, weil es keinen Zwang von außen gibt. Die Dinge und die Menschen sind frei, insofern sie in Übereinstimmung mit ihrer eigenen wahren Natur sind. Schelling wendet gegen diese Auffassung von Freiheit ein, dass sie nur das Wort Freiheit benutzt, aber die Freiheit selbst verliert; denn die Freiheit ist in der mechanischen Notwendigkeit untergegangen. Die Wesensphilosophie kann die Idee der Freiheit nicht aufrecht erhalten.1 Der zweite Schritt ist der Idealismus Fichtes, Hegels und Schellings selbst. Der Idealismus erfasst Gott nicht mittels mechanistischer Notwendigkeit, er beseitigt jeden Mechanismus in der Welt und schafft eine neue Idee der Freiheit der Dinge. Schelling beschreibt diese neue Konzeption wie folgt: „Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein, und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben. Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.“2 Schelling räumt ein, dass der Idealismus, indem er die Freiheit zum Prinzip alles Seienden machte, die Frage der Freiheit3 auf eine höhere Ebene gehoben hat. Jetzt sind die Dinge nicht Dinge, insofern sie durch andere Dinge bedingt sind. Jedes Ding hat eine direkte Beziehung zum Unbedingten, das reine Freiheit ist.4 In jedem Ding ist Freiheit wirksam. Aber Schelling selbst begrenzt die Bedeutung dieser Freiheitsidee. Er zeigt, dass diese Freiheit die Freiheit des Wesens ist, die allem Seienden zukommt, dass sie aber nicht die Freiheit in der Existenz ist; denn diese gehört nur zum Menschen. Diese Kritik des höchsten Typus der Philosophie der wesentlichen Freiheit, die er selbst vertreten hatte, führt ihn zu einer dritten Stufe seiner Freiheitsphilosophie. Im Blick auf diese Stufe formuliert er: „Der reale und lebendige Begriff [der Freiheit] aber ist, dass sie das Vermögen des Guten und Bösen sei. Dieses ist der Punkt der tiefsten Schwierigkeit in der ganzen Lehre von der Freiheit […]“5

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Ms.: Philosophy of essence cannot keep [gestr.: must miss] the idea of freedom. SW 1,VII, 350. Ms.: the question of freedom Ms.: Everything has a direct relation to the Unconditioned, which is pure freedom (gestr.: which is nothing than freedom). SW 1,VII, 352.

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Ich wiederhole die Gedankenfolge Schellings und fasse die drei Schritte seiner Argumentation zusammen: Erstens: Freiheit ist die Notwendigkeit der eigenen Natur. Zweitens: Freiheit ist das allgemeine Wesen alles Seienden. Drittens: Freiheit ist die Macht des Menschen1, im Widerspruch zu seinem eigenen Wesen zu handeln. Schelling fasst die erste und die zweite Stufe als eine Einheit, insofern als sie die Freiheit des Wesens betonen. Realismus und Idealismus, so betont er, sind unfähig, das Problem der Freiheit in der Existenz, der Freiheit des Menschen, Böses zu tun, zu lösen. Freiheit wird nur in einer Philosophie gesehen, die die menschliche Freiheit so beschreibt, dass die Möglichkeit des Übergangs vom Wesen zur Existenz erkennbar2 wird. Das Ziel seiner Untersuchung besteht darin, eine solche Beschreibung der menschlichen Natur zu liefern. Zu diesem Zweck versucht er, den Gottesgedanken neu auszulegen3, indem er die Spaltung im Wesen des Menschen auf eine höhere Spaltung zurückführt ist, auf eine Spaltung in Gott. Er nimmt an, dass es eine solche Spaltung in Gott gibt, wenn es wahr ist, dass der Wille der letzte Grund der Dinge ist. Denn der Wille kann nicht vorgestellt werden ohne einen lebendigen Gegensatz in ihm selbst. Ein Wille, der mit sich selbst völlig eins ist, der nichts hat, das er jenseits seiner selbst erstrebt, ist ein stiller, nur potentieller Wille. Der Wille aber ist konkret4 und lebendig nur, wenn er etwas will, was er nicht hat und was er benötigt. Aber was kann die Not des absoluten Willens sein, außerhalb dessen nichts als existierend gedacht werden kann? Dem absoluten Willen kann nichts mangeln, weil er selbst alles umfasst. Darum kann nur dieses gedacht werden, dass der absolute Wille sich selbst als lebendigen Willen wünscht. Aber es gibt kein Leben ohne Gegensätze. Es gibt keinen lebendigen Willen ohne den Widerspruch gegen den Willen und, da ein Widerspruch gegen den absoluten Willen nicht gedacht werden kann, muss der absolute Wille selbst den Widerspruch gegen sich erregen. So haben wir als Grund der Existenz den absoluten Willen, der lebendig ist, weil er in sich selbst einen Gegensatz hat. Der Wille ist nur dann wirklich, wenn er die Möglichkeit hat, gleichzeitig er selbst und nicht er selbst zu sein. 1 2 3 4

Gestr.: die menschliche Möglichkeit Ms.: becomes apparent Ms.: In order to do so, he tries to explain a new idea of God. Ms.: actual

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Der Wille kann sich selbst widersprechen, obwohl er Wille bleibt. Jetzt habe ich Ihnen einen Mythos erzählt. Schelling selbst erzählt Mythen, wenn er die Möglichkeit des Wesens beschreibt, Existenz zu werden. Anders können diese Probleme nicht behandelt werden. Wir können über das Wesen wissenschaftlich1, über die Existenz geschichtlich reden. Aber über den Übergang vom Wesen in die Existenz können wir nur mythisch reden. Wir können uns die Wahrheit dieser Aussage in allen großen Philosophien illustrieren lassen. Es gibt immer einen Punkt, an welchem ihre Sprache mythisch wird. Es ist immer derselbe Punkt, wenn auch in vielen Abwandlungen: der Übergang von der Sphäre des Wesens zur Sphäre der Existenz und umgekehrt. Plato erzählt uns den berühmten Mythos vom Fall und der Rückkehr der menschlichen Seelen. (Exkurs!) Selbst Aristoteles spricht von der Bewegung aller Dinge durch ihren Eros, die Liebe, der sie in Richtung auf die reine Form oder das Wesen zieht (Exkurs!). Der Neuplatonismus nennt den Übergang vom Wesen zur Existenz Emanation. Spinoza spricht von der intellektuellen Liebe, mit der Gott durch alle Dinge hindurch sich selbst liebt. Kant spricht wie Plato von einem transzendenten Fall der menschlichen Vernunft, Hegel von einem Aus-sich-Herausgehen2, durch das der absolute Geist sich selbst aufgibt3 und Natur wird. Alle diese Begriffe haben einen mythischen Charakter, d. h. sie übertragen Dinge oder Ereignisse in Zeit und Raum auf die Sphäre jenseits von Zeit und Raum. Das ist unvermeidlich, weil die menschliche Sprache4 begrenzt ist durch die konkrete Welt und deren Inhalte. Gleichwohl sind solche Mythen nicht willkürlich. Echte Mythen haben nie eine willkürliche Genesis, sie entstehen aus einer realen Situation des Menschen im Blick auf seine Existenz. Sie haben wie die großen Kunstwerke eine Notwendigkeit in sich selbst, d. h. sie vermitteln uns den Eindruck, dass ihre wahre Natur ihnen verwehrt hat, auf eine andere Weise zu erscheinen. Ein Beweis dafür ist die ungeheure Bedeutung dieser philosophischen Mythen für die geistige und politische Geschichte. Der Begriff des Willens als Prinzip aller Dinge hat seinen Ursprung bei Augustinus in der Interpretation durch den größten Philosophen des Mittelalters, Duns Scotus. Er 1 2 3 4

Gestr.: logisch Ms.: dismission Ms.: dismisses Folgt gestr.: und der menschliche Geist

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war wirksam bei der Auflösung der Vernunftkultur des Mittelalters. Er hat Luthers Gottesvorstellung geprägt. Er hat, nachdem er von Schelling wiederentdeckt worden war, die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts stark beeinflusst. Die Bedeutung einer Philosophie beruht nicht auf ihrer logischen Richtigkeit, sondern auf ihrer Fähigkeit, eine kraftvolle mythische Imagination mit logischer Richtigkeit und tiefer und breiter Erfahrung zu verbinden. Es gibt keine bedeutende Philosophie ohne einen mythischen Hintergrund. Selbst der Empirismus ist in seinen großen Richtungen mit dem Mythos des Fortschritts und vielen anderen mythischen Elementen verbunden. Schellings Mythos des absoluten Willens, der sich selbst in sich selbst widerspricht,1 ermöglicht es ihm, ein Bild des Übergangs vom Wesen zur Existenz zu geben. Aber dieses Bild ist irrational. Hier erhebt sich die fundamentale Konzeption des Irrationalismus in der modernen Philosophie. Denn dieser ist offensichtlich. Es gibt keinen Grund für diesen Übergang. Es gibt keine Möglichkeit, den Widerspruch aus der Identität abzuleiten. Der Wille ist das irrationale Prinzip allgemein; darum wird die Aussage Hegels, dass das Wesen erscheinen muss, angegriffen. Das Wesen muss nicht erscheinen, aber es hat die Möglichkeit, zu erscheinen, weil es Wille ist. Und der Wille kann seine absolute Identität mit sich selbst aufgeben, er kann sich selbst widersprechen, ohne sich zu verlieren. Aber er muss sich nicht aufgeben. Andernfalls wäre er nicht reiner Wille. Denn ein gezwungener Wille ist kein Wille. Alle Dinge können gezwungen werden. Der Mensch kann gezwungen werden, aber nicht der reine Wille. Seine Entscheidung ist irrational. Darum ist eine Philosophie des Willens immer Irrationalismus. Aber man könnte nun fragen: Warum erzählt Schelling einen Mythos des Willens, wenn er den irrationalen Grund der Welt beschreiben will? Ist der Wille nicht ein rationales Prinzip, insofern er sich auf ein Ziel richtet, was ohne Verstand nicht möglich ist? Schelling gibt darauf folgende Antwort: Die Dinge haben ihren Grund in dem, was zwar in Gott, aber nicht Gott selbst ist.2 Wenn wir versuchen, dieses Element in Gott zu verstehen, können wir es die heiße Begierde des absoluten Wesens nennen, Existenz zu werden, sozusagen sich selbst zu gebären — diese heiße Begierde 1 2

Folgt gestr.: um lebendig zu sein Ms.: What though in God is not God himself.

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können wir auch Willen nennen, „aber Wille, in dem kein Verstand ist, und darum auch nicht selbständiger und vollkommener Wille, indem der Verstand eigentlich der Wille in dem Willen ist. Dennoch ist sie ein Willen des Verstandes, nämlich Sehnsucht und Begierde desselben, nicht ein bewusster, sondern ein ahnender Wille […]“1 usw. Mit diesen Worten antizipiert Schelling Schopenhauer und wichtige Einsichten der modernen Psychologie und sogar der modernen Lebensphilosophie. Nietzsches Wille zur Macht darf nicht als bewusster Wille interpretiert werden, im Gegenteil, Wille zur Macht ist genau wie Schellings Auffassung des Willens die unbewusste Spannung oder Begierde. Der Ausdruck „Wille zur Macht“ ist weniger mystisch als bei Schelling, weil Nietzsches Begriff naturalistischer ist, aber die Idee ist dieselbe. Schellings frühere Beschreibung des Absoluten2 unterscheidet zwei Prinzipien, das eine ist der unbewusste3 Wille oder die heiße Begierde, existent zu werden, das andere ist das Licht, die Sphäre der Ideen oder der Wesen. Aber diese beiden sind im Absoluten identisch; ihre Differenzierung ist der Übergang vom Wesen zur Existenz. Diese beiden Elemente sind, so Schelling, in allen Dingen zu finden: das dunkle Element, welches der Grund4 dafür ist, dass die Dinge von einander getrennt sind, dass jedes Ding ein Ding für sich selbst ist, sich selbst liebt und das die Macht ist, zu sein und seine eigene Existenz zu behaupten, und das zweite, das Lichtelement, das Prinzip des Verstandes, der allgemeine rationale Charakter aller Dinge, den sie mit allen anderen Dingen gemeinsam haben, das Prinzip des Wesens. Diese beiden Elemente sind5 geeint in der absoluten Identität, sie werden getrennt durch die irrationale Bewegung des ersten Prinzips, in seiner6 Begierde und Spannung. Und dann, so erzählt Schelling seinen Mythos weiter, entsteht eine neue Einheit der beiden Prinzipien, nämlich im Menschen: „Im Menschen ist die ganze Macht des finstern Prinzips und in eben demselben zugleich die ganze Kraft des Lichts. In ihm ist der tiefste

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SW 1, VII, 359. Gestr.: Gottes Gestr.: dunkle Gestr.: die Ursache Folgt gestr.: identisch und Gestr.: durch seine

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Abgrund und der höchste Himmel […].“1 Schelling nennt diese Einheit „Geist“.2 Zu diesem Zeitpunkt entsteht in der deutschen Philosophie eine neue, überraschende Auffassung des Geistes. Hegels Auffassung des Geistes ist eng verknüpft mit seiner Interpretation des Wesens und des Begriffs. Geist ist der lebendige Begriff, die Einheit3, in der die Dinge ihre Vollendung erreichen. Diese Auffassung des Geistes hat zur Entstehung des Gefühls geführt, daß der Geist eine Sache des reinen Verstandes ist. Schelling versucht, diese Auffassung des Geistes zu überwinden.4 Der lebendige Begriff, der das Wesen der Dinge ergreift, soll nicht Geist genannt werden. Es ist die Vernunft, nicht der Geist. Geist umfasst ein Element der Dunkelheit, der irrationalen Spannung, der unbewussten Begierde. Und entsprechend dieser neuen Auffassung verbindet Schelling die Freiheit mit dem Geist. Der Mensch ist frei, weil er Geist hat; denn im Geist sind diese beiden Prinzipien mit einander verbunden, die die Prinzipien im Allgemeinen sind und die durch den philosophischen Mythos zugleich als als in Gott behauptet werden. Und die Einheit dieser Prinzipien schließt die Möglichkeit ihrer Trennung ein. Diese Möglichkeit ist die menschliche Freiheit, die Freiheit des Guten und Bösen. Es gibt bei Schelling Aussagen über den Charakter des Geistes, die die wichtigsten Gedanken Kierkegaards und Heideggers vorwegnehmen. Schelling betont als erstes, dass der Geist mehr ist als Vernunft.5 Geist ist gleichzeitig „Selbstheit“, ein Wort, das Kierkegaard in seiner Philosophie der Existenz häufig verwendet.6 Das mit der Vernunft geeinte Selbst ist Geist, aber weil das Selbst Geist ist, ist es frei von der Vernunft, kann es in Einheit bleiben mit der Vernunft und es kann die Einheit auflösen und versuchen, Geist für sich selbst zu sein, getrennt von der Vernunft und vom Wesen. Diese Möglichkeit ist die Möglichkeit der Sünde; und allein die Möglichkeit der Sünde ist wahre Freiheit. Schelling betont darum, dass die Sünde nicht ein Mangel des Guten ist, sondern der Widerspruch, der sich gegen das Gute richtet. Sünde ist geistiger Widerspruch. Unser geistiges Selbst, 1 2 3 4 5 6

SW 1, VII, 363. Ebd. – Ms.: This unity Schelling calls Geist or spirit. Folgt gestr.: des Selbstbewusstseins Ms.: overthrow [gestr.: superate] Gestr.: rationales Vermögen Folgt gestr.: Geist ist die Einheit von Selbst und Vernunft. Das Selbst des Menschen ist

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das nur in der Einheit mit der Vernunft vollkommen ist, gibt seine Vollkommenheit auf, um ein Selbst für sich selbst zu werden. Nicht unser sinnlicher Charakter erzeugt die Sünde, sondern unser geistiger Charakter, der einerseits unseren rationalen Charakter, andererseits die Fähigkeit einschließt, der in uns wohnenden Vernunft zu widersprechen.1 Schellings neue Auffassung des Geistes hat einige interessante Konsequenzen. Schelling protestiert gegen Kants und Hegels Art, in Dualismen zu denken, z. B. endlich und unendlich, Form und Materie, Geist und Natur usw. Die Existenz hat für Schelling demgegenüber Triaden, z. B. Natur, Geist, Sünde oder Sein, Nichtsein, Nichtsein, das zu sein versucht oder Wahrheit, Irrtum, bewusste Unwahrheit; so allgemein: Behauptung, Verneinung, Gegenbehauptung. Eine Lüge ist nicht Mangel an Wahrheit, sie ist Verzerrung der Wahrheit. Sünde ist nicht Mangel des Guten, sie ist Verzerrung des Guten, weil sie Geist ist. Irrtum ist nicht Mangel an Geist, er ist verzerrter Geist. Wenn wir nun feststellen, dass Existenz verbunden ist mit Sünde, Irrtum und bewusster Unwahrheit, können wir nicht länger behaupten, dass das Wesen in der Existenz vollständig erscheint. Im Gegenteil, die Existenz hat ihren eigenen geistigen Charakter, der gegen das Wesen gerichtet ist. Der Übergang vom Wesen zur Existenz hat nicht die Form der Notwendigkeit, er ist nicht wesentlich, er ist sozusagen gegen-wesentlich. Existenz ist eine Sphäre, in der das Wesen verzerrt ist. So kann die Philosophie des Wesens die Existenz nicht erreichen. Die Existenz benötigt ihre eigene Philosophie.2 1

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Ms.: There are statements in Schelling about the character of spirit, which anticipate the most important ideas of Kierkegaard and Heidegger. Schelling stresses firstly that spirit is more than reason. Spirit is at the same time „Selbstheit“, „selfhood“, the word which Kierkegaard uses very often in his philosophy of existence. The self united with reason is spirit, but because the self is spirit it is free from reason, it can remain in union with reason and it can dissolve the union and attempt to be spirit for itself, separated from reason and essence. This possibility is the possibility of sin; and only the possibility of sin is true freedom. Therefore Schelling emphasizes, that sin is not lack of good, but contradiction directed against the good, sin is spiritual contradiction. Our spiritual self, which is perfect only in union with reason, resigns its perfection in order to become a self for itself; not our sensual character creates sin but our spiritual character, which includes on the one hand our rational character, on the other hand the faculty to contradict the reason which is inherent in us. Ms.: And now if we confess that the existence is connected with sin and error and deliberate falsehood, we cannot remain in asserting, that essence entirely appears in existence; on the contrary existence has its own spiritual

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Obwohl Schelling jede Möglichkeit einer Ableitung der Sünde mittels rationaler Methoden ablehnt, versucht er, die Situation zu analysieren, in der der Mensch zum Sünder wird. So entwirft er eine Art Psychologie der Versuchung. Er vergleicht die menschliche Situation mit der Situation eines Menschen auf dem Gipfel eines Berges, der vom Schwindel erfasst wird und herabstürzt, weil er Angst hat vor dem Herabstürzen.1 Mit dieser Erklärung nimmt er eines des Hauptthemen der späteren Philosophie der Existenz vorweg. „Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Zentrum, in das er erschaffen worden.“2 Dieses Zentrum ist die Einheit von Selbst und Vernunft und somit der geistige Charakter der menschlichen Existenz. Die Angst des Lebens ist das Thema der modernen Philosophie der Existenz. Kierkegaard und Heidegger haben sie ausführlich beschrieben. Schelling selbst übernimmt es aus der mystischen Naturphilosophie Jakob Böhmes, des sogenannten philosophus teutonicus (Exkurs über Jakob Böhme). Schelling gibt so alte mystische Vorstellungen an die moderne Philosophie der Existenz weiter. Schelling hat seit dem Beginn seiner zweiten Periode und viele Jahre danach weitere zentrale Themen der Philosophie der Existenz behandelt. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen, zuerst seine neuen anthropologischen Ideen. Schelling unterscheidet drei Schichten, die die innere Existenz des Menschen bestimmen: Gemüt, Geist, Seele. Die erste, Gemüt, kann nicht [ins Englische] übersetzt werden. Aber mir scheint, dass „feeling“ im Englischen das nächste Äquivalent ist. Die zweite, Geist, kann mit „spirit“ übersetzt werden, aber in einem Sinn, der Wille und Verstand mit umfasst. Die dritte und oberste ist Seele, soul, nicht im allgemeinen Sinne der Psychologie, sondern im speziellen Sinne von „seelenvoll“3, d. h.4 eine Einheit von Gefühl und Intuition. Soweit die Übersetzung der Wörter. Damit sind aber die Ideen noch nicht erklärt. In diesem Falle ist es aber wichtig, sich mit

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character, which is directed against essence. The transition from essence to existence does not have the form of necessity; it is not essential; it is so to speak contra-essential. Existence is a sphere, in which essence is distorted. Thus the philosophy of essence is not able to approach [gestr.: touch the] existence. Existence needs its own philosophy. SW 1, VII, 381. Ebd. Ms.: soulful Folgt gestr.: eine höhere Stufe des Gefühls

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den Wörtern zu beschäftigen, da dies zeigt, wie direkt die Philosophie der Existenz in der lutherischen Mystik verwurzelt ist. Ich übersetze später Schellings kurze Beschreibung der ersten Schicht, die die innere Existenz des Menschen bestimmt, das Gemüt oder wie ich übersetzt habe: the feeling. Er schreibt: „Das Gemüth ist das dunkle Princip des Geistes1 […], wodurch er von der realen Seite in Rapport mit der Natur, auf der idealen in Rapport mit der höheren Welt, aber nur in dunkelm Rapport steht. Das Dunkelste und darum Tiefste der menschlichen Natur ist die Sehnsucht, gleichsam die innere Schwerkraft des Gemüths, daher in ihrer tiefsten Erscheinung Schwermuth.2 Hierdurch besonders ist die Sympathie der Menschen mit der Natur vermittelt. Auch das Tiefste der Natur ist Schwermuth; auch sie trauert um ein verlorenes Gut, und auch allem Leben hängt eine unzerstörliche Melancholie an, weil es etwas von sich Unabhängiges3 unter sich hat.“4 Dieses Zitat enthält einige wichtige mystische Termini, und der Klang der Worte selbst hat einen mystischen Charakter. Aber gleichzeitig stimmt es mit der Psychologie überein, der poetischen wie auch der wissenschaftlichen. Der wichtigste Terminus in diesem Zitat ist „Schwermut“. Mit ihm beschreibt Kierkegaard seine eigene innere Situation. Die Lebensphilosophie basiert auf einer sehr ähnlichen Betrachtung der Natur; und ich selbst habe vor einigen Jahren versucht, eine Schöpfungslehre zu formulieren, in der die Situation der gesamten Schöpfung mit den Termini Mut und Schwermut beschrieben wird.5 Alle diese Termini – Sehnsucht, Melancholie, Mut, Schwermut des menschlichen Geistes – gehören zu einer Philosophie der Existenz, weil sie die menschliche Situation außerhalb des Wesens oder den Verlust des Wesens ausdrücken. Ein anderes Element in der ersten Schicht der menschlichen Existenz wird von Schelling „Begierde“ genannt, ™piqum…a im Griechischen, concupiscentia im kirchlichen Latein, Libido in der modernen Psychologie, cupidity vielleicht im Englischen. Sie gehört zur Sphäre des Gemüts, hat aber einen Charakter, der auf den Geist bezogen ist. Lassen Sie mich wieder eine Aussage zitieren, die einen 1 2 3 4 5

Tillich übersetzt: of human inner existence Tillich ergänzt: That is sadness and melancholy. Tillich übersetzt: abyss SW 1, VII, 465f. (Stuttgarter Privatvorlesungen, 1819). Gemeint ist Tillichs in Dresden (und Leipzig) gehaltene Dogmatik-Vorlesung, vgl. P. Tillich, Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925-1927) (EW XIV),128134.

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sehr modernen Gedanken enthält: „Das tiefste Wesen des Geistes ist daher Sucht, Begierde, Lust. Wer den Begriff des Geistes in seiner tiefsten Wurzel fassen will, muß besonders sich mit dem Wesen der Begierde recht bekannt machen […]. Die Begierde ist etwas Unauslöschliches […]. Sie ist ein Hunger nach dem Seyn, und jede Befriedigung gibt ihm nur neue Kraft, d. h. noch heftigeren Hunger. Da kann man das Unauslöschliche des Geistes erst recht sehen.“1 Ein sehr seltsamer Gedanke! Gewöhnlich kontrastieren wir Geist und Begierde. Schelling zeigt die tiefe Einheit beider, er nimmt damit nicht nur Kierkegaards Analyse der Verzweiflung vorweg, sondern auch Freuds These, dass der Geist transformierte und sublimierte Libido ist. Sie sehen, durch all diese Einsichten verliert der Begriff des Geistes seinen Unschuldscharakter und wird eine dämonische Macht, die die Existenz in ihrem Gegensatz zum Wesen bezeugt. – Schelling betont diese Auffassung des Geistes in seinen Aussagen über den Geist selbst. Er verweist auf zwei Elemente des Geistes, ein allgemeines, den Verstand, und ein individuelles Element, von ihm Eigenwille oder Egoismus genannt. Zwischen ihnen liegt der freie Wille, das Zentrum der inneren Existenz des Menschen. Aber folgende Punkte seiner Ausführungen sind am interessantesten. Erstens die Aussage über den Eigenwillen als ein Element des Geistes. „Der Eigenwille muss seyn. Er ist nicht an sich selbst das Böse, sondern nur dann, wenn er herrschend wird. Tugend ohne allen aktiven Eigenwillen ist verdienstlose Tugend. Daher man sagen kann, dass das Gute selber das Böse in sich schließe. Ein Gutes, wenn es nicht ein überwundenes Böses in sich hat, ist kein reelles lebendiges Gutes.“2 Schelling betont den Gedanken, dass Geist ohne Egoismus oder Eigenwillen leer ist. Die Macht einer geistigen Arbeit in der Philosophie oder Wissenschaft, in der Kunst, Politik, Ethik hängt von der ihr innewohnenden Macht des Eigenwillens ab. Wir begegnen hier einem der revolutionärsten Gedanken Friedrich Nietzsches, dem Verhältnis zwischen Geist und Leben, der Auffassung, dass der Geist selbst Leben ist und nicht nur Vernunft (Exkurs über die politischen Konsequenzen dieser Auffassung für die Philosophie der Tat, der Gewalt, des Blutes.) Schelling selbst ist klassisch genug, einen solchen Missbrauch der neuen Auffassung des Geistes zu vermeiden. Im Gegenteil, er betont, dass der Geist nicht das Höchste in der menschlichen Existenz sein 1 2

SW 1, VII, 466. SW 1, VII, 467.

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kann. Er schreibt: „Es ist zwar die gewöhnliche Meinung, daß der Geist das Höchste im Menschen sey. Allein dass er es durchaus nicht seyn kann, folgt daraus, daß er der Krankheit, des Irrthums, der Sünde oder des Bösen fähig ist. Da Krankheit, Irrthum und Böses immer aus der Erektion eines relativ Nichtseyenden über ein Seyendes entsteht, so muß auch der menschliche Geist wieder ein relativ Nichtseyendes in Bezug auf ein Höheres seyn. Wäre dieß nicht, so wäre in der That kein Unterschied zwischen Wahrheit und Irrthum. Dann hätte gewissermaßen jeder und keiner Recht, wenn es nicht wieder eine höhere Instanz über dem Geiste gäbe. Denn der Geist kann nicht der höchste Richter seyn. […] Auch der Irrthum […] ist nicht Mangel an Geist, sondern verkehrter Geist. Daher der Irrthum höchst geistreich, und doch Irrthum sein kann. – […] Das Böse kommt auch nicht aus dem Leib […]. Nicht der Geist wird vom Leib, sondern umgekehrt der Leib von Geist inficirt. Das Böse ist in gewissem Betracht das reinste Geistige, denn es führt den heftigsten Krieg gegen alles Seyn, ja es möchte den Grund der Schöpfung aufheben. Wer mit den Mysterien des Bösen nur einigermaßen bekannt ist […], der weiß, dass die höchste Corruption gerade auch die geistigste ist […] und dass der dämonisch-teuflische Böse dem Genuß weit entfremdeter ist als der Gute. Wenn also Irrthum und Bosheit beides geistig ist und aus dem Geiste stammt, so kann er unmöglich das Höchste seyn.“1 Alle diese Sätze verraten eine tiefe Einsicht in die menschliche Existenz, aber sie glorifizieren die Existenz nicht, wie einige Schüler Schellings es im Blick auf diese Ideen getan haben. Sie sind in einem religiösen und psychologischen Sinn des Wortes realistisch. Auch die weiteren Ausführungen über die dritte Macht der inneren Existenz des Menschen, die Seele, bestätigen diesen neuen Realismus, der mit Schellings Übergang zu einer Philosophie der Existenz verbunden ist. Die Seele ist die unpersönliche Macht im Menschen. Schelling schreibt: „Der Geist weiß, aber die Seele weiß nicht, sondern sie ist die Wissenschaft. Der Geist […] kann nur gut seyn, d. h. Theil haben an der Güte, die Seele aber ist nicht gut, sondern ist die Güte selbst […]. [D]ie Seele ist das, wodurch der Mensch in Rapport mit Gott ist, und ohne diesen Rapport mit Gott kann die Creatur, der Mensch aber insbesondere, keinen Augenblick existiren. Sowie daher die Leitung unterbrochen ist, ist Krankheit da […].“2 Und nun bie1 2

SW 1, VII, 467f. SW 1, VII, 469.

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tet Schelling eine Philosophie der Krankheit, die von Bedeutung ist vor allem für die Methode der Philosophie der Existenz. Schelling führt aus: „Die Basis des Verstandes selbst also ist der Wahnsinn. Daher der Wahnsinn ein nothwendiges Element, das aber nur nicht zum Vorschein kommen, nur nicht aktualisirt werden soll. Was wir Verstand nennen, wenn es wirklicher, lebendiger, aktiver Verstand ist, ist eigentlich nichts als geregelter Wahnsinn […]. Die Menschen, die keinen Wahnsinn in sich haben, sind die Menschen von leerem, unfruchtbarem Verstand. […] Daher der göttliche Wahnsinn, von dem […] die Dichter sprechen […]. Allein es gibt Fälle, wo auch der Verstand den in der Tiefe unseres Wesens schlummernden Wahnsinn nicht mehr bewältigen kann. […] In diesem Falle also […] tritt der Wahnsinn hervor […].“1 Der Gedanke, dass der Wahnsinn die Basis des menschlichen Verstandes ist, ist von der Idee eines irrationalen widersprüchlichen Prinzips auf dem Grunde der Existenz im Allgemeinen abgeleitet worden. Die menschliche Existenz wird durch dieselben Prinzipien bestimmt wie die Existenz im Allgemeinen. Durch die Erkenntnis des Prinzips in uns haben wir einen Zugang zu den Prinzipien der Welt. In der menschlichen Existenz sind alle Prinzipien der Existenz zusammengefasst. Darum erschließt unsere innere Existenz, die sich unserem Fragen erschließt, gleichzeitig auch die Existenz der Welt. Diese Methode ist von der modernen Philosophie der Existenz erneuert worden; sie ist abgeleitet von der mystischen Idee, dass die Wahrheit im inneren Menschen zu finden ist, wie Augustinus behauptet. In seiner Beschreibung der Natur der Seele verweist Schelling auf den unpersönlichen, objektiven, göttlichen Charakter der Seele. Er schreibt ihr die ganze Welt der Werte, der Philosophie und Kunst, der Wissenschaft und Ethik, der Dichtung und Religion zu. Das heißt, der menschliche Geist kann nichts schaffen ohne die Verbindung mit der Seele, das heißt mit dem wesentlichen, vollkommenen Bereich. Insofern akzeptiert Schelling die Wesensphilosophie, die er aber durch eine Philosophie der Existenz ergänzt. Wenn wir auf die Prinzipien dieser neuen Philosophie schauen, die langsam und mit Schwierigkeiten ihre ersten Schritte macht, müssen wir erkennen, dass hier in Wahrheit etwas Neues heranwächst. Die Beschreibung der menschlichen Existenz sowie der Existenz im Allgemeinen offenbart Prinzipien, die offensichtlich jeder Wesensphilosophie widersprechen. 1

SW 1, VII, 470.

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Alle diese Begriffe: Wille, sich selbst zu widersprechen, irrationaler Grund, Selbst, Eigenwille, Sehnsucht, geistige Begierde, Schwermut, Wahnsinn, geistiges Übel1 usw. drücken eine philosophische Haltung aus, die sich von der Haltung jeder Wesensphilosophie deutlich unterscheidet. Sie können natürlich darauf antworten, dass diese Begriffe zum Wesen des Menschen gehören, dass sie vielleicht eine tiefere Sicht des Menschen enthalten, die sich im Prinzip aber nicht von einer Wesensphilosophie unterscheidet. Aber dieses Argument ist nicht überzeugend. Logisch haben Sie Recht mit Ihrer Behauptung, dass jeder Begriff als Begriff das Wesen zum Ausdruck bringt, aber bei diesen Begriffen widerspricht ihr logischer Charakter ihrem realen Sinn, und der gibt ihnen ihre Bedeutung. Wenn wir sagen, das Wesen des Menschen schließt Wahnsinn, Schwermut, geistiges Übel usw. ein, und das Wesen der Welt schließt den Willen, sich selbst zu widersprechen, den irrationalen Grund, die dunkle Sehnsucht usw. ein, wenn wir all dies dem Wesen zuschreiben, verkennen wir den eigentlichen Charakter dieser Worte.2 Indem sie ein Wesen zeigen, zeigen sie den Widerstand gegen das Wesen. Das von ihnen gezeigte Wesen ist das Gegen-Wesen.3 Den Theologen unter Ihnen kann dieses Problem leicht erklärt werden. Der Mensch ist ein Sünder. Jeder Mensch ist ein Sünder. Es gehört logisch zum Menschen, ein Sünder zu sein. Und doch ist dieses Sündersein nicht das Wesen des Menschen. Im Gegenteil, es ist Gegen-Wesen; denn seinem Wesen nach ist der Mensch das Ebenbild Gottes. Das Sündersein ist der universale Charakter der Existenz, aber nicht der allgemeine Charakter des Wesens. Der Mensch muss nicht Sünder sein. Die Freiheit bildet den Unterschied zwischen Wesen und Existenz. Anstelle von Sünde kann man von dem Willen sprechen, sich selbst zu widersprechen, nicht zwangsläufig, sondern willentlich, oder vom Eigenwillen oder von der Schwermut oder vom Wahnsinn usw. In allen diesen Begriffen ist der Moment der Freiheit enthalten, und darum ist allein die Freiheit, wahnsinnig oder melancholisch usw. zu werden, wesentlich, aber nicht die Wirklichkeit, dies alles zu sein. Zum Abschluss meiner Ausführungen über die menschliche Existenz gebe ich Ihnen ein weiteres Beispiel für den Gegensatz zwischen 1 2

3

Folgt gestr.: das Dämonische Folgt gestr.: Ihr Charakter besteht darin, dass sie im Widerspruch stehen zu dem Wesen der Dinge, auf die sie sich beziehen. Ms.: The essence indicated by them is the contra-essence.

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den beiden Arten der Philosophie. Im Rahmen seiner Anthropologie1 behandelt Schelling auch das Problem des Todes. Dieses Problem ist das Kriterium für jede Philosophie der Existenz. Eine Philosophie, die den Tod aus dem Wesensmangel der individuellen Existenz ableitet, erklärt nicht die wahre Natur des Todes. Solch eine Philosophie betont die Notwendigkeit des Sterbens wegen des Unterschiedes von Zeit und Ewigkeit. Aber der Tod enthält mehr als eine rationale Notwendigkeit. Er enthält ein irrationales, überraschendes Element wie die Sünde, die genauso universal, aber nicht wesentlich ist. Schelling schreibt: „Die Nothwendigkeit des Todes setzt zwei absolut unverträgliche Principien voraus, deren Scheidung der Tod ist. Unverträglich ist nicht das Entgegengesetzte, sondern das sich Widersprechende; z. B. Seyendes und Nichtseyendes sind nicht unverträglich, denn sie gehören ja zusammen: wohl aber wenn das Nichtseyende als solches ein Seyendes seyn will und das wahrhaft Seyende zu einem Nichtseyenden machen. Dieß ist das Verhältniß von Gut und Bös.“2 3 Mit diesen Worten greift Schelling die alte christliche Vorstellung auf, dass der Tod nicht zur genuinen Natur des Menschen gehört. Vielleicht wird die heutige Naturwissenschaft eine solche Auffassung diskussionslos ablehnen. Wir haben aber das Recht, sie zu diskutieren, seitdem die Psychologie und Medizin mehr und mehr mit dem Gedanken vertraut sind, dass wir unmöglich den Verfall des Leibes vom Verfall der Seele trennen können und dass darum Krankheit und Tod in einer bestimmten Weise im Zusammenhang stehen mit der menschlichen Freiheit. Wenn wir uns ein vollständiges System der Natur unter dem Gesichtspunkt einer wesentlichen Notwendigkeit vorstellen, würde der Tod vielleicht nicht einbezogen sein. Wenn wir uns daran erinnern, dass die moderne mathematische Naturwissenschaft als Neuplatonismus geboren wurde, also als eine Lehre von den ewigen Wesenheiten oder Ideen in Gott, können wir nicht erstaunt sein darüber, dass die Naturwissenschaft Ewigkeit und Wesenhaftigkeit für ihre Gesetze und Strukturen beansprucht. Aber 1 2 3

Ms.: In connection with his anthropology SW 1, VII, 474. Folgt gestr.: In der Natur sind Gut und Böse gemischt. Der Geist ist immer entweder zum Guten oder zum Bösen entschieden. Der menschliche Leib deckt als Teil der Natur die Entscheidung des Geistes. Der Mensch, der im Leibe lebt, ist niemals so gut oder so böse wie sein Geist. Im Sterben verlässt er diese Hülle, und sein Geist, gut oder böse, wird manifest.

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vielleicht wird die Wissenschaft selbst gezwungen sein zuzugeben, dass es in der Natur Elemente gibt, die nicht in ein System wesenhafter Notwendigkeiten aufgenommen werden können. Wenn das der Fall ist, würden wir einen neuen existentiellen Blick auf die Natur haben.1 Und wir würden eine direkte Verbindung zwischen unserer Haltung zum Tode und unserer Sicht der Natur haben. Nachdem wir die anthropologische Grundlegung von Schellings Philosophie der Existenz behandelt haben, wollen wir nun weitere Konsequenzen seines Übergangs vom Wesen zur Existenz erörtern. Zunächst müssen wir zeigen, wie Schelling selbst seine neue Position gegen Hegel bestimmt. Alle Zitate, die ich bis jetzt gegeben habe, stammen aus dem Anfang der zweiten Periode. Es sind Erläuterungen seiner Freiheitslehre und der damit zusammenhängenden Gegenstände. In den folgenden Jahrzehnten wendet sich Schelling der Mythologie und Theologie zu. Er sammelt ein immenses historisches Material mit dem Ziel der neuen Philosophie der Existenz. Er lässt jedoch nicht davon ab, rein metaphysische Probleme zu behandeln, nicht getrennt vom empirischen Material, doch als Grundgerüst für dieses. Die letzten vier Bände seiner „Sämmtlichen Werke“ enthalten die Philosophie der Mythologie und Offenbarung, die, obgleich von ihm selbst nie publiziert, nach seinem Tode gedruckt wurde. Ich muss bekennen: Diese Bände sind eine Enttäuschung in mancher Hinsicht. Sie sind wie ein wilder Garten, der viel Unkraut und Dornen enthält, aber mitten darunter seltene und schöne Blumen. So lassen Sie mich einige davon für Sie pflücken. Sehr wichtig ist die klare Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Philosophie, die wir behandelt hatten. Schelling selbst macht diese Unterscheidung erst in seiner letzten Periode. Obwohl bereits im ersten Stadium seiner neuen Periode, in seiner Freiheitsphilosophie, bereits impliziert, werden für ihn selbst die Konsequenzen dieses Schrittes erst viel später sichtbar. Er unterscheidet nun eine positive von einer negativen Philosophie. Negativ ist die Wesensphilosophie, insofern sie von der Existenz abstrahiert. Dagegen ist die Philosophie der Existenz positive Philosophie. Die Beschreibung beider durch Schelling gehört zu den schwierigsten Themen der deutschen Philosophie. Aber ich hoffe, wir sind darauf vorbereitet, die Schwierigkeiten zu überwinden. 1

Ms.: we would have a new existential aspect of nature

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Schelling gibt in seiner „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung“, im Band XIII der „Sämmtlichen Werke“, eine sehr erhellende Erklärung des Gegensatzes von positiver und negativer Philosophie. Er stellt zu Beginn dar,1 wie Kant und Fichte das Prinzip der Vernunft, die sich selbst in allen Dingen erkennt, zu Grunde gelegt haben. Die Vernunfterkenntnis ist Erkenntnis a priori, d. h. ihre Gewissheit gründet sich allein auf ihre rationale Notwendigkeit und nicht auf Erfahrung. Das heißt nicht, dass der Philosoph, psychologisch betrachtet, irgendetwas ohne Erfahrung erkennen könnte. Aber logisch gesehen, entscheidet nicht die Erfahrung, sondern die rationale Notwendigkeit über wahr und falsch. Wir haben nun zu fragen, sagt Schelling, im Blick auf diese rationale Erkenntnis: Was ist das, was wir auf diese Weise erkennen? Es gibt zwei Möglichkeiten. Wir können erkennen, was ein Ding ist und dass ein Ding ist. Die erste Frage fragt nach dem Wesen der Dinge; die Antwort gewährt mir den Begriff eines Dings, macht, dass ich das Ding im Begriffe habe. Die zweite Frage fragt nach etwas, was den reinen Begriff transzendiert. Die Antwort gibt mir die Erkenntnis der Existenz. Erkenntnis durch Vernunft ist Erkenntnis des „Was“ der Dinge. Erkenntnis des „Dass“ der Dinge kann durch die Vernunft nicht erreicht werden. Es ist Sache der Erfahrung. Erkenntnis durch Vernunft zeigt, was existieren wird, wenn überhaupt etwas existieren sollte. Aber es ist nicht möglich, aus der Erkenntnis dessen, was die Möglichkeit hat zu existieren, die Existenz selbst abzuleiten. Denn es wäre möglich, dass überhaupt nichts existiert. Die Vernunft kann ohne die Erfahrung nicht behaupten, dass etwas existiert, sie kann nicht beweisen, dass etwas, was die Vernunft erkennt, auch Existenz hat. Schelling stimmt mit Hegel darin überein, dass die Vernunft mit dem „An-Sich“2 zu tun hat, d. h. mit dem Wesen der Dinge. Die Vernunft kann das Wesen eines Baumes erkennen, aber nicht die Existenz dieses Baumes hier und jetzt. Der Inhalt meines Begriffs des Baumes hat sich nicht verändert, weder durch die Existenz noch durch die Nichtexistenz dieses Baumes, wie auch der Inhalt eines Begriffs eines Dreiecks nicht von der Nicht-Existenz eines Dreiecks in der Realität abhängt. Die Vernunft erkennt die Inhalte aller Dinge, die erfahren werden können. „Die Vernunft […] begreift das Wirkliche, aber darum nicht die Wirklichkeit“.3 Die Erfahrung ist darum, auch 1 2 3

Vgl. SW 2, III, 55ff. Im Ms. das deutsche Wort. SW 2, III, 61.

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wenn sie nicht Quelle der Erkenntnis ist, so doch deren Begleiterin und Kontrolle. Aber es gibt einen Punkt, wo die Erfahrung nicht angewandt werden kann. Das ist die Gottesidee. Insofern als Gott der absolute Grund alles Seienden ist, wird die Vernunft auf ihn hingetrieben. Er ist das erste Prinzip jeder Wesensphilosophie. In der Idee Gottes1 findet die Bewegung der Vernunft ihr notwendiges Ende.2 Auf der einen Seite gilt: Diese Idee kann als absolute Potentialität, als potentia essendi, als Möglichkeit des Seins charakterisiert werden. Sie bleibt Möglichkeit, weil sie nur das Ganze der Wesenheiten in sich enthält, alles, was existieren kann, wenn überhaupt etwas existiert. Schelling stimmt mit Hegels dialektischer Methode der Erklärung dieser Potentialitäten überein. Er nennt die Methode negativ, weil in der dialektischen Bewegung alle Begriffe gefunden und zugunsten eines besser geeigneten Begriffs wieder verworfen werden usw., bis alle Möglichkeiten der Existenz erschöpft sind und der umfassende Begriff Gottes als Möglichkeit der Existenz gefunden ist. Aber diese Bewegung der Begriffe ist eine logische, keine wirkliche Bewegung. Schelling widerspricht der Voraussetzung Hegels, dass die logische und die wirkliche Bewegung identisch sind. Sein vom irrationalen Charakter des Willens genommenes Bild der Wirklichkeit kann eine solche Identität nicht zulassen. Wirklichkeit ist ontologisch. Hegels Behauptung von der Selbstbewegung der absoluten Idee zur Welt wird darum von Schelling als unzulässige Personifizierung und Verwirklichung der reinen Potentialität abgelehnt.3 Schelling kritisiert Hegel wegen seines Unvermögens, das Wesen von der Existenz abzugrenzen; er wirft Hegel vor, beide Philosophien miteinander vermischt und darum keine von beiden vollendet zu haben. Er hat, so Schelling, seine negative Philosophie zur positiven aufgebläht durch die Behauptung, durch seine Philosophie sei „die volle wirkliche Erkenntniß“ Gottes „gewährt“4. Schelling kann mit Recht darauf hinweisen, dass Hegel und seine Schüler glaubten, auf der Basis der Vernunft eine zuverlässige Lehre von Gott und vom Christentum aufgestellt zu haben. Schelling macht demgegenüber geltend, dass die Vernunft nur den möglichen, nicht aber den wirklichen Gott beweisen kann. Hegels 1 2 3 4

Gestr.: In der Idee der absoluten Identität Folgt gestr.: und Ziel (goal) SW 2, III, 73. SW 2, III, 80.

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Satz, die absolute Idee „entschließt sich“1, in die Existenz überzugehen, ist eine unreine Vermischung von Essenz und Existenz. Nur der Wille kann sich entschließen, nicht die Idee. Um seine Kritik zu unterbauen, bezieht sich Schelling auf Kant und dessen Kritik des ontologischen Gottesbeweises. Kant hatte gezeigt, dass aus dem Begriff Gottes nicht auf seine Existenz geschlossen werden kann. Der Gottesgedanke sei zwar ein notwendiger Gedanke, aber es folge aus ihm nicht auch die Existenz Gottes. Hegel hatte dieser Kritik widersprochen und behauptet, dass das ontologische Argument den Aufstieg des menschlichen Geistes vom Endlichen zum Unendlichen ausdrückt und dass diese Erhebung die Gewissheit Gottes in sich enthält. Schelling leugnet diese Erhebung nicht, aber er leugnet die Möglichkeit, den wirklichen Gott, den Gott, der mehr ist als Vernunft oder Wesen, den Gott, der Existenz ist, auf diese Weise zu erreichen. Dieser Rückgang auf Kant ist sehr bezeichnend für die Situation der Philosophie in den Jahren nach Hegels Tod. Die Philosophie der Existenz beansprucht Kant für sich selbst, wie auch heute dies Heidegger tut in seiner bewundernswerten KantInterpretation.2 Der Weg von Gott als Idee zur Existenz Gottes oder von der negativen zur positiven Philosophie ist kein Weg des Denkens. Es ist ein Weg des Willens. „Ein Wille […] verlangt, daß Gott nicht bloße Idee sey.“3 In einer mystischen Wendung sagt Schelling, dass Gott, das Ziel der Wesensphilosophie, „aus der Idee ausgestoßen“ wurde.4 Das wahre Sein ist nicht das, was nur in der Idee ist, sondern was außerhalb der Idee, mehr als die Idee ist, kre‹tton toà lÒgou, wie Aristoteles sagt.5 Über diesen existierenden Gott, der das Wesen verlassen hat und existent wurde, schreibt Schelling den folgenden Hymnus: [Das Ich]: „noch ist es nicht befreit von der Eitelkeit des Daseyns, die es sich zugezogen, und die es jetzt, nachdem es die Erkenntniß Gottes wieder geschmeckt hatte, nur umso tiefer empfinden muß. Denn nun erkennt es erst die Kluft, welche zwischen ihm und Gott, erkennt, wie allem sittlichen Handeln der Abfall von Gott, das außer-Gott-Seyn zu Grunde liegt. […] Darum verlangt es nun nach Gott selbst. Ihn, 1 2 3 4 5

SW 2, III, 89. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929. SW 2, I, 565. SW 2, I, 566. Eth. Eudem. VII, 14.

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Ihn will es haben, den Gott, der handelt, bei dem eine Vorsehung ist, der als ein selbst thatsächlicher dem Thatsächlichen des Abfalls entgegentreten kann, kurz der der Herr des Seyns ist. […] Denn Person sucht Person. Mittelst der Contemplation jedoch konnte das Ich im besten Falle nur die Idee wieder finden, und also auch nur den Gott, der in der Idee, der in die Vernunft eingeschlossen, in welcher er sich nicht bewegen kann, nicht aber den, der außer und über der Vernunft ist, dem also möglich, was der Vernunft unmöglich, der dem Gesetz gleich, d. h. von ihm frei machen kann.“1 usw. Und er fährt fort: „Das Verlangen nach dem wirklichen Gott […] ist […] Religion. […] Daher es […] keine Vernunftreligion gibt. […] Mit dem Übertritt in die positive Religion kommen wir erst in das Gebiet der Religion […] und können auch jetzt erst erwarten, daß uns die philosophische Religion entsteht, um welche es bei dieser ganzen Darstellung zu thun ist, […] wobei nun auch am besten einzusehen, daß was uns philosophische Religion heißt mit der sogenannten Vernunftreligion nichts gemein hat.“2 Das heißt, dass Schelling die religiöse Opposition gegen Hegels Religionsphilosophie unterstützt. Diese Opposition hatte sich in den Kreisen der orthodoxen Theologie in Verbindung mit der romantischen Reaktion gegen die Aufklärung und den Idealismus gebildet. Die religiösen Menschen fühlten, dass die große Synthese von Vernunft und Glaube, die Hegel versucht hatte, das religiöse Bewusstsein nicht befriedigen konnte. Aber sie konnten Hegel nicht wie Schelling mit philosophischen Argumenten widersprechen. Ihr Widerstand war darum theologisch, während Schelling mit seiner Forderung nach einer philosophischen Religion einen neuen philosophischen Weg, die Philosophie der Existenz, zu begründen und somit innerhalb des Bereichs der Philosophie zu bleiben versuchte. Diese Bemerkung hat insofern Bedeutung, als sie zeigt, dass es eine tieferliegende Verbindung zwischen Theologie und Philosophie der Existenz gibt.3 Die Philosophie der Existenz ist in Philosophie überführte Theologie.4 1 2

3

4

SW 2, I, 566f. SW 2, I, 568f. – Ms.: „This desire to have the real God is religion; therefore rational religion is impossible […]. But the positive philosophy enables religion to rise, enables a philosophical religion, which is the deepest meaning of this explanation and which is opposite to every so called rational religion.“ Ms.: This remark has importance insofar as it shows that there is an underlying [gestr.: deep] connection between theology and philosophy of existence. Ms.: The Philosophy of existence is theology drawn in philosophy.

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Schelling1 behauptet, die ganze Philosophiegeschichte zeige einen Kampf zwischen positiver und negativer Philosophie. Er leugnet, diese Unterscheidung selbst eingeführt zu haben. Er weist auf die Tatsache hin, dass eine zufriedenstellende Definition der Philosophie schon immer unmöglich war. Die Philosophie kann nicht allein durch die Notwendigkeit des Denkens definiert werden, denn sie hat auch mit der Freiheit und dem Handeln zu tun; der „a-logische Charakter der Existenz“ (eine sehr wichtige Formel) hat die Philosophie immer gezwungen, mehr als eine bloße Wesensphilosophie sein zu wollen. Die Philosophie hatte beides zu tun: sie hatte das Wesen der Dinge zu begreifen und die reale Existenz der Dinge zu erklären. Sokrates hatte zwar ein hohes dialektisches Wissen, doch er schätzte es nicht so hoch ein und betonte sein Nichtwissen, weil er die Vorstellung von einer höheren, nicht-dialektischen positiven Philosophie hatte. Ähnlich zeigt auch Plato eine Tendenz, über seine eigene dialektische Wesensphilosophie hinauszugehen, vor allem im Dialog „Timaios“, wo er von der Erschaffung der Welt durch Gott spricht. Während sich Aristoteles auf eine negative Philosophie beschränkt, greifen der Neuplatonismus und die christliche Philosophie die Idee einer Philosophie der Existenz auf. Im Blick auf die moderne Philosophie behandelt Schelling zuerst den philosophischen Empirismus, wobei er die positive Philosophie als eine Art Empirismus betrachtet. Er weist darauf hin, dass wir den Empirismus nicht auf die sichtbare Welt beschränken dürfen. Jede Persönlichkeit muss ausschließlich empirisch betrachtet werden. „[D]enn niemand weiß, was in einem Menschen ist, er äußere sich denn; seinem intellektuellen und moralischen Charakter nach ist er nur […] durch seine Äußerungen und Handlungen erkennbar. Gesetzt nun, es handelte sich um eine der Welt vorauszusetzende handelnde und frei wollende Intelligenz, so wird auch diese […] nur durch ihre Thaten erkennbar seyn, die in die Erfahrung fallen, sie wird also, obgleich ein Übersinnliches, doch ein nur erfahrungsmäßig Erkennbares seyn. Der Empirismus als solcher schließt daher keineswegs alle Erkenntniß des Übersinnlichen aus […].“2 Demnach kennt Schelling einen metaphysischen Empirismus.3 Er unterscheidet drei Stufen. Erstens die sensualistische Form des Empirismus, die er als unbewussten Rationalismus betrachtet. 1 2 3

Folgt gestr.: nennt die positive Philosophie philosophischen Empirismus. SW 2, III, 113. Vgl. SW 2, III, 114.

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Dann den mystischen Empirismus, der eine mystische Erfahrung beansprucht, ohne seine Erfahrung in philosophischen Begriffen ausdrücken zu können. Drittens seine eigene positive Philosophie, der die negative Philosophie vorausgeht und die das notwendige rationale Element in sich trägt. Schelling spricht dem mystischen Empirismus einen höheren Wert zu, vor allem in der theosophischen Form, die Jakob Böhme ihm gegeben hat. Er macht die sehr wichtige historische Bemerkung, dass neben den rationalen Systemen in England und Frankreich, die auf Descartes zurückgehen, Systeme entstanden sind, die dem herrschenden Rationalismus widersprechen. (In meinem Aufsatz über „Kairos und Logos“ habe ich versucht, die Entwicklung dieser antirationalistischen Tendenzen vom Ende des Mittelalters bis heute zu beschreiben.1 Sie waren immer lebendig, aber meistens sozusagen im Untergrund. Erst im 19. Jahrhundert wurden sie sichtbar, nachdem sie vom rationalen Strom der Philosophie aufgenommen worden waren, und trugen dazu bei, die Entfremdung vom Rationalismus in Europa vorzubereiten.) Indem Schelling dem herrschenden Rationalismus das Fehlen des existentiellen Charakters zum Vorwurf machte, gab er der Existenz dieser unterirdischen Bewegung Recht. Diese mystische und theosophische Philosophie enthielt in einer dunklen, irrationalen Weise die Prinzipien der positiven Philosophie. Ihrer Ablehnung des herrschenden Rationalismus ist Recht zu geben, doch ist ihr eigener methodischer Weg unzureichend. Sie sind Zeugen der Notwendigkeit einer zweiten Philosophie, aber nicht deren Schöpfer.2 Wir müssen nun fragen: Was bedeutet die Behauptung Schellings, dass die positive Philosophie „eine höhere Stufe des philosophischen Empirismus“ ist?3 Schelling antwortet, dass die positive Philosophie weder vom Denken noch von einer besonderen Erfahrung ausgeht. Sie ist weder Rationalismus noch Empirismus auf tieferer Stufe. Sie geht aus von dem, was außerhalb von allem Denken ist, dem, was 1

2

3

Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Metaphysik der Erkenntnis. In: Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswendung. Hrsg. von P. Tillich, Darmstadt 1926, 23-75 (= GW IV, 43-76). Ms.: This mystical and theosophical philosophy contained in a dark, irrational way the principles of the positive philosophy. Although their challenge of the ruling rationalism is right, their own methodical way is unsufficient. They are witnesses of the necessity of a second philosophy but not creators of it. SW 2, III, 115.

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„das schlechterdings transzendente Seyn“ ist.1 Schelling nennt es das „absolute Prius“2, das, was aller Existenz vorausgeht. Nicht Wesen ist dieses schlechterdings transzendente Sein; Wesen ist die reine Möglichkeit dessen, was sein wird, wenn überhaupt etwas sein wird. Dass etwas ist, dass nicht nichts ist, dass die Möglichkeit Existenz geworden ist, hat seinen Grund im absoluten Prius, in einem absoluten Willen, der in Freiheit Existenz schafft. Solcher Akt des absoluten Willens, der jeglicher Existenz vorausgeht, hat keine Notwendigkeit. Er kann nicht a priori erkannt, nur a posteriori erkannt werden, wie der Wille allgemein nur a posteriori erkannt werden kann. Das Prinzip kann natürlich nicht bewiesen werden, da es der absolute Anfang ist, die Voraussetzung, dass überhaupt etwas existiert und nicht nichts. Dieses fundamentale Element unserer Erfahrung wird von Schelling „das Unvordenkliche“ genannt, übersetzt: das, vor das das Denken niemals gelangen kann, weil es die Voraussetzung des lebendigen Denkens selbst ist. Schelling zitiert3 eines der berühmtesten Worte aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“: „Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, man kann ihn aber ebensowenig ertragen, dass ein Wesen, welches wir uns auch als das höchste unter allen möglichen vorstellen, gleichsam zu sich selbst sage: Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, außer mir ist nichts, ohne das, was bloß durch meinen Willen etwas ist, aber woher bin ich denn? Hier sinkt alles unter uns, und die größte Vollkommenheit, wie die kleinste, schwebt ohne Haltung vor der speculativen Vernunft, der es nichts kostet, die eine so wie die andere ohne die mindeste Hinderniß verschwinden zu lassen.“4 Mit diesen Worten beschreibt Kant den Schock, der durch den Gedanken erzeugt wird, dass die Existenz keine Notwendigkeit hat, dass die Existenz in Gedanken entfernt werden kann. Darum ist die Realität der Existenz das irrationale, absolut positive Prinzip, das, obwohl es im Denken ist, das Denken transzendiert und die Haltung des reinen Empirismus fordert. Das Ziel dieses höheren Empirismus ist es, in Natur und Geschichte diejenigen Elemente zu erkennen, die den Charakter des absoluten Prius zeigen. Das absolute Prius ist absolute Freiheit, und darum sind alle Elemente der Welt, die den Charakter der Freiheit zeigen, Gegenstand der positiven Philosophie. 1 2 3 4

SW 2, III, 127. Ebd. SW 2, III, 163. Kant, KrV A 613, Schelling SW 2, III, 163.

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Das heißt: Positive Philosophie ist geschichtliche Philosophie, weil die Geschichte der Ort der Freiheit ist. Auch in der Natur sind Elemente der Freiheit, insofern als die Entwicklung der Natur geschichtliche Elemente enthält. Wir können nun den ganzen Gedanken verstehen: Positive Philosophie ist Philosophie der Geschichte einschließlich der geschichtlichen Elemente der Natur und der menschlichen Seele. Aber Philosophie der Geschichte, die auch von Hegel behandelt und in ein System des Wesens aufgenommen wird, ist eine Vorstellung, die noch einmal abgegrenzt werden muss. Schelling nimmt eine entscheidende Abgrenzung vor, indem er ausführt: Positive Philosophie ist PhiloSophie, d. h. Liebe zur Weisheit1, weil der Bereich des Wirklichen noch nicht vollendet ist, sondern auf seine Vollendung zugeht und weil darum auch die Philosophie niemals vollendet ist. Die Gegenwart begrenzt sie nicht, die Gegenwart öffnet den Blick auf die Zukunft mit ihren Möglichkeiten, die nicht vorhersehbar sind, sie kann vielleicht alle Argumente, die aus der Vergangenheit hergenommen werden, zunichte machen. Die positive Philosophie kann darum niemals die Form eines Systems annehmen. Jede neue Erfahrung würde das System sprengen. Die positive Philosophie oder Philosophie der Existenz oder die Geschichtsphilosophie oder der höhere Empirismus, all diese Bezeichnungen für eine und dieselbe Sache, können niemals ein System werden, weil die Existenz selbst nicht die Struktur eines Systems hat, während das Wesen die Struktur eines Systems haben kann. System und wirkliche Freiheit widersprechen sich absolut.2 Eine andere Konsequenz, die hervorzuheben ist, ist die Haltung des Philosophen selbst, sofern er Philosophie der Existenz treibt. Er ist frei, sie zu treiben, weil es keine Notwendigkeit des Denkens gibt. Er muss immer von vorn anfangen, er muss den Sinn dieser konkreten geschichtlichen Offenbarung verstehen, er muss Erfahrungen im besonderen Sinn dieses Wortes machen können. Er darf die Sphäre der Existenz nicht verlassen, um sich in das Wesen zurückzuziehen und jenseits von Raum und Zeit zu leben, er muss seinen Raum und seine Zeit kennen. In diesem Zusammenhang versucht Schelling eine neue Theorie der Zeit zu entwickeln, die sehr wichtig ist, beschäftigen sich doch 1 2

SW 2, III, 201. Ms.: System and real freedom are absolutely contradicting each other.

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alle Formen einer Philosophie der Existenz mit dem Problem der Zeit, so auch Martin Heidegger in seinem Buch „Sein und Zeit“. Schelling entdeckt die qualitative Zeit. Er widerspricht der Vorstellung, die Zeit sei eine allgemeine Qualität aller Dinge, ohne innere Beziehung zu ihnen, der gleiche Strom von Momenten, in welchem alle Dinge sich bewegen. Im Gegenteil: „Alle Zeit ist […] eine innere, die jedes Ding in sich selbst hat, nicht außer sich.“1 Der abstrakte Begriff der Zeit entsteht, wenn die Zeit eines Dings mit der Zeit anderer Dinge verglichen wird. Wir müssen darum verschiedene Zeiten annehmen, das heißt, Zeiten unterschiedlicher Qualität. Zum Beispiel sind Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft Qualitäten der Zeit, die in jeder Zeit zusammen vorhanden sind. „Die vergangene Zeit ist keine aufgehobene Zeit; das Vergangene kann freilich nicht als ein Gegenwärtiges, wohl aber muss es als ein Vergangenes mit dem Gegenwärtigen zumal sein.“2 Weder Vergangenheit noch Zukunft sind ein völliges Nichtsein. Die Vergangenheit ist darum kein Gegensatz zur Zeit, sondern koexistierend3 mit der Zeit in jedem Moment.4 Mit diesen Kategorien können wir eine Philosophie der Geschichte entwickeln, in der jeder Moment einen besonderen Charakter im Blick auf die Ewigkeit erhält. Hier ist die Idee des Kairos verwurzelt, mit der ich selbst versucht habe, eine neue Einstellung zur konkreten Zeit zu gewinnen. Die Qualität einer Periode ist durch ihre Beziehung zur Ewigkeit bestimmt, aber dies hängt von der Zukunft ab, auf die eine Periode zugeht, und von der Vergangenheit, aus der sie kommt. Diese Qualität schafft den existentiellen Charakter einer Periode, der von ihrem essentiellen Charakter durch die Beziehung zur Zukunft getrennt ist. Denn die Zukunft hat kein Wesen, und ihre Existenz hängt von der Freiheit ab. Darum betont die moderne Philosophie der Existenz die Zukunft als das entscheidende Element der Zeit, ganz im Gegensatz zur Hegelschen Haltung, die die Zukunft um des Systems willen abschneidet. Lassen Sie mich diese Einführung in Schellings Philosophie der Existenz abschließen, indem ich einige ausgezeichnete Sätze zitiere, durch die er den Unterschied zwischen den beiden Arten der Phi1 2 3 4

SW 1, VII, 431. SW 1, VIII, 302. SW 1, VIII, 307. Folgt gestr.: Eine Zeit, die weder wahre Vergangenheit noch wahre Zukunft hat, ist darum keine wirkliche Zeit.

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losophie kennzeichnet: Die negative Philosophie wird im Prinzip „die Philosophie für die Schule bleiben, die positive die Philosophie für das Leben. Durch beide zusammen wird erst die vollständige Weihe gegeben seyn, die man von der Philosophie zu verlangen hat. Bekanntlich wurden bei den eleusinischen Weihen die kleinen und die großen Mysterien unterschieden, die kleinen galten als eine Vorstufe der großen. Schon die Neuplatoniker nannten die aristotelische Philosophie die kleinen, die platonische die großen Mysterien der Philosophie; […] in der negativen Philosophie werden die kleinen, in der positiven die großen Mysterien der Philosophie gefeiert.“1 Wenn Sie mich nun nach dem Inhalt der Philosophie der Mythologie und Offenbarung, d. h. von Schellings positiver Philosophie, fragen, so antworte ich: Sie sind eine Konstruktion der Mythologie und der christlichen Lehre, etwas Metaphysik, etwas Theologie, beides gemischt mit Phantasie, Wissenschaft und tiefen Intuitionen. Darüber hinaus antworte ich, dass nur die grundlegende Konzeption, nicht die Ausführung von Bedeutung ist für die Entwicklung der Philosophie der Existenz. Nur dies hatte geschichtlichen Einfluss; das System selbst hatte einigen Einfluss auf eine bestimmte theologische Richtung, aber nicht darüber hinaus. Wir müssen bekennen, dass es Schelling nicht gelang, seine neuen Erkenntnisse zu erklären. Seine eigenen früheren Gedankengänge hinderten ihn daran, ganz neue Wege zu gehen. Trotz seines Widerstandes gegen ein vollständiges System finden wir bei ihm ein solches System in seiner Philosophie der Mythologie und Offenbarung. Der Unterschied zu Hegel erscheint als gering, abgesehen von dem offenkundig theologischen Charakter seines Spätwerks. In diesem Zusammenhang müssen wir eine letzte Frage beantworten, nämlich die nach dem Verhältnis zwischen reiner Theologie und Schellings philosophischer Religion. Schelling bestreitet, ein Theologe zu sein, weil er, wie er sagt, die Autorität des Dogmas, der Kirche und der Bibel nicht anerkennt. Für die philosophische Religion beansprucht er volle Freiheit von jeder dogmatischen Autorität. Jedoch gibt er zu, dass ohne das Christentum und die christliche Entwicklung bis heute seine Haltung nicht möglich wäre; die Wirklichkeit der christlichen Geschichte ist der Grund, in dem die philosophische Religion verwurzelt ist. Die konkrete Situation des Philosophen, sofern er sich mit der lebendigen Geschichte beschäftigt, ist durch das Christentum, den Protestantismus, den christlichen Humanismus 1

SW 2, III, 155.

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usw. bestimmt. Mir scheint, dass Schelling diesen Umstand mit Recht betont. Sobald wir die prinzipielle Bedeutung der geschichtlichen Situation für eine Philosophie einräumen, müssen wir zugeben, dass die christliche Entwicklung in einer außerordentlich wirksamen Weise zu unserer Existenz gehört. Die Philosophie der Existenz darf nicht von der geschichtlichen Situation abstrahiert werden. Noch viel stärker und umfassender wird dieser Umstand durch die nächste Richtung der Philosophie der Existenz betont. II. Das politische Existenzverständnis der Junghegelianer Die Darstellung der zweiten Periode Schellings und seiner Philosophie der Existenz hat Ihnen vielleicht den Eindruck vermittelt, Philosophie der Existenz sei letzten Endes Theologie im Gewande der Philosophie. Ich hoffe, dass die Ausführungen dieses Kapitels Ihre Vorstellungen über die Philosophie der Existenz korrigieren, wenn ich Ihnen nun zeige, dass die Sache auch noch von einer anderen Seite aus betrachtet werden kann. Lassen Sie mich die geistige Situation in den Jahren nach Hegels Tod kurz beschreiben. Diese Jahre standen einerseits ganz im Schatten des gigantischen Werks Hegels. Es gab nur zwei philosophische Haltungen: entweder die Verbeugung vor Hegels System oder der Widerspruch. ihm. Aber selbst der Widerspruch war eine Art Anerkennung, denn alle Kategorien des Widerspruchs waren dem System selbst entnommen. Anhänger und Feinde waren in gleicher Weise von ihm abhängig, was das Zeichen wahrer geistiger Macht ist. Hegels System hat zwei lebendige Wurzeln: eine religiöse und eine politische. Seit seiner Jugend beschäftigte das Problem der Volksreligion sein Denken. Viele Jahre hindurch war dieses Problem der Ausgangspunkt seines ganzen Denkens, das aus diesem Grunde sich nahezu ausschließlich mit Religion und Politik befasste. Religion und Politik in jenen Jahren waren der Grund dafür, dass sich beide Bereiche in Hegels Denken zu einer Einheit verbanden. In Religion und Politik herrschte eine Art Absolutismus. Die Religion hatte einen absoluten Gott außerhalb und jenseits der Welt behauptet, und die Politik war einem absoluten Souverän unterworfen worden. In beiden Fällen stand der Mensch einer absoluten Größe gegenüber, die die Autonomie seines Geistes zerstörte, einer Größe, die ihm die Freiheit zur Kreativität und zum Handeln verwehrte, die im Gegenteil Freiheit und Wahrheit unterdrückte.

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(Exkurs über Autonomie und Heteronomie, über den Gegenstand Gott und die Idee einer fremden Wahrheit, die wir annehmen müssen, und eines fremden Willens, den wir wollen müssen. Rettung des menschlichen Geistes allein durch die Freiheit, betrachtet als lebendige Beziehung zwischen dem Eigenen und dem Fremden.) Hegel versucht, diese Kluft zwischen Subjekt und Objekt in der Religion und in der Politik zu überwinden durch eine neue Auffassung des Lebens1, die den transzendenten, objektiven Gott beseitigt und ersetzt durch die Idee des dem Leben innewohnenden Schicksals. Und er beseitigt die Idee des absoluten Souveräns durch die Betonung des alten griechischen Ideals der Polis, d. h. der freien Bürgerschaft und der Selbstregierung.2 So begrüßt er die französische Revolution3, insofern als sie den politischen Absolutismus beseitigt, und findet wunderbare Worte über4 die Einheit des Lebens mit sich selbst und die Versöhnung des Schicksals durch die Liebe. Aber er zweifelt nicht daran, dass in Wirklichkeit im Leben immer eine Zerspaltung bleibt, und er preist die innere Kraft, die die Zerspaltung des Lebens und die Feindschaft des Schicksals erträgt, obgleich wir selbst unser Schicksal sind. (Exkurs über den Gedanken, dass ich selbst mein Schicksal bin und dass, wenn mein Schicksal mir selbst widerspricht, dieses als Selbstwiderspruch anzusehen ist.) Er schreibt die folgenden Worte, die jeder brüchigen Synthese und Versöhnung widersprechen und die ich zitiere, weil sie im Gegensatz zu Hegels eigener späterer Entwicklung stehen: „Der Tod […] ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht […]; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. 1 2

3 4

Folgt gestr.: und der Liebe Folgt gestr.: In beiden Fällen beschreibt er die Liebe als die Macht, die Gegensätze innerhalb des Lebens aufzulösen. Folgt gestr.: und den Zusammenbruch der Orthodoxie Folgt gestr.: das Leben, die Liebe und das Schicksal

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Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“1 Diese Worte lassen den Übergang Hegels von seinem Beginn mit einer Philosophie der Existenz zu seinem Abschluss mit einer Philosophie des Wesens (Philosophie der Essenz) erkennen. Zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung seines Denkens behauptet Hegel noch nicht, dass die Erlösung vollendet ist, er weiß um die Zerspaltung der Existenz und schreibt das Andauern der Zerspaltung dem Leben des Geistes zu. Er greift alle Romantik an, jeden Versuch, eine Synthese zu betonen, wo sich in der Wirklichkeit ein Gegensatz befindet. Er fordert die falschen Propheten heraus, die da rufen: „Friede, Friede!“, und ist doch kein Friede, „Harmonie, Harmonie!“, und ist doch keine Harmonie, „Einheit, Einheit!“, und ist doch keine Einheit.2 Aber diese heroische und existentielle Haltung, die in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ ein letztes Mal zum Ausdruck kommt, verschwindet mehr und mehr und wird ersetzt durch eine ideologische Haltung, verbunden mit einer Identitäts- und Wesensphilosophie. Diese Entwicklung ist kein Zufall. Sie entspricht der realen politischen Entwicklung jener Zeit, einer Entwicklung, die zum reaktionären preußischen Staat und zu einer neuen orthodoxen Theologie führte. Hegel schließt sich dieser Entwicklung an, er fühlte sich als Philosoph des preußischen Staates und der neuen orthodoxen Kirche. Und so wandte er das Prinzip der Identität und der Essenz auf diese beiden Realitäten an. Die Kirche ebenso wie der Staat haben ihre Vollendung erreicht. Das Heil ist vollkommen. Es gibt keine Zerspaltung im Leben mehr, keine Schicksalskämpfe, keine Gegensätze der Existenz. Sondern das Leben ist geeint, das Schicksal ist versöhnt, die Existenz drückt Essenz aus. Die späteren Schriften Hegels zeigen klar diese Tendenzen. Mehr und mehr gewinnt das philosophische Prinzip der Identität an Bedeutung. Die Religion proklamiert die vollkommene Erlösung, die Politik behauptet einen vollkommenen Staat. Es gibt keine Zerspaltung mehr, keinen Tod und keine Negativität. In Religion und Politik hat die Harmonie des Wesens die Disharmonie der Existenz verdeckt. Der Deutsche Idealismus ist ein Idealismus in der Art falscher Prophetie. Er behauptet Erlösung, wo es keine Erlösung gibt, und Einheit, wo es keine Einheit gibt. Der Deutsche Idealismus ist darum wie jeder andere Idealismus falsche Prophetie.

1 2

HW 3 (Phänomenologie des Geistes), 36. Vgl. Jer. 6, 14.

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Darum erhob sich die Opposition gegen Hegel in diesen beiden Bereichen, die er seit seiner Jugend behandelt hatte, in Bezug auf die er zunächst die Spaltung zwischen Subjekt und absolutem Objekt, das heißt zwischen dem menschlichen Geist und der Freiheit einerseits und dem objektiven transzendenten Gott sowie dem absoluten Souverän andererseits etabliert hatte, in Bezug auf die er dann aber das Prinzip der Einheit etabliert hatte, einer Einheit, die in der Idee des Lebens und des Schicksals gegeben war, doch mit der ehrlichen Anerkennung der realen Uneinigkeit in beiden Fällen, in Bezug auf die er schließlich drittens die vollkommene Erlösung und Einheit als vollkommen erfüllt behauptet hat. Wir haben uns mit der religiösen Opposition und ihren philosophischen Voraussetzungen beschäftigt, als wir die zweite Periode Schellings behandelten, und werden dies auch wieder tun, wenn wir uns Sören Kierkegaards Philosophie der Existenz zuwenden. Wir müssen uns jetzt aber auf die Darstellung des Angriffs im Bereich des Politischen einschließlich der philosophischen Voraussetzungen beschränken. Das Ziel dieser Angriffe war es, zu zeigen, dass die politische Wirklichkeit von der politischen Ideologie, wie sie in Hegels Rechtsphilosophie geschaffen wurde, abweicht. Um dies zu zeigen, musste die Philosophie erstens ein anderes Bild des Menschen entwerfen und zweitens ein anderes Bild der Gesellschaft. Den ersten Schritt hatte Ludwig Feuerbach getan, den zweiten Karl Marx. Eine gewisse Bedeutung hatte als Vermittler Max Stirner. Ludwig Feuerbach ist von den Philosophiehistorikern vorrangig als Religionsphilosoph und als Begründer der antiidealistischen materialistischen Bewegung betrachtet worden.1 Diese Betrachtung ist nicht falsch, aber unzureichend. Vom Gesichtspunkt der Philosophie der Existenz aus wird Feuerbach heute als Vertreter der philosophischen Anthropologie2 betrachtet. Denn er hat das Studium der transzendenten Welt der Wesen durch das Studium der menschlichen Existenz ersetzt. Und er hat jede Wesensphilosophie angegriffen, indem er betonte, dass nur die Existenz Realität hat und dass die Welt transzendenter Wesen eine bloße Schöpfung des menschlichen Geistes ohne jede Realität ist. Er hat Hegels Idealismus umgedreht, er hat Hegel, wie Marx formuliert, auf den Kopf gestellt, indem 1

2

Vgl. Tillichs Ausführungen über L. Feuerbach in seinen „Vorlesungen über die Geschichte des christlichen Denkens“, Teil II (EW II, 114ff.). Ms.: philosophical anthropology

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er die Unwirklichkeit der Ideen und die Wirklichkeit menschlicher Existenz behauptete.1 Entsprechend der Struktur von Hegels System argumentiert Feuerbach in der religiösen Sphäre. Die religiösen Ideen Gott, Unsterblichkeit usw. sind die auf eine absolute Ebene projizierten natürlichen Wünsche des Menschen. Der transzendente unendliche Gott ist eine Projektion des unendlichen menschlichen Wunsches. Der Mensch sucht die Erfüllung seiner vitalen Tendenzen zum Leben, zur Liebe und zur Sicherheit, indem er die Möglichkeit einer transzendenten Erfüllung, Gott und Unsterblichkeit, setzt. „Der Mensch – dies ist das Geheimnis der Religion – vergegenständlicht sein Wesen und macht dann wieder sich zum Gegenstand dieses vergegenständlichten Wesens, in ein Subjekt, eine Person verwandelten Wesens.“2 Dies sind die Prinzipien seiner Religionsphilosophie: Gott ist das wahre Wesen des Menschen, aber in vollkommener Form, die Transzendenz ist die Erfüllung des menschlichen Wunsches, die Anthropologie ist der Schlüssel zur Theologie. In diese Aussage ist ein anderer sehr wichtiger Gedanke eingeschlossen. Wenn alle unsere geistigen Vorstellungen keine Realität haben, sondern nur menschliche vitale Tendenzen zum Ausdruck bringen, dann ist die idealistische Philosophie reine Einbildung. Die Menschen, die sich auf sie einlassen, werden Ideologen genannt, und die Sphäre geistiger Vorstellungen wird als Ideologie in Frage gestellt. Ideologie meint ein System von Vorstellungen, durch das vitale Tendenzen sich ausdrücken und Objektivität und Geltung für Vorstellungen beanspruchen, die in Wirklichkeit nur Zeichen eines gewissen Wunsches oder Interesses sind. Der Begriff Ideologie ist in dem hier dargestellten Sinne eine starke Waffe gegen jede Art von Wesensphilosophie. Aber er kann als solcher noch keine Philosophie der Existenz begründen. Im Gegenteil: Der Materialismus kann als negative Wesensphilosophie bezeichnet werden, als Schatten des Idealismus. Denn er verweist auf einen allgemeinen Begriff der menschlichen Natur und ihrer Regeln der Ideologiebildung. Und so verweist auch der Materialismus auf ein Wesen des Menschen. Die Idee der Menschheit und allgemeiner Regeln menschlichen Handelns 1

2

Ms.: He has turned round Hegels idealism, he has as Marx says stood Hegel on his head, asserting the non-reality of ideas and the reality of human existence. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Kritische Ausgabe. Hg. von K. Quenzel, Leipzig, (Reclam) 1904, 90.

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ist eine idealistische Voraussetzung, obgleich viele sogenannte Empiristen diese Auffassung teilen. Die Existenz, auch wenn sie gesucht wurde, ist durch diese Art des Materialismus und einer verallgemeinernden Anthropologie nicht gefunden worden. Feuerbach ist ein erster Schritt, mehr nicht. Der zweite Schritt wurde durch Karl Marx getan. Er setzt nicht nur Feuerbach voraus, sondern auch einen anderen sehr seltsamen Philosophen, über den wir einige Bemerkungen machen müssen: Max Stirner. Feuerbach und Stirner sind von Karl Marx durch sein radikales Bemühen um Erkenntnis der wirklichen Existenz des Menschen in Frage gestellt worden. Stirner lehnt die Vorstellung eines allgemeinen menschlichen Wesens ab, einen halb idealistischen, halb naturalistischen Gedanken Feuerbachs; er versucht noch radikaler zu sein als dieser. Er bestreitet die Realität eines solchen allgemeinen Wesens. Nur der Einzelne hat wirkliche Existenz. Alle allgemeinen Vorstellungen, nicht nur Gott, sondern auch Nation, Menschheit usw. sind nur Einbildung. Sie müssen aufgegeben werden, weil sie das Gefühl meiner Einzigartigkeit verletzen. Das Selbst darf nichts anerkennen außer sich selbst. „Der Eigene ist der geborene Freie, der Freie von Haus aus.“1 Jedes Mittel, alles, was einem im Wege steht, zu entfernen, ist gerechtfertigt. Es hängt von meiner Stärke ab. Wenn ich schwach bin, habe ich nur schwache Mittel – und umgekehrt. Ich will sein und will haben alles, was ich sein und haben kann. Wenn andere dasselbe wollen, dann geht mich das nichts an. Das Ich ist die einzige metaphysische Realität; der Egoismus ist die einzige Morallehre, die zu rechtfertigen ist! Also ist auch erkenntnistheoretisch das Ich die letztgültige Realität. Nur ich selbst bin für mich selbst. Ein anderes Selbst hat keine Existenz für mich. Ich bin, jenseits von mir ist nichts. Denn Sein ist Sein als ein vollständig isoliertes Individuum. Ich komme auf diese ganz und gar paradoxe Position Stirners aus drei Gründen zurück. Erstens, weil Kierkegaards religiöse Idee des Selbst eine sehr interessante Analogie zum Begriff des Selbst bei Stirner darstellt; zweitens, weil Marx seine eigene Position in Abgrenzung gegen Stirners Konzept der menschlichen Existenz formuliert hat, und drittens, weil der paradoxe Radikalismus Stirners deutlich die Tendenz der Junghegelianer zeigt, zur realen Existenz vorzudringen. 1

M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1845, 216.

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Marx, selbst Junghegelianer, ist der große Kritiker der Junghegelianer. Erstens fand in seiner Kritik die Idee der Existenz, die alle diese Menschen in ihren Bann zog, ihre Vollendung in der Idee der politischen Existenz des Menschen. Bevor ich seine Kritik zitiere und seine eigene Interpretation der Existenz behandle, muß ich die gewaltige geschichtliche Macht dieser Idee hervorheben. Der deutsche Idealismus hat die Welt nicht selbst erobert, sondern durch seinen größten Feind. Er [Marx] war sein Feind, aber er war doch von seinem Antagonisten so sehr abhängig, dass er nicht nur der Zerstörer, sondern auch der Testamentsvollstrecker des deutschen Idealismus, insbesondere des Hegelianismus, genannt wurde. Aber beide Wirkungen waren nur möglich durch Marx’ neue Sicht der menschlichen Existenz. Zunächst einige positive Worte von Marx über Feuerbach: „Von Feuerbach datiert erst die positive humanistische und naturalistische Kritik. […] [Die] Feuerbachschen Schriften [sind] die einzigen Schriften – seit Hegels Phänomenologie und Logik – worin eine wirkliche theoretische Revolution enthalten ist.“1 Hören wir nun seine Argumente gegen Feuerbach, die er in seiner ausführlichen kritischen Abhandlung mit dem Titel „Deutsche Ideologie“ darlegt. Seine wichtigste Kritik findet sich in elf kurzen Thesen, von denen ich einige zitiere. In der 1. These heißt es: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß […] die Wirklichkeit […] nur unter der Form des Objekts […] gefaßt wird; nicht aber als (Subjektivität, das heißt als)2 sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis […]. Er betrachtet daher […] nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche […]. Er begreift daher nicht die Bedeutung der […] praktisch-kritischen Tätigkeit.“3 In diesen Worten zeigt Marx klar den Punkt, in dem Idealismus und Materialismus übereinstimmen, insofern als sie nur die theoretische Haltung gelten lassen, weil das Wesen nur theoretisch erfaßt werden kann.4 Jeder Wesensphilosoph muß die Spaltung der Existenz hinnehmen ent1

2 3 4

K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie. Über den Zusammenhang der Nationalökonomie mit Staat, Recht, Moral und bürgerlichem Leben (1844), Vorrede, in: Marx I, 286. Die in Klammern gesetzten Worte hat Tillich ergänzt. K. Marx, Die deutsche Ideologie: Feuerbach, in: Marx II, 3. Folgt gestr.: Beide Richtungen müssen sich über die Existenz erheben, wenn sie [das Wesen] erkennen [wollen].

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weder, indem er sich in die höhere Wesenswelt erhebt, oder indem er behauptet, dass die Existenz selbst das Wesen ist oder dass die Existenz wenigstens in der Gegenwart wesentlich geworden ist. Folglich hat der Wesensphilosoph keinen Grund, die Wirklichkeit zu verändern. Er setzt voraus, dass die gegebene Wirklichkeit ihm erlaubt, die Wesenswelt zu erfassen. Dies ist die Voraussetzung, die Marx angreift. Die 2. These ist noch wichtiger, sie lautet: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens1 beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens, – das von der Praxis isoliert ist –, ist eine rein scholastische Frage.“2 Diese Worte enthalten eine neue Idee der Wahrheit. Für jede Wesensphilosophie ist das Kriterium der Wahrheit die Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit oder mit anderen Worten: das Erfassen der unveränderlichen Wirklichkeit. Für Marx, insofern als er Philosoph der Existenz ist, ist das Kriterium der Wahrheit der Erfolg3 des Denkens im Verändern der Wirklichkeit. (Exkurs über den alten prophetischen und alten christlichen Begriff der Wahrheit im Unterschied zum griechischen.) Der deutsche Idealismus hat die griechische Haltung übernommen, die in der christlichen Welt nicht vertreten wurde4. Marx kommt, obgleich Antichrist und Atheist, der christlichen Idee der Wahrheit näher als der deutsche Idealismus. Die Wahrheit innerhalb der Existenz, innerhalb der Zerspaltung und der Gegensätze, unterscheidet sich in seiner Bedeutung von der Wahrheit innerhalb des Wesens, in der Sphäre der Vollendung. Aber wir wollen Marx weiter zitieren. Seine 4. These lautet: „Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse und eine weltliche, aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt […], ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwiderssprechen dieser weltlichen Grundlage 1 2 3 4

Tillich übersetzt: the living character of his thinking K. Marx, Die deutsche Ideologie: Feuerbach, in: Marx II, 3. Gestr.: die Macht Gestr.: nicht möglich war

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zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden.“1 In dieser These sagt Marx, dass die Idee einer transzendenten Erlösung auf das Fehlen einer immanenten Erfüllung zurückgeht und dass eine immanente Erfüllung die Idee einer transzendenten Erfüllung auflösen würde. Logischer gesprochen, können wir sagen: dass das Muster, das in jeder Wesensphilosophie vorausgesetzt wird, nicht unverändert bleiben muss. Und wenn das Muster verändert worden ist, muss auch der Begriff des Wesens verändert werden, ein Argument, das die Basis jeder Wesensphilosophie zerstört. Marx faßt seine Kritik der theoretischen Haltung in den berühmten Worten zusammen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.“2 Marx attackiert insbesondere Feuerbachs Vorstellung von einem allgemeinen menschlichen Wesen. Er schreibt: „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“3 (6. These). „[D]as abstrakte Individuum, das er analysiert, [gehört] einer bestimmten Gesellschaftsform [an]“4 (7. These). Es ist darum unmöglich, ein allgemeines menschliches Wesen aus ihm abzuleiten. Dieselbe Kritik richtet sich gegen Stirner. Seine Idee, dass das absolute Individuum die letzte Realität sei, greifen Marx und seine Freunde in einem Manuskript mit dem Titel „Sankt Max“5 an. Hier wird deutlich, dass Stirners absolutes Individuum in Wirklichkeit den Menschen der unteren Mittelschicht repräsentiert, der in der Enge seiner Situation die sozialen und wirtschaftlichen Gründe, die er nicht durchschaut, leidenschaftlich zu durchbrechen sucht. Stirner macht aus dem Absolutismus des Individuums eine neue Religion. Er verfehlt die Existenz, weil seine Idee des isolierten Individuums, des „Einzelnen“, wie er ihn nennt, eine rein idealistische Abstraktion ohne Realität ist.

1 2 3 4 5

Marx II, 4. These 11, in: Marx II, 5. Marx II, 4. Marx II, 5. Marx II, 82-482.

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Aber jetzt könnten Sie mich fragen: Warum nennen wir Marx einen Philosophen der Existenz? Ist das berechtigt, obwohl er doch jede Philosophie zu verneinen und nur politisches Handeln zu fordern scheint? Man kann den Zweifel an Marx als Philosophen unterstreichen, indem man auf sein Hauptwerk „Das Kapital“ hinweist, das letztlich eine ökonomische Analyse der kapitalistischen Gesellschaft bietet. Man kann das „kommunistische Manifest“ zitieren, in dem Politik und Soziologie zu einer Einheit verbunden werden, in dem sich aber keine Philosophie findet. Schließlich kann man auf die Tatsache verweisen, dass Marx nach 1847 sich überhaupt nicht mehr mit philosophischen Fragen beschäftigt hat. Seine Feindschaft gegen die Philosophen, vor allem gegen Hegel, der für ihn der Repräsentant der Philosophie überhaupt war, zusammen mit seiner antiphilosophischen Entwicklung könnte in der Auffassung bestärken, dass Marx nicht zu den Philosophen zu zählen ist. Lassen Sie mich zunächst darauf antworten mit der Erinnerung an Schelling und dessen zweite Periode. Bezüglich der Philosophie seiner zweiten Periode hatten wir gefragt, ob sie eher Theologie als Philosophie sei. Ebenso fragen wir nun, ob Marx ein Philosoph oder ein Politiker sei. Und wir werden später fragen, ob Kierkegaards Philosophie der Existenz eher ein religiöses Bekenntnis als eine Philosophie sei, und wir werden fragen, ob Nietzsche nicht eher eine Prophetie in poetischer Form biete als eine Philosophie. Und wir können fragen, ob Heidegger eine mystische Psychologie oder eine Philosophie der Existenz biete. Und schließlich kann niemand bezweifeln, dass Jaspers’ Philosophie der Existenz eine Beschreibung der religiösen Existenz des Menschen sei. Das zeigt, dass die Philosophie der Existenz nicht unter die allgemeine Kategorie der Philosophie subsumiert werden kann, dass die Philosophie der Existenz vielmehr neue Kategorien schafft durch die Einheit von Philosophie und Religion, Philosophie und Politik, Philosophie und Dichtung usw. Nur diese Art von Philosophie hatte in dem Jahrhundert seit Hegels Tod bis heute eine ausschlaggebende geschichtliche Wirkung. Darum ist die Frage, ob eine bestimmte Art der Philosophie der Existenz Philosophie sei oder nicht, eine nutzlose Frage. Im Gegenteil: Es gehört zur eigentlichen Philosophie der Existenz, die exakt abgegrenzten Kategorien wie Philosophie, Theologie, Politik usw. zu zerstören, wie auch das Leben sich nicht um die Abgrenzungen solcher Definitionen kümmert; die Philosophie der Existenz muß sie überschreiten. Die Philosophie der Existenz kann nicht unter den Überschriften solcher

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Kategorien abgeheftet werden. Sie schafft neue Kategorien, weil ihre Wurzeln in immer neuen Situationen liegen. (Exkurs über die Unmöglichkeit, einen allgemeinen Begriff wie Philosophie für alle Zeiten aufzustellen, ebenso Theologie usw. Es gehört zum geschichtlich-existentiellen Charakter aller Begriffe, dass sie nicht für alle Zeiten gültig sind.) Wir müssen also zugeben, dass Karl Marx trotz der engen Verbindung von Philosophie, Politik, Wirtschaft in seinem Werk ein Philosoph der Existenz genannt werden muß und das gerade wegen dieser engen Verbindung, dieser Unmöglichkeit, sein Werk unter die traditionellen Kategorien zu subsumieren. Ich hoffe, ich kann Ihnen zeigen, dass ich recht habe, wenn ich ihn an dieser Stelle behandle. Nachdem ich seine Kritik an den Junghegelianern dargestellt habe, zu denen er selbst in anderer Hinsicht gehört, muss ich seine eigenen positiven Gedanken, durch die er ein Philosoph der Existenz wurde, vorstellen. Das ist eine schwere Aufgabe, denn er hat kein System vorgelegt, und wir sind gezwungen, seine Gedanken aus seinen vielen posthumen Schriften zusammenpflücken. Seine positiven Ideen sind überdies gerade in seinen vielen kritischen Schriften enthalten. Die Hauptidee von Marx bezüglich der Philosophie, von seiner Jugend an bis in sein Alter, kann so formuliert werden: Die Philosophie hat die Aufgabe, die Situation des handelnden Menschen zu analysieren. Philosophie ist die Selbsterkenntnis der politischen Praxis. Diese Definition schließt viele Elemente ein, die wir erläutern müssen. Zunächst die Haltung gegenüber der Philosophie im Allgemeinen. Marx äußert sich dazu schon im Alter von 18 Jahren in einem Brief an seinen Vater.1 Er lebte in Berlin und besuchte einerseits die Vorlesungen der konservativen Hegelianer, andererseits einen Kreis von Radikalen, der sogenannten Junghegelianer. Er beschreibt die Situation der Philosophie in diesen Jahren als einen unerträglichen Kontrast zwischen der Erfüllung, Harmonie und Größe der Wesenswelt, wie Hegel, der Philosoph par excellence, sie vertrat, und der Unerfülltheit, des Zwiespalts und der Enge der realen Welt, vor allem in Deutschland. [In seiner Dissertation] schreibt er: „[S]o wendet sich die Philosophie, die zur Welt sich erweitert hat, sich gegen die erscheinende Welt. […] Indem die Philosophie zu einer vollendeten, totalen Welt sich abgeschlossen hat […], so ist also die Totalität der Welt über1

Marx I, 1-11.

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haupt dirimiert in sich selbst […], denn die geistige Existenz ist frei geworden […].“1 Gerade weil die Versöhnung in der Philosophie erreicht wurde, bleiben Philosophie und Welt in ihrem Verhältnis zueinander gänzlich unversöhnt. Diese Zerspaltung („Diremption“), die gerade durch die vollkommene Einheit innerhalb der Philosophie erreicht wurde, ist kein Mangel einer bestimmten Philosophie, der korrigiert werden könnte. Sie ist die unvermeidliche Konsequenz der theoretischen Haltung ganz allgemein. Sie ist, wie wir sagen müssen, die unvermeidliche Konsequenz jeder Wesensphilosophie. Darum muß die Philosophie, wie Marx weiter ausführt, ihr eigenes Reich verlassen, wie Themistokles die Athener bewog, ihre bedrohte Stadt zu verlassen und zur See, auf einem anderen Element, „ein neues Athen zu gründen“.2 Marx zog diesen Vergleich, um zwei Parteien in Deutschland zu unterscheiden. Die eine fordert einen Verzicht auf die Philosophie zugunsten der Entwicklung der realen Mächte des Lebens. Aber – so argumentiert Marx – die Philosophie gehört zu den realen Mächten des Lebens in Deutschland, sie kann nicht aufgegeben werden, ohne dass sie in die Wirklichkeit überführt wird. Die andere Richtung will die Philosophie korrigieren, indem sie an ihren Voraussetzungen festhält, und will ihr Ideal durch Veränderung der Wirklichkeit realisieren. Marx argumentiert gegen diese Gruppe, dass die Philosophie und ihre Voraussetzungen zur schlechten Wirklichkeit in Deutschland gehören und dass es unmöglich ist, die Philosophie zu verwirklichen, ohne ihre idealistische Haltung zu beseitigen. Die Philosophie soll nicht beseitigt werden, ohne dass sie verwirklicht wird; und sie soll nicht verwirklicht werden, ohne dass sie beseitigt wird. In dieser Paradoxie findet Marx’ Haltung zur Philosophie ihren Ausdruck. Wir können sie interpretieren mit dem Hinweis, dass die Wesensphilosophie beseitigt und durch eine Philosophie der Existenz ersetzt werden muss: sie ist eine Philosophie, die gleichzeitig Theorie und Praxis ist, indem sie die Welt erkennt und verändert. Lassen Sie uns nun einige spezielle Gedanken von Marx betrachten, aber nur vom Gesichtspunkt von Marx’ Philosophie der Existenz. 1

2

K. Marx, Aus der Doktordissertation (1840), in: Marx I, 13. Der von Tillich durch mehrere Auslassungen gekürzte Text lautet in seiner Übersetzung so: „Thus the philosophy having become a world in itself contradicts the real world. Just through its becoming perfect and totalitarian, philosophy cleaves the world, insofar as it separates itself from existence.“ Vgl. Marx I, 14.

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Vor allem müssen wir jetzt über Marx’ Lehre vom Menschen sprechen. Marx behauptet, dass die Menschen in dem Moment anfangen, sich von den Tieren zu unterscheiden. „Indem sie ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.“1 Was die einzelnen Menschen sind, hängt ab von ihrer Produktion, von der Beschaffenheit und dem Material der Produktion. Menschliche Existenz besteht aus dem Sich-selbst-Schaffen durch das Produzieren und Reproduzieren der Bedingungen der eigenen Existenz. Lassen Sie uns einen Moment innehalten und diesen Gedanken mit der idealistischen Lehre vom Menschen vergleichen, die am radikalsten von Fichte entwickelt worden ist. Fichte spricht über das absolute Ich, das sich selbst durch sich selbst schafft und das sich selbst in jedem individuellen Ich darstellt. Das individuelle Ich, insofern als es identisch ist mit dem absoluten, schafft sich selbst. Diese schöpferische Fähigkeit des Ich nennt Fichte „die produktive Einbildungskraft“. Sie verstehen, das ist ein rein scholastischer Gedanke. Marx widerspricht diesem Gedanken, gleichzeitig aber übernimmt er ihn und verwandelt seine idealistische Form in eine realistische. Auch er sieht in der Selbst-Produktion den besonderen Charakter des Menschen. Aber die Selbst-Produktion ist bei ihm ökonomische Selbst-Produktion, die Reproduktion unserer materiellen Existenz. In beiden Fällen bildet die Selbst-Produktion den Unterschied zwischen Mensch und Tier, aber im Idealismus hat die Selbst-Produktion eine wesentliche Bedeutung: sie konstituiert unser Ich-Sein, unsere Identität mit dem absoluten Ich. Im Marxismus ist die Selbst-Produktion eine soziale und politische Aufgabe. Sie hängt einerseits von der geschichtlichen Situation ab, andererseits von unserer eigenen Kraft, die Situation zu verändern. Natürlich fordert auch Fichte Veränderungen der sozialen und politischen Struktur. Vielleicht wissen Sie, dass er in mancher Hinsicht ein Vertreter des sozialistischen Ideals ist; aber er ist dies als Wesensphilosoph. Er entwirft eine politische Situation, in der ein Gleichgewicht der Kräfte und der Gerechtigkeit verwirklicht ist. Im Gegensatz dazu sucht Marx die herrschenden Tendenzen und die Entwicklung der ökonomischen Selbst-Produktion zu erkennen, er entwirft aber kein konkretes Ideal, weil innerhalb des Prozesses der 1

K. Marx, Die deutsche Ideologie: Feuerbach, in: Marx II, 11.

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Selbst-Produktion auch die Ideen des Ziels, der Mittel und des Sinns des Prozesses produziert werden. Ich zitiere Worte über dieses Konzept: „Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen etc. etc., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.“1 „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.“2 „Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens.“3 Auch eine unabhängige Philosophie muß aus diesem Grunde abgelehnt werden. Die Philosophie drückt die menschliche Existenz aus, d. h. die politische und soziale Situation des produzierenden Menschen. Nicht einmal die Natur ist aus dieser Theorie ausgenommen. Auch die Natur wird in den Produktionsprozeß einbezogen; und wir haben es nur mit einer Natur zu tun, die durch die menschliche Produktion verändert wurde. Landwirtschaft, Technik, Verkehr und Kommunikation sowie Industrialisierung haben die Natur vollständig verändert. Eine reine Natur ist eine Abstraktion, aber keine Realität. Wir haben es nicht mit einer wesentlichen, sondern mit einer existentiellen Natur zu tun, d. h. mit einer Natur in Verbindung mit dem Prozess der Produktion und der Reproduktion der menschlichen Existenz. Und dieser Prozeß verändert sich ständig und damit auch die Natur4, soweit sie uns angeht. So kann auch in dieser Hinsicht die Philosophie nur den Sinn einer Selbstinterpretation einer Stufe der menschlichen Selbstproduktion haben. Die Unmöglichkeit, einen allgemeinen Begriff des Menschen aufzustellen, wird von Marx vor allem in seinem großen Angriff auf 1 2 3 4

K. Marx, Die deutsche Ideologie: Feuerbach, in: Marx II, 13. Ebd. Ebd. Folgt gestr.: unsere Gesellschaft und unsere Ideologie

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Hegels Rechtsphilosophie begründet. Ich beginne mit der Zitierung einiger berühmter und aufschlussreicher Worte betreffend das Verhältnis zwischen Religionsphilosophie und Rechtsphilosophie: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. […] Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.“1 „[Religion] ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt.“2 Es ist klar, dass diese Infragestellung der Religion sich gleichermaßen gegen jede Wesensphilosophie richtet. Denn Marx interpretiert die Wesensphilosophie als profane Form der Religion. Er fährt fort: „Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“3 „Es ist also die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.“4 Um die Wahrheit des Diesseits zu etablieren, muß die Kritik weitergehen. Die Kritik der Religion muss sich verwandeln in die Kritik des Rechts und die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik, die Kritik des Himmels in die Kritik der Erde. Beide Arten der Kritik richten sich gegen die Etablierung einer Wesenswelt, sei es im Himmel durch die Religion, sei es auf der Erde durch die Philosophie. Religion ist heilige Philosophie des Wesens, Philosophie des Wesens ist profane Religion. Marx stellt fest: „Feuerbachs große Tat ist: 1. Der Beweis, daß die Philosophie nichts anderes ist als die in Gedanken gebrachte und denkend ausgeführte Religion.“5 Insbesondere hat Feuerbach gezeigt, dass Hegel mit der Religion beginnt, doch in einem zweiten Schritt das Unendliche, die Religion, aufhebt und das Endliche als Realität setzt und in seinem dritten Schritt die Abstraktion, das Unendliche, und mit ihm Religion und Theologie wieder herstellt. Marx interpretiert diese dialektische Bewegung als den 1 2 3 4 5

K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx I, 263f. Marx I, 264. Ebd. Ebd. K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 310.

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abstrakten Ausdruck der Genesis des Menschen, d. h. der Befreiung des Menschen von der transzendenten religiösen Beschränkung; aber die Wiederherstellung der Religion durch die Philosophie bedeutet, dass wirkliche Freiheit und Geschichte durch Hegel nicht erreicht worden sind. Er hält den Menschen in der wesentlichen Freiheit fest und nicht in der existentiellen Freiheit. Erst Feuerbachs Kritik hat die philosophische Wiederherstellung der Religion zerstört und den Weg zur wirklichen Geschichte [des Menschen] eröffnet. Die Philosophie des Wesens ist eine Philosophie der Erfüllung, und wenn sie einen dialektischen Charakter hat, ist sie eine Philosophie der vollendeten Versöhnung, der wiedergewonnenen Identität. Darum muss ihre Kritik die Behauptung der Erfüllung und Identität angreifen. Der Begriff, mit dem Hegel die Nichtidentität ausdrückt, ist der Begriff „Entfremdung“. Marx zeigt, dass Hegel nur von einer abstrakten Entfremdung spricht und dass er darum nur eine abstrakte Versöhnung oder Identität erreicht und dass seine Argumentation, dass die Erlösung vollendet und die Entfremdung überwunden ist, der Wirklichkeit der Gesellschaft nicht entspricht. Marx versucht auf vielfache Weise, diesen Unterschied zwischen wesenhafter und realer Versöhnung, zwischen wesenhafter und realer Entfremdung zu beschreiben. In seinem Fragment „Nationalökonomie und Philosophie“, das vor wenigen Jahren entdeckt und durch meinen Freund [Jacob] Peter Mayer publiziert wurde1, formuliert Marx seine fundamentale Kritik, indem er Hegels erstes Werk, die „Phänomenologie des Geistes“, zitiert. Der Prozess der Wirklichkeit ist nach Hegel ein Prozess der Entfremdung und Versöhnung des Selbstbewusstseins; alle Formen des Lebens werden durch das Selbstbewusstsein produziert, insofern als dieses in die Entfremdung seiner selbst geht und in die Versöhnung mit sich selbst zurückkehrt. Die höchste, vollkommene Form der Versöhnung ist das absolute Wissen, in welchem der Geist bei sich selbst ist, erfüllt mit allen Formen, die er auf dem langen Weg der Entfremdung und Versöhnung geschaf1

K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 283-375. Zu Jacob Peter Mayer und seiner Mitarbeit an den beiden Bänden der Frühschriften von Karl Marx (= Marx I und II) vgl. Rainer Nicolaysen, Siegfried Landshut, Die Wiederentdeckung der Politik. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1997, 132-137, 141-150, 375-378. Vgl. aber auch den Artikel von J. P. Mayer „Über eine unveröffentlichte Schrift von Karl Marx“, in: Rote Revue 10, 1930/31, 154-157, sowie „Neue Marx-Literatur“, in: Neue Blätter für den Sozialismus 4, 1933, 153-155.

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fen hat. Marx bestätigt, dass diese Kategorie der Entfremdung die Hauptkategorie jeder Kritik der Wirklichkeit ist, und er räumt ein, dass bei Hegel das wichtigste Material für eine wirkliche, politische Kritik zu finden ist, weil jedes Stadium der Entfremdung auch ihre Kritik entwickelt1, doch er bestreitet, dass diese Entfremdung eine wirkliche Entfremdung ist; denn das Subjekt dieses Prozesses ist nicht der wirkliche Mensch, sondern eine Abstraktion des Menschen: das Selbstbewusstsein. Ich zitiere: „Die ganze Entäußerungsgeschichte und die ganze Zurücknahme der Entäußerung ist daher nichts als die Produktionsgeschichte des abstrakten i. e. absoluten Denkens, des logischen, spekulativen Denkens.“2 Ein weiteres Zitat: „Das menschliche Wesen, der Mensch gilt für Hegel = Selbstbewußtsein. Alle Entfremdung des menschlichen Wesens ist daher nichts als Entfremdung des Selbstbewußtseins. Die Entfremdung des Selbstbewußtseins gilt nicht als Ausdruck […] der wirklichen Entfremdung des menschlichen Wesens. Die wirkliche, als real erscheinende Entfremdung vielmehr ist ihrem innersten verborgenen […] Wesen nach nichts anderes als die Erscheinung von der Entfremdung des wirklichen menschlichen Wesens, des Selbstbewußtseins. […] Alle Wiederaneignung des entfremdeten gegenständlichen Wesens erscheint daher als eine Einverleibung in das Selbstbewußtsein.“3 Ein fremder Gegenstand wird wieder in das Selbstbewusstsein aufgenommen, er verschwindet als ein Fremdes und wird dadurch, dass er erkannt wird, ein inneres Element des Selbstbewusstseins. Marx lehnt diese Idee der Entfremdung ab; er verweist darauf, dass ein Ding, das durch die Entfremdung des Selbstbewusstseins geschaffen wird, keine Unabhängigkeit und Aktivität haben kann, d. h. seine Unabhängigkeit ist nur Erscheinung, nicht Realität, und sie dauert nur einen Moment; solch ein Ding ist kein Dasein, sondern ein Nicht-Dasein4; und das Selbstbewusstsein ist das Wissen um die Welt der Dinge, die durch es selbst als seine Entfremdung geschaffen werden und die keine Existenz außerhalb seiner selbst haben. Wissen ist Versöhnung, und nur dadurch, dass die Dinge begriffen werden, haben sie ihre Realität; „darum“, so sagt Marx in seiner 1 2 3 4

Gestr.: in sich enthält K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 313. K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 330. Ms.: such a thing is not a being, but a non-being.

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Hegel-Interpretation, „ist mein wahres religiöses Dasein mein religionsphilosophisches Dasein, mein wahres politisches Dasein mein rechtsphilosophisches Dasein, mein wahres natürliches Dasein das naturphilosophische Dasein, mein wahres künstlerisches Dasein das kunstphilosophische Dasein, mein wahres menschliches Dasein mein philosophisches Dasein.“1 Dieses Zitat zeigt besonders deutlich, dass Marx mit Recht als ein Philosoph der Existenz zu bezeichnen ist – im Gegensatz zu Hegels Wesensphilosophie. Auch Marx argumentiert rein logisch. Er behauptet, dass die Philosophen in vielen Fällen das Prädikat zum Subjekt machen und das Subjekt zum Prädikat. Der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur werden Prädikate der absoluten Idee, während die absolute Idee in Wahrheit ein Produkt der realen menschlichen Natur ist, nämlich des menschlichen Denkens. Die Philosophie der Existenz muss diese mystischen Subjekte auflösen und die wirklichen Subjekte und ihre Prädikate begreifen. Zum Beispiel: Hegel behauptet in seiner Rechtsphilosophie, dass der Staat, das heißt die real erscheinende absolute Idee, sich selbst in die zwei Sphären seines Begriffs, die der Familie und die der bürgerlichen Gesellschaft, scheidet, in denen sie2 ihre endliche Existenz führt und denen sie die Individuen und ihre Funktionen zuteilt. Für Marx ist dies eine Mystifikation, die aufzulösen ist. In Wirklichkeit handelt nicht der Staat, sondern die Individuen, Familien und Gruppen der bürgerlichen Gesellschaft handeln. Sie sind es, die den Staat schaffen. Für Hegel jedoch haben sie keine eigenständige Existenz, sie werden vom Staate geschaffen als Mittel zu seinen Zwecken. Die reale Bedingung ist bedingt, und das reale Bedingte ist Bedingung: Die Tatsache wird nicht als solche gefasst, sondern als Resultat der Bewegung der Idee. „In diesem Paragraphen“, so schreibt Marx, „ist das ganze Mysterium der Rechtsphilosophie niedergelegt und der Hegelschen Philosophie überhaupt.“3 Ein anderes Beispiel: Hegel schreibt: „Die Souveränität des Staats ist der Monarch.“4 Das heißt, logisch interpretiert: Das Allgemeine der Souveränität hat die Eigenschaft, sich als Monarch zu verwirklichen. In Wirklichkeit müssen wir wie der gemeine Mann sagen: 1 2 3 4

K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 339. Gemeint: die absolute Idee K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: Marx I, 26. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: Marx I, 48.

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„Der Monarch hat die […] Souveränität“ usw.1 Aber Marx ist nicht nur ein Kritiker, sondern auch ein Schüler Hegels. So übernimmt er für die Beschreibung der realen Situation der Gesellschaft Hegels Kategorien. Die Idee der Entfremdung wird von ihm aus einer essentialistischen in eine existentielle Interpretation umgeformt. Subjekt der Entfremdung ist nicht das abstrakte Selbstbewusstsein, sondern der real lebende Mensch: „Daß der Mensch ein […] sinnliches gegenständliches Wesen ist, heißt, daß er wirkliche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens […] hat oder daß er nur an wirklichen sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann. Gegenständlich, natürlich, sinnlich sein und sowohl Gegenstand […] außer sich haben oder selbst Gegenstand […] sein ist identisch.“2 „Der Mensch als ein gegenständliches sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und weil sein Leiden empfindendes Wesen ein leidenschaftliches Wesen.“3 Das ist die These, die Marx Hegels Konzept des Selbstbewusstseins entgegenstellt. Der Mensch ist, als ein sinnliches, leidendes, leidenschaftliches Wesen, von sich selbst entfremdet. Marx nennt diese Situation des Menschen „Entmenschlichung“4, d. h. eine „Entstellung der Menschlichkeit“5. An die Stelle von Hegels dialektischer Negation setzt er die wirkliche Negation, die im ökonomischen Prozess ihren Grund hat. Dieser Prozess wird durch die bürgerliche Gesellschaft vorangetrieben, über die Hegel in seiner Rechtsphilosophie wichtige Ausführungen macht. Er nennt sie den Privatstand im Unterschied zum6 allgemeinen Stand, den die Staatsbeamten darstellen.7 Der Privatstand widmet sich den individuellen Interessen, konkret: dem Geschäft, der allgemeine Stand den Staatsangelegenheiten. Auf diese Weise entsteht in der bürgerlichen Gesellschaft ein Gegensatz zwischen dem allgemeinen Staat und den Geschäftsinteressen der Individuen. Diese Spaltung ist Realität. Er gehört zur gegenwärtigen 1 2 3 4

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K. Marx, ebd. K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 333. K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 334. So wörtlich im Ms. – Marx I, 304: „Entmenschung“; 326: „… dass überhaupt die unmenschliche Macht her[rscht]“, 278: „der völlige Verlust des Menschen“. Ms.: distortion of humanity. Folgt gestr.: politischen Vgl. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: Marx I, 110113.

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Existenz, wie Marx an diesem Punkt im Anschluss an Hegel zeigt. Aber Hegel kann als Wesensphilosoph diese Spaltung nicht tolerieren. Er ist gezwungen, sie durch die Feststellung zu verdecken, dass die bürgerliche Gesellschaft gleichzeitig ein politischer Stand ist, da sie in gewisser Weise der „dem Dienste der Regierung sich widmende Stand“1 ist. Es gibt Rechte der Stände, die die absolute Macht der Bürokratie einschränken. Hegel lehnt darum die Ansicht ab, die bürgerliche Gesellschaft sei „eine in ihre Atome aufgelöste“, vom Staat getrennte Masse, der Staat aber die allgemeine und abstrakte Macht über den einzelnen Individuen.2 Hegel behauptet, dass die bürgerliche Gesellschaft sich aus Ständen zusammensetzt, die ihrerseits in die unterschiedlichen Bedürfnisse und Tätigkeiten der Gesellschaft eingewurzelt sind. Marx erkennt, dass diese Idee Ideologie im schlechten Sinne des Wortes ist, d. h. eine Idee, die den existentiellen Zwiespalt mit einer Wesenssynthese verdeckt, die Einheit und Harmonie für eine Gesellschaft ohne Einheit und Harmonie behauptet. Denn dies ist offensichtlich: Während im Mittelalter die feudalen Stände die Träger der politischen und ökonomischen Funktionen waren, löst in der bürgerlichen Gesellschaft das Prinzip des ökonomischen Egoismus jedes Einzelnen diese Einheit auf. Schon der Ausdruck „Privatstand“, den Hegel der bürgerlichen Gesellschaft beizulegen gezwungen ist, impliziert diese Auflösung. Ein eigentlicher Stand kann nicht ein „Privatstand“ sein. Der Begriff ist ein Widerspruch in sich selbst. Wenn Hegel sagt: Der abstrakte und atomistische Begriff des Standes muss verschwinden, antwortet Marx: In der Tat, dieser Begriff ist abstrakt und atomistisch, weil die Wirklichkeit der gegenwärtigen Gesellschaft abstrakt und atomistisch ist. Und wenn Hegel diese Vorstellung von dem Verhältnis zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft als eine befremdliche Auffassung kritisiert, so bestätigt Marx den befremdlichen Charakter dieser Auffassung, leitet ihn aber aus der wirklichen Entfremdung des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft ab.3 (Exkurs über die moderne Idee der Korporation, ihren ideologischen Charakter und ihre politische Konsequenzen.)

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K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: Marx I, 112. Vgl. K. Marx, in: Marx I, 115, 119f., 123. Vgl. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Staatsphilosophie, in: Marx I, 123.

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Der Entfremdung in der politischen Sphäre entspricht die soziale Entfremdung. Marx verbindet seine Erklärung dieses Punktes mit einer großartigen Theorie der Arbeit. Ich zitiere: „Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie. Er fasst die Arbeit als das Wesen, als das sich bewährende Wesen des Menschen; er sieht nur die positive Seite der Arbeit, nicht ihre negative. Die Arbeit ist das Fürsichwerden des Menschen innerhalb der Entäußerung oder als entäußerter Mensch. Die Arbeit, welche Hegel allein kennt und anerkennt, ist die abstrakt geistige.“1,2 Der Prozess des Selbstbewusstseins wird beschrieben nach der Art und Weise, wie ein Philosoph arbeitet: Die intellektuelle Bearbeitung der Gegenstände durch Begriffe. Aber nur die reale Arbeit, durch welche die Existenz sich selbst reproduziert, hat existentielle Bedeutung. Und diese Arbeit ist die Ursache der Entfremdung in der bürgerlichen Gesellschaft. Denn reale Arbeit führt zur Arbeitsteilung, und Arbeitsteilung führt zum Handel und zu Geld und Privateigentum mit absolutem Charakter. Durch die menschlichen Bedürfnisse werden Arbeitsteilung und Geld immer größer. Sie bekommen eine reale, unabhängige Macht über den werktätigen und Handel treibenden Menschen. Die Arbeit an sich bedeutet die Macht menschlicher Existenz und bereichert sie. Im Kapitalismus bedeutet sie das Gegenteil: „Mit der Masse der Gegenstände wächst daher das Reich der fremden Wesen, denen der Mensch unterjocht ist, und jedes neue Produkt ist eine neue Potenz des wechselseitigen Betrugs und der wechselseitigen Ausplünderung. Der Mensch wird umso ärmer als Mensch […].“3 Die Quantität des Geldes wird immer mehr seine einzige mächtige Eigenschaft. Das Geld nimmt allen Dingen ihre Qualität und wird selbst ein quantitatives Ding. Marx zitiert Shakespeares Timon von Athen4 und dessen Worte über die Macht des Geldes, die alle Seiten der menschlichen Existenz verzerrt.5 Während das Geld einerseits immer mehr Bedürfnisse produziert, um Sklaven der abstrakten wirtschaftlichen Macht zu produzieren, raubt es andererseits vielen Menschen alle menschlichen Bedürfnisse und versetzt sie auf die 1 2

3 4 5

K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 329. Folgt gestr.: Das heißt, Hegel kennt nur die Bewegung des Selbstbewusstseins durch Entfremdung und Versöhnung. K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 314. K. Marx, Nationalökonomie und Philosophie, in: Marx I, 356f. Folgt gestr.: die individuelle, soziale und religiöse Seite

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Stufe von Tieren und noch darunter. Im Prinzip ist der Arbeiter nur eine Arbeitskraft für die objektive Macht des Geldes, er kann seine Bedürfnisse nur zum Marktwert seiner Arbeitskraft befriedigen. Der Arbeiter ist kein Mensch, sondern eine Ware, ein Handelsartikel. Die Verzerrung seiner Menschlichkeit ist Bestandteil der ökonomischen Theorie selbst und erscheint in der Wirklichkeit als die verzerrte Existenz des Proletariers. Diese Ausführungen, die Marx in vielen Variationen wiederholt und die er mit vielen Illustrationen aus der proletarischen Situation des frühen Kapitalismus in England belegt, zeigen die völlige Entfremdung der realen menschlichen Existenz. Die Existenz ist mit dem Wesen nicht versöhnt. In der proletarischen Situation ist das menschliche Wesen in sein Gegenteil verkehrt. Aber nun können Sie einwenden: Diese Analyse mag richtig sein, aber wie in jeder Analyse drückt sich hier eine rein theoretische Haltung aus. Warum sollen wir Marx einen Philosophen der Existenz nennen? Diese Frage führt uns zu einem neuen, wichtigen Element von Marx’ Theorie. Marx spricht von der Produktion der Gedanken als Teil der Produktion im Allgemeinen und leitet aus dieser Idee folgenden Gedanken ab: „Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion […].“1 „Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse […].“2 Aber es ist möglich, diese Gedanken von ihren Produzenten und den Bedingungen ihrer Produktion zu trennen. Dann aber kommt man zu der Auffassung, dass diese Gedanken unabhängig sind von einer solchen Basis und dass Gedanken und nicht Klassen herrschen. Nach derselben Methode will auch Hegel in seiner Philosophie der Geschichte nur den Fortschritt des Begriffs betrachten. Dies kann er aber nur tun, wenn er die materiellen Bedingungen der herrschenden Ideologie ignoriert und die herrschenden Klassen durch die Philosophen und Denker ersetzt. Ich zitiere: „Während im gewöhnlichen Leben jeder Shopkeeper sehr wohl zwischen dem zu unterscheiden weiß, was jemand zu sein vorgibt, und dem, was er 1 2

K. Marx, Die deutsche Ideologie, in: Marx II, 37. K. Marx, Die deutsche Ideologie, in: Marx II, 37f.

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wirklich ist, so ist unsere Geschichtsschreibung noch nicht zu dieser trivialen Erkenntnis gekommen. Sie glaubt jeder Epoche aufs Wort, was sie von sich selbst sagt und sich einbildet.“1 Wenn er auf diese Weise jede Art von Ideologie kritisiert, hat Marx sich der Frage zu stellen, ob seine eigene Kritik nicht Ideologie ist, die von einer bestimmten Situation der Klassenherrschaft abhängig ist, oder ob sie Wahrheit ist; und wenn er Wahrheit für sich selbst beansprucht, erhebt sich die neue Frage, ob dieser Anspruch seiner eigenen Theorie der Ideologie nicht widerspricht. Nun sind wir endlich an dem Punkt, an dem der existentielle Charakter von Marx’ Theorie unwiderleglich ist. Denn nun bleibt für ihn nur ein Weg: einen Punkt innerhalb der Existenz zu zeigen, der die Möglichkeit eröffnet zur Flucht aus der Ideologie und zur Erfassung der Wahrheit. Dieser Punkt, so betont Marx immer wieder, ist die proletarische Klasse. „Die Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.“2 Darum ist es die Auflösung aller Stände; es ist der Stand, der „der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.“3 „Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung.“4 „Die Emanzipation des Deutschen (als des Typs der Herrschaft der Reaktion und der Mittelschicht5) ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.“6 Damit ist die Einheit von Philosophie und proletarischer Revolution außerordentlich klar ausgedrückt. Die Wahrheit findet sich in der proletarischen Existenz, weil nur in dieser Art von Existenz Ideologie nicht vorkommen kann. Denn in dieser Existenz gibt es kein Sonderinteresse, denn alle Besonderungen sind durch das Schicksal der Klasse beseitigt, das Schicksal, eine bestimmte Quantität der Arbeitskraft zu werden. 1 2 3 4 5 6

K. Marx, Die deutsche Ideologie, in: Marx II, 42. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Die in Klammern gesetzten Worte hat Tillich ergänzt. K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie,

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in: Marx I, 279. in: Marx I, 278f. in: Marx I, 279. in: Marx I, 280.

Das revolutionäre Proletariat ist der existentielle Ort der Wahrheit; von seinem Standpunkt aus kann jede Ideologie entlarvt werden, es benötigt selbst keine Ideologie. Wir müssen hier nicht erörtern, ob und inwieweit diese Auffassung im Recht ist, wir haben lediglich ihren Sinn zu verstehen, und es ist zu diesem Zweck nützlich, diese politische Form der Philosophie der Existenz mit einigen ihrer religiösen Formen zu vergleichen. (Das frühe Christentum: Die Gemeinde ist die Voraussetzung der Wahrheit, weil 1. negativ: Ablehnung aller irdischen Inhalte, 2. positiv: Verwandlung der Existenz. Ebenso in der individual-psychologischen Sphäre: Melancholie, Angst: in beiden Fällen ein Leiden, das jede verschleiernde Ideologie ablehnt.) Aber die Situation des Proletariats hat nicht nur die Seite der existentiellen Negativität. In ihr gibt es auch die Bewegung zur essentiellen Positivität. Das Proletariat ist nicht nur seiner Menschlichkeit beraubt, es hat auch die Tendenz, seine essentielle Menschlichkeit wiederzugewinnen. Marx behauptet: „Die Revolution hängt von der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten ab1, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besonderes Recht in Anspruch nimmt, weil kein besonderes Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welches nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann […], welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann.“2 In diesen Worten erscheint ein Element der Wesensphilosophie. Menschlichkeit ist der Wesenscharakter des Menschen. In der Existenz ist die Menschlichkeit verlorengegangen, aber Menschlichkeit als Wesensforderung ist geblieben. Die Möglichkeit, die Zerspaltung der Existenz zu empfinden, hat ihren Grund in der Möglichkeit, die Wesenseinheit zu empfinden. Marx’ Idee der Menschlichkeit, des realen Humanismus, setzt eine Wesensphilosophie voraus, in der das wahre menschliche Wesen beschrieben wird. Marx setzt Hegel voraus. Die Philosophie der Existenz setzt eine Art Wesensphilosophie voraus.3 1

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Marx wörtlich: „Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation? Antwort: In der Bildung einer Klasse …“ K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx I, 278f. Ms.: In these words an element of philosophy of essence appears. Humanity is

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Das bleibende Problem: Die Idee des Menschen; die Anthropologie, die in einer Philosophie der Existenz essentiell ist1. III. Kierkegaard2 Wir haben die zweite Periode Schellings als Grundlegung der Philosophie der Existenz und Marx als deren politische Form behandelt. Wir wollen nun die spezifisch religiöse Form betrachten, die ihr Sören Kierkegaard, der dänische Philosoph, Schüler und Gegner Hegels, gegeben hat. Ich hoffe, dass wir dann noch Zeit genug für eine Darstellung Nietzsches unter dem Gesichtspunkt der Philosophie der Existenz haben werden. Wenn Sie diese vier Aspekte der Philosophie der Existenz verstanden haben, können Sie auch ihre modernen Vertreter Heidegger, Jaspers usw. verstehen. Schelling kann weitgehend ohne eine Kenntnis seiner Person und seines Lebens verstanden werden. Der Grund dafür liegt darin, dass seine Philosophie der Existenz einen mehr logischen und wissenschaftlichen Charakter hat und dass sie mehr eine Forderung nach einer künftigen Philosophie der Existenz darstellt als eine solche selbst.

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the essential character of man. Humanity has been lost within existence, but humanity as an essential demand has remained. The possibility of feeling the cleavage of existence is rooted in the possibility of feeling the essential unity. Marx’s idea of humanity, of humanism, presupposes a philosophy of essence, in which the true human essence is explained. Marx presupposes Hegel. The philosophy of existence presupposes a kind of philosophy of essence. Ms.: The remaining problem: The idea of man; the anthropology, which is essential within a philosophy of existence. Kierkegaard-Zitate nach folgenden von Tillich benutzten Ausgaben der Werke Kierkegaards: Entweder/Oder, Erster Teil (Gesammelte Werke, hrsg. von Hermann Gottsched u. Christoph Schrempf, Band 1) Jena 1911 (= Jen. I); Entweder/Oder. Zweiter Teil (Gesammelte Werke, Band 2), Jena 1912 (= Jen. II); Furcht und Zittern/Wiederholung (Gesammelte Werke, Band 3), Jena 19192 (= Jen. III); Der Begriff der Angst (Gesammelte Werke, Band 5), Jena 1912 (= Jen. V); Philosophische Brocken/Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift/Erster Teil (Gesammelte Werke, Band 6), Jena 1910 (Jen. VI); Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift/Zweiter Teil (Gesammelte Werke, Band 7), Jena 1910 (= Jen. VII); Die Krankheit zum Tode (Gesammelte Werke, Band 8); Jena 1911 (= Jen. VIII); Einübung im Christentum (Gesammelte Werke, Band 9), Jena 1912 (= Jen. IX); Papirer, udg. af P. A. Heiberg og V. Kuhr. Bind I-X2, Köbenhavn 1909ff. (= Pap.). Als Sekundärliteratur hat Tillich benutzt: Hermann Diem, Philosophie und Christentum bei Sören Kierkegaard (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus, hrsg. von P. Althaus, K. Barth und K. Heim, Zweite Reihe, Band I), München 1929.

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Marx zeigt in allen seinen Schriften seine Verbindung zur revolutionären Bewegung des europäischen Proletariats. Nur in diesem Zusammenhang kann er verstanden werden. Die Wahrheit, die für Marx auf die proletarische Situation begrenzt ist, kann nur dort und nur bei dem gefunden werden, der mit der proletarischen Bewegung verbunden ist. Kierkegaard, der die Forderung nach einem existentiellem Denken noch kräftiger erhob als Marx, kann nicht losgelöst von seiner realen Existenz verstanden werden. Äußerlich betrachtet, ist seine reale Existenz die Existenz eines freien Schriftstellers in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Hauptstadt Dänemarks, der mit einer Vorliebe für das Fragment und meistens anonym über philosophische, ästhetische und religiöse Themen schrieb. Seine innere Existenz ist durch zwei Elemente bestimmt: erstens durch seine Schwermut, die ihn einerseits hinderte, in der Gesellschaft eine Existenz zu finden, einen Beruf auszuüben, eine Ehe einzugehen usw., andererseits aber den Weg für ihn frei machte zu seiner Selbstanalyse und zu1 seiner Abhandlung über die Verzweiflung und Angst; zweitens durch sein leidenschaftliches Christsein, das ihn einerseits antrieb, in den wenigen Jahren seines Lebens gegen die Wesensphilosophie in Philosophie und Theologie und gegen die entsprechende Haltung in Gesellschaft und Kirche zu kämpfen, und das ihn andererseits zu einem der aggressivsten Lehrer und Prediger eines persönlichen Christentums machte. Schon diese Hinweise mögen genügen, um zu zeigen, dass es unmöglich ist, Kierkegaards Philosophie in ein System zu überführen. Seine Philosophie der Existenz macht dies unmöglich. Wenn Schelling in seiner zweiten Periode ein System vorlegt, so verlässt er damit sein eigenes Programm einer Philosophie der Existenz. Marx, Kierkegaard und Nietzsche haben überhaupt kein System, und wenn Heidegger und Jaspers wieder ein System haben, verlassen sie in ihrem Denken ebenfalls die existentielle Haltung. Ich will Ihnen darum nur eine Reihe von Begriffen vorstellen, in denen die Haltung Kierkegaards als eines Philosophen der Existenz ihren Ausdruck findet. Zunächst die Kategorie der Existenz, die gerade durch Kierkegaards Einfluss auf die gegenwärtige Philosophie ihre spezifische Bedeutung bekommen hat. Ich zitiere aus der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift“, einem durchaus wissenschaftlichen Werk, das zum Wegweiser der modernen Entwicklung der Philosophie wurde: 1

Folgt gestr.: einer dialektischen Psychologie

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„In der Sprache der Abstraktion kommt eigentlich nie das vor, was die Schwierigkeit der Existenz und des Existierenden ausmacht […].“1 „Weil das abstrakte Denken eben sub specie aeterni ist, sieht es von dem Konkreten, von der Zeitlichkeit ab, vom Werden der Existenz, von der Not des Existierenden, dass er durch Zusammenfügung des Ewigen und des Zeitlichen in die Existenz gesetzt ist.“2 Kierkegaard zeigt hiermit den entscheidenden Unterschied zwischen Wesen und Existenz. Zum Wesen gelangt man durch die Abstraktion von der Existenz. Zur Existenz gehört die Zeitlichkeit, zum Wesen die Ewigkeit. Die Wesensphilosophie kann sich darum nicht mit der wichtigsten Eigenschaft der Existenz befassen. Genauer gesagt: Der Existierende hat in sich beide Elemente, das Ewige und das Zeitliche. Und sein wirkliches Problem, seine Not besteht darin, sich der Einheit dieser beiden gegensätzlichen Elemente bewusst zu sein. In dieser Situation kann die Wesensphilosophie nicht helfen. Kierkegaard schreibt: „Die Mißlichkeit der Abstraktion zeigt sich gerade bei allen Existenzfragen, wo die Abstraktion die Schwierigkeit entfernt, indem sie sie auslässt […] Sie erklärt die Unsterblichkeit überhaupt, und siehe da, es geht ausgezeichnet, indem Unsterblichkeit mit Ewigkeit identisch wird, mit der Ewigkeit, welche wesentlich Medium des Gedankens ist. Ob aber ein einzelner existierender Mensch unsterblich ist, worin gerade die Schwierigkeit liegt, darum kümmert sich die Abstraktion nicht. Sie ist interesselos, aber die Schwierigkeit der Existenz besteht in dem Interesse des Existierenden und dass den Existierenden das Existieren unendlich interessiert. Das abstrakte Denken verhilft mir daher so zur Unsterblichkeit, dass es mich als einzelnes existierendes Individuum totschlägt und mich dann unsterblich macht …“3 In diesen Worten haben wir den Begriff des Interesses. Kierkegaard hat wiederholt festgestellt, dass das Interesse zur existentiellen Wahrheit gehört. „Die Abstraktion“, so schreibt er, „ist interesselos, aber das Existieren ist des Existierenden höchstes Interesse […] und die Interessiertheit am Existieren die Wirklichkeit.“4 Der Gegensatz zwischen der ewigen-wesentlichen und der zeitlichen-existentiellen 1 2 3 4

Jen. VII, 1. Ebd. Jen. VII, 2. Jen. VII, 12f. – Ms.: „Abstraction, he says, is without interest; but to exist is the ultimate interest of the existent […] and this interest for his existence is what he calls reality.“

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Welt hat Realität nur in der Einheit der beiden in einem Einzelnen und seinem Interesse an dieser Einheit. Der Begriff des Interesses und die Einheit von Interesse und Wahrheit gehört zu allen Formen der Existenzphilosophie. (Schellings Freiheitsphilosophie, Marx’ Identifikation des proletarischen Interesses mit der Wahrheit, Nietzsches Gleichsetzung der Wahrheit, Ressentiment und Wille zur Macht, Heideggers zentrale Definition der Existenz als der Eigenschaft des Seienden, dem es um sein eigenes Sein geht. Im Gegensatz zu dieser Haltung die uninteressierte Erkenntnis, die eine gewisse Identität mit dem göttlichen Intellekt und die Erhebung des menschlichen Intellekts über jede Spaltung [von Subjekt und Objekt] voraussetzt; in letzterer eine mystische Haltung. Gegensatz: das absolute Interesse Luthers an seinem eigenen Heil. Ablehnung jeder Art von Identifikation.) In seiner Charakterisierung des Interesses des Einzelnen an seiner Existenz gebraucht Kierkegaard die Kategorie des Ethischen. Der Existierende, sofern er ein abstrakter Denker ist, ist gezwungen, von seiner Existenz zu abstrahieren, aber er ist gezwungen, dies zu tun als ein Existierender! Darum muß er fragen, ob er seine Existenz in seinem Denken ablehnen will (falls das möglich wäre) und ob es ihm erlaubt wäre, dies zu tun. In dem Moment, in dem er diese Frage stellt, fragt er in einer ethischen Haltung, und in diesem Moment ist die Antwort unvermeidlich, dass das Ethische dem Existierenden das Existieren befiehlt. Die Ethik schafft das unendliche Interesse des Existierenden an einer eigenen Existenz. In Verbindung mit der Kategorie des Ethischen behandelt Kierkegaard den Unterschied zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Die Wirklichkeit schreibt er der Existenz und dem Ethischen zu, die Möglichkeit der Ästhetik und dem abstrakten Denken. Ich gebe zu diesen sehr wichtigen Begriffen ein Zitat: „Was Wirklichkeit ist, lässt sich in der Sprache der Abstraktion nicht ausdrücken […]. Die Abstraktion kann sich der Wirklichkeit nur so bemächtigen, dass sie dieselbe aufhebt, aber sie aufheben heißt sie in Möglichkeit verwandeln. […] Jedes Wissen von Wirklichkeit ist Möglichkeit; […] die einzige Wirklichkeit, die es für einen Existierenden gibt, ist seine eigene ethische; von aller anderen Wirklichkeit weiß er nur, aber das wahre Wissen ist ein Übersetzen in die Möglichkeit.“1 Ich erinnere Sie 1

Jen. VII, 13f., 15.

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an die von Schelling getroffene Unterscheidung zwischen negativer Philosophie, die sich mit den Möglichkeiten des Wesens befasst, und positiver Philosophie, die sich mit den Wirklichkeiten der Existenz befasst. Kierkegaard zitiert Aristoteles, der in seiner Poetik bemerkt, dass die Poesie höher stehe als die Geschichte, weil die Geschichte nur darstelle, was wirklich geschehen sei, die Poesie aber im Bereich des Möglichen bleibe. Kierkegaard räumt ein, dass für die Haltung interesseloser Intuition Aristoteles Recht hat, dass also die absolute Begrenzung dieser Haltung das ethische Gebot sei, an der eigenen Existenz interessiert zu sein: „Während die Wirklichkeit im ethischen Existieren besteht, ist die Zeit so vorwiegend betrachtend geworden, dass nicht nur alle betrachtend sind, sondern dies zuletzt gefälscht wird, als wäre es Wirklichkeit. Man lächelt über das Klosterleben; und doch lebte kein Eremit so unwirklich, wie man heutzutage lebt, denn ein Eremit abstrahierte wohl von der ganzen Welt, aber er abstrahierte nicht von sich selbst. Man weiß die phantastische Lage eines Klosters zu beschreiben: abseits, in der Einsamkeit des Waldes, im fernen Blauen des Horizontes; aber man denkt nicht an die phantastische Lage des reinen Denkens. Und doch ist die pathetische Unwirklichkeit des Einsiedlers der komischen Unwirklichkeit des reinen Denkers weit vorzuziehen. […] Ethisch gesehen steht Wirklichkeit höher als Möglichkeit. Das Ethische will gerade die Interesselosigkeit der Möglichkeit dadurch vernichten, dass es das Existieren zum höchsten Interesse macht. […] Das Ethische hat mit den einzelnen Menschen zu tun, und wohlgemerkt mit jedem einzelnen. […] Dies, was im Menschen wohnt, ist ja die einzige Wirklichkeit, die dadurch, dass man von ihr weiß, nicht zu einer Möglichkeit wird. […] Die eigne ethische Wirklichkeit des Individuums ist die einzige Wirklichkeit.“1 Diese radikale Position kann ohne die Betrachtung der modernen Situation des Denkens nicht verstanden werden. Jede moderne Wissenschaft, auch die moderne Philosophie, wird bestimmt durch das Ideal mathematischer Exaktheit. Und die Mathematik bleibt immer im Bereich der reinen Möglichkeit. Im unendlichen Bereich der abstrakten Notwendigkeit des Denkens baut die Mathematik ihr Gebäude der Möglichkeiten. Die erstaunliche Tatsache, dass diese Möglichkeiten in einem gewissen Ausmaß dazu dienen können, die Wirklichkeit der Natur zu erklären, hat einen enthusiastischen 1

Jen. VII, 18. 19. 25.

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Glauben an die allmächtige Vernunft und an die Macht des menschlichen Geistes geschaffen, die Welt durch das Verbleiben im Bereich der Notwendigkeit und der Möglichkeit die Welt zu erkennen. Auf diese Weise schuf die Philosophie mehr und mehr einen Zwiespalt zwischen der ethischen Existenz des Individuums und den allgemeinen Notwendigkeiten, an denen es als denkendes teilhat. Das Individuum ist mehr und mehr der zufällige Raum geworden, in dem sich die allgemeinen Begriffe bewegen. Die Erfindung der Geschichtsphilosophie durch die französischen Philosophen der Aufklärung und Hegels Aufnahme der Geschichte in ein von logischen Kategorien bestimmtes System haben diese Tendenz durchgesetzt. Nicht nur die Natur, sondern auch das menschliche Leben wurde in den Bereich der Notwendigkeiten des Denkens, d. h. der reinen Möglichkeiten hineingezogen. Typisch für diese Haltung ist Descartes’ berühmter Schluss vom Denken auf das Sein, vom Selbstbewusstsein auf die Existenz. Kierkegaard lehnt diesen Schluss ab, indem er erklärt, dass wenn das „cogito“ das psychologische Faktum meint, dass ich denke, dass es dann nichts anderes beweist als das, was es voraussetzt, und dass, wenn es nicht ein psychologisch existierendes Ego meint, das im selben Moment denkt, sondern das reine Selbstbewusstsein, nicht mehr meint als die Tatsache, dass das abstrakte Selbstbewusstsein abstraktes Selbstbewusstsein ist.1 Es gibt keinen Übergang von einem allgemeinen Selbstbewusstsein zu einem real existierenden Einzelnen; es kommt aber allein auf diesen Übergang an, weil der Mensch an beidem partizipiert. Wenn darum die Geschichte in das reine Selbstbewusstsein aufgenommen wird, hat sie ihre Beziehung zum existierenden Einzelnen verloren, ist sie eine Sache der Intuition geworden, ein Welttheater, das der Einzelne nur betrachtet, obwohl die Geschichte aus unzähligen individuellen Handlungen besteht. Aber diese Handlungen und die Interessen und Leidenschaften, durch die sie zustande kommen, sind auch bei Hegel keine Gegenstände der philosophischen Betrachtung. Sie sind Gegenstände nur insofern, als jede Geschichte durch sie bedingt ist; aber sie haben für sich selbst keine Bedeutung. Das ist der völlige Gegensatz zum unendlichen Interesse der ethischen Existenz an sich selbst. Und das ist nicht nur ein philosophischer Gegensatz; er entspricht der realen historischen Situation, 1

Jen. VII, 17f.

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die charakterisiert ist durch die Bewegung der Massen. Die liberale Wirtschaft hat gezeigt, dass der Prozess der Wirtschaft wie eine transzendente Macht jeden einzelnen Akt der Produktion und des Konsums beherrscht und dass nicht eine einzelne Handlung, sondern das allgemeine Gesetz entscheidend ist. Auf dieselbe Weise haben auch Psychologie und Soziologie die Notwendigkeit von Massenbewegungen angenommen, durch die die individuelle Existenz in eine Bewegung gleicher Atome ohne irgendeine besondere Eigenschaft und ohne irgendeine individuelle Bedeutung verwandelt wird. Ein Denken, das nur allgemeine Begriffe und allgemeine Gesetze kennt, betrachtet den Einzelnen als einen Einzelfall, der in ein allgemeines Gesetz gehört, und als nichts anderes. Da ist kein Platz für eine ethische Existenz. Aber nicht alle Menschen werden durch diese Situation direkt betroffen. Es gibt viele Menschen, die eine Existenz neben der Masse und ihren Führern haben, wenigstens für ihr eigenes Bewusstsein; und sie haben die Tendenz, diese ihre individuelle Existenz neben dem allgemeinen Prozess der Wirtschaft und der Entstehung von Massen zu bewahren. Darum muss diese Tendenz aggressiv werden gegen die Drohung, in der Masse unterzugehen. Der Einzelne versucht, sich zu retten, indem er sich zurückzieht von der objektiven Welt, in der er jede Bedeutung verloren hat. Marx versucht, durch die Umwandlung der liberalen Wirtschaft in eine sozialistische Wirtschaft mit Hilfe der Massen die menschliche Gesellschaft zu retten vor dem Schicksal, Masse zu werden. Kierkegaard versucht, durch den Rückzug auf sich selbst und seine ethische Existenz sich und einige Christen vor dem Schicksal reiner Verobjektivierung zu retten. Und so attackiert er die Geschichte als ein objektives Theater, das die ethische Existenz des Einzelnen vergleichgültigt. Dagegen schreibt er nur derjenigen Existenz Realität zu, in der der Einzelne eine unendliche Bedeutung hat. Aber die reale Situation rächt sich sozusagen: Der Einzelne, der sich vom objektiven Leben der Gesellschaft, von der Wirtschaft und vom geschichtlichen Prozess zurückgezogen hat, wird extrem einsam. Kierkegaard bezeugt diese absolute Einsamkeit mit folgenden Worten: „daß es ethisch kein direktes Verhältnis zwischen Subjekt und Subjekt gibt. Wenn ich ein anderes Subjekt verstanden habe, ist dessen Wirklichkeit für mich eine Möglichkeit […]. Die ethische Wirklichkeit eines anderen Menschen kann wieder nur durchs Denken, d. h. als Möglichkeit, erfasst werden. Ein Mensch

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kann den anderen nicht ethisch richten, weil er den anderen nur als Möglichkeit versteht.“1 Die Einsamkeit des Einzelnen impliziert das Problem der Mitteilung. Wie ist es möglich, dem anderen, der so einsam ist wie ich selbst, etwas mitzuteilen? Es gibt eine Art der Mitteilung, die keine Schwierigkeit bereitet. Wenn ich von meiner Existenz abstrahiere und eine objektive Wesenserkenntnis mitteile, kann jedermann sie verstehen, wenn auch er von sich selbst abstrahiert. Das objektive Denken ist direkt mitteilbar, das subjektive, existentielle Denken nur indirekt: „Das objektive Denken ist gegen die Subjektivität und damit gegen die Innerlichkeit und die Aneignung ganz gleichgültig; seine Mitteilung ist darum direkt.“2 Sie kann wiederholt und auswendig gelernt werden, durch Schüler weitergegeben werden usw. Subjektives oder existentielles Denken kümmert sich im Gegensatz dazu nicht nur um den angemessenen Ausdruck seiner selbst, es kümmert sich auch um die Beziehung zwischen dem Mitteilenden und der mitgeteilten Wahrheit und folglich auch zwischen der Mitteilung und dem existierenden Hörer. In diesem Augenblick muss die Art der Mitteilung eine andere werden. Weil es zur Natur unserer Existenz gehört, niemals vollkommen zu sein, weder im Handeln noch im Denken, ist es unmöglich, ein Resultat mitzuteilen. Die existentielle Wahrheit kann nur als die Selbstinterpretation einer Existenzsituation mitgeteilt werden, die als existentielle dem Zweifel und der Veränderung ausgesetzt ist. Darum kann der Hörer sie nicht als Resultat übernehmen, sondern nur als einen Hinweis, als eine Einladung, in sich selbst eine ähnliche Situation zu finden. Es gibt da keinen Beweis, keine Nötigung zu solch einer Aussage. Sie ist frei und appelliert an die Freiheit des Hörers. Die Behauptung, die Wahrheit könne niemals ein Resultat, sondern müsse ein Prozess der Aneignung sein, da in diesem Moment der Inhalt dieser Behauptung verneint wurde usw.3 (Exkurs über Sokrates; der Dialog, der anonyme Charakter von Kierkegaards Schriften, von Lessing.) 1

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Jen. VII, 20f. – Ms.: „There is ethically no direct connection between Ego and Ego. If I have understood a strange Ego, the reality of it has been transformed for me into a potentiality […] the ethical reality of an other man can only be comprehended through thinking, that is as potentiality. A man cannot judge the other ethically because he understands the other only as potentiality.“ Jen. VI, 163. Folgt gestr.: Darum auch bei Kierkegaard selbst die indirekte Form der Mitteilung.

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Der subjektive Denker. Wahrheit: „Die objektive Ungewissheit, in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit festgehalten, das ist die Wahrheit, die höchste Wahrheit, die es für einen Existierenden gibt.“1 Subjektivität ist Wahrheit; Wahrheit ist Subjektivität. Subjektivität = innere Existenz („Innerlichkeit“2). Darum entspricht der existentiellen Wahrheit nur die indirekte Mitteilung. Immer wieder betont Kierkegaard die Idee der indirekten Mitteilung. In der Tat, es gibt für die Philosophie der Existenz nichts Wichtigeres als die Frage: Wie ist es möglich, eine Wahrheit mitzuteilen, die mit meiner eigenen Existenz zusammenhängt? Denn meine Existenz hat nur für mich selbst Realität. Für jeden anderen hat sie nur einen möglichen, keinen existentiellen Charakter. Folglich hat auch meine existentielle Wahrheit für jeden anderen nur einen möglichen Charakter, und eine direkte Mitteilung ist unmöglich. Kierkegaard unterscheidet zwei Formen der indirekten Mitteilung. Die eine, in der derjenige, der mitteilt, seine eigene Existenz verbirgt, indem er gegensätzliche Ideen vorträgt, ohne eine Entscheidung zu treffen. Er muss „Verteidigung und Angriff so in Einheit bringen, dass keiner direkt sagen kann, ob man angreift oder verteidigt, so dass der eifrigste Anhänger der Sache und ihr ärgster Feind beide meinen können, in einem einen Alliierten zu haben und so selbst niemand, ein Abwesender, ein objektives Etwas zu sein, kein persönlicher Mensch.“3 Gemäß dieser Regel verschwindet Kierkegaard selbst hinter seinen verschiedenen Pseudonymen, die er für die meisten seiner Schriften verwendet. Aber er gebraucht nicht nur ein einziges Pseudonym, sondern mehrere in derselben Schrift, um seine eigene Meinung so gut wie möglich zu verbergen. Aus diesem Grunde zieht er auch die frühen Dialoge Platos den späteren vor, in denen Plato seine eigene Philosophie auf direktere Art darlegt. Die Mitteilung der echten Dialoge hat einen offensichtlich indirekten Charakter. Keiner dieser Dialoge bietet ein klares Resultat. Und das ist für Kierkegaard ihre Größe, weil auf diese Weise der Leser aufgefordert wird, sich für sich selbst zu entscheiden.

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Jen. VI, 278. In Tillichs Ms. das deutsche Wort „Innerlichkeit“. Jen. IX , 120.

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Ein anderer Typ der indirekten Mitteilung wird durch Lessing repräsentiert. Kierkegaard schreibt über Lessing: „Also sein Resultat? Wunderbarer Lessing! Er hat keins, keins! Da ist keine Spur von einem Resultat […]. Es war eine Schande von Lessing, dass er die, die so unendlich gern in verba magistri schwören wollten, ihm gegenüber in die Verlegenheit brachte […], dass er nicht selbst direkt sagte: ‚ich greife das Christentum an‘, so daß die Schwörenden sagen konnten: ‚wir schwören‘; dass er nicht direkt sagte: ‚ich will das Christentum verteidigen‘, so dass die Schwörenden sagen konnten: ‚wir schwören‘.“1 Dieselbe Haltung finden wir bei Sokrates. Kierkegaard schätzte ihn mehr als jeden anderen Philosophen. Sokrates war für ihn der Repräsentant eines subjektiven oder existentiellen Denkers. Durch seine Ironie machte er es jedem Schüler unmöglich, seine Ideen als objektive Wahrheit zu wiederholen. Wenn jemand hoffte, die Lehre des Sokrates zu begreifen, verwirrte er ihn durch Fragen, die die vorgetäuschte Lehre zunichte machten. Auf diese Weise zwang er jeden, in sich selbst zu gehen und die Wahrheit in seiner eigenen Seele zu suchen. Jede Seele erinnert sich an die Wahrheit. Darum kann niemand anders einem anderen die Wahrheit weitergeben. Ein Lehrer ist nicht jemand, der die Wahrheit hat und sie an den Schüler weitergibt; aber ein Lehrer gibt dem Schüler die Gelegenheit, die Wahrheit in sich selbst und durch sich selbst zu finden. Darum die berühmten Worte des Sokrates, dass ihm verboten sei zu zeugen und dass ihm nur erlaubt sei, als Hebamme zu dienen.2 Auf solche Weise verhindert er „die schrecklichste aller Unwahrheiten, einen Anhänger“ zu haben.3 Die Ironie macht dies unmöglich, weil in jeder Ironie die gesprochenen Worte das Gegenteil dessen besagen, was wirklich gemeint ist, und weil niemand genau erkennen kann, was wirklich gemeint ist. Die Ironie befreit den Einzelnen und zwingt ihn, selbst zu entscheiden. „Die Ironie erscheint, wenn man die Einzelheiten der Endlichkeit fortwährend mit der unendlichen ethischen Forderung zusammenbringt und den Widerspruch ent1

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Jen. VI, 154. 157. – Ms.: „Results of Lessing? Magnificent Lessing! He has no one, no one; there is not a result. […] It was bad for those people who wanted to have an absolute confidence in the words of their teacher, that they always were troubled always by Lessing, insofar as he made it impossible to recognize his opinion and to believe in it.“ Vgl. Plato, Theätet 150. – Jen. VI, 9, zit. Diem 139. Jen. VI, 333, zit. Diem 139.

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stehen lässt.“1 Ironie ist das Inkognito für die ethische Haltung, sie impliziert Distinktion und ethische Leidenschaft. Die höchste und vollkommen existentielle Form der Mitteilung ist diejenige, in der Gott als Lehrer, d. h. in Christus, Wahrheit schafft, indem er seinen Schüler zu einem neuen Geschöpf macht oder, in anderen Worten, indem er die wirkliche Voraussetzung für die Erkenntnis der Wahrheit schafft, die innere Voraussetzung der Erinnerung, an die Sokrates nicht dachte, weil er die menschliche Sünde und den Abstand zwischen dem Wesen des Menschen und seiner Existenz nicht kannte. Die höchste und vollkommen existentielle Form der Mitteilung ist die Erlösung; aber sie ist nicht möglich zwischen Mensch und Mensch. Darum bleibt Sokrates der Repräsentant eines existentiellen Lehrers und seine Methode der philosophische Typus der indirekten Mitteilung. Die indirekte Mitteilung setzt eine besondere Idee der Wahrheit voraus. Kein anderer hat die Idee der existentiellen Wahrheit so klar und so radikal ausgedrückt wie Kierkegaard. Ich gebe einige Zitate: „Für die objektive Reflexion wird die Wahrheit etwas Objektives, ein Gegenstand, und es gilt, vom Subjekt abzusehen; für die subjektive Reflexion wird die Wahrheit die Aneignung, die Innerlichkeit, die Subjektivität, und es gilt, gerade sich existierend in die Subjektivität zu vertiefen […]. Der Weg der objektiven Reflexion macht das Subjekt zu dem Zufälligen und damit die Existenz zu etwas Gleichgültigem, Verschwindendem. Weg vom Subjekt geht der Weg zur objektiven Wahrheit, und während das Subjekt und die Subjektivität gleichgültig wird, wird es die Wahrheit auch, und gerade dies ist ihre objektive Gültigkeit, denn das Interesse ist, wie die Entscheidung, die Subjektivität.“2 Kierkegaard weist das Argument zurück, die Subjektivität sei willkürlich und unfähig, zwischen Wahrheit und 1 2

Jen. VII, 188, zit. Diem 136. Jen. VI, 267. 269. – Ms.: „For the objective reflection truth becomes objective, an object and the task is to abstract from the subject. For subjective reflection truth becomes adaption, inner existence, subjectivity, and the task of existence and as an existent to go into the inner subjectivity […]. The way of the objective reflection makes the subject an accidental and consequently existence a thing which is not the object of any interest, which on the contrary disappears. The way towards the objective truth leads away from the subject; but insofar as subject and subjectivity lose interest, truth also loses interest; and even that is objective validity; because interest like decision belongs to subjectivity.“

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Verrücktheit zu unterscheiden. Er definiert Subjektivität als Leidenschaft. „Leidenschaft ist für einen Existierenden gerade das Höchste der Existenz – […] Nur momentweise kann sich das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit befinden […]. Dieser Moment ist der Augenblick der Leidenschaft.“1 Die abstrakte Einheit von Subjekt und Objekt ist nicht wirklich, weil beide Seiten dieser Einheit nicht wirklich, sondern nur gedacht sind. Wirkliche Einheit geschieht im höchsten Augenblick der Subjektivität und das heißt: in der Leidenschaft. Leidenschaft charakterisiert den subjektiven Denker. Solch ein Denker muß haben: „Phantasie, Gefühl und Dialektik in Existenzinnerlichkeit mit Leidenschaft. Aber zuerst und zuletzt Leidenschaft, denn es ist unmöglich, existierend über Existenz nachzudenken, ohne in Leidenschaft zu geraten, weil das Existieren ein ungeheurer Widerspruch ist […].“2 Weil existentielle Wahrheit nur durch Leidenschaft möglich ist, ist ihr Inhalt das Paradox. „Das Paradox ist nicht eine Konzession, sondern eine Kategorie, eine ontologische Bestimmung, die das Verhältnis ausdrückt zwischen einem existierenden Geist und der ewigen Wahrheit.“3 „Jedoch ist die ewige, wesentliche Wahrheit keineswegs selbst das Paradox, sondern nur, sofern sie sich zu einem Existierenden verhält.“4 „Das Paradox ist das eigentliche Pathos des intellektuellen Lebens.“5 Die höchste Form des Paradoxes ist das konkrete christliche Paradox, die Einheit von Ewigkeit und zeitlicher Existenz in der Idee, dass Gott in Christus ist. Das Paradox drückt die menschliche Situation aus, die durch Endlichkeit gekennzeichnet ist, aber zugleich auch durch Augenblicke der Einheit mit dem Unendlichen durch die Leidenschaft. Diese Augenblicke schaffen keine vom Subjekt und seiner Existenz losgelöste objektive Wahrheit. „Objektiv hat man da nur Ungewissheit, aber gerade dies spannt die unendliche Leidenschaft der Innerlichkeit an.“6 Aber indem er die Ungewissheit anerkennt, hat er das Unendliche durch die unendliche Leidenschaft seiner inneren Existenz. 1 2 3 4 5 6

Jen. VI, 272, zit. Diem 54. Jen. VII, 47, zit. Diem 54. Pap. VIII A 11, zit. Diem 185. Jen. VI, 279, zit. Diem 184. Pap. II A 755, zit. Diem 186. Jen. VI 278, zit. Diem 184.

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Kierkegaard deutet darum die Möglichkeit an, dass in einer Haltung existentieller Wahrheit das objektiv Falsche ergriffen werden kann. Er führt aus: „Wenn subjektiv nach der Wahrheit gefragt wird, so wird subjektiv auf das Verhältnis des Individuums [zu seinem Denken] reflektiert; wenn nur das Wie dieses Verhältnisses in Wahrheit ist, so ist das Individuum in Wahrheit, selbst wenn es sich so zur Unwahrheit verhält.“1 „Objektiv wird betont, was gesagt wird; subjektiv: wie es gesagt wird.“2 Die höchste Haltung ist die Leidenschaft der Unendlichkeit. „Die Leidenschaft der Unendlichkeit ist die Wahrheit selbst. Aber die Leidenschaft der Unendlichkeit ist gerade die Subjektivität, und also ist die Subjektivität die Wahrheit.“3 Und dann fasst er alle diese Elemente zusammen und stellt folgende Definition der Wahrheit auf: „Die objektive Ungewissheit, in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit festgehalten, das ist die Wahrheit, die höchste Wahrheit, die es für einen Existierenden gibt.“4 „Objektiv hat man da nur Ungewissheit; aber gerade dies spannt die unendliche Leidenschaft der Innerlichkeit an; und die Wahrheit besteht eben in dem Wagestück5, das objektiv Ungewisse mit der Leidenschaft der Unendlichkeit zu wählen.“6 (Exkurs über die Wahrheit als Wagnis – gegen die objektive Sicherheit.) Ein neues wichtiges Element der existentiellen Wahrheit ist die Entscheidung. Kierkegaard schreibt: „Nur in der Subjektivität gibt es Entscheidung, wogegen das Objektiv-Bleibenwollen die Unwahrheit ist.“7 Der Augenblick einer leidenschaftlichen Entscheidung ist der Augenblick der Wahrheit.8 Aber im nächsten Augenblick ist diese Wahrheit Ungewissheit. Weil zur existentiellen Wahrheit Entscheidung gehört, greift Kierkegaard die Kategorien Identität und Vermittlung an. (Exkurs über

1

Jen. VI, 274.

2

Jen. VI, 277 – Ms.: „Objective truth depends on that which is said, subjective truth depends on the attitude in which it is said.“ Jen. VI, 277. Jen. VI, 278. Ms.: daring deed. Jen. VI, 278, zit. Diem 9. Jen. VI, 278. Ms.: The moment of a passionate decision gives truth.

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beide.) Und er ersetzt sie durch den Begriff Entscheidung.1 Nicht nur eins seiner berühmtesten Bücher hat diesen Titel.2 Diese Worte sind das Symbol seiner Opposition gegen Hegel und die Wesensphilosophie. In der Wesensphilosophie können wir sagen: „Sowohl als auch“. Die Existenzphilosophie kennt nur ein „Entweder-Oder“. Weil das Verhältnis eines Existierenden zum Unendlichen in jedem Moment eine Entscheidung verlangt, hat „Hegel […] darin vollkommen und absolut recht, dass es, ewig gesehen, sub specie aeterni, in der Sprache der Abstraktion, im reinen Denken und reinen Sein kein aut – aut gibt; wo zum Kuckuck sollte es das geben, da ja eben die Abstraktion den Widerspruch entfernt […].“3 „Solange ich lebe, lebe ich im Widerspruch. Auf der einen Seite habe ich die ewige Wahrheit, auf der anderen Seite das mannigfaltige Dasein […].“4 Hegels Versuch, den Satz vom Widerspruch durch den Satz der Identität aufzuheben, hat keine Gültigkeit für die Existenz. Andererseits wird Hegels Tendenz, Bewegung in das System der Logik hineinzubringen, zurückgewiesen. Bewegung ist ein Sprung für jede Logik. Der Begriff der Bewegung transzendiert das logische System. Folglich kann auch die Geschichte nicht in ein System aufgenommen werden. Indem Hegel dies aber tut, verwechselt er das Reich des Denkens mit dem Reich der Freiheit. Er leugnet das empirische Subjekt und ersetzt es durch das erkenntnistheoretische Subjekt, das in ewiger Identität mit dem Objekt ist.5 Aber der Mensch ist ein empirisches Subjekt. „Hätte Hegel seine ganze Logik geschrieben und im Vorwort geschrieben, dass das nur ein Gedankenexperiment sei, in dem er sich auch an manchen Stellen um etwas gedrückt habe, so wäre er wohl der größte Denker; der gelebt hätte. Nun ist er komisch.“6 „Für die Freiheit also kämpfe ich […], für das Vorwärtsleben, für das Entweder/Oder. Diesen Schatz wünsche ich denen zu hinterlassen, die ich liebe. […] Dieser Schatz liegt in deinem eigenen Inneren verborgen: es ist ein Entweder/Oder,

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Ms.: situation. Tillich meint aber: decision. Gemeint ist der Titel „Entweder-Oder“. Jen. VII, 5, zit. Diem 8. Pap. V A 68. – Jen. VII, 113, zit. Diem 8f.– Ms.: „but as long as I am living I live in contradictions … between the eternal truth and the temporary existence.“ Vgl. Diem 9. Pap. V A 73, zit. Diem 10 Anm. 24.

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das die Menschen über die Engel erhebt.“1 Menschen sind größer als Engel, weil sie entscheiden müssen, Engel aber sind notwendig vollkommen. I. Natur und Geschichte2 1. Der Gegensatz zwischen dem objektiven und dem subjektiven Denker in Rücksicht auf den Inhalt: Der objektive Denker beschäftigt sich mit der Natur, aber die Natur ist für den Menschen nur Möglichkeit, weil sie für ihn niemals seine eigene Wirklichkeit werden kann, auch nicht die menschliche Natur, die zwar menschliche, aber nicht meine Wirklichkeit ist. Darum scheint die Geschichte der menschlichen Existenz näher zu sein, aber auch Geschichte kann zur Möglichkeit werden. Der objektive Denker, der selbst Philosoph der Existenz ist, ist „mit der reinen Menschheit […] bald fertig, und mit der Weltgeschichte auch; denn selbst so ungeheure Portionen wie China, Persien usw. verschlingt das hungrige Ungeheuer, der weltgeschichtliche Prozeß wie nichts.“3 Trotzdem gibt es da einen Unterschied. Geschichte ist nicht nur ein objektiver Prozess, sie ist gleichzeitig die Sphäre, in der die Freiheit herrscht. Darum in der Philosophie der Existenz die höhere Wertschätzung der Geschichte. a) Die Haltung des Sokrates gegenüber der Naturphilosophie. „Landschaften und Bäume lehren mich nichts, dagegen die Menschen in den Städten.“4 Der nichtexistentielle Charakter produziert Skeptizismus, weil viele Möglichkeiten und weil „die sinnliche Erfahrung trügerisch ist“. Existentielles Denken als ethisches Denken; das Ethische impliziert politisches und darum auch geschichtliches Handeln, aber nicht direkt Geschichte, denn die Geschichte gibt keine neuen Inhalte. b) Augustin. Voraussetzung: existentieller Skeptizismus als die letzte Haltung der griechischen Philosophie. „Die Ataraxie (Gleichgültigkeit) der Skeptiker war ein existentieller Versuch, von der Existenz zu abstrahieren.“5 Die epoché (Zurückhaltung, Aussetzung des Denkens und Handelns) als der verzweifelte Versuch, im Zweifel zu existieren. Epoché, ataraxia sind reale Weisen, Existenz zu verneinen, aber unmöglich, weil Existenz 1 2 3 4 5

Jen. II, 147. Vgl. Diem 112. Jen. II, 56. Pap. IV B 116, zit. Diem 29 Anm. 3. Die Herkunft des Zitats konnte nicht ermittelt werden.

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bleibt. Dies die Voraussetzung der christlichen Botschaft: eine neue positive Art der Existenz, sie impliziert eine negative Einstellung zur Philosophie der Natur. Augustin: Die Dämonen haben nur eine Kenntnis der Körper. Die Christen haben eine innere Kenntnis ihrer Seele und Gottes durch ihre Seele, das heißt, in einer existentiellen Form; und die existentielle Form ist die historische Existenz Christi; unter diesem Gesichtspunkt ersetzt die Geschichte die Natur. Gnosis als Versuch, Christus zu einem Prinzip der Natur zu machen. c) Kierkegaard redet von der Naturwissenschaft, besonders von der Physiologie und Psychologie, mit wirklichem Hass, weil sie durch ihre atomistische Methode den Menschen als Geist zerstören.1 „Alles Verderben wird von den Naturwissenschaften kommen.“2 „[Das Naturerkennen] ist, wesentlich angesehen, zufälliges Erkennen, sein Grad und Umfang, wesentlich betrachtet, gleichgültig.“3 „Die eigene ethische Wirklichkeit soll dem Individuum ethisch mehr als Himmel und Erde und alles bedeuten, was sich darin befindet.“4 2. Auch die Geschichte gehört zu all diesen Dingen, aber die Geschichte hat eine zweifache Bedeutung. Sie gehört zur Freiheit, insofern als das Individuum in seiner inneren Natur handelt. Sie gehört zur Notwendigkeit, insofern als die Handlung mit jeder anderen Handlung durch Notwendigkeit verbunden ist. „Selbst das geringste Individuum hat in diesem Sinne eine Doppelexistenz. Auch es hat eine Geschichte, und diese ist nicht das bloße Produkt seiner freien Handlung. Die innere Handlung aber gehört ihm selbst zu und soll ihm in alle Ewigkeit zugehören; die nimmt ihm weder seine noch der Welt Geschichte ab. […] In dieser Welt herrscht ein absolutes Entweder/Oder; aber mit dieser Welt hat die Philosophie nicht zu tun.“5 „Die Philosophie betrachtet die äußere Tat, und sie nicht in ihrer Vereinzelung, sondern als Moment in dem geschichtlichen Prozess, in den sie aufgenommen, durch den sie umgewandelt wird. Dieser Prozess ist der eigentliche Gegenstand der Philosophie, und er wird von ihr unter der Bestimmung der Notwendigkeit betrachtet. Darum hält die Philosophie den

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Vgl. Diem 30 Anm. Pap. VIII A 200, zit. Diem 30 Anm. Jen. VI, 273, zit. Diem 29 Anm. 3. Jen. VII, 39, zit. Diem 29 Anm. 3. Jen. II, 146f., zit. Diem 113.

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Gedanken fern, dass alles anders sein könnte.“1 Diese Art der Betrachtung abstrahiert von der inneren Tat des Individuums und von seiner Freiheit und vor allem von seiner Verantwortung. Doch existentielle Betrachtung der Geschichte ist verantwortliche Betrachtung. Das gilt selbstverständlich im Blick auf die Zukunft, insofern Zukunft durch freie Entscheidung geformt wird; aber Verantwortung ist auch mit der Betrachtung der Vergangenheit verbunden. Vergangenheit wird durch Werden geschaffen; alles Werden setzt Freiheit voraus, weil Notwendigkeit in sich selbst kein Werden hat; sie ist nur auf sich selbst bezogen. In der Notwendigkeit gibt es keine Möglichkeit der Veränderung. Darum gibt es in allem, was durch Werden geschaffen wird, die Möglichkeit unterschiedlicher Entscheidung. So ist auch die Vergangenheit keine Notwendigkeit. Sie kann nicht verändert werden, aber sie kann anders wahrgenommen werden. Darum ist jeder für seine eigene Vergangenheit verantwortlich. Und weil seine eigene Vergangenheit gleichzeitig die Vergangenheit der Menschheit ist, ist der Mensch für die ganze menschliche Vergangenheit verantwortlich.2 Dies bedeutet, dass die Mediation durch Reue ersetzt wird. Mediation leitet die Notwendigkeit aller gegensätzlichen Dinge ab und versöhnt sie. Die Reue kann dies nicht tun, denn die Vergangenheit trägt den Charakter der Schuld. „An Stelle der Mediation tritt hier die Reue […]. Sie schließt aus, während die Mediation einschließt; sie sieht nicht begehrlich auf die Gegensätze hin, um sie zu vermitteln, sondern verzehrt, was nicht hätte geschehen sollen in brennendem Eifer.“3 Wenn das so ist, darf Geschichte nicht als ein Theater und ein notwendiger Prozess ohne Interesse betrachtet werden. Geschichte ist offen nur für eine Betrachtung, die die Möglichkeiten berücksichtigt, die nicht verwirklicht worden sind. Das ist eine existentielle Betrachtung der Geschichte. Exkurs über Schelers Idee der Möglichkeit, die Geschichte zu verändern, weil sie eine Sache der Interpretation ist. 3. „Der Augenblick ist jenes Zweideutige, in dem Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der Zeitlichkeit gesetzt, in der die Zeit beständig die Ewigkeit abreißt und die Ewigkeit beständig die Zeit durchdringt.“4 Erst so ist die Einteilung der Zeit 1 2 3 4

Jen. I, 146. Vgl. Diem 116. Jen. II, 147. Jen. V, 86, zit. Diem 49. 204.

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in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft möglich. Die Zeit ist in sich selbst eine unendliche Sukzession von leeren, verschwindenden Elementen. Nur im Augenblick gewinnt die Zeit Gegenwart. Der Augenblick „ist nicht eigentlich ein Atom der Zeit, sondern ein Atom der Ewigkeit. Er ist […] ihr erster Versuch, gleichsam die Zeit zum Stehen zu bringen“.1 4. Von diesem Gesichtspunkt aus fällt auf, „dass in gewissem Sinne das Zukünftige mehr bedeutet als das Gegenwärtige und das Vergangene; denn das Zukünftige ist in gewissem Sinne das Ganze, von dem das Vergangene nur ein Teil ist. Dass das Zukünftige in gewissem Sinn das Vergangene bedeuten kann, kommt daher, dass das Ewige zuerst das Zukünftige bedeutet, oder dass das Zukünftige das Inkognito ist, in dem das Ewige, das ja für die Zeit inkommensurabel ist, doch seine Beziehungen zu der Zeit unterhalten will […] (das zukünftige Leben/das ewige Leben). Da nun die Griechen in tieferem Sinne keinen Begriff von der Ewigkeit hatten, so hatten sie auch den Begriff des Zukünftigen nicht […]. Hier offenbart die platonische Erinnerung ihre Bedeutung. Die Ewigkeit des Griechen liegt hinter ihm als das Vergangene, in das er nur durch einen Regreß kommen kann.“2 5. „Der Begriff, um den sich im Christentum alles dreht, das, was alles neu machte, ist die Fülle der Zeit; sie ist aber der Augenblick als das Ewige, und doch ist dieses Ewige zugleich das Zukünftige und das Vergangene. Wenn man nicht darauf achtet, kann man nicht einen Begriff vor ketzerischen und verräterischen Zusätzen, welche ihn sprengen, frei halten.“3 Exkurs über die Idee des Kairos. Die mögliche Verzerrung der christlichen Begriffe: die Zeitlinie, die hin zum Ewigen verläuft. Die Kategorie des aion. Die Vergangenheit als Schuld. 6. Die Erkenntnis der Vergangenheit (Gleichzeitigkeit – Wiederholung – Interpretation, Sprung, Qualität4) 1 2 3 4

Jen. V, 85, zit. Diem 203. Jen. V, 86. Jen. V, 87. Diese Zeile in Tillichs Ms. in deutscher Sprache.

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„Der Historiker steht nun wieder bei dem Vergangenen, bewegt von der Leidenschaft, welche der leidenschaftliche Sinn für das Werden ist, von der Bewunderung. Bewundert der Philosoph absolut nichts […], so hat er eo ipso nicht mit dem Historischen zu tun; denn überall wo das Werden ins Spiel kommt […], kann die Ungewissheit auch des mit völliger Gewissheit Gewordenen […] sich nur in dieser des Philosophen würdigen und für ihn notwendigen Leidenschaft ausdrücken.“1 „In jedem Fortschreiten dieser Art ist aber jeden Augenblick eine Pause (hier steht die Bewunderung in pausa und wartet auf das Werden).“2 Weil Geschichte das Werden in sich hat und das Werden die Möglichkeit hat, hat jede Geschichte eine doppelte Bedeutung. „Der unmittelbare Eindruck eines Naturphänomens oder einer Begebenheit ist nicht der Eindruck des Historischen; denn unmittelbar kann das Werden nicht wahrgenommen werden.“3 Die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung kann nicht trügen4, aber das Werden ist als Werden für die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung nicht gegeben; darum benötigen wir, um Werden und Geschichte zu verstehen, ein anderes Instrument. Kierkegaard nennt es Glaube. „[I]n der Gewissheit des Glaubens ist beständig, jedoch aufgehoben, die Ungewissheit zur Stelle, welche der des Werdens in jeder Weise entspricht.“5 Glaube ist nicht ein Schluss, sondern eine Entscheidung6; jeder Schluss bezüglich der Geschichte ruft Zweifel hervor; es ist möglich, Tatsachen sinnlich wahrzunehmen, nicht aber die Möglichkeiten, die aus jeder Tatsache hervorgehen, und eben dies heißt Geschichte verstehen: die Möglichkeiten erkennen, die in jeder Tatsache enthalten sind und doch gleichzeitig verneint werden. „Wenn er sich entschließt zu glauben, so übernimmt er das Risiko, in einen Irrtum zu verfallen […]. Will man dem Risiko entgehen, so will man mit Gewissheit wissen, dass man schwimmen kann, bevor man ins Wasser geht.“7 1 2 3 4 5

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Jen. VI, 73. Jen. VI, 73f., zit. Diem 124. Jen. VI, 74, zit. Diem 122. Vgl. Jen. VI, 74, zit. Diem 125. Jen. VI, 74. Ms.: „In the certainty of belief uncertainty is perpetually present; this uncertainty corresponds to the uncertainty of every genesis.“ Jen. VI, 76: „Der Schluss des Glaubens ist kein Schluss, sondern ein Beschluss, und deshalb ist der Zweifel ausgeschlossen.“ Ms.: The character of belief is not a conclusion but a decision. – Vgl. Diem 125: „Um den Zweifel auszuschließen, darf diese Aussage nicht ein Schluss, sondern ein Beschluss sein. Und dieser Beschluss ist für Kierkegaard der Glaube.“ Jen. VI, 76 Anm., zit. Diem 126.

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Darum hat der unmittelbare Augenzeuge keinen Vorteil gegenüber den späteren Generationen, die nur Berichte haben; er kann die Berichte entgegennehmen, wie der Augenzeuge den unmittelbaren Eindruck entgegennimmt; aber diese Berichte, die vielleicht durch den Glauben des Reporters Fakten verändert haben, sind für den Hörer erster Hand auch unmittelbare Wahrnehmungen und nicht mehr. Auch er ist gezwungen zu glauben, und nur durch die zweite Stufe hat er ein hinreichendes Verständnis. „Die Möglichkeit, aus der das Mögliche, welches zum Wirklichen wurde, hervorging, begleitet beständig das Gewordene und bleibt bei dem Vergangenen, ob auch Jahrtausende dazwischen lägen; sobald der Spätere wiederholt, dass es geworden ist […], so wiederholt er dessen Möglichkeit […].“1 Es gibt also zwei Arten der Gleichzeitigkeit mit einem Ereignis, die Art des Augenzeugen, die die sinnliche unmittelbare Gleichzeitigkeit ist, und die Art, in der der Augenzeuge und der Zeuge zweiter Hand in derselben Lage sind, die Gleichzeitigkeit mit dem Werden selbst, das heißt mit den Möglichkeiten des Übergangs von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Diese Art der Gleichzeitigkeit ist die Voraussetzung für jedes historische Verstehen. „Der Spätere glaubt vermittelst des Berichts des Gleichzeitigen“, aber nur im selben Sinne wie der Gleichzeitige vermittelst der unmittelbaren Wahrnehmung. Aber wie der Gleichzeitige nicht glauben kann durch diese Mittel, kann der Spätere durch dieses Mittel nicht glauben.“2 Beide müssen im zweiten Sinne gleichzeitig werden; und dies ist die methodische Forderung für jeden, der leidenschaftlich an der Geschichte teilnimmt. Die Idee der Gleichzeitgkeit impliziert eine neue Idee der Geschichtsinterpretation. Kierkegaard unterscheidet sehr klar zwischen der objektiven Interpretation, die er als notwendige Aufgabe würdigt, die sich aber der Wahrheit, wie er betont, nur annähern kann. Aber das genügt nicht zur Fundierung der eigenen Existenz. Und über die Existenz entscheidet allein die leidenschaftlich und unendlich interessierte Subjektivität. (Exkurs über geistige (spiritual) Interpretation.) „Wiederholung“ ersetzt „Erinnerung“. Das Neue, das im Sprung des Augenblicks kommt, ist das Vergangene, das als Zukunft zurückkommt.

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Jen. VI, 78. Freies Zitat (?)

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„Wenn man sagt, dass das Leben eine Wiederholung ist, dann sagt man: Das Dasein, das dagewesen ist, entsteht jetzt.“1. Die Konsequenzen dieser Idee für die Erziehung; die beiden Arten der Erziehung: Erinnerung und das Neue, das nach Verwirklichung verlangt. Wir haben nicht zu erinnern, sondern zu wiederholen. Humanismus als Haltung der Erinnerung und die Verneinung des Augenblicks. – Hegels Haltung: Geschichte als Erinnerung des absoluten Geistes. „Verstandesübung“ im Gegensatz zum „Auswendiglernen“2: Praktische Wiederholung. Die existentielle Haltung gegenüber der Geschichte im Unterschied zur essentiellen. Das Vergangene als Symbol für gegenwärtige Ziele. Der Verlust der historischen Forschung. Die orthodoxe Heilsgeschichte und ihre pietistische Anwendung. „Die Art Wissenschaftlichkeit, die nicht zuletzt erbaulich ist, ist eben darum unchristlich.“ „[E]ine derartige Darstellung […] ist qualitativ völlig verschieden von einer solchen Wissenschaftlichkeit, die ‚gleichgültig‘ ist, deren erhabener Heroismus christlich so wenig Heroismus ist, dass er vielmehr christlich eine Art unmenschlicher Neugier darstellt.“3 „Alles christliche Erkennen, wie streng auch seine Form sein mag, muss besorgt sein; aber diese Sorge ist das Erbauliche. Die Sorge ist das Verhältnis zum Leben, zur Wirklichkeit der Persönlichkeit und so, christlich, der Ernst; die Erhabenheit des gleichgültigen Wissens ist, christlich, so wenig mehr Ernst, dass sie, christlich, Scherz und Eitelkeit bedeutet.“4 Das Problem dieser Haltung: Sie vergisst zwei Möglichkeiten der Existentialität des reinen Wissens: 1) Die mystische Haltung. Die Wirklichkeit erkennen ist Vereinigung5 mit Gott, weil die Essenzen der Dinge göttliche Gedanken sind. Dies ist die Geburt der modernen Wissenschaft. 2) Die praktische Haltung. Die Erkenntnis der natürlichen und sozialen Wirklichkeit ermöglicht sie zu beherrschen, und gibt die Chance, eine menschliche Existenz gemäß den abso1 2 3 4 5

Jen. III, 136. Jen. VI, 336. Jen. VIII, 3. Jen. VIII, 3. Ms.: union.

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luten Forderungen einzurichten: Die Wurzeln des amerikanischen Pragmatismus. Die Kategorie der „Verzweiflung“ Das wichtigste philosophische Buch: „Die Krankheit zum Tode“. Diese Krankheit ist die Verzweiflung. Verzweiflung ist nicht eine Krankheit wie andere Krankheiten, die der Mensch haben oder auch nicht haben kann; sondern Verzweiflung ist die menschliche Existenz selbst. Die Analyse der menschlichen Existenz führt zu der Einsicht in die Verzweiflung als den Grund jeder menschlichen Handlung. Verzweiflung ist die Krankheit des Geistes. „Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Aber was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. […] Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, vom Zeitlichen und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit.“1 Aber nicht diese Synthese ist das Selbst; allein das Interesse dieser Synthese an sich selbst macht das Selbst. Das Selbst ist eine Synthese, die an sich selbst interessiert ist. Sie erinnern sich an Schellings neuen Begriff des Geistes, des Geistes als Einheit zweier gegensätzlicher Prinzipien, des brennenden Begehrens und der Vernunft. Dadurch erhält der Begriff des Geistes seinen dialektischen Charakter. „[W]eil ein Selbst zu haben, ein Selbst zu sein, die größte, unendliche dem Menschen gemachte Einräumung, aber zugleich die Forderung der Ewigkeit an ihn ist.“2 In der geistigen Existenz des Menschen ist das weitere Element enthalten, daß das Verhältnis, das Selbst genannt wird, nicht durch sich selbst gesetzt ist, sondern durch das Unendliche, mit dem es geeint ist. Folglich gibt es eine doppelte Dialektik.3 Das Selbst kann in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu seinem Schöpfer gestört sein. Daraus folgen viele besondere Formen der Verzweiflung, die vielen psychologischen Typen entsprechen. 1. Die nicht wirkliche Form der Verzweiflung: Über etwas verzweifelt sein. „Ein Verzweifelnder verzweifelt über etwas. So sieht es einen Augenblick aus, aber nur einen Augenblick […] Indem er über etwas 1 2 3

Jen. VIII, 10. Jen. VIII, 18. Folgt gestr.: und eine doppelte Form der Verzweiflung

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verzweifelte, verzweifelte er eigentlich über sich selbst, und will sich nun selbst loswerden.“1 Die Bedeutung dieser Betrachtung im Prinzip. Objektivität als Weise, die reale Existenz zu verdecken. Dasselbe gilt für das Verhältnis zwischen Angst und Furcht. Die Existenz hat ihren Grund in einer Schicht, die tiefer liegt als die Schicht der Spaltung. 2. Die unbewusste Verzweiflung. Sie ähnelt einer Krankheit, die nur ein Arzt erkennt, während der Kranke selbst nicht weiß, dass er krank ist. Ebenso erkennt2 der, der die menschliche Seele kennt, die Verzweiflung, auch wenn der Verzweifelte selbst seine innere Situation nicht kennt. Aber es gibt einen Unterschied. Ein Mensch, der krank ist, könnte vor seiner Erkrankung gesund gewesen sein. Ein Mensch, der verzweifelt ist, war sein ganzes bisheriges Leben hindurch verzweifelt. Verzweiflung ist ein Verhältnis zur Ewigkeit und enthält ein Element der Ewigkeit; es ist nicht möglich, dass sie heute ist und morgen nicht mehr ist. Sie gehört zur menschlichen Existenz im Allgemeinen. Darum kann „nicht verzweifelt sein […] nämlich gerade bedeuten, daß man es ist […].“3 „Sicherheit und Beruhigung kann bedeuten, dass man verzweifelt ist, gerade diese Sicherheit, diese Beruhigung kann Verzweiflung sein […].“4 Wenn ein Mensch gesund ist, dann ist er nicht krank. Wenn ein Mensch ohne bewusste Verzweiflung ist, kann dies die Form seiner unbewussten Verzweiflung sein. Das hat seinen Grund in dem geistigen und folglich dialektischen Charakter des Selbst, der dazu führt, dass die menschliche Seele sich selbst widerspricht und dass ihre bewussten Äußerungen5 ihre wirkliche Existenz nicht ausdrücken. Die Bedeutung dieses Gesichtspunktes für den Angriff auf die idealistische Psychologie des Bewusstseins: Der gute Wille ist nicht notwendig gut, aber er kann das Symbol sein für widersprüchliche reale Tendenzen. Darum die Opposition der Philosophie der Existenz gegen die Bewusstseins-Psychologie (Nietzsche, Marx, Freud). Der Mensch ist die Synthese des Unendlichen und Endlichen, seine Aufgabe besteht darin, das in Wirklichkeit zu werden, was er seiner Möglichkeit nach ist. Seine Wirklichkeit zu verfehlen ist seine 1 2 3 4 5

Jen. VIII, 16. Ms.: recovers, Tillich meint wohl: recognizes Jen. VIII, 21. Ebd. – Ms.: „Inner security can express latent despair.“ Ms.: products

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Verzweiflung; dies kann durch seinen Mangel an Endlichkeit geschehen oder durch seinen Mangel an Unendlichkeit. Die erste Form hat ihren Grund in der menschlichen Phantasie oder der produktiven Einbildungskraft, die einerseits sein Organ der Unendlichkeit und somit der Menschlichkeit ist, seiner Macht, seine animalischen Grenzen zu durchbrechen und – darin stimmt Kierkegaard mit Fichte und Heidegger überein – seiner Fähigkeit, Welt und Kategorien zu haben, die diese Welt konstituieren. Andererseits bedeutet dies die Gefahr, die Grenzen seiner eigenen konkreten Existenz zu vergessen und sich in eine phantastische Welt der Unendlichkeit zu verirren. Kierkegaard nennt diese Unfähigkeit, seine eigene konkrete Existenz zu finden, Verzweiflung der Unendlichkeit.1 Die Verzweiflung der Endlichkeit2 besteht in dem Mangel an Unendlichkeit. Das heißt, dass wir unser Selbst verlieren, indem wir wie alle anderen Menschen ohne ursprüngliche produktive Macht werden. Diese Art der Verzweiflung übergibt sozusagen das Selbst den anderen, wie die anderen zu sein, eine Nummer zu werden, eine Imitation oder, wie Heidegger sagt, in das „man“ zu fliehen. Sie können kein Wagnis eingehen, weil sie kein wirkliches Selbst haben. Eine andere Unterscheidung, die mit der ersten zusammenhängt, ist die Unterscheidung zwischen der Verzweiflung der Möglichkeit und der Verzweiflung der Notwendigkeit.3 Die menschliche Möglichkeit4 hat ihren Grund in der Situation, dass der Mensch nicht in Wirklichkeit das ist, was er seiner Möglichkeit nach ist. Darum hat er Möglichkeit oder Freiheit, und er kann in unendlichen Möglichkeiten bleiben, ohne eine kleine Wirklichkeit zu finden. Umgekehrt besteht die Verzweiflung der Notwendigkeit im Mangel an Möglichkeit. Das heißt dass entweder dass alles Notwendigkeit oder Trivialität geworden ist. Das erste ist die Verzweiflung des Fatalismus, das zweite die Verzweiflung der Spießbürgerlichkeit. Der Spießbürger denkt, dass er die unendliche Möglichkeit in seiner eigenen Wahrscheinlichkeit eingefangen hat. Der Spießbürger feiert den Triumph der Geistlosigkeit. Weiter: Kierkegaard unterscheidet zwei Formen eigentlicher Verzweiflung: verzweifelt nicht man selbst sein wollen und verzweifelt 1 2 3 4

Vgl. Jen. VIII, 27. Vgl. Jen. VIII, 30. Vgl. Jen. VIII, 32-38. Gemeint ist: die Verzweiflung der Möglichkeit.

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man selbst sein wollen.1 Das erste ist die Verzweiflung der Schwachheit, das zweite die Verzweiflung des Trotzes. Ich kann all diese Ideen, die durch viele Stufen der Verzweiflung von der Flucht in den Alltag bis hin zum dämonischen Widerstand gegen die Ewigkeit führen, nicht weiter behandeln. Die große Bedeutung dieser Ausführungen für die ExistentialPhilosophie liegt in Folgendem: 1. Der nicht-essentielle Charakter der menschlichen Existenz muss so viele Arten der Philosophie produzieren, wie es Arten der Verzweiflung gibt, z. B. Stoizismus, Philosophie des gesunden Menschenverstandes (common sense), Philosophie des Dämonischen usw. 2. Der wahre Gesichtspunkt ist der Ort, von dem aus es möglich ist, die Verzweiflung zu analysieren, aber dieser Ort muss sich oberhalb der Verzweiflung befinden, und das heißt nach Kierkegaard in der Situation des Glaubens oder der Erlösung. Voraussetzung des existentiellen Denkens ist der Glaube, aber der Glaube kann nicht durch Analyse zustande kommen, er ist eine Sache der Entscheidung und das schließt einen Sprung ein, weil der Mensch von sich selbst aus den Glauben und die Erlösung nicht erreichen kann. Voraussetzung der wahren Philosophie ist wahre Existenz, das heißt Existenz im Glauben. Zum Schluss habe ich über den Begriff der Angst zu sprechen. Kierkegaard verbindet die Analyse der Angst mit dem Mythos vom Fall Adams. Angst ist die psychologische Voraussetzung des Falls in jedem Menschen. Sie zwingt den Menschen nicht zum Fall, aber sie bietet die Möglichkeit. Ich zitiere: „Die Unschuld ist Unwissenheit. In der Unschuld ist der Mensch nicht als Geist bestimmt, sondern seelisch, in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit. Der Geist ist im Menschen träumend. […] In diesem Zustande ist Friede und Ruhe; doch es ist zur selben Zeit noch etwas anderes da. […] Was ist nun das? Nichts! Welche Wirkung hat aber Nichts? Es erzeugt Angst. Dies ist das tiefe Geheimnis der Unschuld, dass sie zu gleicher Zeit Angst ist. Träumend projiziert der Geist seine eigene Wirklichkeit voraus, aber diese Wirklichkeit ist Nichts; aber dieses Nichts sieht die Unschuld beständig vor sich. Die Angst ist eine Bestimmung des träumenden Geistes. […] Im wachen Zustande ist der Unterschied zwischen mir selbst und meinem Nicht-Ich gesetzt; im Schlafe ist er suspendiert, im Traume ist er ein 1

Vgl. Jen. VIII, 47-72.

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angedeutetes Nichts.“1 Angst muss von Furcht unterschieden werden. Furcht ist bezogen auf einen bestimmten Gegenstand, während Angst nur der Ausdruck von Freiheit und Möglichkeit ist. Kierkegaard macht hier sehr wichtige Ausführungen über die Natur des Menschen: „In der Unschuld ist der Mensch nicht bloß Tier; wäre er in einem Augenblick seines Lebens bloß Tier, so würde er überhaupt nie Mensch. Der Geist ist also zur Stelle, aber als unmittelbarer, träumender Geist. Soweit er zur Stelle ist, ist er in gewissem Sinne eine feindliche Macht; denn er stört beständig das Verhältnis zwischen Seele und Leib. […] Andererseits ist er eine freundliche Macht, da er ja eben das Verhältnis konstituieren will. Welches ist nun das Verhältnis des Menschen zu dieser zweideutigen Macht? wie verhält sich der Geist zu sich selbst und zu seiner Bedingung? Er hat Angst vor sich selbst. Sich selbst los werden kann der Geist nicht; auch kann er nicht sich selbst ergreifen, solange er sich selbst außerhalb seiner selbst hat; in das Vegetative kann der Mensch auch nicht hinuntersinken, da er ja als Geist bestimmt ist; die Angst kann er nicht fliehen, denn er liebt sie; eigentlich lieben kann er sie wieder nicht, denn er flieht sie. […] Hier ist kein Wissen vom Guten und Bösen; sondern die ganze Wirklichkeit des Wissens projiziert sich in der Angst als das ungeheure Nichts der Unwissenheit. Noch ist die Unschuld da […], aber die Angst hat gleichsam ihre erste Beute gefasst […].“2 Ein anderes Zitat. „Die Angst kann man mit dem Schwindel vergleichen. Wessen Auge veranlasst wird, in eine gähnende Tiefe hinunterzuschauen, der wird schwindlig. Worin liegt aber die Ursache hiervon? Ebensosehr in seinem Auge, wie in dem Abgrund; wenn er nur nicht hinunterstierte! So ist die Angst der Schwindel der Freiheit. Sie entsteht, wenn. die Freiheit […] in ihre eigene Möglichkeit hinunterschaut und dabei nach der Endlichkeit greift, um sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zu Boden. […] Im selben Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder erhebt, sieht sie, dass sie schuldig ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat, noch erklären kann.“3 1 2 3

Jen V, 36. Jen. V, 38f. Jen. V, 56f.

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1. Furcht und Angst. Objektivierung und Existenz. 2. Das Nichts oder Nichtsein als die besondere Möglichkeit des Geistes. 3. Die Unmöglichkeit, in die Vitalsphäre zurückzukehren. 4. Der Übergang von der Essenz zur Existenz als ein Sprung, erzählt vom Mythos, ohne Notwendigkeit.

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3. Die Lehre vom Menschen 3.1 Die Lehre vom Menschen1 Skizze (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) I. Der Bereich der Probleme: Die allgemeine und die spezielle Lehre vom Menschen. A. Die Entwicklung der Philosophie weg vom Menschen. B. Der Mensch findet sich weit weg von sich selbst. C. Die Rückkehr der modernen Philosophie zum Menschen. D. Der anthropologische Gesichtspunkt jeder Philosophie. E. Theologische Anthropologie. II. Allgemeine Lehre vom Menschen im Überblick. A. Die Stufen der Objektivation. B. Das Problem der Intentionalität. C. Die menschliche Freiheit überhaupt. D. Freiheit und Existenz. E. Freiheit und Leben. F. Freiheit und Geschichte. G. Die Frage nach dem Unendlichen. III. Theologische Lehre vom Menschen im Überblick. A. Der Mensch als Geschöpf. B. Der Mensch als Sünder. C. Der Mensch in der Erlösung.

1

Ms.: The doctrine of man

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3.2 Die Lehre vom Menschen (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) I. Der Bereich der Probleme: Die allgemeine und die spezielle Lehre vom Menschen1 A. Der Mensch entfernt sich von sich selbst 1. Einige Worte zum Thema: (a) „Lehre vom Menschen“ ist ein Thema, das alle möglichen Probleme umfasst; alles, was über den Menschen zu sagen ist, ist eingeschlossen. Vor allem ist mehr gemeint als eine Lehre von der Natur des Menschen. Die Natur des Menschen = das, was das Wesen des Menschen ist.2 Aber da erhebt sich unmittelbar eine Frage, eine der am schwersten zu beantwortenden Fragen: Gehört die Sünde zur menschlichen Natur? Ich denke, nein. Später werde ich versuchen, dies zu begründen. Aber sie gehört zum wirklichen Menschen, sie gehört zur menschlichen Existenz. Wir dürfen darum die Lehre vom Menschen nicht auf die Lehre von der menschlichen Natur beschränken. Natur und Existenz, denn die Existenz kann der Natur widersprechen. Eine sehr wichtige Unterscheidung und Basis der modernen Philosophie der Existenz. (b) „Lehre vom Menschen“ ist nicht spezialisiert. Unser Ziel ist natürlich eine theologische Lehre vom Menschen, das heißt, eine Lehre vom Menschen, insofern als der Mensch in Beziehung zu Gott steht. Aber eine solche Lehre setzt eine Lehre von Gott ebenso wie eine Lehre vom Menschen voraus. Die dreifache Beziehung – Geschaffensein zum Bilde Gottes, Sünder sein und Gerechtfertigtsein – setzt ein Wesen mit besonderen Qualitäten voraus; nicht jedes Wesen hat diese Fähigkeiten, weder Tiere noch Engel. Darum ist in jeder theologischen Lehre vom Menschen eine allgemeine Lehre vom Menschen enthalten. Darum die drei Teile.

1 2

Ms.: I. The realm of problems: The general and the special doctrine of man Folgt gestr.: ohne das der Mensch nicht gedacht werden kann.

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(c) „Lehre vom Menschen“ sind drei Wörter. Daraus kann kein Adjektiv abgeleitet werden, anders als von Theologie, Biologie, Erkenntnistheorie usw. Darum würde ich gern das Wort „Anthropologie“ benutzen. In der europäischen Philosophie wird es für die gesamte Lehre vom Menschen benutzt und gleichzeitig für einen speziellen Bereich, für den es nur hierzulande benutzt wird, nämlich für den Übergang der biologischen zur geschichtlichen Lehre vom Menschen: Der Mensch, soweit er Elemente der Natur und der Geschichte vereint. Das ist ein Symbol für die reale Situation des Menschen in der Welt. Er ist ein Übergang. Seine Existenz enthält die Elemente aller Existenz. Somit hat die Sprache Recht, wenn sie Anthropologie eine Lehre nennt, die sich mit diesen beiden Elementen menschlicher Existenz, der Natur und der Geschichte, beschäftigt oder, genauer, mit dem Übergang zwischen diesen beiden Elementen. Andererseits hat die moderne Entwicklung der Philosophie und der Wissenschaften die Bedeutung dieses Übergangs für jedes Element der Wirklichkeit gezeigt. Die gewöhnliche Bedeutung von „Anthropologie“ ist zu eng. Wir brauchen ein Wort für diese neue Wissenschaft, die gleichzeitig einen neuen Aspekt jeder Wissenschaft darstellt. Wir müssen darum das Wort „Anthropologie“ in einem doppelten Sinne benutzen: im engen Sinne einer speziellen Wissenschaft vom Menschen als einem biologischen Phänomen mit einigen kulturellen Errungenschaften wie Sprache usw. und Anthropologie als Lehre vom Menschen allgemein in jedem speziellen Bereich der Wissenschaft, zum Beispiel: medizinische, soziologische, theologische Anthropologie. Solch ein doppelter Gebrauch des Begriffs ist nicht ungewöhnlich, er drückt die Veränderung der philosophischen Situation aus. Wenn ich das Wort „Anthropologie“ ohne das Adjektiv „speziell“ benutze, meine ich immer die Lehre vom Menschen allgemein. 2. In der Wirklichkeit richtet sich das Interesse des Menschen zuerst auf den Menschen. In der Philosophie richtet sich das Interesse des Menschen ganz zuletzt auf den Menschen. (a) Der Mensch ist dasjenige Sein,1 das seine äußere und innere, seine individuelle und soziale, seine profane und seine religiöse Existenz impliziert. Der Mensch ist an allem interessiert. „Interesse“ heißt wörtlich: mitten darin sein. Das setzt eine Dualität voraus: ein Selbstsein und gleichzeitig ein Interessiertsein an sich selbst. Sein 1

Folgt gestr.: das an seinem eigenen Sein interessiert ist.

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und Interessiertsein an seinem eigenen Sein. Jede Frage ist in erster Linie eine vom Interesse an seinem eigenen Sein bestimmte Frage.1 Die genuine schöpferische Tätigkeit der Menschheit enthält in jeder Richtung Antworten auf diese aus dem Interesse an sich selbst kommenden Fragen: Die primäre Ordnung der Dinge in Sprache, Mythologie, die von der Geburt des Menschen und seinem Tode handeln, von seinem Schicksal und seinen Fähigkeiten, in den Riten, die eine höhere, mächtigere, reichere und glücklichere Existenz, am Ende jenseits des Todes verheißen, in der sozialen Struktur, in den ethischen Werten, technischen Fähigkeiten, die zum Ausdruck kommen in Erzählungen, Liedern, Epen, heiligen Gesetzen, heiligen religiösen Büchern, geheimen Überlieferungen der Priester, handwerklichen, bäuerlichen und medizinischen Traditionen, magischen Worten oder Versen. In jeder solcher Hervorbringung sind Antworten auf menschliche Fragen enthalten, die dem Interesse des Menschen an seiner eignen Existenz entstammen. „Interesse“ darf nicht in einem zu engen Sinne verstanden werden. Zum menschlichen Interesse gehört der Bereich der reinen Neugierde, die nach dem „Warum?“ fragt oder nach dem „Wie?“, wie Kinder fragen. (Epen über Helden der Vergangenheit oder Taten von Göttern und Halbgöttern). Der Begriff der ätiologischen Mythen (Schlange und Mensch im Paradies, Regenbogen, kindliche Geburtstheorien). (b) Der Mensch und seine Welt sind nicht voneinander getrennt. Das Interessiertsein an Dingen und der objektive Charakter der Dinge sind nicht voneinander getrennt. Doch nun beginnt bei einigen Völkern die Durchführung einer solchen Unterscheidung als erster Schritt zur Entfremdung des Menschen von sich selbst. Am klarsten in der griechischen Entwicklung. Zwei Tendenzen, eine kosmologische und eine moralische Tendenz. Lebensweisheit bei den Sieben Weisen2. Der Mensch reflektiert über sich selbst als isoliertes Subjekt, das sich an die Forderungen der Welt anpassen muss. Diese Trennung drückt sich im Pessimismus jeder Reflexion dieser Art aus. Pessimismus setzt Trennung voraus, nicht nur Trennung vom Kosmos, sondern 1

2

Ms.: And that presupposes a duality to be a self and at the same time to be concerned about one’s own being. Every question is firstly a question produced by interest for one’s own being. Gemeint sind Thales, Solon, Periandros, Kleobulos, Chilon, Bias, Pittakos. Sie gelten als die Urheber einer Reihe bekannter Lebensregeln. Vgl. Leben und Meinungen der Sieben Weisen. Griechische und lateinische Quellen erläutert und übertragen von Bruno Snell, München, 3. Aufl. 1952.

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auch von der Gesellschaft. Das Individuum denkt über seine eigene Verantwortung nach. Auf der anderen Seite kosmologische Ideen, in denen mythische Konzepte benutzt werden für Antworten auf die Frage nach der Ursache, aus denen die Dinge entstehen. Theogonie und Kosmogonie. Hesiod, Prinzipien wie Ñkšanoj, nÚx, c£oj, Licht: das Problem der Einheit der Welt in Gegensätzen. Vielleicht ist das Wort gnîqi seautÒn eine polemische Reaktion auf diese Spekulationen. Aber es meint nicht eine Lehre vom Menschen, sondern die Reflexion über die Situation des Menschen in der Welt im allgemeinen und besonders als Selbsterkenntnis des Einzelnen. Mit derselben Tendenz die Tragödie: die Situation des Menschen in der Beziehung zu Gott; auch in diesem Fall der Pessimismus, der die Endlichkeit des Menschen im Verhältnis zur unendlichen Macht der göttlichen Sphäre erkennt.1 Die Tragödie als Offenbarung der menschlichen Situation.2 Die Vorbereitung dieser Haltung durch die religiösen Erneuerungen, die Orphik und das Interesse an der individuellen Seele und ihrem transzendenten Schicksal. Aber ebenso die Reform von Delphi. Vielleicht zwei ältere Tendenzen als Gegensatz: Priester und Prophet, aber nicht ausschließlich. Sokrates und das Orakel von Delphi: der weiseste Mensch, weil er wieder über die menschliche Existenz reflektiert gegen die Naturphilosophie. Aber das setzt den zweiten Schritt, den Schritt vom Menschen weg, voraus. (c) Der affektive Charakter der kosmologischen Spekulation. Die Beziehung zwischen Mensch und Kosmos noch nicht zerschnitten. Aber nun ist dieser Schnitt getan. Wir nennen ihn den Beginn der Philosophie mit der jonischen Naturphilosophie. Auslöschung aller Eigenschaften und Unterschiede um der prinzipiellen Einheit willen. Der Mensch als ein spätes Produkt neben und nach anderen. Der Mensch benachteiligt um des Kosmos willen: Logos, noàj, e"doj als allgemeine Prinzipien der Konstitution des Kosmos. Ebenso Liebe und Hass als attraktive und repulsive Mächte, œrwj im aristotelischen System, Form und Materie von der Aktivität des Menschen genommen und in ein Prinzip der Welt verwandelt. Ebenso das moralische Element, das Gute als Prinzip der Ontologie. Das Verschwinden einer wirklichen Reflexion über die konkrete menschliche Existenz. 1 2

Am Rand: Hebbel: „Das Tragische als Sünde der Vereinzelung“. Vgl. P. Tillich, EW XVI (Berliner Vorlesungen III), 314-316.

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(d) Entsprechend dieser Verobjektivierung die Haltung des denkenden Menschen. Das Konzept der qewr…a, Verneinung des Interesses. Qe‹a qewr…a = interesselose Selbstanschauung des reinen Geistes. Das Subjekt entspricht nur dem Objekt. Der Mensch als ein an seiner eigenen Existenz Interessierter wird verneint. Die Philosophie ist weit entfernt vom existierenden und fragenden Menschen. 3. (a) In der Philosophie der Renaissance haben wir eine Analogie zum zweiten Schritt. Reflexionen über die menschliche Situation in einer Periode der Desintegration der alten Mächte der Einheit. Prophetische Opposition des Protestantismus gegen priesterliche theologische Spekulation; emotionale Prinzipien erhalten kosmische Geltung in einer mystisch-theogonischen Spekulation.1 Die Stellung des Menschen in der Mitte, magisches Interesse am Beherrschen von Kräften. (b) Descartes schneidet dieses Verhältnis zum Interesse ab. Die Welt wird in zwei Teile geteilt, die im Prinzip von einander unabhängig sind: res extensa und res cogitans. Sie bilden, wie das menschliche Handeln beweist, eine Einheit, aber diese Einheit ist das Problem. Der Mensch ist der letzte geworden für das menschliche Fragen und noch mehr: ein unlösbares Problem. Einmal in zwei Teile geteilt, ist seine Einheit nicht mehr zu finden. Die Einheit durch Gott oder durch eine absolute Substanz oder durch eine Harmonie oder durch die Entfernung einer der beiden Seiten: Materialismus oder Spiritualismus. Beide Teile haben den Charakter absoluter Objektivation: die Maschine auf der einen Seite, auch der menschliche Leib und jedes Tier, das Bewusstsein auf der anderen Seite; res cogitans meint rationales Bewusstsein. Beide Elemente werden vom Menschen genommen, um einen Kosmos zu konstruieren, aber der Mensch wird dadurch zerstört. (c) Diese Entfernung des Menschen von sich selbst als existierendem Menschen bleibt auch erhalten in den beiden Tendenzen, die sich gegenseitig bekämpfen, aber aus derselben Quelle kommen, der cartesianischen radikalen Verobjektivierung: der idealistischen und der empiristischen Tendenz. Für den Idealismus ist die Welt die Verwirklichung der objektiven sinnhaften Notwendigkeiten. Der Mensch ist ein Element, durch das die Notwendigkeiten in Wirklichkeit überführt werden; sogar seine 1

Am Rand: Melancholie als chemische Realität

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Leidenschaften sind nur Mittel zur Verwirklichung der über ihn verhängten Notwendigkeiten. Die Bewegung der absoluten Idee und ihrer logischen Notwendigkeit geht durch ihn und seine Geschichte hindurch. Der Empirismus reduziert die menschliche Existenz auf den Punkt, in dem Erfahrungen sich ereignen. Die Wirklichkeit des Menschen ist ein Element der Welterfahrung, mehr nicht. Die Unendlichkeit der Wissenschaften und ihrer Fragen entfernt das Fragen des Menschen aus dem Bereich des unmittelbaren Interesses. Die berühmte und nun in Europa schrecklich herausgeforderte Spezialisierung des Wissens („der Gewissenhafte des Geistes“). In den technischen Wissenschaften gibt es dazu keinen Widerspruch. Der Mensch abstrahiert von allem, außer von ökonomischer Zwecksetzung, und zieht dann die Natur in den Dienst seiner Absicht, doch die technisch-ökonomische Beziehung zur Realität ist nicht die existentielle Beziehung des Menschen, sondern deren Abstraktion. (d) In der cartesianischen Schule die Idee der interesselosen Erkenntnis und sogar der interesselosen Liebe. Rationale Liebe = eine Liebe, aus der die menschliche Existenz entfernt wurde zugunsten der intellektuellen Einheit des endlichen Subjekts mit Gott als der absoluten Identität von Subjekt und Objekt. Wie Aristoteles und sein reines und absolutes Selbstbewusstsein. So haben wir auf der einen Seite den Körper, der eine Maschine ist und als Maschine durch technische Maschinen erweitert werden kann, und auf der anderen Seite die reine Vernunft, die den Menschen – auch seine Leidenschaften – über sich selbst erhebt in die Identität mit dem absoluten Selbstbewusstsein. Die Mitte ist verloren, die Seele oder der existentielle Teil des Menschen. Darum war eine Lehre vom Menschen nicht möglich. B. Der Mensch sucht1 sich selbst fern von sich selbst Der Mensch wird durch seine eigenen Abstraktionen zerstört. Aber der Mensch ist nicht verschwunden. Er findet sich selbst in jedem Bereich der Abstraktion. Das ist unvermeidlich, denn jede Abstraktion ist in ihrem ersten Schritt eine Abstraktion von sich selbst.

1

Gestr.: findet

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1. Der abstrakteste Bereich ist die Physik, in die jedes räumliche Ding gehört, folglich auch der Mensch. Aber der Mensch beansprucht eine spezielle Sektion: In Griechenland die Lehre von der Bewegung, aber Bewegung hat Eigenschaften. Für Aristoteles hat die Bewegung der Sterne, Steine, Tiere unterschiedliche innere Eigenschaften. Je näher die Bewegung der Kreisbewegung, desto vollkommener. So hat der Mensch seine eigene Bewegung, und jeder Teil des Menschen hat verschiedene Bewegungen. – Die pythagoreische Lehre von den mathematischen Proportionen und die Lehre vom Menschen als eine Lehre von verschiedenen Proportionen, Mathematik des Menschen. – Oder die Lehre von der Materie und die Notwendigkeit, eine besondere Materie für den Menschen zu finden; Heraklit und die Feuer-Seele, Anaxagoras und die kleinsten Teile der Seele. Demokrit und die feinsten Atome. – Die moderne Chemie und die Chemie nicht nur der organischen Substanzen allgemein, sondern auch des menschlichen Leibes, des Gehirns und der Nerven im besonderen. Physikalische Anthropologie als Problem. 2. Der Mensch ist ein Lebewesen; darum gehört er zur Biologie. Der biologische Zugang, meistens von Ärzten unternommen. Diese Lehre beansprucht direkter als die Physik, eine Lehre vom Menschen aufstellen zu können; in der Anatomie, Physiologie, Pathologie usw. erfährt der Mensch unzählige Fakten, Gesetze, Theorien über sich selbst. Aber auch über sich selbst als eine Sektion im Bereich des Lebens, wissenschaftlich gesprochen, im Bereich der Biologie. Biologische Anthropologie. Ein sehr wichtiger Gesichtspunkt ist die Entwicklung der Arten, die Geschichte des Lebens auf der Erde. Der Mensch ist nach menschlicher Erkenntnis das Ende dieser Entwicklung. Das Werden des Menschen innerhalb dieser Entwicklung gibt dem Menschen neue und wichtige Erkenntnisse über sich selbst. Genetische Anthropologie. 3. Eng verknüpft damit ist die geologische und geographische Anthropologie. Sie beschäftigt sich mit dem Problem der Entstehung, aber unter dem Gesichtspunkt der Existenz in bestimmten Perioden und in bestimmten Gebieten der Erde. Und sie geht weiter, indem sie die Rassen der Menschen zeigt und einen nahtlosen Übergang zur Ethnologie bildet, die Beschreibung menschlicher Existenz unter dem Gesichtspunkt der Reproduktion des eigenen Lebens durch Kultur

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und Zivilisation. Diese Sphäre des Menschen und der Erde ist speziell anthropologisch, weil Kultur und Zivilisation die Eigenschaften des menschlichen Geistes voraussetzen, aber nicht der Geist als Geist ist das Problem in diesem Bereich. Nur die sichtbaren und geographisch relevanten Schöpfungen des Menschen [sind Gegenstand der geographischen Anthropologie]. Ich nenne sie geographische Anthropologie, obwohl sie Elemente der Biologie und Geschichte in sich enthält. Der Mensch findet sich als Realität auf der Erdoberfläche vor und er fragt nach den sichtbaren Formen seiner Existenz auf der Erde. 4. Die Entwicklungsgeschichte des Lebens und die Ethnologie bilden den Übergang zur Geschichte; Geschichte als menschliche Geschichte setzt den Menschen und seinen besonderen Charakter voraus. Die Geschichte ist sein Werk und nicht sein Ursprung. Insofern als alle Geschichte Anthropologie ist, beschreibt sie die menschliche Existenz in der Welt.1 Die größte Einsicht in die menschliche Natur bietet die Geschichte. Doch insofern die Geschichte Ereignisse beschreibt, die den Charakter des Einmaligen haben, enthält sie keine Anthropologie. Sie sammelt Material für sie, aber sie stellt eine der wichtigsten anthropologischen Fragen: Welche besondere Struktur ist die Bedingung dafür, dass ein Wesen Geschichte haben kann? Nicht die Geschichte, sondern das Geschichte-Haben ist das anthropologische Problem, das in der Sphäre der Geschichte entsteht. Nicht nur der allgemeine Charakter des Geschichte-Habens, sondern auch die besonderen Qualitäten des geschichtlichen Verhaltens des Menschen bilden die historische Anthropologie. 5. Der Bereich der Geschichte hat uns weiter geführt als die Biologie und Geographie. Wir hatten in der Geschichte die andere Seite der cartesianischen Abstraktion vorausgesetzt: das Selbstbewusstsein, die res cogitans. Ihre erste wissenschaftliche Objektivation ist die Psychologie. Seele, yuc», ist ein Phänomen, das die Griechen in Pflanzen, Tieren, Menschen und Sternen fanden. Yuc» ist der Lebensprozess vom Gesichtspunkt der inneren Macht des Lebens aus. Der klarste Ausdruck dafür ist die Deutung der Seele als Entelechie des Lebens. Nach der cartesianischen Trennung, die durch 1

Folgt gestr.: Aber sie ist überhaupt nicht Anthropologie, insofern als sie keinerlei Einsicht in die allgemeine Natur des Menschen gibt.

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Augustin bereits vorweggenommen wurde, werden Pflanzen, Tiere und Sterne zu Maschinen ohne Seele, angetrieben allein durch die natürliche Notwendigkeit. Nur die Psychologie konnte sich mit der selbstbewussten Seele des Menschen beschäftigen. Bewusstseinspsychologie. Doch die Entwicklung der Psychologie führte zurück zur Betrachtung der Tiere als Gegenstand der Psychologie. Zudem wurde diese Betrachtung, zusammen mit der Psychologie des Kindes, des Geisteskranken und mit der Entwicklungspsychologie, wichtiger als die Bewusstseinspsychologie. Je mehr die allgemeine Psychologie den Begriff der Seele übernimmt, desto mehr bildet die Psychologie des Menschen eine besondere Sektion innerhalb der Psychologie; je spezieller der Begriff verwendet wird, desto stärker abstrahiert er von der realen menschlichen Existenz. Es ist wahr, dass wir nur einen einzigen Fall von Selbstbewusstsein in der Welt haben, den Menschen, aber die Psychologie des Selbstbewusstseins ist nicht Anthropologie, sie fragt nach einer besonderen Struktur des Seins, die nur in einem einzigen Fall zu finden ist, die aber im Prinzip auch in anderen Fällen zu finden sein könnte, z. B. bei einigen höheren Tieren, wie dies viele Forscher sehen, oder in einer imaginären Welt vernünftiger Wesen anderer Art als der Mensch. Psychologie ist nicht Anthropologie; nur eine Sektion der Psychologie handelt vom Menschen. Und insofern als diese Sektion die größte und bedeutendste ist, ist die Psychologie hauptsächlich psychologische Anthropologie. Eine Richtung der Psychologie handelt nur von einem speziellen Element der menschlichen Seele, dem Bewusstsein, aber auch dieses ist nicht Anthropologie, wenngleich es vielleicht den wichtigsten Beitrag zu ihr leistet. 6. Die andere Voraussetzung, die wir in der geographischen und historischen Anthropologie gemacht haben, ist der soziale Charakter einiger Bereiche der Lebewesen. Darum abstrahiert die Wissenschaft die Soziologie als Lehre von den Formen und Gesetzen der sozialen Strukturen. Soziale Elemente finden sich auch im Leben von Tieren. Insoweit ist Soziologie des Menschen eine bestimmte Sektion der Soziologie allgemein. Auf der anderen Seite setzt Soziologie im besonderen Sinn Bewusstsein voraus, weil Bewusstsein die Basis der Persönlichkeit ist. In dieser Beschränkung handelt Soziologie nur vom Menschen und ist somit soziologische Anthropologie; sie bietet sehr wichtige Elemente der Anthropologie, aber sie ist nicht

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Anthropologie. Sie ist eine Abstraktion bestimmter Erfahrungen des Menschen mit seinem eigenen Leben. 7. Alle diese Bereiche der Abstraktion enthalten wirkliche Dinge oder Ereignisse in Raum und Zeit oder wenigstens in der Zeit wie die Psychologie, aber es gibt Gegenstände, die nur eine ideale Existenz haben, die Wert- oder Sinnwelt, das Wissen, die Ethik und die Ästhetik, also das alte Werteschema. Die kulturellen Werke als Wirklichkeit in Raum und Zeit werden in der geographischen und historischen Anthropologie behandelt. Aber der Wert als Wert, der Sinn und die Struktur der Werte bilden eine besondere Sphäre des Wissens. Natürlich ist es unmöglich, über Anthropologie als eine Sektion innerhalb der Lehre vom Wahren, Guten und Schönen usw. zu sprechen. Aber es gibt ein anderes und ich denke zentrales Problem der Anthropologie: Der Mensch ist das Wesen, das diese Fähigkeit hat, die Fähigkeit, objektive Werte zu erkennen.1 Lange Zeit ist dieses Problem im Bereich der Psychologie behandelt worden. Die Psychologie wurde als Grundlage jedes Wissens um Werte betrachtet. Sie versuchte zu zeigen, wie aus psychologischen Assoziationen das Wahre, Gute und Schöne werden können. Es entstand das Problem einer Psychologie der Objektivationen des menschlichen Geistes, die „geisteswissenschaftliche Psychologie“2, und dieses Problem und die spätere Soziologie enthalten das Problem einer Anthropologie mit Bezug auf menschliche Objektivationen. Darin ist impliziert3 die erkenntnistheoretische Anthropologie, das 1

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Ms.: But there is another, and I think the central problem of anthropology: Man is the being, which has that faculty, the faculty of realizing objective values. Programmschrift der geisteswissenschaftlichen Psychologie ist Wilhelm Diltheys Akademieabhandlung „Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“, Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften (1894) (= ders., Gesammelte Schriften V, 139-240). Vgl. auch Eduard Spranger, Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie. In: Festschrift, Johannes Volkelt zum 70. Geburtstag dargebracht, München 1918, 357-403; ders., Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, 2. völlig neu bearb. und erw. Aufl., Halle (Saale) 1921, 8. Aufl., Tübingen 1950; ders., Psychologie des Jugendalters, 1. Aufl., Leipzig 1924, 25. Aufl., Heidelberg 1957; ders., Grundgedanken der geisteswissenschaftlichen Psychologie, in: Die Erziehung, Jg. 9, 1934, 209-223. 257-269, sowie Waldemar Oelrich, Geisteswissenschaftliche Psychologie und Bildung des Menschen, Stuttgart 1950. Folgt gestr.: das Problem der ökonomischen Anthropologie, ein Problem von

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Problem, wie objektive Erkenntnis in einem bestimmten Wesen möglich ist. Es gibt die politische und ethische Anthropologie, die Frage, wie und mit welcher Verschiedenartigkeit beide in der Natur des Menschen verwurzelt sind. Und es gibt dasselbe Problem für das Schaffen und Empfinden von Schönheit. Alle diese Probleme hängen ab von der Antwort auf die allgemeine Frage: Wie kann in der Welt von Raum und Zeit Objektivität zustande kommen? 8. Schließlich findet der Mensch zu sich selbst, indem er die religiöse Sphäre in Betracht zieht. Von einer religiösen Sphäre zu sprechen, ist an sich nicht sachgemäß, aber in diesem Stadium der Philosophie, den wir den dritten Schritt nannten, ist es unvermeidlich. Da Religion beides umfasst, Sein und Sinn, Gott und den Glauben, enthält die theologische Anthropologie zwei Arten von anthropologischen Problemen. Von dem zuletzt genannten Gesichtspunkt aus gesehen, ist das Problem [der Religion] das Problem der Objektivation und der Werte. Wie ist Religion oder der Wert des Heiligen innerhalb der anderen Elemente der menschlichen Natur zu verstehen? Und das zweite Problem: Was ist die Situation des Menschen in seiner Beziehung zu Gott? Was meinen die anthropologischen Begriffe Schöpfung, Sünde, Rechtfertigung? Gewöhnlich wurde nur die zweite Fragestellung als theologische Anthropologie bezeichnet, die erste wurde zur Religionsphilosophie gerechnet, aber es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen beiden, weil die Möglichkeit, Religion zu haben, zum Charakter des Menschen als Geschöpf, als Ebenbild Gottes, gehört.1

1

höchster politischer Wichtigkeit, weil die ökonomisch-politischen Theorien und Handlungen in einem gewissen Ausmaß von ihr abhängen. Ms.: Finally man finds himself in considering the religious sphere. To speak about a religious sphere is not good in itself; but on this stage of philosophy which we called the third step, it is unavoidable. Theological anthropology contains two groups of anthropological problems according to the fact that religion embraces both, being and meaning, God and the belief. From the later point of view the problem belongs to the problem of objectivation and values. How is religion or the value of the holy to be understood within the other elements of human nature? And the second problem is: What is the situation of man in relation to God? What do the anthropological words: creature, sinner, justified mean? Usually only the second question has been called theological anthropology; the first has been counted to philosophy of religion; but there is no real difference, because the possibility of having religion belongs to the character of man as creature, carrying the image of God.

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9. Wir haben nun die verschiedenen Sphären von Sein und Sinn betrachtet und haben in jeder einen anthropologischen Teil oder eine anthropologische Fundierung oder beides zusammen. Aber wir haben eine dritte Sphäre ausgelassen, die Sphäre der Zwecke und Mittel. Wir haben darum nun zu fragen, ob die angewandten Wissenschaften im weiten Sinne der gegebenen Definition anthropologische Probleme in sich enthalten. Erstens ist festzustellen, dass die Existenz einer Sphäre der Ziele und Mittel eine sehr wichtige anthropologische Tatsache darstellt. Wir werden sehen, dass dies sogar der vorherrschende Punkt in der modernen anthropologischen Entwicklung ist, und vielleicht setzt dies auch die alte Erzählung vom Paradies und vom Sündenfall voraus (doch davon später). Zweitens gibt es das Problem des Verhältnisses von Mensch und Maschine, das sehr oft als Analyse unserer gegenwärtigen Situation behandelt wird, und auch dies gehört zur angewandten Anthropologie. Sodann haben wir uns mit den großen Formen der biologischen, psychologischen und soziologischen Anwendung zu beschäftigen: der Aufzucht von Pflanzen, Tieren, Menschen, der Medizin, der angewandten Psychologie, der Ökonomie, den Methoden der Unterstützung, Verteidigung und Führung von sozialen Gruppen. So haben wir die Versuche zu einer medizinischen, psychologischen, psychiatrischen sowie ökonomischen und sozialen (von der soziologischen zu unterscheidende) Anthropologie. Schließlich haben auch die Gebiete der Werte und der Religion ihre angewandten Wissenschaften. Die Vermittlung der Werte und die Formung von Menschen durch sie ist die Aufgabe der Erziehung. So haben wir eine pädagogische Anthropologie; die Seelenführung gemäß der religiösen Situation des Menschen ist Aufgabe der Praktischen Theologie: seelsorgerische Anthropologie, am ehesten zu finden in den katholischen Beichtbüchern. Die Frage in all diesen Bereichen der angewandten Anthropologie lautet: Was sind die Voraussetzungen in der menschlichen Natur, die ein technisches Handeln in Bezug auf den Menschen fordern und erlauben? Was sind in Anbetracht der menschlichen Natur die Ziele, und was sind die geeigneten Formen? Es ist klar, dass diese Arbeitsweisen der Anthropologie nicht unabhängig von den anderen sind. Viele der von den theoretischen Formen gelieferten Ergebnisse müssen von ihnen übernommen werden, aber die Arbeitsweisen einer

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angewandten Anthropologie haben eine spezielle Fragestellung und darum spezielle Gesichtspunkte. 10. Nun stellt sich die Frage: Worum geht es in der philosophischen Anthropologie? Ich antworte darauf: Erstens: Es gibt keinen gesonderten philosophischen Bereich neben anderen. Zweitens: Es gibt eine philosophische Haltung in jeder Sphäre, soweit sie von ihren Prinzipien aus behandelt wird. Drittens: Es gibt keine philosophische Anthropologie in dem möglichen Sinn, solange man den Menschen in viele Sphären aufteilt. Folglich ist philosophische Anthropologie solange unmöglich, wie der Mensch sich weit weg von sich selbst findet. Nur wenn er zu sich selbst gefunden hat, könnte er sie finden. C. Der Mensch kehrt zu sich selbst zurück 1. In zwei Schritten entfernte sich der Mensch von sich selbst; in zwei Schritten kehrt er auch wieder zu sich selbst zurück. Der erste kann die Krise der Abstraktion, der zweite das neue existentielle Denken genannt werden. Lassen Sie uns ihm auf diesen Schritten folgen! Aber vorher muss ich betonen, dass dieser Weg weg von sich selbst und wieder zurück zu sich selbst kein sinnloser Irrweg ist. Im Gegenteil, nur so konnte der Mensch die Kategorien, Begriffe und Tatsachen finden, die eine Lehre vom Menschen ermöglichen. Der Mensch kehrt nicht zum ersten Stadium seiner ursprünglichen Existenz zurück; wäre es so, wäre es Barbarei. Seine Rückkehr meint allein die Synthesis seiner Erfahrungen, die er durch den Verlust seiner selbst und die Erfahrung seiner wirklichen ungetrennten Existenz gemacht hat. Nur durch die Synthesis dieser beiden Wege ist Anthropologie möglich. 2. Die Krise der Abstraktion ist in der Literatur bekannt als Grundlagenkrise der Wissenschaften. Wir müssen uns mit ihr beschäftigen, weil die Wendung zur Anthropologie in der Philosophie durch sie verursacht wurde. Unser Gedankengang macht klar, warum dies so ist. Die Abstraktion der unabhängigen Bereiche ist nicht in jeder Beziehung wahr. Sie ist aber auch nicht in jeder Beziehung falsch. Aber nachdem sie durch das Moment der Wahrheit in der Unabhängigkeit der Sphären erfolgreich war, muss ein Moment kommen, in dem das

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Moment des Falschen wirksam wird. Und dieser Moment ist auf verschiedene Weise in jeder Wissenschaft bereits gekommen. 3. Die für das Problem einer Wissenschaftstheorie zentrale Wissenschaft war die Psychologie. Die cartesianische Trennung hatte seltsame Konsequenzen: die Theorie des Parallelismus. Ihr phantastischer Charakter. Wenn per definitionem die Trennung von Körper und Seele am Anfang steht, wird eine Einheit unmöglich. Die Korrektur durch die Kausalität kann die Sache nicht besser machen, weil eine Kausalität von außerhalb des Raumes in den Raum hinein nicht nachweisbar ist. Doch auch die cartesianische Voraussetzung selbst bricht zusammen. Die Psychologie des Unbewussten; die Tatsache, dass der Vorgang der bewussten Akte nicht von ihnen selbst her verstanden werden kann, dass es andere Mächte gibt, die den bewussten Vorgang steuern, ohne im Bewusstsein zu erscheinen. Aber was ist das Unbewusste? Es ist ein halb-mythischer Begriff, der die Grenzen jeder Bewusstseinspsychologie erkennen lässt. Auf der anderen Seite haben der neue Vitalismus und die Gestaltphilosophie gezeigt, dass die cartesianische Voraussetzung des Maschinen-Charakters des Lebens falsch ist und es unmöglich macht, irgendeinen Lebensprozess zu verstehen. Die Kategorie des Sinnes kann in der Interpretation der Gestaltprozesse nicht aufgegeben werden. Für diese Einsicht ist die Medizin besonders wichtig geworden. Vom cartesianischen Standpunkt aus hängt jede Krankheit mit einem bestimmten Teil des menschlichen Körpers zusammen, wie ein Maschinendefekt immer auf bestimmte Teile der Maschine beschränkt ist, die repariert werden können. Wenn es zu viele Teile mit Defekten gibt, kann die ganze Maschine nicht mehr funktionieren. Für Lebenwesen bedeutet dies den Tod. Aber diese Voraussetzung ist völlig falsch. Natürlich ist es in vielen Fällen möglich, Krankheiten, etwa Verletzungen usw., zu lokalisieren. Aber selbst in diesen leichteren Fällen ist die gesamte Reaktion unserer Konstitution entscheidend. Wenn wir die Krankheit als eine allgemeine Möglichkeit der Lebewesen auffassen, ist das Problem viel tiefer. Es ist ein Problem der gesamten Konstitution, aber dann ist es nicht möglich, sie von der inneren Konstitution, von den psychologischen Elementen, von der Freiheit im Verhältnis zu Werten loszulösen. Das Verhältnis zwischen Irrtum und Krankheit, Schuld und Krankheit wird sichtbar. Wir haben recht, wenn wir behaupten, dass die gegenwärtige radikale Krise der Medizin die

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Krise einer Medizin ohne Anthropologie ist. Und Sie verstehen, was es bedeutet, dass Psychologen heute zugeben, dass sie nicht wissen, was das ist; sie kennen den Menschen, aber sie kennen nicht das Bewusstsein als eine unabhängige Wirklichkeit. 4. Einige Worte aus der Sicht der Physik. Drei Punkte zeigen ihre radikale Krise an. Erstens der Versuch der Gestaltphilosophie, physikalische Gestalten zu behaupten; das impliziert eine Art Sinn sogar innerhalb der Sphäre des Anorganischen. Zweitens die Quantentheorie und die Außerkraftsetzung von Naturgesetzen und ihrer Notwendigkeit durch Wahrscheinlichkeiten und das Elemente der Freiheit, das Wahrscheinlichkeit impliziert. Drittens – und das ist wichtig für alle Wissenschaften – die Tatsache, dass der Mensch sich selbst nicht aus einem Experiment heraushalten kann. Durch den Akt des Betrachtens der Wirklichkeit wird die Wirklichkeit verändert. Wir erkennen nur die materiellen Bewegungen, die durch die Verbindung mit uns im Experiment in einem gewissen Grade beeinflusst werden. Das heißt, es gibt keine reine Erkenntnis, nÒhsij no»sewj, keine Selbstanschauung des reinen Geistes, sondern nur reale und aktive Beziehungen, in welchen die Wirklichkeit beider Seiten sich verändert. Eine dieser Beziehungen ist die Erkenntnis. Sie sehen, wie stark dieser Schritt zurückführt zur ursprünglichen Einheit von Mensch und Welt. Denn die Beziehung der Erkenntnis in der Physik ist die letzte und überraschendste Einsicht in eine Tatsache, die in den anderen Wissenschaftsgebieten unbestritten war. Wir können Pflanzen, Tiere, den Körper des Menschen nicht erforschen, ohne eine reale Beziehung im Raum herzustellen, ohne die Kraftfelder beider zu verändern, unsere und die unserer Gegenstände. Der augenfälligste Fall ist die Tötung eines lebendigen Wesens, um es zu erforschen, in anderen Fällen wird es in einem Käfig gehalten oder domestiziert oder verändert durch Furcht oder Hoffnung oder Liebe. In der Psychologie zeigt das Problem der Selbstbeobachtung dieselbe Notwendigkeit. Wenn wir uns nicht selbst verstehen, verstehen wir psychologische Dinge überhaupt nicht. Aber wenn ich mich selbst verstehe, kann ich mich selbst nicht unverändert lassen. Einen anderen verstehen ist nur möglich innerhalb einer Gemeinschaft, durch die beide Seiten verändert werden. Für die soziologische und historische Erkenntnis kann die Tatsache niemals bezweifelt werden, dass sie gleichzeitig Geschichte schafft und soziologische Verhältnisse ändert. Für die Sphären der Werte wurde

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deutlich, dass jede Erkenntnis von Werten eine Anerkennung und folglich eine Verwirklichung von Werten ist. Das gleiche gilt für die Theologie: das Verhältnis von Glaube und Bekenntnis. All das bedeutet, dass der Schnitt zwischen dem Menschen und den Sphären der Objektivation nicht möglich ist. 5. Wir müssen zurückkehren zur Psychologie. Sie kam auf in einer Situation der Krise nicht nur der Biologie und Medizin, sondern auch der Werte und der Religion. Sie beanspruchte, die grundlegende Geisteswissenschaft zu sein. Aber sie konnte keine geistige Objektivität erklären. Sie konnte nicht die innere Evidenz der Aussage erklären, dass zweimal zwei vier ist oder dass dieses Bild ein Kunstwerk ist und jenes nur eine Demonstration von Farben. Trotzdem haben auch diese Evidenzen eine psychologische Seite. Sie ereignen sich im menschlichen Bewusstsein oder zu einem gewissen Grad im Unbewussten des Menschen. Aus der Sicht der Psychologie hat der Satz, dass zweimal zwei fünf ist, keine geringere Berechtigung. Das gilt auch für die Demonstration von Farben. Oder brauchen wir eine andere Psychologie? Eine Psychologie, in der Wirklichkeit und Geltung nicht voneinander getrennt sind? Aber wie ist das möglich, ohne die Geltung aufzugeben? Oder ohne die wissenschaftliche Haltung mit einer mystischen Haltung zu verwechseln? 6. Die Soziologie ist durch die Grundlagenkrise der Wissenschaften insofern nicht betroffen,1 als die Existenz einer Sozialpsychologie zeigt, dass es keine scharfe Abgrenzung gegenüber der Psychologie gibt.2 Die psychologische Analyse hat zunehmend gezeigt, dass die unbewussten Kräfte der einzelnen Seele Kräfte eines Gruppenbewusstseins sind oder noch eher eines Gruppen-Unbewussten.3 Noch tiefer ist das Problem vom Gesichtspunkt der Entstehung [des Menschen]. Was meinen wir, wenn wir vom psychologischen Charakter des Menschen sprechen? Denken wir an die Gattung 1

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Folgt gestr.: weil sie niemals eine Grundlage hatte; sie lebt in einer Dauerkrise. Ihre Existenz ist eine Krise, weil sie jede feste Grenze überschreitet. Folgt gestr.: Im Gegenteil, einer der wichtigsten Kämpfe der modernen Wissenschaften hat gerade diesem Problem gegolten. Folgt gestr.: Auf der anderen Seite muss die Soziologie sehr klar unterschieden werden von der Geschichte, weil das ganze Material historisch ist und das Problem entsteht, ob es historische Gesetze gibt oder ob jede einzelne historische Epoche ihre eigene Struktur hat.

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Mensch, für die der einzelne Mensch die individuelle Konkretion ist? Und wer hat unter anderen Eigenschaften die Eigenschaft, zusammen mit anderen Menschen in sozialen Beziehungen zu leben? Oder ist die soziale Gruppe in gewisser Weise eher als das Individuum, in der Weise, dass das unabhängige Individuum das Produkt langer Entwicklungen der sozialen Gruppe ist? Sagen wir Menschen zuerst „Wir“ und danach erst „Ich“?1 Wir haben dasselbe Problem des objektiven Sinns zwischen der Soziologie und den Wissenschaften, das wir schon zwischen ihnen und der Psychologie hatten. Ist jede Objektivität in der zivilisierten Welt2 nur Ausdruck des Willens zur Macht einer bestimmten sozialen Gruppe? Ist alles, was wir als Wissen, Moral und Ästhetik kennen, nur Ideologie, das heißt nur Ausdruck eines bewussten oder unbewussten Willens einer Gruppe? Drückt sich in ihnen nur die menschliche Gruppennatur aus? Oder hat sie die Fähigkeit, objektiven Sinn zu erkennen, unabhängig von ihren vitalen Tendenzen? Und wieder müssen wir fragen: Wie ist das möglich? Und wir antworten wieder, dass Soziologie ohne Anthropologie unmöglich ist. 7. Ein weiteres Problem störte die Abgrenzung zwischen der Entwicklungsgeschichte des Lebens und der geographischen Anthropologie und Geschichte. Ist es richtig, den Menschen als den Endpunkt der biologischen Entwicklung zu betrachten? Wann beginnt er in der Entwicklung des Lebens? Etwas grob ausgedrückt, können wir sagen: nach den höheren Affenarten. Aber physiologisch? Wann beginnt der Mensch dynamisch? Eine sehr wichtige neue Theorie sagt uns: mit den Reptilien, weil bei ihnen die Lebenstendenz beginnt, stärker als alle anderen Teile das Zerebralsystem auszubilden. Folglich sind die höheren Spezies der Tiere gewissermaßen misslungene Versuche, den Menschen auszubilden. Diese Tiere sind latente Menschen, aber in einem Stadium der Rückentwicklung und Degeneration. In diesem Falle würde die Biologie der höheren Tiere eine biologische Anthropologie voraussetzen. Dasselbe Problem ist auf der anderen Seite entstanden, gegenüber der Geschichte. 1

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Folgt gestr.: Und würde diese Möglichkeit nicht dem Argument mehr Gewicht geben, dass die Natur des Menschen die Geschichte des Menschen ist und dass darum niemand ewig gültige Regeln über die Natur des Menschen aufstellen kann ? Sie sehen, jeder Bereich der wissenschaftlichen Abstraktion macht das Problem der Anthropologie reicher und komplizierter. Ms.: civilation [!]

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Können wir behaupten, dass es in der Geschichte biologische Veränderungen gibt? Ist der historische Mensch in vitaler, psychologischer, individual- und sozialpsychologischer Hinsicht veränderbar? Wenn das so wäre, wie ist es dann möglich, Geschichte von Psychologie, sogar von Biologie zu trennen? Vor allem: Ist es wahr, dass die gleiche biologische Natur des Menschen die Voraussetzung der Geschichte ist? Oder ändert sich die Natur des Menschen im Laufe der Geschichte? Ist der Mensch veränderbar? Und wenn er es ist, können wir das Gesetz dieser Veränderung finden oder gibt es gar kein solches Gesetz? Ist die Veränderung ein irrationaler Sprung, eine absolut neue Genesis? Wäre das der Fall, so wäre jede Lehre vom Menschen zweifelhaft. Im zweiten Fall, der Annahme einer veränderlichen Natur des Menschen, müssten wir eine Art dynamischer Anthropologie suchen. Die erste Annahme war die Voraussetzung der meisten Richtungen der früheren Philosophie. 8. Über die Wissenschaften von den objektiven Werten habe ich im Zusammenhang mit der Psychologie und Soziologie gesprochen. Nun kann ich nur dieselbe Problembeschreibung aus deren Sicht wiederholen. Das Problem ist: Sind Werte ewige Formen, die das Leben und die menschliche Existenz transzendieren, Ideale, die mehr oder weniger erreicht werden, aber an sich unveränderlich sind? Oder sind sie Ausdruck menschlicher Existenz? Ist der Humanismus im Recht mit der Behauptung, dass sie in den vitalen, psychologischen und soziologischen Tendenzen des Menschen enthalten sind? Ist der Geist Ausdruck des Blutes, wie Nietzsche behauptet, oder des wirtschaftlichen Interesses, wie Marx behauptet, oder des sexuellen Begehrens, wie Freud behauptet, oder des Verlangens nach Sicherheit, wie Dewey behauptet? Mit diesen Fragen kehrte die Wissenschaft der objektiven Werte zur allgemeinen Anthropologie zurück. Die Beziehung zwischen den Werten; Theorie und Praxis. Die Katastrophe der theoretischen Haltung. Der theoretische Mensch und sein Ende. 9. All das ist wertvoll für die Theologie, soweit Religion als ein Wert angesehen wird. Der Angriff aus der vitalen Sphäre auf die Religion ist stärker als der auf die anderen Wertsphären. – Aber die Theologie wird noch von einer anderen Seite aus zur Anthropologie gezwungen. Mehr und mehr haben sich alle Probleme der Dogmatik auf die Anthropologie konzentriert, weil die alten Methoden, direkte

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Aussagen über Gott und sein Handeln auf der Basis einer offenbarten Wahrheit zu machen, gescheitert sind. Wir verstehen mehr und mehr, dass jede Aussage über Gott, die nicht gleichzeitig eine Aussage über den Menschen, seine Natur und seine Existenz ist, reine Spekulation ist, die niemanden überzeugt. Die Konsequenz dieser neuen Methode ist die Erkenntnis, dass die theologische Anthropologie von der allgemeinen Anthropologie und damit von der Wissenschaft überhaupt nicht losgelöst werden kann. Andererseits hat die allgemeine Wissenschaft, insbesondere die allgemeine Anthropologie, mehr denn je theologische Elemente in sich aufgenommen. Eine Lehre vom Menschen ist nach der Überzeugung vieler Psychologen, Ärzte usw. nicht möglich ohne den Beitrag der theologischen Anthropologie. Die Mauern zwischen den Wissenschaften fallen sogar hier. 10. Schauen wir kurz auf die angewandten Wissenschaften im weiten Sinne des Wortes, so finden wir hier einige interessante Symptome derselben Krise, die wir schon in den reinen Wissenschaften gefunden hatten. Technisches Wissen im gewöhnlichen Sinne ist zu dem Zweck produziert worden, die Natur der Macht des Menschen zu unterwerfen. Die innere Entwicklung der technischen Zivilisation hat zu einer technischen Wissenschaft geführt, die sich mit dem Problem der Unterwerfung des Menschen unter die Maschine beschäftigt. Durch einen psychologischen Test werden die geeignetsten Leute für den Dienst in jedem Bereich der technischen Zivilisation ausgesucht. Jeder Teil der Maschine verlangt eine besondere Eignung dessen, der sie bedient. Eine spezielle Arbeitswissenschaft ist entstanden und hat gezeigt, dass die Anthropologie in hohem Maße die Voraussetzung auch für die technische Aktivität ist. (Das Scheitern der Testmethoden ohne die Anthropologie) Über die Medizin haben wir gesprochen. In den Wirtschaftswissenschaften hat sich die Sicht der Probleme mehr und mehr vom Produzenten zum Verbraucher verschoben. Das Problem des Verbrauchers ist das Problem von Bedarf und Not. Besonders die englischamerikanische Wirtschaft hat sich mit den Nöten der Arbeiterschaft als einem zentralen Problem der Wirtschaft beschäftigt. Auch dieses Problem setzt eine Lehre vom Menschen voraus als Basis für die Erklärung der wahren Bedürfnisse wie auch der wahren Nöte.1 1

Tillichs Ausführungen sind unklar. Ms.: About medicine we have spoken. In economics the point of view of problems more and more has changed from

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Die Politik ist immer eine Sache der Menschenkenntnis gewesen, Aber bisher mehr praktisch durch den politischen Menschen. Heute jedoch kämpfen zwei Prinzipien einer Sicht der Welt miteinander. Die Grundlage beider ist in erster Linie eine unterschiedliche Lehre vom Menschen. Das Problem der Macht ist das zentrale Problem der politischen Wissenschaft heute. Politik ist darum in einem hohen Maße von Psychologie und Soziologie abhängig geworden und das heißt wieder von Anthropologie. Im Bereich der Erziehung hat die Idee der autonomen Erziehung die Grenzen der pädagogischen Wissenschaft durchbrochen. Wenn der Mensch an sich Tendenzen und Fähigkeiten hat, deren Entwicklung das Ziel der Erziehung ist, dann ist sie nur angewandte Anthropologie. (Dasselbe gilt für die Praktische Theologie.) 11. Die Krise der Wissenschaften ist eine Krise der Abstraktion. Darum sind die Tendenzen, die in der Krise entstehen, Tendenzen, die noch konkreter werden. Die Unterscheidung zwischen den vielen von einander unabhängigen Sphären und den entsprechenden Wissenschaften ist Ausdruck der Haltung der Abstraktion. Entsprechend ist die Durchlässigkeit der Mauern zwischen den Wissenschaften und den Sphären der Objektivation Ausdruck einer neuen konkreten Haltung. Jede Sphäre ist von der menschlichen Existenz und ihren Beziehungen letzten Endes abstrahiert. So ist die Tendenz zur Konkretion die Tendenz, in einer Lehre vom Menschen eine konkrete Grundlage für jede Wissenschaft zu finden. Wir haben gesehen, dass dies nicht nur eine Forderung ist, sondern Wirklichkeit, die durch die inneren Bewegungen in jedem Bereich der Wissenschaft erzwungen wurde. Unsere nächste Aufgabe besteht nun darin, die Idee einer Anthropologie als die Basis für jede Wissenschaft zu beschreiben, aber nicht in dem Sinne, dass sie einen anderen Zugang ausschließt, sondern dass sie ihn einschließt.

the producer to the consumer. And the problem of the consumer is the problem of needs and suffering. Especially the English-American economy has dealt with the labour-suffering as a central problem of economics. And this problem presupposes a doctrine of man a basis for the explanation as well of the true needs as of the true suffering.

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D. Der Mensch findet sich und die Dinge in sich selbst1 1. Die zwei Schritte weg von sich; das Sich-Finden in jedem Bereich der Abstraktion; die zwei Schritte zurück zu sich selbst. – Der Wechsel, der dadurch ermöglicht wird. Die Möglichkeit, über sich selbst zu sprechen; Begriffe, die nur aus der Abstraktion und Objektivation genommen sind. – Aber nun das Problem: Die Begriffe sind anzuwenden für eine Schicht unterhalb der Objektivation, für die nicht-vergegenständlichte Wirklichkeit, die unsere eigene ist. Dieses Problem ist verknüpft mit einer Philosophie der Sprache. Nur einige Worte darüber. (a) Der Name, der ein magisches Verhältnis ausdrückt. Das poetische und mythologische Wort. „Dichtung“. Übergang vom Namen zum Begriff in der frühen griechischen Philosophie. (b) Der Begriff verknüpft ein rationales Element mit der Macht des Namens. (Hegels Philosophie des Begriffs) (c) Das Zeichen als eine rationale Form des Sprechens. Terminismus und Logizismus (Wiener Schule). Dessen Voraussetzung die rationale Spezialisierung der Bereiche. Darum (d) die Tendenz, die Grenzen der rationalen Definitionen zu überschreiten. (e) Worte mit der Macht, mehr als die Objektivationen zu begreifen; nicht begreifen, sondern die Eigenschaft der Dinge zeigen, durch die sie in unserem eigenen Selbst verwurzelt sind. Die Dinge zeigen insofern, als sie mehr als Dinge sind, als sie Momente des Lebens sind, das wir haben dadurch, dass wir uns selbst haben.2 (f) Erklärung durch die Kategorie der Erfahrung. Erfahrung setzt die Trennung zwischen dem voraus, der Erfahrungen macht, und der Sache, die zur Erfahrung wird. Aber es gibt Tendenzen in der Philosophie der Erfahrung, die Trennung zu beseitigen und über Erfahrung als die einzig mögliche Wirklichkeit zu sprechen, und die Tendenz, die Existenz einer transzendenten Subjektivität „diesseits“ unserer Erfahrung und einer transzendenten Objektivität „jenseits“3 unserer Erfahrung zu leugnen. Der radikale Empirismus, der nicht nur dem Idealismus, sondern auch dem Naturalismus widerspricht, kann zum Verständnis meiner eigenen Position hilfreich sein. Inner1 2

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Gestr.: Die neue Idee der Anthropologie. Ms.: Showing things insofar as they are more than things, as they are moments of the life which we have by having ourselves. Tillich verwendet hier die deutschen Wörter „diesseits“ und „jenseits“.

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halb unserer Erfahrungen gibt es Selbsterfahrung. Aber dieses Wort zeigt die Grenzen des Begriffs der Erfahrung, weil in diesem Wort das erfahrende und das erfahrene Selbst getrennt werden als Subjekt und Objekt. Darum versuche ich, ein anderes Wort zu gebrauchen, das weniger intellektuell ist, aber in sich selbst die Möglichkeit des Intellekts enthält. Ich meine das Wort „haben“. Wir haben uns selbst. Wir sind nicht nur, wir haben unser Sein. Sich selbst haben ist mehr als sich seiner selbst bewusst sein. Die fundamentale Qualität des Sich-selbst-Habens ist tiefer als die Schicht des Selbstbewusstseins. Sie ist natürlich mehr als Selbsterfahrung. Sie ist auch mehr als das Umgehen mit sich selbst. Sie ist das Prius von beidem. „Ich habe mich selbst“, das heißt: Ich habe die Macht, eine Realität zu kennen, die die Qualität einer Selbst-Realität hat; und ich habe die Macht, mit einer Realität umzugehen, die eben diese Qualität hat. „Haben“ verweist auf eine Vergangenheit, die bis jetzt noch Gegenwart ist. „Ich habe mich selbst“ heißt: ich bin meine eigene Vergangenheit, ich lebe von den Mächten, die mein Sein konstituieren.1 2. Philosophische Anthropologie ist der Versuch, dieses Sich-selbstHaben in Worten auszudrücken, die einerseits die Sphäre der Objektivationen, in denen wir uns zeigen, andererseits aber auch die Wurzel der Objektivationen enthalten, die in dem Fragen nach uns selbst, in unserem Uns-selbst-Haben liegt. Philosophische Anthropologie ist die Erklärung unseres wirklichen Uns-selbst-Habens durch objektivierende Begriffe. Es ist ebenfalls ein Haben, ein ausdrückliches Haben, ein Haben als Haben, ein bewusstes Haben. Bewusstsein in diesem Sinne ist selbst eine Art Haben, das heißt: ein Wissen ohne Distanz. Darum hat jeder Begriff, der diesem Ziel dient, die Aufgabe, unseren Geist von der Tendenz zur Objektivation zurückzulenken zu sich selbst, zu seinem Sich-selbst-Haben.2 1

2

Ms.: I have myself; it means, I am my own past, I am living in the powers which constitu[te] my being. Ms.: Philosophical anthropology is the attempt to make expressed this having of one self by words which contain on the one side the sphere of objectivations, in which we are displayed; and on the other hand the root of the objectivation in the questioning himself, in his having himself. Philosophical anthropology is the explanation of the real having of ourselves through concepts of objectivation. It is having too; expressed having, having as having; conscious having. Consciousness in this case is itself a kind of having that

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3. Anthropologie ist Erkenntnis der Macht des Menschen mit Hilfe von Begriffen, die aus der Objektivation der Macht genommen sind. Die Anthropologie darf darum nicht fragen: Welche Elemente bilden das Sein des Menschen?, sondern:1 Welche Mächtigkeiten konstituieren diese Sphären der Objektivation? Zum Beispiel: Da gibt es die objektive Sphäre der Geschichte. Wir müssen fragen: Was ist die Macht eines Wesens, Geschichte zu haben? Geschichte zu haben oder die Macht zur Geschichte zu haben – das ist menschliche Existenz. Indem wir uns selbst haben, haben wir diese Macht. Und unsere Frage lautet: Was bedeutet diese Macht? – Und ebenso: Was bedeutet es, Leben zu haben? Was ist das, die Macht zu leben, einschließlich der Macht zu sterben? Oder die Macht, Wissen und Moral zu haben. Oder Religion zu haben. Anthropologie hat mit der Struktur jeder Potentialität zu tun, die die Voraussetzung ist für unsere Art, sie zu verwirklichen. Behandelt werden aber nicht abstrakte Potentialitäten, sondern die Potentialität, soweit sie eine reale Existenz als menschliche Macht hat. Die existierenden Potentialitäten des Kosmos, die in der menschlichen Existenz zu finden sind. Vor allem das Problem, im Sich-selbst-Haben eine Objektivation, eine Welt zu haben. Innerhalb dieser allgemeinen Anthropologie liegt die theologische Anthropologie, nicht als letztes Problem, nachdem alle anderen erledigt sind und die Struktur des Menschen bereits fertig ist, sondern als erster Schritt.2

1 2

means a knowledge without distance; therefore every useful concept for this goal has the obligation to cast our mind from the tendency to objectivation back to himself to his having of himself. Folgt gestr.: Von welchen Fähigkeiten lebt der Mensch? Ms.:Anthropology is knowledge of human powers with concepts taken from the objectivation of powers. Therefore anthropology has to ask: Not which elements compose human being, but: Which powers are presupposed in order to constitute those spheres of objectivation? For example: There is the objective sphere of history. We have to ask: Which is the power of a being to have history. To having history or to have the power of history that is human existence. In having ourselves we have this power. And our question is: What does mean this power? And in the same way to have life? What is that, the power of living, including the power of dying. Or the power to have knowledge and morals; or to have religion. Anthropology deals with the structure of every potentiality, which is the presupposition for our kind of actuality. But not abstract potentialities are treated. But the potentiality insofar as it has real existence as human power. The existing potentialities of the cosmos, to be found in human existence. First of all the problem of having objectivation, of having a world in having himself. – Within this general anthropology theological anthropology is laying; not as the last problem after

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4. Anthropologie in unserem Sinne und Fundamentalphilosophie sind identisch. Aber unser Ziel zwingt uns, die Elemente der menschlichen Macht als Macht des Menschen zu betonen und nicht als irgendeine Macht. Der Mensch ist die Macht des Seins überhaupt; aber es ist ein Unterschied, ob man nach dem Sein überhaupt fragt oder nach der Macht des Seins.1

II. Allgemeine oder philosophische Anthropologie A. Sich-selbst-Haben als ontologischer Charakter des Menschen 1. Die Natur des Sich-selbst-Habens. Jeder Begriff, der die Art und Weise des Sich-selbst-Habens ausdrückt, kann nur durch seinen Gegensatz definiert werden. So ist das Sich-selbst-Haben vor allem nur als Gegensatz zum Nicht-sichselbst-Haben zu verstehen. Wenn wir sagen: Der Mensch ist das Sich-selbst-Haben, schließen wir ein, dass es ein Nicht-sich-selbstHaben gibt. Aber nun müssen wir eine sehr wichtige Bemerkung machen: Wir wissen nicht, was das ist: sich nicht haben. Wir wissen, was das ist: ein Mensch sein. Aber was das ist, ein Stein sein, das wissen wir nicht. Wir verstehen Sein nur, sofern es unser eigenes Sein ist, sofern es Sich-selbst-Haben ist. Sein für uns, verstehbares Sein, ist Sich-selbst-Haben. Der Stein ist nicht ein Überhaupt-nicht-Sein. Und sofern der Stein ist, können wir sein Sein nur in einer paradoxen Formel beschreiben. Wir müssen sagen: Der Stein hat sich selbst als sich nicht selbst habend. Ich sage ausdrücklich „sich“, weil, sofern wir einem Stein den Charakter des Sich-selbst-Habens zusprechen, ihn wie einen Menschen behandeln. Auf der anderen Seite ist er nicht wie ein Mensch. Wir können ihm nicht ein Sich-selbst-Haben zusprechen. Das ontologische Paradox wurde früher in der mythologischen Gemeinschaft von Mensch und anorganischer Natur ausgedrückt. Die andere Seite des Paradox ermöglicht es uns, Dinge als reine Dinge oder reine Gegenstände ohne Subjektivität zu haben.

1

all others are finished on the human structure is ready, but in the first step. Ms.: Anthropology in our sense and fundamental philosophy are identical. But our goal forces to emphasize the elements of human power as human power, not as power of something. Man is power of being at all; but it is a difference to ask being at all or to ask the power of it.

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Ich wiederhole: Sich nicht selbst haben, das heißt keine Subjektivität haben, ist für uns absolut unverständlich. Wir können nicht „darunter stehen“ und seinen ontologischen Charakter erfahren.1 Wenn wir es verstehen wollen, müssen wir ihm den Charakter des Sich-selbst-Habens geben; aber das ist nicht möglich, weil wir keine Subjektivität finden können, und darum müssen wir ihm andererseits diesen Charakter wieder nehmen und müssen ihn als „sich nicht selbst haben“ bezeichnen. Drittens müssen wir beide Charaktere miteinander verbinden und sagen: das Sich-selbst-Haben, das den Charakter des Nicht-sich-selbst-Habens hat. Wir haben dafür ein Beispiel, wenn wir sagen: Der mit Bewusstsein Ausgestattete ist bewusstlos, ohnmächtig, er schläft; er hört nicht auf, Bewusstsein zu haben, auch wenn er bewusstlos ist. Stellen Sie sich nun ein Bewusstsein vor, das immer bewusstlos ist, dann haben Sie den paradoxen Charakter eines Seins, das sich selbst hat und gleichzeitig nicht hat.2 Jetzt verstehen wir den Charakter des Menschen: Sich-selbstHaben ist der allgemeine Charakter des Seins überhaupt. Es ist die allgemeine ontologische Qualität. Doch es gibt eine Besonderheit: das Sich-selbst-Haben als Nichtsich-selbst-Haben, die Welt der anorganischen Körper. Im Gegensatz dazu das wirkliche Sich-selbst-Haben. Wir nennen es Leben. Der Mensch ist lebendig, das heißt, er ist wirkliches Sich-selbst-Haben. Das wird noch konkreter durch einen anderen Gegensatz: Es gibt ein Sein, von dem wir nicht sagen können: Es ist ein Sich-selbst-Haben als Nicht-sich-selbst-Haben, sondern von dem wir eher sagen würden: Es ist ein Sich-selbst-Haben als ein Noch-nicht-sich-selbst-Haben. Das „noch nicht“ meint, dass es eine Möglichkeit gibt, ein Sichselbst-Haben zu werden, und noch wahrscheinlicher: eine Tendenz, aber es ist noch kein wirkliches Sich-selbst-Haben. Das sogenannte niedere Leben der vegetativen Natur hat diesen Charakter des Nochnicht-sich-selbst-Habens. Es gibt ein Element der Subjektivität, der Selbstreproduktion, der Selbstverteidigung, der inneren Einheit. Es ist nicht so absolut unverständlich wie die sogenannte anorganische Natur, aber es ist nicht wirklich verständlich. Noch nicht, das heißt, es kommt dem wirklichen Sich-selbst-Haben näher, aber es erreicht es 1

2

Ms.: I repeat: Not having oneself that is not having subjectivity, is absolutely ununderstandable for us. We can’t „stand under“ it and experience its ontological character. Am Rand: Gestalttheorie als Versuch, dafür eine Lösung zu finden.

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nicht. Es bleibt fremd. Was ist der Charakter des Fremden? Es muss nicht absolut getrennt, nicht absolut verschieden sein. Es gibt eine Verbindung, eine Beziehung; aber selbst diese Beziehung lässt den Unterschied als Fremdheit erscheinen. Das Fremdsein ist ein Sein, das ein nicht einfaches Sich-selbst-Haben, sondern ein Sich-selbst-Haben als Nicht-sich-selbst-Haben oder Noch-nicht-sich-selbst-Haben ist. Der Mensch ist im Gegensatz zum Noch-nicht-sich-selbst-Haben ein Immer-schon-sich-selbst-Haben, das heißt: Die Bedingung eines jeden Moments, das menschlichen Charakter hat, ist das Sich-schonGehabthaben. Mit anderen Worten: Das Leben mit menschlichem Charakter oder das Leben mit dem Charakter des wirklichen Sichselbst-Habens kann nicht von etwas abgeleitet werden, das nicht Leben ist, das sich nicht immer schon hatte. Leben kann nur von Leben abgeleitet werden. Wir können fragen: Was sind in der allgemeinen Natur die Bedingungen der Existenz von Leben? Aber wir können Leben nicht ableiten von dem, was nicht oder noch nicht Leben ist. Ableiten heißt erklären durch ständige Übergänge, durch höhere Komplexität des Aufbaus usw. Leben ist von dem, was noch nicht Leben ist, getrennt durch einen absolut qualitativen Sprung. Im wirklichen Sich-selbst-Haben entsteht eine neue Differenzierung. Das Sich-selbst-Haben ist keine objektive Qualität wie das Haben von Händen und Beinen, die vorhanden sind. Sich-selbstHaben enthält die Forderung, sich zu haben. Das ist die Voraussetzung für unsere Rede vom „noch nicht“ und „schon jetzt“. Sich-selbst-Haben ist eine ontologische Struktur, die die Spaltung zwischen Sein und Sollen überwindet. Um das reine Sein zu einem geforderten Sein zu entwickeln, müssen wir das einfache Sich-selbstHaben umwandeln in ein Haben als ein Sich-selbst-Haben. Oder in ein Haben des Sich-selbst-Habens. Diese Verdoppelung bedeutet, dass das Haben einen teleologischen Charakter hat. Wir können verstehen, warum das so sein muss. Wenn wir im einfachen Sich-selbst-Haben blieben, wären wir Gefangene unserer selbst und des Charakters des Sich-selbst-Habens. Der besondere Charakter des Sich-selbst-Habens bliebe uns erhalten, aber wir würden uns nicht haben. Das ist nur möglich, wenn wir unser Uns-selbst-Haben haben, wenn unser Unsselbst-Haben uns zu eigen und uns nicht fremd ist. Blicken wir auf eine höheres Tier. Es hat sich, aber in diesem Sich-selbst-Haben ist es wie ein Gefangener festgehalten, ist es gebunden an die Notwendigkeit seiner Natur. Seine Natur ist das einfache Sich-selbst-Haben. Aber diese Einfachheit schließt ein Noch-nicht ein. Sich-selbst-Haben ist

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eine Duplizität; diese Duplizität ist die Duplizität des Seins überhaupt. Ein einfaches Sein ist nicht verstehbar, es ist reiner Gegenstand. Wir können uns einen reinen Gegenstand nicht vorstellen ohne eine innere Duplizität oder ohne ein Element der Subjektivität.1 Wir fühlen eine gewisse Verwandtschaft mit derjenigen Art des einfachen Sich-selbst-Habens, die sich bei höheren Tieren findet. Doch auch dort gibt es ein fremdes Element. Wir suchen die Verdoppelung, die zweite Duplizität, und wir finden sie nur in der Mythologie und im Märchen. Nur die Duplizität zweiten Grades macht aus dem Sichselbst-Haben eine Realität. Die bloße Oberfläche ist eine Noch-nichtRealität, sie hat nur zwei Dimensionen. Der Körper aber, in dem es eine Verdoppelung der ersten Duplizität gibt, ist eine Realität. Das ist ein Gleichnis für die Duplizität der Duplizität, für die Verdoppelung des Sich-selbst-Habens in ein Haben als ein Sich-selbst-Haben. Der Inhalt des zweiten Habens ist das erste Haben.2 Das heißt: Das zweite Haben, die Verdoppelung, hat über das erste Haben hinaus keinen neuen Inhalt, aber es gibt eine Qualität 1

2

Ms.: In really having oneself a new differentiation arises. The having oneself is not an objective quality like having hands and legs, which are given. To [sic!] having himself implies the demand of having himself. This is the presupposition for our speaking about ‚not yet‘ and ‚already‘. To [sic!] having one self is an ontological structure, which overcomes the cleavage between being and being obliged. In order [to] develop the pure being to an being which is demanded, the simply having oneself change [sic!] in having as having oneself. Or having ones having one self. This reduplication means, that the having has teleological character. We can understand, why it must be so: If we were remain[ing] in the simply having oneself, we should be prisoners of ourselves and of the character of having ourselves. We should be kept in the special character of having ourselves, but we should not have ourselves. That is only possible, if we have our having, if our having is our own and not strange to ourselves. Look at an higher animal. It is having itself; but in this having it is held as a prisoner, it is tied to the necessity of its nature. Its nature is simply having oneself. But this simplicity includes a not yet. Having oneself is a duplicity; this duplicity is a duplicity of being at all; a simple being is not understandable, it is pure object; and we have no faculty to imagine a pure object without inner duplicity or without any element of subjectivity. Ms.: We feel relationship with that way of simply having oneself, which we find as the nature of higher animals. But even there is a strange element. We seek the reduplication, the second duplicity and we find it only in mythology and fairy tales. Only the duplicity in the second degree makes the having oneself a reality. The plane-surface is not-yet reality, because it has only two dimensions; the body, in which there is a reduplication of the first duplicity is reality. That is an similar for the duplicity of duplicity, for the reduplication of having one self into having oneself as having one self. The content of the second having is the first having.

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der Freiheit, die dem Sich-selbst-Haben zuzusprechen ist. Der Mensch hat die Macht über sich selbst; Selbstmächtigkeit, das ist die Verdoppelung der einfachen Macht, sie ist freie Macht. Jedes Ding hat Macht insofern, als es sich selbst hat.1 Das ist keine vollständige Beschreibung der Macht, aber es ist ihre Bedingung. Ein Blitz hat die Macht, eine Eiche zu zerstören. Aber er hat keine Macht, weil seine Kraft in die Wirkung übergeht und in ihr verschwindet, ohne irgendeine bleibende Fähigkeit zu haben. Aber eine solche Fähigkeit gehört zur Macht. Und solch eine Fähigkeit hängt vom ontologischen Charakter des Sich-selbst-Habens ab.2 Darum schließt wirkliche Macht die Bedingung ein, Macht über sich selbst zu haben; der Mensch hat Selbstmächtigkeit, er hat nicht nur einfache Macht.3 Indem wir nun diesen Punkt verlassen, können wir eine sehr wichtige theologische Beobachtung machen: Wir haben behauptet, dass sogar das einfache Sich-selbst-Haben uns bis zu einem gewissen Grade fremd ist; wir haben zu ihm nur einen schmalen Zugang insofern, als wir selbst Momente eines einfachen Uns-selbst-Habens ohne eine Verdoppelung haben; aber diese Momente sind eingehüllt in unsere allgemeine Konstitution des Uns-selbst-Habens mit einer Verdoppelung. Darum haben wir kein wirkliches Verständnis des einfachen Sich-selbst-Habens. Wenn wir eine völlig verständliche Interpretation des Charakters des Seins suchen, müssen wir sagen: Das Sich-selbst-Haben haben oder die Selbstmächtigkeit. Die verständliche Eigenschaft des Seins ist die Selbstmächtigkeit. Das ist der Grund für jede Mythologie, das heißt für den echten Versuch des Menschen, das Sein als Selbstmächtigkeit in Analogie zu seiner eigenen Selbstmächtigkeit zu interpretieren. Hier müssen wir den 1

2 3

Ms.: That means: The second having, the reduplication has no new content beyond the first having; but there is a quality of freedom to be attributed to the having oneself. Man has power over himself, self-power, that is the reduplication of simple power; it is free power. Everything has power insofar as it has itself. Am Rand: Biene stirbt bei Verteidigung. Ms.: That is not a complete description of power, but it is its condition. Lightening has the force to destroy an oak-tree, but it has not power; because its force goes into its effect and disappears in it without any remaining faculty. But such a faculty belongs to power. And such a faculty depends on the ontological character of having oneself. Therefore real power includes the condition of having power over oneself; man has self-power, he has not only simple power.

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Grund für jede idealistische Philosophie suchen. Wenn Fichte über das absolute Ich oder Hegel über den absoluten Geist spricht, bedeutet dies, dass sie auf die ontologische Frage antworten, die Frage nach dem Charakter des Seins, indem sie behaupten, dass das Sein letztlich das Haben von Selbstmächtigkeit ist. Aber meistens vergisst die idealistische Philosophie, dass wir das Sein nicht verstehen können, das wir von unserem eigenen essentiellen Sein unterscheiden und das wir als Sich-selbst-noch-nicht-Haben oder negativ als Sich-selbst-Haben als Nicht-sich-selbst-Haben bezeichnet haben. Das heißt, die religiöse und die idealistische These vom Sein ist paradox und nicht rational. Wir dürfen nur sagen: Trotz des fremden Charakters des Seins wagen wir zu behaupten, dass das Sein nicht anders verstanden werden kann als dass wir es interpretieren als Haben von Selbstmächtigkeit. Aber wir können damit nicht das Ganze erklären, wir können nur in Gestalt von Mythen oder Dichtung davon reden. Das impliziert auf der anderen Seite, dass von der Existenz des Menschen aus gesehen, die Welt nur insofern für ihn offen ist, als er in ihr das Prinzip seiner eigenen Existenz findet, die Selbstmächtigkeit. Und wenn wir dieses Prinzip Gott nennen, müssen wir bekennen, dass Gott nicht das höchst Unverständliche, sondern dass er das einzig Verständliche ist. Aber er ist mehr als dieses Prinzip, wie auch die Welt für uns in ihrem ontologischen Charakter fremd ist. Dieses Mysterium muss gegen den Idealismus aufrecht erhalten werden.1 1

Ms.: In passing this point, we can make a very important theological observation: we have asserted, that even the simply having oneself is to a certain extent strange to us; we have only a small approach to it insofar as we ourselves have moments of simply having ourselves without reduplication; but these moments are enveloped in our general constitution to have ourselves with reduplication. Therefore we have no real understanding of the simply having oneself. Consequently if we seek an entirely understandable interpretation of the character of being we are obliged to say: To have the having oneself or self-power. The understandable quality of being is self-power. That is the reason of every mythology, that means of the genuine attempt of man to interprete being as self-power in analogy to his own being self-power. Here we have to seek the reason of every idealistic philosophy. If Fichte is speaking about the absolute Ego and Hegel about the absolute mind, that means, that they answer the ontological question, the question for the character of being through asserting the being in the last view is having self-power. But mostly idealistic philosophy forgets, that we are not able to understand by this means the being, and which we distinguish from our own essential being and which we have called not yet having oneself or as negative limitation have one self as not having; that means: The religious and the idealistic thesis about the being is paradoxical and not rational. We are allowed only to say: In spite

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Der Mensch ist das Sich-selbst-Haben als Sich-selbst-Haben, er hat Macht über sich selbst. Er ist unterschieden von von jeder Art des einfachen Sich-selbst-Habens. Die Macht, die der Mensch über sich selbst hat, hat nicht den Charakter einer vollständigen Verwirklichung. Sich-selbst-Haben – so sahen wir – heißt, sich selbst haben müssen.1 (Die englische Sprache zeigt sehr deutlich dieses Element des Habens, die Forderung, die Verpflichtung). Haben hat nicht nur Vergangenheitscharakter, sondern auch Zukunftscharakter. Macht haben über sich selbst ist nicht nur das mit unserer besonderen Natur Empfangenhaben von Macht, sondern es meint auch das Haben der Aufgabe, diese Macht zu verwirklichen. Wir haben uns als solche, die aufgefordert sind, sich zu haben. Wir haben Macht über uns als solche, die verpflichtet sind, Macht über sich zu haben. Wir haben uns selbst als solche, die sich selbst haben müssen. Wir haben Macht über uns als solche, die Macht über sich übernehmen müssen. Das bedeutet: Die Macht, die wir über uns haben, ist bedingt, nicht unbedingt, oder was dasselbe bedeutet: Sie hat moralischen Charakter. Eine Macht über uns ganz ohne Einschränkung würde eine absolute Macht sein, ein Sein, in welchem alles, was in unserem Selbst geschieht, aus uns selbst kommt. Ein solches Sein können wir nicht mehr verstehen als ein Sich-selbst-nicht-Haben. Unsere Endlichkeit ist unser moralischer Charakter. Wir stehen zwischen dem noch nicht moralischen und dem nicht mehr moralischen Charakter des Seins. Wir verstehen weder dieses noch jenes. Gott in seiner absoluten Selbstmächtigkeit ist für uns so fremd wie ein reines Ding in seinem absoluten Mangel an Selbstmächtigkeit. Wir machen beides dadurch verständlich, dass wir in ihnen ein Element der Selbstmächtigkeit behaupten. Wir erzählen Mythen über Steine und Götter, um sie in Entsprechung zu bringen zu unserem Uns-selbst-haben-Müssen. Es gibt nur eine Möglichkeit, über das Unbedingte jenseits der moralischen Sphäre

1

of the strange character of the being, we dare to assert that being cannot be understood otherwise than through interpreting it as having selfpower. But we are not able to explain it for the totality; we only are allowed to speak in myths or poems about it. This implies on the other hand, that from the point of view of human existence the world is open for him only insofar as he finds in her the principle of his own existence, the self-power. And if we call this principle God, we must confess that God is not the most ununderstandable, but that he is the only understandable. But he is more than this principle as the world is strange to us in their ontological character. The mystery is to be kept in contrast to the idealism. Ms.: To have oneself, we saw, is to have to have oneself.

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und das nur Bedingte unterhalb der moralischen Sphäre verständlich zu reden: das Reden in Mythen, das heißt unter den Bedingungen der moralischen Sphäre oder unserer eigenen Natur. Auch wenn wir sie nicht verstehen können, so können wir doch ihre Beziehung zu uns und jedem anderen beschreiben, aber nicht ihr Sein.

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3.3 I. Die Lehre vom Menschen und die gegenwärtige Situation in Wissenschaft, Philosophie und Theologie1 (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) 1. Einige Worte zum Titel: „Die Lehre vom Menschen“ und zum Begriff „Anthropologie“. Anthropologie ist heute auf eine spezielle Wissenschaft begrenzt als geographische Lehre vom Menschen. Der Mensch als ein Wesen, das die Oberfläche der Erde verändert. Der Grund für diese enge Bedeutung des Begriffs: Der Mensch als ein natürliches Phänomen, abzuleiten von anderen Wesen als ein Produkt der natürlichen Entwicklung. Voraussetzung ist die naturalistische Lehre vom Menschen.2 Sie versteht den Menschen als Natur und die Natur als ein objektives System mit festen Gesetzen und Strukturen. Beide Voraussetzungen sind Probleme einer Lehre vom Menschen. Keine Ablehnung der Sozialwissenschaft Anthropologie, jedoch der Auffassung, sie sei bereits eine Lehre vom Menschen. Die Lehre vom Menschen ist Voraussetzung der Anthropologie insofern, als sie deren immenses Material interpretiert. Das Wort „anthropologisch“ wird für beide gebraucht, als Adjektiv für „Lehre vom Menschen“ und für Anthropologie. 2. Die drei Hauptgruppen wissenschaftlicher Erkenntnis: Die zentrale Wissenschaftsgruppe handelt von der konkreten Realität oder dem Leben als Leben: Biologie, Psychologie, Soziologie (Gestalt-Wissenschaften). Neben ihr befindet sich auf der einen Seite die Wissenschaftsgruppe, die von denjenigen Elementen des Lebens handelt, die durch mathematische Abstraktion erfasst werden können: die Physik. Auf der anderen Seite die Gruppe, die von denjenigen Elementen des Lebens handelt, in denen das Leben sich selbst transzendiert, den Normen oder Werten. Die erste und die dritte Wissenschaftsgruppe sind Abstraktionen insofern, als die mathematischen Elemente Elemente lebendiger Wesen und die Werte auch Elemente des individu1

2

Ms.: The Doctrine of Man and the present situation in science, philosophy and theology Folgt gestr.: und von der Natur

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ellen und sozialen Lebens sind. Auch der anorganische Bereich der Dinge enthält Leben, totes Leben oder potentielles Leben, aber Leben mit einigen Elementen von Sinn und Spontaneität. Andererseits gilt: Auch die höchsten Formen des Lebens, die höchsten Gegenstände der Biologie, Psychologie und Soziologie enthalten Elemente mathematischer Abstraktion. Das Anorganische als Gegenstand der Biologie, das Organische als Gegenstand der physikalischen Forschung. Nicht die Bereiche bilden die Wissenschaftsgruppen, sondern die Methode ist entscheidend. Leben als Leben oder die physikalische Abstraktion von Leben. Ebenso gehören die Werte zum Leben und gleichzeitig transzendieren sie das Leben und haben den Charakter von Geboten des Lebens. Wechselseitige Abhängigkeit dieser drei Wissenschaftsgruppen, relative Unabhängigkeit jeder einzelnen. Der konkretere Charakter der zentralen Wissenschaftsgruppe. 3. Die Lehre vom Menschen als das Einende der zentralen Wissenschaftsgruppe; die konkreteste Form wissenschaftlichen Arbeitens. Letztlich die einzige konkrete wissenschaftliche Arbeit. Das heißt: Konkrete Wirklichkeit ist Leben, konkretes Leben ist für den Menschen nur menschliches Leben. Alles andere Leben erlaubt einen Zugang nur durch Abstraktion von einigen Elementen unseres Lebens: Abstraktion von Intentionalität: Tiere, von Gefühl: Pflanzen, von vegetativem Wachstum: Steine, vom Körper: Engel. Der Mensch ist für den Menschen das einzige konkrete Leben, die einzige Wirklichkeit, die er versteht. Darum ist die Lehre vom Menschen die einzige radikal konkrete Wissenschaft. Aber diese konkrete Wirklichkeit ist nicht allein durch die Abstraktionen in der ersten und dritten Wissenschaftsgruppe verloren gegangen, sondern auch durch eine auf Abstraktionen zurückgehende Differenzierung in der zentralen Wissenschaftsgruppe selbst. Entscheidend die cartesianische Spaltung zwischen Körper und Seele, die Identifikation des Körpers mit der mathematischen Konstruktion einer reinen Maschine und der Seele mit dem Geist als dem Ort des reinen Denkens, der klaren und deutlichen Erkenntnis. Darum die Biologie als Wissenschaft von einer komplizierten Maschine, dem Körper, und die Psychologie als Wissenschaft vom Bewusstsein und seiner Gesetze der Assoziation und der Entstehung logischer, moralischer und ästhetischer Normen in ihm. Aber diese Gesetze (wie die isolierte Maschine Körper) sind die Gesetze eines

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individuellen Bewusstseins, ohne das Gruppenbewusstsein zu bedenken, das den Inhalt allen Lebens ausmacht. So herrscht das Ideal der Maschine in der Physik, der Körper als komplizierte Maschine in der Biologie, die Seele als eine Maschine der bewussten Assoziation in der Psychologie, die Gesellschaft als kompliziertes „Miteinander“ individueller Körper und Seelen, eine komplizierte Maschine. Dies die metaphysische Voraussetzung der meisten wissenschaftlichen Untersuchungen. Der Sieg der mathematischen Abstraktion über die drei Wissenschaftsgruppen. 4. Auf diese Weise werden Mensch und Leben, individuelles und soziales, unverständlich. Die Beziehung zwischen Seele und Körper wird nur durch ein Wunder verständlich. Im Falle der materialistischen Lösung wird das sinnvolle und spontane Handeln des Menschen unverständlich. Ebenso wird das Leben allgemein unverständlich; sinnvolle soziale Kooperation auf der Grundlage objektiver Werte wird unverständlich. Immer der Versuch, Sinn aus Sinnlosigkeit abzuleiten, aber das ist – mathematisch gesprochen – unendliche Unwahrscheinlichkeit und – praktisch gesprochen – unmöglich. Entweder Sinn als Möglichkeit, als objektiver Plan (v. Uexküll1) oder Sinnlosigkeit. Im ersten Fall: soziale Werte in der individuellen Seele, Individualund Sozialpsychologie als ein Element der Biologie, Biologie als ein Element der Physik. Der umgekehrte Weg ist nur durch Abstraktion verständlich. Nicht-Leben ist verständlich durch Abstraktion von Leben, Leben entwickelt sich nicht aus Nicht-Leben. Das Wunder des Rationalismus: Die prästabilierte Harmonie von Sinnlosigkeit und Sinn oder die Ableitung von Sinn aus der Sinnlosigkeit. 5. Die Lehre vom Menschen als die gemeinsame Tendenz in all diesen Wissenschaften, nachdem sie die Abstraktion abgelehnt haben. Die Lehre vom Menschen ist keine spezielle Wissenschaft, sondern Ausdruck des neuen konkreten Charakters des Lebens, unser Leben als Zugang zu jedem Leben. Sinn als ursprüngliche Kategorie des Lebens und Spontaneität als die Voraussetzung von Normen und Werten. Der Ausdruck dieser Tendenzen zur Konkretheit oder – was dasselbe ist – zu einer Lehre vom Menschen. Der Behaviorismus lehnt alle metaphysischen Voraussetzungen ab, aber er lehnt damit den Sinn des Verhaltens ab. Gewonnen 1

J. von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909.

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wird das Verhalten des ganzen Seins, verloren werden Sinn und Spontaneität. Das Element des Sinns in der Gestalttheorie. Ableitung der Sinnlosigkeit als Isolation, natürliche oder künstliche, aus der Totalität. Sinn als zu einer Totalität gehörend, in Beziehung zu der ein Ding sinnvoll ist, individuell oder sozial. Ablehnung der mechanistischen Voraussetzung. Aber unmöglich, die Elemente der Sinnlosigkeit im Leben zu verstehen; der Widerspruch. Die praktischen Wissenschaften als Analysen der Widersprüche in der Einheit: Psychoanalyse für den Einzelnen, aber mit unbefriedigenden Mitteln: das Unbewusste als Gegenbegriff, abhängig vom Bewusstsein, mechanistische Beziehung zwischen beidem, unverständlich, was der Grund der Dualitäten ist: Zensur der Norm und Trieb, Wille zum Leben und Todestrieb. Ebenso die politische Soziologie als Basis der politischen Praxis. Marx’ Analyse einer Einheit der Gesellschaft im kapitalistischen System und die notwendige Spaltung in Klassen. Das individuelle Bewusstsein als Produkt einer Klassensituation. Auf der anderen Seite die Entstehung einer solchen Situation durch Elemente der Psychologie. Wille zur Macht usw. Aber auch diese Erklärung ist keine genaue Erklärung der Spontaneität. Die bleibende Frage: Wie ist die Spaltung in einer vorausgesetzten Einheit möglich? Einführung des Elements der Spontaneität. Der dynamische Charakter des Lebens: Schöpferisch und bedroht durch seine Produktivität. Reiz und Reaktion. Die Frankfurter Schule und Whitehead. Spontaneität und die Drohung des Widerspruchs gegen die sinnvolle Einheit. Die Entstehung der zwei zentralen Probleme der Lehre vom Menschen: Freiheit und die Gefährdung der Freiheit durch die Biologie, Psychologie und Soziologie. Auf diesem Wege eine allgemeine Vorbereitung der Lehre vom Menschen in der zentralen Wissenschaftsgruppe, Unmöglichkeit einer unabhängigen Psychologie, Biologie, Soziologie. Die Aufgabe besteht darin, das sinnhafte, spontane Leben zu erklären vom Gesichtspunkt unseres einzigen Zugangs: von uns selbst.

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3.4 Die Lehre vom Menschen als der gegenwärtige Zugang zur Theologie1 (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) Gliederung Einleitung 1. Die Lage der Wissenschaften und die Lehre vom Menschen 2. Methoden und Gegenstände der Lehre vom Menschen I. Die Endlichkeit des Menschen als der grundlegende Charakter2 menschlicher Existenz A. Essenz und Existenz des Menschen 1. Die Lehre von der Essenz des Menschen als philosophische Anthropologie3 2. Menschliche Freiheit und die Gefahr in der menschlichen Essenz 3. Menschliche Existenz und menschliche Endlichkeit 4. Die Methoden der Analyse der menschlichen Endlichkeit B. Die Grundqualitäten der menschlichen Endlichkeit 1. Angst und verwandte Begriffe 2. Sorge und verwandte Begriffe 3. Schwermut und verwandte Begriffe 4. Verzweiflung und verwandte Begriffe II. Die Endlichkeit des Menschen als der Ausgangspunkt der Theologie4 A. Anthropologische Frage und theologische Antwort 1. Endlichkeit des Menschen und Glaube 2. Glaube als Überwindung der endlichen Existenz des Menschen 3. Glaube als Bedingung der endlichen Existenz des Menschen B. Die vier Hauptlehren des Christentums als Antworten auf die Grundeigenschaftt der Endlichkeit des Menschen

1 2 3 4

Ms.: Ms.: Ms.: Ms.:

The doctrine of man as the present approach to theology the basic character The doctrine of human essence as philosophical anthropology Human finiteness as the starting point of theology

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1. Der Glaube an die Schöpfung als Überwindung der Angst des Menschen 2. Der Glaube an die Vorsehung als Überwindung der Sorge 3. Der Glaube an das ewige Leben als Überwindung der Schwermut 4. Der Glaube an die Erlösung als Überwindung der Verzweiflung Einleitung 1. Die Lage der Wissenschaften und die Lehre vom Menschen Vor ungefähr 30 Jahren kam in Deutschland das Interesse an einer theozentrischen Theologie auf.1 Ich erinnere mich sehr gut an die Diskussionen über dieses Thema, an den Enthusiasmus, mit dem ein Programm des Theozentrismus entwickelt wurde, an die Bedenken, die sich gegen dieses Programm erhoben, und an das schließliche Scheitern des ganzen Versuchs. Der Grund für dieses Scheitern liegt auf der Hand. Das Interesse an einer theozentrischen Theologie vermischte, was Aristoteles klar unterschieden hatte: das prîton kaq' aØtÒ und das prîton kaq' ¹m©j, d. h. das erste in Hinsicht auf die Sache und das erste in Hinsicht auf unsere Erkenntnis der Sache. Gott ist der erste im Blick auf das Sein und Handeln, aber der Mensch ist für den Menschen der erste in Bezug auf das Erkennen. Nur Gott selbst könnte eine theozentrische Theologie haben, wie die theologischen Väter sehr gut wussten. Sie haben dies ausgedrückt durch ihre Unterscheidung einer theologia archetypos und einer theologia ektypos, einer eigentlichen Theologie, die nur Gott hat, und einer abgeleiteten Theologie, die der Mensch haben kann. Ich denke darum, 1

Die so genannte theozentrische Theologie wurde hauptsächlich von Erich Schaeder (1861-1936) vertreten (ders., Theozentrische Theologie. Eine Untersuchung zur dogmatischen Prinzipienlehre. I, Leipzig 1909, 3. Aufl. 1925, II, Leipzig 1914, 2. Aufl. 1928). Aber auch Karl Holl verteidigte sie als das Kennzeichen der Theologie Luthers. E. Schaeder beschreibt sein Verständnis der theozentrischen Theologie so: „Das methodische Wort theozentrisch sieht … auf den Charakter des Glaubens. Durch ihn, durch die Reflexion auf ihn ist es bestimmt. Niemand kann von Gottes Wahrheit reden ohne den Glauben. Aber der Glaube ist, was er ist, durch Gott, in Gott und für Gott; nichts ohne ihn, alles, was er ist, durch ihn. Dies Zweite will das Wort theozentrische Theologie ausdrücken“ (Theozentrische Theologie, 2. Teil, S. 3). Vgl. auch Friedrich Traub, Artikel „Theozentrische Theologie“, in: RGG2 V, Sp. 1140f., sowie Karl Barth, Kirchliche Dogmatik I, 1 (München 1932), 223.

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mit den Vätern einig zu sein, wenn ich die Lehre vom Menschen als einen möglichen Zugang zur Theologie betrachte.1 Doch darüber hinaus behaupte ich, dass die Lehre vom Menschen der gegenwärtig notwendige Zugang zur Theologie ist. Ich möchte diese Behauptung unterstreichen, indem ich auf die gegenwärtige Lage der Wissenschaften aller Richtungen hinweise. Mit scheint, dass diese Lage nur verstanden werden kann als die Tendenz in jedem Bereich der Wissenschaft, eine neue Grundlage in einer Lehre vom Menschen zu suchen. Meine persönliche Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Vertretern verschiedener Wissenschaftsgebiete hat mir gezeigt, dass jeder Bereich der Wissenschaft bewusst oder unbewusst mit einem bestimmten Bild vom Menschen arbeitet. Die Grundlagenkrise der Wissenschaft hat diese Tatsache jedem bewusst gemacht. Und nun haben wir die erstaunliche Situation, dass jeder nach einem Bild des Menschen fragt, das seiner speziellen Wissenschaft eine neue 1

Dieser Abschnitt ist von Tillich – offensichtlich später – neu formuliert und durch folgenden Abschnitt ersetzt worden: „Meine Damen und Herrn! Die Interpretation meiner Aufgabe in dieser Vorlesung bereitet mir einige Schwierigkeiten. Erstens ist die Interpretation des Wortes „heute“ im Titel meiner Vorlesung zweideutig. Ich muss gestehen, dass ich über die spezielle Situation der letzten zwei (gestr.: oder drei) Jahre, insofern als sie die Religionsphilosophie vielleicht beeinflusst hat, weder reden kann noch reden will. Ich denke nicht, dass sie sie wirklich beeinflusst hat. Aber ich weiß es nicht. Zweitens muss ich gestehen, dass es keinen einheitlichen Zugang zur Religionsphilosophie in Deutschland nach dem Kriege gibt, sondern viele unterschiedliche Versuche; vielleicht würde es nützlich sein, darüber aus historischer Perspektive zu berichten, aber das ist nicht mein Gesichtspunkt in dieser Vorlesung, und Sie erwarten dies vermutlich auch nicht. Darum interpretiere ich den Titel der Vorlesung so: Was ist nach meinem Urteil die Haupttendenz der Religionsphilosophie in Deutschland, eine Tendenz der ich selbst zustimme und die ich Ihnen in meinen Worten erklären möchte. Und so muss ich sagen: Die Lehre vom Menschen ist der gegenwärtige Zugang zur Religionsphilosophie, entsprechend der Entwicklung der Wissenschaft, der Philosophie und der Theologie in Deutschland im ersten Drittel unseres Jahrhunderts. Unter diesem Gesichtspunkt und nur unter diesem Gesichtspunkt ist die gegenwärtige Situation im deutschen Denken allgemein und in der Religionsphilosophie im besonderen verständlich. Und nun, denke ich, ist es viel besser, Ihnen ein Stück rein philosophischer Arbeit vorzutragen als Beispiel für die gegenwärtige deutsche Religionsphilosophie als Ihnen eine Beschreibung einiger Richtungen und Namen zu geben. Dieses Stück rein philosophischer Arbeit repräsentiert die so genannte Philosophie der Existenz, die vertreten wird durch Heidegger und Jaspers und die Mehrzahl der jüngeren Generation und zu der auch ich in gewissem Ausmaß gehöre. Auf diese Weise kann ich Ihnen durch einen konkreten Versuch gleichzeitig meine eigenen Ideen und den aktuellsten und entscheidenden Typ des Denkens in Deutschland vorstellen …“

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Grundlage geben soll. Die Psychologie gibt in ihren progressivsten Vertretern ihre Stellung als Einzelwissenschaft auf und tendiert zur Einheit mit der Biologie einerseits und der Soziologie andererseits. Auch die Biologie und Soziologie ihrerseits folgen dieser Tendenz. Wirtschaft und Politik wissen, dass sie ein wahres Bild des Menschen benötigen, weil sie sonst nur leere Formeln hervorbringen. Wie auch die Erziehung, je autonomer sie wird, umso mehr eine Fundierung in einer Lehre vom Menschen fordert. Die so genannte Anthropologie im engeren Sinne des Begriffs kann nur dann mehr als eine reine Faktensammlung sein, wenn sie die unzähligen Fakten, die sich schon angesammelt haben, vom Gesichtspunkt einer Lehre vom Menschen aus interpretiert. Die Medizin bewegt sich schnell auf eine allumfassende Lehre vom Menschen zu, die auch den religiösen Standpunkt einschließt. Recht, Moral und Ästhetik fordern eine anthropologische Fundierung ihrer unterschiedlichen Wertvorstellungen, und selbst die Physik sieht sich einer erstaunlichen Unsicherheit gegenüber, die letztlich als Ausdruck einer tiefen und lange verborgenen wechselseitigen Beziehung zwischen der Natur des Menschen und seiner physikalischen Erfahrung verstanden werden muss. Die so eindrucksvolle anthropologische Kant-Interpretation durch Heidegger1 hat einen neuen Weg eröffnet, die Philosophie, sogar die Erkenntnistheorie, als einen Versuch zu verstehen, die Natur des Menschen und seine Endlichkeit zu beschreiben. Ich könnte diesen kurzen Überblick über die gegenwärtige Lage der Wissenschaft um viele konkrete Beispiele erweitern, doch ich halte es für wichtiger, das von mir beschriebene Faktum zu interpretieren. Ich will dies versuchen, indem ich die Entwicklung der Wissenschaft als eine Kurve darstelle, die mit der archaischen Einheit von Subjektivität und Objektivität einsetzt, dann verschiedene Stufen der Selbstentfremdung des Menschen im Aufbau einer objektiven Welt durchläuft und die zurückzukehren tendiert zur ursprünglichen Einheit von Subjektivität und Objektivität. Diese Kurve findet sich sowohl in der griechischen Entwicklung der Philosophie und Wissenschaft als auch in der Moderne seit der Renaissance. Aber diese Kurve ist kein Zirkel. Anfang und Ende sind nicht identisch. Das Ende umfasst die gesamte, im Verlauf der Kurve geleistete Arbeit der Erkenntnis.

1

Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Bonn 1929.

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2. Methoden und Gegenstände der Lehre vom Menschen Es gibt zwei Methoden der Betrachtung des Menschen. Die eine Methode beschreibt den Menschen als Teil der Gegenstandswelt mit den Kategorien, wie sie die Gegenstandswelt konstituieren. Dies ist die Methode, die zur Periode der Selbstentfremdung des Menschen gehört. Der klarste Ausdruck dieser Periode ist die cartesianische Philosophie, die den Menschen in zwei vollständig getrennte Teile aufteilt, von denen der eine zur Welt der Körper gehört und mit den Kategorien der mathematischen Physik zu beschreiben ist, während der andere zur Welt der Ideen gehört und mit psychologischen Begriffen zu beschreiben ist. Die Einheit beider Teile ist und bleibt ein Wunder trotz aller großen Versuche der cartesianischen Schule, sie verständlich zu machen. In Wirklichkeit haben diese Versuche den Menschen völlig unbegreiflich gemacht, wenngleich sie zur Erklärung gewisser von der wirklichen Existenz des Menschen abstrahierter Elemente nützlich waren. Darum kam eine ganz andere Methode in Gang. Diese Methode zeigt, dass die Existenz des Menschen die Grundlage ist für jede Stufe der Objektivierung, dass folglich die Existenz des Menschen nicht mit Hilfe der Kategorien der Objektivierung verstanden werden kann, sondern umgekehrt, dass die Objektivierung mit Hilfe der Qualitäten der Existenz des Menschen verstanden werden muss, dass der Mensch nicht aus Dingen bestehen kann, sondern dass die Dinge vom Menschen abstrahiert sind. Diese Erkenntnis ermöglicht es, für jeden Bereich der Objektivierung eine Fundierung in der Existenz des Menschen und folglich auch für jede Sphäre der Wissenschaft eine Fundierung in der Lehre vom Menschen zu finden. Die Entscheidung für diese Methode ist – ich wiederhole dies – nicht willkürlich. Sie entspricht der autonomen Entwicklung in jedem Bereich der Wissenschaft. Sie entspricht einer Situation, in der die Selbstentfremdung des Menschen für ihn selbst transparent wird in Wissenschaft und Leben. Aber wie mehr als hundert Jahre vergehen mussten, bis die cartesianische Methode der Objektivierung entwickelt wurde, so werden – wie ich fürchte – einige Generationen von Philosophen und Wissenschaftlern arbeiten müssen, um für die neue Methode eine befriedigende Form zu finden. Denn die Schwierigkeit ist groß. Wir haben die verobjektivierende Sprache in der Philosophie, die alles zu einem Ding macht und die zwar sehr gut die Kategorien der Dinge in jedem Bereich zum Ausdruck bringen kann, aber unfähig ist, die

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Eigenschaften und Kräfte zu erklären, in denen diese Objektivierungen verwurzelt sind. Dieses Hindernis der Sprache, das zugleich eine Schwierigkeit unserer gewohnten Weltsicht ist, hemmt die neue Entwicklung auf Schritt und Tritt. Trotzdem müssen wir diesen Weg gehen in der Hoffnung, dass künftige Generationen ihn mit größerer Sicherheit als wir heute gehen können. Als erstes müssen wir uns strikt an eine reine und unvoreingenommene Beschreibung halten. Wir müssen jede theoretische Objektivierung, jedes Vorurteil vermeiden, das sich aus einer Isolierung von Elementen und einer Fixierung von Abstraktionen ergibt, die nicht in eine lebendige Einheit integriert werden. Der so genannte Empirismus ist mit Voraussetzungen imprägniert, die gefährlich sind, weil sie unbewusst sind. Umgekehrt verträgt sich ein Pragmatismus wie der von William James sehr gut mit meiner Sicht. Zweitens müssen wir eine Sprache schaffen, in der subjektive und objektive Begriffe eine und dieselbe Wirklichkeit bezeichnen, eine Wirklichkeit, in der solch eine Spaltung nicht gegeben ist. Es müssen emotionale Begriffe benutzt werden, die nicht nur subjektive Gefühle ausdrücken, sondern reale Bestimmungen unserer Existenz. Ich selbst habe den Begriff „Sich-selbst-Haben“ benutzt, der den besonderen Charakter des Menschen ausdrückt, um jeglichen Bezug auf ein objektives Sein zu vermeiden. Sich-selbst-Haben ist ein dynamischer Begriff, der verhindert, den Menschen als ein festes Ding mit festen Eigenschaften zu beschreiben. Sich-selbst-Haben heißt gleichzeitig Sich-selbst-Ändern, Bestimmtsein durch sich selbst, Bedrohtsein durch sich selbst usw.1 So ist es möglich, die Grundeigenschaft2 des Menschen zu verstehen und zu beschreiben, das Zentrum jeder philosophischen Lehre vom Menschen: die Freiheit. Lassen Sie mich zeigen, wie diese Lehre in der gegenwärtigen deutschen Philosophie der Existenz behandelt wird und wie sie die Grundlage für einen philosophischen Zugang zur Religion werden kann.3

1

2 3

Folgt gestr.: Und eben dies ist die Grundeigenschaft der menschlichen Existenz – die Eigenschaft, eine Grundeigenschaft nicht zu haben, sondern Freiheit zu haben. Ms.: basic quality Dieser Abschnitt ist von Tillich offensichtlich später eingefügt worden. Die hier angekündigte Darstellung der Freiheitslehre in der „gegenwärtigen deutschen Philosophie der Existenz“ fehlt im vorliegenden Vorlesungsmanuskript.

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I. Die Endlichkeit des Menschen als der grundlegende Charakter1 menschlicher Existenz A. Essenz und Existenz des Menschen 1. Die Lehre von der Essenz des Menschen als philosophische Lehre vom Menschen2 Freiheit ist diejenige Qualität, die den Menschen zum Menschen macht. Sie ist das Zentrum jeder philosophischen Lehre vom Menschen, weil sie das Zentrum der Essenz des Menschen ist. Aber diese Tatsache enthält zugleich eine Dualität in der Lehre vom Menschen. Da das Zentrum der Essenz des Menschen die Freiheit ist, hat der Mensch die Fähigkeit, seiner Essenz zu widersprechen. Der besondere und eigentümliche Charakter seiner Essenz setzt ihn in die Lage, eine Existenz im Widerspruch zu seiner Essenz zu haben. Und da die Möglichkeit Wirklichkeit ist, müssen wir unterscheiden zwischen einer philosophischen Lehre vom Menschen, die in der Freiheitslehre kulminiert, und einer Lehre vom Menschen, die zugleich eine philosophische und eine theologische ist und die in einer Lehre von der menschlichen Endlichkeit3 kulminiert. Eine historische Bemerkung4 mag diesen Punkt beleuchten: Der Streit zwischen Luther und Erasmus war unlösbar und bleibt für immer unlösbar, weil beide Opponenten sich auf zwei verschiedenen Ebenen bewegten. Erasmus hatte Recht und seine Nachfolger bis heute haben Recht, wenn sie die essentielle Freiheit betonen, die den Menschen zum Menschen macht und die die Voraussetzung für die existentielle Knechtschaft ist, die jeder Theologe mit Luther behaupten muss. Denn die existentielle Knechtschaft kann dem Menschen nur zugeschrieben werden, weil er essentiell frei ist. Das Tier hat weder Knechtschaft noch Freiheit. Der Konflikt zwischen Luther und Erasmus und all seinen Nachfolgern ist der historische Ausdruck für die Dualität von Essenz und Existenz des Menschen, eine Dualität, die immer das letzte Problem nicht nur der Lehre vom Menschen gewesen ist, sondern auch der Philosophie im Allgemeinen und die der Grund ist für das Aufkommen einer Philosophie der Existenz in Verbindung mit Kierkegaard, Marx, Nietzsche und Freud. 1 2 3 4

Ms.: the basic character Ms.: The doctrine of human essence as the philosophical doctrine of man Gestr.: Knechtschaft Gestr.: Erinnerung

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2. Menschliche Freiheit und die Gefahr in der menschlichen Essenz Die traditionelle Diskussion der Willensfreiheit, der Kampf des Indeterminismus gegen den Determinismus ist steril und war steril von Anfang an, weil der Sieg des Determinismus in der Voraussetzung, die beide machten, bereits impliziert war, nämlich dass der Mensch ein Ding mit Eigenschaften ist. Indem der Indeterminismus dieses Zugeständnis gemacht hatte, hatte er den Kampf bereits verloren, weil es die höchste Stufe der Selbstentfremdung des Menschen ist, ein Ding, ein letztes Produkt der Objektivierung zu werden. Es ist vollkommen unmöglich, einem Ding Freiheit, einem Produkt der Objektivierung Subjektivität zuzuschreiben. Doch wir müssen die Basis dieser Diskussion ablehnen, nämlich das metaphysische Vorurteil, der Mensch könne, nachdem er von sich selbst entfremdet ist, sich selbst wieder1 finden. Darum müssen wir die menschliche Natur ohne eine solche metaphysische Anmaßung beschreiben. Wir erkennen dann, dass das erste Element der menschlichen Freiheit die Eigenschaft ist, sich selbst zu haben als einen, der Welt hat. Nur der Mensch hat Welt. Dinge haben eine Umgebung, Tiere haben eine Umwelt. Das Tier hat eine Umwelt, natürlich seine eigene Umwelt, in die es eingeschlossen ist, in der es handelt im Kreislauf von Reiz und Reaktion und die es nicht transzendieren kann. Der Mensch kann jede ihm gegebene Begrenzung transzendieren, er hat unendlichen Raum, unendliche Zeit und die Totalität einer unendlichen Mannigfaltigkeit. Diese Macht des Transzendierens, diese ekstatische Eigenschaft seiner Natur hat ihren Grund in seiner Macht, die unmittelbare Reaktion auf einen Reiz zu stoppen. Er kann von der aktuellen Situation abstrahieren und auf Grund der Tatsache, dass er die Totalität einer Welt hat, antworten. Aber das Welt-Haben, Einheit-in-PluralitätHaben setzt seine Fähigkeit voraus, allgemeine Formen, Strukturen und Kategorien jenseits der Grenzen einer konkreten und aktuellen Situation zu haben. Mittels dieser Formen und Kategorien ist seine Welt aufgebaut.2 Durch sie ist es wirklich eine Welt, eine Totalität unendlicher Möglichkeiten und Wirklichkeiten. Das Welt-Haben in diesem Sinne ist die Grundlage der menschlichen Freiheit. 1 2

Folgt gestr.: in der Sphäre der Objekte Folgt gestr.: Innerhalb dieser Formen kann er jede Gegebenheit transzendieren und eine zweite Welt über dieser gegebenen Welt schaffen.

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Diese grundlegende Qualität der menschlichen Freiheit impliziert einige weitere Qualitäten. Die Macht des Menschen, jede Gegebenheit zu transzendieren, verschafft ihm die Fähigkeit, durch technische und kulturelle Produktion eine zweite Welt jenseits der gegebenen Welt aufzubauen. Der Mensch akzeptiert nicht nur, sondern entwirft auch und verwirklicht das Entworfene. In jedem Entwurf gibt es ein ekstatisches Element, die Erfahrung der Freiheit. Aber die Produktion impliziert nicht nur die Freiheit des Transzendierens, sie impliziert gleichzeitig die Freiheit, sich zu unterwerfen, nämlich sich den Normen und Kategorien zu unterwerfen, die beide Welten konstituieren, die gegebene und die geschaffene. Welt-Haben meint Unbedingte-Gebote-Haben, die aus der Einheit und Totalität seiner Welt kommen und Unterwerfung unter diese Einheit und Totalität in Theorie und Praxis fordern. Aber die Freiheit, sich zu unterwerfen, impliziert die Freiheit, sich nicht zu unterwerfen. Folglich ist Freiheit die Freiheit, über sich selbst zu entscheiden. Von diesem Punkt aus hat die Diskussion über die Willensfreiheit ihren Ausgang genommen. Ihr Fehler lag in der Trennung der Entscheidungsfreiheit von den anderen Elementen der Freiheit, die fundamentaler sind. Und die Entscheidungsfreiheit selbst kann nicht als Willensfreiheit verstanden werden, sondern als die Macht des Menschen, durch die Totalität seiner Existenz, durch das Zentrum seines Selbst und seiner Welt zu handeln.1 Viele Elemente sind in unserem Selbst wie in unserer Welt vereint. Jedes dieser Elemente strebt danach, Macht zu haben, für uns selbst zu entscheiden; aber eine Entscheidung ist nur dann unsere Entscheidung, wenn sie von der Totalität dieser Elemente ausgeht, die nicht die Summe von ihnen ist, sondern gleichzeitig ihre Bedingung und ihr Resultat. Der Mensch hat die Freiheit der Entscheidung, weil er durch die transzendente Totalität der Elemente handelt, die sein Sein konstituieren. Die Entscheidungsfreiheit des Menschen impliziert eine weitere sehr paradoxe Qualität seiner Freiheit: die Macht, seine eigene Freiheit aufzugeben, nämlich sich den Mächten in uns auszuliefern, die die Mächte des Es genannt werden könnten. Diese Mächte konstituieren unsere Welt und unser Selbst. Obwohl sie in die Einheit des Selbst 1

Folgt gestr.: Doch die Totalität und Einheit seines Selbst entspricht der Totalität und Einheit seiner Welt. Keins von beiden ist möglich ohne das andere. WeltHaben oder Ein-Selbst-Haben oder Über-sich-selbst-zu-entscheiden-Haben sind verschiedene Ausdrücke derselben Realität.

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und der Welt gezwungen werden, drohen sie immer, die Einheit der beiden zu zerstören.1 Ein Ausdruck dieser Qualität des Menschen ist seine Fähigkeit, mit sich und seiner Welt zu spielen. Nur der Mensch hat diese Fähigkeit. Weder Tiere noch kleine Kinder können wirklich spielen. Da sie den Ernst nicht kennen, können sie nicht spielen. Beide Kategorien sind ekstatische Kategorien und setzen die Freiheit von der eigenen Freiheit voraus. Der Mensch kann mit sich selbst spielen und er kann dieses Spiel verlieren. Folglich gilt: Des Menschen Freiheit ist des Menschen Gefahr, die Gefahr, sich selbst zu verfehlen. Nur der Mensch ist durch diese Gefahr bedroht. Das Tier kann sich nicht selbst verfehlen. Es hat sich selbst vollständig in jedem Augenblick seines Lebens. Es ist ganz und gar das, was es ist; es kann nicht durch seine Grenzen hindurch brechen, es kann sich nicht über sich erheben und nicht unter sich absinken. Dass es keine Freiheit hat, ist seine Sicherheit und Vollkommenheit. Der Mensch muss nach seiner eigenen Wahrheit fragen, er ist getrennt von ihr; er muss sein eignes Gutes suchen, er ist nicht identisch mit ihm, er kann es verfehlen, und diese Möglichkeit ist Wirklichkeit. Wir nennen diese Wirklichkeit die menschliche Endlichkeit. Damit verlassen wir die Lehre von der Essenz des Menschen und gehen über zur Lehre von der Existenz des Menschen. 3. Menschliche Existenz und menschliche Endlichkeit Nur der Mensch hat Endlichkeit, weil nur der Mensch Unendlichkeit hat. Endlichkeit ist zu unterscheiden von Begrenzung. Das Tier und jedes andere Wesen hat Begrenzung, es ist begrenzt in Raum, Zeit und Umgebung, aber es hat weder Endlichkeit noch Unendlichkeit. Wir wissen, dass beide Kategorien, wenn sie als Kategorien der objektiven Welt interpretiert werden, sinnlos sind. Es ist eines der großen Resultate von Kants Kritik, dass beide Aussagen, die Aussage, dass die Welt endlich ist, und die, dass sie unendlich ist, keinen realen Sinn haben. Aber sie haben eine sehr reale Bedeutung als Ausdruck einer besonderen Qualität der menschlichen Existenz, der Qualität des Welt-Habens und des Selbst-Habens. So gesehen, bilden diese Kategorien die Grundlage für die theologische Lehre vom Menschen.

1

Folgt gestr.: Paulus z. B. weiß sehr viel über sie zu sagen. Und es gibt eine weitere Fähigkeit, seine eigene Freiheit aufzugeben: die Freiheit des Spiels.

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Das Sich-selbst-Haben des Menschen impliziert seine Individualisation. Die radikalste oder, besser gesagt, die einzige vollständige Individualisation findet sich im Menschen. Das individuelle Selbst, das von seiner Welt radikal getrennt ist, ist gerade so imstande, Welt zu haben. Das Welt-Haben setzt Trennung von seiner Welt voraus, es setzt also ein individuelles Selbst voraus. Denn jede Individualisation ist Trennung. Die radikale Individualisation, das Ich-Sein, ist die radikalste Trennung. Aber gleichzeitig ist es die Voraussetzung für unser Verbundensein mit der Totalität und durch die Totalität mit allem. Das Tier, das nur eine begrenzte Umgebung hat, ist weder wirklich getrennt noch wirklich verbunden mit den Dingen. Der Mensch, der Bedeutungen, Formen und Kategorien hat, ist durch sie mit allem verbunden, obgleich er als ein individuelles Selbst von allem getrennt ist. Das ist der paradoxe Charakter der menschlichen Existenz. Seine Trennung von seiner Welt und seine Verbindung mit ihr kontrastieren miteinander und hängen gleichzeitig von einander ab. Aber in dieser Paradoxie ist eine weitere Paradoxie enthalten: Der Mensch ist, was er ist, dadurch, dass er über sich selbst entscheidet:1 Seine Trennung und seine Verbindung hängen ab von seiner Entscheidung. Andererseits hängt seine Freiheit vom Dualismus von Trennung und Verbindung ab, sodass die paradoxe Situation des Menschen gleichzeitig Freiheit und Notwendigkeit, Schuld und Schicksal ist. Als ein individuelles Selbst hat der Mensch drei fundamentale Tendenzen des individuellen Lebens: die Tendenz zur Macht, zur Liebe und zum Tode. Und weil die Welt und das Selbst des Menschen unendlich sind, sind auch diese Tendenzen unendlich. Das individuelle Selbst will die Totalität seiner Welt in sich hineinziehen durch Macht, Liebe und Tod. Der getrennte Teil will das Ganze sein, ohne aufzuhören, ein getrenntes Individuum zu sein. Andererseits gehört das Individuum zur Einheit und Totalität seiner Welt. In dieser Einheit ist seine eigene Einheit, sein eigenes Wesen, seine Wahrheit und Güte verwurzelt. Folglich spürt es in sich selbst das Verlangen, sich dieser Totalität und ihren Geboten hinzugeben. Aber gerade diese Gebote beweisen, dass es in Wirklichkeit nicht geeint ist, dass es getrennt ist von seiner Wahrheit 1

Folgt gestr.: durch die Freiheit. Also muss diese paradoxe Situation als ein Komplex von/gleichzeitig als Freiheit und Notwendigkeit von Schuld und Schicksal verstanden werden. Das ist das Resultat und die Bedingung der Tatsache, dass er über sich selbst entscheidet.

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und seiner Güte1, wie Paulus das Gesetz interpretiert als Anreiz zur Sünde und gleichzeitig als Widerspruch gegen sie.2 Nun haben wir ein Bild der menschlichen Existenz: Der Mensch hat sich selbst in seiner Endlichkeit, getrennt von seiner eigenen Unendlichkeit, er empfängt Gebote von ihr, widersetzt sich ihnen durch die Notwendigkeit seiner individuellen Existenz3; schuldig jedoch durch seinen Widerspruch, weil frei und verbunden mit seiner Unendlichkeit.4 B. Die Grundqualitäten der menschlichen Endlichkeit Einleitung: Des Menschen Endlichkeit ist des Menschen Trennung von seiner eigenen Unendlichkeit. Endlichkeit-Haben ist eine besondere Qualität des Unendlichkeit-Habens, nämlich die Qualität des Unendlichkeit-haben-Müssens und des Von-ihr-Ausgeschlossenseins.5 Diese Situation der menschlichen Existenz drückt sich in vielen Formen aus. Sie können in zwei große Gruppen eingeteilt werden entsprechend den beiden Elementen der Notwendigkeit und der Freiheit in der menschlichen Endlichkeit. Der allgemeine Ausdruck der ersten ist die Angst, der der zweiten die Verzweiflung. Beide gehören in unserer realen Existenz zusammen, aber sie müssen in der Beschreibung unterschieden werden, auch wenn sie auf einander bezogen sind. Beide Begriffe kommen aus dem Bereich der Emotionen, aber sie wollen keine subjektive Emotion ausdrücken. Sie müssen das Ganze unserer Existenz unterhalb der Spaltung von Objektivität und Subjektivität ausdrücken. In einer mehr objektivierenden Terminologie könnten dieselben Qualitäten der menschlichen Existenz Kontingenz und Schuld genannt werden, doch in der Bedeutung dieser Worte gibt es keinen Unterschied. Nur die subjektivierenden Begriffe lassen uns 1

2 3 4

5

Folgt gestr.: Der moralische Charakter des Menschen ist seine Endlichkeit; denn sie impliziert seine Trennung von der Unendlichkeit, zu der er gehört. – Nun müssen wir alle diese Elemente, die dieselbe Situation ausdrücken, kombinieren: das individuelle Selbst … Röm 7, 7-25. Folgt gestr.: unfähig, sie zu erfüllen, weil ein individuelles Selbst Ms.: Now we have an image of man’s existence: Having himself finitely, separate from his own infinity, receiving commandements from it, contradicting them through the necessity of his individual existence; guilty, however, in contradicting because free and connected with his infinity. Ms.: Having finiteness is a special quality of having infinity, namely the quality of having to have infinity and being excluded from it.

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die innere Bedeutung der objektivierenden Begriffe erkennen. Wir verstehen Kontingenz durch Angst und Schuld durch Verzweiflung, nicht umgekehrt. 1. Angst oder Kontingenz Die Angst muss nach drei Richtungen hin verstanden werden entsprechend den drei Modi der Zeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Angst1 in Bezug auf die Vergangenheit ist das Gefühl der Fremdheit in seiner Existenz, in Bezug auf die Gegenwart ist es die Angst um seine Existenz, in Bezug auf die Zukunft ist es die Schwermut2 der Existenz. In objektivierenden Ausdrücken: Kontingenz in Bezug auf die Vergangenheit ist das Sich-selbst-Empfangenhaben durch Zufall; Kontingenz in Bezug auf die Gegenwart ist das Sich-selbst-Haben ohne Sicherheit; Kontingenz in Bezug auf die Zukunft ist das Sichselbst-loslassen-Müssen.3 Zunächst einige Worte über die Angst allgemein. Angst ist von Furcht zu unterscheiden. Furcht ist Furcht vor einem Gegenstand, vor einer bestimmten Bedrohung. Angst hat keinen Gegenstand, und genau dies ist ihr Charakter, keinen Gegenstand zu haben. Wenn wir uns selbst nach dem Gegenstand der Angst fragen, könnte die einzige Antwort lauten: Es gibt keinen Gegenstand, da ist „Nichts“. Trotzdem bleibt die Angst, und das Nichts wird zu einer Realität, stärker als jede andere Realität, gerade weil diese Realität nicht gezeigt und erfasst werden kann. Folglich gibt es keine wirklichen Ursachen der Angst. Es gibt natürlich Situationen, die Angst zum Vorschein bringen, aber das sind Gelegenheiten, nicht Gründe für die Angst. Angst ist Lebensangst oder existentielle Angst; sie ist eine Eigenschaft unserer Endlichkeit. Darum liegt sie immer auf dem Grund unserer Welt und unseres Selbst. Sie formt unseren Geist und Körper vom Anfang an bis zum Ende. Die Kontingenz drückt dieselbe Realität aus. Es gibt keine Notwendigkeit für uns zu existieren. Nichtsein hat dieselbe Möglichkeit für uns. Ein Abgrund des Nichts umgibt den engen Platz unseres kontingenten Seins, er bedroht ihn und hält uns fest in existentieller Angst. 1

2 3

Folgt gestr.: in ihrer ersten Richtung ist Fremdheit, in ihrer zweiten Richtung Unsicherheit, in ihrer dritten Richtung Schwermut. Ms.: melancholy Ms.: Contingency in relation to the past is having received oneself by chance; contingency in relation to the present is having oneself without security; contingency in relation to the future is having to loose oneself.

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Wir haben uns selbst und unsere Welt empfangen. Darum sind wir in ihr fremd. Die Fremdheit unserer Welt – und auch unserer selbst – für uns drückt sich vielfältig aus. Das Gefühl der Heimatlosigkeit mitten in ihr. Eine Heimatlosigkeit, die in einigen Fällen mit Schwermut verwandt ist, in anderen mit Erschrecken. Erschreckt zu sein durch sich selbst und seine Welt wegen der Fremdheit beider drückt die Tatsache aus, dass wir uns durch einen Zufall empfangen haben. Die Einsamkeit des Menschen drückt seine radikale Trennung von der Totalität aus. Die Grundangst der Einsamkeit begleitet uns in jedem Augenblick, in objektiver Einsamkeit ebenso wie in großer und enger Gemeinschaft. Die existentielle Einsamkeit ist unabhängig von der objektiven Einsamkeit. Ihr höchster Ausdruck ist die Einsamkeit des Sterbens. Unsere Fremdheit in unserer Welt drückt sich weiterhin in ihrer grundlegenden Unbegreiflichkeit aus. Jeder Versuch, die Grenzen unseres Wissens zu bestimmen, hat mit der existentiellen Fremdheit unserer Welt zu tun. Die Erkenntnislehre muss in der Lehre vom Menschen verwurzelt sein, speziell in der Lehre von des Menschen Kontingenz und Fremdheit in seiner Welt. Mit der existentiellen Unbegreiflichkeit unserer Welt ist unsere existentielle Verlegenheit, in unserer Welt zu handeln, verbunden. Wir müssen sie Lebensverlegenheit nennen, einen Mangel an Notwendigkeit im Handeln, der auf den Mangel an Notwendigkeit im Denken folgt. Wir haben uns durch Zufall empfangen und wir müssen inmitten der Unsicherheit aller Dinge uns selbst erhalten. Wir haben uns selbst mit unserer Angst um uns selbst, weil unsere Welt für uns nicht nur fremd ist, sie bedroht uns in jedem Augenblick. Da wir keine Notwendigkeit haben, sind wir den Gefahren ausgeliefert, die von uns und unserer Welt ausgehen. Dies drückt sich in der Angst um unsere Zeit, unseren Raum und unsere Einheit aus. Wir sind bedroht durch ihren Verlust. Die Unsicherheit ist eine allgemeine Qualität unserer Endlichkeit; sie ändert sich nicht mit der mehr oder weniger objektiven Sicherheit, die wir uns für uns selbst verschaffen können. Darum ist die Angst als Angst um unsere eigene Existenz ein allgemeiner Charakter der menschlichen Existenz. Die Worte Jesu, mit denen er die Sorge um den kommenden Tag verbietet1, sind wie alle Worte der Bergpredigt eschatologisch. Sie richten sich gegen die 1

Mt 6, 25.27f.31.34.

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menschliche Trennung und Endlichkeit. Doch selbst in diesem Verbot der Sorge ist die Sorge als eine existentielle Qualität anerkannt. Einer der wichtigsten Punkte in diesem Zusammenhang ist die Unsicherheit in unserem Uns-selbst-Haben als Persönlichkeit-Haben. Ich meine die Bedrohung durch Krankheit. Krankheit muss werden, was sie in früheren Zeiten war, ein Problem der menschlichen Existenz, somit ein theologisches Problem. Krankheit des Geistes und des Körpers muss als Ausdruck der Unsicherheit unseres Uns-selbstHabens oder1 unserer Seele verstanden werden. Diese Behauptung setzt natürlich die durch die philosophische Lehre vom Menschen gewonnene Einsicht voraus, dass Körper und Geist nicht Teile der menschlichen Persönlichkeit, sondern Abstraktionen unseres Unsselbst-Habens sind und dass die Seele weder ein Teil noch eine Abstraktion ist, sondern ein anderer Name für unser Uns-selbstHaben. So gesehen, können wir verstehen, dass die Krankheit einen existentiellen Charakter hat, dass sie eine Qualität unserer Endlichkeit ist, die in jedem Augenblick in Angst und Sorge wirksam ist und die von Gesundheit nicht wirklich unterschieden werden kann. Krankheit gehört zur menschlichen Kontingenz oder zur Trennung des Individuums von der Totalität, wie jede Krankheit an sich in der Isolierung einiger Teile des Körpers oder des Geistes von der Totalität ihren Grund hat. Tiere können verletzt sein, aber sie können nicht in Krankheit leben. Krankheit ist ähnlich wie die Sorge eine spezifisch menschliche Kategorie. Schließlich müssen wir über die Schwermut oder das Uns-loslassenMüssen sprechen, über unser Bestimmtsein zum Tode. „Melancholy“ ist die Übersetzung von „Schwermut“, dieser sehr wichtigen Kategorie der Philosophie der Existenz seit Schelling und Kierkegaard. Es bedeutet das Sich-selbst-Haben als das Sich2-loslassen-Müssen.3 Es ist nicht von einer besonderen Disposition abhängig. Wie natürlich einige Menschen dauerhafter krank sind als andere, so können einige wie z. B. Kierkegaard auf eigentümliche Weise unter der Schwermut als ihrem individuellen Charakter leiden. Aber trotz dieser Unterschiede ist sie eine allgemeine Qualität menschlicher Existenz. Sie ist sozusagen eine Angst ohne einen wirklichen Anlass; sie ist mehr eine allgemeine Lebensstimmung als eine besondere Katastrophe, wie es die Angst sein 1 2 3

Folgt gestr.: – was dasselbe ist – Folgt gestr.: als unabhängiges Individuum Ms.: It means the having oneself as having to loose oneself.

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kann. Sie formt darum unser Uns-selbst-Haben, unseren Körper und unseren Geist viel stärker als jede andere existentielle Qualität. Unser Sterbenmüssen liegt in der Tiefe unserer Seele in jedem Augenblick unseres Lebens; es ist ein Teil unserer Seele, eine Tendenz, die eins ist mit unserer Tendenz zur Selbsterhaltung. Der Tod schneidet den Lebensfaden nicht ab, aber er spinnt einen schwarzen Faden in das Gewebe unseres Lebens, indem er mehr und mehr all die anderen Fäden verdrängt.1 Das Leben ist zu Ende, wenn der schwarze Faden jeden anderen Faden verdrängt hat und die allgemeine Schwermut in wirkliche Angst übergegangen ist. Nur der Mensch stirbt, alles ist vergänglich, alles, was lebt, vergeht, aber nur der Mensch stirbt. Nur er hat, indem er eine Welt hat, unendliche Zeit. Darum enthält sein Ende einen Widerspruch zu seinem Wesen. Die Erfahrung dieses Widerspruchs, der Widerspruch zwischen seinem Getrenntsein als Individuum und seinem Verbundensein mit der Totalität ist die Erfahrung des Todes. Diese Erfahrung gehört zu unserem Leben. Der Tod selbst ist das Ende der Erfahrung. Darum machen wir, die lebenden Menschen, die Erfahrung des Todes, nur wir machen sie. Und das ist das Erstaunlichste an dieser Erfahrung, dass sie die zwei gegensätzlichen Elemente enthält: die Notwendigkeit des Sterbens und den nicht-essentiellen, nur existentiellen Charakter des Todes. 2. Verzweiflung und Schuld Wir haben das notwendige Element der menschlichen Endlichkeit nicht mit seinem freien Element verbunden. Wir haben die Angst nicht mit der Verzweiflung und die Kontingenz nicht mit der Schuld verbunden. Nun müssen wir dies tun. Der subjektivierende Begriff ist „Verzweiflung“, der objektivierende ist „Schuld“. Die Verzweiflung wird zuerst in Kierkegaards „Krankheit zum Tode“ als ein Grundelement der menschlichen Existenz erklärt. Er beschreibt viele Aspekte der Verzweiflung, aber jeder von ihnen enthält unsere Voraussetzung: das individuelle Selbst, das zur Totalität gehört und das sich selbst der Totalität unterwerfen kann und das danach strebt, die Totalität in sich hineinzuziehen. Kierkegaard unterscheidet vor allem die verzweifelte Sehnsucht, das eigene Selbst zu gewinnen, und die verzweifelte Sehnsucht, das eigene Selbst los sein zu wollen. In beiden Fällen kann das Selbst 1

Vgl. Georg Simmel, Tod und Unsterblichkeit, in: ders., Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München und Leipzig 1918, 99-153.

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die Kluft zwischen seinem Getrenntsein von der Totalität und seinem Verlangen nach der Totalität nicht ertragen. Die Verzweiflung ist unendlich, entsprechend der Unendlichkeit unseres Selbst und unserer Welt. Die Unmöglichkeit, diese Situation zu ertragen, kommt aus der Tatsache, dass die Situation durch die Freiheit verursacht ist. Darum ist sie meine Verantwortung und meine Schuld. Meine gespaltene Situation, meine Existenz in der Trennung ist Schuld. Sie drückt meine eigene Totalität aus. Ich bin nicht imstande, sie zu überwinden, denn ich selbst bin es, der sie herbeigeführt hat. So wenden wir uns gegen das, was wir sind. Trotzdem sind wir durch uns selbst das, was wir sind. Es herrscht Notwendigkeit in dieser Situation, der Individualität, die zu unserer Existenz gehört. Aber diese Notwendigkeit kommt aus unserer Totalität und das heißt: Sie ist Freiheit und Schuld. Nur von diesem Gesichtspunkt aus kann die christliche Lehre von der Erbsünde, an der jedermann teilhat, verstanden werden. Diese Lehre enthält viel mehr Wahrheit über die menschliche Existenz als der Moralismus der Aufklärung. Der Moralismus und seine Basis, die moralische Situation des Menschen, ist die Folge, nicht die Voraussetzung der Schuld. Schuldig sein heißt in einer Situation geforderter Moralität sein. Und nun verstehen wir den besonderen Charakter der Kontingenz und Angst. Kontingenz ist nicht nur Notwendigkeit, sie ist gleichzeitig Schuld, schuldhafte Trennung von der Totalität. Und Lebensangst ist immer auch Lebensverzweiflung, weil nicht nur die Kontingenz, sondern auch die Schuld zu unserem Leben gehört. So sind Fremdheit, Einsamkeit, Unbegreiflichkeit, Verlegenheit in unserer Welt mit Verzweiflung, mit Elementen der Schuld verbunden. Diese Eigenschaften menschlicher Endlichkeit werden durch die menschliche Freiheit geschaffen.1 Folglich gehören sie zu unserer Existenz in Form der Verantwortung. Aber diese Verantwortung ist mit Notwendigkeit verbunden. Ebenso sind Sorge, Unsicherheit, Krankheit, Schwermut und Tod mit Verzweiflung und Schuld verbunden. In diesen Fällen sind die von der Totalität geschaffene Sicherheit und Ewigkeit verschwunden. Vor allem sind Schuld und Tod, Verzweiflung und Schwermut eng miteinander verwoben.2 1 2

Ms.: These qualities of human finiteness are created by human freedom. Folgt gestr.: All diese Dinge sollten sehr ausführlich und so vollständig wie möglich erörtert werden. Meine auf den individuellen Menschen beschränkten

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II. Die menschliche Endlichkeit als Ausgangspunkt der Theologie A. Die anthropologische Frage Vielleicht werden Sie meine Lehre von der Kontingenz und Angst, von der Schuld und Verzweiflung als den Grundkategorien, in denen sich die menschliche Endlichkeit ausdrückt, in Frage stellen. Sie werden darauf hinweisen, dass für den größten Teil der menschlichen Existenz Mut und Hoffnung stärker sind als Angst und Verzweiflung und dass ich nicht das Recht habe, nur die negativen Kategorien als die wirklich existentiellen Kategorien zu bezeichnen. Trotzdem tue ich dies, und ich habe dafür gute Gründe. Eine genaue Analyse wird dies sehr klar zeigen. Es ist wahr, dass der Mensch Angst in Furcht verwandelt und dass er Furcht durch Mut besiegen kann. Aber dieser Übergang von der Angst in Furcht und in Mut beseitigt keineswegs die Grundangst. Es ist Flucht vor einem allgegenwärtigen Feind. Die Flucht gelingt insofern, als Furcht und Mut uns befähigen zu handeln. Aber die Flucht misslingt insofern, als der Feind gegenwärtig bleibt. Auf solche Weise kann jede Qualität der menschlichen Endlichkeit interpretiert werden. Um vor der Fremdheit unserer Welt zu fliehen, bauen wir ein System, das unsere Welt begreifbar macht. Oder wir stabilisieren traditionelle Handlungen, um unsere Verlegenheit im Handeln zu vermeiden. Um vor unserer Einsamkeit zu fliehen, nehmen wir die allgemeine Haltung im Reden und Handeln an. Aber Sie wissen, in allen diesen Fällen ist die Rettung nur eine scheinbare, keine wirkliche. Die Furcht kehrt überall zur Angst zurück, das System bricht zusammen, und die Fremdheit wird größer; die äußerste Situation erschüttert die traditionellen Handlungen. Mitten in der Gemeinschaft wird plötzlich die Einsamkeit offenkundig usw. Das endliche Individuum kann der Angst nicht wirklich entrinnen, auch wenn ihm das zeitweilig gelingen mag. Ausführungen sollten durch eine Betrachtung der Gemeinschaft ergänzt werden. Die philosophische Lehre vom Menschen wie auch die theologische muss sich mit dem Wir, der Gemeinschaft und der Geschichte beschäftigen. Aber da es nicht möglich war, an all diese Probleme nur zu denken, habe ich mich auf den individuellen Menschen beschränkt. Aber ich weiß, dass das eine Abstraktion ist und dass die Frage sehr dringend ist, inwieweit die Geschichte die Essenz und Existenz des Menschen verändern kann, ob die Eigenschaften der menschlichen Endlichkeit ewig oder zeitlich sind, ob die soziologischen Unterschiede die Situation des Menschen verändern können usw. Doch ich musste all diese sehr beunruhigenden Probleme beiseite lassen.

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Auf dieselbe Weise müssen wir den Kampf um Sicherheit durch die Produktion der materiellen Kultur und den Kampf um Gesundheit durch die Medizin betrachten. Es gibt aber noch einen anderen Fluchtweg: die Sorglosigkeit um unsere Unsicherheit als heroische Sorglosigkeit, als sportliche Sorglosigkeit, als unkonventionelle Sorglosigkeit – all diese Formen haben eine bestimmte Bedeutung als Möglichkeiten der Flucht aus der realen Situation der Angst und Sorge. Doch die Flucht endet immer an der äußersten Grenze, an der die Sorge wie die Sorglosigkeit durch die reale Situation beseitigt werden. Und der Schwermut kann man entkommen durch den Trost aus der Nichtbeachtung des eignen Todes oder durch seine Betrachtung als fern von uns oder durch die Erwartung eines langen Weiterlebens nach dem Tode. Oder sie kann durch Heroismus und Stoizismus unterdrückt werden. Doch wir können dem Tod nicht wirklich entrinnen, weder durch Trost noch durch Stoizismus. Schließlich können wir versuchen, der Verzweiflung und Schuld durch persönliche oder soziale Rechtschaffenheit zu entkommen, das heißt durch Pharisäismus oder Fortschrittsglauben. Wir können versuchen, dem Irrtum und dem Zweifel, die zur Verzweiflung gehören, durch Rationalismus zu entkommen. Oder wir können versuchen, der Sinnlosigkeit durch Aktivismus zu entkommen. Oder wir versuchen zu fliehen, indem wir uns in Krankheit, Wahnsinn oder Suizid verlieren. All diese Methoden der Flucht vor Schuld und Verzweiflung sind wechselseitig miteinander verbunden und sie alle brechen in jedem Leben zu bestimmten Augenblicken zusammen, weil sie nicht existentiell sind. Sie bleiben innerhalb der Möglichkeiten unserer Endlichkeit, aber sie transzendieren sie nicht.1 Die religiöse Frage, die sich in unserer Endlichkeit stellt, ist die Frage nach der Teilhabe an der Totalität; das heißt: am Sich-selbstabsolut-Haben. Denn nur im Sich-selbst-absolut-Haben hat man seine eigene Totalität. So führt die ganze Lehre vom Menschen, die Lehre vom Sich-selbst-Haben in Freiheit und Endlichkeit, notwendig zur Frage nach der Teilhabe am Sich-selbst-absolut-Haben. Die menschliche Endlichkeit kann von sich aus keine Antwort geben. Die 1

Folgt gestr.: Und das ist der Grund für den unbefriedigenden Charakter des Humanismus. Er sucht Totalität, ohne die gespaltene Welt zu transzendieren. Aber das ist nicht möglich, weil die existentielle Realisierung der essentiellen Freiheit des Menschen die Knechtschaft des Menschen ist.

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Antwort kann nur empfangen, nicht aber produziert werden; denn jede Produktion würde eine Produktion der menschlichen Endlichkeit sein. Sie würde die Endlichkeit, Angst und Verzweiflung nur verstärken, nicht aber überwinden. Die Theologie ist kein Teil der Lehre vom Menschen, sie ist die Antwort auf sie. Als eine Antwort ist sie abhängig von den Formen und Kategorien der Frage. Als eine Antwort, die die Situation des Fragens überwindet, widerspricht sie den Fragen. Die Antwort, die in religiöser Sprache Offenbarung genannt wird, ist eine Sache des Glaubens, aber die Interpretation der Antwort, die Theologie, ist nur mit Hilfe der Kategorien der Lehre vom Menschen möglich. B. Die theologische Antwort Angst und Kontingenz werden in den drei Ideen der Schöpfung, der Vorsehung und des ewigen Lebens überwunden; Verzweiflung und Schuld werden in der Idee der Erlösung überwunden. Die Idee der Schöpfung ist die Idee, sich empfangen zu haben als ein Wesen, das im absoluten Sich-Haben verwurzelt ist. In dieser Idee ist die Trennung des Individuums verneint. Und dies impliziert die Idee, dass die Fremdheit unserer Welt, ihre Unbegreiflichkeit und unsere Verlegenheit überwunden sind in der transzendenten Einheit,1 die nicht erfasst werden kann, die aber vorausgesetzt werden muss. Auf diese Weise wird die wahre Notwendigkeit gefunden und die Kontingenz überwunden in dem absoluten Sich-selbst-Haben, an dem wir teilhaben.2 3 1 2

3

Folgt gestr.: zu der ich selbst gehöre Ms.: The idea of creation is the idea of having received oneself as being rooted in the absolute having oneself. In this idea the separation of the individual is denied; and this implies the idea, that the strangeness of our world, its incomprehensibility and embarassment are overcome in the transcendent unity, which cannot be grasped but which must be presupposed. By this means the true necessity is found and the contingency is overcome in the absolute having oneself in which we participate. Folgt gestr.: Die Idee der Vorsehung enthält die Antwort auf die Sorge und Unsicherheit. Es ist nicht wahr, dass unsere empirische Unsicherheit zur Ideologie einer transzendenten Sicherheit führt, aber die Frage nach der Gewissheit ist nur eine Frage und keine Antwort. Die Antwort kann nicht aus unserer Endlichkeit abgeleitet werden; denn sie enthält die Idee, dass unsere Unsicherheit überwunden ist durch unsere Teilhabe am absoluten Sich-selbstHaben, die unsere Kontingenz trägt, führt und bestimmt. Das und nicht ein mythologischer Eingriff der Transzendenz in unsere Endlichkeit ist als die Idee der Vorsehung zu verstehen.

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Aber diese Antworten können nicht ohne die andere aus der Situation der Verzweiflung und Schuld kommende Antwort gegeben werden: die Idee der Erlösung. Weder die Schöpfung noch die Vorsehung, noch das ewige Leben sind möglich ohne die Erlösung. Die Schöpfung zum Beispiel ist kein Begriff des objektivierenden Denkens. Sie drückt eine bestimmte Beziehung zwischen unserer Endlichkeit und unserer Unendlichkeit aus. Aber diese Beziehung ist nicht nur eine Sache der Notwendigkeit. Sie ist gleichzeitig eine Sache der Freiheit und damit der Schuld und Erlösung. Nur von diesem Gesichtspunkt der Erlösung aus kann ich sagen: Ich bin geschaffen, das heißt: Ich habe in Bezug auf meine Kontingenz und Angst, meine Fremdheit und meine Einsamkeit teil am absoluten Sichselbst-Haben. Solange wie ich verzweifelt bin, haben Symbole wie Schöpfung, Vorsehung, ewiges Leben keinen Sinn. Sie können weder abgelehnt noch bejaht werden. Andererseits setzt die Lehre von der Erlösung die Lehre von der Schöpfung voraus. Denn nur weil unsere Endlichkeit unsere Verbindung mit unserer Unendlichkeit einschließt, können wir schuldig und verzweifelt und folglich gerechtfertigt und geheiligt sein. So sind beide Gruppen der theologischen Antworten auf die Fragen der theologischen Lehre vom Menschen miteinander verbunden wie Notwendigkeit und Freiheit des Menschen, und so sind auch die beiden Gruppen der Eigenschaften der menschlichen Endlichkeit miteinander verbunden. Die Idee der Erlösung kann unter dem Gesichtspunkt der Rechtfertigung verstanden werden wie im Luthertum oder unter dem Gesichtspunkt der Prädestination wie im Calvinismus. Lassen Sie mich ein paar Worte zum Letzteren sagen. Die philosophische Lehre vom Menschen hat ihr Zentrum in der Lehre von der Freiheit, die theologische in der Lehre von der Endlichkeit, zu der die Knechtschaft des Menschen gehört. Die Theologie muss die Frage nach der menschlichen Freiheit durch den Gedanken der Prädestination beantworten. Die Knechtschaft, die mit der menschlichen Endlichkeit gegeben ist, steht im Kontrast nicht zur essentiellen Freiheit des Die Idee des ewigen Lebens enthält die Antwort auf Schwermut und Tod. Insofern als wir am absoluten Sich-Haben teilhaben, gehören wir zur unendlichen und damit ewigen Einheit. Weil sie als Zukunft ausgedrückt werden muss, ist Hoffnung die zentrale Kategorie dieser Lehre. Aber Hoffnung meint nicht eine objektive Erwartung unseres Schicksals nach den Tode, sondern meint Zeit-Haben jenseits des Todes, insofern als wir mit der Totalität verbunden sind.

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Menschen, sondern zur Knechtschaft von oben, die Gnade genannt werden kann. Sie verneint nicht die essentielle Freiheit des Menschen, aber sie befreit von der Gefahr, weil sie das individuelle Selbst am absoluten Sich-selbst-Haben, an seiner Unendlichkeit und Totalität teilhaben lässt. Jede objektivierende Interpretation der Idee der Prädestination, der Gnade usw. zieht sie auf die Ebene einer sterilen Diskussion der Willensfreiheit herab. Ich denke, dass viele dogmatische Schwierigkeiten durch diesen Ansatz beseitigt werden können. Die objektivierende Methode ist die Ursache für die meisten Schwierigkeiten in der Theologie und für den subjektivierenden Widerstand gegen die Theologie überhaupt. Die gegenwärtigen Tendenzen hin zu einer Lehre vom Menschen können entscheidend werden für die Überwindung dieser objektivierenden Methode, die zur Periode des zunehmenden Säkularismus gehört. Ich konnte nur einen kurzen Überblick über die alten und neuen Probleme geben, die wir behandeln müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Die wirkliche Erklärung ist die Aufgabe nicht nur eines Menschenlebens, sondern darüber hinaus einer ganzen Periode der Zusammenarbeit vieler Menschen, von Theologen, Philosophen und Gelehrten aller Gebiete der Wissenschaft. Wenn wir diese Aufgabe auf uns nehmen, wird es uns vielleicht gelingen, eine neue Antwort auf die alte Frage: Was ist der Mensch? zu bekommen. Und mit dieser Antwort und in ihren Grenzen auch eine Antwort auf die Frage: Was ist Gott?

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3.5 Die Lehre vom Menschen1 Überblick über die Probleme, die zu bearbeiten sind2 (Union Theological Seminary, New York, 1934/35) Erster Teil: Die gegenwärtige Situation der Lehre vom Menschen Einleitung: Einige Bemerkungen zum Titel. – Der Mensch als das Sein, dessen erstes Anliegen seine eigene Existenz ist. Die rückläufigen Stadien in der Entwicklung der Philosophie zu einer Lehre vom Menschen. I. Erster Schritt. Der Mensch beginnt, sich und seine unmittelbare Einheit mit seiner Welt zu verlassen. Einleitung: Die vorphilosophische Haltung. A. Der Beginn in der ersten Periode der griechischen Philosophie (moralische Reflexionen, Kosmologie). B. Der Beginn in der Periode der Renaissance (magische und technische Weltsicht). II. Zweiter Schritt. Der Mensch wird sich um der Welterkenntnis willen selbst fremd. Einleitung: Abstraktion und Objektivation in der Erkenntnis des Menschen. A. Das aristotelische Ideal der reinen Erkenntnis. Die Existenz ohne Aktivität. B. Das cartesianische Ideal der rationalen Erkenntnis. (Die rationale Spaltung der menschlichen Existenz). III. Dritter Schritt. Der Mensch sucht sich in der Distanz zu sich selbst. Einleitung: Der Mensch ist ein bestimmter Teil jeder Wissenschaft. Es gibt eine anthropologische Sektion A. in den reinen Wissenschaften3 (Physik, Biologie, Ethnologie, Psychologie, Soziologie), 1 2 3

Ms.: The Doctrine of Man Ms.: An outline of the problems to be studied Gestr.: in der Erkenntnis der Fakten

215

B. in den normativen Wissenschaften (logische, ethische, ästhetische, religiöse Werte), C. in den angewandten Wissenschaften (technische Wissenschaften, Wirtschaft, Recht, Medizin, Erziehung). IV. Vierter Schritt. Der Mensch beginnt, zu sich selbst als Subjekt seiner Erkenntnis zurückzukehren. Einleitung: Die Grundlagenkrise der Wissenschaften und die Wende zu den anthropologischen Grundlagen. A. Der Übergang der Psychologie und Physiologie zu einer Lehre vom Menschen. (Die Unmöglichkeit einer Psychologie des Bewusstseins) B. Die anthropologischen Elemente der Physik. (Die Bewegung des Menschen und der physikalischen Körper) C. Die anthropologischen Elemente der Wissenschaften von den Werten. (Psychologie als Geisteswissenschaft) D. Der Übergang der Soziologie zu einer Lehre vom Menschen. (Sozialpsychologie und Soziologie) E. Die Zusammenarbeit von Biologie und Geschichte in der Lehre vom Menschen. (Die Entwicklungslehre) F. Die Zusammenarbeit von Theologie und Medizin in der Lehre vom Menschen. (Krankheit und Schuld) G. Die Zusammenarbeit der technischen Wissenschaften, der politischen Wissenschaften und der Pädagogik in der Lehre vom Menschen. V. Fünfter Schritt. Der Mensch findet sich selbst und seine Welt in sich selbst. Einleitung: Der Versuch, die Einheit des Menschen mit seiner Welt wiederherzustellen. A. Die objektivierende Terminologie und die Lehre vom Menschen. B. Erfahrung und Objektivation. C. Der Charakter einer allgemeinen Lehre vom Menschen. D. Ontologie und die Lehre vom Menschen. 1. Identifizierung des Seins mit Objektivität oder Subjektivität. Beides unmöglich.1

1

Ms.: Identification of being and objectivity or subjectivity. Impossibility of both.

216

2. Identifizierung des Seins mit dem Ort, an dem der Mensch1 das Sein erkennt. Der Mensch selbst. Darum die Qualitäten menschlicher Existenz als Qualitäten des Seins überhaupt.2 3. Aber es gibt einen Unterschied: Die Lehre vom Menschen betrachtet dieselben Prinzipien insofern, als sie die spezifisch menschliche Existenz im Unterschied zu anderen spezifischen Arten der Existenz bestimmen. Die Ontologie betrachtet dieselben Prinzipien, soweit sie die Welt im allgemeinen bestimmen; darum eine große Übereinstimmung der Probleme, aber keine Identität.3 E. Die Philosophie der Existenz und die Lehre vom Menschen. 1. Die Philosophie der Essenz als Philosophie der Abstraktion. Der Konflikt zwischen Essenz und Existenz. Existenz ist mehr als Sein in der Welt. Existenz ist dasjenige, durch das wir nicht in unserer Essenz sind (Sünde usw.).4 2. Darum viele Bezugspunkte zwischen Anthropologie und existentialer Methode. Aber diese Methode will eine Methode der Ontologie sein; darum dieselbe Differenz.5 3. Aber es gibt eine andere besondere Beziehung zwischen beiden: Das, was uns außerhalb unserer Essenz sein lässt, ist unsere Endlichkeit; die Analyse der menschlichen Endlichkeit ist eine Analyse, die einen theologischen Charakter trägt. Ich benutze sie darum als ersten Teil der theologischen Anthropologie.6

1 2

3

4

5

6

Folgt gestr.: sich selbst Ms.: Identification of being and the place in which man recognizes (gestr.: himself) being. Man himself. Therefore the qualities of human existence as qualities of being at all. Ms.: But there is a difference: doctrine of man considers the same principles insofar as they constitute the special human existence in difference from other special kinds of existence. Ontology considers the same principle as constituting the world in general; therefore a great community of problems but not identity. Ms.: Philosophy of essence as philosophy of abstraction. Conflict between essence and existence. Existence more than being within the world. Existence that through which we are not in our essence. (sin etc.) Ms.: Therefore many elements of relation between anthropology and the existential method. But this method wants to be a method of ontology; therefore the same difference. Ms.: But there is another special relation between both: That what makes is to be out of our essence is our finiteness; and the analysis of human finiteness is an analysis, which has a very theological character. Therefore I use it as the first part of theology and anthropology.

217

Zweiter Teil: Die allgemeine Lehre vom Menschen Einleitung: Der fundamentale Charakter der menschlichen Existenz: das Sich-selbst-Haben. (Im Besitz seiner selbst sein). Die Lehre vom Menschen muss den Charakter und die Implikationen des Sich-selbstHabens erklären. I. Der Sinn des Sich-selbst-Habens und seine Grenzen. A. Die Stufen des Sich-selbst-Habens: 1. Sich-selbst-Haben und Nicht-sich-selbst-Haben (Mensch und Ding). 2. Einfach und ausdrücklich Sich-selbst-Haben (Mensch und Leben). 3. Sich-selbst-haben-Müssen und Sich-selbst-absolut-Haben1 (Mensch und Gott). B. Die möglichen Gegenstände des Sich-selbst-Habens: Einleitung: Die zunehmende und abnehmende Begrenzung des Selbst. 1.1. Das Selbst und das unbestimmte Es. 1.2. Das Selbst und das bestimmte Es. (Das Selbst als das Selbst einer Macht) 2.1. Das Selbst und das unbestimmte Wir. 2.2. Das Selbst und das bestimmte Wir. (Das Selbst als das Selbst einer Gruppe) 3.1. Das Selbst und das unbestimmte Ich. 3.2. Das Selbst und das bestimmte Ich. (Das Selbst und das Selbst eines Ich) 4.1. Das Ich und das Du. 4.2. Das Ich und das Wir. 4.3. Das Ich und das Es. (Die Beziehung des Ich zu einem anderen Ich, zu Gruppen und Mächten) II. Die Struktur des Sich-selbst-Habens. A. Sich-selbst-Haben als Welt-Haben. Einleitung: Der gegenseitige Aufbau von Selbst und Welt. Die Kategorien und Grade der Objektivierung.

1

Ms.: Having to have and absolutely having oneself.

218

1.

2.

3.

B. 1.

2.

3.

Sich-selbst-Haben als Raum-Haben für sich. (Endlicher Raum – unendlicher Raum – Identität von endlichem und unendlichem Raum). Sich-selbst-Haben als Zeit-Haben für sich. (Zeit dem Raum unterworfen – Zeit, den Raum überwindend – Zeit und Raum im Gleichgewicht). Sich-selbst-Haben als Einheit in Vielfalt-Haben. (Endliche Synthesis – unendliche Synthesis – Identität von endlicher und unendlicher Synthesis) Sich-selbst-Haben als Reiz- und Reaktion-Haben in seiner Welt (Grundlegung der Psychologie) Reiz und Reaktion in der Sphäre des Nicht-sich-selbst-Habens. (Der Austausch der Kräfte durch unmittelbare und berechenbare Reaktion) Reiz und Reaktion in der Sphäre des einfachen Sich-selbstHabens. (Die Selbstreproduktion des Lebens durch unmittelbare und unberechenbare Reaktion. Instinkt) Reiz und Reaktion in der Sphäre des ausdrücklichen Sich-selbstHabens. (Das Empfangen und Sich-Verändern von Wirklichkeit durch unberechenbare und reflektierte Reaktion)

C. Sich-selbst-Haben als Freiheit-Haben. Einleitung: Die ältere Diskussion über Freiheit und der neue Zugang in der Lehre vom Menschen. 1. Freiheit, der Notwendigkeit unterworfen (Die Macht der Selbstverwirklichung). 2. Freiheit, die Notwendigkeit überwindend (Sich-selbst-Haben als Sich-Transzendieren durch Ekstase). 2.1. Freiheit als Fähigkeit und Macht, über sich hinaus zu schaffen (sich zu transzendieren in Richtung auf Ziele und Mittel). 2.2. Freiheit als die Macht, sich dem Produzieren zu unterwerfen (sich zu transzendieren in Richtung auf Sinn und Werk). 2.3. Freiheit als die Macht, über sich zu entscheiden (sich zu transzendieren in Richtung auf neue Verwirklichungen). 2.4. Freiheit als die Macht, mit sich selbst zu spielen (sich zu transzendieren in Richtung auf neue Möglichkeiten). 2.5. Freiheit als die Macht zu verzweifeln (Selbstvernichtung). 3. Freiheit in Identität mit Notwendigkeit (Sich-selbst-Haben im gleichzeitigen Bleiben und Transzendieren. – Die göttliche Freiheit). (Die Macht, sich zu schaffen)

219

D. Sich-selbst-Haben als das Haben von Intentionalität. Einleitung: Das Wesen der Intentionalität. 1. Sich-selbst-Haben als Sein-reales-Selbst-haben-Müssen.1 (Die anthropologische Begründung des Wissens) 2. Sich-selbst-Haben als Sein-ideales-Selbst-haben-Müssen. (Die anthropologische Begründung der Ethik) 3. Sich-selbst-Haben als das Sich-Objektivieren durch Ausdruck. (Die anthropologische Begründung der Sprache und Künste) 4. Sich-selbst-Haben als das Sich-Subjektivieren durch Emotionen. (Die Lehre von den menschlichen Emotionen) III. A. 1. 1.1. 1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 3. 4.

Die Wirklichkeit des Sich-selbst-Habens. Sich-selbst-Haben als Persönlichkeit-Sein. Sich-selbst-Haben als Individuum. Sich trennen als Individuum. Sich reproduzieren als Individuum. Wachsen als Individuum. Vitalität und Intentionalität. Die strukturelle Beziehung zwischen beiden. Die wirkliche Beziehung zwischen beiden. Person und Persönlichkeit.2 Die Entwicklung des Persönlichkeit-Seins in Vergangenheit und Zukunft.

B. 1. 1.1.

Sich-selbst-Haben als Gemeinschaft-Sein. Persönlichkeit und Gemeinschaft. Der personale Charakter der Gemeinschaft und das Problem des Staates. Der gemeinschaftliche Charakter der Persönlichkeit und das Problem der Gruppenpsychologie. Gemeinschaft als Begründung und Begrenzung der menschlichen Freiheit. Die Begründung der Freiheit im Gesetz. Die Begrenzung der Freiheit durch das Gesetz. Staat und Freiheit. Vitalität und Intentionalität in der Gemeinschaft. Wille zur Macht, Gemeinschaft und Staat. Wille zur Macht und Gerechtigkeit.

1.2. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1. 3.2. 1 2

Ms.: Having oneself as having oneself to have one’s real Self. Ms.: Person and personality.

220

3.3. 3.4. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5.

Wille zur Macht und Werte. Wille zur Macht, Nation und Menschheit. Sich-selbst-Haben als Sich-Reproduzieren als Gemeinschaft. Sich-Reproduzieren als Raum-Haben (Wirtschaft). Sich-Reproduzieren als Ordnung-Haben (Verwaltung und Regierung) Sich-Reproduzieren als Zeit-Haben (Erziehung). Sich-selbst-Haben als Sich-Transzendieren als Gemeinschaft (Geschichte) Sich transzendieren als Gemeinschaft in Richtung auf die Vergangenheit (eine Tradition haben). Sich transzendieren als Gemeinschaft in Richtung auf die Zukunft (ein endliches Ziel haben). Sich transzendieren als Gemeinschaft in Richtung auf das Ganze (eine unendliche Wirklichkeit haben). Sich transzendieren als Änderung der Struktur seiner selbst (Verbesserung). Übergang vom historischen Transzendieren zum absoluten Transzendieren1. Dritter Teil: Die theologische Lehre vom Menschen

I.

A. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 1

Die anthropologische Grundlegung der Theologie. (Die Konstruktion der Theologie vom Gesichtspunkt der Anthropologie aus). Das Problem und die Methode. Sich-selbst-Haben als kontingent Sich-selbst-Haben: das allgemeine Problem der Endlichkeit. Sich-selbst-Haben als das Sich-selbst-haben-Müssen: das Problem der menschlichen Endlichkeit. Menschliche Freiheit als menschliche Gefahr: die Drohung, sich selbst durch die Freiheit zu verlieren. Die Analyse der menschlichen Endlichkeit als anthropologische Grundlegung der Theologie. Existenz und Endlichkeit: Die Philosophie der Existenz als anthropologische Grundlegung der Theologie. Die Methoden der existentialen Analyse: Folgt gestr.: in Richtung auf das absolut Sich-selbst-Haben.

221

6.1. 6.2. 6.3. 7. 7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 8.

B. 1. 1.1. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.3. 1.4. 1.5. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.4.

Die subjektivierende und objektivierende Beschreibung der menschlichen Endlichkeit und der Primat der ersteren. Der negative und positive Charakter der menschlichen Endlichkeit und der Primat des ersteren. Der individuelle und soziale Charakter der menschlichen Endlichkeit und der Primat des ersteren. Die Themen der existentialen Analyse: die Formen des kontingent Sich-selbst-Habens. Sich-selbst-Haben als Sich-nicht-von-sich-selbst-Haben. Sich-selbst-Haben als die Möglichkeit Haben, sich zu verfehlen. Sich-selbst-Haben als die Notwendigkeit Haben, sich zu verfehlen. Sich-selbst-Haben als die Unmöglichkeit Haben, sich zu verfehlen. Die Frage nach dem absoluten Sich-selbst-Haben und die Unmöglichkeit einer Antwort von der menschlichen Existenz aus. Theologie durch Transzendieren der menschlichen Existenz. Sich-selbst-Haben als Sich-selbst-Empfangenhaben. Sich-selbst-Haben als gegeben mit der Verantwortung für sich selbst. Sich-selbst-Haben als Sich-selbst-Fremdsein. Sich-selbst-Haben als Fremdsein in seiner Welt. Existentielle Unbegreiflichkeit seiner selbst und seiner Welt. Verlegenheit (individuelle und sozial). Ruhelosigkeit. Sich-selbst-Haben in Einsamkeit. (Die Angst der Einsamkeit) Fremdheit und Angst. Symbole der Angst. Sich-selbst-Haben als Auf-sich-Nehmen. Angst und Furcht. Furcht und Mut (Furchtlosigkeit). Aktives Sich-Empfangen. Sich-selbst-Haben als Flüchten: Wege der Flucht. Sich-selbst-Haben als Wagen, sich selbst zu begegnen: Wege des Sich-Begegnens. Des Menschen Bemühungen, sich heimisch zu fühlen.

222

2.5. 3.

Die bleibende Fremdheit und Angst. Die Frage nach dem absoluten Sich-selbst-Haben, um die Angst zu überwinden.

C. 1.

Sich-selbst-Haben als Sich-erhalten-Müssen. Die doppelte Bedeutung der Sorge (Besorgtsein und Sorge tragen für) Sich-selbst-Haben als Besorgtsein um sich selbst. Besorgtsein, Raum, Zeit und Ordnung zu haben. Die Gefahren für seine Welt (Wechselfälle, Elend, Leiden). Besorgtsein, sich als Persönlichkeit zu haben. Die Gefahren für Körper und Seele (Krankheit) Besorgtsein, sich als Gemeinschaft zu haben. Die Gefahren für die geschichtliche Existenz. Sich-selbst-Haben als Sorge tragen für sich. Sorge tragen für seinen Raum, seine Zeit, seine Ordnung: der Kampf um Sicherheit. Anthropologische Begründung der materiellen Kultur. Sorge tragen für seine Persönlichkeit: seine Gesundheit schützen. Anthropologische Begründung der Sorge um die Gesundheit (Medizin). Sorge tragen für seine Gemeinschaft. Macht und Integration. Anthropologische Begründung der Sicherung der geschichtlichen Existenz (Politik). Sorge und Unbesorgtheit: wagen sich zu verlieren, um sich zu erhalten. Die anthropologische Begründung des Krieges (heroische Unbesorgheit). Die anthropologische Begründung des Spiels (unbesorgter sportlicher Wettkampf). Die anthropologische Begründung des Willens zur Unsicherheit. (Die Unbesorgtheit der Gesetzlosigkeit, Bohème) Die bleibende Sorge und die Frage nach dem absoluten Sichselbst-Haben, um die Sorge zu besiegen.

2. 2.1. 2.2. 2.3. 3. 3.1.

3.2.

3.3.

4. 4.1. 4.2. 4.3. 5. D. 1. 1.1. 1.2. 2. 2.1.

Sich-selbst-Haben als das Sich-lösen-Müssen. Melancholie und Vergänglichkeit. Melancholie als eine Qualität jedes Sich-selbst-Habens. Vergänglichkeit als eine Qualität der Dauer. Melancholie und Untergang. Die Immanenz des Todes im Leben.

223

2.2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 4. 4.1. 4.2. 5. 5.1. 5.2.

5.3. 5.4. 6. 6.1. 6.2. 6.3. E. 1. 1.1. 2. 2.1. 2.1.1. 2.2. 2.3. 2.4.1. 2.4.2. 2.4.3. 3. 3.1.

Die Angst vor dem Tod des Anderen. Melancholie und Tod. Tod, Untergang und Vergänglichkeit. Der eigene Tod und der Tod des Anderen. Die Drohung des Todes und die Angst angesichts der Vernichtung. Die Sehnsucht, sich zu verlieren. Melancholie und sozialer Verfall. Sozialer Verfall und Dekadenz. Das tragische Gefühl. Melancholie, Trauer und Tod. Trauer als Objektivierung der Melancholie. Trost durch Nichtbeachtung des eigenes Todes/Trost durch Umwandlung des eigenen Todes in den Tod eines anderen (Objektivierung, Entfernung in die Zukunft). Trost durch Gewährung von Dauer für sich jenseits des Todes. Trost durch Lust an der Melancholie. Melancholie und Leugnung des Trostes. Stoizismus. Der Zusammenbruch des Stoizismus: Melancholie und Schuld. Die Frage nach dem absoluten Sich-selbst-Haben, um Melancholie und Tod zu überwinden. Sich-selbst-Haben als Sich-Verfehlen. Verzweiflung und Spaltung der menschlichen Existenz. Verzweiflung als Grundelement der menschlichen Existenz. Verzweiflung und Schuld. Sich-selbst-Haben-Müssen als besondere menschliche Endlichkeit. Sich-selbst-Haben-Müssen als Sein-eigenes-Gutes-gewinnenMüssen. Sich verfehlen als Schuld. Schuld und Spaltung. Schuld und Angst. Schuld und Sorge. Schuld und Melancholie. Verzweiflung und Irrtum. Sich-selbst-Haben als Seine-eigene-Wahrheit-gewinnen-Müssen. 224

3.2. 3.3. 3.4. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.4.1. 4.4.2. 5. 5.1. 5.1.1. 5.1.2. 5.1.3. 5.1.4. 5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3. 5.2.4. 5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.3. 5.3.4. 6. 6.1. 6.1.1. 6.1.2. 6.1.3. 6.1.4. 6.1.5. 6.2.

6.2.1. 6.2.2. 6.3.

Das Verfehlen seiner Wahrheit als Irrtum. Irrtum als moralische und tragische Schuld. Die Verzweiflung des Zweifels. Verzweiflung und Sinnverlust. Das Sich-Verfehlen als Leere. Leere und Langeweile. Leere, Schuld und Zweifel. Verzweiflung und Abgrund der Sinnlosigkeit. Sinnlosigkeit im persönlichen Leben. Sinnlosigkeit im sozialen Leben. Verzweifelte Sehnsucht, sich selbst zu gewinnen. Moralismus als Versuch zu fliehen. Im individuellen Leben: Pharisäismus. Im sozialen Leben: fortschreitende Verbesserung. Die Schuld der persönlichen Rechtschaffenheit. Die Schuld bürgerlicher Rechtschaffenheit. Rationalismus als Versuch, dem Irrtum zu entkommen. Wirklicher und methodischer Zweifel. Die Furcht vor der Entscheidung. Die Flucht in die rationale Notwendigkeit. Der Irrtum der rationalen Notwendigkeit. Aktivismus als Versuch, der Sinnlosigkeit zu entkommen. Aktion und Kontemplation. Der Zirkel von Mitteln und Zwecken. Die Flucht zu den Mitteln. Das Zurückgewiesenwerden von den Mitteln. Verzweifelte Sehnsucht, sich selbst zu verlieren. Selbstmord als der Versuch, der Spaltung seiner Existenz zu entkommen durch Aufgabe der gesamten Existenz. Bewusster und unbewusster Selbstmord. Selbstmord aus Not und aus Überfluss. Die Flucht in die Krankheit. Die Flucht in den Wahnsinn. Das Scheitern des Selbstmords. Radikale Askese als der Versuch, der Spaltung seiner Existenz zu entkommen durch Aufgabe der vitalen Elemente seiner Existenz. Radikale Askese als Flucht. Das vitale Element in der Askese. Radikaler Libertinismus als der Versuch, der Spaltung seiner

225

6.3.1. 6.3.2. 6.4.

6.4.1. 6.4.2. 6.4.3. 6.4.3. 6.5.

6.5.1. 6.5.2. 7.

II. A. 1. 2. 3. 3.1. 3.2. 3.3. 4. 4.1. 4.2. 4.3.

Existenz zu entkommen durch Aufgabe der intentionalen Elemente seiner Existenz. Das unendliche Verlangen. Die Endlichkeit jeder Erfüllung. Praktischer Vitalismus als der Versuch, der Gefahr der menschlichen Endlichkeit durch Aufgabe der Freiheit zu entkommen. Die Flucht aus dem ausdrücklichen Sich-selbst-Haben in das einfache Sich-selbst-Haben. Die Flucht aus dem Zweifel in die Autorität. Die Flucht aus der sozialen Freiheit in die soziale Knechtschaft. Die Freiheit im Aufgeben der Freiheit. Praktischer Ästhetizismus als der Versuch, der Spaltung des Sinns zu entkommen durch das Sich-in-Distanz-Halten zu sich und seiner Arbeit. Der Ästhetizismus als Haltung der Distanz. Die bleibende Verbindung mit sich selbst und seiner Arbeit. Der Sieg der Spaltung und Verzweiflung und die Frage nach dem absoluten Sich-selbst-Haben als Überwindung der Verzweiflung. Die Konstruktion der Theologie auf der Basis der Lehre vom Menschen. Der Sinn und die Methode dieser Art der Theologie. Menschliche Existenz als Ausgangspunkt jedes echten Problems in der Theologie. Menschliche Existenz als Möglichkeit der Frage nach dem Absoluten, aber ohne sie zu beantworten. Religiöser Glaube als die Basis der Antwort. Glaube und Mut. Glaube und Zweifel. Glaube und Zweifel als Basis des Fragens. Die vier grundlegenden Qualitäten der menschlichen Endlichkeit als die vier Aspekte der Theologie. Sich-selbst-Haben als Sich-Empfangenhaben: die Lehre von der Schöpfung. Sich-selbst-Haben als Sich-Erhalten: die Lehre von der Vorsehung. Sich-selbst-Haben als Sich-lösen-Müssen: die Lehre vom ewigen Leben. 226

4.4.

Sich-selbst-Haben als Sich-Verfehlen: die Lehre von der Erlösung.

B.

Die anthropologische Konstruktion der Lehre von der Schöpfung. Die Idee der Schöpfung aus anthropologischer Sicht. Sich-Empfangenhaben als Verwurzeltsein im absoluten Sichselbst-Haben. (Geschaffensein durch Gott) Sich-selbst-ausdrücklich-Haben als teilhabend am absoluten Sich-selbst-Haben. (Ebenbild Gottes sein) Sich-selbst-als-endlich-Haben als dem absoluten Sich-selbstHaben Unterworfensein. (Diener Gottes sein) Die anthropologischen Implikationen der Idee der Schöpfung. Die Idee der Schöpfung als Überwindung der Fremdheit unserer Existenz. Die Idee der Schöpfung als Überwindung der Angst unserer Existenz. Die Idee der Schöpfung als Überwindung der Einsamkeit unserer Existenz.

1. 1.1. 1.2. 1.3. 2. 2.1. 2.2. 2.3. C. 1. 1.1. 1.2. 1.3. 2. 2.1.

2.2.

2.3.

Die anthropologische Konstruktion der Lehre von der Vorsehung. Die Idee der Vorsehung aus anthropologischer Sicht. Sich-selbst-Haben als das Erhaltenwerden durch das absolute Sich-selbst-Haben. (Gott erhält die Welt) Sich-selbst-Haben als Geführtwerden durch das absolute Sichselbst-Haben. (Gott lenkt die Welt) Sich-selbst-Haben als Bestimmtsein durch das absolute Sichselbst-Haben. (Gott prädestiniert den Menschen) Die anthropologischen Implikationen der Lehre von der Vorsehung. Die Idee der Vorsehung als Überwindung der Angst um das Raum-, Zeit- und Ordnung-Haben (Vorsehung, Unbesorgtheit und die Frage nach der Sicherheit) Die Idee der Vorsehung als Überwindung der Angst um das Persönlichkeit-Haben. (Vorsehung und persönliches Schicksal) Die Idee der Vorsehung als Überwindung der Angst um das Gemeinschaft-Haben. (Vorsehung und historisches Schicksal)

227

D. 1. 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 2. 2.1. 2.2.

2.3.

E. 1. 1.1.

1.2.

1.3.

1.4.

2. 2.1. 2.2.

Die anthropologische Konstruktion der Lehre vom ewigen Leben. Die Idee des ewigen Lebens aus anthropologischer Sicht. Das Sich-selbst-Haben als zum absoluten Sich-selbst-Haben gehörend. (Ewigkeit des essentiellen Seins) Das Sich-selbst-Haben als Leben im absoluten Sich-selbstHaben. (Ewigkeit und universales Leben) Das Sich-selbst-Haben als Persönlichkeit-Haben im absoluten Sich-selbst-Haben. (Ewigkeit des persönlichen Lebens) Das Sich-selbst-Haben als Gemeinschaft-Haben im absoluten Sich-selbst-Haben. (Ewigkeit des Reiches Gottes) Die anthropologischen Implikationen der Idee des ewigen Lebens. Die Idee des ewigen Lebens als Überwindung der Melancholie (Trauer, Trost, Hoffnung und Furcht) Die Idee des ewigen Lebens als Überwindung des Schreckens der Vernichtung. (Furcht vor dem Tod, Stoizismus, Hoffnung und Furcht) Die Idee des ewigen Lebens als Überwindung des tragischen Gefühls (historischer Optimismus, Heroismus, Hoffnung und Furcht) Die anthropologische Konstruktion der Idee der Erlösung. Die Idee der Erlösung aus anthropologischer Sicht. Sich-selbst-Haben als das Sich-Gewinnen durch die Einheit des absoluten Sich-selbst-Habens. (Die Lehre von der Rechtfertigung) Sich-selbst-Haben als das Sich-Gewinnen durch die Unschuld des absoluten Sich-selbst-Habens. (Die Lehre von der Versöhnung) Sich-selbst-Haben als das Sich-Gewinnen durch die Wahrheit des absoluten Sich-selbst-Habens. (Die Lehre von der Offenbarung) Sich-selbst-Haben als das Sich-Gewinnen durch den Sinn des absoluten Sich-selbst-Habens. (Die Lehre von der Heiligung) Die anthropologischen Implikationen der Idee der Erlösung. Die Erlösung als Überwindung von Spaltung und Verzweiflung. Die Seligkeit des absoluten Sich-selbst-Habens. Die Erlösung als Überwindung der Verzweiflung der Schuld.

228

2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.2.5. 2.3.

Schuld, Unschuld und Sünde. Sünde als Möglichkeit und Wirklichkeit. Angst und Sünde. Tragische Schuld und Erbsünde. Glaube an die Vergebung der Sünde und Seligkeit. Die Erlösung als Überwindung der Verzweiflung des Zweifels. 2.3.1. Zweifel und Sünde. 2.3.2. Glaube an die Offenbarung und Seligkeit. 2.3.3. Glaube an die Heiligung und Seligkeit.

229

3.6 Die allgemeine und die theologische Lehre vom Menschen1 (Union Theological Seminary, New York, 1934/35)

Zweiter Teil: Die allgemeine Lehre vom Menschen I. A. Die Stufen des Sich-selbst-Habens. 1. Sich-selbst-Haben und Sich-selbst-nicht-Haben (Mensch und Ding) 1.1. Sich-selbst-Haben impliziert: Wissen haben von sich selbst und Macht und Kontrolle haben über sich selbst: Selbstbewusstsein und Selbstkontrolle; aber beide sind Konsequenzen einer tieferen Qualität: Bevor wir mit uns selbst umgehen, bevor wir uns selbst kennen, haben wir uns unmittelbar selbst; unser Gefühl ist das Selbstgefühl. Was immer wir fühlen, wir fühlen es als Qualität unseres Uns-selbstHabens. 1.2. Sich-selbst-nicht-Haben impliziert: kein Wissen haben von sich selbst, genau gesprochen, nur Objekt des Wissens sein, welches darum ein fremdes Wissen ist. – Und das impliziert: keine Kontrolle über sich selbst haben und das heißt, nur Objekt einer Macht, einer fremden Macht sein. Und beides bedeutet, ein bedingtes Sein oder ein Ding sein. – Und dies impliziert: ohne Gefühl sein, weil jedes Gefühl subjektiv ist; und rein objektives Sein bedeutet ohne Gefühl sein, ein Ding sein. 1.3. Sich-selbst-nicht-Haben ist absolut unbegreiflich2, weil das Verstehen niemals die Grenze des Sich-selbst-Verstehens durchbrechen kann. Darum kann der, der ein Selbst ist, das, was nicht ein Selbst ist, nicht verstehen. Sogar dieser Satz ist sinnlos, weil „ist“ eine Partizipation am Sein meint, aber was Sein ist, wissen wir nur durch 1

2

Im Ms. fehlt eine Überschrift. Dies gilt auch für den zweiten und dritten Teil des Textes. Die Überschriften wurden nach dem in 3.5 gegebenen Überblick ergänzt. Gestr.: unverständlich

230

unser eigenes Sein. Darum können wir niemals sagen: Etwas ist vollkommen ohne ein Sich-selbst-Haben. Wir können nur sagen: Es ist, was wir einen Grenzfall nennen; eine Abstraktion von der Tendenz zu einer vollständigen Objektivierung in der Naturwissenschaft und in der angewandten Wissenschaft. Aber es gibt keine Möglichkeit der Erfüllung dieser Tendenz zur vollständigen Objektivierung. Alte mythologische Interpretation der Mana- und Seelenkräfte.1 Und die moderne wissenschaftliche Interpretation der Kraftfelder als „Gestalten“ mit inneren Tendenzen zu einer bestimmten Selbsterhaltung. Darum besser: Sich-noch-nicht-Haben. 2. Ausdrücklich und einfach sich Haben. (Mensch und Leben) 2.1. Jedes lebendige Wesen ist auf sich selbst bezogen. Aber Leben hat – außer beim Menschen – weder Kontrolle über diese Beziehung noch ein Wissen von ihr. Tiere haben sich selbst insofern, als sie sich selbst fühlen. Wenn sie hungrig sind, Angst oder Furcht oder Freude haben, haben sie sich selbst; sie sind nicht reine Objekte eines fremden Wissens und einer fremden Macht, sie haben eine Art von Subjektivität, Bewusstsein und Macht. Aber diese Art des Sich-selbstHabens ist uns fremd. Wir wissen nicht, was ein Tier für sich selbst ist, wir wissen nicht, welchen Sinn sein Leben für es selbst hat. Weil wir uns selbst ausdrücklich haben. 2.2. „Ausdrücklich“ ist dasselbe wie „doppelt“. Wir haben nicht nur uns selbst; wir haben uns selbst als uns selbst habend. Wir sind frei von unserem Uns-selbst-Haben. Wir haben das Uns-selbstHaben, das heißt: Wir sind nicht Gefangene unseres eigenen Seins. Das Tier ist, verglichen mit uns, Gefangener seines Seins. Das Leben eines Tieres ist der notwendige Ausdruck dessen, was es ist. Es ist beschränkt auf den allgemeinen und individuellen Charakter seines Sich-selbst-Habens. Es hat sich selbst gegenüber keine Distanz. Alles ist nur ein Gegenstand seines praktischen Handelns; und sofern es so ist, ist sein Handeln durch seine Natur bestimmt. Es kann nicht mit sich selbst umgehen und darum kann es auch nicht mit Dingen umgehen, es sei denn in einer notwendigen Reaktion; es hat keine Gegenstände an sich, sondern nur als Gegenstände seines Handelns jeweils in dieser bestimmten Situation. – Ein Werkzeug ist nicht ein Werkzeug an sich, ein Stock, Zweig oder Stein, sondern nur in die1

Vgl. Friedrich Lehmann, Mana. Der Begriff des „außerordentlich Wirkungsvollen“ bei Südseevölkern, Leipzig 1922; Friedrich Heiler, Erscheinungsformen und Wesen der Religion, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 1979, 29-33.

231

ser Situation, weder vorher noch nachher. (Experimente mit Affen) Das Tier hat keine Möglichkeit, es ist eingeschränkt im Zirkel der Wirklichkeit. Der Mensch hat nicht nur sich selbst, er hat zugleich auch die Möglichkeit, sich selbst zu verlieren. Er hat in seinem Sichselbst-Haben die Freiheit, sich selbst zu ändern, zu verwirklichen und zu verlieren.1 3. Sich-selbst-Haben-Müssen und Sich-selbst-absolut-Haben. 3.1. Die Möglichkeit, sich selbst zu verlieren, enthält die Verpflichtung, sich selbst zu haben; sie enthält den moralischen Charakter des Sich-selbst-Habens. Die Distanz oder Verdoppelung impliziert die Verpflichtung. Das Tier hat keine Verpflichtung oder Moralität. 3.2. Der Charakter dieses Sich-selbst-Haben-Müssens ist eine Art des Sich-selbst-noch-nicht-Habens. Dieses wiederum impliziert die Idee eines absoluten Sich-selbst-Habens. Es ist eine Idee, weil das Absolute innerhalb der bedingten Relationen als eine gegebene Realität nicht erscheinen kann. Es würde in einem solchen Moment aufhören, absolut zu sein. Aber wir brauchen diese Idee, um die besondere Situation des Menschen zu charakterisieren. Wir kennen uns selbst nicht absolut, wir haben keine absolute Herrschaft über uns selbst; wir können sie nur dann haben, wenn wir ein absolutes Wissen und eine absolute Macht über uns selbst hätten und zwar nicht nur über uns selbst isoliert, sondern über uns selbst in unserer Welt (allwissend und allmächtig). Und das heißt, wenn wir wie Gott wären. 3.3. Die Folge ist, dass die moralische Qualität des Menschen den Charakter des Nicht-Absoluten aufweist. Das ist seine Größe und seine Gefahr, das, was ihn über die Tiere erhebt und unter Gott stellt. 1

Ms.: Expressedly is the same as reduplicated. We ourselves not only have ourselves; we have ourselves as having ourselves. We are free from the having ourselves. We have the having of ourselves; that means: We are not prisoners of our own being. Animal is prisoner of its being in comparison with us. The life of an animal is the necessary expression of what it is. It is confined to the general and individual character of its having oneself. It is without distance from itself. Everything is only an object of the animal’s practical action; and insofar as it is so, the action is determined by the nature of the animal; it cannot handle itself and therefore it cannot handle things, except in the necessary reaction; and it has no objects as fixed objects; but only as objects of actions in this special situation. – A tool is not a tool in itself, a stick or branch or stone; but in this situation, not before and not after. (Experiments with apes) Animal is without potentiality; it is confined within the circle of actuality. Man not only has himself; he has at the same time the possibility of loosing himself. He has freedom in his having himself to change, to fulfill and to loose himself.

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B. Die möglichen Gegenstände des Sich-selbst-Habens. Einleitung: Die zunehmende und abnehmende Begrenzung des Selbst. 0.1. Wir haben über den Grundcharakter des Selbst, aber nicht über seine Begrenzung gesprochen. Ich habe über uns selbst gesprochen, aber was heißt das? Ist es die Summe aller Ichs? Oder ist es mehr als das? Und vor allem: Das Sich-selbst-Haben kann nicht das Sichselbst-Haben als ein festes Subjekt und ein festes Objekt bedeuten. Das Sich-selbst-Haben hat einen dynamischen Charakter. Was das Selbst ist, entscheidet sich in dem und durch den Prozess des Sichselbst-Habens. 0.2. Das Selbst kann einen weiteren und einen engeren Umfang haben. Im Prinzip liegt es zwischen einem alles umfassenden kosmischen Selbst und dem eindeutig bestimmten Selbst eines menschlichen Individuums; aber der Umfang ist nicht festgelegt; er ist zunehmend und abnehmend, und folglich ist die Begrenzung dessen, was sich selbst hat, zunehmend und abnehmend. 1. Das Selbst und das Es. (Das Selbst als Selbst einer Macht) 1.1. Das Es als ein Gegenbegriff zum Ich, zum Wir impliziert alles, was wir Es nennen können, das heißt, alles, was nicht wir selbst sind oder was nicht ich selbst bin. 1.2. Aber wir sind, ich bin dieses „Es“ insofern, als es in mir ist und meine eigene Existenz konstituiert; es ist eine Macht, über die ich keine Herrschaft habe: das Klima, physiologische Macht, chemische Macht, psychologische Mächte, die Macht der Spezies. 1.3. Wenn wir sie Mächte nennen, impliziert dies ein Element der Subjektivität des Selbst. Die Identifizierung des Individuums mit der Spezies in der Mythologie der Eingeborenen. Eine Art von Dämonen, die die Tendenz haben, ein Selbst zu finden, und versuchen, durch ein Selbst zu wirken. Aber wenn sie es gefunden haben, können sie das Wir und das Ich spalten. Auf der einen Seite sind diese dämonischen Mächte schöpferische Mächte, sie sind die machtvollen Essenzen aller Dinge. 1.4. Das Selbst wird Selbst, je mehr es Begrenzungen findet gegenüber dem Noch-nicht-Selbst dieser Mächte. Der Fortschritt des Selbstbewusstseins in der menschlichen Geschichte ist ein Fortschritt der Selbstverteidigung gegen die Mächte oder gegen den Bereich des Es; aber das Selbst wächst nur in dieser Selbstverteidigung: Jeder kennt den Kampf gegen die Drohung, sich selbst an die Mächte zu verlie-

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ren, die ein fremdes Selbst in unser eigenes Selbst einführen wollen oder die es uns unmöglich machen, das fremde Selbst vom eigenen zu unterscheiden. Das Es, zu dem wir gehören, siegt immer wieder über das Ich, produktiv wie destruktiv. 1.5. Die Macht der Spezies und das Selbst. Die rationale Form der Macht; die Idee: das Individuum als der Punkt, in dem die Ideen begegnen. Die menschliche Seele ist mit den Ideen auf besondere Weise verbunden, die Weltseele in einer allgemeinen Weise. Die Identifizierung von Essenz und Seele. Die Engellehre. Engel, Dämon und Selbst. 2. Das Selbst und das Wir. 2.1. Die Identität mit jeder Macht. Die Gemeinschaft mit den Ahnen. Der Totemismus. Selbst durch Selbstbeschränkung. 2.2. Die Gruppe als höhere Realität (Realismus). 3. Das Selbst und das Ich. 3.1. Die Tragödie. 3.2. Die individuelle Verantwortung. 3.3. Das Individuum als teilhabend an der Vernunft durch freie Entscheidung. 3.4. Das Ich und das Du. Das Problem des Nächsten. II. A. Sich-selbst-Haben als Welt-Haben. Einleitung: 1. Selbst und Welt können nicht voneinander getrennt werden. Wir sahen, dass das Selbst sich immer in einer sich verändernden Beschränkung gegenüber der Welt befindet. Es, Wir, Ich sind verschiedene Grade solcher Beschränkungen. Jeder von ihnen entspricht eine unterschiedliche Art des Welt-Habens. Je bestimmter das Selbst, desto bestimmter die Welt. Nur das absolut bestimmte und isolierte Selbst hat eine ebenso bestimmte Welt.1 Der Begriff kÒsmoj, Welt, ist entstanden in Verbindung mit der wachsenden Freiheit des Menschen von den Es- und Wir-Mächten. Nur insofern, als wir getrennt sind von der Welt, zu der wir gleichzeitig gehören, können wir sie als Welt haben. Wir können sie nicht haben, wenn wir nur zu ihr gehören, wenn wir nicht gleichzeitig eine Gegenposition haben. Alles Sein hat 1

Ms.: Only the absolutely definite and isolated Self has as [sic!] and definite world.

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eine Umgebung, aber eine Welt im besonderen Sinne dieses Wortes hat nur dasjenige Sein, das sich von seiner Umgebung entfernt hat: eine Totalität, die ihm gegenübersteht. 2. Auf der anderen Seite entsprechen Selbst und Welt einander. Die Grade des Sich-selbst-Habens sind die Grade des Welt-Habens. Und das ist in diesem Zusammenhang die wichtigste Idee: Welt ist nicht abgesehen von dem Sich-selbst-Haben zu verstehen. Welt ist ein korrelativer Begriff. Die Welt ist nicht eine unendliche Schachtel mit Dingen, in der Wir-Selbste uns in Verbindung mit unzähligen anderen Dingen befinden, sondern Welt ist eine bestimmte Ordnung (kÒsmoj ist Ordnung, Schönheit), ein bestimmtes System von Kategorien; und jedes System von Kategorien ist bezogen auf eine bestimmte Qualität des Sich-selbst-Habens und hat nur in dieser Beziehung Sinn und Wirklichkeit. Wir können nicht fragen: Was ist die Welt an sich? Weil Welt und Sein an sich sich widersprechende Begriffe sind. Kosmos, Ordnung hat nur Sinn für ein lebendiges Wesen, für das es Ordnung gibt. Das ist nicht Subjektivismus oder Idealismus, es ist nicht einmal Relativismus; denn wenn Sein Sich-selbst-Haben ist, konstituieren die Grade des Sich-selbst-Habens die wirkliche Welt. Die Möglichkeit und Wirklichkeit all dieser allgemeinen und besonderen Grade des Sich-selbst-Habens konstituieren Welt. 1. Sich-selbst-Haben als Raum-Haben für sich. Ich will mich in diesen Abschnitten sehr kurz fassen. – Raum ist ebenso keine Schachtel, in der Dinge nebeneinander liegen. Sondern Raum ist die Form des Sich-selbst-Habens als Beschränkung auf sich selbst in der Weise, dass diese Beschränkung eine Vielfalt des Sichselbst-Habens ermöglicht. Aber diese Beschränkung impliziert auf der anderen Seite eine Tendenz, seine Beschränkungen zu transzendieren. Sich-selbst-Haben als Raum-Haben kann erklärt werden als SichRaum-Schaffen. Es hat einen dynamischen Charakter. a. Der Erfüllungsraum1, nicht bezogen auf sich selbst; nur in der Art der Kohärenz, aber mit einer bestimmten Macht, die einem anderen Körper keinen Raum gibt. Je mehr Ding, desto mehr nur begrenzt auf den Widerstand gegen ein fremdes Eindringen.

1

Vgl. Tillichs Vorlesung über Geschichtsphilosophie (Frankfurt a. M. 1929/30), EW XV, 22.142.150.

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b. Der Entfaltungsraum.1 Es gibt eine gegenseitige Durchdringung der Teile der Pflanze in räumlicher Hinsicht. Sie sind Erfüllung nicht nur nebeneinander, sondern auch in ihrer Beziehung zu einander. c. Der Bewegungsraum.2 Der Lebensraum eines Tieres, das durch seine Reaktion auf die Eindrücke von außen beschränkt ist. Er kann sehr groß im geometrischen Sinne sein, ist aber begrenzt auf die eigentliche Lebensnotwendigkeit. (Die Zugvögel).3 d. Der Gestaltungsraum.4 Das Überschreiten jeder Grenze im Prinzip: Der Weltraum im realen Sinne von Welt: Die Fähigkeit der Abstraktion von jedem konkreten Raum. Das wirkliche Wandern (die Vögel ein Symbol, keine Wirklichkeit).5 Der unendliche Raum als die Möglichkeit, jede Grenze, ohne Halt zu machen, zu überschreiten. Nur in dieser Beziehung hat der unendliche Raum Sinn, als eine Objektivität ist er sinnlos. Die griechische Haltung ist eine Verteidigung gegen die Möglichkeit, jede Begrenzung zu überschreiten. (Die Möglichkeit des Menschen, in das Unendliche zu blicken, ohne einen besonderen Gegenstand zu fixieren.) Das Wandern als Prinzip, Nationalismus und Menschheit. 2. Sich-selbst-Haben als Zeit-Haben für sich. a. Die Zeit, der Zeit zu widerstehen: die Macht dieses Widerstandes. b. Die Zeit, sich der Zeit auszuliefern: die Wachstums-Zeit. c. Die Zeit, die Zeit in sich hineinzunehmen. Die Modi der Zeit als Modi des Sich-selbst-Habens. d. Die Zeit, der Zeit ausgeliefert zu sein und jenseits der Zeit zusammenzusein. Der Mensch, sterben müssend und seinen eigenen Tod transzendierend. e. Der Kampf zwischen Zeit und Raum als Prinzip der menschlichen Geschichte: Sakramentalismus und Eschatologie.

1 2 3

4

5

Vgl. ebd., 20.22.23.99.142 u. ö. Vgl. ebd., 22.23.100.142. Am Rand: Der Raum des einfachen Sich-selbst-Habens oder der einfache Raum, in dem das Sich-selbst-Haben gefangen ist. Vgl. Tillichs Vorlesung über Geschichtsphilosophie (Frankfurt a. M. 1929/39), EW XV, 21-26. 29.30.41.100 u. ö. Am Rand: Der Raum des ausdrücklichen Sich-selbst-Habens: „ausdrücklich“ impliziert beides: begrenzt auf einen wirklichen endlichen Raum und sich in diesem Raum befindend mit der unbegrenzten Möglichkeit, ihn zu transzendieren. Die Freiheit von unserem wirklichen Raum.

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3. Sich-selbst-Haben als Einheit-in-Vielfalt-Haben. a. Das System der Kategorien als die Einheit der Vielfalt. Sich selbst ausdrücklich Haben impliziert ausdrückliches Welt-Haben und das heißt: Kategorien der Einheit haben, durch die eine Totalität konstituiert wird. In jedem Ding haben wir durch eine allgemeine Verknüpfung das Ganze der Dinge. Auf diese Weise ist jedes Ding im Prinzip uns vertraut. Ein absolut unvertrautes, völlig fremdes Ding würde gleichzeitig unser Selbst und unsere Welt zerstören. Ein Ereignis ohne Ursache würde uns das Gefühl geben, wahnsinnig zu werden und die Welt zu verlieren. b. Das einfache Sich-selbst-Haben hat keine Kategorien, die die Grundlage für die Naturwissenschaft bilden. Es hat nicht die Kategorie der Totalität von allem Möglichen, weil es Möglichkeit überhaupt nicht hat. Aber es hat eine Einheit in der Vielfalt insofern, als seine Welt der Aktivität Einheit hat. Aber diese Welt ist nur Umgebungswelt; darum ist es immer möglich, dass ein fremdes Ereignis in diese Umgebungswelt einbricht und sie zerstört, weil es keine höhere Einheit in der Welt im allgemeinen Sinne des Wortes gibt. Die Pflanzen haben eine Einheit von verschiedenen Einflüssen. Ihre Umgebungswelt ist das Gleichgewicht von Einflüssen. Nur dies ist das Welt-Haben in der Sphäre des Entfaltungsraums und der Wachstums-Zeit. – Die Grenze zwischen Einfluss und fremder Macht ist nicht scharf. Die Tiere haben eine Einheit der Begegnung mit Handlungsgegenständen. Die Umgebungswelt des Handelns, abgeschnitten von der Welt im objektiven Sinn (die geringe Vielfalt bei Hirnverletzten). Der Mangel an Möglichkeit. Die Zerstörung durch das Vordringen fremder Mächte, die nicht in die praktische Einheit hineingeholt werden können. c. Die beschränkende Macht, die durch das Sich-selbst-Haben hindurchgeht. Das Ding hat eine Welt im Sinne der Summe der bedingenden Kräfte. Diese Summe ist nicht die Einheit an sich. B. Sich-selbst-Haben als Reiz- und-Reaktion-Haben in seiner Welt. Reiz und Reaktion sind Kategorien der Biologie und Psychologie, die meistens für eine mechanistische Reaktionstheorie gebraucht werden. Die moderne Entwicklung beider Wissenschaften zeigt, dass diese Voraussetzung falsch ist. Erstens haben Experimente gezeigt, dass eine mechanische Reaktion, die exakt kalkuliert werden kann, nur im Falle einer künstlichen

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Isolierung einiger Teile des lebenden Körpers möglich ist; diese Isolierung kann durch eine Krankheit oder durch die Situation des Experiments zustande kommen. Bei Hirnverletzten ist die Berechnung der Reaktion sehr exakt; dasselbe gilt unter den künstlichen Bedingungen des Laboratoriums. Aber wenn gesunde Personen in ihrem natürlichen Verhalten beobachtet werden, ist die Reaktion unkalkulierbar, weil die Totalität reagiert. Zweitens. Die Art der Reaktion wird durch zwei Faktoren bestimmt, erstens durch die Forderungen, die aus der Umgebungswelt kommen, zweitens durch die schöpferischen Tendenzen des Lebewesens selbst. Die Reaktion ist schöpferisch; wenn zum Beispiel ein Organ oder eine Fähigkeit beseitigt ist, stärkt die Totalität ein anderes Organ oder eine andere Fähigkeit jenseits der natürlichen Grenzen dieser Fähigkeit, um den Mangel zu kompensieren. Drittens. Es gibt einen Unterschied zwischen der schöpferischen Reaktion des Menschen und der anderen Lebewesen. Der Mensch hat die Möglichkeit, die unmittelbare Reaktion zu unterbrechen und zu reagieren, nachdem er die Totalität der Dinge oder seiner unendlichen Welt in Betracht gezogen hat. Nun wird die Bedeutung unserer Unterscheidungen aus der letzten Stunde sichtbar: Das Welt-Haben, das Hinausgehen über die konkrete Grenze in Raum und Zeit, das Totalität-Haben ermöglichen eine überlegte Reaktion, eine Reaktion durch Totalität, nicht nur durch die vitale Totalität, sondern auch die ideale Totalität der unendlichen Welt. Diese Fähigkeit des Menschen wird in der Tradition der Menschheit die menschliche Freiheit genannt. C. Sich-selbst-Haben als Freiheit-Haben. Einleitung: Dieser Begriff der Freiheit befreit uns von der scholastischen Diskussion über die Willensfreiheit. Sie kennen die beiden Lösungen dieses Problems: Determinismus und Indeterminismus. Der Ursprung der ersteren liegt in einer Situation des Geistes, die wir als Entfremdung des Menschen von sich selbst bezeichnet haben. Nachdem er eine Welt der Dinge hervorgebracht hat, musste er selbst ein Ding werden. Ein Ding ist vollständig bedingt. Der Mensch als Ding ist vollständig bedingt. Sein Wille ist versklavt. Das ist die klare und unvermeidliche Konsequenz dieser Haltung der Selbstentfremdung des Menschen. Aber gleichzeitig muss der Mensch moralische Gebote erfüllen; das setzt Verantwortlichkeit und folglich Freiheit voraus. Darum wird der

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Mensch ein Ding ohne die Grundqualität eines Dinges. Er ist nicht vollständig bedingt. Das ist das Postulat des Indeterminismus. Die Stärke des Indeterminismus ist der moralische Charakter des Menschen. Die Stärke des Determinismus ist die mit dem Indeterminismus gemeinsame Voraussetzung, dass der Mensch ein Ding ist. Es ist klar, dass der Determinismus letztlich stärker weil konsequenter ist. Die ganze Diskussion erübrigt sich, sobald man ihre falsche Voraussetzung, der Mensch sei ein Ding, erkennt und wenn man eine wahre Beschreibung des Problems ohne theoretische Annahmen gibt. Wir haben das versucht und nun fahren wir fort, die Eigenschaften und Grade der menschlichen Freiheit zu beschreiben. 1. Um die menschliche Freiheit, die Mitte jeder Lehre vom Menschen, zu verstehen, müssen wir das Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit beim Menschen mit dem bei anderen Lebewesen vergleichen. In jedem Wesen, das keine Welt, sondern nur Umgebung hat und das folglich nicht die Fähigkeit hat, die unmittelbare Reaktion zu unterbrechen, ist die Freiheit der Notwendigkeit unterworfen. Nicht im Sinne der alten Diskussion, sondern im exakten Sinne unserer Beschreibung: Es ist beschränkt auf die Grenzen seines Sich-selbst-Habens. Das heißt nicht, dass es überhaupt nicht über Freiheit verfügt, aber es heißt, dass die schöpferische Reaktion, die zu jedem Lebenwesen gehört, den endlichen Raum seiner Existenz nicht überschreitet. Wir nennen es die Freiheit der Erfüllung.1 Sie enthält mehrere Möglichkeiten, mehrere Reaktionen auf denselben Reiz, aber jede Reaktion bleibt innerhalb bestimmter Grenzen. Nur der Mensch hat die Möglichkeit, seine eigene Endlichkeit zu durchbrechen. Er allein hat die Möglichkeit, er allein hat die Möglichkeit, sich zu transzendieren. 2. Freiheit, die Notwendigkeit überwindend (Sich-selbst-Haben als Sich-Transzendieren durch Ekstase) Einleitung. Das Wort „Ekstase“ meint eine außergewöhnliche Haltung des menschlichen Geistes, eine Haltung hoher Erregung, in der außergewöhnliche Fähigkeiten manifest werden und außergewöhnliche Erfahrungen stattfinden. Das Wort „Ekstase“ meint wörtlich: außerhalb stehend, das heißt, außerhalb seiner selbst, außerhalb seines normalen Bewusstseins. Vielleicht tun wir recht daran, wenn 1

Zum Begriff der Erfüllung vgl. auch die Vorlesung über Geschichtsphilosophie (Frankfurt a. M. 1929/30), EW XV, 39.

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wir dieses Wort für die höchst erstaunliche Fähigkeit des Menschen verwenden, sich zu transzendieren nicht nur in Richtung auf das Transzendente, sondern in jede Richtung. In diesem Sinne behaupten wir, dass der ekstatische Charakter der menschlichen Existenz Freiheit impliziert. Wir können eine Analogie zu den ekstatischen Erlebnissen erfahren, wenn wir die Grenzen unseres jetzigen Bewusstseins durchbrechen. (Neue Erkenntnis, neues Handeln, neues Stadium unserer Entwicklung, neue Schöpfung in der Kunst und in der Politik usw., neu im Sinne der Transzendierung unseres jetzigen Bewusstseins). Hirnverletzte haben keinerlei Ekstase; Spießer haben sie gewöhnlich nicht in hohem Grade, darum ihr langweiliger, gehemmter und unproduktiver Charakter. Auf der anderen Seite die Gefahr jedes ungewöhnlich schöpferischen Menschen, sein normales Bewusstsein zu verlieren, und das vergebliche Verlangen nach Ekstasen und der Versuch, sie ohne ihren schöpferischen Charakter zu erleben. Die Tendenz, seine eigene Freiheit auf sich selbst zu beschränken. 2.1. Die Freiheit der Produktion. Drei Richtungen der Produktion: (a) Die technische Produktion oder die Freiheit, unendliche Ziele und Mittel zu haben. Als Beispiel die Wasserquelle: die unterschiedliche Haltung von Tier und Mensch bei der Begegnung mit einer Quelle, außer in einer Situation, in der ein Mensch durch Durst oder Hunger umzukommen droht. Das aktuelle und bestimmte Werkzeug. Der unendliche Fortschritt, der im ersten technischen Akt des Menschen impliziert ist. Die Unmöglichkeit eines Fortschritts im höchsten technischen Akt eines Tieres. Von einem „Fortschritt der Tiere“ zu reden, ist lächerlich, weil das Nest kein Produkt des Weltbewusstseins ist, sondern des Umgebung-Habens. (b) Die kulturelle Produktion oder die Freiheit, ein Werk zu schaffen. Ein Werk ist ein Ziel, aber nicht ein Ziel, das Mittel für ein anderes, höheres Ziel werden kann. Technische Ziele können beides sein, Mittel und Werke. Als Mittel dienen sie einem Werk, als Werke sind sie Ziele an sich. Der Werk-Charakter einer technischen Produktion macht das Produzieren zu einem befriedigenden Tun; der Mittel-Charakter schafft die unendliche Mühsal unserer technischen Existenz. Kunstwerke haben diesen Doppelcharakter nicht, sie zeigen die menschliche Freiheit als schöpferische Freiheit sehr viel mehr als technische Werke. (c) Die auf den Menschen selbst und die Gemeinschaft gerichtete Produktion. Etwas aus sich machen. Freiheit für jedes Stadium seiner

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Existenz. Selbst wenn das Wachstum aufhört, ist das Sich-Schaffen noch möglich. Darum ist die menschliche Freiheit die unendliche produktive Macht des Menschen, sie ist seine Macht, eine zweite Welt über der ersten, gegebenen Welt hervorzubringen. Der Mensch ist nicht an das Gegebene gebunden, weil er eine Welt hat. 2.2. Aber diese Freiheit ist keine Willkür. Sie impliziert die Voraussetzung, dass der Mensch fähig ist, sich den Normen der Schöpfung zu unterwerfen. Der Mensch als ein endliches, individuelles Wesen mit den Fähigkeiten unendlichen Transzendierens ist in der zweideutigen Situation, in sich selbst die Kategorien der Totalität oder Einheit in Vielfalt zu haben und auf der anderen Seite, sie nicht als ein endliches, individuelles Wesen zu haben. Darum haben die Normen und Kategorien den Charakter von Geboten, denen er sich zu unterwerfen hat. Und das ist seine Freiheit, dass er dies auch tun kann, das heißt, von seinem endlichen und individuellen Charakter abzusehen und den allgemeinen Normen zu gehorchen. Insofern ist die Fähigkeit zu gehorchen Ausdruck der höchsten Freiheit. (Nicht heteronomer, sondern autonomer Gehorsam) 2.3. Die Freiheit, sich zu unterwerfen, impliziert die Freiheit, für sich zu entscheiden. Gehorchen setzt die Möglichkeit voraus, nicht zu gehorchen. Die Möglichkeit des Guten und Bösen, des Gerechten und Ungerechten, des Wahren und Falschen, des Schönen und Hässlichen. Alle diese Werte sind eine Sache der Entscheidung. Nur der Mensch hat die Macht, über befohlene Normen oder absolute Werte zu entscheiden; nur er ist frei. Aber jetzt könnten Sie erneut fragen, ob der Wille frei ist, zu entscheiden oder nicht. Ich antworte: Nicht der Wille entscheidet, sondern wir entscheiden oder das Selbst entscheidet. Und ich selbst bin nicht das Resultat von Mächten, die mich bestimmen, und von Eindrücken, die ich empfange. Sondern ich bin eine Einheit, die den Charakter vieler Mächte und vieler Eindrücke bestimmt. Wir entscheiden insofern, als die Einheit unseres Selbst entscheidet; aber wir müssen zugeben, dass gleichzeitig diese Einheit alle diese Mächte und Wirkungen in sich hat, aber die Einheit ist mehr als sie; sie alle zusammen würden das Selbst, zu dem sie gehören, nie konstituieren. Entscheidungsfreiheit ist die Macht, die unmittelbare Reaktion zu unterbrechen und mit der Einheit unserer totalen Existenz zu reagieren, den objektiven Normen, die unser Welt-Haben konstituieren,

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zu gehorchen oder nicht zu gehorchen. Alle diese Elemente gehören zur Freiheit der Entscheidung. Das heißt: Es gibt keine Entscheidungsfreiheit, wenn es keine Entscheidung über Normen gibt. Wir machen einen Spaziergang, wir können diesen oder jenen Weg gehen. Es gibt keinen moralischen Unterschied zwischen beiden Möglichkeiten. In diesem Falle verzichten wir auf die Freiheit und unterwerfen uns dem Zufall; wir handeln ohne Norm und ohne Vernunft; wir lassen uns gehen. Die einzige Entscheidung besteht in diesem Falle darin, keine Entscheidung zu treffen, uns aber den Es-Mächten zu unterwerfen. 2.4. Das führt uns zur Freiheit als der Macht, mit sich zu spielen. Das Spiel ist vielleicht der höchste Grad der menschlichen Freiheit – eine Behauptung, die nur verständlich ist von einer klaren Definition des Spiels her. Wir behaupten, dass weder Tiere noch Kinder spielen können. Der Grund ist sehr einfach. Für beide gibt es keinen Unterschied zwischen Spiel und Ernst. Kinder beginnen zu spielen, wenn sie zwischen Spiel und ernsthaftem Tun unterscheiden können (Katze und Maus, Katze und Wollknäuel, Kind und Puppe). Wirkliches Spiel kann definiert werden als wirkliches Freisein von der eigenen Freiheit. Im Falle des Spazierengehens verzichte ich auf eine Entscheidung; im Falle des Spielens unterwerfe ich mich den Normen, die zu meiner Welt gehören und die ich mir selbst gegeben habe. Ich konstituiere eine Welt neben meiner Welt, die weder bestimmten Zielen unterworfen ist noch unbedingten Normen. Es gibt keine scharfen Grenzen für den Sport als Übung des Körpers oder für Schach als Übung des Intellekts oder für die Wette als Übergabe meines Schicksals an das Glück. Aber das reine Spiel ist Freiheit in Verdoppelung. Unsere einfache Freiheit ist die Freiheit, sich den Normen seiner Welt zu unterwerfen. Es gibt keine Verdoppelung in Bezug auf die versklavte Freiheit eines Tieres. Aber dies wiederum wird übertroffen durch eine neue Verdoppelung, durch die Freiheit des Spiels. Das höchste Spiel ist das Schaffen freier Kunstwerke. Darum ist diese Freiheit immer verglichen worden mit der göttlichen Freiheit, weil göttliche Freiheit die Freiheit des Handelns durch Normen ist, die aber nicht den Charakter von Geboten haben. Die Romantik hat immer betont, dass die Schöpfung ein göttliches Spiel ist, ein Handeln, in dem Gott frei wird von der Notwendigkeit seiner Freiheit. 2.5. Aber der Vergleich hat seine Grenzen, weil der Mensch, der mit sich selbst spielt, sich selbst verlieren kann, und das ist die

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dritte Form des Freiseins von seiner Freiheit. Wir können uns selbst verlieren. Das gilt für jeden betrunkenen Menschen. Die Ekstase der Freiheit kann sich in die Ekstase der hemmungslosen Freiheit verkehren. Der Unterschied zwischen beiden Arten der Freiheit ist gering. Der schöpferische Rausch ist der höchste Ausdruck unserer Freiheit. Menschen, die äußerst solide sind, sind frei im ersten Grad, aber nicht im zweiten. Wir nennen das Moralismus, Pharisäismus, Puritanismus usw. Im Gegensatz zu dieser Haltung ist der Versuch, sich seine Freiheit durch die Aufgabe seiner selbst und seiner Freiheit unter Beweis zu stellen. Allein der Mensch kann sich selbst verlieren. Das ist die wirkliche Basis der Theologie. D. Sich-selbst-Haben als das Haben von Intentionalität. Einleitung: Das Wesen der Intentionalität. 0.1. Es gibt drei Grundprobleme in der philosophischen Anthropologie: 1. Selbst und Welt, 2. Freiheit und Notwendigkeit, 3. Intentionalität und Vitalität. Über 1. und 2. haben wir gesprochen, über 3. wollen wir jetzt sprechen. Freiheit ist die Freiheit, sich objektiven Normen zu unterwerfen. Wir haben gesehen, dass diese Qualität der Freiheit die Voraussetzung für das Schaffen über sich und über seine Gegebenheiten hinaus ist. Weil das Schaffen nur möglich ist in Einheit mit den Normen, die die Welt konstituieren, den theoretischen, praktischen und ästhetischen Formen. 0.2. Intentionalität heißt wörtlich: auf etwas ausgerichtet sein mit seinem Geist, im Wissen, Wollen und Handeln. Aber die Scholastik und die moderne Phänomenologie haben den Sinn dieses Wortes beschränkt auf den besonderen Fall der Ausrichtung auf Inhalte, nämlich solche Inhalte, die objektive Gültigkeit haben. Wenn ich in einer willkürlichen Phantasie an Zahlen denke und dabei jede Zahl durch reine Assoziation in meinen Geist kommt, habe ich keine Intentionalität, sondern bin ein psychologisches Phänomen. Wenn ich aber den Sinn des Satzes „zweimal zwei ist vier“ denke, wenn ich die Notwendigkeit dieses Satzes, die in seinem Sinn enthalten ist, fühle, dann habe ich Intentionalität. 0.3. Intentionalität in diesem Sinne setzt eine Spaltung innerhalb von Welt und Selbst voraus. Diese Spaltung bedeutet, dass wir nicht unmittelbar und von Natur aus unsere eigene Welt und uns haben. Die alte Philosophie, Plato, erklärte diese Situation des Menschen durch

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die Unterscheidung des Bereichs der dÒxa vom Bereich der ™pist»mh; dÒxa heißt wörtlich Meinung ohne Wissen; ™pist»mh ist Wissen durch methodologische Untersuchung. Aber diese Worte bezeichnen nicht nur unsere subjektive Haltung, sondern gleichzeitig auch den objektiven Bereich, auf den sie sich richten: Meinung schließt alles ein, was sich verändert, was zufällig ist, unsicher ist oder das NichtSein, das heißt das nicht wahrhafte Sein, das, was nur zu sein scheint, den Bereich des Anscheins. Wissen meint gleichzeitig den Bereich der Gegenstände wirklichen Wissens, das Sein, das wirklich Sein ist. Die menschliche Freiheit enthält diese Spaltung und die Wahl zwischen der unmittelbaren Welt und der wesentlichen Welt. 1. Der Mensch hat seine eigene Wahrheit, das heißt, die Wahrheit seiner selbst und seiner eigenen Welt, nicht unmittelbar. Darum muss er nach ihr fragen. Fragen ist eine Möglichkeit des Menschen, die Freiheit und zugleich Intentionalität impliziert. Fragen impliziert das Bewusstsein, 1. nicht seine eigene Wahrheit zu haben, 2. sie haben zu müssen, 3. fähig zu sein, sie zu haben, 4. fähig zu sein, sie zu verfehlen. Hier ist der Unterschied zu den Tieren offensichtlich. Die Tiere haben sich und ihre Wahrheit unmittelbar, weil die Wahrheit ihrer Umgebung nur die aktuelle Umgebung ist, deren aktuelles und produktives Verhältnis zum Tier, für das es Umgebung ist. Der Mensch sucht die Wahrheit unter Absehung von seiner aktuellen Umgebung, indem er in seine Welt und ihre objektive Struktur eindringt. Er muss seine Wahrheit suchen, er kann sie finden, weil die Struktur seines Selbst und die seiner Welt sich entsprechen, aber er kann sie gleichzeitig verfehlen, weil seine unmittelbare Existenz ihm seine Wahrheit nicht gibt; er muss sie transzendieren und er steht in der Gefahr, sich selbst dabei zu verlieren, während das Tier, das sich nicht transzendieren kann, sich selbst nicht verlieren kann. 2. Das gilt auch für das Gute. Der Mensch muss es haben, gerade weil er es nicht unmittelbar hat, weil er es haben und verfehlen kann. Das Tier hat seine eigene Vollkommenheit ohne Gebote und ohne Entscheidungen. Es hat jede Vollkommenheit, die möglich ist in der Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung. Es kann sterben, aber es kann sich nicht lebend verlieren. Aber der Mensch kann nicht nur seine eigene Wahrheit verlieren, sondern auch sein eigenes Gutes; es ist das Gute seiner selbst und seiner Welt. Sein unmittelbares Leben ist nicht sein Gutes. Die Welt

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hat zwei Arten von Forderungen an ihn. Erstens die bedingten Forderungen, die immer durch die natürlichen Qualitäten der Dinge als freundlich und feindlich, antreibend und anziehend, als Bedrohung und als Hilfe usw. an ihn herantreten. Aber es gibt auch unbedingte Forderungen, und diese kontrastieren mit den unmittelbaren Tendenzen zu einer Reaktion. Sie enthalten unser eigenes Gut. Wir nennen sie moralische Gebote. Wir können ihnen gehorchen und wir können ihnen den Gehorsam verweigern. Wir können unser eigenes Gutes finden und verfehlen. Und dieses „Wir“ bedeutet „Ich“ und „Wir“.1 3. Intentionalität setzt voraus und impliziert die Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität. Die Spaltung zwischen Erscheinungswelt und wahrer Welt und die Möglichkeit, letztere zu verfehlen, impliziert die Unterscheidung zwischen dem, der seine eigene Wahrheit verfehlt, und der Wahrheit, die gesucht und verfehlt wird. – Aber dieser höchste Grad der Objektivierung und Subjektivierung (Intentionalität und Freiheit der Entscheidung) setzt niedere Grade beider voraus. In Bezug auf die Objektivität nennen wir sie Ausdruck; im Ausdruck steckt ein Element der Subjektivität: Ich drücke mich und ein Element der Objektivität aus. Ich gehe aus mir heraus und ich schaffe etwas, was nicht ich bin, aber in dem ich selbst bin. Das ist der Charakter vor allem der Sprache. Jede Intentionalität setzt Sprache voraus. Wäre Sprache nur der subjektive Ausdruck des Gefühls und des Willens, es einem anderen mitzuteilen, würden wir niemals eine objektive Welt haben. Aber Sprache verweist auf den objektiven, unveränderlichen Sinn oder das Wesen der Dinge. Sie 1

Ms.: 2. The same thing with the good. Man has to have it just because he does not have it immediately, being able to get it and to miss it. Animal has its own perfection without commandements and decisions. It has every perfection which is possible in the interrelation between itself and its surrounding. It can die, but it cannot loose itself alive. But man can loose not only his own truth but also his own good; that is the good of himself and his world. He [sic!] immediate being is not his good; the world has two kinds of requests to him. First the conditional requests, which always are happening through natural qualities of things as friendly and hostile, as driving and attiring, as threat and aid and so on; but there are some unconditional requests; and these contrast with the immediate tendencies for reaction; they implie our own good; we call them moral commandements. We can follow them and we can disobey them. We can find and miss our own good. And this „We“ implies I-Self and We-Self.

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abstrahiert von der unmittelbaren Beziehung der Aktivität in einer Umgebung. Sie konstituiert eine Welt, weil sie mit den allgemeinen Qualitäten der Dinge und Handlungen zu tun hat. Darum ist das Wort der genuine Sinn von lÒgoj, Verbum. LÒgoj und kÒsmoj, Wort und Welt, entsprechen einander. Nur weil das Wort uns von der unmittelbaren Umgebung befreit und auf die ewigen Mächte der Dinge verweist, können wir eine Welt haben. Unsere Sprache bringt vor allem unsere Welt als Welt hervor. Ausdruck und Objektivierung als zentrales Problem der Wissenschaft und Moral. – Körperliche Ausdrücke und Künste. 4. Subjektivierung ist vor allem emotionale Subjektivierung. Ausdruck ist näher an Emotion als an Wissen und Moral. Aber Ausdruck und Emotion sind nicht identisch. Oft können wir unser emotionales Erleben nicht wirklich ausdrücken. Aber in dem Maße, in dem das geschieht, werden wir von ihm frei, das heißt, unsere Subjektivität unterscheidet sich stärker von unserer Objektivität. Wir weisen von uns zurück, was uns nach Art der Es-Mächte unsere Freiheit raubt. Aber das heißt nicht, dass wir uns in unserem Ausdruck und unserer Objektivierung verlieren, im Gegenteil: Nichts kann uns stärker unsere wirkliche Subjektivität geben als ein vollkommener Ausdruck, vor allem in der Literatur, Kunst und Musik. In Bezug auf die großen Werke des Ausdrucks findet die menschliche Subjektivität zu sich selbst, während die chaotische Gleichgültigkeit, die sich nicht auszudrücken vermag, auch ihre Subjektivität verfehlt. III. A. Das Problem der Intentionalität wird aktuell in dem Sich-selbstHaben als Persönlichkeit und Gemeinschaft. Der Grund dafür liegt darin, dass beides auf der Basis des individuellen Lebens, einer individuellen Persönlichkeit oder einer individuellen Gruppe, entsteht. 1. Darum zunächst einige Bemerkungen zum Charakter der Individualität. „Individuum“ ist zunächst dasselbe wie „Atom“: das, was nicht teilbar ist, eine letzte Realität, die nicht aus anderen Realitäten zusammengesetzt ist. Das griechische Wort ¥tomon wird für physikalische Entitäten gebraucht, die lateinische Übersetzung „individuum“ für Lebewesen, vor allem für Menschen. Das hat zu einer gewissen Differenzierung in der Bedeutung geführt. Das Atom ist identisch mit sich selbst als einem völlig bedingten Ding und hat keine besondere

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innere Qualität. Das Individuum hat eine besondere innere Qualität und ist keinem anderen gleich. Das heißt, ein Individuum hat eine innere Unendlichkeit oder Unerschöpflichkeit. Wie ein Kreis nicht in rationale Zahlen aufgeteilt werden kann, braucht es eine irrationale, unendliche Zahl. Diese Irrationalität eines Individuums wächst in dem Maße, in dem die Freiheit oder Selbstentscheidung zu ihm gehört, umso irrationaler und unerschöpflicher ist das Individuum. Das ist der Grund für die absolute Unvergleichbarkeit jeder individuellen Persönlichkeit und für den unermesslichen Reichtum individueller Persönlichkeiten. 2. Die Persönlichkeit ist mehr als ein Individuum. Sie ist der Prozess, in welchem das Individuum sich und seine Möglichkeiten verwirklicht, indem es Intentionalität hat oder, mit anderen Worten, indem es sich objektiven Normen unterwirft. Dies geschieht durch die Einheit von Vitalität und Intentionalität. Und das ist seit Aristoteles die dritte höchst wichtige Frage einer Lehre vom Menschen. Aristoteles unterscheidet in jedem Ding Materie und Form; so ist in jedem Lebenwesen die Seele die Form und der Körper die Materie. In den Pflanzen ist die vegetative Seele die Form der Pflanzen-Materie; beide zusammen sind Materie für die höhere Form der Tier-Seele, und diese wiederum ist die Materie für die Seele des Menschen. Zur Seele des Tieres gehört der Sinneseindruck, zu der des Menschen das Bild und die Erinnerung. Aber nun hat der Mensch eine höhere, reine Form, welche nicht mit dem Körper und der Seele verbunden ist in der Weise wie Materie und Form, sondern als von außen her kommend (qÚraqen, von der Tür); das ist der noàj, der Geist, der unsterblich und göttlich ist. Göttlich, das heißt, ohne Materie. Der Geist ist dadurch bestimmt, dass er die reinen Formen der Dinge hat, die immateriellen Essenzen der Wirklichkeit, die Wahrheit. Aber hier entsteht eine Schwierigkeit. Wenn der Geist von außen kommt, wie kann er sich dann mit der Seele vereinigen? Doch andererseits: Wenn er nicht von außen kommt, wenn er nicht die Form wäre, für die die Seele die Materie ist, könnte niemand die Möglichkeit des Handelns gegen unsere vitalen Tendenzen, unsere Unterwerfung unter die objektiven Normen und Gebote verstehen. Wie können die Notwendigkeiten der Wahrheit und der Moral mit den Kontingenzen unseres psychologischen oder besser vitalen Lebens vereinigt werden? Aristoteles hat selbst die Schwierigkeiten dieser Auffassung gespürt und den Geist aufgeteilt in einen aktiven und in einen passiven Geist,

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wobei der erste vielleicht als Intellekt und der zweite als Möglichkeit der Vernunft zu interpretieren ist. Aber das Problem bleibt. Wie ist in der Seele, dem Prinzip des Körpers, Vernunft als Potentialität möglich? Hat unser Körper in sich selbst Vernunft? Hat unsere Vitalität in sich selbst Vernunft? Hat sie die höhere Mathematik, die Bilder von Michelangelo, die Moral Jesu in sich? Wenn ja, wie ist es möglich, dass der Mensch oft gegen seine Vernunft handelt, während die Tiere dazu nicht in der Lage sind? Aber wenn die Vernunft unseren Körper und unsere Seele transzendiert, wie ist es möglich, dass wir Intentionalität haben, dass unsere Seele als Aktualität unseres Körpers die Wahrheit denken und das Gute tun kann? Eine andere Lösung bieten Plato und der Neuplatonismus. Für Plato ist die Seele nicht das Prinzip des Körpers, sondern eine unabhängige Wirklichkeit, die in einigen Fällen mit dem Körper eine Einheit bildet, die aber eine unabhängige Existenz hat und viele Körper durchwandert. Zur menschlichen Seele gehört das vernünftige wie auch das sinnliche Prinzip; sie werden mit Pferden verglichen. Das erste will die Seele vom Körper befreien und führt sie nach oben zu den Ideen, der Welt der Normen. Das andere führt die Seele nach unten in den Körper. So gesehen, hat die Seele, auch wenn sie das Prinzip des Lebens ist, in sich Intentionalität. Plato nennt sie die Erinnerung an die Ideenschau. Erinnerung ist notwendig, weil die Beziehung zum Körper die Intentionalität verdunkelt hat. Die platonische Vorstellung herrschte bis zu Thomas von Aquin. Sie stimmte sehr vielmehr mit der christlichen Haltung überein als die aristotelische Identifizierung von Körper und Seele. Aber nun ist die Schwierigkeit entstanden, dass die Seele immer stärker mit dem Geist identisch wurde und dass der Abgrund zwischen Körper und Seele einschließlich Geist nicht mehr überbrückt werden konnte. Das wurde in der modernen Philosophie deutlich, in der der Körper zur Maschine und die Seele zum reinen Bewusstsein wurde und die Beziehung zwischen beiden nicht mehr ohne die Gottesvorstellung oder ohne die Idee eines metaphysischen Parallelismus von Körper und Geist überbrückt werden konnte. Der Geist hat wesentlich Intentionalität, und diese klare Intentionalität kann nur durch Zufall verdunkelt werden. Beide Tendenzen, drei Teile oder zwei Teile, machen es unmöglich, die Einheit von Vitalität und Intentionalität zu verstehen. Beide haben jeweils ihren Vorteil. Die aristotelische Lösung erlaubt die enge Verknüpfung von Körper und Seele, die durch die ganze moderne

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Entwicklung bestätigt wird. Die platonische Lösung erlaubt die enge Verknüpfung von Seele und Geist, ohne die wir die Intentionalität nicht verstehen können. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Aufgabe klar: Die Seele ist in ihrer Verknüpfung von Körper und Geist zu verstehen. Unsere Sicht kann vielleicht hilfreich sein für folgende Lösung: Sich-selbst-Haben ist weder Körper noch Geist, sondern enthält beide Elemente, die nicht abstrakt unterschieden werden können. Zunächst behaupten wir: Keiner der Teile ist unabhängig. Der Körper ist nicht Körper ohne den besonderen Charakter des Sich-selbst-Habens, sonst wäre er nur ein chemischer Prozess. Der Körper ist Ausdruck des Sich-selbst-Habens als eines Raum-Habens in den verschiedenen Abstufungen des Raumes. Darum gehört zum menschlichen Körper, dass er einen unendlichen Raum hat. Unser Körper, unser Auge, unsere Art zu gehen und zu handeln setzen einen unendlichen Raum voraus. Aber der unendliche Raum setzt das Überschreiten, die Freiheit von jeder konkreten Situation voraus und das heißt: den Geist. So impliziert unser Körper unseren Geist. Und das Sich-selbstHaben impliziert das Zeit-Haben für sich. Unser Körper impliziert Zeit über unseren eigenen Tod hinaus. Der Ausdruck dafür ist die Gleichzeitigkeit von Wachstum und Verfall unseres Körpers im Alter. Das Wachstum setzt den Geist voraus, der den Körper in einer vom Körper des Tieres sich unterscheidenden Dimension formt. Das Welt-Haben drückt sich aus in der Stellung des Kopfes, der Leistung des Gehirns, in der objektivierenden Kraft des Auges, in der Fähigkeit, mit der Zunge und Kehle unendliche Bedeutungen auszudrücken. Aber das sind nur die ausdrucksstarken Teile, weil die Totalität und ihre Konsequenzen, jeder Teil, jede Funktion denselben Charakter des Welt-Habens oder Freiheit-Habens oder Geist-Habens hat. Das heißt, vor jeder Abstraktion ist der menschliche Körper mit dem menschlichen Geist identisch. Beide sind Abstraktionen des menschlichen Sich-selbst-Habens. Ebenso kann der menschliche Geist nicht ohne den menschlichen Körper verstanden werden. Wenn Michelangelo die Decke der Sixtinischen Kapelle malt, stellen sich einige vor, dass sein Geist seinem Körper den Befehl gibt, diese und jene Linie zu ziehen. Doch diese Vorstellung ist nicht realistisch. Wir müssen fragen: Wie kann der Geist wissen, welche feinen Linien die Hand ziehen muss, und wie kann der Körper wissen, was Michelangelos Geist befiehlt? Wir müssen uns klar darüber sein, dass Michelangelos Geist eng mit seinem

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Körper verbunden ist und dem Körper die bewegende Nervenkraft gibt, und das heißt, dass Michelangelos Körper in diesem Moment unmittelbare Intentionalität hat. Die Tendenzen zur Bewegung sind nicht willkürliche Tendenzen, sondern werden bestimmt durch die Intentionalität, die die Energie dieses Körpers ist. Dass sie willkürlich und zufällig werden, ist eine Möglichkeit dieses Körpers; er kann sich den Es-Mächten ausliefern und auf seine Intentionalität verzichten; aber auch dieser Akt enthält Intentionalität. Ein anderes Beispiel: das logische Urteil.1 Die exakte Analyse hat gezeigt, dass es in jedem logischen Urteil des Menschen einen Willensakt gibt.2 Aber der menschliche Wille setzt eine körperliche Spannung voraus, in der die Situation, das Gleichgewicht und die Ekstase des ganzen Körpers sich ausdrücken. Das heißt, dass der wirkliche Vorgang des Erkennens ein Vorgang körperlicher Spannungen ist, in denen die Urteile getroffen werden. Aber Sie verstehen: Es wäre absolut falsch, zu behaupten, die körperlichen Spannungen seien der Grund für das Urteil, weil diese Tendenzen als solche schon auf die objektive Wahrheit bezogen wären. Das führt uns zu dem Problem der Entscheidung im allgemeinen. Weder der Geist noch der Körper entscheidet. Sondern das Sichselbst-Haben ist das Sich-selbst-Haben in der Entscheidung über sich. Und dieses Entscheiden kommt aus der Totalität unserer Existenz, in der Intentionalität und Körper identisch sind, aber so, dass die Intentionalität die Intention haben kann, sich den Mächten ohne Intentionalität auszuliefern. Es ist nun klar, was wir Seele nennen. Wir haben den Begriff bisher vermieden, aber wir haben ihn mit unserer Übersetzung „Sich-selbstHaben“ benutzt. Wir tun darum recht, wenn wir sagen: Der Mensch ist eine lebendige Seele, wie die Schöpfungsgeschichte erzählt3, aber wir können auf keinen Fall sagen: Der Mensch ist Geist oder Körper. Beide Begriffe sind Abstraktionen des Sich-selbst-Habens oder des 1

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Folgt gestr.: Für einige Philosophen geht es durch den Menschen als fremde Macht rein logischer Notwendigkeit. Hier ist wohl an das von Tillich im Briefwechsel mit Emanuel Hirsch 1917/18 erwähnte Buch von Heinrich Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendentalphilosophie, Freiburg i. Br. 1902, Tübingen/ Leipzig, 2. Aufl. 1904, zu denken. Vgl. EW VI, 99 und 119 („Ich erinnere an die Rickertsche Urteilslehre, nach der jedes richtige Urteil der Vollzug eines Wertes ist …“ [EW VI, 119]). 1. Mose 2,7.

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Seele-Seins. Wir haben damit wieder die wirkliche Mitte des Menschen gefunden – gegen alle Abstraktionen.1 Das Resultat der letzten Stunde: 1. Körper und Geist = Sich-selbst-Haben in der Identität von Vitalität und Intentionalität. Eine einzige Wirklichkeit, die Seele genannt werden kann, und zwei Abstraktionen: Körper und Geist. 2. Es gibt keine Spaltung zwischen Körper und Geist. Die Spaltung, die Paulus beschreibt zwischen Geist und Fleisch2, bezieht sich überhaupt nicht auf Geist und Körper. Das Fleisch ist Symbol für die Entscheidung gegen die Forderungen der Situation; es ist Leugnung der Intentionalität. Geist ist das Sich-ihnen-Unterwerfen. Aber in beiden Fällen arbeiten Geist und Körper zusammen. 3. Wir müssen nun fragen: Wie ist diese Spaltung möglich, wenn sie nicht eine Spaltung zwischen Körper und Geist ist? Die Antwort muss lauten: Es ist das Individuum, das gleichzeitig ein Selbst ist, das von der Einheit des Lebens und daher von der Einheit intentionaler Qualitäten getrennt ist. Sünde im wörtlichen Verständnis ist Trennung (Sünde – Sonderung). 4. Das Selbst ist die Voraussetzung für wirkliches Leben; aber gleichzeitig setzt das Selbst Individualisation voraus, um Selbst zu werden und Intentionalität oder Welt zu haben. Darum die paradoxe Situation, dass die Trennung von der Welt, die Individualisation, es ermöglicht, Welt zu haben. Das ist dieselbe Paradoxie, die sich auch in unserer individuellen Existenz ausdrückt, nämlich zur Totalität des Lebens, seiner Vitalität und seiner Intentionalität zu gehören und doch von ihr getrennt zu sein und der Totalität widersprechen zu können. 1

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Folgt gestr.: b. Die wirkliche Beziehung zwischen beiden. Es gibt einige Kategorien in der Lehre vom Menschen, die aus der falschen Abstraktion und Trennung abgeleitet sind. Diese Kategorien sind insofern wichtig, als sie zum Verständnis des dynamischen Charakters des Menschen gebraucht werden. Eine von ihnen ist der Gegensatz von Vitalität und Intentionalität. Ich selbst habe sie benutzt, aber nachdem ich dies getan habe, ist es besser, sie aufzugeben. Weil sie die Trennung beider voraussetzt. Aber es gibt keine Vitalität als dunkle Begierde oder Sehnsucht. Diese Mythologie drückt nicht die reale Situation aus. Es gibt nur Leben oder Seele oder Sich-selbstHaben, das sich hat in der Weise des Gerichtetseins auf Objektivität oder als das Haben von Intentionalität. Aber das Problem ist 1., dass die Intentionalität verschiedene Inhalte hat, 2., dass es die Möglichkeit gibt, die Intentionalität den Es-Mächten auszuliefern, 3., dass es die Möglichkeit gibt … Röm 8,1-17.

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5. Worte wie „selbstsüchtig“ oder „Egoismus“ drücken sehr klar den Doppelcharakter dieser Situation aus: Es gehört zum Wesen des Selbst, selbstsüchtig zu sein, und zum Wesen des Ich, egoistisch zu sein, wie es auch zum Wesen des Faulen gehört, faul zu sein, und des Mystikers, Mystik zu erleben. Die Sprache verbindet jedoch mit „selbstsüchtig“ und „Egoismus“ eine negative Bedeutung. Das natürliche Verhalten des Selbst und des Ich, an sich selbst interessiert zu sein; doch diese natürliche Tendenz trennt es von der Totalität und, da die Zugehörigkeit zur Totalität gleichzeitig das Wesen des Selbst und des Ich ist, verleugnet es sein Wesen, wenn es diese Tendenz unterstützt, und umgekehrt. Darum reagiert die Totalität, indem sie das Individuum, durch welches es eine Totalität, eine intentionale Welt ist, vernichtet. 6. Die Beziehung des Individuums zur Totalität umfasst drei Elemente. Erstens tendiert es dazu, selbst Totalität zu werden: Wille zur Macht. Das impliziert erstens die Selbstreproduktion, dann das unendliche Wachstum. Die Tendenz, absolute Macht zu werden, ohne seine Individualität aufzugeben. Zweitens tendiert es dazu, sich mit anderen Individuen zu vereinigen, um seine Isolierung zu überwinden. œrwj, Liebe, im vitalen und geistigen Sinne. Aber auch diese Tendenz kann den Charakter der Vereinigung haben, ohne die Beziehung zu seiner Individualität aufzugeben. Drittens gibt es die Tendenz, als Individuum zu verschwinden und in Totalität überzugehen, die Tendenz zur Selbstzerstörung. Auch diese Tendenz hat zwei mögliche Qualitäten: die Selbstzerstörung durch Unterwerfung unter die Totalität (Opfer, vital und geistig) und die Selbstzerstörung, um seine Individualität zu bewahren (Selbstmord). 7. Das Tier ist beschränkt auf eine begrenzte Totalität, seine Umgebung. Aber in ihm herrscht dieselbe Spannung: das Wachstum durch den Willen zur Macht, die Eroberung von allem, was die Qualität seiner Umgebung hat; die Identifikation mit anderen Individuen, um seine eigene Individualität zu überwinden. Tendenz zur Selbstzerstörung, um in die Totalität der Umgebung überzugehen. Aber weil die Totalität der Welt, die Intentionalität und die Entscheidung fehlen, ist dieser Prozess zwischen dem Individuum und der Umwelt nicht der Gefahr ausgesetzt, sein eigenes Wesen zu verlieren. Dies aber ist die Gefahr des Menschen. Er kann sein individuelles Wesen verlieren, weil er es gewinnen will.

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Dritter Teil: Die theologische Lehre vom Menschen I. A. 1. Das Problem der Individualität bildet den Übergang zur anthropologischen Grundlegung der Theologie. Die Individualität ist der Grund für die Endlichkeit jedes Seienden. Endlichkeit ist nicht von außen her zu verstehen; sie ist die innere Konstitution des Sich-selbstHabens. Sie bedeutet viel mehr als ein räumliches und zeitliches Ende. Sie ist eine Grundqualität,1 die bewirkt, dass Zeit und Raum für uns begrenzt sind.2 Das Verhältnis von Individualität und Endlichkeit. Das am stärksten individualisierte Sein hat sich selbst als begrenzt: der Mensch. Doch gleichzeitig hat sich dieses Sein als ein Sein, das unendliche Zeit und unendlichen Raum hat. Das heißt: Das Haben von Endlichkeit entspricht dem Haben von Unendlichkeit. Nur ein Individuum, das Unendlichkeit oder Welt hat, hat Endlichkeit. Endlichkeit ist eine Qualität des Habens von Unendlichkeit; die Qualität des aus der Unendlichkeit Herausgeworfen-Seins. Es ist ein paradoxer Charakter3. Wenn wir recht daran tun, diese Entsprechung zu betonen, dürfen wir nicht behaupten, dass das einfache Sich-selbst-Haben den Charakter der Endlichkeit haben kann. Endlichkeit ist keine allgemeingültige, sondern eine existentielle Kategorie unseres Uns-selbst-Habens. Folglich können wir im einfachen Sich-selbst-Haben weder von einem 1

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Folgt gestr.: die bewirkt, dass unser Zeit-Haben als ein Eine-endliche-ZeitHaben und unser Raum-Haben als ein Einen-endlichen-Raum-Haben diesen besonderen Charakter des Endes hat. Genau dieser Charakter ist unsere Existenz. Ms.: The problem of individuality forms a transition to the anthropological foundation of theology; individuality is reason for the finiteness of every being. Finiteness is not to be understood from outside, it is the inner constitution of the having oneself. It means much more than having an end in space and time. It means a basic quality through which our having temporal und spatial limits are effected. Ms.: The relation of individuality and finiteness. The most individualized being has itself as finite: Man. But at the same time this being has itself as having infinite time, space. That means: Having finiteness corresponds with having infinity. Only an individual, which has infinity or a world has finiteness. Finiteness is a quality of having infinity, the quality of being cast away from infinity. It is a paradoxical character.

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Endlichen noch von einem Unendlichen sprechen. Vielleicht können wir es als eingeschränkt oder als eine natürliche Einschränkung bezeichnen. Auch wir haben in vielen Situationen diese natürliche Einschränkung. In diesen Fällen sind Endlichkeit und Unendlichkeit nicht mehr gegenwärtig. Selbst die Endlichkeit verlangt nach einem Sein jenseits der konkreten Umgebung1. Die mit der Individualität gegebene Begrenzung ist die Voraussetzung der Endlichkeit, aber sie ist nicht die Endlichkeit selbst.2 2. Die Endlichkeit des Menschen ist das Konfrontiertsein mit seiner eigenen Unendlichkeit in der Weise, dass er als Individuum von ihr getrennt ist und als einer, der Intentionalität hat, unter dem Anspruch steht, Unendlichkeit zu haben. Wir könnten darum sagen: Die menschliche Endlichkeit ist des Menschen moralische Struktur oder des Menschen Fähigkeit, unbedingte Forderungen zu vernehmen. Jedes Element der menschlichen Endlichkeit ist mit dieser Situation angesichts seiner Unendlichkeit verbunden. Endlichkeit ist eine theologische Kategorie, und jede Analyse der menschlichen Existenz, die von seiner Endlichkeit ausgeht, ist eine theologische Analyse.3 3. Die menschliche Endlichkeit wird durch die Freiheit des Menschen wirklich. Seine Endlichkeit ist die Gefahr, die sich daraus ergibt, dass er sich nicht hat und doch sich finden muss: die Gefahr, sich zu verfehlen. Sich verfehlen heißt: nicht teilhaben am absoluten Sich-selbst-Haben, sondern das absolute Sich-selbst-Haben als Mittel benutzen, sich als Individuum zu haben.

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Ms.: If we are right in stressing this correspondence we may not assert, that the simply having oneself can have the character of finiteness. Finiteness is not a general but an existential category of our having oneself. Consequently in simply having oneself we can speak neither of finite nor of infinite; perhaps we can call it limitated, or natural limitation. We also have this natural limitation in many concrete situations. In these cases finiteness as well as infinity are not present. Even finiteness demands being beyond the concrete surroundings. Ms.: The limitation which is implied in individuality is the presupposition of finiteness; but it is not finiteness itself. Ms.: Human finiteness is being faced with man’s own infinity in such a way that he is separated from it as an individual and commanded to have it as having intentionality. Therefore we could say: human finiteness is human moral structure or man’s ability to receive unconditioned commandements. Every element of human finiteness is connected with this situation in face to his infinity. Finiteness as an theological category and every analysis of human existence from the point of view of his finiteness is a theological analysis.

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Wir müssen entscheiden über zwei Möglichkeiten; aber Entscheidung ist der Ausdruck unserer Totalität und der Elemente, die zu unserer Totalität gehören: Individualität und Unendlichkeit. Darum hat diese Entscheidung beide Elemente in sich. Wir müssen entscheiden, aber im Entscheiden drücken wir unsere Endlichkeit aus, das heißt die Tatsache, dass wir einerseits eine unendliche Welt und unbedingte Gebote haben und dass wir am absoluten Sichselbst-Haben nicht teilhaben. Folglich ist unsere Endlichkeit immer gleichzeitig unsere Freiheit und unsere Notwendigkeit.1 4. Unsere Endlichkeit ist wie folgt zu beschreiben: 4.1. Wir müssen sie beschreiben als eine Qualität des Sich-selbstHabens; und das heißt, es ist uns nicht erlaubt, in die objektivierenden und subjektivierenden Beschreibungen zurückzufallen. Nicht: 1. wir sind objektiv und 2. wir fühlen subjektiv, sondern wir müssen eine tiefere Schicht suchen, die gemäß dem Charakter unserer Sprache manchmal stärker objektiv und manchmal stärker subjektiv klingt, wobei das subjektive Element stärker ist. 4.2. Da wir eine Beschreibung der Endlichkeit im Kontrast zu unserer gebotenen Teilhabe am absoluten Sich-selbst-Haben geben müssen, müssen wir vor allem eine negative Beschreibung geben, aber gleichzeitig die Tendenz des Sich-selbst-Habens in dieser Endlichkeit oder des Auf-sich-Nehmens dieser Endlichkeit beschreiben; doch das Negative ist die Grundlage. 5. Es gibt drei Themen und ein Thema. Drei handeln von unserer Endlichkeit hinsichtlich der drei Modi der Zeit: Sich empfangen haben als endlich: Vergangenheit; sich behaupten müssen in seiner Endlichkeit: Gegenwart (einschließlich des Raumes); sich lösen müssen: Zukunft. Und das erste, das für alle drei entscheidend ist: Sich haben als sich verfehlend. Endlichkeit und Schuld, das zentrale Problem. 1

Ms.: Human finiteness becomes real through human freedom. Its finiteness is the danger implied in not having and having to find oneself: The danger of missing oneself. Missing oneself means not participating in the absolute having oneself, but using the absolute having as means of individually having oneself. – We have to decide about these two qualities; but decision is the expression of our totality and the elements which belong to our totality: individuality and infinity; therefore this decision has in itself both elements; we have to decide; but in deciding we express our finiteness, that is our having an infinite world and unconditioned commandements on the one hand and our not participating in the absolutely having oneself. Consequently our finiteness is always at the same time our freedom and our necessity.

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B. 1. Wir haben uns als Uns-empfangen-Habende. Wir haben uns nicht durch uns selbst. Wir haben uns als Uns-gefunden-Habende. Irgendein strenges Schicksal hat uns die Verantwortung für uns selbst übertragen. Unsere Existenz ist für uns selbst kontingent, nicht notwendig. Wir sind in die Existenz geworfen; wir haben nicht darüber entschieden, wir hatten keine Wahl, weder über das Sein noch über das Nichtsein überhaupt, noch über unser Sein als dieses Individuum. 1.1. Das drückt sich vor allem darin aus, dass wir uns fremd sind. Es ist ein Abgrund von Dunkelheit in uns und für uns. Schauen wir in den Spiegel, so sehen wir dieses für uns Fremde unseres eigenen Gesichtes. Was geht mich dieser Mensch an?, drängt es uns zu fragen. Wir sind nicht identisch mit uns selbst, weil wir uns nicht absolut haben oder weil wir uns mit dem Auftrag empfangen haben, uns selbst vertraut zu werden durch unsere Identifikation mit unserem eigenen Wesen. 1.2. Die Fremdheit unserer Welt entspricht dieser Fremdheit unserer selbst. Es gibt auch Elemente der Vertrautheit in unserer Beziehung zur Welt. Dinge können sehr vertraut werden; aber es gibt immer wieder Momente, in denen wir die Fremdheit der uns höchst vertrauten Dinge spüren, in denen sie uns plötzlich fremd werden. Wir staunen, dass sie sind und wie sie sind. Ihre Kontingenz wird sichtbar. Wir können ihre Notwendigkeit nicht verstehen. Das schließt die fundamentale Unbegreiflichkeit unserer Welt und des Sinnes dieser Welt ein.1 Die Erkenntnistheorie hat dies oft betont; doch sie selbst ist höchst unfähig, den letzten Grund dafür anzugeben. Der Grund ist die menschliche Endlichkeit in diesem existentiellen Sinn, der darin besteht, Unendlichkeit zu haben und ein Individuum zu sein in der paradoxen oder tragischen oder schuldigen Situation, sich und seine Welt zu haben und doch nicht zu haben. Es ist nicht die Schwäche unseres Verstandes, es ist unsere existentielle Situation. Sie impliziert des weiteren unsere existentielle Verlegenheit. Wir können unser Leben nicht beherrschen. Weder von außen, weil hier die Kontingenz herrscht, noch von innen, weil wir uns der Kontingenz nicht anpassen können. 1

Ms.: That includes the foundamental incomprehensibility of our world and the meaning of this word [sic!].

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Der Charakter der Welt, nicht Heimat zu sein, und folglich das uns Ängstigende (das Unheimliche). Die Einsamkeit als das Kennzeichen unseres Individualität-Habens in der Form, eine Welt sich gegenüber zu haben und doch von der Identität mit ihr ausgeschlossen zu sein. Die existentielle Einsamkeit. 1.3. Der wichtigste Ausdruck für das Faktum, dass wir uns haben als Uns-empfangen-Habende, ist die Angst. Die Elemente der Angst: nicht die Objektivität der Furcht, aber eine Situation des Beunruhigtseins durch eine Drohung, die das Sich-selbst-Haben bedroht. Die Angst des Tieres wird nur durch konkrete Situationen hervorgerufen, die Angst des Menschen ist unendlich und sie betrifft die ganze Existenz, weil der Mensch eine Totalität seiner Existenz hat. Die Inhalte der Angst können nicht erklärt werden, sie können wechseln, aber die Grundangst bleibt. Sie ist eine Sache der Seele und sie ist real im Geist wie im Körper. Sie ist „Lebensangst“, nicht Sterbensangst, aber Angst, leben zu müssen und nicht leben zu können. Die Bedrohung kann nicht erklärt werden. 2.1./2.2. Die Methode der Begegnung mit der Angst: Fragen nach dem realen Objekt. Dieses Objekt ist gefährlich, es bedroht unsere Existenz; aber der Mut kann ihm begegnen. Und indem wir die Gefahr auf uns nehmen, können wir zeigen, dass unsere Individualität nicht unsere letztgültige Existenz ist. Mit dieser Möglichkeit ist die Angst überwunden. Der Mut, zu erkennen und zu handeln. Der Mensch ist das mutigste Tier. Die Schuld, die den Mut unterdrückt. 2.3.1. Die Vermeidung der eigenen Kontingenz und Einsamkeit durch die Einkehr in die Sphäre von jedermanns Reden, Denken und Handeln. Auf diese Weise werden Verlegenheit und Unbegreiflichkeit vermieden. Das „man“. Die Durchschnittsexistenz. Die Schuld, die zurück treibt zu sich selbst. 2.3.2. Der stärkste Mut ist der, sich selbst zu begegnen. Das Hin und Her des Begegnens und Fliehens. Die Unmöglichkeit, uns selbst wirklich auf uns selbst zu nehmen. Niemand kann dies. – Nietzsche, die Einsamkeit und der Wahnsinn. Die Schuld als Grund für die Unmöglichkeit, uns auf uns selbst zu nehmen. 2.3.3. Die im Mut enthaltene Angst. Die Skepsis im Denken und Handeln. Folglich der Wunsch nach Notwendigkeit und Überwindung der Kontingenz in der Notwendigkeit, die nur in der Totalität enthalten ist. 257

C. 1. Angst haben und Angst haben vor. Kontingenz als wirkliche Bedrohung. Die Kontingenz der Welt in Beziehung zu unserer Individualität; aber diese ist gleichzeitig unsere eigene Kontingenz. – Tiere kennen kein Risiko, denn sie kennen keine Notwendigkeit. 2. Krankheit; Körper und Seele. Das Sich-selbst-Haben als das Aufsichnehmen von Risiken als seine eigene Kontingenz. Verletztsein und Kranksein (Tier und Mensch). Unmöglichkeit, Gesundheit und Krankheit zu unterscheiden. Seine eigene Krankheit haben im Geist und im Körper. Krankheit als besonderer Charakter. 3.1. Der Wunsch nach Sicherheit. Die materielle Kultur, die mehr und mehr die Unsicherheit ausschließt und gleichzeitig eine neue Unsicherheit, die aus ihr selbst stammt, provoziert. Das Symbol einer wirklichen Ordnung. 3.2. Die neue Idee der Medizin. Der sich verändernde Altersaufbau. Das Gleichgewicht zwischen Krankheit und Gesundheit: Das Problem der Krankheit produzierenden Sinnlosigkeit und Schuld. 4.1. Der Heroismus als wirkliche Begegnung mit den Bedrohungen, um sie zu überwinden (im Verhältnis zum Willen zur Macht). Heroismus und Flucht. Heroismus und Schuld. (Das Bedürfnis nach Sicherheit im Heroismus: Die Regeln der Ehre) 4.2. Das Sich-dem-Zufall-Aussetzen. Anerkennung der Kontingenz, Ablehnung der allgemein üblichen Sicherheit. Flucht aus der Notwendigkeit; sich verfehlen und sich nur in der Kontingenz haben. 4.3. Das Sich-der-sozialen-Unsicherheit-Aussetzen (Liebe). Der Rest an Sicherheit für Geist und Körper. Das paradoxe Haben von Totalität durch Verachtung der bürgerlichen Sicherheit. Die Schuld der unkonventionellen Lebenshaltung. 5. Die Suche nach Gewissheit und die Methode von Dewey. Alle Sicherheit aufgeben zugunsten der transzendenten Sicherheit. Der radikal paradoxe Charakter dieser transzendenten Sicherheit. D. 1. Vergänglichkeit als eine Qualität des Zeit-, Raum- und OrdnungHabens. Melancholie ist nur möglich, wenn sie jenseits der Beschränkung ist und Endlichkeit hat. Aber wenn wir sie haben, schafft die Beschränkung, die uns mit allem verbindet, eine Melancholie über die allgemeine Vergänglichkeit.

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2. Sich-selbst-Haben als Fähigsein, vorzulaufen über die Grenzen der Zeit hinaus, ist die Voraussetzung der Erfahrung des Todes oder der Melancholie. Weil diese Möglichkeit zur Unmöglichkeit des Vorlaufens oder zur Unüberschreitbarkeit der Begrenzung führt. Vom Blickpunkt der Zeit aus gesehen, meint dies, dass wir jede Zukunft in Vergangenheit verwandeln können. Und wir tun dies in der Gegenwart. Gegenwart heißt Erfahrung. Vergangenheit anstelle der Zukunft heißt: auf der absoluten Grenze stehen. Die Erfahrung des Todes ist Leben und der dialektische Charakter der Melancholie, lebendig zu sein und das Leben zu fühlen und gleichzeitig zu sterben und den Tod zu fühlen. 3. Dieser Charakter macht Trost möglich. Zukunft wird Vergangenheit, aber sie wird in der Gegenwart Vergangenheit, und die Gegenwart bleibt. Melancholie geht über in konkrete Trauer als Angst in der Furcht. Trauer hat einen besonderen Gegenstand: Trauer über den Tod eines anderen, Trauer über den Abschied von Personen, Dingen und Situationen, Trauer über den eigenen frühen oder nahenden Tod. Trost durch dauernde Gegenwart, dauernde Erfahrung des Todes, in den das Leben eingeschlossen ist. 4. Das Schaffen einer kommenden Zukunft; Gegenwart eine neue Zukunft, die die Zukunft festhält und verhindert, dass sie Vergangenheit wird. Es ist möglich, die selbstsüchtige Zeit auszudehnen über den Tod hinaus durch eine Mythologie des Unendlich-Zeit-Habens, doch das ist ein Widerspruch in sich selbst. 5. Das Gegenwart-Haben in der Erfahrung des Todes macht es möglich, Melancholie als Freude an der Melancholie zu haben. Das ist einer der Belege für den Todestrieb. Freude an der Melancholie ist Trost. 6. Der Trost durch heroische Zurückweisung des Trostes. Die Paradoxie des Stoizismus. Die Macht der Vernichtung seiner eigenen Zukunft als Grundlage des Trostes. In der Zustimmung zu dieser Vernichtung ist man jenseits seiner eigenen Zukunft, doch ohne Hoffnung. 7. Die Angst vor dem Tod enthält zwei Elemente: die Furcht vor dem Sterben, die nicht wie jedes andere Leiden durch Mut überwunden werden kann, und die Angst, unmittelbar angegriffen zu werden durch das Nichtsein. In dieser Situation überwindet die tierische 259

Angst den Tod als Tod; nur in Momenten jenseits tierischer Angst haben wir Melancholie und Trost. 8. Die Grenze des Trostes ist die Schuld; Schuld zerstört den Heroismus und die Freude an der Melancholie und dauernde Gegenwart, weil das Sterbenmüssen der Selbstzerstörung durch Schuld entspricht. Wir müssen sterben, das heißt: Wir müssen sterben durch uns selbst, durch Freiheit und Schuld. „Der Tod ist der Sünde Sold.“1 E. Verzweiflung und Schuld. 1. Das Wort „despair“ bedeutet: ohne Hoffnung. Näher dem deutschen Wort „Verzweiflung“ ist das Wort „doubt“: gespalten in zwei. „Despair“: gespalten in zwei für immer oder ohne Hoffnung. Warum ohne Hoffnung? Weil Freiheit und Notwendigkeit zusammen gehören. Gäbe es nur Freiheit, könnte sie durch Freiheit verändert werden. Allein die Notwendigkeit kann die Spaltung nicht hervorrufen. Aber die Freiheit enthält die Möglichkeit, sich zu widersprechen. Notwendigkeit verfestigt diese Spaltung. Das Schicksal des Schuldigwerdens. 2. Sein eigenes Gutes verfehlen infolge der Trennung von der Totalität. Freiheit und Notwendigkeit im Sich-Verfehlen. Die Spaltung in Körper und Geist und das Verhältnis von Krankheit und Verzweiflung. Sei eigenes Gutes = seine eigene Essenz, Vollkommenheit, Einheit in Vielfalt, darum Spaltung. 3. Verzweiflung und Irrtum. 3.1. Seine eigene Wahrheit haben müssen. Sie in unvollkommener Erkenntnis und methodologischem Zweifel haben. 3.2. Das Problem des schuldhaften Irrtums (Häresie). Das Getrenntsein von seiner eigenen Wahrheit als Freiheit und Schicksal. 3.3. Der existentielle Zweifel als Zweifel an sich selbst und an seiner Fähigkeit, die Wahrheit zu haben. Nicht wagen zu behaupten. Die Selbstenthaltung (™poc»). Der zweite Grad der Verzweiflung. 4. Verzweiflung und Sinnverlust. 4.1. Der verbleibende Sinn in Schuld und existentiellem Zweifel: Das Gute und die Wahrheit als unbedingte Forderung. Der dritte Grad der Verzweiflung: den Grund für die Verzweiflung verlieren, ohne die Verzweiflung zu verlieren. 1

Röm 6,23.

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4.2. Leere als Diskrepanz zwischen unserer wesentlichen Gutheit und Wahrheit und der wirklichen Kontingenz unserer Existenz. Diese Leere ist schuldhaft, aber schuldhaft infolge des Leugnens der Schuld, und sie ist Irrtum, aber Irrtum infolge des Leugnens des Irrtums. 4.3. Langeweile ist das Zeit- und Raum-Haben in willkürlicher Fülle, der Mangel an Notwendigkeit im Gefühl. Nur unbedingte Inhalte. Darum ein Vorwärtsgehen zu anderen unbedingten Inhalten ohne Ende. Die Grundverzweiflung in der Langeweile. 4.4. Sinnlosigkeit infolge einer rein technischen oder rein ästhetischen Haltung = Mittel und Zwecke ohne Sinn; oder Eindrücke ohne Forderungen. Die Verzweiflung der Sinnlosigkeit oder des Vernehmens keiner Forderung aus seinem eigenen Wesen. Existenz ohne Beziehung zur Essenz. Endlichkeit durch Leugnung der Beziehung zur Unendlichkeit. 5. 5.1. Moralismus als Versuch, der Schuld zu entkommen 5.1.1. Verzweiflung ist wirklich in den hoffnungslosen Versuchen, ihr zu entkommen. Zwei Möglichkeiten: sich als geeint zu gewinnen oder sich vollkommen zu verlieren; in beiden Fällen ist die Verzweiflung vergangen. 5.1.2. Der erste Weg ist der Versuch, sein eigenes Gutes durch Aktivitäten zu verwirklichen, die das Element der Notwendigkeit in der Schuld leugnen. Der individuelle und soziale Moralismus als der Versuch, auf der Basis individueller Existenz die Kategorien und Formen der Essenz zu realisieren. Die Verzweiflung im Moralismus wird sichtbar als Trennung oder Pharisäismus (oder Puritanismus oder bürgerlicher Konventionalismus). Trennung von den getrennten Individuen. Die paradoxe Unmittelbarkeit des Pharisäismus: schuldig werden, weil Realität und Gesetz getrennt werden; die konkrete Entscheidung enthält gut und böse. 5.2. Rationalismus = Moralismus im Denken. Die Flucht ins Allgemeine. Die Furcht vor der Entscheidung, die immer konkret ist und Irrtum hervorbringt. Sich selbst verwirklichen mit allgemeinen rationalen Notwendigkeiten, die die Spaltung zwischen unserer Wahrheit und unserer konkreten Existenz zeigen. 5.3. Aktivismus = Aktivität ohne unbedingte Forderung: die scheinbare Notwendigkeit und der wirklich willkürliche Charakter. Der Zirkel von Mitteln und Zielen.

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6. 6.1. Selbstmord. 6.1.1. Die Selbstzerstörung als Mittel zur Flucht vor der Verzweiflung. Der bewusste Selbstmord als ein letzter Fall einer immer wirksamen Tendenz, sich selbst durch Zerstörung seines Geistes oder seines Körpers zu verlieren. 6.1.2. Die Selbstzerstörung durch Krankheit. Die Vorbereitung von Unfällen durch die innere Spaltung von Körper und Geist. 6.1.3. Körper und Geist können die Seele nicht zerstören, weil sie keine unabhängigen Realitäten sind. Darum kann die Verzweiflung nicht beseitigt werden; Verzweiflung und Schuld sind, indem sie den Tod zum Tod machen, gleichzeitig jenseits des Todes; sie gehören zu unserer Unendlichkeit. (Aber das bedeutet keine Dauer unserer Trennung nach dem Tode.) 6.2. Askese, Libertinismus, Vitalismus 6.2.1. Leugnung der Tendenzen zur Selbstverwirklichung durch Willen zur Macht, Liebe und Zerstörung; nicht nur Körper, sondern auch Geist; aber manchmal nur Opferung des Körpers, dann Wille zur Macht gegen Liebe; oder Selbstzerstörung gegen beide.

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3.7 Die Lehre vom Menschen1 (Vorlesung an der Yale Divinity School, Yale University, New Haven, April 1935)

I. Die Lehre vom Menschen und die wissenschaftliche Erkenntnis von heute Einleitung Die Absicht dieser Vorlesungen ist eine doppelte. Sie wollen erstens die Entstehung einer neuen Einstellung auf vielen Gebieten der Wissenschaft beschreiben. Sie wollen sodann die Bedeutung dieser Tatsache für die Theologie aufzeigen. Nicht eine neue Wissenschaft, vielleicht Sozialwissenschaft, ist im Entstehen, sondern eine neue Einstellung in vielen Wissenschaften.2 Ausdruck dieser neuen Einstellung ist die Entstehung einer Lehre vom Menschen mit Hilfe der Wissenschaft in allen ihren Bereichen und als neue Grundlegung jedes Bereichs. Diese Behauptung impliziert die Idee, dass die Lehre vom Menschen im Zentrum der gegenwärtigen Philosophie steht, in dem alle ihre Elemente zusammenkommen müssen und von dem aus sie in alle Richtungen ausstrahlen. Die erste Vorlesung handelt darum von dieser neuen, zur Konzeption einer Lehre vom Menschen hinführenden Einstellung in Wissenschaft und Philosophie. Die zweite und dritte Vorlesung bietet einen Überblick über diese Konzeption einer Lehre vom Menschen, ausgehend von den beiden wichtigsten Gesichtspunkten, der menschlichen Freiheit und der menschlichen Endlichkeit. Die Endlichkeit kann bereits als eine theologische Kategorie verstanden werden oder als der Punkt, in dem die Philosophie in sich selbst Theologie ist. Die letzte Vorlesung handelt von den besonderen Konsequenzen dieses Zugangs für die grundlegenden Lehren der christlichen Theologie. 1

2

Im Vorlesungsmanuskript findet sich nur die Überschrift „Yale Lectures“. Vgl. aber Tillichs Bericht über die Yale Lectures im Rundbrief vom 17. April 1935 (EW V, 226f.). Folgt gestr.: und auch in der Philosophie. Es ist die Aufgabe der ersten Vorlesung, diese Behauptung zu belegen.

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Lehre vom Menschen meint wörtlich dasselbe wie „anthropology“, doch in Wirklichkeit viel mehr. „Anthropology“ ist eine spezielle Wissenschaft, sie gehört zu den Sozialwissenschaften. Sie handelt vom Menschen als einem interessanten Phänomen auf der Erde, das diese prägt und verändert. „Anthropology“ ist darum sozusagen eine geographische Lehre vom Menschen, ein Übergang von der Zoologie zur Ethnologie und Geschichte. Die Usurpation des Wortes „Anthropologie“ durch diese spezielle Wissenschaft (weniger in Deutschland als in diesem Land) drückt eine bestimmte dogmatische Voraussetzung aus: nämlich dass der Mensch hinreichend charakterisiert sei als ein bestimmtes Stadium der natürlichen Entwicklung. Die Terminologie offenbart das naturalistische Dogma in der Interpretation des Menschen. Aber gerade das ist das Problem, oder die Ablehnung dieser Voraussetzung ist eine der Implikationen der neuen Einstellung. Auch wenn ich das Wort „Anthropologie“ in meiner Vorlesung nicht verwenden kann, wage ich es, das Adjektiv „anthropologisch“ zu gebrauchen, denn es gibt kein anderes Wort, das geeignet wäre. 1. Der ganze Bereich der Wissenschaften umfasst erstens reine und generalisierende Wissenschaften, zweitens reine und individualisierende Wissenschaften, drittens angewandte, mehr generalisierende oder mehr individualisierende Wissenschaften. Der erste Teil handelt von allgemeinen Gesetzen, Strukturen und Normen; der zweite handelt von historischen Beschreibungen, der dritte von Zielen und Mitteln. Die Frage nach einer Lehre vom Menschen findet sich in allen drei Teilen. Am drängendsten wird nach dem Menschen in den angewandten Wissenschaften gefragt, vor allem in der Medizin unter Führung der Psychiatrie und in der Politischen Wissenschaft unter Führung der Sozialökonomie.1 Beide leisten sehr wichtige Beiträge zur Entstehung einer anthropologischen Einstellung in den reinen Wissenschaften. Diese sind natürlich entscheidend, vor allem ihr generalisierender Teil, weil „der Mensch“ ein allgemeiner Begriff ist, während der individualisierende Teil, insbesondere die Geschichte, 1

Zu Tillichs Begriff „Sozialökonomie“ (anstelle der damals gebräuchlichen Bezeichnung „Nationalökonomie“) vgl. seine Ausführungen im „System der Wissenschaften“, GW I, 189.

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sich in einer Spannung zur Lehre vom Menschen befindet, worauf wir später noch zu sprechen kommen. Zunächst die reinen und generalisierenden Wissenschaften. Die Situation kann am besten erklärt werden durch die Feststellung einer zentralen Gruppe, zu der Biologie, Psychologie, Soziologie, also die Lebenswissenschaften mit ihren konkreten Strukturen und Prozessen gehören. Beiderseits neben dieser zentralen Gruppe finden wir zwei Gruppen von Wissenschaften, die sich mit einigen Elementen beschäftigen, die von der Wirklichkeit, mit der sich die zentrale Gruppe beschäftigt, abstrahiert sind. Auf der einen Seite die Physik einschließlich all der Elemente, die durch mathematische oder quantitative Methoden erklärt werden. Auf der anderen Seite die Geisteswissenschaften, einschließlich all der Elemente, die sich auf Normen oder Werte beziehen. Beide Seiten-Gruppen beschäftigen sich mit Abstraktionen vom realen Leben, mit dem sich1 die zentrale Gruppe beschäftigt. Darum gibt es dort materialiter keinen Unterschied, wohl aber in den Methoden. In jeder Gruppe kann jeder Gegenstand behandelt werden. Steine umfassen physikalische und biologische Elemente, Tiere umfassen physikalische und soziologische Elemente. Werte sind mit chemischen und biologischen Veränderungen verbunden usw. Nicht die Gegenstände, sondern die Methoden müssen in jeder Einteilung der Wissenschaften entscheiden. Und nun ist meine These die, dass in der zentralen Gruppe eine klare Tendenz zu einer Lehre vom Menschen besteht als gemeinsame Basis zunächst der Biologie, Psychologie, Soziologie, dann mehr indirekt der gesamten Gruppe der reinen und generalisierenden Wissenschaften. Diese Einteilung als solche ist eine Konsequenz solcher Tendenzen. Denn das Verständnis der Physik und der Normen als Abstraktionen vom realen Leben ist ein Ausdruck der neuen Einstellung: der Tendenz nämlich, die Abstraktionen aus dem konkreten Leben abzuleiten und nicht zu versuchen, das konkrete Leben durch Abstraktionen aufzubauen. 2. Die Tendenz zu einer Lehre vom Menschen ist die Tendenz zur Einheit der drei Abteilungen der zentralen Gruppe: der Psychologie mit der Biologie auf der einen, mit der Soziologie auf der anderen Seite. Aber 1

Folgt gestr.: unmittelbar, insofern als es Leben ist.

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dieser Versuch impliziert zwei methodologische Voraussetzungen: erstens die Befreiung von der Knechtschaft der mathematischen Methode oder der Methoden der Abstraktion, zweitens die Entdeckung des einzigen Zugangs zur konkreten Existenz, den wir haben, nämlich unsere eigene Existenz. Wir haben in uns abstrakte Elemente jeder anderen Wirklichkeit, aber nicht deren Existenz, das, was sie in sich selbst und für sich selbst sind. Darum kann die konkrete Wissenschaft nur die Lehre vom Menschen sein. Methodologisch bedeutet dies: Wir wollen nicht nur beschreiben und erklären, wir wollen auch verstehen. Und Verstehen ist nur möglich, wenn es eine Art Identität von Subjekt und Objekt gibt: Wir verstehen nur eine Existenz unseres eigenen Charakters, jede andere nur, sofern es in ihr Elemente der Identität mit unserer eigenen gibt. Die Wendung zu dieser Einstellung kommt von der autonomen Entwicklung der zentralen Gruppe der Wissenschaften. In ihnen ist die Herrschaft der Abstraktion zusammengebrochen. Am bedeutsamsten ist die Entwicklung der Psychologie. In der Psychologie hatten wir die cartesianische Trennung des Körpers, der als Maschine betrachtet wird, und der Seele, die als Denken oder genauer als Bewusstsein betrachtet wird. Die Bewusstseinspsychologie als die Konsequenz dieser Trennung von Körper und Geist abstrahiert von der Totalität des Menschen. Sie verneint die Mitte zwischen Körper und Geist, welche nach der aristotelischen Tradition die Seele ist, das Prinzip des Lebens. Nun bleiben die äußeren Elemente erhalten, die Maschine des Körpers, die den Charakter der Ausdehnung hat, und die Maschine des Bewusstseins, die den Charakter des Denkens hat. Zwei rationale Stücke der Wirklichkeit, aber die Mitte fehlt. Zwei Abstraktionen, aus denen die Wirklichkeit sich zusammensetzen soll. Aber das ist nur durch ein Wunder möglich. So wurden drei verschiedene Formen des Wunders erfunden: erstens der Parallelismus: Gott handelt in jedem Moment, um zwischen Körper und Seele zu vermitteln. Eine Theorie, die viel wundersamer ist als jedes biblische Wunder. Zweitens der Materialismus. Die Idee, dass mechanische Notwendigkeit sinnvolles Denken hervorbringen kann. Hier ist das große Wunder die Geburt des Sinnes aus der Sinnlosigkeit. Eine Sache, die theoretisch so unwahrscheinlich ist, dass sie praktisch unmöglich ist. Drittens das spiritualistische Wunder. Der Geist schafft die Illusion eines unabhängigen Körpers. In all diesen Fällen finden wir den tiefen und verborgenen Irrationalismus des Rationalismus, den Glauben an Wunder, der der notwendige Schatten der Herrschaft der Abstraktion ist.

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Im Gegensatz zu diesen Theorien finden wir in der gegenwärtigen wissenschaftlichen Arbeit viele Tendenzen. Erstens beziehe ich mich auf den Behaviourismus, insofern als er jede metaphysische Voraussetzung ablehnt und eine reine Beschreibung versucht. Er will weder erklären noch verstehen, sondern nur beschreiben. Dennoch hält er an einer Abstraktion fest: an der Trennung zwischen Sinn und Verhalten. Darum kann er keine Lehre vom Menschen aufstellen. Zweitens beziehe ich mich auf die Psychoanalyse, die versucht, das Bewusstsein durch ein neues Prinzip zu ergänzen, welches weder Körper noch Geist ist, nämlich das Unbewusste als ein Symbol für eine Wirklichkeit mitten in den Abstraktionen (das Unbewusste herrscht über das Bewusstsein). Trotz ihrer großen Bedeutung bietet die Psychoanalyse keine befriedigende Erklärung des Charakters des Unbewussten und dessen Beziehung zum Bewusstsein. Sie hält an einer mechanistischen Voraussetzung fest. Darum erfindet sie das Wunder einer sinnvollen Zensur, durch die der Trieb sublimiert und in Werte umgewandelt wird. Die Psychoanalyse ist der Versuch einer Lehre vom Menschen, aber sie kann sie nicht schaffen. Drittens nenne ich die Gestalttheorie als einen Versuch, die Ganzheit des Menschen vor aller Spaltung zu finden. Sinn ist für diese Theorie eine Voraussetzung, nicht eine Folge des Lebens. Geist und Körper sind Elemente einer unteilbaren Gestalt, einer lebendigen Struktur: Sinntragende Ganzheit ist eine Kategorie, die eine Lehre vom Menschen impliziert. Aber auch die Gestalttheorie allein genügt nicht, sie kann die Widersprüche innerhalb der Ganzheit, die die Psychoanalyse zeigt, nicht erklären. Wir stehen jetzt vor der Situation, dass eine reine Psychologie keine mögliche Aufgabe ist, denn sie arbeitet mit einer Abstraktion, die die wirkliche Erkenntnis des Bewusstseins und des Unbewussten verhindert. Psychologie muss ein Element innerhalb einer allgemeinen Lehre vom Menschen werden. Oder die Lehre vom Menschen muss der Hauptgesichtspunkt der Psychologie werden. 3. Die Biologie war eine mechanistische Erklärung der Körper, und auch sie musste ein Wunder annehmen, nämlich die Entstehung einer sinnvollen Kooperation eines jeden Teils mit jedem anderen aus sinnlosen und unabhängigen Notwendigkeiten. Um dieses Wunder abzumil-

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dern, führte die Theorie des Vitalismus eine mystische Lebenskraft ein, die den sinnlosen Mechanismus sinnvoll determiniert. Die Gestalttheorie macht den ersten Fortschritt, indem sie die mechanistische Unabhängigkeit der einzelnen Teile und Prozesse bestreitet. Sie behauptet eine allgemeine Interdependenz, die durch die Mitte oder Ganzheit bestimmt wird. Aber die Gestalttheorie zeigt nicht klar genug die Art und Weise dieser Bestimmung durch die Ganzheit. Sie erklärt nicht die Spontaneität, die zur Ganzheit gehört. Und das ist der entscheidende Fortschritt der neuesten Entwicklung der Biologie: Sie zeigt dieses Element der Spontaneität oder Freiheit. Der Hauptgesichtspunkt ist die Reiz-Reaktions-Lehre. Wir müssen die mechanistische Interpretation des Verhältnisses der beiden zueinander ablehnen. Wir müssen sie durch die Interpretation im Sinne der Spontaneität ersetzen. Es gibt in der Reaktion ein schöpferisches Element; bereits die Qualität des Reizes hängt von der Ganzheit ab, die die Reaktion auslöst. Mechanismus ist eine Realität nur in den Fällen natürlicher oder künstlicher Isolierung der Teile, er kann niemals die Norm für wirkliches Verhalten sein. Die Biologie hat in dieser Weise die Elemente von Sinn und Spontaneität ausgearbeitet. Beide Kategorien sind nur unter einem anthropologischen Gesichtspunkt verständlich: Sinn und Spontaneität sind innere Erfahrungen des Menschen. Dass der Mensch eine sinnvolle Welt hat und dass er Freiheit der Entscheidung hat, sind die einzigen konkreten Formen, in denen wir sie1 in einer realen Erfahrung haben. Spontaneität kann nur verstanden werden als2 ein Element oder als ein Grad der Freiheit; Sinn nur3 durch die Analogie einer sinnvollen Welt. Folglich verbindet sich die Biologie mit der Psychologie, um das Leben als sinnvoll und spontan zu verstehen. Und sie verbinden sich darin, dass sie eine Lehre vom Menschen schaffen, in der die cartesianische Trennung von Leib und Geist überwunden ist (J. v. Uexküll, Goldstein, Gelb, Scheler – ich selbst) und in der beide, die Gestalttheorie und die Psychoanalyse, gleichzeitig gebraucht und verändert werden.

1 2 3

Gemeint: Sinn und Spontaneität Folgt gestr.: eine unbewusste Form der Freiheit Folgt gestr.: als eine unbewusste Form der Intentionalität

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4. Die cartesianische Abstraktion führte zur Isolierung des vernünftigen Individuums und seine Trennung von der sozialen Gruppe. Folglich wird ein neues Wunder nötig: das Wunder einer prästabilierten Harmonie zwischen den Individuen, oder in der späteren Entwicklung erfand der Naturalismus das Wunder, dass die kontingenten Tendenzen jedes Individuums ein sinnvolles soziales Leben und ein System kultureller Gehalte und Werte schaffen. Wie die Psychoanalyse das Wunder einer rationalen Harmonie des individuellen Lebens bekämpfte, so bekämpfte die Gesellschaftsanalyse, angetrieben durch Marx, das Wunder einer rationalen Harmonie des sozialen Lebens. Die widersprüchlichen Tendenzen unseres Unbewussten entsprechen den widersprüchlichen Tendenzen der sozialen Klassen, sozusagen dem Unbewussten des sozialen Lebens. Entsprechend dem Trieb, wie Freud lehrte, produziert das Interesse, wie Marx behauptet, die ganze Ideologie. Und nun bleibt dasselbe Wunder: Wie kann das Interesse in soziale und moralische Werte umgewandelt werden? Das ist natürlich ein anthropologisches Problem: Was ist Gruppen-Interesse und was ist Gruppen-Ideologie? Die französische Soziologie hat die Unabhängigkeit und den wirklichen Charakter des primitiven Gruppenbewusstseins gezeigt, die vergleichsweise späte Entstehung des individuellen Denkens und die besondere Logik des Gruppenbewusstseins. Die modernen Untersuchungen zur Massenpsychologie haben ihre Unabhängigkeit von der Individualpsychologie gezeigt. Und schließlich war der wichtigste Schritt die Kombination der Lehre vom Unbewussten mit der Einsicht in den Charakter des Gruppenbewusstseins, nämlich durch C. G. Jung und seine Analyse des kollektiven Unbewussten. Auf diese Weise haben sich Psychologie und Soziologie in einer Lehre vom Menschen getroffen, die die Analyse der individuellen Einstellung und der von Gruppen miteinander verbindet, ohne eine wirkliche Trennung zuzulassen. Und beide treffen sich mit der Biologie in der Analyse der gruppenbiologischen Phänomene wie Rasse, Vererbung und biologische Veränderung der sozialen Gruppen. Auch in diesem Falle haben die praktischen Notwendigkeiten der Medizin und Politik die dringende Frage nach einer Lehre vom Menschen gestellt (Deutschland). Die Kombination all dieser Elemente führte zur Entstehung einer Lehre vom Menschen vom Gesichtspunkt der biologischen Entwick-

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lung in Kombination mit den Forschungen zur Vorgeschichte: die Idee, dass die übermäßige Ausbildung des menschlichen Intellekts ein Verlust der natürlichen Kräfte ist und die Menschheit in einen notwendigen Untergang führt. Der Mensch ist sozusagen ein Abfall des Lebens von sich selbst, eine Sünde der Natur mit tragischen Konsequenzen für das Leben und die Natur (Klages1, Dacqué2). Ich nenne diese als Symbole für den radikalen Standpunkt, der die ganze zentrale Gruppe der Wissenschaften umfasst und eine positive Lehre vom Menschen unumgänglich macht. 5. Die Bewegungen in der zentralen Gruppe der reinen und generalisierenden Wissenschaften werden von Bewegungen in den anderen Gruppen dieses Teils begleitet. Eine Lehre von den Werten und Normen, die das Leben in einer Weise transzendieren, dass sie zeitlos und unveränderlich sind, kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Die Beziehung der Geltung zur individuellen und sozialen Existenz ist offenkundig geworden. Die Lehren von der Sublimierung und der Ideologie haben den Glauben an das ewige und abstrakte Reich der Werte unmöglich gemacht. Auf der anderen Seite transzendiert der Wert per definitionem das Leben. So haben wir große Spannungen in der Moral, der Logik, der Ästhetik, im Recht usw., wenn man das Verhältnis von Immanenz und Transzendenz der Werte in Bezug auf das Leben betrachtet. In den wissenschaftlichen Arbeiten zur Kunst und Dichtung, zu Moral und Recht, zu den philosophischen und religiösen Ideen ist eine große Unsicherheit entstanden: Was ist Sublimierung oder Ideologie, was ist Wahrheit? Darum wird dringend nach einer Lehre vom Menschen gefragt, in der dieser Beziehung nachgegangen wird. Auf der anderen Seite haben wir die mathematischen Abstraktionen. Ich nenne drei Punkte, in denen die Veränderung sichtbar und der abstrakte Charakter des cartesianischen physikalischen Ideals klar erkennbar ist: Erstens die Lehre von den [zeit]unabhängigen physi1

2

Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Bd. 1–3,2, Leipzig 1929-32. Edgar Dacqué, Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorische-metaphysische Studie, München/Berlin 1924; ders., Natur und Seele. Ein Beitrag zur magischen Weltlehre, München/Berlin 1926, 2. Aufl. 1927; ders., Leben als Symbol. Metaphysik einer Entwicklungslehre, München/Berlin 1928.

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kalischen Strukturen, den so genannten „physischen Gestalten“1, die ein Element der Beziehung zu sich selbst oder ein Sinnelement haben; zweitens die Lehre von den Quanten und ihrer irrationalen Produktion, die ein Element der Spontaneität in den kleinsten Teilen der Materie enthält, drittens die Lehre von der wechselseitigen Abhängigkeit von Subjekt und Objekt in der Physik, die die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Objektivität ohne Subjektivität enthält. Die Erkenntnis ist eine existentielle Beziehung zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten, in der beide verändert werden. So verweist sogar die Physik auf eine Lehre vom Menschen. 6. Ich sprach von den dringlichen Fragen der angewandten Wissenschaften nach einer Lehre vom Menschen. Ein paar Worte mehr darüber. Die Medizin befasst sich mehr und mehr mit der Ganzheit des Menschen einschließlich der psychologischen Seite jeder Krankheit und der sozialen Beziehung des Kranken zu denen, die ihn heilen einschließlich des Arztes. Das Heilen enthält diese drei Elemente, die der zentralen Gruppe der Wissenschaften entsprechen, nämlich das biologische, das physikalische und das soziologische Element, jedoch in der Einheit einer Lehre vom Menschen. Auf dieselbe Weise stellen die Politische Wissenschaft und die Sozialwissenschaft die Frage nach einer Lehre vom Menschen. Die Ökonomie schuf die Abstraktion des homo oeconomicus. Er ist eine reine Abstraktion, die ein einziges Element nimmt und die Beziehung der ökonomischen Tendenzen zu den anderen in verschiedenen Individuen und sozialen Situationen vernachlässigt. Es entstand nun das Problem, ob die ökonomischen Vorteile eines gewissen Wirtschaftssystems dem Leid, das durch dieses System geschaffen wird, gleichwertig sind. Nur eine Lehre vom Menschen kann darauf antworten, also die Frage menschlicher Bedürfnisse und realer Interessen. Die Psychologie und Soziologie der Klassen setzen eine allgemeine Lehre vom Menschen voraus, um die Möglichkeiten, die in der Tiefe der Gruppen, Klassen, Nationen, der Menschheit liegen, verstehen und beurteilen zu können. Die Probleme des Willens zur Macht, der militaristischen und der pazifistischen Haltung, des Utopismus 1

Vgl. Wolfgang Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand. Eine naturphilosophische Untersuchung, Erlangen 1924.

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und des Realismus, des möglichen Fortschritts, all diese Fragen sind Fragen für eine Lehre vom Menschen. Auch die gegenwärtigen politischen Tatsachen unterstreichen die dringliche Frage: die Veränderungen im Charakter des Menschen in vielen Völkern, das Erscheinen einer neuen Generation mit absolut anderen Vorurteilen, Absichten und Einstellungen zum Leben. – Weiterhin die wachsende Intensität der Beziehungen der westlichen und östlichen Menschheit; das Problem der Einheit der Menschheit; die Erfahrung einer Kluft zwischen unterschiedlichen Typen usw., z. B. die Ausbreitung des Kommunismus und Nationalismus in Asien; das Problem der christlichen Mission als ein Problem der Lehre vom Menschen. 7. Diese zuletzt genannten Fragen führen zu einer sehr grundlegenden Frage einer Lehre vom Menschen. Ich meine den Widerstand, der aus dem zweiten Teil der reinen Wissenschaften, aus der Geschichte, gegen diese Aufgabe kommt. Die Geschichte behauptet, dass es keinen allgemeinen Charakter des Menschen gibt, dass der Mensch sich in jedem Moment, in jeder einzelnen Periode, Gruppe und in jedem einzelnen Individuum verändert. Außerdem: Eine Lehre vom Menschen ist eine sehr konservative Sache, sie trägt die Erfahrung der Vergangenheit zusammen, aber sie versperrt die Zukunft. Der revolutionäre Impuls aber widersetzt sich jeder Beschränkung der menschlichen Möglichkeiten. Wenn in der Vergangenheit Macht und Krieg unvermeidlich waren, warum sollte dies in der Zukunft auch so sein? Diese Fragen sind sehr ernst zu nehmen und sie sind zu einem großen Teil berechtigt, aber sie sprechen nicht gegen eine Lehre vom Menschen. Zunächst muss ein logisches Argument vorgebracht werden. Auch diese Leute, die so argumentieren, sprechen vom Menschen. Wenn dies kein leeres Wort ist, muss es einige identische Eigenschaften haben. Und zweitens, ein methodologisches Argument: Wir müssen jede geschichtliche Veränderung des Menschen ernst nehmen. Das ist aber nur möglich, wenn wir den Identitätspunkt voraussetzen, dass der Mensch Geschichte hat. Die Lehre vom Menschen handelt vom geschichtlichen Menschen. Wir kennen nicht den vorgeschichtlichen Menschen; wir wissen nicht, ob wir ihn Mensch nennen dürfen, aber ob wir ihm diesen Namen zuerkennen oder nicht, wir müssen

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mit einem klaren und eindeutigen Begriff des Menschen arbeiten, nämlich des geschichtlichen Menschen, der wir sind. – Und einen möglichen nachgeschichtlichen Menschen kennen wir nicht; vielleicht bewegen wir uns auf einen solchen Entwicklungszustand zu, in dem die Geschichte aufgehört hat. Vielleicht wird dies das Ende der Geschichte sein, aber wir wissen nicht, ob dieser nachgeschichtliche Mensch Mensch genannt werden kann, und wiederum um ihn so nennen zu können, müssen wir einen Begriff vom Menschen haben, des geschichtlichen Menschen, der wir sind. Die Lehre vom Menschen ist die Lehre vom geschichtlichen Menschen. Folglich ist eine der wichtigsten anthropologischen Fragen diese: Was heißt es, Geschichte zu haben? Was ist in einer solchen Möglichkeit enthalten? Auf diese Weise wird die Lehre vom Menschen äußerst wichtig auch für den historischen Teil wissenschaftlichen Arbeitens, wie umgekehrt die Geschichte das konkrete Material liefert, auf das keine Lehre vom Menschen verzichten kann. Der Widerspruch des historischen Denkens gegen eine allgemeine Lehre vom Menschen ist eine Warnung vor der großen Gefahr einer solchen Aufgabe: Dinge zu verallgemeinern, die nur individuell sind und nur einmal geschehen sind. Es gibt in jeder Lehre vom Menschen die Notwendigkeit einer geschichtlichen Selbstreflexion. Spreche ich von mir selbst, von meiner Gruppe, von meiner Zeit oder spreche ich vom Menschen als Menschen? 8. Die Philosophie muss die Prinzipien und Methoden der Erkenntnis in jedem Bereich der Wissenschaft erklären. Dabei sind Philosophie und Wissenschaft wechselseitig von einander abhängig; manchmal ist die Philosophie führend, manchmal eine bestimmte Wissenschaft, manchmal keine von beiden. Die Wende zu einer Lehre vom Menschen geschieht ohne eine besondere Führung, sie ist ein in jedem Gebiet des Wissens gleichzeitiges Ereignis, aber die Philosophie hat die letzten Gründe für diese Wende aufzuzeigen. Und die gegenwärtige Philosophie tut dies in einigen ihrer Richtungen. Der grundlegende Gesichtspunkt ist ein neuer Begriff der Wirklichkeit und der Methoden, Wirklichkeit zu erfassen. Das Modell und Muster für Wirklichkeit war das „Ding“. Ein Ding ist für die cartesianische Methode ein Stück der Wirklichkeit, das in jeder Hinsicht bedingt ist, wie die deutsche Sprache sehr klar zeigt: Das Ding

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ist das, was bedingt ist. Unter der Herrschaft dieses Modells konnte alles in der Welt als ein notwendiges Resultat gewisser Bedingungen berechnet werden. Die Physik erklärte die Gesetze dieser Bedingungen; Objektivität hat, was mit diesen Gesetzen übereinstimmt, Wirklichkeit ist berechenbare Objektivität. Auch Subjektivität hat Wirklichkeit nur insofern, als sie in ein objektives, berechenbares Ding mit eindeutigen Eigenschaften und Handlungen verwandelt werden kann: Psychologie als eine mathematische Lehre. Dies war die letzte Form der Selbstentfremdung des Menschen von sich selbst. Diese Selbstentfremdung geschah in verschiedenen Abstufungen. Lange Perioden der Entwicklung der Philosophie sind Entwicklungen dieser Selbstentfremdung des Menschen. Er schuf eine objektive Welt durch Abstraktionen von seiner eigenen Existenz. Auf diese Weise verlor er sozusagen seine eigene Existenz. Er erkannte sie nicht als die Grundlage und Quelle all seiner Abstraktionen. Im Gegenteil, er versuchte, sich selbst aus dieser Abstraktion wieder zusammenzusetzen, aber das Resultat war das Monster- und Wunderwesen, das wir gemalt haben. Er suchte nach sich selbst weit weg von sich selbst, in der Welt der Abstraktionen und berechenbaren Gegenstände. Aber er konnte sich in dieser Welt nicht finden; er hatte seine reale Existenz verlassen, um eine solche Welt aufzubauen. In der Selbstentfremdung suchte er vergebens nach sich selbst. Darum war in dieser philosophischen Einstellung eine Lehre vom Menschen nicht möglich. Wir sollten diese Selbstentfremdung nicht verdammen. Sie war der Weg zu unserer Erkenntnis der Dinge, insofern als sie Dinge sind, insofern als sie vollständig bedingt und berechenbar sind und folglich insofern als sie Mittel sein können für die Zwecke des Menschen. Die Schaffung unserer technischen Welt ist das Resultat dieser objektivierenden Methode, sie war die Ilias der wissenschaftlichen Erkenntnis des Menschen, durch die die Welt der Dinge erobert wurde. Aber der Ilias folge die Odyssee, die Rückkehr nach Hause und zu den Quellen der Macht der Eroberung. Und genau dies ist unsere Situation; der Mensch kehrt heim von seiner Selbstentfremdung zu sich selbst, wissenschaftlich gesprochen, zu einer Lehre vom Menschen, in der es um seine Existenz geht und nicht um die verschiedenen Abstraktionen von seiner Existenz. Die Lebensphilosophie, vor allem in der höchst eindrucksvollen Form Bergsons vom élan vital, hat gezeigt, dass die berechenbare Objektivität eine Abstraktion vom schöpferischen Leben ist, dass das

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Leben zur Zeit und zur Dauer gehört, während die Objektivität der Dinge zum Raum gehört und den Charakter der Starrheit hat. Die Art und Weise, das schöpferische Leben zu erfassen, ist die Selbstanschauung. Im Menschen finden wir beides, das schöpferische Leben und die starren Objektivationen. Für den Menschen ist der einzige Zugang zum Leben der Mensch; in jeder Philosophie des Lebens ist eine Lehre vom Menschen vorausgesetzt und gefordert (Scheler), aber wegen des bleibenden Dualismus von Vitalität und Intentionalität nicht verwirklicht. Auf dieselbe Weise hat sich die Phänomenologie der rein objektivierenden Haltung widersetzt. Sie hat eine Wende gefordert von der Objektivität zur Subjektivität, von den Dingen zu den Bedeutungen, von der Quantität zur Qualität, von der Reflexion zur Intuition. Die Forderung, die ganze objektive Welt einzuklammern, ist bezeichnend für die Wende im Denken. Aber die Subjektivität ist nicht der ganze Mensch, sie ist reines Bewusstsein, das keine reale Verbindung zur menschlichen Existenz hat. Schließlich versuchte die Existentialphilosophie, sich nur mit dem Menschen als existierendem zu befassen, mit seinem Für-sich-selbstSein; die Existentialphilosophie wollte keine Anthropologie, sie wollte eine Ontologie, aber sie spürte, dass sie nur einen einzigen Zugang zum Sein hatte, den Menschen. So erhielt die Ontologie den Charakter einer Lehre vom Menschen. Nicht die Dinge, nicht die Abstraktionen vom Wesen, sondern die konkreten Elemente menschlicher Existenz sind das Tor in die Welt und in die Beschaffenheit des Seins. Das Sein ist verstehbar in der Form des Existenz-Habens; und Existenz ist nur verstehbar als unsere eigene Existenz, das heißt in der Form einer existentiellen Lehre vom Menschen. Hier, in diesem Land, haben Männer wie William James und Alfred North Whitehead denselben Protest gegen das objektivierende Denken erhoben und sich einer Lehre vom Menschen als Zugang zu jedem Gebiet des Wissens genähert. II. [Von der Freiheit des Menschen] Einleitung Die Lehre vom Menschen ist erstens eine Lehre von der Freiheit des Menschen und zweitens – das ergibt sich aus dem ersten – ist sie eine Lehre von der Endlichkeit des Menschen. Lassen Sie mich

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einige Bemerkungen über das Verhältnis von Freiheit und Endlichkeit machen. Freiheit ist auf ihrer letzten Stufe die Freiheit, sich selbst zu verlieren;1 das ist die Gefahr der Freiheit, und es ist mehr als eine Gefahr, es ist eine Realität; es ist Schicksal und Schuld. Der Mensch ist durch seine Freiheit in der Lage, seiner eigenen wahren Natur, seinem eigenen Wesen2, zu widersprechen. Er ist in der Lage, eine Existenz zu haben, die seinem Wesen3 entgegengesetzt ist, und genau diese Existenz ist, was wir Endlichkeit nennen werden. Darum müssen wir uns zuerst mit der essentiellen Natur des Menschen befassen, das heißt mit der Freiheit des Menschen, aber weil die essentielle Natur des Menschen die Freiheit ist, müssen wir uns zweitens mit der dem Wesen des Menschen widersprechenden Existenz befassen, das heißt mit der Endlichkeit des Menschen. Nur im Menschen ist diese Dualität von Essenz und Existenz manifest, weil er allein diesen Grad von Freiheit hat, der ihn befähigt, seiner wahren Natur zu widersprechen. Das ist der Grund für den alten Mythos, in dem erzählt wird, dass des Menschen Fall die wirkliche Katastrophe für die ganze Natur ist. Ich hoffe, wir können eine anthropologische Interpretation dieses Mythos geben, durch die er für unser heutiges Denken verständlich wird. 1. Wir stellten fest, dass in der Biologie und Psychologie die Einsicht sich durchgesetzt hat, dass zu jedem Leben und letztlich auch zu jeder Wirklichkeit eine sinnvolle Einheit und Spontaneität gehören. Der Mensch hat die sinnvolle Einheit dergestalt, dass er ein bestimmtes Selbst und eine bestimmte Welt hat. Und demzufolge hat er Spontaneität dergestalt, dass er Freiheit hat. Das Haben eines Selbst und das Haben einer Welt gehören zusammen. Je bestimmter das Selbst, desto bestimmter die Welt und umgekehrt. Welt haben heißt eine Totalität haben, außerhalb der wir sein können, obgleich wir doch andererseits zu ihr gehören. Ohne die Möglichkeit einer radikalen Trennung von unserer eigenen Welt können wir keine Welt haben. Das Weltbewusstsein der Menschen ist umso höher, je mehr sie außerhalb alles dessen sein können, zu dem 1 2 3

Ms.: Freedom in its ultimate degree is freedom of loosing oneself. Ms.: essentiality Ms.: essence

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sie gehören. Oder mit anderen Worten, je mehr sie dem absoluten Nichts ins Auge blicken können, allein auf ihr absolutes und einsames Selbst gestellt. Diese Möglichkeit als eine reale innere Möglichkeit, als eine existentielle Haltung und nicht nur als eine intellektuelle Reflexion eröffnet das, was wir geistige Tiefe nennen. Aber im Prinzip hat jeder eine Welt als eine Totalität, die ihm gegenübersteht, jeder, den wir Mensch nennen. Das Selbst schließt eine Trennung von seiner Welt und eine gewisse Unabhängigkeit von ihrer Totalität ein. Ohne eine solche Trennung oder Individualisation gibt es keine Welt, weil es ohne sie kein Selbst gibt. Wir können paradox sagen: Welt wird Welt durch Trennung von ihr, durch Schaffung des Gegenteils von ihr, des Einzelnen und seiner Unabhängigkeit. Dies heißt, dass Welt ein relativer Begriff ist, relativ zum Selbst, das eine Welt hat. Die Welt ist nicht eine „big box“, in der alles zu finden ist, die Welt ist die Struktur oder Totalität, auf die ein Selbst als ein Selbst in doppelter Weise bezogen ist: indem es zu ihr gehört und indem es ihr gegenübersteht. Diese Interpretation wird in dem Wort „Kosmos“ (Ordnung, Schönheit) und in der Möglichkeit verschiedener „Kosmoi“ (Ordnungen, Systeme, Strukturen) angedeutet. Welt ist nicht eine feste, objektive, sondern eine auf ein Selbst bezogene Wirklichkeit. 2. Die Trennung oder Individualisation oder das Ein-unabhängigesSelbst-Werden vollzieht sich in drei Stufen. Die gemeinsame Eigenschaft jeder Stufe der Selbstwerdung ist eine Eigenschaft, die ich vorläufig als „Sich-selbst-Haben“ bezeichnen möchte. Wenn wir statt dessen sagen würden: „Selbst-Sein“ oder „Ein-unabhängigesEinzelnes-Sein“, würden wir eine bestimmte Bedeutung des Wortes „Sein“ voraussetzen; aber das Problem für uns ist: Was ist Sein, wenn es nicht nach dem Schema eines Dings oder eines ganz Bedingten zu beschreiben ist? Wenn, wie wir vom existentiellen Gesichtspunkt voraussetzen, der einzige Zugang zum Sein für den Menschen der Mensch ist, dann können wir das Wort „Sein“ nicht verwenden, um Sein erklären zu können. Darum verwende ich einen Ausdruck, der aus unserer inneren Erfahrung als ein Selbst abgeleitet ist; und diese Erfahrung ist die, dass wir uns selbst haben, dass wir einerseits von uns getrennt sind und andererseits mit uns identisch sind. Diese doppelte innere Beziehung, die das Selbst konstituiert, entspricht genau

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der doppelten äußeren Beziehung zu unserer Welt: sie sich gegenüber haben und gleichzeitig zu ihr gehören. Wie das Welt-Haben diese zweideutige äußere Beziehung ausdrückt, so drückt das Sich-selbstHaben die zweideutige innere Beziehung aus. Das Sich-selbst-Haben umfasst mehr als Selbstbewusstsein. Das Selbstbewusstsein hat natürlich dieselbe Struktur, aber wir vermuten, dass das Selbstbewusstsein nur ein Element, nicht die Totalität unserer Seele ist. Sich-selbst-Haben ist mehr als Sich-bewusst-Haben, es beschreibt die Totalität der menschlichen Natur. Die Struktur des Sich-selbst-Habens ist auch in unserem Unbewussten, in unserem Fühlen, in unserem Leibe wirksam. Das Sich-selbst-Haben impliziert den dynamischen Charakter unserer Natur: Sich-selbst-Haben, das heißt handeln an sich selbst, sich selbst ändern, über sich selbst entscheiden, fähig sein, sich selbst zu verlieren usw. So umfasst dieser Ausdruck die wesentlichen Elemente unserer Natur: die innere Zweideutigkeit,1 den dynamischen Charakter, die Freiheit und die Gefährdung unserer Existenz. Zudem kann dieser Ausdruck hilfreich sein auch für die Erklärung der konstanten Natur des Menschen, des Verhältnisses von Seele, Körper und Geist. Es ist klar, dass wir sie nicht als drei Teile von uns interpretieren können oder als zwei Teile, wenn wir Seele und Geist zusammennehmen, wie dies Descartes tut. Wir müssen feststellen, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, die wir Seele nennen oder Sich-selbst-Haben durch Welt-Haben. Diese eine Wirklichkeit, die Seele, griechisch „psyche“, Prinzip oder Macht des Lebens, hat zwei grundlegende Beziehungen. Die eine ist die Beziehung, die durch ihre Individualisation oder Trennung von der Totalität gegeben ist; es ist die Beziehung, die wir Einen-Körper-Haben nennen, das heißt einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort innerhalb der Totalität Haben. Unser Körper ist das Prinzip, als ein Selbst unabhängig zu sein von der Totalität, zu der wir gehören. Die Drohung, unseren Körper zu verlieren, ist die Drohung, unser unabhängiges Selbst zu verlieren. Darum gehören Körper und Scham zusammen. Die Hingabe des Körpers bedeutet die Hingabe des unabhängigen Selbst. Das ist möglich nur durch die Liebe, die uns von unserer Trennung befreit, weil sie das Prinzip der Einheit unseres getrennten unabhängigen Selbst mit der Totalität ist, die durch ein anderes unabhängiges Selbst vertreten wird. Darum 1

ambiguity

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kann die Liebe die Scham überwinden, weil sie das individuelle Selbst bewahrt, indem sie es in die Totalität hineinzieht. Umgekehrt, keine Liebe ohne den Körper: In jeder Liebe ist der Körper einbezogen, weil er das Prinzip des unabhängigen Selbst ist. Und Liebe, die das unabhängige Selbst leugnet, ist keine Liebe, sie ist die Ekstase des Todes. – Diese Feststellung zeigt eindeutig, dass der Körper nicht ein Teil des Menschen neben der Seele ist, sondern dass der Körper Seele im Sinne eines unabhängigen Selbst ist. Der Körper ist eine Qualität der Seele oder des Sich-selbst-Habens. Ebenso ist der Geist eine Beziehung des Sich-selbst-Habens, eine Beziehung zur Totalität als Totalität. Aber das wird erst nach einer weiteren Betrachtung verständlich. 3. Ich deutete an, dass es drei Stufen des Sich-selbst-Habens und folglich des Welt-Habens gibt. Wir wollen nun diese Stufen betrachten. Ich will sie unterscheiden als Sich-selbst-noch-nicht-Haben, Sich-selbsteinfach-Haben und Sich-selbst-ausdrücklich-Haben.1 Die Formel „Sich-selbst-noch-nicht-Haben“ hat folgende Implikation. Zuerst: Der Ausdruck „Sich-selbst-Haben“ wird gebraucht, jedoch mit der Einschränkung „noch nicht“. Wenn dieser Ausdruck gebraucht wird, meint er, dass wir alles im Lichte unserer eigenen Existenz verstehen müssen, nämlich im Lichte der Interpretation des Seins im Allgemeinen durch das Sich-selbst-Haben. Die einschränkenden Worte „noch nicht“ bedeuten, dass wir die so genannte anorganische Natur überhaupt nicht verstehen können. Die Art und Weise des Sich-selbstHabens in ihr ist uns so fremd, dass wir von einem Sich-selbst-nochnicht-Haben sprechen müssen. Sie widerspricht jeder Romantik und erklärt, weshalb wir mit Recht den anorganischen Bereich unserer Welt als einen Bereich von Dingen betrachten und dass wir ihn mit Recht als Mittel für unsere Zwecke in unsere Gewalt bringen, aber gleichzeitig können wir verstehen, dass dieser Abgrund zwischen der anorganischen Welt und uns zu unserer Endlichkeit gehört und als ständige Widerlegung einer idealistischen Weltbetrachtung dient. – Sich-selbst-noch-nicht-Haben impliziert noch nicht WeltHaben, sondern nur Umgebung-Haben; anorganische Dinge sind 1

Ms.: I would distinguish them as not yet having oneself, simply having oneself, and expressedly having oneself.

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objektiv umgeben ohne subjektive Beziehungen zur Umgebung. Aber das ist nicht absolut richtig; unsere Voraussetzung ist die Negation absoluter Dinge, aber es ist relativ und praktisch richtig und ist der Grund für unsere Gewohnheit, den anorganischen Bereich als einen Bereich von Dingen anzusehen. Die zweite Stufe ist das Sich-selbst-einfach-Haben. Sich-selbst-Haben, aber dieses Sich-selbst-Haben nicht haben, sondern Gebundensein an sich selbst und seine Natur.1 Es kann auf dieser Stufe Bewusstsein geben, aber nicht Selbstbewusstsein. Es kann eine Beziehung zu sich selbst geben, aber keine Distanz zu sich, keine Macht über sich, keine Möglichkeit, sich zu ändern. Ein Tier zum Beispiel scheint in jedem Moment identisch zu sein mit sich selbst ohne Distanz und Spaltung; es ist einfach identisch mit sich selbst. – Folglich ist im Falle des Sich-selbst-einfach-Habens eine Beziehung zu finden, die mehr ist als das Umgebung-Haben und weniger als das Welt-Haben. Wir nennen es Umwelt. Die Beziehung zur Umwelt ist nicht nur objektiv ohne ein sichtbares Element der Subjektivität; Umwelt impliziert eine gewisse Subjektivität der Beziehung, aber eine Beziehung, die begrenzt ist durch die gegebene Natur eines Individuums von der Art des Sich-selbst-einfach-Habens. (Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht von Pflanzen und Tieren sprechen, obgleich sie für diese Stufe charakteristisch sind. Aber erstens wissen wir nicht, ob Elemente dieses Typs sich im anorganischen Bereich finden, zweitens wissen wir nicht, wie weit in den Tieren ein Element des Sich-selbstausdrücklich-Habens vorhanden ist; drittens behaupten wir, dass es auch im Menschen Qualitäten des Sich-selbst-noch-nicht-Habens gibt. Unsere Stufen sind Stufen von Qualitäten, sie sind nur in einer sehr unbestimmten Weise Stufen lebendiger Wesen.) – Die Umwelt eines Tieres, insofern als es nur ein Sich-selbst-einfach-Habendes ist, ist begrenzt; nicht alles in einem bestimmten Raum, das den Charakter der Umwelt für ein bestimmtes Tier hat, hat ihn für ein anderes, es hängt von der Natur und Tätigkeit der Art ab. Umwelten sind Produkte einer unbewussten Wahl, durch die nur die wichtigen Elemente der objektiven Umgebung Umwelten werden. Zugvögel haben einen erstaunlich großen Raum der Umwelt, aber in diesem Raum sind nur einige Elemente wirklich Umwelt, und dieser Raum ist begrenzt. Es ist immer ein bestimmter Weg; andere Wege haben 1

Ms.: Having oneself but non having this having of oneself, but being bound to oneself and ones nature.

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keine Möglichkeit für diese Tiere, sie existieren nicht für sie. Uexküll nennt dies einen Plan, der den Tieren mit ihrer Natur gegeben ist.1 Und nun die dritte Stufe: Sich-selbst-ausdrücklich-Haben oder Sich-selbst-haben-als-sich-selbst-habend. Nur auf dieser Stufe wird die vollständige Individualisation und Trennung erreicht. Das Selbst wird unabhängig von sich selbst und dadurch unabhängig von seiner Welt; es kann sich von sich distanzieren, über sich entscheiden, sich verlieren. – Es hat nicht nur Umwelt oder Umgebung, es hat eine Welt, eine Einheit und Totalität sich gegenüber. Das ist nur der Fall im Sich-selbst-ausdrücklich-Haben, das ist der Fall beim Menschen, insofern als er Mensch ist. Der Mensch transzendiert Umgebungen und Umwelten in Richtung auf die Totalität. Obgleich sein Körper, seine Eigenschaft als getrenntes Individuum ihn konkret begrenzt hält, gibt es keine prinzipiellen Begrenzungen; im Prinzip transzendiert er sie immer, er ist immer jenseits seiner konkreten Begrenzung im unendlichen Raum und in unendlicher Zeit und Vielfalt. Er ist in seiner Welt und nicht nur in seiner Umwelt; wie Hamlet andeutete: Ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten …2

4. Welt-Haben heißt, eine Einheit in Unendlichkeit oder Totalität haben. Aber wie ist es möglich, dieses zu haben, wenn wir nicht unendlich sind, sondern begrenzt auf einen bestimmten Raum? Es ist möglich nur, weil Welt eine Ordnung meint, eine Struktur, eine Einheit auf Grund gewisser Strukturprinzipien. Welt-Haben heißt, die Einheit auf Grund von Kategorien und Begriffen der Einheit in Unendlichkeit haben. Die Beziehung des Sich-selbst-Habens zu diesen Formen der Einheit ist das, was wir den Geist des Menschen nennen. Geist haben heißt, nicht einen weiteren Teil neben Seele und Körper haben, sondern es heißt, eine Seele haben oder sich selbst haben als Haben der Formen, Kategorien und Begriffe, die unsere eigene Welt konstituieren. Durch diese Formen der Einheit ist der Mensch frei gegenüber der konkreten Situation, an die die Tiere gebunden sind. 1

2

Vgl. J. v. Uexkülls „Baupläne“ bzw. „Gestaltungs-“ und „Leistungspläne“ von Lebewesen. Shakespeare, Hamlet, Akt 2, Szene 2.

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In jeder konkreten Situation transzendiert er die Situation durch Allgemeinbegriffe, Kategorien und Prinzipien. Das ist die Grundlage der Freiheit des Menschen. Die Freiheit des Menschen ist seine Beziehung zu den Prinzipien, die seine Welt konstituieren, eine Beziehung, die wir den Geist des Menschen nennen. Indem der Mensch sich selbst hat, transzendiert er sich selbst, weil er Geist ist; und indem der Mensch sich selbst transzendiert, bewahrt er sich selbst, weil er Körper ist. Aber in letzter Hinsicht ist er weder Körper noch Geist, er ist Seele oder Sich-selbst-ausdrücklich-Haben, welches die Qualitäten des Körpers und des Geistes in sich enthält. 5. Nun haben wir den Grundbegriff der menschlichen Freiheit. Menschliche Freiheit ist diejenige Stufe des Sich-selbst-Habens, in der das unabhängige Selbst mit der Einheit der Unendlichkeit oder mit der Totalität seiner Welt verbunden ist. Aber dieser Grundbegriff der Freiheit wird nur durch eine Erklärung der verschiedenen Eigenschaften der Freiheit konkret. Lassen Sie mich als erste Eigenschaft der Freiheit die Freiheit der Produktion nennen. Ich vermeide den heute sehr gebräuchlichen Begriff Schöpfung, weil Schöpfung der religiöse Begriff ist, der der Kontingenz des Menschen entspricht, die schöpferische Macht ausschließt1. Aber der Mensch hat die Freiheit der Produktion. Er ist in jeder Situation jenseits solcher Situation insofern, als er Allgemeinbegriffe und Kategorien hat. Das Tier aber, insofern als es sich selbst einfach hat, hat die konkrete Beziehung des Trinkens, Fliehens oder Angreifens, aber es hat nichts jenseits dieser konkreten Situation. Es hat keine Allgemeinbegriffe wie Wasser, Fluss, sauber, Gesundheit. Folglich plant es keine Konstruktion zur Reinigung von Wasser, es produziert keinen Plan zum Bau einer Brücke, eines Kanals usw. Der Mensch kann eine zweite Welt jenseits der gegebenen Welt entwerfen und produzieren, wenn auch mittels der gegebenen Welt, weil er sich immer in der Totalität befindet. Jeder dieser technischen Begriffe impliziert die Kategorien, die die Einheit unserer Welt konstituieren, 1

Ms.: I avoid the term which is very usual today: creating, because creation in the religious term correlating to human contingency, which excludes creative power. – Vgl. auch den Begriff der „Selbstproduktion des Lebens“ in Tillichs Vorlesung „Die Zweideutigkeit der Lebensprozesse“ (Berlin 1958) (= EW XVI, 373f.). STE III, 50: „The Self-Creativity of Life.“

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wie Kausalität, Identität, Substanz usw. Der Mensch hat die Möglichkeit (wie Goldstein1 sagt), weil er auf die Einheit des Unendlichen bezogen ist oder weil er in jeder konkreten Situation Welt hat. Als der erste Mensch das erste Werkzeug zur Veränderung des Gegebenen produzierte, war der unendliche Fortschritt der technischen Produktion damit impliziert. Als der erste Vogel sein erstes Nest baute, war determiniert, dass dasselbe Nest gebaut würde, solange es diese Art von Vögeln gibt. Darum ist jeder Vergleich dieser beiden Tätigkeiten Unsinn. Ein weiteres Beispiel für diese Eigenschaft der Freiheit, die wir Freiheit der Produktion oder das Möglichkeit-Haben nannten: Menschen mit Hirnverletzung verlieren diese Freiheit, wie Goldstein und Gelb in mehr als 15 Jahren beobachtet haben2; sie können die Forderungen der konkreten Situation erfüllen, sie können eine ganz begrenzte Arbeit tun, aber sie können nie über diese konkrete Situation hinausgehen, sie können erzählen, dass es schneit, wenn es wirklich schneit, aber sie können die Worte „es schneit“ nicht wiederholen, wenn es in Wirklichkeit nicht schneit – jedenfalls nicht ohne eine furchtbare Katastrophe ihrer ganzen Existenz. In der konkreten Situation und ihren begrenzten Forderungen haben sie Sicherheit. Sie verlieren diese Sicherheit aber, wenn sie gezwungen werden, diese Situation 1

2

Kurt Goldstein (1878-1965), Neurologe und Psychiater. Während des Ersten Weltkrieges baute er in Frankfurt am Main gemeinsam mit dem Gestaltpsychologen Adhémar Gelb das „Institut für die Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen“ als Klinik für hirngeschädigte Soldaten auf. 1929 wurde er Ordinarius für Neurologie an der Frankfurter Universität, 1930 eröffnete er eine neurologische Abteilung an der Berliner Universitätsklinik. 1933 verließ er Deutschland. Sein Hauptwerk: Der Aufbau des Organismus. Einführung in die Biologie unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen an kranken Menschen, Den Haag 1934; Rezension dieses Buches durch Tillich in: Zeitschrift für Sozialforschung, 5. Jg., 1936, 111-113. Vgl. auch Gerald Kreft, „… weil man es in Deutschland einfach verschwiegen hat …“ Kurt Goldstein (1878-1965), Begründer der Neuropsychologie in Frankfurt am Main, in: Forschung Frankfurt. Wissenschaftsmagazin der J. W. G. Goethe-Universität Frankfurt a. M., 18. Jg., 2000, H. 3, 166-177. Zur Bedeutung Kurt Goldsteins für Tillichs Anthropologie und Religionsphilosophie vgl. Tillichs Aufsatz „The Significance of Kurt Goldstein for Philosophy of Religion“, in: Journal of Individual Psychology, Jg. 15, 1959, 20-23 (deutsch: GW XII, 305-309) sowie die Untersuchung von Katja Bruns, Anthropologie zwischen Theologie und Naturwissenschaft bei Paul Tillich und Kurt Goldstein. Historische Grundlagen und systematische Perspektiven (Kontexte: Neue Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, Band 41), Göttingen 2011. Siehe vorige Anmerkung.

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irgendwie zu transzendieren, und das Ergebnis ist eine Katastrophe, während der Mensch als Mensch sich immer jenseits der konkreten Situation planend, entwerfend, produzierend verhält. 6. Die zweite Eigenschaft der Freiheit ist die Freiheit, Gebote entgegenzunehmen. Diese Formel ist in einem gewissen Ausmaß paradox, weil Freiheit und die Entgegennahme von Geboten sich zu widersprechen scheinen; aber dies scheint nur so. Die Freiheit zu produzieren setzt die Freiheit, Gebote entgegenzunehmen, voraus, weil jede Produktion mit den allgemeinen Formen und Kategorien (z. B. den mathematischen Gesetzen), die unsere Welt konstituieren, übereinstimmen muss. Jeder, der produzieren will, muss den Normen und Regeln seiner Produktion gehorchen lernen, aber gleichzeitig hat er die Möglichkeit, Gehorsam zu verweigern. Gebote entgegenzunehmen ist Freiheit, weil es die Möglichkeit impliziert, ihre Erfüllung zu verweigern. Tiere als Repräsentanten des Sich-selbst-einfach-Habens nehmen keine Gebote entgegen. Sie nehmen Laute und andere Reize entgegen, die sie in Situationen ziehen, in denen einige Reaktionen notwendigerweise folgen. Darum hat ein besonderer Typ militaristischer Erziehung Erfolg darin, echte Gebote in Reize zu verwandeln, die eine unmittelbare Reaktion bewirken, aber wir denken, dass diese Methoden keineswegs mit der Natur des Menschen als Mensch übereinstimmen.1 Gebote sind nur sinnvoll, wenn es keine natürliche Erfüllung gibt. Im Bereich des Sich-selbst-einfach-Habens gibt es immer eine natürliche Erfüllung. Es ist die Vollkommenheit der Tiere (die an diesem Punkt höher ist als die Vollkommenheit des Menschen), dass sie immer ihre erfüllte Existenz haben und folglich nicht die Freiheit haben können, Gebote entgegenzunehmen. Sich-selbst-einfach-Haben heißt, sich vollständig haben; sich-selbst-ausdrücklich-Haben heißt, sich vollständig haben müssen, weil man Gebote entgegennimmt, die die Forderung erheben, sich selbst durch sich selbst zu haben. 1

Folgt gestr.: Die Freiheit, Gebote entgegenzunehmen, impliziert die Tatsache, dass der Mensch in sich nicht vollkommen ist, dass da ein Unterschied besteht zwischen dem, was er ist, und dem, was er sein soll. Die klassischen Zehn Gebote enthalten diese Annahme. Sein und Sein-Sollen sind nicht identisch. Der Mensch als unabhängiges Selbst oder als getrennt von der Totalität hat diese Beziehung zur Totalität, dass er einerseits in Differenz zu ihr ist, andererseits mit ihr identisch sein soll.

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Deshalb hat der Mensch bereits im Paradies ein Gebot empfangen, das ihn als Menschen charakterisierte. Eng bezogen auf die Freiheit, Gebote entgegenzunehmen, ist die dritte Eigenschaft der Freiheit, die Freiheit zu fragen. Die ganze Lehre vom Menschen könnte nur von der Tatsache aus erklärt werden, dass der Mensch fragen kann. Denn diese Möglichkeit setzt eine Trennung von dem Gegenstand voraus, auf den die Frage sich richtet. Wir fragen nie nach etwas, was wir haben. Wir sind, wenn wir fragen, nicht am Ziel, weder im Denken noch im Handeln. Wir müssen uns selbst haben, darum fragen wir, um uns selbst zu finden. Tiere fragen nicht; vielleicht sehen sie wie fragend aus, in Wirklichkeit sehen sie aus wie wartend auf ein Zeichen, das die Eigenschaft eines Reizes hat. Aber Warten auf ein Zeichen ist etwas anderes als Fragen nach der Wahrheit. Während die Freiheit der Produktion die Möglichkeit des Menschen ausdrückt, jede gegebene Situation zu transzendieren, drückt die Freiheit des Fragens und Entgegennehmens von Geboten die Trennung des Menschen von der Totalität seiner Welt und ihren konstitutiven Begriffen und Kategorien aus. Der Mensch ist nach beiden Seiten hin frei zur konkreten Situation, die er transzendieren kann, und zur Totalität, nach der er fragen muss und von der er Gebote entgegennimmt. Und weil er in jeder Richtung frei ist, hat er die Freiheit der Entscheidung. 7. Die Freiheit der Entscheidung ist nicht die grundlegende, aber die auffallendste Eigenschaft der menschlichen Freiheit. Sie ist in der Freiheit zu fragen und Gebote entgegenzunehmen enthalten, aber sie erfordert eine besondere Untersuchung. Denn die Freiheit der Entscheidung ist der Kampfplatz der alten Diskussionen über Determinismus und Indeterminismus. Wir können den Fehler dieser Diskussion verstehen: Man ging von der Voraussetzung aus, dass der Mensch ein Ding ist, dass er ganz und gar bedingt ist. Diese allgemeine Voraussetzung des objektivierenden Denkens favorisierte offenkundig den Determinismus. Auf der anderen Seite förderten die moralischen Implikationen der Idee der Freiheit eine Entscheidung für den Indeterminismus. Aber wir müssen einräumen, dass unter der gewöhnlichen Annahme, nämlich der Annahme des objektivierenden Denkens, der Determinismus Recht hat und der Indeterminismus

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Unrecht hat. Der Indeterminismus war nur möglich durch einen Widerspruch in sich selbst: Ein Ding, das nicht ein Ding ist. Denn ein Ding als Ding kann keine Spontaneität besitzen. Wir müssen diese Diskussion beenden, indem wir ihre gewöhnliche Voraussetzung bestreiten: nämlich der Mensch oder der Wille des Menschen als ein Ding und folglich ganz und gar bedingt. Wir müssen die Freiheit der Entscheidung ganz anders beschreiben. Jede Entscheidung kommt aus der Einheit und Totalität unseres Selbst. Wir können entscheiden, weil wir in uns gespalten sind und weil wir uns mit uns selbst vereinigen müssen in der Entscheidung. In jeder Entscheidung sind die beiden Elemente unseres Selbst wirksam: erstens die Tatsache, dass wir uns selbst uns gegenüber haben, und zweitens, dass wir identisch sind mit uns selbst. Die Bewegung von der Spaltung zur Vereinigung ist der Akt der Entscheidung. – Wir können dieselbe Bewegung auch vom Gesichtspunkt des Welt-Habens beschreiben. Wir können entscheiden, weil wir ein unabhängiges Selbst sind, frei von der Welt, zu der wir gehören; und andererseits ist in jeder Entscheidung die Totalität unserer Welt wirksam. Die Bewegung, in der wir unser unabhängiges Selbst mit der Totalität unserer Welt verbinden, ist eine Entscheidung. Die Einheit mit uns selbst und die Einheit mit unserer Welt bilden den Charakter jeder Entscheidung, und diese Entscheidung ist frei, weil wir am Ausgangspunkt jeder Entscheidung von uns selbst und unserer Welt getrennt sind; weder unsere eigene Natur noch die unserer Welt enthält den Charakter unserer Entscheidung. Das ist nicht Indeterminismus, und das ist nicht Determinismus. Es ist nicht Indeterminismus, weil wir selbst, die Totalität unserer Existenz und unserer Welt sich in der Entscheidung und nicht im blinden Zufall ausdrücken. Es ist nicht Determinismus, weil wir selbst, die Totalität unserer Existenz und unserer Welt, nicht vorgegeben sind, sondern erst durch spontane Aktivität hergestellt werden. Die Frage der Willensfreiheit kann nicht gelöst werden, weil sie eine falsche und willkürliche Fragestellung ist; nicht der Wille, sondern der Mensch als eine Totalität ist frei; und die Freiheit der Entscheidung ist nur eine Eigenschaft innerhalb anderer und wichtigerer Eigenschaften der menschlichen Freiheit. In einer Lehre vom Menschen verliert das alte Problem der Freiheit einerseits seine Wichtigkeit, andererseits wird es die Mitte der ganzen Lehre vom Menschen.

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8. Nun müssen wir von solchen Eigenschaften der menschlichen Freiheit sprechen, in denen der Mensch sozusagen frei ist von seiner eigenen Freiheit, nämlich von der Freiheit der Produktion und der Entscheidung. Ich meine die Freiheit des Spielens, zu der Lachen, Witz, Spiele und Wettspiele und all die Dinge gehören, in denen der Mensch dem Ernst seiner eigenen Freiheit entflieht, aber selbst diese Flucht ist durch Freiheit bestimmt, ist ein Ausdruck von Freiheit von jeder Situation, auch von der der Entscheidung. Diese Dinge haben eine große Bedeutung für die Lehre vom Menschen. Wenn wir das Spiel definieren als den Widerspruch zum Ernst, müssen wir daran erinnern, dass Tiere und Säuglinge weder spielen noch den Ernst kennen, denn sie können zwischen beidem nicht unterscheiden. Der Mensch als Mensch kann zwischen beidem unterscheiden und hat darum die Macht, mit sich selbst und seiner Welt zu spielen. In jedem Spiel werden Regeln und Gesetze geschaffen, eine kleine unabhängige Welt, in der der Mensch seine Unabhängigkeit von seiner Welt für sich selbst bestätigt. Das Spiel ist der erhabenste Ausdruck menschlicher Freiheit, und es ist ein Element des Spiels, der Ekstase des Spielens, in jeder menschlichen Produktion, vor allem in den Werken der Kunst. 9. Die Freiheit des Spielens zeigt nicht nur den erhabenen, sondern auch den gefährlichen Charakter der menschlichen Freiheit: die Tendenz, Entscheidungen auszuweichen; aber das wirkliche Ausweichen ist selbst schon eine Entscheidung. Wir können der Verpflichtung zur Entscheidung nicht ausweichen, ohne uns zu entscheiden, wir können dem Ernst unserer Existenz nicht ausweichen. Aber wir können gegen die Gebote entscheiden, die aus der Totalität unserer Welt und unserer selbst kommen. Wir haben die Freiheit, unserem Wesen, unserem eigenen Guten und unserer eigenen Wahrheit, die in der Einheit und Totalität unserer Welt1 und unserer selbst, mit anderen Worten: die in unserem Person- und Gemeinschaft-Sein liegen, zu widersprechen. Die Erklärung dieser Formen der individuellen und sozialen Realisierung der menschlichen Freiheit gehört 1

Folgt gestr.: mit der wir verbunden sind durch unseren Geist

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zu jeder Lehre vom Menschen. Wir können uns im Rahmen dieser Vorlesung mit ihr nicht beschäftigen. Ich kann nur einen einzigen Punkt hervorheben. Wir sind durch die Trennung und Individualisation ein freies oder unabhängiges Selbst. Trennung und Individualisation sind keine festen Objektivitäten, sondern dynamische Tendenzen, die zu jeder Zeit wirksam sind. Ebenso ist auch unsere Verbindung mit der Totalität und Einheit keine feste Gegebenheit, sondern eine konkrete Macht, die in unserem persönlichen und sozialen Leben wirksam ist. Beide Tendenzen unserer Natur wirken gleichzeitig: Die erste Tendenz zielt darauf, die Totalität in unsere Individualität hineinzuziehen, die zweite zielt darauf, unsere Individualität in die Totalität hineinzuziehen. Die Theologie hat diese Situation die Versuchung des Menschen genannt. Die Versuchung des Menschen ist in der Natur des Menschen angelegt, sie liegt in der Freiheit des Menschen. Mythologisch gesprochen: Die Versuchung geht der Schuld voraus. In der anthropologischen Analyse gehören beide zusammen: Die Situation der Versuchung ist Schuld und umgekehrt. Wir unterscheiden beide, weil wir das Element der Freiheit in der Schuld betonen müssen. Das ist in der Versuchung, die dem Fall vorausgeht, ausgedrückt. Aber wir müssen gleichzeitig das Element der Notwendigkeit betonen: Die Freiheit des Menschen ist die Trennung des Menschen und als Trennung ist sie Schuld.

III. [Von der Endlichkeit des Menschen] Einleitung Der Mensch als ein Selbst ist von seiner Welt so sehr getrennt, dass er die Vernichtung seiner Welt denken und sich ganz auf sein einsames Selbst stellen kann, aber gleichzeitig steht er sich gegenüber, dass er auch die Vernichtung seines Selbst denken kann. Er kann dem absoluten Nichts ins Auge blicken. Das ist kein reines Gedankenspiel, es ist eine existentielle Qualität des Menschen. Die Erfahrung dieser existentiellen Situation ist der eigentliche Schock1 für den Menschen, sie ist die Voraussetzung für Religion und Philosophie. Denn sie ist die Erfahrung der menschlichen Endlichkeit. Unsere Existenz ist nicht 1

Ms.: basic shock

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notwendig. Wir könnten nicht sein. Nichts existiert notwendig, alles könnte nicht sein. Unsere Welt und unser Selbst sind nicht notwendig, beide sind umgeben von dem drohenden Abgrund des Nichts. Endlichkeit ist zu unterscheiden von Begrenzung, alles ist begrenzt; jede Existenz in Zeit und Raum ist begrenzt. Jedes Tier hat sich selbst als ein begrenztes, aber es hat sich selbst nicht als ein endliches. Endlichkeit setzt voraus, Totalität zu haben und somit auch die Fähigkeit, die Totalität zu verneinen oder dem absoluten Nichts ins Auge zu blicken. Unsere Trennung von der Totalität und von uns selbst gibt uns die Möglichkeit, Totalität zu haben und gleichzeitig das Nichts von ihr, uns selbst zu haben und gleichzeitig das Nichts von uns selbst. Der Anblick des absoluten Nichts ist der absolute Schock für den Menschen, aber das ist nur möglich, weil der Mensch, obwohl er sein absolutes Nichts hat, ein absolutes Sein hat, oder: obwohl er seine absolute Kontingenz hat, eine absolute Notwendigkeit hat, oder: obwohl er seine Endlichkeit hat, eine Unendlichkeit hat. Endlichkeit ist Endlichkeit nur in Relation zu einer möglichen Unendlichkeit, Kontingenz ist Kontingenz nur in Relation zu einer möglichen Notwendigkeit, ein absolutes Nichts ist denkbar nur in Relation zu einem absoluten Sein. Das heißt: Indem wir Endlichkeit haben, transzendieren wir gleichzeitig unsere Endlichkeit. Aber dieses Transzendieren kann uns nicht vor unserer Endlichkeit und vor dem Schock unserer Endlichkeit bewahren. Im Gegenteil: Es schafft diese Endlichkeit, diesen Schock der Kontingenz, diese Drohung des absoluten Nichts. Denn der Mensch ist frei; er ist getrennt von der Totalität, in der er seine Notwendigkeit und Unendlichkeit und sein absolutes Sein hat. Er ist getrennt, um ein unabhängiges Selbst zu werden, das in der Lage ist, Totalität zu haben, Endlichkeit und Unendlichkeit, Kontingenz und Notwendigkeit zu haben. Seine Situation ist die, dass dieselbe existentielle Tendenz, die ihn in jedem Moment trennt,1 ihm die Möglichkeit schafft, Unendlichkeit zu haben, und ihn von dieser Unendlichkeit ausschließt und ihn in der Endlichkeit festhält. Dass wir frei sind, gibt uns die Möglichkeit, Ewigkeit zu haben, und gleichzeitig schließt sie uns aus der Ewigkeit aus, denn Freiheit ist Trennung.

1

Folgt gestr.: die ihn befähigt, gleichzeitig Endlichkeit und Unendlichkeit zu haben

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Es gibt zwei grundlegende Elemente der menschlichen Endlichkeit, die in der Wirklichkeit identisch sind, die aber in der Analyse unterschieden werden müssen:1 Endlichkeit, die Freiheit schafft, und Endlichkeit, die durch Freiheit geschaffen wird.2 Das erste drückt sich in der Kontingenz und Angst des Menschen aus, das zweite in der Schuld und Verzweiflung des Menschen. Die Beschreibung dieser Elemente ist die Lehre von der Endlichkeit des Menschen. 1. Zunächst einige methodologische Bemerkungen einschließlich der Zurückweisung einiger Einwände. Häufig wird eingewandt, dass die Analyse der menschlichen Endlichkeit pessimistisch sei und dass wir doch andere Elemente betonen sollten, die ein sehr viel optimistischeres Bild ergäben. Dem halte ich entgegen, dass Pessimismus und Optimismus vollkommen ungeeignete Kategorien für eine fundamentale Analyse darstellen. Es ist überhaupt nicht Pessimismus, wenn ein Professor der Medizin das Skelett des menschlichen Körpers zeigt, auch wenn für viele Menschen ein solcher Anblick so furchterregend ist wie für andere Menschen der Anblick der existentiellen Situation des Menschen. Jede Analyse, in der die wirkliche Struktur eines Gegenstandes untersucht werden soll, muss mit der Grenzlinie beginnen, der äußersten Möglichkeit dieses Gegenstandes. Nur wenn wir die Grenze eines Gegenstandes sehen, können wir ihn selbst sehen. Vor allem das Leben ist nur durch seine äußerste Möglichkeit verständlich. Dieser methodologische Ansatz impliziert keineswegs die Behauptung, dass die konkrete Existenz des Lebens sich immer in der äußersten Möglichkeit befindet. Im Gegenteil, es ist möglich, dass sie sich niemals darin befindet, wie auch das menschliche Skelett im Zustand eines gesunden Lebens nie sichtbar ist. Aber nichts in unserem Körper ist ohne die Realität des Skeletts zu verstehen. So denke ich, dass die Analyse der menschlichen Endlichkeit eine Analyse aus der Grenzlinie, aus der äußersten Möglichkeit des Menschen ist. Aber damit will ich nicht behaupten, dass der Mensch immer auf dieser Grenzlinie, in dieser äußersten Möglichkeit lebt. Im Gegenteil, ich werde versuchen zu zeigen, dass es einen Typ menschlicher Haltung 1 2

Folgt gestr.: das Element der Notwendigkeit und das Element der Freiheit Ms.: Finiteness producing freedom and finiteness produced by freedom.

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gibt, der als eine ständige, mehr oder weniger erfolgreiche Flucht aus der äußersten Situation charakterisiert werden kann. Ich will eine radikale Analyse der Struktur der menschlichen Endlichkeit geben, nicht eine Beschreibung des konkreten Lebensprozesses. Eine weitere methodologische Bemerkung: Wir haben das objektivierende Denken abgelehnt. Das heißt nicht, dass wir subjektivierende Kategorien benutzen werden. Endlichkeit ist eine Kategorie jenseits des Gegensatzes von Objektivität und Subjektivität. Endlichkeit des Menschen ist als objektive Feststellung sinnlos. Von Endlichkeit kann nur in Verbindung mit dem Sich-selbst-Haben gesprochen werden. Sich-selbst-als-endlich-Haben. Aber auf der anderen Seite ist Endlichkeit als eine subjektive Feststellung sinnlos. Es gibt keine objektive Wirklichkeit neben unserer Endlichkeit, die uns das subjektive Gefühl gibt, endlich zu sein. Im Gegenteil, die Wirklichkeit unserer Existenz ist Endlichkeit, aber das ist weder eine objektive noch subjektive Wirklichkeit, es ist eine Wirklichkeit in der Weise des Sich-selbstHabens. Und Sich-selbst-Haben ist ein Ausdruck, der ausdrücklich die Spaltung zwischen objektiv und subjektiv transzendiert. Darum dürfen die folgenden Begriffe weder in dieser noch in jener Weise interpretiert werden. Kontingenz ist nicht objektiv, und Angst ist nicht subjektiv. Wir haben uns selbst als die, die Kontingenz oder Angst haben. Wenn Sie so wollen, können Sie darum die Begriffe wechseln und sagen: Menschliche Angst ist objektiv, und menschliche Kontingenz ist subjektiv. Aber in Wirklichkeit sind sie weder das eine noch das andere. Und das gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Schuld und Verzweiflung. Schuld klingt mehr objektiv und Verzweiflung mehr subjektiv. Aber Verzweiflung kann als objektiver Zwiespalt interpretiert werden und Schuld als subjektives Gefühl der Trennung. In Wirklichkeit ist weder die eine noch die andere Interpretation sachgemäß. Natürlich ist das die Schwierigkeit jeder existentiellen Rede. Aber die Schwierigkeit ist geringer, wenn wir den natürlichen Geist unserer Sprache beachten, die für subjektive und objektive Eigenschaften immer dieselben Worte benutzt wie z. B. bitter, süß, groß, weich, leicht usw. Die menschliche Sprache ist älter als die Entstehung der Spaltung zwischen subjektivierendem und objektivierendem Denken, von der sich die gegenwärtigen Bewegungen abwenden. Ohne solch einen Wechsel in unserer Terminologie ist eine Lehre vom Menschen nicht möglich. Aber nochmals, ich muss gestehen, dass das, was wir jetzt tun, nur ein Anfang ist, nicht mehr.

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2. Wenn wir von der Endlichkeit des Menschen sprechen, müssen wir uns zuerst mit der Kontingenz oder Angst beschäftigen. Kontingenz ist das Sich-selbst-Haben ohne Notwendigkeit oder mit der Möglichkeit des absoluten Nichts. Ein Faktum, für das es keine letzte vernünftige Notwendigkeit gibt, ist kontingent. Die Lebensphilosophie, vor allem Boutroux1 und Troeltsch2, hat die Bedeutung dieser Kategorie hervorgehoben. Sie haben die Grundkontingenz des Lebens im allgemeinen und den vergleichsweise geringen Anteil, in dem sie durch vernünftige Notwendigkeit überwunden wird, aufzuzeigen versucht. Die Philosophie der Existenz benutzt diese Kategorie in einer weniger metaphysischen Weise, mehr als einen Ausdruck für die existentielle Situation des Menschen. „Sich selbst als endlich in der Form der Kontingenz Haben“ ist die Formel für eine Lehre vom Menschen, in der jede objektivierende Metaphysik vermieden werden soll. Das eröffnet die Möglichkeit, die Identität von Kontingenz und Angst verständlich zu machen. Angst ist eine Grundeigenschaft menschlicher Existenz, in der sich unsere Endlichkeit ausdrückt. Angst ist nicht Furcht. Furcht hat einen Grund, ein bestimmtes Objekt; Furcht kann durch Mut besiegt werden. Angst ist ohne Grund, ohne Objekt, sie ist unausweichlich, weil sie ein Element unserer Existenz ist. Sie ist sozusagen die Gegenwart des absoluten Nichts in unserem Leben. Natürlich ist sie in einigen Situationen mehr manifest, psychologisch betrachtet. Aber sie könnte, da es keinen Grund für sie gibt, niemals manifest werden, wenn sie nicht als ein Element unserer Existenz, nämlich ihrer Kontingenz, ihrer Nicht-Notwendigkeit, in uns wäre. Wir können drei Richtungen unserer Kontingenz oder Angst unterscheiden, entsprechend den drei Modi unserer Zeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Die Kontingenz oder Angst der Vergangenheit ist die Kontingenz unseres Ursprungs, zu beschreiben als: Sich-selbst-Haben als sich selbst und seine Welt Empfangen-Haben. Das impliziert die Fremdheit unserer Welt und unserer selbst für uns selbst und die Angst, dieser Fremdheit zu begegnen. Wenn wir psychologische Begriffe verwenden, können wir die Fremdheit im Gefühl 1

2

Émile Boutroux, De la contingence des lois de la nature, Paris 1874, 2. Aufl. 1895, deutsch: Die Kontingenz der Naturgesetze, Jena 1911. Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz, in: ZThK 1910, 421-430; GS II, 769-788.

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als Heimatlosigkeit und Einsamkeit, im Denken als Unbegreiflichkeit, im Handeln als prinzipielle Verlegenheit unterscheiden. Aber wenn wir diese Begriffe verwenden, müssen wir daran erinnern, dass sie die reale transsubjektive Existenz des Menschen ausdrücken. Einige Worte zur Unbegreiflichkeit unserer Welt und unserer selbst: Die Erkenntnistheorie hat sich immer mit den Grenzen unseres Wissens befasst. Aber selten hat sie so wie Plato und Kant die Grundlage für jede Erkenntnistheorie gefunden: die menschliche Existenz als Endlichkeit. Unser Wissen kann von der Totalität unserer Existenz nicht abstrahiert werden. Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist kein Sonderproblem, es ist Teil des anthropologischen Problems der menschlichen Endlichkeit, insbesondere der Fremdheit des Menschen in seiner Welt und folglich der existentiellen Unbegreiflichkeit unserer Welt. Eine Erkenntnistheorie, in der die Angst vor der Fremdheit des Menschen überhaupt nicht durchklingt, ist ohne letzte Bedeutung. Kontingenz oder Angst in Bezug auf die Gegenwart ist Unsicherheit oder Sorge. Die Unsicherheit ist als eine objektive Situation für viele Menschen manifest und sichtbar geworden. Aber die ökonomische Unsicherheit als solche schafft nicht die Angst und Sorge, die Jesus verboten hat. Eine vernünftige Furcht und eine vernünftige Sorge können nicht verboten werden. Aber sie können umgewandelt werden in Aktivität zur Schaffung von Institutionen, die Sicherheit geben können. Die eigentliche oder existentielle Unsicherheit ist die Kontingenz oder die Angst unseres Schicksals. Das Fehlen der Notwendigkeit in unserem Schicksal, in der Totalität der möglichen Ereignisse drückt sich aktuell in der Sorge aus1, in der Angst, in der Angst vor dem Schicksal ohne irgendeinen wirklichen Grund. Kontingenz oder Angst im Blick auf die Zukunft ist die Kontingenz oder Angst, sterben zu müssen. Nicht das objektive Ereignis des Todes, das das Ende jeder Erfahrung ist, sondern das Sterbenmüssen ist Ausdruck unserer Kontingenz. Angst ist Angst, sterben zu müssen, Sterbenmüssen ist Angst. Ich möchte im Deutschen die spezielle Qualität dieser Angst, sterben zu müssen, „Schwermut“ nennen, um diese Qualität als eine Grundqualität zu beschreiben, die ein Element unserer Existenz ist. Leider drückt das englische Wort „melancholy“ nicht klar genug die Allgegenwart dieses Elements in der menschlichen Existenz aus entsprechend der Allgegenwart nicht des Todes und nicht der Furcht vor dem Tod, sondern vor dem Sterbenmüssen. Mit 1

Folgt gestr.: die für Jesus im Reich Gottes überwunden ist

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oder ohne das Wort „melancholy“: Die Sache selbst ist eindeutig. Jedes menschliche Angesicht ist geprägt durch unser Sterbenmüssen, durch Angst, Sorge und Schwermut. Es liegt in einer tieferen Schicht unserer Seele als die psychologischen Schwankungen. Kontingenz und Angst als Ausdruck der Endlichkeit gehören nicht zur Sphäre des Sich-selbst-einfach-Habens. In dieser Sphäre haben wir Grenzen; und keiner unserer Begriffe ist dieser Situation angemessen. Sie enthält weder Notwendigkeit noch Kontingenz. Denn Kontingenz ist sinnvoll nur im Verhältnis zur Notwendigkeit, aus der wir ausgeschlossen sind. Folglich gibt es im Bereich des Sich-selbsteinfach-Habens weder Sicherheit noch Angst, weder Begreiflichkeit noch Unbegreiflichkeit, weder Sorge noch Schwermut. Denn alle diese Elemente menschlicher Endlichkeit beziehen sich auf die Totalität unserer Existenz; und in der Sphäre des Sich-selbst-einfach-Habens oder der Begrenzung gibt es keine Totalität, gibt es kein absolutes Nichts. Diese Elemente der menschlichen Existenz sind sozusagen der Preis, den er für seine Freiheit zahlt – und sie sind nicht der einzige Preis. 3. Denn es ist die Freiheit, die unserer Endlichkeit besondere Qualitäten verleiht. Wir nennen sie Schuld oder Verzweiflung. Der Mensch gehört zu seiner Totalität. Als Persönlichkeit und als Gemeinschaft findet er Erfüllung nur in der Totalität, von der er andererseits als ein unabhängiges Selbst getrennt ist. Darum kann seine Grundtendenz beschrieben werden als Streben nach Totalität. Aber dieses Streben nach Totalität hat zwei Richtungen, entsprechend der paradoxen Situation des Menschen, die darin besteht, dass er eine Totalität sich gegenüber hat und zu dieser Totalität gehört. Der eine Weg führt dahin, dass der Mensch sich selbst transzendiert, um von der Totalität aufgenommen zu werden. Der andere Weg ist das Bleiben in sich selbst und das Hineinziehen der Totalität in sich selbst. Beide Tendenzen gehören notwendig zusammen, weil Trennung und Einunabhängiges-Selbst-Werden die Voraussetzungen der Freiheit, der Endlichkeit und, wenn auch in der Form, aus ihr ausgeschlossen zu sein, der Unendlichkeit sind. Nietzsche und Freud haben die Natur des Menschen unter dem Gesichtspunkt des Kampfes um Totalität in der zweiten Weise erklärt: als Hineinziehen der Totalität in uns selbst. Sie taten dies mit den symbolischen Worten „Wille zur Macht“ und „Libido“. Diese Worte sind symbolisch insofern, als

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sie viel mehr ausdrücken, als sie wortwörtlich meinen: „Wille zur Macht“, das Wort Nietzsches, ist nicht bewusster Wille, sondern die Tendenz jedes Lebens, immer mehr Macht zu gewinnen, grenzenlos. Und „Libido“, Begierde, das Wort Freuds, meint viel mehr als sein sexueller Sinn, es meint die ganze vitale Kraft unserer Existenz. In diesem symbolischen Sinn drücken diese Worte exakt dasselbe aus wie der Paradiesesmythos: Die Versuchung ist in erster Linie der Wille zur Macht, nämlich das Wissen um den nützlichen und verderblichen Charakter der Dinge. Die Versuchung ist zweitens die Libido, nämlich die Schönheit der Frucht. Wir haben dieselben Elemente in der symbolischen Geschichte von der Versuchung Christi. Wille zur Macht und Libido sind die beiden Symbole für den Willen, die Totalität in einem unabhängigen Selbst zu haben. Selbstsucht ist ein moralistisches und unangemessenes Wort für diese Situation, die viel tiefer denn als Moralismus verstanden werden kann. Denn diese Tendenzen sind die Art und Weise, wie das Selbst seine Unabhängigkeit und mit seiner Unabhängigkeit seine Freiheit verwirklicht. Darum ist in jedem Willen zur Macht ein Element des Willens zum Wissen und zur Produktion enthalten, und in jeder Libido ist ein Element des Willens zur Einheit und Liebe enthalten. Darum müssen wir umgekehrt sagen: Es ist nicht Selbstsucht im moralistischen Sinne des Wortes, dass es zwangsläufig auf Grund der menschlichen Existenz in jeder produktiven Aktivität ein Element des Willens zur Macht gibt; und es ist keine Selbstsucht, dass es ebenso zwangsläufig auf Grund der menschlichen Existenz in jeder Liebe ein Element der Libido gibt. Ich lehne ausdrücklich in dieser Erklärung das moralistische Bild des Menschen ab – nicht zugunsten eines tragischen Bildes, sondern zugunsten einer Lehre vom Menschen, in der das tragische Element mit dem moralistischen vereint ist, wie dies in der genuin christlichen Lehre vom Menschen versucht wird. Nietzsche und Freud und vom soziologischen Gesichtspunkt auch Marx haben recht, wenn sie die idealistische und moralistische Lehre vom Menschen in Frage stellen. Sie stimmen mit der christlichen Lehre vom Menschen überein, wenn sie den Willen zur Macht, die Libido, das Klassen-Interesse als die unausweichlichen Elemente in jeder menschlichen Tätigkeit und selbst in den höchsten Formen des menschlichen Lebens zeigen, in der Frage nach der Wahrheit und im Tun der Liebe. Des Menschen Freiheit ist des Menschen Schuld. Der Moralismus sagt: Du kannst, wenn du willst. Der Fehler dieses Satzes ist der, dass er unseren Willen von der Totalität unserer Existenz

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isoliert. Die Antwort muss lauten: Ich kann nicht wollen. Denn Wille und Entscheidung sind, wie wir sahen, Ausdruck der Einheit von uns selbst mit uns selbst. Und diese Einheit impliziert die Totalität unserer Existenz, und die Totalität unserer Existenz impliziert die Trennung unseres Selbst, und die Trennung unseres Selbst impliziert den Willen zur Macht und die Libido. So müssen wir auf der einen Seite Erasmus zustimmen, wenn er die essentielle Freiheit des Menschen lehrt. Auf der anderen Seite müssen wir Luther zustimmen, wenn er die existentielle Knechtschaft des Menschen lehrt. Das erste ist die Voraussetzung für das zweite. Nur die Freiheit kann gleichzeitig Knechtschaft sein. Tiere haben weder Freiheit noch Knechtschaft. Wille zur Macht und Libido sind grenzenlos, weil der Mensch per definitionem jede Begrenzung transzendiert. Der grenzenlose Wille zur Macht und die grenzenlose Libido sind in einigen symbolischen Gestalten der Menschheit sichtbar wie in Nero, Don Giovanni usw. Der durchschnittliche Mensch bleibt in gewissen Grenzen, aber diese Tatsache ist nicht von prinzipieller Bedeutung; die Grenzen sind von außen oder durch innere Schwäche erzwungen. Prinzipiell ist jeder Schritt in der Erfüllung des Willens zur Macht und der Libido grenzenlos, weil es keine wirkliche Erfüllung geben kann. Darum haben diese Tendenzen in sich selbst einen Abgrund des Nichts, der ein Abgrund der Sinnlosigkeit ist. Freud hat eine Tendenz entdeckt, die er „Todestrieb“ nennt. Ich glaube nicht, dass diese Tendenz echt ist und mit dem Willen zur Macht oder der Libido in Verbindung gebracht werden kann. Trotzdem ist diese Tendenz eine Wirklichkeit und verbunden mit der Sinnlosigkeit als der notwendigen Konsequenz des grenzenlosen Willens zur Macht und der Libido. Wir antizipieren in unserer Seele die Unmöglichkeit, uns auf die von uns beschriebene Weise zu verwirklichen; und indem wir dies antizipieren, entsteht der Todestrieb als die Möglichkeit, der Verzweiflung zu entgehen. Denn diese Beschreibung des grenzenlosen Charakters des Willens zur Macht und der Libido war eine Beschreibung der Verzweiflung. Schuld ist Verzweiflung, und Verzweiflung ist Schuld; und beide sind Trennung. Ich hoffe, es ist klar, dass ich keine psychologische Beschreibung gebe. Psychologisch sind Verzweiflung, Sinnlosigkeit, Todestrieb selten zu finden; sie sind äußerste Möglichkeiten, aber als äußerste Möglichkeiten offenbaren sie die Struktur und die Tendenzen unserer Existenz. Sie zu beschreiben ist unsere Aufgabe und nicht, ein psychologisches Bild des durchschnittlichen menschlichen Verhaltens zu zeichnen.

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Kontingenz und Schuld, Angst und Verzweiflung werden in unserer Analyse unterschieden, in Wirklichkeit gehören sie zusammen. Kontingenz wird als Schuld und Schuld wird als Kontingenz in vielen religiösen Dokumenten ausgedrückt, in denen die absolute Distanz des Menschen von Gott als objektive Schuld des Menschen gegenüber Gott interpretiert wird. Es waren vor allem die griechischen Tragödien, die sich mit der Offenbarung der menschlichen Kontingenz gegenüber der göttlichen Notwendigkeit befassten. Und diese Offenbarung ist immer eine Offenbarung der Schuld des Menschen. Der prophetische Bericht von Jesaja 6 enthält dieselbe Erfahrung: Des Menschen Endlichkeit ist seine Kontingenz und gleichzeitig seine Schuld. Es gibt keine spezielle moralische Verfehlung. Es gibt nur die menschliche Situation im Verhältnis zu Gott. Der Unterschied zur griechischen Tragödie besteht nur darin, dass die Schuld in der Tragödie keine persönliche oder moralische Verfehlung ist, während der Prophet seine Sünde als seine persönliche Verantwortung fühlt, aber die Situation einer absoluten Distanz, einer Identität von Kontingenz und Schuld ist hier wie dort die gleiche. So sind auch Angst und Verzweiflung identisch. Fremdheit, Sorge, Schwermut bekommen ihren Ernst durch ihre Verbindung mit der Verzweiflung. Nur so ist ein Wort wie dieses verständlich, dass der Tod der Sünde Sold ist.1 Schwermut impliziert die Verzweiflung der Trennung. Der Tod als die Konsequenz der Begrenzung ist keineswegs mit Schuld überhaupt verbunden. Sterbenmüssen ist als Ausdruck unserer Endlichkeit schuldhafte Trennung von unserer Unendlichkeit. Nicht Begrenzung und Tod, sondern Endlichkeit und Sterbenmüssen sind mit Verzweiflung und Schuld verbunden. Darum impliziert die Angst, sterben zu müssen, Verzweiflung und mehr oder weniger den Willen zum Tode. Die Verbindung dieser Elemente ist menschliche Endlichkeit und nur menschliche Endlichkeit. Ein Vergleich mit der Begrenzung und mit dem Tod als Konsequenz der Begrenzung ist unsinnig. 4. Wir fragen nun: Wenn dies die Grundstruktur menschlicher Existenz ist, wenn die Endlichkeit mit Kontingenz und Schuld, mit Angst und Verzweiflung Strukturformen sind, die unsere Existenz tragen, wie 1

Röm 6, 23.

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ist dann Leben möglich? Wie ist Leben auf der Basis menschlicher Endlichkeit aufgebaut? Es gibt drei Wege, in der Situation der Endlichkeit zu bleiben. Der erste ist der Weg der Bewahrung unserer endlichen Existenz durch Vermeidung der äußersten Möglichkeiten und Situationen. Es ist der Weg der Mitte, weit entfernt von den Grenzlinien unserer endlichen Existenz. Es ist der Weg der Flucht vor der Endlichkeit durch Vermeidung der Unendlichkeit und der Flucht vor der Unendlichkeit durch Vermeidung der Endlichkeit. Es ist der Weg des Durchschnitts, der durch die Schaffung einer begrenzten Notwendigkeit vermeidet, der Kontingenz ins Auge zu blicken, oder durch die Schaffung eines gewissen Mutes, einer gewissen Sicherheit, einer gewissen Macht, die Tatsache des Sterbenmüssens zu verbergen, vermeidet, der Angst ins Auge zu blicken. Es ist der Weg, der durch die Schaffung einer begrenzten Moralität vermeidet, der Schuld ins Auge zu blicken, und der durch die Schaffung einer gewissen Harmonie die Verzweiflung vermeidet. Dieser Weg ist möglich. Es ist der Weg der breiten Mehrheit der Menschen. Soziologisch gesprochen, ist es der Weg der Schaffung einer gewissen bürgerlichen Sicherheit, die nicht beunruhigt zu werden wünscht durch die Drohung, die von der äußersten Möglichkeit menschlicher Existenz ausgeht, weder in individueller noch in sozialer Hinsicht, weder in der Theorie, wie ich sie gebe, noch in der Praxis, wie die Geschichte sie gibt. Aber die äußerste Möglichkeit, die Drohung des Nichts, liegt in der Existenz des Menschen und wird immer wieder in jedem Leben und in jeder sozialen Gruppe manifest. Es gibt kein wirkliches Entrinnen, es gibt nur eine ständige Flucht. Und manchmal gelingt die Flucht nicht. Es gibt darum eine zweite Haltung, die wagt, dem absoluten Nichts ins Auge zu blicken1: die heroische Haltung. Sie wird in der Geschichte durch den Stoizismus vertreten. Der Stoizismus nimmt die tragische Situation der menschlichen Existenz auf sich. Er blickt dem absoluten Nichts ins Auge und versucht, es zu ertragen. Es gibt viele hochstehende Menschen, die diese Haltung hatten und haben. Jeder, der sich selbst aufopfert, ohne für sich selbst zu hoffen, hat diese heroische Haltung, die die tragische Situation dadurch überwindet, dass sie sie auf sich nimmt. Ich glaube, diese Haltung ist die einzige ernsthafte mit dem Christentum konkurrierende Haltung heute, was 1

Folgt gestr.: Sie hat zwei verschiedene Tendenzen: die heroische und die dekadente

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die individuelle Haltung betrifft. Die Frage ist, ob eine exakte Analyse zeigen kann, dass der Heroismus, der die eigene Endlichkeit auf sich nimmt, eine latente Identifikation mit seiner eigenen Unendlichkeit impliziert, wenn auch in der Form, aus ihr ausgeschlossen zu sein. Ich denke, nur diese paradoxe Identifikation macht einen Heroismus ohne Hoffnung möglich. Des weiteren kann gefragt werden, ob dieser Heroismus Schuld und Verzweiflung zu überwinden imstande ist. Im Angesicht unserer Schuld können wir nicht heroisch sein. Der Stoizismus muss die äußerste Situation unserer Schuld leugnen, um seinen Heroismus aufrechterhalten zu können.1 Schließlich gibt es eine dritte Haltung, die der eigenen Endlichkeit ins Auge blickt, nicht um sie auf sich zu nehmen, sondern um sie durch die Auslöschung der eigenen Existenz zu überwinden. Diese Haltung drückt sich aus in den großen Formen der Mystik und Askese, so in der neuplatonischen Philosophie, der Religion der Vedantas, der Praxis der buddhistischen Mönche. Verneinung des eigenen Selbst und Verneinung der eigenen Welt, um die eigene Endlichkeit zu verneinen – das ist der Sinn dieses Weges. Er impliziert den Verlust der Freiheit durch Freiheit, er überwindet die Trennung durch Überwindung der Existenz. Es ist klar, dass für diese Lehre die Freiheit ohne Bedeutung ist. Folglich ist die Lehre vom Menschen in ihrem Zentrum nicht eine Lehre von der Freiheit und der Schuld, sondern von der Überwindung von Selbst und Welt als bloßen Erscheinungen ohne letzte Wahrheit. Auch diese Lehre setzt ebenso wie der Stoizismus eine ungebrochene Identität unserer selbst und unserer Unendlichkeit voraus. Auch diese Lehre vermeidet die äußerste Situation, in der unsere Kontingenz Schuld und Verzweiflung ist. Während der Stoizismus als praktische Haltung und als Interpretation des Menschen eine gegenwärtige Macht in der westlichen Welt darstellt, bilden Mystik und Askese die traditionelle Macht in den großen östlichen Religionen. Das Christentum lehnt alle drei Wege ab, weil keiner von ihnen der äußersten Situation, der menschlichen Endlichkeit mit Kontingenz und Schuld, mit Angst und Verzweiflung ohne Einschränkung ins Auge geblickt hat. Das Christentum aber geht von dieser Situation aus. Es geht aus von der Frage nach der Notwendigkeit und 1

Folgt gestr.: Die zweite Weise, die eigene Endlichkeit auf sich zu nehmen, ist die Haltung der Dekadenz, die mit dem Willen zum Tod und zur Sinnlosigkeit verbunden ist.

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Unendlichkeit, aus der wir ausgeschlossen sind durch die Endlichkeit unserer Existenz. Diese Frage verneint nicht unser Uns-selbst-Haben und unser Welt-Haben, sondern bejaht es. Es will keine Unendlichkeit durch Vernichtung unseres unabhängigen Selbst. Es will es erhalten, es will seine Welt erhalten, und das heißt, es will die Trennung, obwohl sie Kontingenz, Schuld und Verzweiflung impliziert. Folglich ist diese Frage eine Frage nach einem absoluten Paradox, aus anthropologischer Sicht nach einer Unmöglichkeit. Aber genau dies und dies allein ist die Haltung, in der die christliche Botschaft angenommen werden kann.1

IV. Anthropologische Fragen und theologische Antworten 1. Jede ernsthafte Lehre ist eine Antwort auf Fragen, die wirklich entstanden sind und wirklich gestellt werden. Antworten ohne Fragen sind unverständlich; sie haben keinen Sinn für die, die nicht nach ihnen gefragt haben. Das ist der Grund für die Tatsache, dass die christlichen Lehren für die meisten Christen und Nichtchristen heute unverständlich sind, sie sind keine Antworten auf die Fragen, die sich ihnen in ihrer Existenz stellen oder, genauer gesagt, sie sind nicht als solche Antworten erkennbar. Die Lehre vom Menschen ist der gegenwärtige Zugang zur Theologie, weil sie die christliche Lehre verständlich macht als Antworten auf Fragen, die immer Fragen für den Menschen sind, und weil sie Deutungen der realen Existenz des Menschen sind. Denn der Mensch ist eine Frage, bevor er Fragen stellt. Dass er fragt, ergibt sich aus seiner Existenz; es ist nicht willkürlich, sondern so notwendig wie die Existenz des Menschen selbst. Wir sind eine Frage, wir sind sogar die Frage, unsere Existenz ist die Frage, wir können darum fragen, fragen nach einer Antwort, die uns transzendiert. Wenn wir die Frage sind, können wir nicht gleichzeitig die Antwort sein. Die Antwort auf die mit unserer Existenz gegebene Frage kann nicht von unserer Existenz kommen, sie muss von jenseits unserer Existenz kommen. Wenn wir nach etwas fragen, was nicht wir selbst sind, können wir eine Antwort in uns 1

Folgt gestr.: Die Lehre vom Menschen ist letzten Endes eine Lehre von der Existenz des Menschen als existentieller Frage nach …

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selbst und durch uns selbst finden. Wenn wir nach uns selbst fragen, weil wir uns nicht selbst haben, können wir die Antwort nicht in uns selbst und durch uns selbst finden.1 Folglich ist die Lehre vom Menschen nur insofern ein Zugang zur Theologie, als sie die menschliche Existenz deuten kann als die reale Frage nach der Transzendenz, als eine Frage, die unabhängig von allem bewusstem Fragen gegeben ist, welche eine Realität nicht nur unseres Geistes ist, sondern auch unseres Leibes, der unsere Existenz näher bestimmt, nämlich unsere Endlichkeit. Unsere endliche Existenz an sich ist die Frage nach der Transzendenz. Indem die Lehre vom Menschen unsere Existenz und unsere Endlichkeit deutet, ist sie Religionsphilosophie und zwar die einzige, so denke ich, die wir heute haben können. Darin liegt die Einsicht, dass die Religionsphilosophie nur die Fragen erklären kann und von sich selbst aus keine Antworten geben kann. Wollte sie dies doch versuchen, wäre sie nicht eine Lehre vom Menschen einschließlich seines Selbst und seiner Welt und des Verhältnisses zwischen beiden, sondern wäre der Versuch, transzendente Antworten in menschliche Möglichkeiten umzuwandeln. Der Widerstand von Karl Barth und der so genannten dialektischen Theologie gegen eine Religionsphilosophie ist berechtigt, wenn er diesen Weg ablehnt. Aber er ist nicht berechtigt, wenn er die Religionsphilosophie oder eine Lehre von der Endlichkeit des Menschen ganz und gar ablehnt. Denn Antworten ohne Fragen sind unverständlich. Die christlichen Lehren würden als ein Fremdkörper in unserem Geiste ohne irgendeine Beziehung zu ihm bleiben, wenn wir nicht imstande wären, sie als transzendente Antworten auf existentielle Fragen zu interpretieren. Barths Widerstand gegen diese Möglichkeit ist supranaturalistische, nicht dialektische Theologie. Es dürfte zweifelhaft sein, ob es richtig ist, diese Arbeit2 natürliche Theologie zu nennen. Die Natur des Menschen ist die Essenz des Menschen. Die Existenz des Menschen, die die Eigenschaft der Endlichkeit hat, ist nicht seine Natur. Existenz ist der Gegensatz zur Essenz oder zur Natur des Menschen. Darum kann die Deutung der menschlichen Endlichkeit eine theologische Lehre vom Menschen genannt werden. Aber wenn man das tut, muss man zugeben, dass die Theologie in diesem Punkt Philosophie ist und umgekehrt. 1 2

Folgt gestr.: weil gerade wir selbst es sind, wonach wir fragen Gemeint ist die Religionsphilosophie.

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Der theologische Charakter der Philosophie der Existenz und Endlichkeit wird deutlicher durch folgende Betrachtung. Fragen sind immer abhängig von einigen Voraussetzungen.1 Wir können diese Voraussetzungen interpretieren als Antworten auf vorherige Fragen. Das heißt: In allen Fragen sind vorherige Antworten enthalten, die wir bekommen und akzeptiert haben. So ist die Frage nach dem Transzendenten nur möglich durch Antworten, in denen das Transzendente als eine Möglichkeit wahrgenommen worden ist, und so weiter. Am Ende muss es eine Antwort geben, die mit einer Frage identisch ist, und eine Frage, die mit einer Antwort identisch ist: Der Akt, in dem der Mensch Mensch wurde mit Freiheit und Endlichkeit.2 Das bedeutet: Der Mensch ist von Anfang an mehr als Natur, der Mensch ist von Anfang an in der Geschichte; oder: Die Geschichte ist von Anfang an in ihm. Darum kann die Religionsphilosophie als Lehre von der menschlichen Endlichkeit nicht natürliche Theologie genannt werden.3 Religionsphilosophie ist Interpretation der genuinen transzendenten Antwort und der genuinen existentiellen Frage, die4 die Geschichte der Menschheit in Gang setzt.5 Die transzendente Antwort kann allein durch den Glauben wahrgenommen werden. Aber Glaube ist keine anthropologische Sache, er ist keine menschliche Möglichkeit. Wäre er eine menschliche Möglichkeit, dann wäre er an die menschliche Endlichkeit und Kontingenz, an Irrtum und Schuld gebunden. Dann wäre er nicht die Macht der Erlösung von diesen6, die er ja eigentlich sein sollte. Glaube ist weder eine menschliche Möglichkeit noch eine menschliche Unmöglichkeit. Er ist im Menschen, aber nicht vom Menschen. Der Glaube kann in ihm sein, weil seine Endlichkeit die Beziehung zur Unendlichkeit enthält, wenn auch in der Form, aus ihr ausgeschlossen zu sein. Der Glaube kann nicht von ihm sein, weil er aus der Unendlichkeit ausgeschlossen ist, wenn er auch auf sie bezogen ist. Der Mensch kann Antworten vom Transzendenten nur durch den 1 2

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Folgt gestr.: nach denen wir in diesem Falle nicht fragen Ms.: Finally there must be an answer, which is identical with a question and a question which is identical with an answer: The act in which man has become man with freedom and finiteness. Folgt gestr.: aber sie ist gleichzeitig Theologie und Philosophie. Folgt gestr.: identisch sind und … Folgt gestr.: mit den Antworten und Fragen, in welchen die definitive/letzte Antwort auf die letzte Frage vorbereitet wird. Gemeint: von Endlichkeit, Kontingenz, Irrtum und Schuld

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Glauben erhalten. Folglich kann er jene genuine Identität von Frage und Antwort nur im Glauben wahrnehmen. Der Glaube beginnt mit dem Menschen, nämlich mit des Menschen Endlichkeit und der Frage, die in seiner endlichen Existenz enthalten ist. Die menschliche Sehnsucht nach Erlösung seines Selbst und seiner Welt enthält ein Element des Glaubens, weil sie die vorherige Bejahung einer transzendenten Antwort enthält. Ohne in irgendeiner Weise ergriffen und jenseits unserer eigenen Endlichkeit getragen zu sein, wäre unsere Endlichkeit nicht das, was sie ist, die existentielle Frage nach dem Transzendenten. Wenn Sie nun dieser Behauptung widersprechen würden mit der Gegenbehauptung, dies sei wieder ein allgemeiner Glaubensbegriff, würde ich antworten, dass der Mensch als existentieller keineswegs ein allgemeiner Begriff ist, dass der Mensch als existentieller die konkrete Menschheit ist, die Geschichte hat und der jeder einzelne angehört – nicht als Exemplar einer Gattung, sondern als Glied einer lebendigen Wirklichkeit, das nur einmal existiert, in einer Geschichte, die nur einmal vorkommt. Wir können die menschliche Endlichkeit nicht ohne die Beziehung zur menschlichen Existenz als Menschheit und in der Geschichte betrachten. Glaube ist keine menschliche Möglichkeit, sondern eine Wirklichkeit, die in der Geschichte vorkommt, die der Geschichte Sinn und Ziel gibt, obwohl sie doch nicht aus der Geschichte kommt. Diese Einheit der Lehre vom Menschen, der Geschichte und des Glaubens muss die alte natürliche Theologie ersetzen, die ein Produkt der griechischen Philosophie ist, entsprechend der tragischen Interpretation der menschlichen Existenz, in der es weder Geschichte noch Glauben gibt.1 Wenn der Mensch durch seine Existenz in der Geschichte ist und Geschichte in ihm ist, können die transzendente Antwort und die menschlichen Fragen nur in der Geschichte aufgenommen werden, das heißt: an einem konkreten Ort der Geschichte; denn die Geschichte ist nicht der Bereich allgemeiner Begriffe, sie ist die Sphäre konkreter Entscheidungen. So wird die genuine Antwort und 1

Folgt gestr.: Sich-selbst-Haben als Geschichte-Haben meint, dass die Totalität unserer Existenz sich offenbart in der Form des Kommens von-her und des Gehens auf-zu. In der tragischen und mystischen Interpretation der menschlichen Existenz ist diese Struktur unserer Zeit bedeutungslos, denn es gibt doch kein klares Ziel. Nur in der prophetischen Interpretation hat diese Struktur Sinn, nämlich das Kommen her von Schuld und Verheißung (wir nannten es Frage und Antwort) und des Gehens auf Erlösung und Erfüllung zu. Nur die prophetische Lehre vom Menschen kennt den Menschen als existentiell geschichtlich.

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die genuine Frage für den Menschen sichtbar nur in den konkreten Entscheidungen der Geschichte, nicht durch Abstraktion von der Geschichte und nicht durch natürliche Theologie. Dies wiederum impliziert, dass es keinen philosophischen oder anthropologischen Weg zur Rationalisierung des geschichtlichen Ortes gibt, an dem wir die Antwort auf die Frage unserer Existenz erhalten. Das Wort „Offenbarung“ meint genau diesen Sachverhalt. Offenbarung ist nicht Kommunikation von Wahrheiten durch eine transzendente Wirklichkeit, wie der Supranaturalismus denkt. Offenbarung ist die Korrelation von Glaube und transzendenter Antwort einerseits und der Frage, die aus unserer Endlichkeit kommt, andererseits. Die Lehre vom Menschen kann keine Antwort geben. Aber sie kann zeigen, dass es eine Antwort gibt, weil es in und mit der menschlichen Existenz und Endlichkeit eine Frage gibt. Und nun müssen wir eine vollständige Wende in unserer ganzen Betrachtung vollziehen, wir müssen einräumen, dass es ohne die Offenbarung, wie sie in der Geschichte aufgenommen wurde, überhaupt keine Lehre vom Menschen gäbe. Nicht die transzendente Antwort hängt von der Lehre vom Menschen ab, sondern die Lehre von der menschlichen Endlichkeit hängt von der transzendenten Antwort ab. Darum blieb die reine Philosophie immer innerhalb der Lehre von der menschlichen Freiheit. In dem Moment, in dem Philosophen wie Plato und Kant über diese Grenze hinausgingen, versicherten sie, einen Mythos zu erzählen. So Plato in seinem Mythos von der menschlichen Seele, ihrer Gefangenschaft und Befreiung, so Kant in seinem Mythos vom transzendenten Fall des Menschen und der Perversion seines Willens. So impliziert die Philosophie der Existenz die christliche Mythologie. Trotzdem ist sie Philosophie; sie ist eine methodologische Analyse und Synthese, verbunden mit der Lehre von der menschlichen Freiheit und so mit der ganzen wissenschaftlichen Lehre vom Menschen. In der Lehre von der menschlichen Endlichkeit finden die zwei Elemente zueinander: Offenbarung auf der einen Seite, rationale Analyse auf der anderen Seite; sie finden zueinander, aber sie hängen nicht von einander ab. Das macht eine Religionsphilosophie möglich.1 1

Ms.: If man by existence is in history and history is in him, the transcendent answers and the human questions can only [be] received in history that means in a concrete place of history; for history is not a realm of general concepts, it is the sphere of concrete decisions. So the genuine answer and the genuine question becomes visible for man only within the concrete decisions of history, not through abstraction from history, not through natural theology. That again

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2. Die Theologie hat die in der Offenbarung gegebene und im Glauben aufgenommene Antwort durch einige elementare Lehren gedeutet. Diese Lehren bieten eine Interpretation des kirchlichen Glaubens mit rationalen Mitteln. Sie hängen von zwei Elementen ab, einerseits vom Glaubensbekenntnis, was das Wort „Offenbarung“ andeutet, andererseits von den rationalen Mitteln, von Begriffen oder Kategorien, die sie verwenden. Die Lehre vom Menschen, insbesondere von der menschlichen Endlichkeit, gibt uns neue Mittel zur Deutung des christlichen Glaubens, in Begriffen, die verständlich sind, weil sie die Fragen zeigen, auf die der Glaube die Antwort andeutet. Lassen Sie mich dies durch die Interpretation der vier elementaren Lehren des christlichen Glaubens nachweisen: Schöpfung, Vorsehung, Ewigkeit, Erlösung. Sie entsprechen den vier Richtungen, mit denen wir die menschliche Endlichkeit gedeutet haben: Fremdheit, Unsicherheit, Sterbenmüssen, Schuld. Wie in der Lehre von der menschlichen Endlichkeit, so gehören auch in der Theologie die ersten drei zusammen. Wir sprachen über die menschliche Kontingenz als übergreifende Kategorie. So können wir nun über die transzendente Notwendigkeit als übergreifenden Begriff sprechen. Und wie der übergreifende Begriff implies that there is no philosophical or anthropological way of rationalizing the historical place in which we receive the answer to the question of our existence. The word revelation means exactly this matter. Revelation is not the communication of true ideas by a transcendent reality as supranaturalism thinks. Revelation is the correlation of faith and the transcendent answer to the question of our finiteness. The doctrine of man cannot give an answer. But the doctrine of man can show that there is answer, because there is question in and with human existence and finiteness; and now we have to make a complete turn of the whole consideration. We have to admit, that without revelation as being received in history, there would not be a doctrine of man at all; not the transcendent answer depends on the doctrine of man; but the doctrine of man’s finiteness depends on the transcendent answer. Therefore pure philosophy always remained in the doctrine of human freedom. In the moment in which philosophers as Plato and Kant went beyond this boundary they assured to tell a myth. So Plato in his myth of human soul, its captivity and its liberation; so Kant in his myth of the transcendent fall of man and the perversion of his will. So the philosophy of existence implies the Christian mythology. Nevertheless it is philosophy; it is a methodological analysis and synthesis, connected with the doctrine of human freedom and this means with the whole scientific doctrine of man. In the doctrine of human finiteness the two elements find each other: revelation on the one, rational analysis on the other side. They find each other but they don’t depend on each other. That is the possibility of a philosophy of religion.

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für die menschliche Existenz allgemein die Endlichkeit ist, so müssen wir nun von einer transzendenten Unendlichkeit sprechen.1 Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, können wir die Idee Gottes im allgemeinen wie folgt deuten: Gott ist der Ausdruck für den Glauben, dass die menschliche Endlichkeit von einer transzendenten Unendlichkeit umfangen ist. Oder2: Gott ist der Ausdruck für das Paradox, dass der Mensch in seiner Endlichkeit und Trennung gleichzeitig transzendente Unendlichkeit und Einheit hat.3 Auf diese Weise wird die unmögliche und ruinöse Frage nach der Existenz Gottes vermieden. Weil eine solche Frage den Begriff eines transzendenten Gegenstandes voraussetzt, über dessen Existenz oder Nichtexistenz diskutiert werden könnte wie über die Existenz oder Nichtexistenz eines neuen Sterns. Die Voraussetzung einer solchen Diskussion ist atheistisch, so dass der Atheist hier immer im Recht ist, genau wie in der Diskussion zwischen dem Determinismus und Indeterminismus die Voraussetzung deterministisch ist, so dass der Determinist immer im Recht ist. Gott ist der Ausdruck für das paradoxe Verhältnis des Menschen zum Unendlichen, von dem er getrennt ist.4 3. Endlichkeit des Menschen ist zunächst Kontingenz des Menschen. Von diesem Gesichtspunkt aus machen wir folgende Aussage: Gott ist der Ausdruck für den Glauben, dass die Kontingenz des Menschen von einer transzendenten Notwendigkeit umfangen ist. Oder: Gott ist der Ausdruck für das Paradox, dass der Mensch in seiner Kontingenz und Angst gleichzeitig transzendente Notwendigkeit und Sicherheit hat. Auf diese Weise verlieren die Begriffe Allmacht, Allgegenwart, Allwissenheit usw. ihren objektivierenden Charakter. Sie werden vom 1

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Ms.: We spoke about human contingency as the embracing category. So now we can speak about transcendent necessity as the embracing concept. And as the embracing concept for human existence in general finiteness is, so we have to speak of a transcendent infinity. Folgt gestr.: dass das Paradox/dass der Mensch in seiner Endlichkeit gleichzeitig Unendlichkeit hat. Ms.: God is the expression for the belief that human finiteness is comprehended in a transcendental infinity or God is the expression for the paradox that man in his finiteness and separation at the same time has transcendent infinity and unity. Ms.: God is the expression for the paradoxical human relationship to the infinite, from which he is separated.

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Standpunkt der Offenbarung und des Glaubens aus als eigentliche Elemente der menschlichen Existenz verständlich; sie drücken eine transzendente oder paradoxe Notwendigkeit und Sicherheit aus. Wenn wir die Formel „Sich-selbst-Haben“ verwenden, könnten wir sagen: Gott ist der Ausdruck für das Paradox, dass wir in dem endlichen und kontingenten Uns-selbst-Haben an dem absoluten Sich-selbst-Haben teilhaben. Solch ein Ausdruck würde die Analogie von Mensch und Gott in jeder konkreten Religion verständlich machen, den so genannten personalen Charakter Gottes. Auch dieses Problem kann vom Standpunkt des objektivierenden Denkens aus nicht gelöst werden, es kann nur gelöst werden, wenn die Idee eines persönlichen Gottes als Ausdruck des absoluten Sich-selbst-Habens oder als paradoxes Verhältnis des kontingenten Sich-selbst-Habens interpretiert wird. Von diesem Gesichtspunkt aus wird die Frage, ob Gott Person ist oder nicht, so sinnlos wie die Frage, ob er existiert oder nicht existiert. Gott ist der Ausdruck für den Glauben, dass die menschliche Schuld in einer transzendenten Vollkommenheit überwunden ist. Gott ist der Ausdruck für das Paradox, dass der Mensch in seiner Schuld und Verzweiflung gleichzeitig transzendente Vollkommenheit und Heiligkeit hat. Wir können das Problem, wie Gott das Böse entstehen lassen kann, und das objektivierende Problem der Theodizee abweisen. 4. Wir können nun die vier elementaren Begriffe der christlichen Lehre erklären. Zunächst die Schöpfung. Schöpfung ist der Ausdruck des Glaubens, dass die Fremdheit des Menschen in seiner Welt in der transzendenten Einheit seiner selbst und seiner Welt überwunden ist. Oder: Schöpfung ist der Ausdruck für das Paradox, dass der Mensch in seiner Fremdheit, Einsamkeit und Handlungsunsicherheit gleichzeitig transzendente Einheit, Beziehung und Handlungszuversicht hat. Und weiterhin drückt Schöpfung aus, dass die Unbegreiflichkeit unserer Welt überwunden ist in einer transzendenten Begreifbarkeit. Und schließlich drückt Schöpfung aus, dass das absolute Nichts, dem wir ins Auge blicken, der transzendente Abgrund des absoluten Seins ist. Schöpfung aus dem Nichts ist der Ausdruck für das Paradox, dass der Mensch umfangen ist von dem Abgrund des Nichts und gleichzeitig von dem transzendenten und absoluten Sein.

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Auf diese Weise wird die Mythologie der Schöpfung abgewiesen. Schöpfung als ein Ereignis am Anfang der Zeit oder vor jeder Zeit, die Frage nach dem Nichts, aus dem die Welt geschaffen ist, das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf vor und nach der Schöpfung, all diese unlösbaren Fragen verlieren ihren Sinn durch die Behauptung, dass die Schöpfung das Paradox unserer transzendenten Einheit ist, die die Fremdheit überwindet, und des transzendenten absoluten Seins, das das absolute Nichts unserer Endlichkeit umgreift. Und die Idee Gottes als eines Vaters bekommt eine verständliche Interpretation durch die Lehre von einer paradoxen transzendenten Beziehung, die unsere Einsamkeit und Unsicherheit überwindet. Die Lehre von der göttlichen Allwissenheit bekommt den sinnvollen Inhalt, dass es für unseren Glauben eine transzendente Einheit der Wahrheit gibt, an der alles teilhat und die Wissen ermöglicht. Der Glaube an die Begreifbarkeit der Welt trotz ihrer Unbegreiflichkeit gehört zum Glauben an die Schöpfung auch in der säkularisierten Form der gegenwärtigen Wissenschaft. Die Vorsehung ist der Ausdruck für den Glauben, dass die menschliche Unsicherheit überwunden ist in einer transzendenten Sicherheit. Oder: Vorsehung ist der Ausdruck für das Paradox, dass der Mensch in seiner Unsicherheit, Sorge und Schicksalsangst gleichzeitig eine transzendente Sicherheit über sein Schicksal hat. Somit sind falsche Auffassungen über die Vorsehung abgewiesen. Das Wort „Vorsehung“ führte zu der Meinung, es gebe einen ausgedachten Plan, der alles in Beziehung zu allem bestimmt und in den in einigen Fällen mehr oder weniger mirakulösen Charakters Einblick genommen werden kann. Dieser mythologische Rationalismus kontrastiert so stark mit der Realität, dass die Idee der Vorsehung unerträglich und unverständlich wurde. Um das irrationale Element auszudrücken, haben einige Theologen den Ausdruck „Schicksal“ gewählt und versucht, diesen zu christianisieren. Ich selbst habe dies auch getan. Aber vielleicht ist es leichter, das Verständnis von Vorsehung zu erneuern. Ich denke, dass die Lehre von der menschlichen Endlichkeit dies ermöglicht. Die neue Interpretation der Vorsehung ist für das religiöse Leben vieler Menschen von großer Bedeutung; die rationale Interpretation ist für Millionen Menschen in Erfahrungen wie denen des Weltkriegs1 zusammengebrochen. Und weil es keine andere als die rationale 1

Gemeint ist der Erste Weltkrieg.

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Interpretation gab, brach der Glaube überhaupt zusammen. Ebenso wurde das Gebet durch die rationale Interpretation der Gebetserhörung unverständlich. All diese Irrtümer eines mythologischen Rationalismus sind durch eine Interpretation der Vorsehung, die von der menschlichen Existenz ausgeht, erledigt. Ewiges Leben ist der Ausdruck für den Glauben, dass die menschliche Schwermut oder das Sterbenmüssen überwunden ist in einem transzendenten Leben. Oder: Ewiges Leben ist der Ausdruck für das Paradox, dass der Mensch in seiner Angst vor dem Sterbenmüssen, in der Schwermut seiner Endlichkeit, gleichzeitig eine transzendente Ewigkeit und Erfüllung hat. Damit ist vor allem die Unsterblichkeitsidee aus der christlichen Lehre entfernt. Unsterblichkeit ist ein griechischer, nicht ein christlicher Begriff. Er setzt die natürliche Identität unseres Selbst und unserer Unendlichkeit voraus; er setzt ferner den Dualismus von Körper und Seele voraus, weil eine natürliche Ewigkeit des Körpers nicht behauptet werden kann. Nur die Seele ist unsterblich, aber die Seele ist körperlose Seele mit einem individuellen Selbst. Folglich lehrte Aristoteles die Ewigkeit nur für den menschlichen Geist, der ihm zufolge jede individuelle Seele transzendiert. Diese Lehre stimmt mit dem tragischen Heroismus überein, nicht aber mit dem Christentum. Ewiges Leben ist hinsichtlich der Totalität unserer Existenz von Unsterblichkeit zu unterscheiden. So drückt die Auferstehung die christliche Deutung des Menschen als eines unabhängigen Selbst mit individueller Seele und Körper viel besser aus. Andererseits müssen wir die mythologischen Elemente der Lehre von der Auferstehung zurückweisen, nämlich Auferstehung als ein zeitliches Ereignis in der Sphäre von Raum und Materie. Ewiges Leben kann nur verstanden werden durch die Interpretation menschlicher Endlichkeit als paradox umfangen von der Unendlichkeit in Anbetracht der Totalität unserer Existenz, das heißt unseres Uns-selbst-Habens, unseres Seele-Seins mit den zwei wesentlichen Beziehungen von Körper und Geist. Sichselbst-Haben als Teilhaben am absoluten Sich-selbst-Haben würde den religiösen Sinn des ewigen Lebens in einer Weise ausdrücken, in der einerseits der Rationalismus, andererseits die Mythologie vermieden wären.

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5. Erlösung ist der Ausdruck für den Glauben, dass menschliche Schuld und Verzweiflung die Qualität der Sünde haben und dass die Sünde überwunden ist durch eine transzendente Vollkommenheit. Oder: Erlösung ist der Ausdruck für das Paradox, dass der Mensch in Schuld und Verzweiflung einerseits Sünder ist und andererseits eine transzendente Vollkommenheit und Heiligkeit hat. Diese Definition enthält vor allem die Einsicht, dass im Verhältnis zu unserer transzendenten Vollkommenheit Schuld und Verzweiflung Sünde sind. Sünde ist – anders als Schuld und Verzweiflung – keine anthropologische Kategorie. In der Sünde sind beide Elemente enthalten, erstens Schuld und Verzweiflung als anthropologisches Fundament, sozusagen das Material, und zweitens das negative Verhältnis zu unserer eigenen transzendenten Vollkommenheit, das Uns-selbst-Haben als Verweigerung der Teilhabe am absoluten Sichselbst-Haben. Auf diese Weise erhält unsere existentielle Situation in Schuld und Verzweiflung eine neue Interpretation: Sie manifestiert sich nun als Widerspruch zu unserer transzendenten Unendlichkeit. Und das wiederum ist nur möglich insofern, als die transzendente Unendlichkeit selbst als eine transzendente Möglichkeit für uns erscheint, das heißt als Erlösung. Sünde ist Sünde nur in Beziehung zur Erlösung, nämlich als Verneinung der transzendenten Möglichkeit der Erlösung. In der Sünde ist das anthropologische Material, nämlich Schuld und Verzweiflung, enthalten, aber sie bekommen eine neue Form, einen neuen Sinn. So ist Sünde eine Kategorie der Erlösung und nicht der Lehre vom Menschen. Erlösung ist ein Paradox, wie alle Begriffe unserer Beziehung zur Unendlichkeit ein Paradox sind. Das heißt: Die Lehre vom Menschen als ein Zugang zur Theologie ist eine protestantische Lehre; sie ist von der protestantischen Lehre abgeleitet, dass die Vergebung der Sünden und nicht eine Veränderung der menschlichen Existenz das Grundelement der Erlösung ist. Eine Lehre vom Menschen auf dem Hintergrund der protestantischen Interpretation impliziert die Überzeugung, dass Erlösung niemals eine anthropologische Kategorie sein kann. Andererseits ist Erlösung Erlösung des Menschen. Sie kommt nicht vom Menschen, aber sie geht den Menschen an.1 Gegenstand 1

Ms.: considers [gemeint: concerns?]

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der Erlösung ist der Mensch. Erlösung wäre nicht das, was das Wort meint, wenn sie dem Menschen gegenüber transzendent bliebe, wie dies manchmal in den Ausführungen von Karl Barth zu sein scheint. Doch wenn Erlösung Erlösung des Menschen ist, ist die Frage nach ihrer Beziehung zur menschlichen Existenz und Endlichkeit nicht zu umgehen. Sie war in vielen Perioden der christlichen Theologie die zentrale Frage. Die erste Lösung ist das Bild Christi im Neuen Testament. Mit meinen Kategorien interpretiert, würde ich sagen: Es ist ein vollständiges Bild menschlicher Existenz einschließlich der Angst und Kontingenz, der Verzweiflung und Schuld. Andererseits ist es ein Bild der vollständigen Teilhabe an unserer transzendenten Unendlichkeit, ohne dieser Unendlichkeit zu widersprechen oder ohne Sünde. Wenn ohne Sünde, dann auch ohne Vergebung der Sünde; wenn ohne Vergebung der Sünde, dann ohne Erlösung. Wenn ohne Sünde und ohne Erlösung, dann außerhalb der menschlichen Geschichte; wenn ohne die menschliche Geschichte, dann das Prinzip der menschlichen Geschichte, das der menschlichen Geschichte Sinn gibt. Wenn das Prinzip der menschlichen Geschichte, dann das Prinzip der Erlösung.1 Die Theologie hat versucht, dieses Prinzip auf verschiedene Weise auf die menschliche Existenz anzuwenden. Erstens die Lösung der griechisch-katholischen Kirche: Der Mensch verliert in der Erlösung nicht seine menschliche Endlichkeit mit Angst und Verzweiflung. Darum muss er immer in Demut und Selbstverneinung bleiben. Andererseits kann er ein Heiliger werden durch reale Teilhabe am Prinzip der Erlösung, das im Bilde Christi erschienen ist; er kann an der göttlichen Natur teilhaben, an unserer transzendenten Unendlichkeit und Ewigkeit. Vergebung der Sünden ist die Voraussetzung, aber nicht die wirkliche Situation der Erlösung. Es ist klar, dass diese Lösung der mystischen Lösung der Leugnung unseres Selbst, um unsere Unendlichkeit zu haben, nahe kommt, aber gleichzeitig hat sie die christliche Implikation, sich mit der menschlichen Existenz und Endlichkeit zu identifizieren. Die Spannung dieser Elemente führt zu dem besonderen Typus des griechischen Christentums, dem Verlust der Geschichte und der Tiefe der Demut und Mystik. 1

Ms.: If without sin […], if without human history the principal [!] of human history, giving meaning to human history; if the principal of human history the principal of salvation.

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Der römische Katholizismus hält an der grundlegenden Lösung fest, an der Idee des Heiligen. Aber er versucht, die transzendente Realität der Gnade mit der Natur im geschichtlichen und persönlichen Leben zu verbinden. Er bindet die Gnade an eine geschichtliche Institution, die Kirche und ihre Hierarchie; er versucht, die Natur, das heißt das geschichtliche und kulturelle Leben durch die Kräfte der Gnade zu beherrschen. Er stellt ein Stufensystem auf, in dem die mystische Verneinung unseres unabhängigen Selbst die höchste Stufe ist, aber außerhalb des ganzen Stufensystems keine Realität hat. Im Protestantismus wird die reale Teilhabe am Prinzip der Erlösung, der Heilige als Möglichkeit, verneint. Die Teilhabe behält den paradoxen Charakter der Vergebung der Sünden. Der Mensch bleibt ohne Beschränkung im geschichtlichen und persönlichen Leben, er bleibt ein unabhängiges Selbst nicht nur mit Angst und Verzweiflung wie Christus und jeder Heilige, sondern auch mit Sünde oder Widerspruch. Folglich schafft die Erlösung ein stärkeres persönliches und geschichtliches Leben – nicht durch die Beherrschung einer höheren Stufe der Heiligkeit, sondern durch die Paradoxie des Glaubens. Es ist klar, dass dieser Typus dem heroischen Typus nahe kommt, der von keiner Teilhabe an der transzendenten Unendlichkeit weiß. Trotzdem ist er christlich insofern, als er die Paradoxie des Glaubens impliziert, die eine paradoxe Teilhabe meint, wenn auch keine reale. Wir können verstehen, weshalb dieser Typus die Voraussetzung für die Säkularisierung des Christentums und seine Transformation in eine Lehre von der persönlichen Vervollkommnung und vom sozialen Fortschritt war. Wenn wir zwischen einem lutherischen und einem calvinistischen Typus unterscheiden, können wir leicht feststellen, dass der erste stärker dem griechischen, der zweite stärker dem römischen Typus des Katholizismus entspricht, hinsichtlich der Geschichte und der kulturellen Aktivität. Aber stärker ist der Unterschied zwischen den beiden Typen des Katholizismus einerseits und dem Protestantismus andererseits. Das Zentralproblem ist: Können wir den Heiligen1 als eine anthropologische Kategorie verstehen oder nicht? Meint „gratia infusa“, „eingegossene Gnade“, eine anthropologische Veränderung? Wenn ja, haben wir dann nicht eine transzendente Vollkommenheit, die eine immanente Realität ist derart, dass sie in einer Lehre vom Menschen erfasst und erklärt werden kann? Wenn wir dies 1

Ms: the Saint

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aber verneinen, wenn also die Erlösung transzendent bleibt und Heiligkeit nur eine paradoxe Aussage ist, was heißt dann Erlösung für den Menschen? Gibt es einen Ausweg aus dieser Alternative einer Erlösung, die zur menschlichen Existenz als einem Gegenstand der Lehre vom Menschen gehört, und einer Erlösung, die keineswegs zu ihr gehört? Die Antwort, die ich weiß, besteht im Gebrauch der Kategorien „Vertretung“ oder „vertretende Vorwegnahme“. Wenn es die Möglichkeit des Glaubens gibt oder – was dasselbe ist – die Möglichkeit, Sünde und Erlösung zu haben, muss diese Möglichkeit durch eine anthropologische Bestimmung vertreten werden, sodass diese Bestimmung zum Menschen gehört und ihre Bedeutung den Menschen transzendiert. Ich möchte dieses Element „Ekstase“ nennen. Der Mensch ist ekstatisch insofern, als er frei ist; er ist ekstatisch im Schaffen, Entscheiden, Spielen, in seiner Frage nach der Ewigkeit. Es gibt in jedem Glauben Ekstase. Die Ekstase ist nicht Glaube, aber sie kann seine anthropologische Vertretung sein. Und so können wir sagen, dass die Gedanken und Handlungen, die von der Ekstase getragen werden, vertretende Vorwegnahmen der transzendenten Vollkommenheit sein können. Aber sie können niemals diese Vollkommenheit selbst sein. Ekstase oder Ergriffensein oder Getriebensein über uns selbst hinaus ist nicht Erlösung, aber sie kann die Vertretung oder die vertretende Vorwegnahme der Erlösung sein. Dies ist, so denke ich, die einzige Weise, die Lehre vom Heiligen Geist, der in uns, aber nicht von uns ist, zu verstehen. Die Aussagen des Neuen Testaments stimmen mit diesem Gedanken überein. Die Lehre vom Menschen ist nicht Theologie, aber sie kann ein Zugang und Werkzeug der Theologie werden. Theologie ist nicht Glaube, sie ist Menschenwerk auf der Grundlage von Glaube und Offenbarung, aber sie arbeitet mit den Werkzeugen des Denkens, die dem menschlichen Geist gegeben sind. Darum sind wir verpflichtet, so denke ich, in jeder Periode des menschlichen Denkens die besten Werkzeuge für die Theologie und den besten Zugang zu ihr zu suchen. Es war mein Ziel in diesen Vorlesungen, Ihnen zu zeigen, dass die Lehre vom Menschen heute der beste Zugang zur Theologie ist und dass ihre Begriffe die besten Werkzeuge für die Theologie sind. Immer bedrohen zwei Gefahren die Theologie:1 die Theologie 1

Folgt gestr.: die Sache durch den Zugang zu ersetzen: Naturalismus oder ohne einen Zugang zu arbeiten: Supranaturalismus

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zu ersetzen durch den Zugang zu ihr, Humanismus zu lehren oder eine Theologie, zu der es überhaupt keinen Zugang gibt: Transzendentalismus. Einen möglichen Weg aufzuzeigen zwischen diesen beiden falschen Wegen, war die Aufgabe dieser Vorlesungen. Es ist ein Beginn, mehr nicht, aber vielleicht heute ein Beginn, der in der Zukunft hilfreich werden kann.

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3.8 Der Mensch im Christentum und im Marxismus1 (Universal Christian Council for Life and Work, Research Department, Dezember 1935)

I. Das Fehlen einer ausdrücklichen Anthropologie im Marx’schen Sozialismus und die Analogien im protestantischen Christentum 1. Marx hat seine Ablehnung jeder metaphysischen Anthropologie prinzipiell in der 6. und 7. These über Feuerbach formuliert (Karl Marx, Frühschriften, Kröner II, 42): „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. Von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren und ein abstrakt-isoliert-menschliches Individuum vorauszusetzen. 2. Das Wesen kann daher nur als ‚Gattung‘, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.“3 „Feuerbach sieht daher nicht, daß das ‚religiöse Gemüt‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“4 Marx hat diese Haltung nie aufgegeben. Selbst wo man versucht hat, Marxismus mit Ethik zu verbinden (Lassalle, Bernstein, Max Adler, Radbruch, Kranold5 usw.), fehlt eine entwickelte Anthropo1 2 3 4 5

Typ.: The Christian and the Marxist View of Man Marx II, 4. Marx II, 4. Marx II, 5. Albert Kranold, Vom ethischen Gehalt der sozialistischen Idee, Breslau 1930. „Die sittliche Idee des Sozialismus besteht nach Kranold darin, daß Freiheit und soziale Gerechtigkeit gesucht und garantiert werden. Der Selbstwert des Menschen müsse anerkannt und geachtet werden … Kranold … geht von der These aus, dass in katholischen Kreisen mehr Verständnis für die Auffassungen

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logie. Für die neuere deutsche Anthropologie, wie sie Scheler und implizit Heidegger begonnen haben, hat der Marxismus nichts als eine entschiedene Ablehnung übrig. „Die moderne philosophische Anthropologie gehört zu den späten Versuchen, eine Norm zu finden, die dem Leben des Individuums in der Welt, so wie sie jetzt ist, Sinn verleihen soll.“ (Max Horkheimer, [Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie], in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 4, 1935, 1-25 [5]) 2. Der Grund für die Ablehnung der Anthropologie durch den Marxismus ist ein zweifacher. (1) Ein theoretischer, von Marx in „Nationalökonomie und Philosophie“ so formuliert: „Die Natur ist die wirkliche Natur des Menschen, darum die Natur, wie sie durch die Industrie, – wenn auch in entfremdeter Gestalt wird, die wahre anthropologische Natur wird.“1 Ein allgemeiner Begriff des Menschen jenseits der sozialen Produktionsprozesse wird abgelehnt. Diese Zurückweisung schließt zugleich die Ansicht ein, dass die selbstwidersprüchliche wirkliche Welt kein Modell für einen solchen Begriff liefern kann. Um ein solches Modell zu bieten, müsste die wirkliche Welt erst verändert werden. Nur am Morgen einer erfolgreichen proletarischen Revolution würde Ontologie, einschließlich Anthropologie, praktikabel werden, wie ein geistreicher Marxist einst bemerkt hat. (2) Eng verbunden damit ist der praktische Grund für die marxistische Ablehnung der Anthropologie: „Die gegen notwendige historische Veränderungen seit je erhobene Rede, dass die Natur des Menschen dawider sei, soll endlich verstummen.“ (Max Horkheimer, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 4, 1935, 24) Das heißt, die Anthropologie hat eine reaktionäre Funktion insofern, als sie auf gegenwärtige und vergangene Formen menschlicher Existenz festlegt, anstatt mit der Möglichkeit einer grundlegenden Veränderung zu rechnen.

1

des Sozialismus und des Marxismus bestehen, während der Protestantismus der ideologische Ausdruck des Kapitalismus, der Niederschlag des Kapitalismus im religiösen Denken sei. Ferner kommt Kranold zu dem Ergebnis, dass die sittliche Idee des Sozialismus als Religion erlebt werden könne. In dem Streben nach einem Ziel, der Verwirklichung der wahren Gemeinschaft und dem Leiden an der Einsicht, es nicht vollkommen erreichen zu können, zeigt sich der Charakter der sozialistischen Religion“ (Kurt Kaiser, Materialien über den religiösen Sozialismus in Deutschland aus der Zeit von 1918-1933, Diss. phil. Basel; Köln 1962, 36c). Marx I, 304.

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3. Im nicht-marxistischen Sozialismus erscheinen anthropologische Anschauungen, die teilweise in den Marxismus selbst hineinreichen. Ihr wesentliches Motiv ist das Bedürfnis, zwischen den existierenden sozialen Bedingungen und solchen, die gefordert werden, zu vermitteln. Der erste, der anthropologisch denkt, ist der utopische (oder besser „rationale“) Sozialismus, dessen Kritik der Vergangenheit und Gegenwart einen Begriff des Menschen voraussetzt, wie die Aufklärung ihn entwickelt hat: „… we are but now advancing toward the dawn of reason, and the period when the mind of man shall be born again“ (Robert Owen1). Die vorrangige Bedeutung, die durch diese Form des Sozialismus der Erziehung zukommt, setzt ebenso einen normativen Begriff des Menschen voraus. – Im St.-Simonismus enthalten die besonders von Bazard entwickelte These von einem gesetzmäßigen Wechsel kritischer und organischer Perioden und die Utopie eines religiös geweihten Industriezeitalters wichtiges anthropologisches Material, das für die Kritik der gesamten Kultur im deutschen religiösen Sozialismus wichtig wurde. Der religiöse Sozialismus selbst hat sich mit dem Problem der Anthropologie direkt beschäftigt. Vgl. Eduard Heimanns Kampf um den Gesichtspunkt des Vitalen in der sozialistischen Sicht des Menschen, besonders in seinem Buch „Kapitalismus und Sozialismus“ [Potsdam 1931], und mein eigenes Buch „Die sozialistische Entscheidung“2 [Potsdam 1933], mit seiner durchgängig anthropologischen Argumentation. – Anthropologische Ideen finden sich auch in der neueren ethischen Entwicklung eines über Marx hinausführenden Sozialismus, z. B. bei Gustav Radbruch und Hendrik de Man. Vgl. Radbruch, „Kulturlehre des Sozialismus“ [Berlin 19223] und de Man, „Die sozialistische Idee“ [Jena 1933] und „Zur Psychologie des Sozialismus“ [Jena 1926]. Eine bestimmte Vorstellung vom Menschen findet sich schließlich bei den anarchischmystischen Sozialisten nach Art der älteren Russen bei Weitling, Gustav Landauer usw. Aber in beiden zuletzt genannten Gruppen wie im früheren rationalen Sozialismus ist Rousseaus Begründung deutlich erkennbar. Vgl. Radbruch: „Der Mensch ist von Natur gut, und wenn er doch das Böse tut, so ist es nur aus Unkenntnis und Unwissenheit 1

2

3

Robert Owen, An Address to the Working Classes, in: ders., A New View of Society and Other Writings, penguin Classics 1991, 249. In: GW II (1962), 219-365; krit. Edition in: P. Tillich, MainWorks/Hauptwerke 3, 274-419. 2. erweiterte Aufl., Berlin 1927, 3. Aufl. Berlin 1949, 4. Aufl. Berlin 1970.

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über den rechten Weg und das eigene Selbst. Man braucht nur das Gute in seiner ganzen Schönheit ihm recht eindringlich zu zeigen, dann wird er gar nicht anders können, als es mit seinem ganzen Herzen wollen.“1 (zitiert aus Adolf Allwohn, Die marxistische Anthropologie und die christliche Verkündigung, in: Imago Dei, Gießen 1933, [186f.]). Vgl. weiter Weitlings Beschreibung des Urzustandes der Gesellschaft in der Einleitung zu „Garantien der Harmonie und Freiheit“.2 – Noch wichtiger ist, dass es in der Gegenwart an verschiedenen Stellen, besonders unter den Mitarbeitern der schon erwähnten „Zeitschrift für Sozialforschung“ zu einer Verbindung von marxistischen und psychoanalytischen Ideen kommt, zu einem für beide Seiten gleich fruchtbaren Ergebnis. Vgl. die bisherigen Ausgaben dieser Zeitschrift und ein demnächst erscheinendes umfangreiches Werk, Studien über Autorität und Familie. [Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936]. Es versteht sich von selbst, dass diese Forschungen durchweg historisch ausgerichtet sind. Aber sie brechen mit dem nackten Ökonomismus der marxistischen Literatur, der höchstens durch abstrakte Ethik ergänzt wird, wofür der Marxismus selbst im Prinzip keine Rechtfertigung bietet. Denn er geht zurück auf ein Verständnis der geschichtlichen Dialektik als Prozess eines natürlichen, kausalen Mechanismus, auf diese Weise Marx’ Auffassung widersprechend, dass nicht nur die Umstände den Menschen verändern, sondern dass auch der Mensch die Umstände verändert (3. These gegen Feuerbach). 4. Die protestantische Ablehnung einer ausdrücklichen Anthropologie hängt mit der Zurückweisung spekulativer Probleme in der Theologie überhaupt zusammen. Vgl. Melanchthon, Loci communes: „Reliquos vero locos, peccati vim, legem, gratiam, qui ignorarit, non video quomodo christianum vocem. Nam ex his proprie Christus cognoscitur, siquidem hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere …“3 Ebenso Luther an Spalatin: „Quicumque velit salubriter de Deo cogitare aut speculari, prorsus omnis postponat praeter humanitatem Christi.“4 Und Melanchthon in den Loci com1 2 3

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Gustav Radbruch, Kulturlehre des Sozialismus, Berlin 1922, 64. Wilhelm Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit, Vivis 1842. Melanchthons Werke, Studienausgabe in Auswahl, hg. von R. Stupperich, II. Band, 1. Teil, Gütersloh 1952, 7. WAB 1; 329 (Luther an Spalatin, 12. Februar 1519, Beilage: Auslegung von Joh 6, 37).

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munes, im Abschnitt „De hominis viribus“: „Ac primum quidem in describenda hominis natura non habemus opus multiplicibus philosophorum partitionibus.“1 Und Calvin schreibt in seiner Darstellung des unfreien Willens bezeichnenderweise (zitiert nach Karl Müllers Übersetzung): „Dass die Philosophen im Dunkeln tappen, kommt daher, dass sie in diesen Ruinen ein Gebäude, in der Verwirrung die richtigen Linien zu finden glaubten“ (I, 15, 4).2 Als die spätere Orthodoxie die Lehre vom Menschen zusammen mit den anderen scholastischen Problemen wieder zur Sprache brachte, dann tat sie dies ohne schöpferische Kraft und ohne geschichtliche Wirkung. Die von der Aufklärung vertretene Auffassung vom Menschen wurde im Deutschen Idealismus vorherrschend und blieb es, abgesehen von wenigen Ausnahmen (siehe unten). Der Protestantismus des 19. Jahrhunderts, in seiner liberal-Ritschlschen wie in seiner orthodoxkonfessionellen Form, kehrte zu Melanchthons Position zurück. Vgl. die Reduktion der Urstandslehre auf Ethik bei Ritschl, das Ausschalten des Dämonischen seit Schleiermacher, die Konzentration der Predigt des 19. Jahrhunderts auf das immer abstraktere und wirkungslosere Schema von Sünde und Gnade. In der Gegenwart ist Barths Protest gegen die Reste der altkirchlichen Anthropologie bei Brunner und gegen die theologische Verwendung der KierkegaardHeideggerschen Anthropologie bei Bultmann wahrscheinlich der stärkste Ausdruck der Feindschaft des radikalen Protestantismus gegen eine Anthropologie. 5. Die Gründe für diese Haltung sind folgende: Die Lehre von der Rechtfertigung in ihrer protestantischen Version (Confessio Augustana IV): gratis iustificentur propter Christum per fidem, stellt einen radikalen Gegensatz zwischen Gott und Mensch auf, der jede anthropologisch begründete Vermittlung ausschließt. Dies gilt für die Natur des Menschen im Stande der Unschuld wie auch für seine Existenz im Stande der Sünde und der Erneuerung in der Existenz durch die Gnade. 1. Für den Urstand wird eine Vermittlung zwischen Gott und Mensch durch ein donum superadditum als Besitz des Menschen verworfen. 2. Was den Sündenstand betrifft, so wird 1 2

Melanchthons Werke, a.a.O., 9. Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion (Institutio religionis christianae). Nach der letzten Ausgabe bearbeitet und ins Deutsche übertragen von Prof. D. E. F. Karl Müller, 2. Aufl., Neukirchen 1928.

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eine Vermischung von gutem und bösem Willen, von Freiheit und Unfreiheit, von Gottesliebe und Selbstliebe und jede anthropologische Untersuchung in dieser Richtung verworfen. 3. Was den Stand der Gnade betrifft, so werden alle sakramentalen Akte der Gnade als für Stufen und mystische Wege im Menschen stehend verworfen. So wird die Kirche als System einer realistischen Vermittlung ihrer Wurzeln beraubt. (Vgl. Heinrich Bornkamm, Der protestantische Mensch nach dem Augsburgischen Bekenntnis, [Gießen 1930]). Der „Heilige“ als eine anthropologische Realität verschwindet. (Vgl. Barths eschatologische Auslegung von 1. Kor. 131) Dadurch verliert eine explizite Anthropologie ihre theologische Bedeutung und wird im Einklang mit den zitierten Worten Calvins in der Tat unmöglich. Die Auffassung vom Menschen schrumpft zur Beschreibung seiner Sündhaftigkeit als persönlichen Widerstand gegen Gott zusammen: „Dass wir … Gott verachten …, dass wir [alle von Natur] vor Gott als einem Tyrannen fliehen …“ (Melanchthon, Apologie II2). Die Auffassung, die jede explizite Anthropologie ausschließt, wird sehr klar von Bornkamm zum Ausdruck gebracht, wenn er hervorhebt, dass das „ganze innere Schicksal“ des protestantischen Menschen nicht „im Unterbewußtsein“, sondern „allein in einem klaren geistigen Akt und voller Wachheit“ sich abspielt.3 Es ist von großer Tragweite, dass mit diesem Bestehen auf der „Bewusstseins-Psychologie“ das Verständnis des Dämonischen als einer anthropologisch-soziologischen Kategorie verschwand und die Psychoanalyse und soziale Analyse die entstandene Lücke ausfüllten.

1

2

3

K. Barth, Die Auferstehung der Toten. Eine akademische Vorlesung über I. Kor. 15, Zollikon-Zürich 1924, 4. Aufl. 1953; zu 1. Kor. 13, 44-49; „unzulänglich ist alles, was der Mensch, auch der von Gott erfüllte und getriebene Mensch, hier als Mittel, Weg und Brücke aufbringen kann. Und zwar nicht weil das Irdische, Menschliche an sich so unvollkommen ist, sondern weil das Vollkommene kommt: Weil die Sonne aufgeht, darum erlöschen alle Lichter“ (45). Von der Erbsünde (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hrsg. vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss, 4. Aufl., Göttingen 1959, 149). „Es gibt für den protestantischen Menschen nach dem Augsburgischen Bekenntnis keine Sakraments- und Kultusmystik, keine Gottesbegegnung im Rausch oder im Unterbewußtsein, sondern allein in einem klaren geistigen Akt und voller Wachheit“ (Heinrich Bornkamm, Der protestantische Mensch nach dem Augsburgischen Bekenntnis, Gießen 1930, 11f.).

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6. In den nicht-protestantischen Formen christlicher Theologie finden sich Vorstellungen zur Anthropologie, deren Wirkungen zum Teil in den Protestantismus hineinreichen. Sie sind durch den Willen motiviert, zwischen Gott und Mensch, zwischen Christentum und Welt zu vermitteln. Folgende Gruppen seien erwähnt: 1. Die Übernahme der stoischen Lehre vom sittlichen Naturgesetz durch die Kirchenväter und damit der Versuch, Tertullians Wort „anima naturaliter christiana“ zu entfalten. – 2. Die alexandrinische Stufenlehre, die eine trichotomische Stufenbildung voraussetzt. – 3. Das Leib-Seele-Problem im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen über die Eschatologie des Origenes, das Problem der Integrität der menschlichen Person in Verbindung mit den christologischen Streitigkeiten, das Problem der Willensfreiheit in Verbindung mit den pelagianischen Streitigkeiten. – 4. Augustins Konzentration des nützlichen Wissens auf Theologie und Anthropologie: „Deum et animan scire cupio“ und „in interiore homine habitat veritas“, die „vestigia trinitatis“ als Prinzip der Anthropologie. – 5. Augustins „Confessiones“ und die mit ihnen verbundene mittelalterliche Literatur. – 6. Die Beichtliteratur. – 7. Die mystisch-asketische Literatur des Ostens und Westens. – 8. Die Übernahme der aristotelischen Anthropologie und die augustinische Opposition im Hochmittelalter. – 9. Die kritisch-analytische Psychologie des Nominalismus im Spätmittelalter. – All das führte zu einer reichen Entfaltung der theologisch-philosophischen Anthropologie, die nur durch die Reformation und den Humanismus auf den abstrakten Personalismus der Neuzeit reduziert wurde. Die Wurzeln der Tendenzen zu einer expliziten Anthropologie auf protestantischer Grundlage liegen in der lutherischen Mystik, die sich ihrerseits auf die Mystik des Mittelalters und der Renaissance stützt, aber ein eigenständiges Element hinzufügt. Bestimmend für die ganze Entwicklung ist Jakob Böhme, wichtig ist Oetinger, entscheidend für die breite Wirkung Schelling und die sich auf ihn stützende Lebensphilosophie. Vgl. Heinrich Bornkamm, Luther und Böhme, [Bonn 1925]; Kurt Leese, Von Jakob Böhme zu Schelling. [Zur Metaphysik des Gottesproblems, Erfurt 1927] und vor allem sein Buch „Die Krisis und Wende des christlichen Geistes. [Studien zum anthropologischen und theologischen Problem der Lebensphilosophie“, Berlin 1932], in dem – diese Entwicklung zu Ende verfolgend – ein neues Bild des zukünftigen Protestantismus entworfen wird, das direkt das vom älteren Protestantismus und von Barth gezeichnete Bild bestreitet. Das wesentliche Element in dieser Sicht ist der Versuch, der theologischen

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Anthropologie protestantischer Art die Bereiche des Vitalen und Unbewussten, des Ekstatischen und Dämonischen wieder zurückzugeben. Der deutsche religiöse Sozialismus hat versucht, von diesen Tendenzen aus eine Brücke zum Marxismus zu schlagen. Vgl. die oben genannte Abhandlung von Eduard Heimann1 und meine eigene Schrift „Das Dämonische“ [Tübingen 1926]2. – Entscheidend für das Problem der Anthropologie auf protestantischem Boden ist zur Zeit die Ontologisierung von Kierkegaards existentialer Dialektik durch Heidegger. Vgl. die Diskussion zwischen Bultmann3, Kuhlmann4, Löwith5, Gogarten6 über die Bedeutung der Existentialanalyse für die Theologie und deren Ablehnung in Barths Polemik gegen Brunner.7 Für Kierkegaard und seine heutigen Interpreten ist die Anthropologie nicht eine vermittelnde Verbindung zwischen Gott und Mensch im Sinne der Alten Kirche und des Katholizismus, aber sie ist doch eine Vermittlung, nämlich eine Vermittlung via negationis. Darin zeigt sich ein mystisches Element, aber in protestantischer Umformung: Die Existenz drückt nämlich eine unmittelbare Verbindung des Menschlichen mit dem Göttlichen nur in dem Sinne aus, dass das Göttliche das begrenzende, bedrohende Wesen ist, das die Existenz in Frage stellt – das, aus dem die Existenz ausgeschlossen ist oder durch das Fragen gestellt werden, die die Existenz aus sich selbst nicht beantworten kann. (In einer Reihe von Vorlesungen, die ich in den Vereinigten Staaten gehalten habe, habe ich selbst versucht, die Aufgabe der theologischen Anthropologie in dieser Form zu erörtern.)

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6

7

Kapitalismus und Sozialismus. Reden und Aufsätze zur Wirtschafts- und Geisteslage, Potsdam 1931. GW VI, 42-71. Rudolf Bultmann, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube. Antwort an Gerhardt Kuhlmann, in: ZThK N. F. 11. Jg., 1930, 339-364. Gerhardt Kuhlmann, Zum theologischen Problem der Existenz. Fragen an Rudolf Bultmann, in: ZThK N. F., 10. Jg., 1929, 28-58. Karl Löwith, Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie, in: ZThK N. F. 11. Jg., 1930, 365-399; ders., Grundzüge der Entwickelung der Phänomenologie zur Philosophie und ihr Verhältnis zur protestantischen Theologie, in: ThR N. F. 2. Jg., 1930, 26-64. 333-361. Friedrich Gogarten, Das Problem einer theologischen Anthropologie, in: Zwischen den Zeiten 7. Jg., 1929, 493-511. Karl Barth, Nein! Antwort an Emil Brunner (Theologische Existenz heute, Heft 14), München 1934.

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7. Dieser Überblick hat gezeigt: 1. Dass es im Marxismus und im Protestantismus einen grundsätzlichen Protest gegen eine ausgearbeitete Anthropologie gibt.– 2. Dass der Grund in beiden Fällen eine radikal negative Beurteilung der gegenwärtigen Existenz ist, die sich im Protestantismus aus dem Gegensatz zwischen Gott und Mensch und im Marxismus aus dem Gegensatz zwischen der aktuellen und der geforderten Gesellschaft ableitet. Der Anthropologie wird vorgeworfen, eine Versöhnung zu schaffen, die den Ernst der wirklichen Situation verschleiert und so das Nein zu ihr schwächt oder sogar außer Kraft setzt. Anthropologie ist Vermittlung und damit relative Rechtfertigung einer dem wahren Wesen widersprechenden Existenz – das ist der Vorwurf, den Protestantismus und Marxismus gemeinsam erheben. – 3. Dass das nicht-protestantische Christentum und der Nicht-Marxsche Sozialismus diese anthropologischen Vermittlungen gesucht haben, um das Wunder eines absoluten Sprunges zu vermeiden, dessen Erwartung in eine Intellektualisierung und Verhärtung umgeschlagen hatte, nachdem der erste prophetische Angriff auf die Vermittlungen an Kraft verloren hatte. – 4. Dass folglich im Marxismus und im Protestantismus anthropologische Tendenzen Wurzeln schlugen, die das Problem der Vereinigung einer radikal kritischen Haltung zur Existenz mit einer zur Vermittlung fähigen Anthropologie zur Aufgabe machen. 8. Die im Protestantismus und Marxismus sich findende Ähnlichkeit der Einstellung zur Anthropologie leitet sich aus dem ihnen gemeinsamen prophetischen Hintergrund ab. (Vgl. meinen Aufsatz „Marx and the Prophetic Tradition“ in der soeben erschienenen ersten Nummer der Zeitschrift „Radical Christianity“.1) Die Ablehnung einer expliziten Anthropologie schließt jedoch eine implizite Anthropologie nicht aus. Eine solche implizite Anthropologie ist im Protestantismus und im Marxismus aus folgenden Gründen unvermeidlich: 1. Sie ist die Voraussetzung für die Aufstellung jedes Ideals, wie es in den Lehren vom Urstand des Menschen und dem von ihm Geforderten enthalten ist, und drückt sich vor allem in der ethischen Kritik seines gegenwärtigen Standes aus. (Essentielle Anthropologie) 2. Sie ist die Voraussetzung für jede konkrete Beschreibung des Menschen im Stande der Sünde oder der Selbstentfremdung. (Existentielle Anthropologie) 3. Sie ist die Voraussetzung für das 1

Vol. 1, No. 4, 1935, 21-29; deutsch: Marxistische und prophetische Geschichtsdeutung, in: GW VI, 97-108.

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Verständnis der Übergänge vom einen zum anderen Stand und die politisch-pädagogischen Aufgaben, die sich daraus ergeben: das Problem der Vermittlung. An diese implizite Anthropologie schließen sich die Tendenzen zu einer expliziten Anthropologie an. So wird es möglich, in gewissen Grenzen auch sie in den Blick zu nehmen und – entsprechend den Intentionen unseres jetzigen Themas – die christlich-protestantische mit der sozialistisch-marxistischen Anthropologie zu vergleichen. II. Die Grundideen der christlich-protestantischen Anthropologie als Material für den Vergleich mit der sozialistisch-marxistischen Anthropologie 1. Der leitende Gesichtspunkt jeder christlich-protestantischen Anthropologie ist die Beziehung des Menschen zu Gott. Dies impliziert das Urteil, dass der Begriff des Menschen nicht denkbar ist ohne die Beziehung zu Gott, sei es in der Form der Einheit mit ihm oder in der Form der Trennung von ihm. Das impliziert weiterhin, dass nur solche Aussagen über den Menschen, die diese Beziehung betreffen, einen Platz in der theologischen Anthropologie haben. Die immer wechselnde Möglichkeit, dass eine anthropologische Aussage indirekt theologische Bedeutung bekommen oder verlieren kann, macht eine eindeutige Abgrenzung der theologischen, philosophischen und wissenschaftlichen Anthropologie unmöglich; gleichzeitig erklärt sie die auffallenden Unterschiede in der Anthropologie auf christlichem Boden. – Entsprechend der Beziehung des Menschen zu Gott als dem vorrangigen Gesichtspunkt der theologischen Anthropologie und auf der Basis des uns zugewiesenen Themas werden wir im Folgenden die wichtigsten christlich-protestantischen Lehren vorstellen, die einerseits anthropologische Vorstellungen einschließen und andererseits mit den entsprechenden Anschauungen im sozialistisch-marxistischen Bereich vergleichbar sind. Auf diese Weise kommen wir zu folgenden sieben Problemen, die für das Christentum und den Marxismus in gleicher Weise von Bedeutung sind: die ursprüngliche wahre Natur des Menschen, der Übergang zum Stand der Wesenswidrigkeit, der Charakter dieser Wesenswidrigkeit, die Existenz in der Wesenswidrigkeit, die Überwindung der Wesenswidrigkeit, das Ziel der Vollkommenheit des Menschen und der Menschheit. (Zum Gesichtspunkt der Beziehung des Menschen zu Gott als dem Prinzip der theologischen Anthropologie vgl. alle Dogmatiken eben-

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so wie die christlichen Bekenntnisse. Unterschiede, abgesehen von dogmatischen Streitfragen, betreffen nur die Frage, was nach diesem Prinzip zur theologischen Anthropologie gehört.) 2. Die christlich-protestantische Lehre vom Urstand des Menschen enthält folgende anthropologische Punkte: 1. Die Lehre von der Schöpfung schließt die doppelte Beurteilung der menschlichen [Natur1] ein, die der Mensch teilt mit allem, was ist: erstens seine ursprüngliche Gutheit (ontologisch im Sinne von agathon, nicht im moralischen Sinne von Gutsein), zweitens seine Geschöpflichkeit (Endlichkeit, Abhängigkeit, Bedrohtheit). – 2. Die Lehre vom Urstand enthält erstens den Gedanken einer natürlichen Einheit der Menschheit (leibliche und im Traducianismus auch eine geistige Abstammung der Menschheit vom ersten Menschen), zweitens den Gedanken einer ursprünglichen unschuldigen Natur, die dem moralischen Bewusstsein und dem technischen Wissen vorausgeht. – 3. Die Lehre von der Erschaffung zum Bilde Gottes drückt die besondere Stellung des Menschen aus als erhoben über den Rest des Seienden: erstens der Besitz einer vernünftigen Seele neben dem Leib (so nach den Dichotomisten; nach den Trichotomisten der Besitz eines vernünftigen Geistes neben dem Leib und der Seele), zweitens die Tatsache der Zugehörigkeit zu einer gegenüber der räumlich-zeitlichen Welt höheren Ordnung (Bestimmung zum ewigen Leben), drittens die ursprüngliche Verbundenheit mit Gott im Denken und Wollen, viertens der Auftrag, für die übrige Schöpfung zu sorgen und über sie zu herrschen, fünftens die Freiheit der Entscheidung. (Vgl. vor allem die Urgeschichte der Genesis, die die christliche Auffassung des Menschen bestimmt und deren anthropologisches Verständnis längst noch nicht ausgeschöpft, geschweige denn widerlegt ist. Auf ihr beruhen die gesamte dogmatische Literatur ebenso wie die Hauptinhalte der westlichen Auffassung vom Menschen, an denen weder die Naturwissenschaft noch die Philosophie noch die Ethnologie für das christliche Bewusstsein etwas geändert haben, ungeachtet der eindeutigen Anerkennung des mythischen Charakters dieser Urgeschichte.) 3. Die christlich-protestantische Lehre vom Übergang zum Stand der Wesenswidrigkeit enthält folgende anthropologische Ideen: 1. 1

Typ.: method [sic! Gemeint ist „nature“]

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Die Lehre von der Anfälligkeit des Menschen für die Versuchung enthält die Auffassung, dass die Würde und Freiheit des Menschen eine besondere Gefahr mit sich bringen (die in katholischer Sicht so groß ist, dass der Mensch ihr ohne besondere übernatürliche Hilfe verfallen muss und dass er ihr verfallen kann trotz solcher Hilfe). – 2. Die Sicht der aktuellen Versuchung enthält die in gleicher Weise von der älteren und neueren Anthropologie unterstützte Auffassung, dass die Versuchung eintritt, wenn sie sich zuspitzt a) auf die Begierde (die Versuchung der Frucht) und b) auf den Willen zur Macht (die Herrschaft durch das Wissen um die positiven und negativen Eigenschaften der Dinge), die Hybris, die die Grenzen der Geschöpflichkeit durchbricht (sein wie Gott). – Dass die aktuelle Versuchung von einer dämonischen Macht ausgeht, enthält den Gedanken, dass der Freiheit des Menschen Grenzen gesetzt sind durch die Verkettungen der Versuchung mit dem Transzendenten und Übernatürlichen. – 3. Die Lehre vom Fall enthält die Aussage, dass mit der Verwirklichung der Möglichkeiten des Menschen für die historische Existenz ein Zustand der Wesenswidrigkeit entstanden ist. Folglich ist die Beurteilung des Falls ambivalent. Erstens wird er als ein Sich-Losreißen von Gott negiert, zweitens wird er als Voraussetzung der Heilsgeschichte bejaht. Trotz der primären Betonung der Verantwortlichkeit des Menschen wird dem Fall sekundär eine gewisse Unvermeidlichkeit zugeschrieben. (Zu 1: Vgl. Kierkegaards „Begriff Angst“. – Zu 2: Die biblische Urgeschichte (griechische Tragödie), die dogmatischen Aussagen zur Versuchung, besonders ausführlich: Julius Müller, Die christliche Lehre von der Sünde1 (Nietzsche und Freud). Über das Dämonische in der Versuchung vgl. Jakob Böhme, Schelling, Daub2. – Zu 3: Siehe Augustins Satz „o felix culpa“, die supralapsarische Lehre, Schleiermacher, Ritschl.) 4. Die christlich-protestantischen Anschauungen von der Manifestation des Wesenswidrigen enthalten die folgenden anthropologischen Ideen: 1. Die individuelle schuldhafte Entscheidung ist eingebettet in einen Kontext allgemeiner Sündhaftigkeit und Entfremdung von Gott. Die Lehre von der Ursünde oder Erbsünde (die den Vorgang 1 2

2 Bände, 2. Aufl., Breslau 1844. Karl Daub, Judas Ischarioth oder das Böse im Verhältniß zum Guten, 2 Bde., Heidelberg 1816-1818.

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inadäquat ausdrückt) enthält die Verbindung des Tragischen mit dem Moralischen in der Beurteilung der menschlichen Existenz. – 2. Das Prinzip des Standes des Wesenswidrigen ist die Abwendung des Menschen von Gott und die Hinwendung zu sich selbst und seiner Welt. Die Anwendung der absoluten Kategorien auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch macht eine fundamentale Differenzierung der Sünden im Protestantismus unmöglich, während sie für den Katholizismus wegen seiner Verwendung der relativen vermittelnden Kategorien notwendig ist. – 3. Die Menschheit in ihren Fesseln der Wesenswidrigkeit gehört zu einem transzendenten Bereich der Wesenswidrigkeit, der dämonischen Charakter hat und der im individuellen wie im sozialen Leben die Existenz bestimmt. – 4. Der Stand der Wesenswidrigkeit steht unter dem Gericht der Selbstzerstörung durch die Steigerung der Sündhaftigkeit und die schließliche Vernichtung. (Zu 1: Vgl. die augustinisch-protestantische Lehre von der Erbsünde, ihre Kritik durch den Moralismus der Aufklärung, die Aufnahme ihres tragischen Elements im philosophischen Pessimismus und in der vitalistischen Philosophie, der neuheidnische Protest gegen sie, ihre psychoanalytische Neuinterpretation als richtungslose Begierde als Wesen des Menschen.– Zu 2: Vgl. die augustinische Entgegensetzung von Gottesliebe und Selbstliebe und Augustins Formel „sine fiducia erga Deum“. – Vgl. weiter den Kampf von Protestanten und Katholiken um die Abstufung der Sünde. – Zu 3: Vgl. die Lehren vom Dämonischen im Neuen Testament, bei Augustin und in der protestantischen Mystik. – Zu 4: Vgl. Römer 1 und 2, die Worte zum innerweltlichen Gericht im Johannesevangelium und der Symbolismus des Jüngsten Gerichts bei den Synoptikern und in der Offenbarung des Johannes.) 5. Die christlich-protestantische Lehre von der Existenz in der Wesenswidrigkeit enthält folgende anthropologische Ideen: 1. Die in der Sünde sich ausdrückende Entfremdung von Gott hat eine Spaltung (Augustin) der menschlichen Existenz zur Folge, deren fundamentale Elemente Angst und Verzweiflung sind. Beide manifestieren sich vor allem als Feindschaft gegen Gott, Flucht vor Gott und als Schaffung von Ersatzgöttern zum Zwecke der Verklärung und des Schutzes der Existenz in der Wesenswidrigkeit – die Schaffung selbstgemachter Götter (Luther). – 2. Gegenüber sich selbst manifestiert sich die Angst als das Gefühl fundamentaler Nichtigkeit, die Verzweiflung als das

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Gefühl fundamentaler Verlorenheit; beide haben die Tendenz, sich zu verbergen und sich in ontologische und moralische Selbstbehauptung zu verwandeln. – 3. Gegenüber der Welt drückt sich die Angst als Sorge aus, einschließlich der Unverständlichkeit und Fremdheit der Welt wie der Unsicherheit und Einsamkeit des einzelnen und der Gruppe; die Verzweiflung als lebendige Erfahrung der Sinnlosigkeit der Existenz. Im ganzen kulturell schöpferischen Willen gibt es ein Element, das die fundamentale Situation durch die Schaffung von Sicherheit und Sinn vermittelnden Strukturen zu verhüllen sucht. – 4. Furcht und Verzweiflung agieren in Übereinstimmung mit dem Tode, der als widervernünftig erlebt wird. – 5. Gegenüber der Gesellschaft agieren Angst und Verzweiflung unter dem Drang der Begierde und des Willens zur Macht auf der einen Seite als gewalttätige Aggression (einschließlich Ungerechtigkeit, Rücksichtslosigkeit und Arroganz), auf der anderen Seite als resignierte Verbitterung (einschließlich Groll und Feindschaft). In all diesen Formen der Existenz in der Wesenswidrigkeit sind außerdem Tendenzen zur Verhüllung und Verklärung wirksam – in Übereinstimmung mit der grundsätzlichen Verhüllung durch die Schaffung eines selbstgemachten Gottes. (Zu dieser Aufzählung, die nur Beispiele nennt, aber keineswegs Vollständigkeit anstrebt, vergleiche im katholischen Raum die ausgearbeitete Lehre von der Sünde, besonders in der Literatur der Beichtbücher; für den Protestantismus die Predigt unter pietistischem und methodistischen Einfluss. Über alle hier erwähnten Punkte findet sich Material im Neuen Testament und reichhaltiger in der mystisch-asketischen Literatur. Stärker systematisch haben Pascal und Kierkegaard Angst und Verzweiflung behandelt. Vgl. die einschlägigen Abschnitte bei Scheler und Jaspers und, in ontologisierter Form, bei Heidegger.) 6. Die christlich-protestantische Lehre von der Überwindung der Wesenswidrigkeit enthält folgende anthropologische Ideen: 1. Die Überwindung der Entfremdung von Gott, die grundlegend und ursprünglich in dem Gott-Menschen gegeben ist, wird geschichtlich in der christlichen Gemeinde vollendet. Nicht in der Menschheit als ganzer, sondern in der berufenen und erwählten Gemeinde ist der Sieg über die Wesenswidrigkeit vollendet mit der Bestimmung freilich, dass selbst innerhalb der Gemeinde viele berufen, aber nur wenige auserwählt sind. Sie ist ein corpus permixtum. – 2. Obwohl die Berufung zur Mitgliedschaft in der Gemeinde ein freier göttlicher

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Akt ist, haben diejenigen die bessere Chance, die – wegen ihres eigenen objektiven und subjektiven Leidens unter der Existenz in der Entfremdung von Gott – die Verhüllung und Verklärung der Wesenswidrigkeit durch die Schaffung selbstgemachter Götter als schwieriger ansehen.1 – 3. Obwohl die rettende Gnade objektiv und unabhängig von jedem menschlichen Tun handelt, kann sie niemals ganz ohne menschliche Aktivität erreicht werden, weder im einzelnen noch in der Gemeinschaft. Daher der Aufruf, die Seligkeit zu erringen, und als Grund dafür die Vorstellung, dass Gott es ist, der beides schafft, das Wollen und das Vollbringen.2 Für die christliche Anthropologie gibt es zwischen beiden keinen prinzipiellen Gegensatz, auch wenn ihre Einheit theoretisch und praktisch ein nie endendes Problem darstellt. – 4. In den Lehren von der Rechtfertigung und Heiligung zeigt sich das anthropologische Problem, in welchem Ausmaß – ungeachtet der fundamentalen Hinwendung zu Gott und der Versöhnung des Menschen mit ihm – reale Wandlungen der menschlichen Existenz im Individuellen und Sozialen im Stande der Wesenswidrigkeit möglich sind; [desgleichen,] wie weit – das muss gesagt werden – die Begierde und der Wille zur Macht wirklich unter Kontrolle gebracht werden können, Furcht und Verzweiflung und ihre Folgen wirklich überwunden, die Schaffung falscher Götter verhindert, die Herrschaft des Dämonischen wirklich gebrochen werden kann. Der scharfe Gegensatz zwischen der katholischen und der protestantischen Antwort auf diese Frage macht es noch dringlicher. (Zu 1: Siehe den Rückzug Jesu aus dem ganzen Volk zur Gemeinschaft mit den Jüngern, Augustins Rückzug aus der ganzen Gemeinde zu den Auserwählten, Luthers Rückzug von der sichtbaren zur unsichtbaren Kirche, der Rückzug der Propheten vom Volk Israel zum Stamm Juda, vom Stamm Juda zum heiligen Rest usw. – Zu 2: Siehe die Wertschätzung der Armen in den Psalmen, die Seligpreisungen, Paulus’ Darstellung des Aufbaus der Gemeinde, die asketischen Bewegungen. – Zu 3: Siehe den Kampf Augustins und der Reformatoren gegen den Pelagianismus, vor allem die einzigartige Kombination der äußerst strengen Lehre von der Prädestination mit höchster Aktivität auf dem Boden des Calvinismus. – Zu 4: Vergleiche den anthropologischen Pessimismus im radikalen Protestantismus: 1

2

Typ.: … find the covering up and transfiguration of the contradiction through the creation of gods of their own making more difficult. Phl 2, 13.

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Luthers Erfahrung von Feindschaften, Kierkegaards Theologie der Reue, Barths eschatologische Ethik. Auf der anderen Seite die gratia infusa und ihre realen Wirkungen im Katholizismus.) 7. Die christliche-protestantische Lehre vom wahren Ziel des Menschen und der Menschheit enthält folgende anthropologische Ideen: 1. Die Lehre von der Auferstehung verleiht dem ganzen Menschen einschließlich seiner Leiblichkeit die Fähigkeit zur Erlösung. – 2. Die Lehre vom Reich Gottes verbindet die Erfüllung des individuellen Ziels unauflöslich mit dem des allgemeinen Ziels und das nicht nur in der Menschheit, sondern in der gesamten Natur. – 3. Die Lehre vom doppelten transzendenten Schicksal macht eine mechanistische Auffassung von der Vollendung unhaltbar. Sie rechnet mit dem Widerstand der einzelnen und der Gruppen, den kein transzendenter Mechanismus brechen kann oder brechen wird. – 4. Jeder Versuch, das wahre Ziel zu verraten, wird zurückgewiesen, da die essentielle Natur des Menschen vom Standpunkt der gegenwärtigen Existenz aus unsichtbar bleibt. Aber die Befreiung vom Stand der Wesenswidrigkeit wird sowohl für den einzelnen als auch für die Gemeinschaft als selbstverständlich betrachtet. – 5. Die Lehre von einer Endkatastrophe enthält die Idee, dass die Vernichtung der dämonischen Mächte, die über den Menschen herrschen, innerhalb der Geschichte nicht durchgesetzt werden kann, sondern nur jenseits der Geschichte. – 6. Die Lehre vom Millennium erhielt in der Tat Bedeutung für die Geschichte der Philosophie, aber nicht für die Anthropologie. Sie verband sich mit anthropologischen Ideen nur nach ihrer Säkularisierung in der Aufklärung. (Zu 1: Siehe den Gegensatz zwischen der christlichen Lehre von der Auferstehung und den griechischen Anschauungen von der Unsterblichkeit. – Zu 2: Siehe die paulinische Beschreibung der Sehnsucht der Natur nach Erlösung und die in der Apokalypse bewahrte Beschreibung der Natur. – Zu 3: Siehe die Lehre von der ewigen Verdammnis, die anthropologisch nur als Zurückweisung jedes Mechanismus der Erlösung (Origenes) verstanden werden kann. – Zu 4: Siehe die Behauptung der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes und die Teilhabe der Natur an ihrer Freiheit. – Zu 5: Siehe die Visionen von der Vernichtung des Dämonischen. Zu 6: Siehe Troeltsch, „Soziallehren“, über die Idee des Millenniums und die Säkularisierung des Chiliasmus.)

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III. Analogien zwischen der sozialistisch-marxistischen und der christlich-protestantischen Anthropologie 1. Der vorherrschende Gesichtspunkt aller sozialistisch-marxistischen Anthropologie ist die Stellung des Menschen in der Gesellschaft. Dies impliziert das Urteil, dass ein von der Gesellschaft losgelöster Begriff des Menschen undenkbar ist. Das bedeutet weiterhin, dass nur diejenigen Behauptungen über den Menschen von Bedeutung für den Sozialismus und Marxismus sind, die die Stellung des Menschen in der Gesellschaft betreffen. Eine a priori vorzunehmende Begrenzung solcher Aussagen ist nicht möglich. – Im Marxismus wie im Christentum wird die Natur des Menschen von einer umfassenden Wirklichkeit jenseits des einzelnen Individuums nicht getrennt. In beiden Fällen ist überdies die konkrete geschichtliche Menschheit der Ausgangspunkt für Aussagen bezüglich der menschlichen Natur und Existenz. Damit wird die Sicht des Menschen in beiden Fällen dynamisch in Übereinstimmung mit der Dynamik seiner geschichtlichen Existenz. Beide Sichtweisen unterscheiden sich an diesem Punkt von einer naturalistischen, humanistischen und mystischen Anthropologie. (Vgl. Marx’ Thesen über Feuerbach, seine Auseinandersetzung mit jeder Wesensphilosophie, sei sie idealistisch oder materialistisch; vor allem die Schrumpfung der Anthropologie fast bis zur Unsichtbarkeit in Marx’ späteren Schriften, besonders im „Kapital“. Doch auch außerhalb des Marxismus selbst behandelt die sozialistische Anthropologie den Menschen durchweg unter dem Blickwinkel sozialer Beziehungen. Vergleiche die kritischen und synthetischen Versuche in den Gesellschaftslehren des französischen Sozialismus. – Dass christliche und marxistische Anthropologie unter dem Gesichtspunkt einer dynamisch-geschichtlichen Betrachtung des Menschen zusammengehören, wird evident, wenn man sie mit den Anthropologien etwa von Aristoteles, Plotin, Feuerbach, Schopenhauer, Heidegger vergleicht.) 2. Christentum und Marxismus gehören zu der Gruppe von Anthropologien, die eine ursprüngliche Vollkommenheit der menschlichen Natur annehmen. Der christlichen Lehre von der Vollkommenheit der Schöpfung und der Unschuld des Urstandes bietet der Marxismus als entsprechenden Punkt die Annahme einer urständlichen prähistorischen Ungeteiltheit der Gesellschaft. Im einzelnen lassen sich

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folgende Analogien anführen: 1. Eine Analogie zur Lehre von der Unzulänglichkeit geschöpflicher Existenz findet sich im Marxismus insofern, als er im Gegensatz zu Hegel und zum Idealismus das größte Gewicht auf die Objektivität, die sinnliche Bedingtheit, die ursprüngliche Not, die Leiden und Leidenschaften des Menschen legt. „Der Mensch als ein … sinnliches Wesen ist … weil sein Leiden empfindendes Wesen ein leidenschaftliches Wesen.“ „Ein ungegenständliches Wesen ist ein Unwesen.“ [K. Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften. Hrsg. von S. Landshut und J. P. Mayer, 1. Band, Leipzig 1932, 334] – 2. Die Marxsche Analogie zu der besonderen Ausstattung des Menschen im Vergleich zum Rest der Natur ist die Lehre von der bewussten Produktion und Reproduktion des Menschen durch sich selbst im Prozess sozialer Arbeit. „Wie alles natürliche entstehen muss, so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewusstsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen“ (ebd., 334f.). Dieser Akt der Selbstproduktion durch Intelligenz und physische Arbeitskraft, zwei charakteristische Kräfte des Menschen, bestimmen seine Freiheit gegenüber der nichtmenschlichen Natur. – 3. Als Analogie zur Lehre von der Sorge des Menschen für die Natur und seine Herrschaft über sie finden wir bei Marx die Aussage, dass die einzige Natur, die den Menschen angeht, die durch ihn angeeignete, durch Arbeit humanisierte Natur ist.1 „Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anderes ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen …“ (ebd., 307). (Vergleiche die Bemerkung im „Kommunistischen Manifest“ bezüglich der Wahrscheinlichkeit eines primitiven Kommunismus. Das Problem ist in der marxistischen und der ihr verwandten Literatur bis heute behandelt worden. Die heute weithin akzeptierte Theorie, dass die Geschichte mit dem Eindringen von kriegerischen Jägervölkern in Ackerbauernstämme beginne, hat eine eigenartige Analogie in der frühen Geschichte des Alten Testaments und den Berichten von einem Konflikt zwischen kriegerischen Wüstenstämmen, 1

Typ.: As analogy to the doctrine of man’s care for and rule over nature we find in Marx the point that the only nature with which man is concerned is appropriated nature, humanised by labor.

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symbolisiert durch Kain, Nimrod und Esau, und Gruppen, die als Nomaden oder Ackerbauern leben. Überall in dieser Denkrichtung ist Rousseaus Säkularisierung der christlichen Lehre vom Urstand im Hintergrund. – Die Übereinstimmung zwischen Christentum und Marxismus in der Sicht einer ursprünglichen Ungeteiltheit der menschlichen Existenz wird deutlich durch den Vergleich mit Philosophien ohne eine Lehre vom Urstand. (Siehe die Philosophien unter 1.) In der Konzeption einer geschöpflichen Begrenzung des Menschen befinden sich Christentum und Marxismus gemeinsam in Opposition gegen die idealistische Philosophie. In der Theorie der menschlichen Freiheit stehen sie in gemeinsamer Verteidigung gegen den metaphysischen Materialismus und die Philosophie des Vitalismus. In der Theorie der möglichen Aneignung der Natur durch den Menschen befinden sich beide in Opposition gegen die Auffassung der Natur in der griechischen Philosophie wie gegen den philosophischen Pessimismus: gegen die erste, weil diese mit keiner Vollendung der Natur durch den Menschen rechnet, gegen den zweiten, weil dieser den Menschen nicht als Vollendung, sondern als einen sündhaften Fehler der Natur betrachtet (Klages1 und andere). Christentum und Marxismus kennen einen Übergang vom ursprünglichen Stand der Vollkommenheit zum Stand der Wesenswidrigkeit: Der christlichen Lehre vom Fall entspricht die Marxsche Lehre von einer Klassengesellschaft. Im einzelnen finden sich folgende Analogien: 1. Die anthropologische Möglichkeit des Übergangs liegt Marx zufolge in der Aktualisierung der Leidenschaft durch die Arbeitsteilung und die daraus folgende Möglichkeit einer Gruppe, sich über eine andere zum Zweck der Ausbeutung zu erheben. Unter der Voraussetzung der Endlichkeit der menschlichen Existenz bedeutet die menschliche Freiheit als freie Selbstverwirklichung die Versuchung zum Übergang zur Klassengesellschaft. Darin liegt eine Analogie zur Lehre von den drei Angriffspunkten der Versuchung. – Insofern als die Spaltung innerhalb der Gesellschaft gleichzeitig der Beginn der menschlichen Geschichte ist, muss sie als Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten behauptet werden. Insofern als sie zur Ausbeutung führt, ist sie der Abfall des Menschen von sich selbst. Diese doppelte Bewertung der Aufteilung in Klassen ist eine nahe Analogie zur doppelten Bewertung des Falls im Christentum.) 1

Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele. Band 1-3,2. Leipzig 1929-1932.

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(Vgl. Marx, „Nationalökonomie und Philosophie“. Zur positiven Bewertung der Klassengesellschaft als Antrieb zur fortschreitenden Selbstverwirklichung, siehe K. Marx, Der historische Materialismus. Die Frühschriften, 2. Band, Leipzig 1932, 560.) 4.1 Christentum und Marxismus kennen beide den Widerspruch der Existenz im Zustand der Harmonie und in der Wesenswidrigkeit, das Christentum in der Lehre von der universalen Sündhaftigkeit des Menschen, der Marxismus in der Lehre von der Selbstentfremdung des Menschen im Klassenkampf. – Im einzelnen finden sich folgende Analogien: 1. Die christliche Idee, dass jeder einzelne in einen universalen Zusammenhang des Wesenswidrigen eingebunden ist, hat als Analogie bei Marx die Idee, dass es unmöglich für den einzelnen ist, selbst für den moralisch Besten, sich von der Struktur der Klassenspaltung zu befreien. Darum kämpfen beide gegen die rein moralische Beurteilung der Situation des Menschen, ohne dabei die moralische Entrüstung gegen die Wesenswidrigkeit abzuschwächen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist Marx’ leidenschaftlich entrüstete Kritik der Gesellschaft zusammen mit einer wissenschaftlich-exakten Darstellung der Strukturen, die mit Notwendigkeit zu ihr hinführen. – 2. Dies führt uns zu einer anderen Analogie, nämlich der zwischen der christlichen Sicht des Dämonischen und der marxistischen Sicht der Unausweichlichkeit der ökonomischen Strukturen, die die Klassengesellschaft aufrechterhalten und gleichzeitig zerstören. Diese Analogie ist einer der Stützpunkte für den Versuch, der vornehmlich vom religiösen Sozialismus unternommen wurde, eine Verbindung zwischen Christentum und Sozialismus herzustellen. – 3. Im Christentum wie im Marxismus ist die Wurzel alles Wesenswidrigen die Abwendung von dem wesensbegründenden Prinzip: im Christentum von Gott, in Marxismus von der Kooperation der Gesellschaft. Die klare Analogie manifestiert sich auch darin, dass im Christentum und im Marxismus die Gebundenheit an das wesensbegründende Prinzip erhalten bleibt, aber in der Form der Feindschaft und Zerspaltenheit. – 4. Sowohl im Christentum wie im Marxismus hat die Wesenswidrigkeit die Dialektik, sich durch Steigerung zur Selbstvernichtung zu treiben und zwar in beiden durch die innere Unendlichkeit der ihnen innewohnenden Dynamik. Das gilt für beide sowohl von der Begierde wie von dem 1

Ein 3. Abschnitt fehlt.

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Willen zur Macht, die nach dem Verlust ihres ursprünglichen Sinnes in sich pervertieren und an der objektiven Seinsstruktur scheitern.1 (Der von Hegel übernommene Begriff Selbstentfremdung spielt in den frühen marxistischen Schriften eine große Rolle. Im Gegensatz zu Hegels erkenntnistheoretischer Fassung des Begriffs gibt ihm Marx eine realistische Fassung der wirklichen Entfremdung der Menschen voneinander und damit vom Sinn ihrer Selbstverwirklichung. Dies drückt sich vor allem im Absinken des Proletariers zur bloßen Ware als „Arbeitskraft“ aus; es drückt sich objektiv in der Struktur des Geldes aus, deren pervertierenden Charakter Marx im Anschluss an Goethe und Shakespeare beschreibt2 und die er menschliche Produktivkraft in Form der Selbstentfremdung nennt. Der gemeinsame Widerstand, in dem Christentum und Marx sich an dieser Stelle gegen den Idealismus wie gegen den Naturalismus und den bürgerlichen optimistischen Glauben an den Fortschritt befinden, ist evident. Mit den Begriffen Wesenswidrigkeit, Zerspaltung und Entfremdung schneiden beide Anschauungen in jede Art des philosophischem oder mystischen Monismus des Seins.) 5.3 Im Christentum wie im Marxismus wird der Stand der Wesenswidrigkeit als äußerste Gefährdung der menschliche Existenz beschrieben. Im einzelnen gibt es folgende Analogien: 1. Der christlichen Lehre von der Flucht vor Gott und der Erschaffung selbstgemachter Götter, um Angst und Verzweiflung zu verbergen, entspricht bei Marx die Ideologielehre. Sie enthält den Gedanken, dass der 1

2 3

Fortsetzung im Entwurf: „Das Gericht als göttliches Handeln und als strukturelle Notwendigkeit.“ Marx I, 356f. Entwurf: „Sowohl im Christentum wie im Marxismus ist die Angst vor dem drohenden Nichts als Element menschlicher Existenz erkannt, im Christentum in der Lehre von der Vorsehung, in Marx in der Lehre vom historischen Schicksal des Proletariats. – Vergleiche im einzelnen: 1. Sowohl im Christentum wie im Marxismus ist die Ungesichertheit der Existenz vorausgesetzt, nach verschiedenen Richtungen beschrieben und aus der wesenswidrigen Form der Existenz abgeleitet. 2. In beiden ist die Unverständlichkeit der Existenz gesehen, im Christentum als Fremdheit in der Welt und der daraus folgenden Angst, im Marxismus als Fremdheit des in den Klassengegensatz Hineingeworfenen mit seiner Existenz-Angst schaffenden Undurchsichtigkeit. 3. In beiden ist die Ungesichertheit und Sorge gesehen; im Christentum in der Form der Bedrohung durch Not und sinnlos verstörendes Schicksal im allgemeinen, im Marxismus in Form der Bedrohung durch die gesellschaftlichen Gegensätze und Widersprüche, vor allem durch Konjunktur und Krise.

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Mensch sich – zum Schutz vor existentieller Bedrohung seines sozialen Seins – Begriffs- und Symbolsysteme ausdenkt, deren einziger Zweck darin besteht, den gefährdeten Zustand der Gesellschaft durch Verklärung abzuschirmen. Der Kampf des Marxismus gegen Ideologien (zu denen er auch eine ontologische Sicht des Menschen zählt) ist eine genaue Parallele zu dem prophetischen Kampf gegen den menschengemachten Gott. Die Erkenntnis der inneren Unwahrheit des Standes der Wesenswidrigkeit ist in beiden Fällen die gleiche. – 2. Als Analogie zur christlichen Lehre von der Sorge und Sinnlosigkeit finden sich in der marxistischen Literatur auf der Grundlage von Erfahrung und Theorie die Erfahrung der radikalen Ungesichertheit der proletarischen Existenz, die immer stärker alle Klassen und Schichten erfasst, und die Erfahrung der radikalen Sinnlosigkeit, die sich mit dem kapitalistischen System verbindet nicht nur im Blick auf den Proletarier, sondern auch im Blick auf die Unternehmer. – 3. Die christliche Anschauung von der Selbstliebe hat eine Analogie zur marxistischen Idee von der ungezügelten Ausbeutung auf der einen Seite und von der Isolierung aller Individuen in einer Klassengesellschaft auf der anderen Seite. – 4. Die Unterscheidung zwischen natürlichem Tod und dem infolge der Wesenswidrigkeit sinnlosen Tod findet sich im Christentum wie im Marxismus in gleicher Weise. Mit all diesen Punkten, aber besonders mit der Sicht der Ideologie als Flucht und Verschleierung der realen menschlichen Existenz hat sich auch der religiöse Sozialismus auseinander gesetzt. (Beschreibungen der Wesenswidrigkeit der Klassengesellschaft mit Bezug auf die oben genannten Beispiele finden wir überall in der marxistischen und sozialistischen Literatur. Es sollte erwähnt werden, dass in einer beträchtlichen sozialistischen Literatur die äußeren 4. In beiden ist die Einsamkeit und Zufälligkeit des einzelnen gesehen, im Christentum durch die Zerstörung der Liebe, im Marxismus durch die Zerstörung der gesellschaftlichen Kooperation. 5. In beiden ist ein sinnwidriges Sterben gesehen, im Christentum als ‚der Sünde Sold‘, im Marxismus als die leibliche Zerstörung infolge der Ausbeutung, der mangelnden Naturaneignung, der imperialistischen Kriege etc. 6. In beiden ist auf die Fragen, die in diesen anthropologischen Begriffen enthalten sind, eine Antwortung [sic!] gegeben, die ihren Sinn aus der Enderwartung nimmt, im Christentum der Gedanke einer zum Ziel führenden Vorsehung, im Marxismus eine geschichtliche Dialektik, die alle jene Dinge zu Durchgangsstadien zur Vollendung macht, wobei weder die Dialektik noch die Vorsehung den Charakter des Zwanges haben. 7. In der Vorwegnahme dieser Überwindung des drohenden Nichts verliert dieses selbst sowohl im Christentum wie im Marxismus seinen zwingenden Charakter.“

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erbärmlichen Verhältnisse, besonders im Proletariat, immer vom Standpunkt der Wesenswidrigkeit dargestellt werden, die zugleich auch das innere Leben betrifft. Neben dem Begriff der Entfremdung ist auch der Begriff der Entmenschung charakteristisch, der bei Marx oft begegnet. Ohne den anthropologischen Hintergrund dieser Begriffe kann der Kampf gegen die soziale Ungerechtigkeit nicht verstanden werden. Ungerechtigkeit ist niemals Ungleichheit, doch sie ist erstens Ausbeutung des einen durch einen anderen und zweitens Verlust die Verhinderung möglichen menschlichen Entwicklung durch die Ausbeutung.) 6.1 Christentum und Marxismus glauben beide, in einer Gegenwart zu stehen, in der eine Überwindung der Wesenswidrigkeit begonnen hat, ohne dass sie schon zur Vollendung gekommen ist. Es wird im 1

Entwurf: „5. Christentum und Marxismus glauben beide, in einer Gegenwart zu stehen, in der eine Überwindung der Wesenswidrigkeit begonnen hat, ohne dass sie schon zur Vollendung gekommen ist. Es wird im Gegenteil von beiden angenommen, dass je näher die Vollendung rückt, desto mehr auch die Wesenswidrigkeit vollendet wird. – Im einzelnen sind folgende Punkte vergleichbar: 1. Nicht die Menschheit überhaupt, sondern eine bestimmte Gruppe ist sowohl im Christentum wie im Marxismus Träger der Entwicklung, in der die Überwindung der Wesenswidrigkeit sich anbahnt: Im Christentum die Gemeinde, im Marxismus das Proletariat. In beiden Fällen ist dabei anerkannt, dass es nicht die empirische Gruppe als solche ist, die entscheidend ist, sondern engere Gruppen mit besonderer Gläubigkeit und einzelne, die auch aus anderen Gruppen dazu gehören. Aber das hebt die Bedeutung der durch Gnade oder Schicksal erwählten Gruppe nicht auf. 2. Sowohl im Christentum wie im Marxismus ist die erwählte Gruppe getragen von solchen, die die Negativität der wesenswidrigen Existenz primär unverhüllt erfahren haben: Im Christentum die Armen, Verachteten, um ihres Glaubens willen Verfolgten, im Marxismus das Proletariat, das die entmenschenden Konsequenzen der Klassenspaltung auf keine Weise verhüllen können [sic!]. 3. Aber weder im Christentum noch im Marxismus kann die Überwindung des Wesenswidrigen ohne menschliche Aktivität geschehen. Dabei trotz der Überzeugung von der Unüberwindlichkeit der Kirche die ständigen Aufforderungen und Drohungen und im Marxismus trotz der Überzeugung von der Unvermeidlichkeit des proletarischen Sieges der Aufruf zum Kampf und das Rechnen mit der Möglichkeit, dass jeder einzelne Kampf verloren geht. 4. Und wie im Christentum die Frage nach dem Verhältnis von göttlichem Handeln und menschlicher Aktivität ungelöst ist, so auch im Marxismus die Frage nach dialektischer Notwendigkeit und politischer Aktion. Die Behauptung, dass die dialektische Notwendigkeit auf psychologischem Wege die Aktivität unvermeidlich hervorbringen müsse, entspricht ebenso wenig den Erfahrungen wie die Behauptung, dass das göttliche Handeln unmittelbar in menschliche[r] Aktivität sich auswirke. Daher das Auseinanderfallen von quietistischer Passivität und betriebsamer Aktivität im Christentum, von Dialektik und Aktion im Marxismus.

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Gegenteil von beiden angenommen, dass je näher die Vollendung rückt, desto mehr auch die Wesenswidrigkeit vollendet wird. – Im einzelnen sind folgende Punkte vergleichbar: 1. Wie im Christentum nicht die Menschheit überhaupt, sondern die berufene Gemeinde Träger der Überwindung der Wesenswidrigkeit ist, so ist es im Marxismus nicht die Gesellschaft überhaupt, sondern das Proletariat. In diesem Zusammenhang ist in beiden Fällen anerkannt, dass die erwählte Gruppe ein Zurückgreifen auf engere Kreise in der Gruppe notwendig macht, um die Sache vorwärts zu treiben; im Marxismus vom Proletariat als ganzem zum organisierten Proletariat, vom organisierten Proletariat zur Partei, von der Partei zu den Aktiven in der Partei usw. – 2. Sowohl im Christentum wie im Marxismus ist die erwählte Gruppe primär getragen von solchen, die die Negativität der wesenswidrigen Existenz unverhüllt erfahren haben:1 im Marxismus vom Proletariat, das den entmenschenden Konsequenzen der Klassenspaltung weder entkommen noch sie ideologisch verhüllen kann. – 3. Obwohl im Christentum wie im Marxismus die Überwindung des Wesenswidrigen ein objektiver Prozess ist, der über die menschliche Aktivität hinausgeht, kann dieser Prozess nichtsdestoweniger nicht ohne äußerste menschliche Aktivität verwirklicht werden. Daher trotz der Überzeugung von der Unüberwindlichkeit der Kirche die ständige Aufforderung zur Aktivität der Gläubigen und analog im Marxismus trotz der Überzeugung von der Unvermeidlichkeit der kapitalistischen Katastrophe der Aufruf zum Kampf und das Rechnen mit der Möglichkeit, dass jeder einzelne Kampf verloren geht. – 4. Und wie im Christentum die Frage nach dem Verhältnis

1

5. Wie das Christentum voraussetzt, dass die lebendige Zugehörigkeit zur Gemeinde eine grundsätzliche und fortwirkende Überwindung des Wesenswidrigen in sich schließt, so ist im Marxismus vorausgesetzt, dass die lebendige Zugehörigkeit zum Proletariat eine grundsätzliche und wachsende Überwindung der Entfremdung und Entmenschung stattfindet; sowohl durch teilweise Siege, als auch durch Begründung einer neuen gesellschaftlichen Kooperation. Das anthropologische Problem in beiden Fällen ist aber, inwieweit es möglich ist, in der wesenswidrigen Existenz, der universalen Sündhaftigkeit, resp. der Klassengesellschaft in irgend einer Gruppe das Wesenswidrige zu überwinden. Genauer ist die Frage, inwieweit religiöse Erziehung und Beichte innerhalb der Gemeinde, sozialistische Erziehung und Psycho-Analyse im Proletariat die dämonischen Strukturen zu brechen im Stande sind. Die mangelhafte Anthropologie im bisherigen Protestantismus und Marxismus hat auf beiden Seite zu Fehlentwicklungen geführt.“ Hinweis auf das Christentum findet sich nur im Entwurf (siehe vorige Anm.).

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von göttlichem Handeln und menschlicher Aktivität ungelöst ist, so bleibt auch im Marxismus die Frage nach dem Verhältnis von dialektischer Notwendigkeit und politischer Aktion praktisch und theoretisch unentschieden. Daher das Schwanken zwischen gläubiger Passivität und kritischer Aktivität im Christentum wie in der marxistischen Bewegung. – 5. Wie das Christentum voraussetzt, dass die lebendige Zugehörigkeit zur Gemeinde eine grundsätzliche und fortwirkende Überwindung des Wesenswidrigen in sich schließt, so ist im Marxismus vorausgesetzt, dass die lebendige Zugehörigkeit zum Proletariat eine grundsätzliche und wachsende Überwindung der Entfremdung und Entmenschung bedeutet, sowohl durch partielle Siege über die Ausbeuter als auch durch die Begründung einer neuen gesellschaftlichen Kooperation in Form der Solidarität. Das anthropologische Problem in beiden Fällen ist aber, ob und inwieweit es möglich ist, in der wesenswidrigen Existenz, d. h. vor der Endkatastrophe, das Wesenswidrige zu überwinden, sei es in irgendeiner Gruppe oder im einzelnen. Genauer ist es die Frage, inwieweit sozialistische Erziehung und psychische Transformation imstande sind, die dämonischen Strukturen der Klassengesellschaft zu überwinden, zumindest im militanten Proletariat. Es ist dieselbe Frage, die in der Kirche gestellt wird als Frage bezüglich der gratia infusa oder imputata. Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Katastrophe des Marxismus in einigen Ländern mit dem vollständigen Fehlen einer Lösung dieses Problems in Zusammenhang steht. (Für die Bedeutung des Proletariats für die Überwindung der Wesenswidrigkeit ist das klassische Dokument das „Kommunistische Manifest“. Für die Verengung der wirklich aktiven Gruppe zur Partei und zur Avantgarde der Partei bietet die russische Theorie und Praxis eine hervorragende Illustration. Das Problem der dämonischen Struktur im Proletariat selbst und der daraus resultierenden proletarischen Klassenspaltung ist in vielen Aspekten im Lichte deutscher Erfahrungen besonders in den letzten Jahren der Republik behandelt worden. Über die Macht der proletarischen Bewegung, dem Leben einen Sinn zu geben, vgl. Gertrud Hermes, Die geistige Gestalt des marxistischen Arbeiters [und die Arbeiterbildungsfrage. 1801-1816, Tübingen 1926]. Zum Problem der sozialistischen Erziehung und deren Grenzen im bestehenden System vgl. Mennicke1, 1

C. Mennicke, Das pädagogische Problem im Zusammenhang mit der Kulturkrise der Gegenwart, Potsdam 1931.

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Radbruch1 u. a. Die Erfahrungen der sozialistischen Bewegung in Deutschland haben zu einer sehr pessimistischen Sicht der Möglichkeit einer Überwindung der dämonischen Strukturen im kapitalistischen System geführt. Vgl. Eduard Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus. [Theorie der Sozialpolitik, Tübingen 1929], und seine eigene – teilweise – Rücknahme der optimistischen Sicht dieser Arbeit. Dabei hat sich die marxistische Haltung noch enger auf die protestantische Haltung zubewegt. – Die Ähnlichkeit im Grund der christlichen und der marxistischen Anschauung zeigt sich hier auch durch Konfrontation mit ihren gemeinsamen Gegnern; konservativer Pessimismus, der die menschliche Existenz ohne historische Zielrichtung und keine sie tragende Gruppe kennt; der Fortschrittsglaube, der eine allgemeine Vorwärtsbewegung sieht, ohne eine schicksalsgebundene Gruppe als Träger des Fortschritts zu kennen; die Mystik, die unter Erlösung nicht eine geschichtliche Bewegung versteht, sondern den individuellen Aufstieg der Seele.) 7. Sowohl Christentum wie Marxismus sind ausgerichtet auf ein Ziel für den Menschen und die Menschheit in Übereinstimmung mit der wahren Natur des Menschen. Sie haben eine Enderwartung, von der aus Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit gedeutet werden. In beiden Fällen ist diese Erfüllung Wiederherstellung der ursprünglichen Vollkommenheit, aber mit dem Unterschied, dass die Gewinne der Geschichte mitaufgenommen sind. – Im einzelnen liegen folgende Analogien vor:2 1. Sowohl im Christentum wie im Marxismus schließt 1

2

G. Radbruch, Kulturlehre des Sozialismus, Berlin 1922, 2. erw. Aufl. Berlin 1927, 3. Aufl. Berlin 1949, 4. Aufl. Berlin 1970. Entwurf: „1. Sowohl im Christentum wie im Marxismus schließt die Vollendung den ganzen Menschen, nach Geist und Leib ein, entsprechend der geistigen wie leiblichen Wesenswidrigkeit. 2. In beiden ist die Befreiung des Individuums von den wesenswidrigen Strukturen und Mächten in Aussicht genommen. 3. In beiden findet eine wechselseitige Abhängigkeit der Vollendung des einzelnen und der Gesamtheit statt. 4. In beiden ist die aussermenschliche Natur in die Vollendung mit einbezogen und dient dem Genusse. 5. In beiden wird die Freiheit als Möglichkeit eines dauernden Widerstandes gegen die Vollendung nicht aufgehoben. 6. In beiden wird der Zustand der Vollendung nur negativ beschrieben. Eine positive Beschreibung wird als Phantastik oder Utopie abgelehnt. 7. In beiden wird vorausgesetzt, dass die den Kampf führende Gruppe als gesonderte in der Vollendung aufgehoben ist, nachdem sie eine vorübergehende Herrschaft ausgeübt hat: Im Christentum die 1000jährige Herrschaft der Kirche, dann das Gottesreich. Im Marxismus die Herrschaft des Kommunismus bis zur Selbstauflösung der politischen Gewalt.“

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die Vollendung den ganzen Menschen, nach Geist und Leib, ein, entsprechend der geistigen wie leiblichen Wesenswidrigkeit. Eine idealistische Trennung des Geistigen und des Leiblichen widerspricht dem Christentum ebenso wie dem Marxismus. Unter diesem Gesichtspunkt muss man sogar eine Analogie zwischen der christlichen Lehre von der Glückseligkeit der Natur des Menschen und der marxistischen Anschauung von der Einheit von Interesse und Idee feststellen. Der abstrakte Gegensatz von Idee und Triebkraft (im einzelnen Idee und Leidenschaft, in der Gesellschaft Idee und Interesse) ist dem Christentum ebenso fremd wie dem Marxismus. – 2. Im Christentum wie im Marxismus findet eine wechselseitige Abhängigkeit der Vollendung des einzelnen und der Gesamtheit statt. Im Marxismus drückt sich dies in der Anschauung aus, dass die tieferliegenden psychologischen Strukturen des einzelnen auch von der sozialen Struktur und ihrer Transformation abhängig sind. Hinsichtlich der Natur gilt, dass eine technische Herrschaft über sie, ohne die Ausbeutung von Menschen, Voraussetzung ist für die Erfüllung der menschlichen Natur. – 3. Im Marxismus wie im Christentum wird der Zustand der Vollendung nur negativ beschrieben; positiv meistens durch den Begriff der Freiheit. Jede genauere Beschreibung wird abgelehnt, da in marxistischer Sicht die Möglichkeiten, unter den Bedingungen der Klassengesellschaft das notwendige Wissen zu gewinnen, völlig fehlen. – 4. Die christliche Lehre von der Endkatastrophe hat im Marxismus die Analogie, dass nur eine revolutionäre Katastrophe, in der das ganze System der Wesenswidrigkeit vernichtet wird, zum wahren Ziel der Menschheit führen kann. Der dämonische Charakter der Wesenswidrigkeit zerstört im Christentum wie im Marxismus die Vorstellung von einer Evolution. (Der Kampf der Marxisten gegen den utopischen Sozialismus kann uns nicht davon abhalten, im Marxismus auch den „Geist der Utopie“1 zu entdecken, der sich in jeder prophetischen Bewegung findet. Die Erwartung der klassenlosen Gesellschaft, die Hoffnung auf den Übergang vom „Reich der Notwendigkeit“ in das „Reich der Freiheit“ sind Symbole des Glaubens an einen radikale Veränderung des menschlichen Daseins. Der Gegensatz von utopischem und marxistischem Sozialismus bezieht sich lediglich auf die Art und Weise der Verwirklichung dieses Ziels. Der Marxismus glaubt 1

Vgl. Ernst Bloch, Geist der Utopie, 1. Fassung München/Leipzig 1918, 2. Fassung 1923.

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nicht, dass es ohne eine revolutionäre Katastrophe, durch moralische Überredung und eine allmähliche Evolution, erreicht werden kann. Er steht somit der christlichen Erwartung einer Endkatastrophe und dem christlichen Pessimismus hinsichtlich der Natur des Menschen im Stande der wesenswidrigen Existenz näher als den rationalistischen Utopisten. – Als Beispiele gegen das Christentum wie gegen den Marxismus sind dies schon erwähnten Philosophien und Strömungen relevant, die insgesamt nicht eschatologisch ausgerichtet sind.) 8. Der positive Vergleich christlicher mit marxistischer Anthropologie, der in diesem Abschnitt versucht wurde, hat viele Analogien gezeitigt. Es sollte ausdrücklich gesagt werden, dass es sich um Strukturanalogien handelt und nicht um eine Identität von Ideen. Da jedes System von Ideen, auch wenn es Widersprüche enthält, ein geschlossener Organismus ist, in dem die Hauptprinzipien jedes einzelne Element des Denkens bestimmen, wäre es methodisch falsch, einzelne Idee auszuwählen und zu behaupten, dass sie identisch wären mit einzelnen Gedanken aus einem anderen organischen Ideenzusammenhang. Es ist jedoch möglich, Strukturanalogien festzustellen, funktionale Ähnlichkeiten, die auf der Tatsache beruhen, dass trotz aller individuellen historischen Differenzen gewisse grundlegende Typen der Denkstruktur sich immer wieder durchsetzen, wenigstens in miteinander verbundenen kulturellen Einheiten. Unter diesem Vorbehalt kann behauptet werden, dass das Christentum, besonders in seinen stärker prophetischen Formen, und der Marxismus, besonders in seiner ursprünglichen Form bei Marx selbst, eine enge typologische Affinität aufweisen. Es sind die fundamentalen Strukturen einer prophetischen Anthropologie allgemein, die sich bei beiden finden und zu einer Fülle von Analogien geführt haben, die sich keineswegs in den von mir genannten erschöpfen. In vielen Fällen wäre es möglich, eine direkte historische Abhängigkeit des Marxismus von den prophetischen Ideen der jüdisch-christlichen Entwicklung aufzuzeigen. Das kann hier jedoch nicht versucht werden. Da die Strukturanalogie zwischen christlicher und marxistischer Anthropologie sich im Positiven wie im Negativen hauptsächlich auf die prophetischen Elemente in ihnen beziehen, ist es unmittelbar verständlich, dass diejenigen christlichen Anschauungen, die dieses Element zugunsten ihrer priesterlich-konservativen Pervertierung vernachlässigen, und diejenigen Marxisten, die dies für richtig halten und so ohne weiteres das Christentum mit seiner priesterlich-konservativen Pervertierung

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identifizieren – beide die behaupteten Strukturanalogien erheblich unterschätzen. Die Tatsache dieser Unterschätzung erscheint so offensichtlich in der Literatur beider Seiten, dass es nicht nötig ist, darauf weiter einzugehen. Einer der Fehler der Argumentation beider Seiten ist die Vermischung von Identitäten, die niemand behauptet, mit Strukturanalogien, die nicht nur behauptet, sondern auch bewiesen werden können, und dies in einem solchen Maße, dass man von einer engen typologischen Verwandtschaft von christlicher und marxistischer Anthropologie sprechen muss. Dies kann uns aber nicht von der Aufgabe dispensieren, nun auch die strukturellen Widersprüche zwischen beiden zu zeigen. IV. Der Widerspruch zwischen der christlichen und der marxistischen Anthropologie 1. Der grundlegende Gegensatz von christlicher und marxistischer Anthropologie liegt in der transzendenten Begründung der Anthropologie im Christentum und der immanenten Begründung im Marxismus: Der Beziehungspunkt der christlichen Anthropologie ist Gott; die Dynamik der menschlichen Existenz ist begründet im göttlichen Handeln zum Heil des Menschen. Der Beziehungspunkt der marxistischen Anthropologie ist die Gesellschaft; die Dynamik der menschlichen Existenz ist begründet im menschlichen Handeln unter dem Zwang der gesellschaftlichen Struktur. 2. Der Gegensatz von transzendenter und immanenter Begründung der Anthropologie wirkt sich in der Lehre von der ursprünglichen Vollkommenheit des Menschen in folgenden Gegensätzen aus: 1. Der Urstand im Sinne des Christentums ist übergeschichtlich oder mythisch, der ursprüngliche Zustand im Sinne des Marxismus ist vorgeschichtlich und empirisch. – 2. Die Idee der Schöpfung ist im Christentum rein transzendent. Gott ist der Schöpfer, der Mensch das Geschöpf. Für Marx ist die Schöpfung jedoch identisch mit der menschlichen Geschichte, in der der Mensch sich selbst und seine Natur produziert. – 3. Die christliche Idee der Gottesebenbildlichkeit wird von Marx im Anschluss an Feuerbach umgekehrt und auf die Schöpfung Gottes nach dem Bilde des Menschen gedeutet. 3. Der Widerspruch von transzendenter und immanenter Begründung wirkt sich in der Lehre vom Übergang zum Zustand der Wesens-

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widrigkeit in folgenden Gegensätzen aus: 1. Im Christentum ist der Sündenfall übergeschichtlich und betrifft die gesamte empirische Existenz1. – 2. Für das Christentum bedeutet der Übergang primär die Abwendung des Menschen von Gott, während er für den Marxismus die Abwendung einer einzelnen sozialen Gruppe von der gesellschaftlichen Kooperation bedeutet. – 3. Die Versuchung zum Übergang stammt nach christlicher Auffassung aus dämonischen, also negativ-transzendenten Mächten, während sie bei Marx aus den wachsenden Produktivkräften und der Arbeitsteilung stammt. 4. Der Widerspruch von transzendenter und immanenter Begründung der Anthropologie wirkt sich in der Lehre vom Wesenswidrigen in folgenden Punkten aus: 1. Die christliche Lehre von der Sünde als Erhebung gegen Gott und die marxistische Lehre von der Entfremdung als Erhebung einzelner Gruppen gegen die gesellschaftliche Kooperation impliziert den Gegensatz einer vom Individuum und einer von der Gruppe her gedachten Wesenswidrigkeit. Die Konsequenz für die Gruppe ist im Christentum abgeleitet, im Marxismus ursprünglich. – 2. In gleicher Weise ist die Lehre vom göttlichen Gericht durch Steigerung der Wesenswidrigkeit primär auf den einzelnen bezogen, während bei Marx die Lehre von der Selbstvernichtung der Klassengesellschaft primär auf die Gruppe bezogen ist und nur in ihren Konsequenzen auf den einzelnen. – 3. Die christliche Lehre von der erbsündlichen Gebundenheit betrifft die gesamte empirische Existenz, während die marxistische Lehre von dem Verhängnis der Gesellschaftsspaltung nur eine Periode der empirischen Existenz, nämlich die geschichtliche, betrifft. – 4. Die christliche Lehre von der Erhebung des einzelnen gegen Gott schafft im einzelnen Christen ein Schuldbewusstsein, das nur durch Rechtfertigung des einzelnen überwunden werden kann, während im Marxismus die Schuld der unterdrückenden Gruppen die unterdrückten Gruppen schuldfrei erscheinen lässt, weswegen nicht die Rechtfertigung des einzelnen in jeder Gruppe, sondern die Überwindung der schuldigen Gruppe die gesellschaftliche Schuld aufhebt. Weder Schuld noch Mitschuld sind explizit behauptet.

1

Hinweis auf den Marxismus findet sich nur im Entwurf: „… während er im Marxismus innerhalb der empirischen Existenz als Ausgangspunkt der Geschichte liegt.“

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5. In der Sicht der Existenz im Widerspruch macht sich der Widerspruch von transzendenter und immanenter Begründung der Anthropologie in folgenden Gegensätzen bemerkbar: Da im Christentum sich die Wesenswidrigkeit auf das gesamte Dasein in Raum und Zeit bezieht, sind die Feindschaft gegen Gott, die Erschaffung selbstgemachter Götter, Furcht und Verzweiflung mit ihren verschiedenen Folgen im Blick auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zur Welt und zu anderen Menschen unauflöslich mit der empirischen Existenz verbunden. Da für Marx sich die Wesenswidrigkeit auf eine bestimmte Periode innerhalb der empirischen Existenz bezieht, folgt daraus, dass die Tendenzen zur ideologischen Verschleierung der wesenswidrigen Wirklichkeit wie der Entfremdung mitsamt ihren Folgen im Verhältnis des Menschen zur Natur und zur Gesellschaft sich nur auf diese Periode der Klassengesellschaft beziehen. Die Elemente der Wesenswidrigkeit haben darum im Christentum eine universale Bedeutung, sie betreffen die gesamte Existenz; im Marxismus haben sie eine partikulare Bedeutung, sie betreffen nur die Klassengesellschaft. Dies impliziert den weiteren Gegensatz, dass sie im Christentum von innen nach außen interpretiert werden, im Marxismus von außen nach innen. Für das Christentum sind die äußeren Ereignisse Anlass zur Aktualisierung der innerlich möglichen Furcht und Verzweiflung. Für den Marxismus ist die innerliche Stimmung der Furcht und Verzweiflung eine Folge der äußeren, Furcht und Verzweiflung schaffenden Verhältnisse. 6. Der Widerspruch von transzendenter und immanenter Begründung der Anthropologie macht sich in der Lehre von der Überwindung des Wesenswidrigen in folgenden Punkten bemerkbar: 1. Während die Gemeinde in christlicher Auffassung aus Herausgerufenen und Auserwählten aus allen Völkern und Klassen besteht und in allen Perioden existiert, also abhängig ist von einem rein innerlichen Vorgang, für den bestimmte äußere Bedingungen günstig, aber nicht maßgebend sind, ist das Proletariat das Produkt eines bestimmten Wirtschaftssystems, in bestimmten Ländern und zu einer bestimmten Zeit. – 2. Während nach christlicher Auffassung die Gemeinde grundsätzlich der Gebundenheit an empirische Interessen enthoben ist und diese, wo sie vorliegt, im Gegensatz zum Wesen der Gemeinde stünde, sind im Marxismus Idee und empirisches Interesse miteinander verbunden. Das Interesse der christlichen Gemeinde ist – wenn das Wort erlaubt ist – transzendent. Es findet die Erfüllung seines Wesens in

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der Gemeinschaft mit Gott. Das Interesse der revolutionären Klasse findet seine Erfüllung in der klassenlosen Gesellschaft. – 3. Der fundmentale Sieg über Furcht und Verzweiflung ist im Christentum für den einzelnen in der Gemeinde erreichbar durch die Vorwegnahme der Gemeinschaft mit Gott. Im Marxismus bleibt der einzelne der Bedrohtheit durch die Klassengesellschaft ausgeliefert. Der Sieg über sie liegt ausschließlich in der Zukunft, während er im Christentum nicht von dieser Welt und gleichzeitig gegenwärtig ist. 7. Der Widerspruch von transzendenter und immanenter Begründung der Anthropologie macht sich in der Lehre vom wahren Ziel des Menschen und der Menschheit in der Weise bemerkbar, dass im Christentum das Ziel der Geschichte primär transzendent ist, im Marxismus hingegen ausschließlich immanent. Im einzelnen zeigen sich folgende Gegensätze: 1. Während im Christentum die Erfüllung des menschlichen Wesens, was den einzelnen, die Gemeinde und das Verhältnis zur Natur anbelangt, jenseits der räumlich-zeitlichen Existenz liegt, also den Tod voraussetzt, liegt sie im Marxismus innerhalb der räumlich-zeitlichen Existenz und ist somit durch den Tod begrenzt. – 2. Infolgedessen ist die Stellung zum Tode, sogar zum Tode, der natürlich und nicht durch die Bedingungen einer Klassengesellschaft zur Sinnlosigkeit verzerrt ist, entweder natürlich und indifferent oder geistig und heroisch, während sie im Christentum, sogar unter der Voraussetzung einer Überwindung von Furcht und Verzweiflung, betont und mit Hoffnung verbunden ist. – 3. Während im Christentum das Wunder der Wandlung des menschlichen Wesens mit dem Wunder einer Wandlung der gesamten Existenz und aller Kategorien der Existenz verbunden ist, geschieht im Marxismus das Wunder innerhalb der räumlich-zeitlichen Existenz ohne Wandlung ihrer formalen Kategorien. – 4. Folglich kann gesagt werden, dass die christliche Anthropologie im Blick auf die Existenz radikaler pessimistisch und im Blick auf die Transzendenz radikaler optimistisch ist, während die marxistische Anthropologie den Optimismus und Pessimismus auf verschiedene Perioden der Existenz verteilt, dabei aber einen transzendenten Optimismus ausschließt. 8. So lassen sich alle Gegensätze zwischen christlicher und marxistischer Anthropologie auf den Gegensatz zwischen Transzendenz und Immanenz zurückführen. Alle einzelnen Unterschiede in der Struktur des anthropologischen Denkens sind durch diesen Gegensatz

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bestimmt. Bei weitem am wichtigsten ist der Gegensatz zwischen der christlichen und der marxistischen Würdigung des einzelnen und seiner inneren Existenz. Die transzendente Begründung bietet dem Christentum die Möglichkeit, die innere Existenz des einzelnen in gewissem Maße1 vom strukturellen Grundgerüst der objektiven Wesenswidrigkeit zu trennen. Dies ist der Grund für die Möglichkeit der Seelsorge am einzelnen und der Mystik innerhalb des Christentums. Im Marxismus jedoch wird eine solche Ablösung der inneren Existenz des einzelnen wegen der rein sozialen Interpretation der Wesenswidrigkeit unmöglich. Die christliche Auffassung erweist sich als die umfassendere, aus der der Marxismus das eine kritischprophetische Element herausgelöst und in der Analyse und Kritik der sozialen Existenz des geschichtlichen Menschen zum Prinzip erhoben hat. Hinsichtlich der zukünftigen Beziehungen zwischen Christentum und Marxismus hängt alles davon ab, ob der Gegensatz zwischen einer transzendenten und einer immanenten Begründung als exklusiv verstanden oder ob er als partikular verstanden wird. Im ersten Falle würde ein Kampf um Leben und Tod zwischen den beiden entstehen trotz des typologischen Zusammenhangs von Christentum und Marxismus. Im zweiten Falle würde das Christentum den Marxismus als das prophetisch-immanente Element seines eigenen Wesens verstehen müssen, das selbständig und in die Opposition getrieben wurde; es hätte nach einem Wege zu suchen, es wieder in sich aufzunehmen. Dieser zweite Weg war das Bestreben des religiösen Sozialismus, und nach Auffassung des Autors dieses Beitrags ist es die Aufgabe, vor der die christliche Kirche und Theologie stehen, überall in der kapitalistischen Welt in dieser Periode der Geschichte.

1

Typ.: to a certain existence [sic!]. Gemeint: extent.

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Register

Personenregister (Das Register enthält nur die von Tillich genannten Personen)

Adler, M. 315 Allwohn, A. 318 Anaxagoras 164 Apollo 48 Aristoteles 48, 83, 98, 100, 134, 161, 163, 164, 194, 215, 247, 248, 266, 331 Augustinus 2, 20-22, 34, 83, 144, 166, 321, 326, 327, 329 Bach, J. S. 10 Barth, K. 301, 311, 319, 320, 322, 330 Bazard, S.-A. 317 Bergson, H. 60, 274 Bernstein, E. 315 Böhme, J. 17, 88, 321, 326 Bornkamm, H. 320, 321 Boutroux, É. 292 Brunner, E. 322 Bruno, G. 6 Bultmann, R. 319, 322 Calvin, J. 213, 319, 320, 329 Cartesius → Descartes Cézanne, P. 10 Daqué, E. 270 Daub, K. 326 Demokrit 164 Descartes, R. 22f., 101, 135, 162, 163, 171, 190, 197, 215, 270 Dewey, J. 175, 258 Dilthey, W. 60 Dionysos 48 Don Giovanni 296 Duns Scotus 83 Engels, F. 61 Erasmus v. Rotterdam 199 Esau 333

Feuerbach, L. 109-114, 120f., 315, 318, 331, 343 Fichte, J.G. 73, 81, 96, 118, 186 Freud, S. 90, 152, 175, 199, 269, 294, 295, 296, 326 Friedrich Wilhelm IV. 61 Galilei, G. 7 Gelb, A. 28f., 268, 283 Goethe, J.W. 335 Gogarten, F. 322 Gogh, V. van 10 Goldstein, K. 268, 283 Hamlet 281 Harnack, A. von 32 Hebbel, F. 161 Hegel 17, 59, 60-129, 130, 135, 143, 150, 178, 186, 332, 335 Heidegger, M. 86, 88, 98, 104, 115, 130, 131, 133, 163, 195, 196, 319, 322, 328, 331 Heimann, E. 317, 322, 340 Heraklit 164 Hermes, G. 339 Hesiod 161 Horkheimer, M. 316 Husserl, E. 60 James, W. 198, 275 Jaspers, K. 115, 130, 131, 195, 326 Jesus Christus 4, 9, 10, 12, 49, 54, 140, 141, 206, 248, 295, 329 Jung, C. G. 269 Kain 333 Kant, I. 21, 29, 50, 55, 76, 87, 96, 98, 102, 196, 202, 293, 304 Kierkegaard, S. 59, 61, 75, 86, 88-90, 109, 111, 115, 130-156, 199, 207, 208, 319, 322, 326, 328, 330

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Klages, L. 270, 333 Kranold, A. 315 Kuhlmann, G. 322 Landauer, G. 317 Lassalle, F. 315 Leese, K. 321 Lessing, G. E. 137, 139 Löwith, K. 322 Luther, M. 2, 84, 133, 199, 213, 329, 296, 318, 321, 327, 329, 330 Man, H. de 317 Marc, F. 9 Maria 53 Marx, K. 59, 61, 75, 109-129, 131, 133, 152, 175, 192, 199, 269, 295, 315-347 Mayer, J. P. 121 Melanchthon, Ph. 318, 319, 320 Mennicke, C. 339 Michelangelo 248-250 Müller, E. F. K. 319 Müller, J. 326 Natorp, P. 50 Nero 296 Nietzsche, F. 6, 43, 59, 60, 85, 90, 130, 131, 133, 152, 175, 199, 257, 294, 295, 326 Nimrod 333 Origenes 321, 330 Otto, R. 18-20, 31, 46, 48 Owen, R. 317 Palestrina 10 Parmenides 62 Pascal, B. 328

Paulus 40, 47, 54, 65, 67, 202, 204, 329 Pelagius 321 Platon 64, 65, 68, 83, 100, 138, 243, 248, 249, 293, 304 Plotin 331 Pythagoras 164 Radbruch, G. 315, 317, 340 Ritschl, A. 319, 326 Rivera, D. 10 Rousseau, J.-J. 317, 333 Shakespeare, W. 126, 335 Scheler, M. 28, 268, 275, 326 Schelling, F.W.J. 60, 61, 72-106, 115, 133, 134, 207, 321, 326 Schleiermacher, F.D.E. 9, 19, 326 Schopenhauer, A. 59, 85, 331 Sokrates 137, 139, 140, 144, 161 Sorel, G. 60 Spalatin, G. 318 Spinoza, B. 74, 80, 83 Stirner, M. 109, 111 Strawinsky, I. 10 St. Simon 317 Tertullian 321 Themistokles 117 Thomas von Aquin 248 Timon von Athen 126 Troeltsch, E. 3, 292, 330 Uexküll, J. v. 191, 268, 281 Weitling, W. 317, 318 Wertheimer, M. 28 Whitehead, A. N. 192, 275

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Sachregister

Abgrund 19, 37, 38, 44, 46, 50, 62, 205, 248 absolut 6, 289 Absolute, das 85 Absolutismus 106 Abstraktion 3, 16, 28, 31, 62, 114, 120, 132, 163-170, 177, 189f., 266, 269, 270, 274 Ästhetik 8, 29 Ästhetizismus 226 Allgemeinbegriffe 282 Amerika 3, 4, 11, 28 Analogie → Strukturanalogie Analyse, existentiale 221f., 290 Angst 88, 154-156, 205-208, 210214, 222f., 257, 258, 292-294, 297, 326 Anschauung, innere 22 – intellektuelle 76f. Anthropologie 21, 28f., 94, 109, 130, 157-347 – allgemeine oder philosophische 157, 181-188, 199-209, 218-221, 230252, 275-300 – christlich-protestantische 324-330 – sozialistisch-marxistische 331-343 – theologische 157, 168, 180, 193f., 212-214, 221-229, 253-262, 300314 – wissenschaftstheoretisch 158-181, 189-192, 194-198, 215-217, 263275 Anthropology 264 Antwort → Frage/Antwort Atheismus 5, 43, 44, 113 Atom 3 Auferstehung 330 Aufklärung 13, 14, 99, 135, 319, 330 ausdrücklich-sich-Haben 231f. Autonomie 55, 106, 107 Begierde 89f.

Begriff 61-64, 69f. Behaviorismus 29, 267 Beichte 12f., 321 Berlin 8, 60 Bewusstseinspsychologie 166, 266, 320 Biologie 164, 267f. Buddhismus 32 Calvinismus 213 Chiliasmus 330 Dämonische, das 18, 334 dämonisch 12 Darwinismus 54 Denken 24 Determinismus 200, 238-243 Ding 41-43, 230, 273f. Ebenbild(lichkeit) 93, 158, 168, 325, 343 Eigenwille 90 Eine, das 41 Einheit von Subjekt und Objekt 36 Einsamkeit 136f., 206 Ekstase 46-50, 54, 239f., 243, 313 Emanation 83 Empfangen/Reagieren 23-29 Empirismus 3, 23, 34, 100, 101, 103, 163 Endlichkeit/Unendlichkeit 35, 51, 199214, 253-260, 288-300 Engel 2 Entfremdung 121-124, 253-260, 288300 Entmenschlichung 124 Entmenschung 337, 338, 339 Entscheidung 143, 201, 241f., 285f. Erfahrung 178f. Erlösung 13, 70, 109, 213f., 227, 228f., 310f. Eros 83 Erscheinung 67f.

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Erschütterung 12 Erziehung 13 Es 233f., 246 Essentialismus → Wesensphilosophie Essentialphilosophie → Wesensphilosophie Essenz/Existenz 41, 199-204 Ethische, das 133 Existenz → Essenz/Existenz Existential-Philosophie 57-156 Existenzphilosophie 57-156 Expressionismus 8, 9 Existenz/Essenz → Essenz/Existenz Expressionismus 8, 9 Fall (Sündenfall) 326, 344 Faschismus 4, 5, 24 fascinans 46 Frage/Antwort 1-2, 35, 212-214, 300314, 322 Frankfurter Schule 192 Freiheit 23-29, 78, 80-82, 86, 200-202, 219, 238-243, 275-288 – absolute 102 – persönliche 78 – politische 78 – transzendente 78 – der Entscheidung 285f. –, Gebote entgegenzunehmen 284f. – des Spielens 287 –, unserem Wesen zu widersprechen 287f. – der Wissenschaft 7 Freiheit/Notwendigkeit 74, 78, 80-82, 203, 204, 238f. Fortschritt 76f., 233, 335 Gebote, unbedingte 201 Gefühl 19, 20 Gegensatz 15-18 Geist 86f., 90f., 151, 249, 251 – absoluter 186 – Heiliger 313 Gemeinschaft 220 Gemüt 88 Gerechtigkeit 5, 47 Geschichte 71f., 75-79, 144-150, 165, 168, 272f., 303f., 332 Geschichte-Haben 303 Geschichtsphilosophie 103, 104 Geschöpflichkeit 325

Gesellschaft – bürgerliche 32, 79, 124-126 Gestaltphilosophie 171f. Gestaltpsychologie 28 Gestalttheorie 192, 267f. Gnade 12, 40, 47, 53, 319 Göttliche, das 18 Gott 37, 65, 82, 307, 324 – absoluter 106 – Ebenbild 93, 158, 325, 343 – Existenz 21 – Gegenwart 12 Gottesbegriff 6f. Gottesgewissheit 22, 98 Gottesbeweis – ontologischer 98 Gute, das 38-41, 244 Heidentum 14, 42, 49 Heilige, das 18-55 Heiliger Geist 313 Heiligung 329 Heimatlosigkeit 206 Heteronomie 55, 107 Historismus 79f. Hoffnung 210 Humanität 50, 75 Humanismus 14, 105, 321 Idealismus 72, 82, 99, 332, 335 – deutscher 3, 78, 108, 112, 113, 319 Idee 65f., 123 Identität 73-77, 84f. Identitätsphilosophie 73-77, 108 Identitätsprinzip 73-77, 108 Identitätspunkt 272 Ideologie 34, 109, 110, 128, 129, 336 Immanenz/Transzendenz 43, 343-347 Indeterminismus 200, 238-243 Individualisation/Partizipation 203, 251, 277-279 Individualität/Totalität 246, 253-260, 277-279 Individuum 246 Innerlichkeit138, 142 Intentionalität 220, 243-249 Interesse 132f., 135, 159f. Ironie 139f. Irrationale, das 18-20, 44 Irrationalismus 38, 84

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Judentum 49 Kairos 55, 104, 147f. Kapitalismus 32, 127, 340, 347 Katholizismus 312 Klassengesellschaft 315-347 Klassenkampf 334 Klassenspaltung 192, 339 Kommunismus 4, 5, 272 Konkretion 3 Kontingenz 205-214, 256, 289, 292294, 297 Krankheit 92, 207, 225, 258 Kultur 29-31, 50-55 Kunst 8-11 Leben 6, 17, 182f. – ewiges 226, 228, 309 Lebensphilosophie 85, 89, 292 Leere 225 Lehre vom Menschen → Anthropologie Leib/Seele 28, 171, 190f., 247-251, 321, 341 Leidenschaft 141f. Libido 89f., 295f. Liebe 47 Luthertum 213 Marxismus 34, 315-347 Materie 247 Materialismus 110, 112, 266, 333 Medizin 271 Melancholie 207, 223f. Mensch → Anthropologie Methode – des Gegensatzes 15-18 – dialektische 97 – dogmatische 20-23 – empirische 31-34 – ontologische 41 Mitteilung 137 Mittelalter 83 Möglichkeit/Wirklichkeit 133f. Moralismus 261 Mut 89, 210, 257 Mysterium 186 Mystik 89, 299, 321, 340 Mythos 83f., 85 Nationalismus 272 Naturalismus 335

Naturphilosophie 60 Neuplatonismus 65f., 68, 83, 94, 100, 248, 299 Nichts 205, 289, 292 Nichtsein 62 Nominalismus 321 Normen 243, 270, 284f. Notwendigkeit → Freiheit/Notwendigkeit Numinosum 46 Objektivierung/Objektivation 162, 180, 197f. Offenbarung 7, 9-11, 54, 103, 304, 305 Ontologie 275, 316 Paganismus 15 Paradox 141, 307, 308, 310 Paradoxie 203, 251 Persönlichkeit 220 Phänomenologie 19, 243, 275 Philosophie 6-8 – positive 96, 98, 100f., 103 – negative 96, 98, 100f., 103 Platonismus 3, 76 Politik 4-5 Potentialität 97 Prädestination 213, 329 Pragmatismus 23 Produktion – auf den Menschen gerichtete 240f. – kulturelle 201, 211, 240 – technische 201, 211, 240, 282 profan 17f. Profane, das 44-50 Profanisierung 49f. Proletariat 128f., 335-339, 345 prophetisch 323, 347 Protestantismus 312f. Psychoanalyse 11f., 13, 16, 34, 267, 269, 320 Psychologie 21, 166, 173, 266 Rationale, das 18-20 Rationalismus 38, 100, 101 Realismus 82, 91 Rechtfertigungslehre 2, 319, 329 Reformation 318-321, 329 Reich Gottes 330 Reiz/Reaktion 200-202, 219, 237f., 268

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Religion – historische 31 – objektive 17 – philosophische 99, 105 – subjektive 17 Religionsbegriff 31 Religionsphilosophie 1-55, 110, 301 Renaissance 3, 48, 65, 162 Revolution 8, 16 – französische 75, 78, 107 – proletarische 316 Rezeption/Reaktion 23-29 Romantik 55 Russland 15 Säkularisierung 330 Säkularismus 13-15, 214 Schicksal 107 Schöpfung 2, 212f., 226f., 305-308, 325, 343 Scholastik 2, 41, 42 Schuld 208f., 210-214, 224, 257, 260, 297. Schwermut 89, 93, 131, 206, 207, 297 Seele 89, 92, 248-250 Sein, das 41, 42, 44, 61-64, 277 Selbst 21, 151, 233f., 289 Selbstanschauung 34 Selbstbewusstsein 22, 121, 124, 135 Selbstentfremdung 113, 197, 274, 334, 335 Selbstheit 86 Selbstmächtigkeit 185, 186, 187 Selbstverwirklichung 333 Sich-selbst-absolut-Haben 211, 224, 232, 309 Sich-selbst-ausdrücklich-Haben 279f. Sich-selbst-einfach-Haben 231, 279f. Sich-selbst-Haben 179, 181-188, 198, 202f., 211, 218-229, 230-252, 253262, 277-288, 307 Sich-selbst-Haben-als-sich selbsthabend 281 Sich-selbst-noch-nicht-Haben 182, 279f. Sich-selbst-haben-Müssen 187, 224, 232 Sinn 51, 191f. Sinnerfüllung 51f. Sinnlosigkeit 52, 191, 225, 261, 266

Skeptizismus 144 Sorge 209, 223 Sozialismus 315-347 – anarchisch-mystischer 317 – religiöser 19, 317, 322, 347 – utopischer 317 Soziologie 173f. Spiel 202, 242 Stoizismus 211, 224, 298f. Strukturanalogie 342f. Subjekt-Objekt-Spaltung 36-38, 204 Subjekt-Objekt-Struktur 245 Subjektivität/Objektivität 142, 245f., 281 Substanz, absolute 74 Sünde 12, 86, 93, 326 Sündenbewusstsein 2, 12 Sündenfall 326, 344 Symbol 9, 10 Theismus 5, 43 Theologie – dialektische 301 – supranaturalistische 301 Theonomie 55 Tiefenpsychologie 12, 13 Tod 35, 94, 208, 224, 259, 336 Totaler Staat 30f. Totalität 200, 201, 203, 208f., 211, 238, 252, 278, 281, 289, 294f., 309 Tragödie, griechische 29f., 297 Transzendentalien 41, 52 Transzendente, das 302f. Transzendenz 37, 41-44, 301 Transzendieren 20, 78, 200f., 289 tremendum 46 Trennung → Individualisation Umgebung 200, 244, 252, 279f. Umwelt 200, 280 unbedingt 36 Unbedingte, das 10, 41, 44, 45, 187 Unbewusste, das 267 unendlich 200 Unendliche, das 52, 98 Unendlichkeit 142, 204, 209, 256, 281, 289, 302, 310 Unsterblichkeit 309, 330 Utopie 317, 341 Verdoppelung 183f., 231, 242

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Vernunft 47, 96 Vernunftfunktion 29 Vernunftreligion 99 Versöhnung 121f. Versuchung 88 Vertretung 313 Verzweiflung 90, 151-154, 204, 208f., 210-214, 224, 225, 260, 296, 297, 345 Vitalismus 333 Vorsehung 212f., 226f., 308f. Wahnsinn 92f., 225 Wahre, das 35-38 Wahrheit 35f., 113, 140f., 244 – doppelte 55 Welt 200 Welt-Haben 200, 202, 218-221, 234237, 281f. Werte 169, 270, 284f. Wesen 61-64 – des Christentums 32

Wesensphilosophie 57-156 Wesenswidrigkeit 324-347 Widerspruch 82 Wille 82, 84 Wille zur Macht 13, 33, 85, 192, 221, 295 Willensfreiheit 2, 200, 201, 238-243 Wissenschaft(en) 1, 6-8 – angewandte 264 – reine und generalisierende 264f. – reine und individualisierende 264 Wunder 75 Zeit, qualitative 104 Zeitlichkeit 146f. Zerspaltung → Spaltung Zivilisation 52 Zweideutigkeit 278 Zweifel 22

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