Gesammelte Werke: Band 13 Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks [Reprint 2013 ed.]
 9783110910377, 9783484641136

Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Einleitung
§ 1. Das Gebiet der Betrachtung
§ 2. Vorläufige Andeutung des Problems
§ 3. Die Anpassung des Erkennens an die Grundstruktur des Erkenntnisgegenstandes
§ 4. Grundbehauptungen über den wesenseigenen Aufbau des literarischen Kunstwerks
§ 5. Das schriftlich festgelegte literarische Werk
§ 6. Beschränkung des Themas und erste Grundthesen
I. Die in das Erkennen des literarischen Kunstwerks eingehenden verschiedenen Funktionen
§ 7. Das Erfassen der Schriftzeichen und der Wortlaute
§ 8. Das Verstehen der Wortbedeutungen und der Satzsinne
§ 9. Passives und aktives Lesen
§ 10. Objektivierung als der Übergang von den intentionalen Sachverhalten zu den im literarischen Werk dargestellten Gegenständlichkeiten
§ 11. Die Konkretisierung der dargestellten Gegenständlichkeiten
§ 12. Aktualisierung und Konkretisierung der Ansichten
§ 13. Besonderheit des Verstehens des literarischen Kunstwerks als einer Dichtung
§ 13a. Das Zusammenfassen aller Schichten des Werkes zur Ganzheit und die Erfassung seiner Idee
§ 14. Der Einfluß der Zusammengesetztheit der Erfassung des literarischen Kunstwerks auf die Gestalt seiner Konkretisation
II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks
§ 15. Die Struktur der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes
§ 16. Das Kennenlernen des literarischen Kunstwerks während der Lektüre
§ 17. Die Phänomene der “Zeitperspektive”
§ 18. Die Zeitperspektive in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks
§ 19. Das Erkennen des literarischen Kunstwerks nach der Lektüre
III. Bemerkungen über das Erkennen des wissenschaftlichen Werkes
§ 20. Über den Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen Werk und dem literarischen Kunstwerk
§ 21. Das Verstehen des wissenschaftlichen Werkes und die perzeptive Erfassung des literarischen Kunstwerks
IV. Die Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks
§ 22. Ausblick auf weitere Probleme
§ 23. Über verschiedene Einstellungen beim Erkennen des literarischen Kunstwerks
§ 24. Das ästhetische Erlebnis und der ästhetische Gegenstand
§ 25. Gibt es ein “literarisches” Erlebnis besonderer Art, oder gehört es zu den ästhetischen Erlebnissen?
§ 26. Einige Bemerkungen über die literarischen ästhetischen Erlebnisse
§ 27. Das vor-ästhetische forschende Betrachten des literarischen Kunstwerks
§ 28. Das betrachtende Erkennen der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks
§ 29. Der Unterschied zwischen dem ästhetischen Erkennen des literarischen Kunstwerks und dem betrachtenden Erkennen seiner ästhetischen Konkretisation
V. Ausblick auf einige Probleme der kritischen Betrachtung der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks
§ 30. Einleitende Bemerkungen
§ 31. Erkenntniskritische Probleme des vorästhetischen betrachtenden Erkennens des literarischen Kunstwerks
§ 32. Einige Probleme der Erkenntniskritik des ästhetischen Erlebnisses
§ 33. Einige erkenntniskritische Probleme der Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks
Nachwort
Editorische Notiz
Textkritischer Anhang
Analytisches Inhaltsverzeichnis
Personenregister

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ROMAN INGARDEN Gesammelte Werke

ROMAN INGARDEN

Gesammelte Werke

Herausgegeben von Rolf Fieguth und Guido Küng

Band 13

Max Niemeyer Verlag Tübingen

ROMAN INGARDEN

Gesammelte Werke

Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks

Herausgegeben von Rolf Fieguth und Edward M. Swiderski

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ingarden, Roman: Gesammelte Werke / Roman Ingarden. Hrsg. von Rolf Fieguth und Guido Küng. -Tübingen : Niemeyer. NE: Fieguth, Rolf [Hrsg.]; Ingarden, Roman: [Sammlung] Bd. 13. Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks / hrsg. von Rolf Fieguth und Edward M. Swiderski. - 1997 ISBN 3-484-64113-4 ® Max Niemeyer Verlag GmbH ft Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks Vorwort der Herausgeber Einleitung

IX 1

§ 1. Das Gebiet der Betrachtung

1

§ 2. Vorläufige Andeutung des Problems

4

§ 3. Die Anpassung des Erkennens an die Grundstruktur des Erkenntnisgegenstandes

6

§ 4. Grundbehauptungen über den wesenseigenen Aufbau des literarischen Kunstwerks

11

§ 5. Das schriftlich festgelegte literarische Werk

14

§ 6. Beschränkung des Themas und erste Grundthesen

14

I. Die in das Erkennen des literarischen Kunstwerks eingehenden verschiedenen Funktionen

18

§ 7. Das Erfassen der Schriftzeichen und der Wortlaute

18

§ 8. Das Verstehen der Wortbedeutungen und der Satzsinne

23

§ 9. Passives und aktives Lesen

39

§ 10. Objektivierung als der Übergang von den intentionalen Sachverhalten zu den im literarischen Werk dargestellten Gegenständlichkeiten

44

§11. Die Konkretisierung der dargestellten Gegenständlichkeiten

54

§ 12. Aktualisierung und Konkretisierung der Ansichten

61

§ 13. Besonderheit des Verstehens des literarischen Kunstwerks als einer Dichtung

70

§ 13a. Das Zusammenfassen aller Schichten des Werkes zur Ganzheit und die Erfassung seiner Idee

80

§ 14. Der Einfluß der Zusammengesetztheit der Erfassung des literarischen Kunstwerks auf die Gestalt seiner Konkretisation. 100 II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks

105

§ 15. Die Struktur der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes

105

§ 16. Das Kennenlernen des literarischen Kunstwerks während der Lektüre

108

VI

Inhaltsverzeichnis

§ 17. Die Phänomene der "Zeitperspektive"

117

§ 18. Die Zeitperspektive in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks

140

§ 19. Das Erkennen des literarischen Kunstwerks nach der Lektüre.. 163 III. Bemerkungen über das Erkennen des wissenschaftlichen Werkes.... 167 § 20. Über den Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen Werk und dem literarischen Kunstwerk

167

§ 21. Das Verstehen des wissenschaftlichen Werkes und die perzeptive Erfassung des literarischen Kunstwerks IV. Die Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks § 22. Ausblick auf weitere Probleme

175 191 191

§ 23. Über verschiedene Einstellungen beim Erkennen des literarischen Kunstwerks § 24. Das ästhetische Erlebnis und der ästhetische Gegenstand

195 199

§ 25. Gibt es ein "literarisches" Erlebnis besonderer Art, oder gehört es zu den ästhetischen Erlebnissen?

248

§ 26. Einige Bemerkungen über die literarischen ästhetischen Erlebnisse

254

§ 27. Das vor-ästhetische forschende Betrachten des literarischen Kunstwerks

265

§ 28. Das betrachtende Erkennen der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks

340

§ 29. Der Unterschied zwischen dem ästhetischen Erkennen des literarischen Kunstwerks und dem betrachtenden Erkennen seiner ästhetischen Konkretisation

373

V. Ausblick auf einige Probleme der kritischen Betrachtung der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks

376

§ 30. Einleitende Bemerkungen

376

§ 31. Erkenntniskritische Probleme des vorästhetischen betrachtenden Erkennens des literarischen Kunstwerks

377

§ 32. Einige Probleme der Erkenntniskritik des ästhetischen Erlebnisses

416

§ 33. Einige erkenntniskritische Probleme der Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks

450

Inhaltsverzeichnis

VII

Nachwort

478

Editorische Notiz

481

Textkritischer Anhang

484

Analytisches Inhaltsverzeichnis

491

Personenregister

507

Vorwort der Herausgeber 0. Präliminarien Unsere Entscheidung, Ingardens erkenntnistheoretische Untersuchung Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (1., polnische Ausgabe 1937; 2., bedeutend umgearbeitete deutsche Ausgabe 1968) im Rahmen dieser Gesamtausgabe vor dem für sie grundlegenden Buch Das literarische Kunstwerk (1. Ausgabe 1931; die nachfolgenden Ausgaben erbrachten vergleichsweise wenige Veränderungen) herauszubringen, erheischt ein Wort der Erklärung. Das literarische Kunstwerk ist noch lieferbar; es zeigt sich gerade in der Rückschau als jugendfrischer Klassiker einer kunsttheoretischen Moderne, und es ist so formuliert und aufgebaut, daß auch philosophischen Laien der Zugang zum Verständnis der darin ausgeführten ontologischen Theorie des literarischen Kunstwerks nicht über Gebühr erschwert ist. Im Gegensatz dazu ist Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks in seiner deutschen Fassung ein hochkomplexes Spät- und Alterswerk, voll kühner, auch kontroverser und für sein Erscheinungsjahr 1968 ganz unzeitgemäßer Gedanken. Es machte, so fanden wir, eine besondere editorische Mühewaltung erforderlich, damit es jetzt, in den späten 1990er Jahren, neu in die Diskussion der Philosophen und Literaturwissenschaftler einzutreten vermag. In erster Linie haben wir ein sehr ausführliches analytisches Inhaltsverzeichnis, ein davon abgeleitetes System von Kolumnentiteln sowie ein Personenverzeichnis erstellt und damit das Buch überhaupt erst benützbar gemacht. Über weitere Einzelheiten berichten wir in der Editorischen Notiz. Hier wollen wir in einigen wenigen Stichworten andeuten, was für Philosophen und Literaturwissenschaftler an diesem Buch interessant sein kann, das sowohl eine philosophische Studie aus eigenem Recht, als auch, wörtlich und explizit (Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, § 1; §§ 27-33), eine erkenntnistheoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft sein will. Im inneren Zirkel der phänomenologischen Bewegung genießt Ingarden als Schüler und Fortsetzer Edmund Husserls, insbesondere aber auch als Opponent von dessen transzendentalem Idealismus, beträchtliches Ansehen. Außerhalb dieses Zirkels, in den akademischen Kulturen des englischen, deutschen und polnischen Sprachraums, kennt man ihn vor allem als Ästhe-

χ

Vorwort der Herausgeber

tiker; speziell in der Literaturwissenschaft hat seine Theorie vom literarischen Kunstwerk und dessen Konkretisationen Spuren hinterlassen. Nicht immer ist dabei den Philosophen hinreichend gegenwärtig, daß zwischen Ingardens ontologischer und epistemologischer Theorie des literarischen Kunstwerks, repräsentiert in den beiden Hauptwerken Das Kunstwerk

und Vom Erkennen

des literarischen

Kunstwerks,

literarische und den

allgemeinen Revieren seines Denkens, repräsentiert vor allem in seinem monumentalen Streit um die Existenz der Welt, ein wesentlicher Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang wird für den Fachphilosophen, aber auch für den philosophisch aufgeschlossenen Literaturwissenschaftler interessant sein und soll hier zuerst kurz charakterisiert werden; anschließend werden wir uns einigen Fragen speziell literaturwissenschaftlichen Interesses zuwenden. 1.

D a s philosophische Interesse Ingardenscher Literaturbetrachtung

1.1. Seinsweise des intentionalen Gegenstandes Ingardens ästhetische Studien sind grundsätzlich im Kontext der Kontroverse zwischen Realisten und Idealisten um die Existenz von "Welt" in bezug auf "Bewußtsein" anzusiedeln. Eine gründliche Analyse der Seinsweise des literarischen Kunstwerks diente Ingarden bereits in seinem Buch Das

literarische

Kunstwerk als Argument gegen Husserls Auffassung, wonach jedem Seienden die rein intentionale Seinsweise zukomme. Diese Auffassung bekämpft Ingarden, indem er zwischen intentionalen und rein intentionalen Gegenständlichkeiten einerseits, sowie realen und idealen Gegenständen andererseits unterscheidet. Das heißt, neben realer Seinsweise und idealer Seinsweise zeigt er nunmehr eine dritte Seinsweise auf, nämlich die der intentionalen Gegenständlichkeiten in einem neuen Sinn. Intentionale Gegenständlichkeiten haben ihr ontisches Fundament in realen Gegenständen (z.B. die Steine einer Kirche; die Luft, die den ausgesprochenen Wortlaut trägt) sowie in schöpferischen oder nachschöpferischen bedeutungsverleihenden Bewußtseinsakten von Subjekten oder Gemeinschaften von Subjekten (die geplante spezielle Architektur der Kirche sowie die Kirchenweihe; die bedeutungsverleihenden Akte der Sprecher einer Sprache), sie sind aber den subjektiven Bewußtseinsakten gegenüber transzendent.

Vorwort der Herausgeber

XI

1.2. Das literarische Kunstwerk und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks als Theorie der Textbedeutung Fundamentales Alltagsbeispiel eines intentionalen Gegenstandes ist der sprachliche Text und seine Gesamtbedeutung, die gesprochene oder geschriebene sprachliche Äußerung, das "literarische Werk" in Ingardens Terminologie. Es wird oft vergessen, daß Ingarden seine Theorie des literarischen Kunstwerks auf einer Theorie des "literarischen Werks" in diesem allgemeinen Sinne aufbaut. Das literarische Kunstwerk und auch Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks sind in weiten Partien als hochelaborierte Forschungen zu den allgemeinen sprachlichen Bedeutungseinheiten und den Weisen ihres Erfaßtwerdens zu lesen, in einer heute üblichen Ausdrucksweise: sie sind auch allgemeine Theorie der Konstitution und der Erfassung des Textes und gehen bis in die Einzelheiten der Wortarten, Satztypen und Arten der Verbindungen zwischen den Sätzen im Text. Ingardens Position ist hier übrigens eine explizite Antwort auf die landläufigen reduktionistischen Bedeutungstheorien der 30er Jahre, d. h. alle Arten von Naturalismus (Psychologismus, Physikalismus), welche die sinnhafte Bedeutungserfahrung wegerklären wollen. 1.3. Das literarische Kunstwerk als rein intentionaler Gegenstand; Zusammenhang von Ontologie und Epistemologie Das literarische Kunstwerk ist nun im Vergleich zum "normalen Text" ein noch "reineres" Beispiel für einen intentionalen Gegenstand, weil in seiner Textbedeutung der Verweis auf die reale Wirklichkeit gelöscht ist, und es selbst und die in ihm entworfene fiktionale Welt dennoch auf eine intersubjektiv zugängliche Weise existiert. Darum wird eben dieses Beispiel eines intentionalen Gegenstandes in seiner besonderen Seinsweise zum zentralen Thema einer "Untersuchung auf dem Grenzgebiet der Ontologie, Logik und Literaturwissenschaft", als welche die Erstausgabe von Das literarische Kunstwerk figuriert. Die dort entwickelte ontologische Argumentation wird aus der Sicht der Erkenntnistheorie und der Analyse des ästhetischen

XII

Vorwort der Herausgeber

Erlebnisses in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks ganz erheblich erweitert, vertieft und verfeinert Danuta Gierulanka stellt mit Nachdruck fest, daß Ingardens in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks vorgelegte Analyse der Bewußtseinsoperationen, in denen das literarische Kunstwerk erfaßt und zum ästhetischen Gegenstand konkretisiert wird, sowohl für die Ästhetik als auch die Erkenntnistheorie und -kritik einen hohen Neuigkeits- und Originalitätswert beanspruchen kann. Ingardens Methode ist die des deskriptiven Phänomenologen, dem an der Enthüllung der Wesensstrukturen der untersuchten Phänomene gelegen ist, im Gegensatz zu Husserls "transzendentaler" Konstitutionsanalyse, die dieser in seiner noetisch-noematischen Theorie der Sinnkonstitution entwickelt hatte. Zunächst geht es Ingarden vornehmlich um die wesenseigene Grundstruktur des literarischen Kunstwerks selbst - das ist die hauptsächliche Fragestellung in Das literarische Kunstwerk, die in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks nunmehr in erkenntnistheoretischer und erkenntniskritischer Perspektive noch einmal aufgerollt wird. Die erweiterte Perspektive

in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks stellt einen

geordneten Zusammenhang her zwischen den Wesensstrukturen einer ganzen Textur von Erfassensakten verschiedener Art und darin zur Erscheinung kommenden Erkenntnisgegenständen. Dieser Zusammenhang kann hier nur

Es sei an dieser Stelle wenigstens darauf hingewiesen, daß sich im Lauf der Zeit Ingardens kunsttheoretische und ästhetische Interessen in gewisser Weise auch verselbständigt haben. Das literarische Kunstwerk war für ihn eine Abwandlung des allgemeineren Begriffs vom Kunstwerk, das literarische ästhetische Erlebnis ein Spezialfall des allgemeinen ästhetischen Erlebnisses. Er hat Studien zur Wesensstruktur des Gemäldes, des architektonischen Kunstwerks, des musikalischen Kunstwerks und des Films vorgelegt. Ein wesentlicher Antrieb für seine anhaltende Beschäftigung mit ästhetischen Fragen war mit Sicherheit auch sein Interesse an der Wettproblematik. Vgl. Danuta Gierulanka, "Przedmowa thimacza", in: Roman Ingarden, O poznawaniu

dzieta

literackiego. Ζ jçzyka niemieckiego przetozyta..., Warszawa PWN 1976, S. 6. In Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks wird die systematische Ausarbeitung einer Reihe von Problemen vorgenommen, die sehr deutlich bereits in Das literarische Kunstwerk 1931 vorformuliert worden waren. Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks ist, besonders in seiner polnischen Urfassung von 1937, gewissermaßen die organische Fortsetzung von Das literarische Kunstwerk. Was oben über die erweiterte Perspektive mit Bezug auf die deutsche Fassung von 1968 gesagt wird, gilt im wesentlichen schon für die polnische Urfassung von 1937.

XIII

Vorwort der Herausgeber

stichwortartig angedeutet werden: Die Erfassensakte, in denen das Subjekt in ästhetischer Einstellung das literarische Kunstwerk perzipiert, müssen zuerst der Wesensstruktur des literarischen Kunstwerks angepaßt werden. Das durch die ästhetische Ursprungsemotion in eine entsprechende Einstellung versetzte Subjekt bringt in diesen Erfassensakten nachschöpferisch und mitschöpferisch den ästhetischen Gegenstand hervor, der sich in vielem von der Struktur des "schematischen" literarischen Kunstwerks unterscheidet. An diesem ästhetischen Gegenstand enthüllt sich in neuen Erfassensakten ein Zusammenklang ästhetischer Wertqualitäten, der über seine eigene Wesensstruktur verfügt. Eben diese wechselseitigen Bedingtheiten und schwierigen Übergänge zwischen Ontologie und Epistemologie sind das zentrale philosophische Anliegen von Vom Erkennen des literarischen

Kunstwerks.

Die Pointe dieses Spätwerks5 eines "realistischen"6 Phänomenologen ist die

Sowohl in Das literarische Kunstwerk als auch in Vom Erkennen des literarischen

Kunstwerks

macht Ingarden reichen Gebrauch von dem Terminus "Qualität" und "qualitativ". Aber weder hier noch in seiner ersten profunden ontologischen Arbeit Essentiale Fragen (1925) oder im Streit um die Existenz der Welt (1947/8) findet man eine Definition von "Qualität". Dennoch nimmt der Begriff eine zentrale Stelle in seinem Philosophieren und insbesondere in seinen Arbeiten zur Ästhetik ein. Es läßt sich so viel sagen, daß Ingardens Begriff der Qualität ausschlaggebend dafür ist, obeine bestimmte Form der Erkenntnis ihrem Gegenstand adäquat und angepaßt ist. Husserls "Prinzip aller Prinzipien" lautete: Respektiere das Gegebene, und wie es gegeben ist. Das bedeutet: Achte auf die qualitativen Unterschiede in der Erfahrung (von etwas). Wir sehen sofort, daß diese Qualität, so "gegenständlich" sie erscheinen mag, sich wesentlich auch auf die Erfahrung selbst bezieht: der Prüfstein jeder qualitativen Unterscheidung ist es, die Erfahrung der Qualität zu haben. Das heißt noch nicht, daß Erfahrung selbst eine Qualität hat (was sicher zutrifft), sondern daß das Subjekt die intuitive, d.h. erfüllte Präsenz einer qualitativen Eigentümlichkeit hat, die anschließend das Verstehen und Urteilen anleitet. Mittels erkenntnismäßiger Operationen anderer Art identifizieren wir die Natur der Qualität in bezug auf die kategoriale Form des Gegenstandes, dem sie zukommt, aber auch schon der polnischen Urfassung von 1937. Das Grundprinzip sowohl von Das literarische Kunstwerk als auch von Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks ist, daß die Ontologie als Rahmen dient, der die Erforschung der entsprechenden Erkenntnisstruktur sowohl ermöglicht als auch begrenzt. Eben dieses Grundprinzips wegen gilt Ingardens Phänomenologie als "realistisch". Tatsächlich ist es ein gänzlich aristotelisches Prinzip. In diesem Fall ist die Erkenntnis des literarischen Kunstwerks die Erkenntnis eines Gegenstandes (des literarischen ästhetischen Gegenstandes), dessen Existenz in vielem wesentlich von (Aspekten) dieser Erkenntnis selbst abhängt. Bereits die Ontologie des literarischen Kunstwerks selbst hatte ergeben, daß unterdessen "ontischen Fundamenten"

XIV

Vorwort der Herausgeber

folgende: Ontologie hebt sich nicht in der Epistemologie auf, sondern umgekehrt tritt die Ontologie auf dem Kerngebiet der Epistemologie beständig in Erscheinung. In seiner Wesensstruktur und vor allem in seiner Ausstattung mit künstlerischen Werten und ästhetisch relevanten Wertqualitäten bleibt das individuelle literarische Kunstwerk allen Erfassensakten gegenüber transparent und enthüllt sich vom Standpunkt der von ihm gebildeten ästhetischen Objekte aus wenigstens in Einzelheiten immer anders. Der literarisch ästhetische Gegenstand, den der Leser aufgrund des "schematischen" literarischen Kunstwerks konkretisiert, ist zwar mit den subjektiven Erfassungsakten und -emotionen auf das engste verwoben, löst sich aber in dem Moment von diesen ab, da er fertig konstituiert ist und nunmehr als ganzer, aus der unmittelbaren Erinnerung und Rückschau, zum Objekt weiterer Erfassung und Kontemplation wird. 2. Vom Erkennen aus literaturwissenschaftlicher Sicht 2.1. Vom Erkennen als eine Theorie des rechtmäßigen Entzückens am literarischen ästhetischen Gegenstand Für die Literaturwissenschaftler ist Ingarden schon immer ein unzeitgemäßer Denker und Theoretiker gewesen. Im stocknüchternen und umständlichen Geheimratsstil, der Indogermanistik- oder Medizinprofessoren des alten Deutschlands und des alten Kakaniens eigen war, entwickelt er in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks Schritt für Schritt, gedankliche Um-

die Erfassensakte des Lesers eine besonders wichtige Rolle für sein fortdauerndes "Leben" spielen. Als Gegenstand der Erkenntnis weist das literarische Kunstwerk mit seiner Seinsweise und seinen strukturellen Besonderheiten eine wesenhafte Gemeinsamkeit mit der ihr angepaßten Erkenntnis auf (vgl. Ingardens Zusammenfassung der Ergebnisse seiner Erforschung der intentionalen Struktur des literarischen Kunstwerks in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, § 4). Es ist die Grundeigenschaft dieser intentionalen Komponenten, daß sie in angemessenen Bewußtseinsoperationen "aktualisiert" und "konkretisiert" werden müssen, um überhaupt irgendeinen ontischen Status in dem Werk zu erlangen, zu dessen Konstitution sie beitragen. In mancherlei wichtigen Hinsichten sind die verschiedenen Ingardenschen "Abwandlungen" der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks verschiedene Arten und Weisen, in denen die "intentionalen Gebilde" des literarischen Kunstwerks aktualisiert und konkretisiert werden und dadurch zu "Gegenständen" werden.

Vorwort der Herausgeber

XV

wege und Exkursionen nicht scheuend, Konzentrationsfähigkeit und Geduld des Lesers auf harte Proben stellend, eine Theorie des ästhetischen Erlebnisses, die auf weite Strecken zu einer Theorie des rechtmäßigen Entzückens am literarischen ästhetischen Gegenstand wird, wobei Kriterium der Rechtmäßigkeit die Werknähe des vom Leser nach- und mitschöpferisch hervorgebrachten ästhetischen Gegenstandes ist. In eben diesem Stil läßt er sich über fünf Seiten darüber aus, daß man zum Reden über diese Dinge eigentlich eine neue, "irrationale" Sprache erfinden müßte. Ohne die Miene zu verziehen, vergleicht er den Verlauf des ästhetischen Erlebnisses von der ästhetischen Ursprungsemotion an mit dem Verliebtsein und dem entsprechenden Hunger und Begehren; folgerichtig "verkehrt" bei ihm auch der Leser fortwährend mit den ästhetischen Wertqualitäten. Er tut dies zeitenthoben, das praktische Leben um ihn herum vergessend. Ingardens entzückter Leser bringt die Wörter und Sätze des literarischen Kunstwerks durch sein aktives, von Sprachkomplikationen möglichst unbeirrtes Vorwärtslesen zum Fließen. Sprachlautliche Gestaltung, Wortwahl und syntaktische Eigentümlichkeiten des Texts dringen insoweit in sein Bewußtsein, als sie ihm zum vorstellungsmäßigen "Erschauen" der dargestellten gegenständlichen Welt, insbesondere aber auch zum "Erschauen" der ästhetischen Wertqualitäten des konkretisierten Werks und ihrer spezifischen Konfiguration verhelfen. Wir kommen damit an den Kern von Ingardens Theorie des mitschöpferischen ästhetischen Erlebnisses: es wird darin etwas "realisiert", was zuvor nicht in der Welt war, auch im literarischen Kunstwerk selbst nur als Bedingung seiner Möglichkeit angelegt ist, nämlich dieser spezifische Zusammenklang ästhetischer Wertqualitäten, der "erschaut" wird und eine Wertantwort auslöst, in der ein Moment der "Seinsanerkennung" enthalten ist: dieser Zusammenklang ist möglich, es gibt ihn aus wesensmäßiger Notwendigkeit, er entzückt mich. 2.2. Kurz zur Frage der Werte Vom Erkennen des literarischen

Kunstwerks enthält wesentliche Elemente

einer Theorie der künstlerischen und der ästhetischen Wertqualitäten und Werte. Künstlerische Wertmomente kommen dem literarischen Kunstwerk als einem schematischen Gebilde zu; sie sind funktionale, instrumentale und relative Wertmomente in dem Maße, als sie es dem Leser dieses individuellen literarischen Kunstwerks gestatten, zusammen mit dem ästhetischen Gegen-

XVI

Vorwort der Herausgeber

stand auch die entsprechenden ästhetischen Wertmomente zu konstituieren. Die ästhetischen Wertmomente sind dabei absolut, sie haben ihr Ziel in sich selbst. Mitunter sind nun künstlerische Wertmomente erst dadurch zu erkennen, daß bei der Konkretisation sich bestimmte ästhetische Wertmomente einstellen, die ihre Grundlage im schematischen Gebilde des literarischen Kunstwerks haben müssen. Besonderen Wert legt Ingarden auf die Frage des Zusammenspiels der Wertqualitäten, die sich bei der ästhetischen Konkretisation in hierarchischen Gliederungen unterschiedlicher Art zu Synthesen verschiedenen Typs vereinigen. Philosophen in der "analytischen" Tradition, die an der Frage "Was ist Kunst?" bis zur Erschöpfung herumlaboriert haben, haben sich bei ihren definitorischen Bemühungen wenig Zeit für die ästhetischen Faktoren, insbesondere für die ästhetische Einstellung gelassen. Überdies interessiert man sich in dieser Tradition erst seit kurzem für ästhetische und moralische Werte, und zwar in einer sogenannt "realistischen" Perspektive. So kommt es, daß zwar Ingardens Ontologie des Kunstwerks unter angelsächsischen Denkern hie und da durchaus Zuspruch fand, daß aber die Werttheorie, die Ingarden darauf errichtete, weitgehend terra incognita geblieben ist. Ingardens Interesse an künstlerischen und ästhetischen Wertfragen wurde im Verlauf seiner kunstphilosophischen Forschungen immer deutlicher. In mancherlei Schriften untersuchte er die Frage der "Systeme" von künstlerischen und ästhetischen Wertqualitäten; er baute hier seine Einsicht aus, daß sowohl in der Kunst selbst, als auch in der Kunstwissenschaft die erkenntnismäßige und die ästhetische Dimension einander ergänzen. Einer der wichtigsten Gründe dafür, daß Ingarden 30 Jahre nach der polnischen Erstveröffentlichung sein Buch Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks so tiefgreifend überarbeitete, liegt sicherlich in seinem inzwischen sehr verstärkten Interesse an allgemeinen und spezifischen Fragen der Werttheorie. Allerdings hat er weder in Das literarische Kunstwerk noch in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks die Analyse des Wesens und der Seinsweise der Werte zu einem Ende geführt. Er kam nämlich zu der Einsicht, daß die Frage des Wertes eines der schwierigsten, ja geradezu unlösbaren philosophischen Probleme darstellt. Ihn befriedigte nie, was er über die Frage wußte, "was" Werte sind, ihn beunruhigte anhaltend, "was wir über Werte nicht wissen", und daher ist seine Theorie des literarischen Kunstwerks auch nicht "abgeschlos-

Vorwort der Herausgeber

XVII

sen". Auch wenn sie aus schöpferischen Bewußtseinsakten hervorgehen, weisen Kunstwerke Qualitäten auf, die nach Ingardens Auffassung keineswegs vom Menschen abhängen, und diese Qualitäten wohnen Werten inne. In Das literarische

Kunstwerk

hatte Ingarden den Begriff der "metaphysischen

Wertqualität" eingeführt: das literarische Kunstwerk enthüllt an der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten transzendentale Züge des Seins. Wir wissen nicht, ob und inwieweit Ingarden Heideggers Auffassung kannte, wonach Kunstwerke, vor allem Dichtung, bevorzugte Formen sind, in denen das Sein sich selbst enthüllt. Dagegen spielten sowohl Max Scheler als auch Dietrich von Hildebrand nachweislich eine Rolle in seinem Denken. Eines der Beispiele für Ingardens "metaphysische Qualitäten" ist "das Tragische". Nicht von ungefähr übersetzte er Schelers "Über das Tragische" ins Polnische. Von Hildebrand übernimmt er den Begriff der "Antwort auf... " bzw. der "Einsicht in... " Werte und zitiert ihn mehrfach, zuletzt in seinem späten Werk über die Verantwortung. Dort wird nun deutlich, daß Werte das "ontische Fundament" moralischer Handlungen sind, und angesichts der Wirkung dieser Handlungen sind die Werte klar in die Realität verwoben. Ingardens Interesse an der Wertfrage bringt noch eine weitere "klassische" Seite seiner Ästhetik zutage. Dem literarischen Kunstwerk kommt darin eine einzigartige Funktion zu: dem entsprechend begabten und empfänglichen Leser die MitKonstitution und direkte "Erschauung" von Werten zu vermitteln, die sein Leben bereichern. 2.3. Anschaulichkeit, Ansichten und Unbestimmtheitsstellen An vielen Stellen seines Buches spricht der Verfasser von einer "Anschaulichkeit" der ästhetischen Wertqualitäten am konkretisierten literarischen Kunstwerk. Sie wird durch das Vorhandensein besonderer Charaktere der Prägnanz, Anschaulichkeit, Sinnfälligkeit an vielen Momenten und Seiten des literarischen Kunstwerks und seiner ästhetischen Konkretisation gefördert und bewirkt. Dies ist auch der eigentliche Sinn des Vorhandenseins der "Schicht der schematisierten Ansichten" im literarischen Kunstwerk, derjenigen Schicht, deren Momente in der ästhetischen Konkretisation des Werks die vorstellungsmäßige Sinnfälligkeit und Anschaulichkeit der dargestellten Welt einschließlich des Raumes ("Raumansichten") und der Zeit ("Zeitansichten") bewirken. Es mag sein, daß in den Ingardenschen "Ansichten" die von moder-

XVIII

Vorwort der

Herausgeber

nen Literaturtheoretikern so perhorreszierte Illusionsästhetik Nahrung findet, und in den mündlichen und schriftlichen Kritiken an Das literarische

Kunst-

werk hat gerade diese Schicht den meisten Widerstand der Literaturwissenschaftler ausgelöst. Aber die Sache bekommt ein anderes Gesicht, wenn deutlich wird, daß die spezifische Anschaulichkeit der dargestellten Welt dazu da ist, eben die "Anschaulichkeit" der ästhetischen Wertqualitäten zu fördern. Bei so ganz unterschiedlichen Autoren der Moderne wie James Joyce, Franz Kafka, Alfred Döblin, Vladimir Nabokov oder Bruno Schulz besteht sicherlich ein je spezifischer Zusammenhang zwischen der ausgeprägten vorstellungsmäßigen Anschaulichkeit ihrer dargestellten Welten und der "Anschau7

lichkeit" ihrer ästhetischen Wertqualitäten. Es scheint freilich, daß Ingarden sich die vielfältige Kritik an seinen "schematisierten Ansichten" zu Herzen genommen hat. In Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks sind sie immer noch sehr wichtig, treten aber nicht mehr dermaßen unter allen anderen Schichten in den Vordergrund, wie dies in g

Das literarische Kunstwerk

der Fall war. Statt dessen entdeckt er nun die

ästhetisch relevanten Eigenschaften der Unbestimmtheitsstellen, die in Das literarische Kunstwerk vor allem als Begleiterscheinung des schematischen Wesens der dargestellten Gegenständlichkeiten behandelt worden waren, und die nun in Vom Erkennen des literarischen

Kunstwerks

zum immer neu

besprochenen Thema werden. Die wohlüberlegte Auswahl und der künstlerisch geplante und verständliche Einsatz der Unbestimmtheitsstellen prägt

Von den genannten fünf Autoren nennt Ingarden selbst Bruno Schulz (in der polnischen Urfassung von Vom Erkennen des literarischen

Kunstwerks)

und James Joyce. Zur Frage der

hier gemeinten Anschaulichkeit sei auf Joyce's neuerdings häufiger diskutierte Theorie der "Epiphanie" verwiesen. Daß in der Literatur vieler Epochen, darunter auch der Moderne, die Fälle häufig sind, wo sich eine klare und widerspruchsfreie vorstellungsmäßige Anschauung eines bestimmten dargestellten Gegenstandes bzw. Sach- oder Geschehensverhalts nicht erzielen läßt, ist offensichtlich (vgl. hierzu schlagende Beispiele aus Kleists Bettelweib Locarno in Hans Zeller, Kleist interpretieren

? Abschiedsvorlesung,

von

Freiburg/Schweiz 1994

(Freiburger Universitätsreden, NF Nr. 50)) und auch Ingarden durchaus gegenwärtig, spricht aber allein nicht schon gegen die These von der Anschaulichkeit. Es gibt laut Ingarden auch ein "anschauliches Schillern" der widersprüchlichen Ansichten und Sachverhalte, in denen ein Gegenstand dargestellt wird - vgl. dazu Ingardens Analyse eines Rilke-Texts in § 13 von Vom Erkennen des literarischen

Kunstwerks.

und auch noch in Szkice zfilozofii

literatury, L o d z 1947

Vorwort der

XIX

Herausgeber

der dargestellten Welt des individuellen literarischen Kunstwerks ganz spezifische ästhetische Charaktere auf. Sie dürfen bei einer feinfühligen und taktvollen ästhetischen Konkretisation des Werks nicht unterschiedslos beseitigt und "ausgefüllt" werden, sondern haben als Unbestimmtheitsstellen Anteil an der anschaulichen Konstituierung der ästhetischen Wertqualitäten. Ingarden interessiert sich in Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks für die ästhetisch relevante Funktion der Unbestimmtheitsstellen deshalb in so hohem Maße, weil sich daraus, wie er hofft, im Fall des konkreten individuellen Werks normative Eingrenzungen für die Art und Weise einer "stilnahen" ästhetischen Konkretisierung ableiten lassen. Zweifellos will er sie dort nicht unter dem Aspekt sehen, daß sie der Aktivität des Lesers und der Entfaltung 9 "

seiner Phantasie einen noch weiteren Spielraum verschaffen. Überhaupt ist er der Meinung, er habe in Das literarische Kunstwerk die Vielfalt der von einem literarischen Kunstwerk zugelassenen ästhetischen Konkretisationen überschätzt. (Vom Erkennen des literarischen

Kunstwerks, Kap. IV, Anm.

103). Angemerkt sei noch: so, wie die Theorie des literarischen Kunstwerks für den Ästhetiker Ingarden in selbstverständlichem Zusammenhang mit einer allgemeinen Theorie des Kunstwerks

steht, so hat auch seine Theorie des

ästhetischen Erlebnisses einen allgemeinen und einen spezifisch literarischen Aspekt. Zum letzteren führt er unter "Besonderheiten der literarischen ästhetischen Erlebnisse" folgendes aus: Im Unterschied zur bildenden Kunst sind die Ansichten nicht unmittelbar gegeben, sondern müssen aktualisiert werden; ähnlich wie in der Musik und in der Architektur ist das literarische ästhetische Erlebnis mehrphasig; der Anteil des intellektuellen Verstehens besonders der Sätze am Erlebnis ist hoch; andererseits sind auch an Satzstrukturen Wolfgang Iser hat in seiner Studie Die Appellstruktur Wirkungsbedingung nikationsformen

literarischer

der Texte.

Unbestimmtheit

Prosa, Konstanz 1970 u.ö., in Der implizite Leser:

als

Kommu-

des Romans von Bunyan bis Beckett, München 1972 (utb 163) sowie in Der

Akt des Lesens. Theorie ästhetischer

Wirkung, München 1976 durchaus richtig gesehen, daß

Ingarden die Unbestimmtheitsstellen nicht als Zuwachs an Freiheit für den Leser und auch nicht als künstlerisches Mittel der Zerstörung von Harmonie versteht; dagegen unterschätzt Iser die ganz erhebliche künstlerische Bedeutung und ästhetische Relevanz, die Ingarden den Unbestimmtheitsstellen im Rahmen

seines -

vielleicht

zuerkennt. '"

Vgl. Ingardens Untersuchungen

zur Ontologie der Kunst.

"klassizistischen" -

Modells

XX

Vorwort der Herausgeber

und Satzzusammenhängen ästhetisch relevante Qualitäten vorhanden; die ästhetisch relevanten Qualitäten des literarischen Kunstwerks zeichnen sich durch besondere Reichhaltigkeit und besondere Heterogenität aus. 2.4. Ingardens Theorie des ästhetischen Erlebnisses und ihre Angriffsflächen Ingardens Theorie des literarisch ästhetischen Erlebnisses, das verschiedene irrationale, emotionale und intellektuelle Erfassensakte ausdrücklich einschließt, enthält vieles, was in diesem kurzen Vorwort gar nicht angesprochen werden kann - darunter die Frage der Phasen, in denen es typischerweise abläuft, die Rolle, die die Erinnerung dabei spielt, und überhaupt die Frage seines Verhältnisses zur Zeitlichkeit, ferner das Problem der Mitkonstituierung der ästhetischen Wertqualitäten und ihrer Synthetisierung. Einen ersten Überblick über die Fülle der von Ingarden in diesem Zusammenhang behandelten Fragen vermittelt unser analytisches Inhaltsverzeichnis. In der obigen kurzen Darstellung wurden insbesondere die Aspekte ausgewählt, an denen eine ernste Fremdheit dieser Theorie gegenüber weiten Bereichen moderner allgemeiner und literarischer Kunst und den von ihr implizierten Erlebnisweisen besonders gut ersichtlich wird. Auch zur Charakterisierung dieser Fremdheit müssen sehr wenige Stichworte genügen. Es ist zweifellos nicht Absicht aller bedeutenden modernen Kunst, die entzückte Erschauung zu einer harmonischen Gestalt sich fügender ästhetischer Wertqualitäten zu stiften. Die moderne Unfähigkeit zum ästhetischen Entzücken war Gegenstand bereits des Vorkriegsromans Ferdydurke (1937) von Witold Gombrowicz gewesen. Vollends schufen Nachkriegslyriker wie Gottfried Benn (den Ingarden mehrmals zitiert), Paul Celan und Tadeusz Rózewicz Texte, die die ästhetische Ursprungsemotion durchkreuzen, sich gegen das fließende Voranlesen durch sprachliche und motivische "Querschläger" sperren, Anschaulichkeit verweigern und am Schluß über den geborstenen Teilen des literarisch ästhetischen Gegenstandes allenfalls ein fahles und trübes Licht leuchten lassen. Aber die Destruktionen, die die moderne literarische Kunst vornimmt, und insbesondere ihre Verweigerung von Entzückung, werden heute möglicherweise gar nicht mehr recht wahrgenommen und mit besonderer Schärfe erst wieder erkennbar, wenn man eine Theorie wie die Ingardens heranzieht. Liest man Das literarische Kunstwerk und Vom Erkennen des litera-

Vorwort der

XXI

Herausgeber

rischen Kunstwerks nur ein wenig gegen den Strich, so stößt man durchaus auf Passagen, in welchen Ingarden die mögliche Disharmonie als ästhetisch legitim zuläßt; z.B. sieht er vor, daß ein literarisches Kunstwerk bei seiner ästhetischen Konkretisation mehr als nur ein einziges "Kristallisationszentrum" seiner ästhetisch wertvollen Qualitäten aufweisen und die resultierende Gesamtqualität eines Werkes sich auch in einer Disharmonie ausprägen kann. In solchen Fällen schwebt ihm aber offenbar vor, daß die im Konflikt miteinander stehenden Einheiten letztlich dann doch eine neue synthetische Gestalt bilden müssen, damit es nicht zum endgültigen Zerfall des ästhetischen Gegenstandes und seiner Wertqualitäten kommt. Mit eben diesem Ganzheitlichkeitsideal, an dem moderne literarische Kunst fortwährend ihre Zerstörungen vorgenommen hat, istlngardens Theorie als "klassisch" zu bezeichnen. "Klassisch" ist sie ferner auch in ihrer Elaboriertheit und ihrer sorgfältigen Durchdachtheit, von der man sich einen ersten Begriff anhand unseres analytischen Inhaltsverzeichnisses machen kann. Auch in dieser Beziehung steht diese "epistemologische" Theorie würdig neben Ingardens "ontologischer" Theorie des literarischen Kunstwerks und hat wie diese nur sehr vereinzelte Konkurrenz-Projekte g e z e i t i g t " . W e r immer eine Theorie des Lesens literarischer Kunstwerke aufstellen will, wird sich nach wie vor gründlich mit Ingardens Theorie des ästhetischen Erlebnisses auseinandersetzen müssen. 2.5. Das ästhetische Erlebnis als Voraussetzung des literaturwissenschaftlichen Erkennens Ingarden weist der Literaturwissenschaft das ästhetische Erlebnis als eines der wichtigsten empirischen Fundamente ihrer spezifischen wissenschaftli-

' '

Inwieweit die Konkretisations-Diskussion der tschechischen und slowakischen Strukturalisten trotz ihrer terminologischen Anleihe bei Ingardens Konkretisationsbegriff als vergleichbares Unternehmen gewertet werden können, erscheint heute offen; vgl. zu dieser Diskussion Herta Schmid, "Zum Begriff der ästhetischen Konkretisation im tschechischen Strukturalismus", in: Sprache im technischen

Zeitalter, 36, 1970; J. Striedter, "Zu Felix Vodickas

Theorie der «Konkretisation» als Teil einer strukturalistischen Literaturgeschichte", in ders., "Einleitung" zu Felix Vodicka, Die Struktur der literarischen

Entwicklung,

München 1976.

Dagegen ist Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens, op. cit., zweifellos ein solches Unternehmen. Verwiesen sei hier auch auf die originelle Aufsatzsammlung von M. Gtowinski Style Szkice okomunikacji

odbioru.

literackiej. Krakow 1977, in der u.a. Ingardens Ideeeiner Unterscheidung

von Epochenstilen der Konkretisierung eines und desselben Werks ausgebaut wird.

XXII

Vorwort der Herausgeber

chen Erkenntnisweise zu. Jede wissenschaftliche Erforschung des literarischen Kunstwerks hat zur Voraussetzung, daß es zuvor Gegenstand eines authentischen ästhetischen Erlebnisses gewesen ist. Was Ingarden das "vorästhetische forschende Betrachten des literarischen Kunstwerks" nennt, wäre daher vielleicht besser "nach-ästhetisch" genannt worden. Vom ästhetischen Erlebnis angeregte Erleuchtungsakte über Ganzheit und Struktur des ästhetischen Gegenstandes schaffen ein intuitives Wissen, das auch für das forschende Erkennen gültig bleibt. Aber diese intuitiven und irrationalen Elemente werden bei Ingarden durchaus gezähmt. In den §§ 27-32, welche die knappe Hälfte des ganzen Buches einnehmen, werden sie in ein sehr rationales, äußerst kontrolliertes und dabei stets auch erkenntniskritisch denkendes Prozedere der forschenden Literaturwissenschaft eingebettet. Dieses Prozedere, eben das "vor-ästhetisch forschende Betrachten", unterscheidet sich auf sehr charakteristische Weise vom ästhetischen Erleben. In penibler Kleinarbeit schreitet es von der analytisch-funktionellen Erfassung der Einzelheiten der vier Schichten und zwei Dimensionen des literarischen Kunstwerks - j e w e i l s in Konfrontation zwischen "Schema" und "ästhetischer Konkretisation" - zur wissenschaftlichen Synthese voran. Das "Klima" dieses wissenschaftlichen Erkenntnisprozedere erinnert ungeachtet seiner irrationalen Elemente insgesamt an die Kühle des Positivismus, manchmal auch an das Forschungslabor. Überhaupt will das gesamte Buch als erkenntnistheoretische Grundlegung einer verantwortungsvollen und gültige Ergebnisse anstrebenden Literaturwissenschaft betrachtet werden. Der Philosoph kommt dabei aus seiner Sicht dieser Wissenschaft und ihren Bedürfnissen, wie er sie sieht, weit entgegen. Es wird in einem aus Das literarische Kunstwerk völlig unbekannten Ausmaß mit konkreten Textbeispielen meist aus der deutschen, aber auch aus der polnischen und angelsächsischen Literatur gearbeitet. Der Verfasser scheut sich nicht, Thomas Manns Buddenbrooks

auf das statistische

Vorkommen bestimmter Wortarten in seinen einzelnen Kapiteln zu untersuchen. Ingarden geht auf klassische Fragestellungen der Literaturwissenschaft ein, also auf Fragen des Epochen- und Individualstils, auf die Frage der Unterscheidungsmerkmale literarischer Gattungen in bezug auf den Einsatz von Unbestimmtheitsstellen und in bezug auf die charakteristische Zeitbehand-

Vorwort der

XXIII

Herausgeber

lung (vgl. den langen Abschnitt über die Lyrik). Dagegen unterläßt er jeden 12 Exkurs in Fragen der Literaturgeschichte und der literarischen Evolution, vielmehr konzentriert er sich gänzlich auf die Erforschung des einzelnen literarischen Kunstwerks und seiner ästhetischen Konkretisationen. Er beschreibt den Effekt der Dekomposition ("Destruktion") der ursprünglichen Hierarchie der Elemente des individuellen literarischen Kunstwerks durch das analytisch-funktionelle Vorgehen und durch die gleichwertige "thematische Objektivation" ungleichgewichtiger Elemente. Dieser Effekt, den wir als methodischen Verfremdungseffekt identifizieren können, erscheint ihm notwendig, um eine Kontrolle gegenüber den unvermeidlichen perspektivischen Verkürzungen zu haben, die bei jeder synthetischen Erfassung unvermeidlich sind. Er empfiehlt die Methode experimenteller Veränderungen am Werk bzw. an seiner ästhetischen Konkretisation, um die ästhetische Wirkung einer Einzelheit besser erfassen zu können, er empfiehlt hier auch die Zusammenarbeit mehrerer Forscher. Insbesondere aber will er die Literaturwissenschaft zur Erarbeitung eines begrifflichen und methodischen Rüstzeugs für die begründete Formulierung von Werturteilen anregen. Ingarden hat hier durch die Unterscheidung zwischen künstlerischen und ästhetischen Werten, zwischen einem System von ästhetischen Wertqualitäten einerseits und bestimmten Typen und Strukturen der Synthesen und Zusammenklänge ästhetischer Wertqualitäten andererseits wichtige Anregungen hinterlassen. Der Literaturtheoretiker, der überhaupt zur Wertproblematik vordringt, findet ein großes Stück geleisteter gedanklicher Vorarbeit vor, gleichgültig, welchen ästhetischen Idealen er selbst huldigt, oder ob er überhaupt welchen huldigt. Ingardens Vorstellungen beruhen sicherlich auf künstlerischen und ästhetischen Idealen, die von Adorniten

und

Lukácsianern

noch

vor

15 Jahren

umstandslos

als

"klassizistisch" abgetan worden wären. Heute ist die Nachkriegsmoderne

12

Ingarden hat zwei ausführliche Entwürfe über Themen und Fragestellungen einer in verschiedene Bereiche gegliederten Literaturwissenschaft vorgelegt und darin auch sehr kluge Anregungen zur Arbeit des Literarhistorikers formuliert - vgl. die deutschen Übersetzungen in R. Ingarden, Gegenstund

und Aufgaben

beitrage (1937-1964).

Ausgewählt und eingeleitet von R. Fieguth, Tübingen 1976 (Konzepte

der Literaturwissenschaft.

Aufsätze und

Diskussions-

der Sprach- und Literaturwissenschaft 19). In der deutschen Ausgabe von Vom Erkennen literarischen

Kunstwerks geht er hierauf bewußt nicht mehr ein.

des

XXIV

Vorwort der

Herausgeber

schon länger vorbei und auch die Postmoderne nicht mehr ganz neu. Jenseits der schnell ermüdenden Moden angesiedelt, kann Ingardens Vorstellung vom zeitenthobenen "Erschauen" ästhetischer Wertqualitäten, seine beispielhaft ernsthafte und strenge methodische Grundlegung der Erkenntnisarbeit von Literaturwissenschaft am Ende des Jahrhunderts mit neuem kritischem Interesse rechnen.

Einleitung

§ 1. D a s Gebiet der Betrachtung Die Betrachtung der verschiedenen Weisen, in welchen man das literarische Werk und insbesondere das literarische Kunstwerk kennenlernt und eventuell zu einer effektiven Erkenntnis bringt, fällt in das weite Gebiet der Erkenntnistheorie und bezieht sich auf eine besondere Gruppe von Problemen, deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Ihre Lösung spielt eine wichtige Rolle einerseits für die erkenntnistheoretische Grundlegung der Literaturwissenschaft sowie - auf eine andere Weise - für die Wissenschaftslehre überhaupt, andererseits für die Begründung wenigstens eines Teils der Ästhetik und insbesondere für die Klärung der Frage, ob eine objektive Erfassung der künstlerischen und ästhetischen Werte im Bereich der literarischen Kunst überhaupt möglich ist. In der Epoche zwischen den beiden Weltkriegen entstand in verschiedenen Ländern eine rege Bewegung auf dem Gebiet der Methodologie der Literaturforschung. Bei den konkreten Untersuchungen der einzelnen Werke herrschte zugleich eine große Uneinheitlichkeit in der Auffassung vom literarischen Kunstwerk, und dies führte zu spürbarer Verschiedenheit in den Forschungsrichtungen und der Art, die einzelnen Kunstwerke zu behandeln. Bei den am Anfang des Jahrhunderts immer noch lebendigen Tendenzen des Psychologismus in der Ästhetik (besonders der deutschen) - z.B. Theodor Lipps 1 , Johannes Volkelt 2 - sowie den Nachwirkungen der Psychologie Diltheys und seines Historismus, schweifte die Literaturforschung immer wieder in andere Problemgebiete ab, vor allem in eine geschichtlich gefärbte, individuelle Psychologie der Dichter. Nur langsam wirkten auf dem Gebiet der Literaturforschung der Antipsychologismus Husserls sowie die Versuche einer anderen Orientierung der Ästhetik. Die beginnenden Untersuchungen der Stilanalyse richteten die Aufmerksamkeit der Forscher auf die literarischen Werke selbst und weckten ihren Sinn für besondere künstlerische Probleme sowie

[Vgl. Th. Lipps, Ästhetik.

Psychologie

des Schönen

und der Kunst,

Bd. 1/2, H a m b u r g u n d

Leipzig 1 9 0 3 / 1 9 0 6 ] 2

[Vgl. J. Volkelt, System

der Ästhetik,

2. Aufl., M ü n c h e n 1 9 2 5 - 1 9 2 7 (3 B ä n d e ) . ]

2

Einleitung

das Bewußtsein, daß man den Psychologismus in der allgemeinen Auffassung des literarischen Kunstwerks nicht mehr aufrechterhalten kann; nichtsdestoweniger empfand man im allgemeinen kein Bedürfnis nach einer radikalen Revision der philosophischen Theorie des literarischen Kunstwerks. An den neuen Theorien über das literarische Kunstwerk ging man achtlos vorüber, weil man fürchtete, sie könnten zu einer durchgreifenden Änderung der bisher geübten Forschungsweise zwingen, wozu man verständlicherweise keine Lust hatte. Trotzdem divergierten in der praktischen Untersuchung einzelner Werke sowohl die Forschungsrichtungen als auch die Forschungsweisen, was Anlaß zu verschiedenen methodologischen Auseinandersetzungen gab. Aber diese Diskussionen waren im allgemeinen wenig ergiebig, weil sie sich oft auf die Verteidigung der eigenen Methode beschränkten. Man diskutierte über die Methoden der Forschung oder der "Kritik", ohne sich überhaupt die Frage gestellt zu haben: einerseits wie das gebaut ist, was untersucht bzw. erkannt werden soll, d.h. das literarische Kunstwerk selbst, andererseits worin die Verfahrensweise, die zur Erkenntnis des literarischen Kunstwerks führen soll, besteht, d.h., wie das Erkennen dieses Kunstwerks vor sich geht und wozu es führt bzw. führen kann. Erst wenn diese beiden Fragen beantwortet wären, könnte man sinnvoll fragen, wie das literarische Kunstwerk erkannt werden soll, damit man zu befriedigenden Ergebnissen käme. Ich habe einst auf die erste Frage eine Antwort zu geben versucht, und zwar in meinem Buch Das literarische Kunstwerk. Es ist an der Zeit, die zweite Frage in Angriff zu nehmen, bevor überhaupt die methodologischen Probleme aufgeworfen werden. Ich habe dies bei uns in Polen bereits im Jahre 1936 in meinem Buch Vom Erkennen des literarischen

Kunstwerks in polni-

scher Sprache getan. Ich zweifle nicht, daß sich sowohl in Deutschland als auch in anderen westeuropäischen Ländern seit jener Zeit Verschiedenes geändert hat. Trotzdem wurde aber, wie mir scheint, keine befriedigende Betrachtung der Probleme durchgeführt, die das Erkennen des literarischen Kunstwerks betreffen, so daß mein Buch - jetzt in einer erweiterten Redaktion - auch heute noch brauchbar sein kann. Das einzige wichtige Werk, das in seiner Thematik mit einem Teil der hier zu entwickelnden Probleme verwandt ist, Die Kunst der Interpretation

von Emil Staiger, rechnet zu wenig

§ I. Gebiet der

3

Betrachtung

mit dem Schichtenaufbau des literarischen Kunstwerks 3 und ist in seinem theoretischen Teil zu skizzenhaft, als daß es zu den wichtigen Grundproblemen der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks vorzudringen vermöchte. 4 Auch die sich in den letzten Jahren entwickelnde Diskussion über die "Neue Kritik" in Frankreich überspringt gewissermaßen die Probleme der Weisen, in welchen literarische Kunstwerke erkannt und verstanden werden, und beschäftigt sich eher mit Fragen der Möglichkeit verschiedener Konkretisationen des literarischen Kunstwerks (unter deutlichem Einfluß des russischen Formalismus). So waren es gerade gewisse Erfahrungen, die ich aus der Lektüre mancher Publikationen aus dem Westen gewonnen habe, die mich dazu b e wogen*, mein altes Buch Vom Erkennen

des literarischen

Kunstwerks

in

einer fremden Sprache zugänglich zu machen. Die jetzige deutsche Redaktion des Buches ist zwar in verschiedenen Punkten erweitert worden, erhält aber alle in der ersten polnischen Fassung enthaltenen Behauptungen aufrecht, und die Erweiterungen bestehen nur in genauerer Bearbeitung von Problemen, welche bereits in der ersten Fassung formuliert wurden. Ich habe in diesen dreißig Jahren etwas dazugelernt, indem ich meine eigenen Untersuchungen fortsetzte, 5 und nicht weil mich fremde Literatur dazu bewogen hätte. Wo dies der Fall war, werde ich es ausdrücklich vermerken.

Spuren dieser Auffassung spürt man in den Grundbegriffen

der Poetik [Zürich 1946,

2

1951

-1952], obwohl Staiger nirgends an mein Buch anknüpft, was insofern natürlich ist. als die Problematik dieses Buches viel speziellerer Natur ist und die Schichtenstruktur nur sozusagen voraussetzt. Wenigstens sieht man dies deutlich an dem Kapitel über die Epik. Staiger hat übrigens in einem Brief an mich zugegeben, daß er "sich erinnere", mein Buch einst gelesen zu haben. Das Buch ist indessen interessant in den Analysen der Interpretationen einzelner Werke, mit denen es sich ausführlich beschäftigt. Es handelt sich da aber wirklich um "Interpretation" und nicht um das Kennenlemen und Verstehen des literarischen Kunstwerks - also um Probleme, welche mit verschiedenen möglichen Konkretisationen eines und desselben Kunstwerks zusammenhängen. Ich werde noch darauf zurückkommen. Sie finden sich zum Teil in meinen Studien zur Ästhetik, die in polnischer Sprache im Jahre 1957 [Warszawa] unter dem Titel Studia ζ estetyki in zwei Bänden erschienen sind. Darin war auch die zweite Auflage [der polnischen Erstfassung] des Buches Vom Erkennen literarischen

Kunstwerks

enthalten.

des

4

Einleitung

§ 2. Vorläufige Andeutung des Problems Die Hauptfrage, auf die ich eine Antwort suche, lautet: Wie erkennen wir das fertige, in der Schrift festgelegte (bzw. mit anderen Mitteln, z.B. mit dem Magnetophon reproduzierte) literarische Kunstwerk. Das Erkennen ist aber nur eine Weise des Verkehrs des Lesers mit dem literarischen Werk. Die anderen sollen hier zwar nicht ganz beiseite geschoben, sie sollen aber zunächst auch nicht besonders beachtet werden. Auch das "Erkennen" selbst kann sich auf viele verschiedene Weisen vollziehen, wodurch auch verschiedene Ergebnisse erzielt werden können. Die Verschiedenartigkeit der gelesenen Werke spielt dabei auch eine wesentliche Rolle. Das Wort "Erkennen" verwende ich hier nur mangels eines besseren. 6 Es soll zunächst in einem ziemlich vagen und sehr weiten Sinne genommen werden, angefangen von einem vorwiegend passiven, empfangenden "Erleben", in welchem wir als literarische Konsumenten uns mit einem bestimmten Werk "bekannt machen", es irgendwie "kennenlernen" und uns dabei eventuell in einer mehr oder weniger emotionalen Weise auf es beziehen, bis zu einer solchen Verhaltensweise dem Werk gegenüber, durch die wir zu einer gelungenen, effektiven Erkenntnis des Werkes gelangen. Alle diese noch außerordentlich verschiedenen Verhaltensweisen führen zu irgendeinem Wissen über ein ganz bestimmtes Werk, sei es ein Roman (wie die

Buddenbrooks

von Thomas Mann) oder irgendein lyrisches Gedicht (etwa: Über allen Gipfeln ist Ruh...)

oder ein Drama (etwa Ibsens Rosmersholm).

Wir schließen da

von den mannigfachen Werken, die in Betracht kommen, auch andere Schriften, wie z.B. Zeitungsartikel, Essays oder wissenschaftliche Werke, nicht aus. Im Gegenteil, es liegt uns u.a. außerordentlich daran, uns zum Bewußtsein zu bringen, wie wir wissenschaftliche Werke "verstehen" und im Verstehen sowohl diese Werke selbst als auch das in ihnen Dargestellte erkenntnismäßig erfassen. Dieses Wort soll also einen eine gewisse Kenntnisnahme in sich schließenden, das Emotionale nicht notwendig ausschließenden Umgang mit literarischen Werken bedeuten. Wir rechnen natürlich von vornherein damit,

E s entspricht i n s b e s o n d e r e nicht dem in der polnischen Redaktion verwendeten Wort "poz n a w a c " , das deutlich a u f eine Tätigkeit hinweist, die nicht erfolgreich zu sein braucht, und das dem Wort " p o z n a c " gegenübergestellt werden kann, in w e l c h e m es sich e b e n um eine erfolgreiche, zur e f f e k t i v e n Erkenntnis führende E r k e n n t n i s - T ä t i g k e i t handelt.

§ 2. Andeutung des Problems

5

daß je nach der Eigentümlichkeit des diesem Umgang unterworfenen Werkes das Kennenlernen und auch das Erkennen desselben auf eine je verschiedene Weise verlaufen und zu verschieden modifizierten Ergebnissen führen können. Ich glaube aber in den kommenden Betrachtungen zeigen zu können, daß trotz dieser sehr mannigfachen Verschiedenheit sich in jedem "Erkennen" des literarischen Werkes ein Bestand v.on überall gleichartigen Operationen des erlebenden Subjekts befindet und daß dieses "Erkennen" einen für alle diese Fälle charakteristischen Verlauf besitzt, wenn es nicht durch irgendwelche äußere Umstände gestört oder unterbrochen wird. Andererseits wird sich in den abschließenden Betrachtungen zeigen, daß in gewissen, ganz besonderen Fällen eine echte Erkenntnis des literarischen Werkes und auch des literarischen Kunstwerks erreicht werden kann. Nur auf diesem allmählich fortschreitenden und erst im letzten Stadium zur Einengung der Begriffe führenden Wege lassen sich die Gefahren beseitigen, die sich aus der unkritischen Zugrundelegung eines ungeklärten und eventuell viel zu engen Begriffs des "Erkennens" des literarischen Werkes ergeben könnten. Der exakte Begriff der Erkenntnis eines literarischen Werkes und insbesondere eines literarischen Kunstwerks wird also erst als ein Ergebnis unserer Betrachtung bestimmt werden. Es soll zugleich erwogen werden, unter welchen Bedingungen diese Erkenntnis erreicht werden kann. Auf dem Wege zu einem solchen Ergebnis sind aber viele Schwierigkeiten zu überwinden, die mit dem Problem der "Objektivität" der Erkenntnis überhaupt zusammenhängen und die erst in einer ganz allgemeinen erkenntnistheoretischen Betrachtung gelöst werden können. Wir werden uns also hier damit zufriedengeben müssen, den Weg zu diesem Ziel zu bereiten. Unter einem "literarischen Werk" verstehe ich hier in erster Linie ein Werk der sogenannten "schönen Literatur", obwohl es in der Folge auch andere sprachliche Werke, also auch wissenschaftliche Werke, umfassen soll. Werke der sogenannten "schönen Literatur" erheben vermöge des eigenen charakteristischen Grundaufbaus und besonderer Fertigkeiten den Anspruch, ein "Kunstwerk" zu sein und dem Leser die Erfassung eines ästhetischen Gegenstandes besonderer Art zu ermöglichen. Nicht jedes Kunstwerk ist aber ein "gelungenes" und damit ein im besonderen Sinne "echtes", "wertvolles" Kunstwerk. Und andererseits ist nicht jeder Gegenstand eines ästhetischen Erlebnisses Gegenstand eines im Gefallen oder in der Bewunderung oder end-

6

Einleitung

lieh im positiven Werturteil kulminierenden Erlebnisses. Dies betrifft insbesondere die Werke der sogenannten "schönen Literatur". Sie können "echt", "schön", allgemein gesagt künstlerisch oder ästhetisch wertvoll sein, sie können aber ebensowohl "schlecht", "unecht", "häßlich" - also kurz gesagt negativ-wertig sein. Sie alle können wir sowohl ästhetisch erleben als auch in einem vor-ästhetischen oder sich erst auf das ästhetische Erlebnis aufbauenden, selbst aber nicht ästhetischen Erkennen erfassen. Erst die Ergebnisse des letzten, erkenntnismäßigen Erfassens können uns über den Wert des betreffenden Werkes einen bindenden Aufschluß geben. 7 Unsere Betrachtungen müssen also beide Gruppen der Werke umgreifen, wobei wir von vornherein damit rechnen, daß das Erkennen und insbesondere das ästhetische Erfassen hochwertiger literarischer Kunstwerke anders verläuft und andere Eigenschaften haben kann als das Erkennen der "schlechten", negativwertigen Werke. 8

§ 3. Die A n p a s s u n g des Erkennens an die Grundstruktur des Erkenntnisgegenstandes Bevor wir zur Beschreibung des - so weit gefaßten - "Erkennens" eines literarischen Werkes übergehen, müssen wir vor allem das betrachten, was den Gegenstand dieses "Erkennens" bilden soll. Die erkenntnistheoretischen Betrachtungen, die seitens der Phänomenologie seit den Logischen

Untersu-

chungen Husserls durchgeführt wurden, haben gezeigt, daß eine besondere Korrelativität zwischen der Erkenntnisweise und dem zu erkennenden Gegenstand, vielleicht sogar eine Anpassung des Erkennens an diesen Gegenstand besteht. Sie zeigt sich vor allem darin, welche Verhaltensweisen oder Erkenntnisoperationen in den Bestand des ganzen Vorgangs des Erkennens eingehen, in welcher Ordnung der Aufeinanderfolge und des Zugleichseins

Sowohl das Wort "Wert" als auch das Wort "Werk" werden hier in einem gewissen Doppelsinn gebraucht, der sich erst später klären wird. Wir können nicht alles auf einmal sagen. Einen analogen methodischen Standpunkt habe ich bei der Betrachtung der Grundstruktur des literarischen Kunstwerks in meinem Buch Das literarische

Kunstwerk

(1931) einge-

nommen. Das heißt aber gar nicht - wie man das von mancher Seite mißdeutet hat - daß ich den künstlerischen bzw. ästhetischen Wert der literarischen Kunstwerke aus meiner Betrachtung ausschließe.

S 3. Erkennen und

Erkenntnisgegenstand

7

sie verlaufen, wie sie sich untereinander bedingen und eventuell modifizieren, und zu welchem Gesamtergebnis - dessen Erkenntniswert von ihrem Verlauf und Zusammenwirken wesensmäßig abhängt - sie alle zusammen führen. Den Grundtypen der Erkenntnisgegenstände entsprechen ebenso viele Grundarten und -weisen des Erkennens. Zum Beispiel: Ein physisches Ding kann man nur erkennen, indem man den Erkenntnisvorgang mit dem sinnlichen Wahrnehmen dieses Dinges beginnt. Es kommt natürlich vor, daß wir von einem Ding auf Grund einer fremden Information etwas erfahren, dann aber muß dieser Information ein Wahrnehmen vorausgehen. Je nach den Arten der Eigenschaften, die an einem Ding erkannt werden sollen, muß man sich einer anderen Weise des Wahrnehmens bedienen. Man kann Farben eines Dinges nicht hören und Töne nicht sehen oder tasten. Wer eigene seelische Zustände oder Vorgänge erkennen will, muß zu diesem Zweck sich der völlig anders gebauten und verlaufenden Akte des inneren Wahrnehmens bedienen und kann sie weder riechen noch ertasten. Und analog in anderen Fällen: Mathematische Sätze muß man ihrem Sinn nach verstehen und beweisen, die sinnliche Wahrnehmung spielt dabei keine Rolle. In jedem dieser verschiedenen Fälle besteht eine strenge Korrelativität zwischen der Struktur und der Beschaffenheit des zu erkennenden Gegenstandes einerseits und der Art des Erkennens andererseits. 9 Mit Rücksicht auf das Bestehen dieser korrelativen Zuordnung ist die Analyse eines bestimmten Erkenntnisvorgangs viel leichter durchzuführen, wenn man sich die allgemeine Grundgestaltung des betreffenden Gegenstandes zum Bewußtsein bringt. Es wird also in unserem Fall nützlich sein, zuerst an die allgemeinen Grundeigenschaften und Strukturen des literarischen Werkes zu erinnern. Bevor wir dies tun, müssen wir aber einen drohenden Vorwurf gegen unsere Verfahrensweise erwägen. Verwickeln wir uns da nicht in einen circulus vitiosus, wenn wir zur Klärung der Weise, wie wir literarische Werke kennenlernen, uns auf die allgemeinen Grundeigenschaften und Strukturen dieser Werke berufen? Ist eine solche Berufung nicht gleichbedeutend mit der Vor-

Auch wenn wir zur Beobachtung gewisser Gegenstände (oder Vorgänge) künstliche Apparate verwenden (z.B. Mikroskop, Elektronen-Mikroskop, Radar, verschiedene elektrische Meßinstrumente usw.), ist die Struktur des Apparates auf eine bestimmte Art des Funktionierens berechnet, und diese Art des Funktionierens dem Typus des Gegenstandes bzw. der Art der Vorgänge angepaßt, die "beobachtet" werden sollen.

8

Einleitung

aussetzung der Geltung und der Leistungsfähigkeit des Erkennens, das uns über jene Grundeigenschaften der literarischen Werke informiert? Am Anfange unserer Betrachtungen über das Erkennen des literarischen Werkes wissen wir noch nichts Positives und dürfen auch über seine Leistungsfähigkeit und Geltung nichts stillschweigend voraussetzen. Wir tun es auch nicht. Es handelt sich nur darum, unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Bewußtseinsvorgänge zu lenken, die wir bei der Lektüre eines einzelnen literarischen Werkes vollziehen, nicht um an ihnen ihren individuellen Verlauf und ihre individuelle Leistung, sondern das Wesensnotwendige eines solchen Verlaufs und solcher Funktionen zu erfassen. Die Berufung, wiederum nicht auf die individuellen Eigentümlichkeiten eines bestimmten literarischen Werkes, sondern auf den wesensnotwendigen strukturellen Aufbau des literarischen Kunstwerks überhaupt, hat nur den Zweck, am Beispiel eines individuellen, während der Lektüre eines Werkes sich vollziehenden Erkennens solche wesensnotwendigen strukturellen Momente und Verflechtungen der zusammenwirkenden Funktionen zu suchen, die den wesensnotwendigen strukturellen Eigenheiten des literarischen Werkes überhaupt auf eine verständliche Weise entsprechen

und sich den einzelnen Faktoren des Werkes zuordnen lassen,

und zwar als Funktionen, in denen derartige Faktoren entdeckt und erfaßt werden. Es wird also weder die Geltung der Ergebnisse einer individuellen Lektüre noch die Leistungsfähigkeit der in ihr sich vollziehenden Erkenntnisfunktionen vorausgesetzt, um sie auf diesem Grunde nicht bloß in ihrem Verlauf und ihrer Spezifität zu beschreiben, sondern auch über ihre positive Leistungsfähigkeit zu entscheiden, d.h. darüber, ob sie den Erkennenden zu einer objektiv gültigen Erkenntnis des literarischen Werkes zu führen vermögen. Denn vor allem sind es zwei verschiedene Verfahrensweisen: die sich auf ein einzelnes literarisches Werk beziehende Lektüre, bzw. das sich bei dieser Lektüre abspielende Erkennen desselben, und dasjenige erkenntnismäßige Verhalten, das den Erkennenden zum allgemeinen Erfassen der wesensmäßigen

Struktur

und Eigenheit des literarischen Kunstwerks überhaupt führt. Es sind zwei grundverschiedene Erkennensweisen und auch zwei grundverschiedene Erkenntnisleistungen. Während sich die erste in einem individuellen Lesen, das sich auf ein bestimmtes individuelles Werk bezieht, vollzieht und eine besondere Art der Erfahrung ist, in welcher die Faktizität dieses Werkes und seiner

§ 3. Erkennen und

Erkenntnisgegenstand

9

Einzelheiten festgestellt wird, vollzieht sich die zweite gar nicht in einem solchen Lesen und liefert uns gar keine Erfahrung vom faktischen Beschaffensein eines individuellen Werkes, z.B. des Zauberbergs von Thomas Mann. Sie unterscheidet sich in dem Maße von einem individuellen Lesen, daß auch dann, wenn dieses letztere in unserer Betrachtung in seinem Verlauf und seinen Funktionen ganz geklärt wäre, sich doch erst das schwierige Problem eröffnete, worin das Erfassen des allgemeinen Wesens (wenn man es so unpassend, aber mit dem üblichen Ausdruck sagen darf) des literarischen Kunstwerks besteht. Die Phänomenologen würden sagen, daß es sich in diesem Fall um eine apriorische Analyse des Gehalts der allgemeinen Idee "Das literarische Kunstwerk" handle. Diese Analyse, auch wenn sie sich an dem Beispiel eines beliebigen literarischen Kunstwerks oder besser: verschiedener, entsprechend gewählter Beispiele, vollzieht, wird nicht beim Lesen und Verstehen der aufeinanderfolgenden Sätze dieser Beispiele durchgeführt, sondern betrifft vor allem die Wesensunterschiede verschiedener Grundelemente des literarischen Werkes (und Kunstwerks) Uberhaupt, also z.B. den Unterschied zwischen den sprachlautlichen Gebilden und Erscheinungen und den Satzsinnen (allgemeiner: den Bedeutungseinheiten verschiedener Typen) sowie zwischen diesen Satzsinnen und den von ihnen entworfenen intentionalen Satzkorrelaten (insbesondere den Sachverhalten). Es handelt sich da um die Erfassung der konstitutiven formalen und materialen Momente solcher Gebilde und um ihre sich daraus ergebende wesensmäßige Verschiedenheit sowie zugleich um ihre verschiedenartigen Beziehungen und Zusammenhänge. Dies läßt sich überhaupt bei einem schlichten Lesen eines literarischen Kunstwerks nicht entdecken, denn die notwendigen Möglichkeiten, die im Gehalt der Idee zu fassen sind, gehen über die individuellen Bestimmtheiten des einzelnen Kunstwerks weit hinaus. Andererseits geht das Lesen eines bestimmten Werkes in den in ihm enthüllten Einzelheiten dieses Werkes auch weit über das hinaus, was die auf den Gehalt der allgemeinen Idee des literarischen Kunstwerks eingestellte apriorische Analyse von dem betreffenden literarischen Individuum zu entdecken vermöchte: sie stellt nur gewissermaßen das Skelett dessen fest, was den vollen Leib des einzelnen Werkes bildet. Sie erfaßt z.B. nicht den vollen Sinn aller in einem Werk aufeinanderfolgenden Sätze, was bei einer Lektüre unentbehrlich ist, achtet aber auf die allgemeine Form eines jeden nur möglichen Satzes und dergleichen mehr, was bei einer

10

Einleitung

Lektüre gar nicht besonders beachtet und herausanalysiert werden kann. Es kann freilich nicht gesagt werden, daß zwischen einer allgemeinen, wie Husserl sagt, "eidetischen" Analyse der Idee des literarischen Kunstwerks überhaupt und einer Lektüre eines individuellen Werkes gar keine Beziehungen bestünden. Wenn z.B. jemand empiristisch eingestellt wäre und die Existenz und sogar die Möglichkeit einer apriorischen Analyse des Gehalts einer allgemeinen Idee überhaupt leugnete und doch die Möglichkeit eines allgemeinen Wissens über literarische Werke anzuerkennen geneigt wäre, würde er vielleicht sagen, daß man auf Grund der Lektüre vieler einzelner Werke einen Vergleich der an ihnen gewonnenen Ergebnisse durchführt und in einem "Verallgemeinerungsakt" die sogenannten "gemeinsamen" Merkmale der einzelnen Werke feststellt. Dieser Akt des Vergleichens und der Verallgemeinerung geht jeweils über die einzelne Lektüre hinaus; es wird aber in dieser empiristischen Auffassung der "allgemeinen" Erkenntnis vorausgesetzt, daß die in der einzelnen Lektüre vorgefundenen Tatsachen eben wirklich bestehen, daß also die in der Lektüre vollzogene Erkenntnis ihre Geltung hat. Das wird indessen bei einer "eidetischen" Analyse des "allgemeinen Wesens" (d.h. des Gehaltes der allgemeinen Idee) im phänomenologischen Sinn gar nicht vorausgesetzt. Die einzelnen Lesungen liefern uns nur einen Bestand von Phänomenen, die in ihrem wesenseigenen Gehalt erfaßt werden können, ohne daß man dabei das individuelle wirkliche Sein der Gegenstände, die in diesen Phänomenen zur Gegebenheit gelangen, voraussetzen müßte, und an diesen eidetisch erfaßten Phänomenen lassen sich dann wesenseigene Beziehungen zwischen den erschauten Phänomenen herausstellen und so die allgemeine wesensnotwendige Struktur (der Aufbau) des literarischen Kunstwerks überhaupt bestimmen. Mit anderen Worten: Wenn wir demnächst hier einige Züge der allgemeinen Struktur dieses Werkes anführen werden, so setzen wir damit weder die Geltung des sich in der Lektüre einzelner Werke vollziehenden Erkennens dieser Werke noch ihre wirkliche Beschaffenheit voraus. Wir verwenden die Informationen über die allgemeine Struktur des literarischen Kunstwerks überhaupt als ein heuristisches Mittel, das uns erlaubt, unsere Aufmerksamkeit auf den Bewußtseinsverlauf, in dem sich das Erkennen der einzelnen Werke vollzieht, zu lenken und uns zugleich auf das vorzubereiten, was wir in der Analyse dieses Bewußtseinsverlaufes vorfinden können, wenn wir im

§ 4. Grundbehauptungen zum literarischen

Kunstwerk

11

Gedächtnis behalten, daß diese Erlebnisse zur Enthüllung der Form und Beschaffenheit einzelner literarischer Werke führen bzw. dienen sollen. Wir könnten dies auch ohne die Erinnerung an die Ergebnisse einer allgemeinen philosophischen Theorie des literarischen Kunstwerks entdecken. Die Konfrontation der Analyse der Erlebnisse, in welchen sich die Lektüre vollzieht, mit den wesensnotwendigen strukturellen Momenten des literarischen Kunstwerks wird uns aber besser zu verstehen erlauben, warum eigentlich jene Erlebnisse in sich so kompliziert sind und gerade in dieser wesenstypischen Weise verlaufen.

§ 4. Grundbehauptungen über den wesenseigenen Aufbau des literarischen Kunstwerks Folgende allgemeine Behauptungen über den wesenseigenen Aufbau des literarischen Kunstwerks werden uns bei den weiteren Betrachtungen behilflich sein: 1. Das literarische Werk ist ein mehrschichtiges Gebilde. Es enthält a) die Schicht der Wortlaute und der sprachlautlichen Gebilde und Charaktere höherer Ordnung, b) die Schicht der Bedeutungseinheiten: der Satzsinne und der Sinne ganzer Satzzusammenhänge, c) die Schicht der schematisierten Ansichten, in welchen die im Werk dargestellten Gegenstände verschiedener Art zur Erscheinung gelangen, und d) die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten, welche in den durch die Sätze entworfenen intentionalen Sachverhalten dargestellt werden. 2. Aus der Materie und der Form der einzelnen Schichten ergibt sich ein wesensmäßiger innerer Zusammenhang aller Schichten miteinander und eben damit auch die formale Einheit des ganzen Werkes. 3. Neben dem Schichtenaufbau zeichnet sich das literarische Werk durch eine geordnete Aufeinanderfolge seiner Teile aus, die Sätze, Satzzusammenhänge, Kapitel usw. bilden. Infolgedessen besitzt das Werk eine eigene, quasi zeitliche "Ausdehnung" vom Anfang bis zum Ende sowie verschiedene, sich daraus ergebende Kompositionseigenheiten, wie z.B. verschiedene Charaktere der dynamischen Entwicklung und dergleichen mehr.

12

Einleitung

Das literarische Werk hat eigentlich "zwei Dimensionen": die eine, in welcher sich der Gesamtbestand der Schichten erstreckt, und die zweite, in welcher die Teile aufeinanderfolgen. 4. Im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit der Sätze eines wissenschaftlichen Werkes, die echte Urteile sind, sind die im literarischen Kunstwerk auftretenden Aussagesätze keine echten Urteile, sondern nur Quasi-Urteile, deren Funktion darauf beruht, den im Werk dargestellten Gegenständen bloß einen Aspekt der Realität zu verleihen, ohne sie zu echten Realitäten zu stempeln. Auch Sätze anderer Typen, wie z.B. die Fragesätze, unterliegen im literarischen Kunstwerk einer entsprechenden Modifikation ihres Sinnes bzw. ihrer Funktion. Je nach dem Typus des Werkes - z.B. in historischen Romanen - sind noch verschiedene Abwandlungen dieser Modifikationen möglich. 10 Das Vorhandensein der Quasi-Urteile in literarischen Kunstwerken bildet nur ein Unterscheidungsmoment zwischen ihnen und den wissenschaftlichen Werken, an das sich andere charakteristische Momente anknüpfen. Und zwar: 5. Wenn ein literarisches Werk ein wertvolles Kunstwerk ist, enthält jede seiner Schichten besondere Qualitäten: es sind wertvolle Qualitäten verschiedener Art, und zwar künstlerisch wertvolle und ästhetisch wertvolle. Die letzteren befinden sich im Kunstwerk selbst in einem eigentümlichen, potentiellen Zustand. In ihrer ganzen Mannigfaltigkeit führen sie zu einer eigentümlichen Polyphonie ästhetisch valenter Qualitäten, welche über die Qualität des sich im Werk konstituierenden Werts entscheidet. Auch in einem wissenschaftlichen Werk können literarisch künstlerische Qualitäten auftreten, die gewisse, ästhetisch wertvolle Qualitäten bestimmen. Dies schafft aber in einem wissenschaftlichen Werk nur ein momentum

Es ist ein besonderes Problem, ob die Aussagesätze, welche im Text nur angeführt werden, wie z.B. die von den dargestellten Personen ausgesprochenen Sätze, auch einer solchen Modifikation unterliegen. Dies hat insbesondere für das Drama eine Bedeutung. Ein anderes Problem bildet die Frage, durch welche sprachlichen, eventuell auch außersprachlichen Mittel dieser Charakter der Quasi-Urteile hervorgebracht wird. Das ist das Problem, das Käte Hamburger [Logik der Dichtung, Stuttgart 1957] untersuchte. Ich werde noch im Zusammenhang mit der Frage darauf zurückkommen, woran der Leser erkennen kann, daß er es z.B. in einem Roman nur mit Quasi-Urteilen und nicht mit echten Urteilen zu tun hat.

§ 4. Grundbehauptungen zum liierarischen Kunstw erk

13

ornans, das mit der wesentlichen Funktion des Werkes nur in loser oder in gar keiner Verbindung steht und es selbst nicht zu einem Kunstwerk machen kann. 1 1 6. Das literarische Kunstwerk (wie auch jedes literarische Werk überhaupt) ist seinen Konkretisationen gegenüberzustellen, welche bei den einzelnen Lesungen des Werkes (eventuell bei der Aufführung des Werkes im Theater und deren Erfassen durch den Betrachter) entstehen. 7. Im Unterschied zu seinen Konkretisationen ist das literarische Werk selbst ein schematisches Gebilde. Das heißt: Manche seiner Schichten, insbesondere die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten und die Schicht der Ansichten, enthalten "Unbestimmtheitsstellen" in sich. Diese werden in den Konkretisationen zum Teil beseitigt. Die Konkretisation des literarischen Werkes ist also selbst noch schematisch, aber - wenn man so sagen darf - weniger als das betreffende Werk selbst. 8. Die Unbestimmtheitsstellen werden in den einzelnen Konkretisationen auf die Weise beseitigt, daß an ihre Stelle eine nähere oder weitere Bestimmung des betreffenden Gegenstandes tritt und sie sozusagen "ausfüllt". Diese "Ausfüllung" ist aber nicht durch die bestimmten Momente dieses Gegenstandes hinreichend bestimmt, kann also im Prinzip in verschiedenen Konkretisationen noch verschieden sein. 9. Das literarische Werk überhaupt ist ein rein intentionales Gebilde, das seine Seinsquelle in den schöpferischen Bewußtseinsakten seines Verfassers hat und dessen physisches Seinsfundament in dem schriftlich festgelegten Text oder in einem anderen physischen Werkzeug der möglichen Reproduktion (z.B. dem Magnetophon) liegt. Vermöge der Doppelschicht seiner Sprache ist es zugleich intersubjektiv zugänglich und reproduzierbar, wodurch es zu einem auf eine Lesergemeinschaft bezogenen, intersubjektiven, intentionalen Gegenstand wird. Als solches ist es nicht psychisch und ist allen Bewußtseinserlebnissen, sowohl denen des Verfassers wie auch denen der Leser, transzendent.

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Über den weiteren Unterschied zwischen wissenschaftlichen Werken und literarischen Kunstwerken wird im folgenden noch die Rede sein.

14

Einleitung

§ 5. D a s schriftlich festgelegte literarische W e r k Es gab eine Zeit, in welcher literarische Kunstwerke bestanden, ohne daß sie schriftlich festgelegt wurden. Sie verdankten damals ihr Fortbestehen durch viele Generationen der gedächtnismäßigen, rein sprachlautlichen Wiedergabe durch diejenigen, die es anderen vortrugen oder vorsangen. Es kam dann zu verschiedenen Varianten, in denen sich aber der Grundtext als identischer Kern durch Jahrhunderte erhielt. Auf ein solches mündlich übermitteltes Kunstwerk bezogen sich die oben angegebenen ersten acht Behauptungen. Das Werk war ein rein sprachlautliches Gebilde. Sobald es aber einmal in einer Handschrift und später im Druck niedergelegt wurde und seit es vorwiegend gelesen wird, wurde diese seine reine Sprachlautlichkeit insofern alteriert, als der Druck (der gedruckte Text) nicht zu den Elementen des literarischen Kunstwerks selbst (etwa als eine neue Schicht, wie das z.B. Nicolai Hartmann wollte) 12 gehört, sondern lediglich sein physisches Fundament bildet. Doch spielt bei der Lektüre die Druckgestaltung eine modifizierende Rolle, so daß der Wortlaut eine nähere Verbindung mit dem Wortdruck eingeht, obwohl er mit ihm zu keiner Einheit verschmilzt. Die Druckzeichen werden dabei nicht in ihrer individuellen physischen Gestalt, sondern - den Wortlauten analog - als gewisse ideale Typen aufgefaßt und in dieser Form mit dem Wortlaut verbunden. Dies bringt eine gewisse Verunreinigung in das Ganze des literarischen Kunstwerks, ermöglicht aber andererseits die Identität des Kunstwerks viel getreuer zu wahren, als dies bei der rein mündlichen Überlieferung der Werke erreichbar war.

§ 6. B e s c h r ä n k u n g des T h e m a s u n d erste Grundthesen Die Bedingungen, denen die sich tatsächlich abspielenden Vorgänge des Lesens oder Hörens literarischer Kunstwerke unterworfen sind, sind äußerst kompliziert und wechselnd. Es ist dann ungeheuer schwierig, sie alle bei der genauen Betrachtung der Weise, wie sich das Erkennen des Werkes vollzieht, zu berücksichtigen und ihre Rolle bei der Gewinnung der Erkenntnis dessel-

12

[Vgl. N. Hartmann, Ästhetik, Berlin 1953, S. 87, 88.]

§ 6. Erste

15

Grundthesen

ben richtig einzuschätzen. Es ist somit ratsam, diese Bedingungen zur Erleichterung der Betrachtung zu vereinfachen und damit auch ihr Thema etwas einzuengen. Ich beabsichtige also zunächst, das Erkennen eines fertigen literarischen Werkes zu behandeln, welches dem Leser in einer von ihm vollkommen beherrschten

und ihm gegenwärtigen

Sprache vorliegt. Die Bedin-

gung, daß das Werk "fertig" sein soll, besagt nicht nur, daß es nicht in der sich wandelnden Gestalt während des dichterischen Schaffensprozesses genommen werden soll, sondern auch, daß es, nachdem es einmal von dem Dichter vollendet wurde, in der ihm verliehenen Gestalt unverändert

bleibt, daß es

sich also in keiner seiner beiden Sprachschichten wandelt, weder im Sprachlaut, noch im Sprachsinn. Da die lebenden Sprachen sich tatsächlich in manchen ihrer Elemente und Funktionen den Umständen entsprechend langsam verändern, gilt die zweite einschränkende Bedingung, nämlich, daß das Werk in einer der Lektüre gleichzeitigen Sprache (wobei diese "Gleichzeitigkeit" cum grano salis zu nehmen ist) verfaßt sein soll, zumindest in einer relativ stabilen Epoche der betreffenden Sprachentwicklung. Wir möchten uns jetzt nicht in eine Diskussion über die Möglichkeit oder Wirklichkeit einer solchen Stabilität der Sprache verwickeln. Da dies weit über unser jetziges Thema hinausgeht, sind wir gerne bereit, die von uns aufgestellte Forderung als eine idealisierende Abstraktion betrachten zu lassen. Eine bis zu einem gewissen Grade analoge idealisierende Abstraktion liegt in der dritten Forderung, daß die Sprache des Kunstwerks dem Leser vollkommen bekannt und von ihm beherrscht sein soll, am besten also die Muttersprache des Lesers sei. Aber auch dies gilt nur annäherungsweise, weil es selbst in der Beherrschung der Muttersprache verschiedene Grade der Vollkommenheit gibt. Jeder von uns weist gewisse, mehr oder weniger große Mängel in der Fähigkeit auf, die eigene Muttersprache richtig zu verwenden. Es ist aber, wenn man sie einmal wirklich beherrscht und in ihr ohne Stockung frei denken und sprechen kann, nicht so schwierig, die Kenntnis der eigenen Sprache so zu vertiefen, daß man das betreffende literarische Kunstwerk ohne zu stocken "fließend" lesen kann. Bei Werken in einer fremden, wenn auch "bekannten" Sprache sind normalerweise die Grenzen, in welchen wir die Sprache des betreffenden Kunstwerks beherrschen, viel enger gezogen, so daß wir oft die Kenntnis dieser Sprache vor der Lektüre bedeutend erweitern müssen. Unsere Forderung besagt also nur, daß der Leser zur Lektüre des Werkes genügend vorbereitet sein soll.

16

Einleitung

Und noch eine Beschränkung des Themas unserer Betrachtungen: Ich nehme nur diejenigen Fälle einer Aneignung des literarischen Werkes, die sich sozusagen in einsamer Lektüre, also ohne Verständigung mit anderen Lesern oder Hörern vollziehen. Ich führe diese Beschränkung ein, weil dann die Erlebnisse des Lesers sich wesentlich vereinfachen, gleichsam nur durch den eben gelesenen Text gebunden sind und sich somit auch viel freier und fließender entwickeln. Der Ablauf der Lektüre wird nicht durch die Verständigung mit anderen unterbrochen, wodurch die künstlerische Einheit des Werkes viel besser gewahrt bleibt. Auch werden dadurch fremde Einflüsse auf das Verständnis des bei der Lektüre erkannten Werkes ausgeschlossen, eben weil die Rolle, die sie bei dem Bemühen um das richtige, adäquate Verstehen des Werkes spielen, sehr schwer zu beurteilen ist. Andererseits kommt es darauf an, daß jegliche Unterbrechung beim Vorgang des Kennenlernens vermieden wird. So wird hier auch zunächst davon abstrahiert, daß es viele Werke gibt, die zu umfangreich sind, um ohne Unterbrechung auf einmal gelesen zu werden. Wir beschränken uns auf die Lektüre relativ kleiner Werke und werden erst später auf die Rolle der notwendigen Lesepausen eingehen. Fremde Einmischung in den Vorgang des Erkennens eines Werkes auszuschließen wird auch deswegen gefordert, um vorerst die Komplikation zu vermeiden, die dadurch entsteht, daß jedes Gespräch mit einem anderen Leser sich nur auf dem Wege der Kenntnisnahme neuer (ungeschriebener) literarischer Werke - das heißt der Rede des anderen - vollzieht. Das Verstehen dieser Rede stellt uns also vor dieselben Probleme wie das Verstehen des eben gelesenen Werkes, nur daß sich beim Anhören der fremden Rede zwei grundverschiedene Werke, das gelesene Kunstwerk und die Rede des anderen, miteinander verflechten, gegenseitig modifizieren und durch den Leser in einer übergeordneten Einheit erfaßt werden müssen, so daß das gelesene Werk nicht mehr in seiner Reinheit erkannt werden kann. Unter diesen einschränkenden Bedingungen glauben wir zwei Grundbehauptungen über das Erkennen des literarischen Kunstwerks aufstellen zu dürfen: erstens, daß dieses Erkennen ein aus heterogenen, aber in engem Zusammenhang miteinander bestehenden Funktionen (Operationen) zusammengesetzt ist; zweitens aber, daß es sich in einem Vorgang vollzieht, der sich in der Zeit abspielt. Diese beiden Wesenstatsachen sind mit den Grundeigen-

§ 6. Erste Grundthesen

17

tümlichkeitendes literarischen Werkes verbunden. Wir gehen jetzt dazu über, diese beiden Behauptungen näher zu entwickeln und zu begründen.

I.

Kapitel: Die in das Erkennen des literarischen Kunstwerks eingehenden verschiedenen Funktionen

§ 7. Das Erfassen der Schriftzeichen und der Wortlaute Die bis vor kurzem normale und geläufige Art, ein literarisches Kunstwerk kennenzulernen, bestand im Lesen eines gedruckten Textes. Nur relativ selten haben wir uns mit laut gesprochenen Werken bekannt gemacht. Was geht vor, wenn wir uns anschicken zu lesen? Zu Beginn der Lektüre finden wir in der uns umgebenden realen Welt ein Buch, ein Heft vor: eine Ansammlung von Zetteln, auf denen gewisse Schrift- oder Druckzeichen zu sehen sind. Das erste also, was wir erleben, ist das visuelle Wahrnehmen dieser "Zeichen". Sobald wir aber eben Druck-Zeichen und nicht bloß gewisse Zeichnungen "sehen", vollziehen wir etwas mehr oder besser gesagt auch etwas anderes als nur eine bloß visuelle Wahrnehmung. Bei einem solchen Wahrnehmen sind wir nicht auf das einmalig Individuelle, sondern auf das Typische, auf die durch die Regeln der betreffenden Schriftsprache bestimmte, allgemeine räumliche Gestalt der Buchstaben, bzw. beim "fliessenden" Lesen auf die Gestalt der Wortzeichen eingestellt. Freilich verschwindet das Individuelle als solches nicht völlig aus dem Gesichtskreis des Lesenden. Das Erfassen der typischen Gestalt der Wortzeichen ist somit kein reines Erfassen einer Species. Wir sehen z.B., wie sich ein Buchstabe in den aufeinanderfolgenden Wortzeichen wiederholt. Das Individuelle wird hier nur unter dem Aspekt seiner typischen Gestalt aufgenommen, und der Individualitätscharakter tritt im allgemeinen zurück, sofern er nicht aus irgendwelchen besonderen Gründen eine besondere Wichtigkeit erlangt, verschwindet aber nie vollkommen aus dem Gesichtsfeld. 1 Beim fließenden, raschen Lesen nehmen wir auch die einzelnen Buch-

Eine aufmerksame, rein sinnliche Wahrnehmung (oder genauer: eine Reihe von kontinuierlich aufeinanderfolgenden Wahrnehmungen desselben Dinges) liefert uns einen in jeder Hinsicht individuellen Gegenstand. Bei einer flüchtigen Wahrnehmung wird gewöhnlich nur ein allgemeiner Aspekt des Dinges deutlich erfaßt. Wir sagen dann: ich sehe einen Berg, einen Tisch. Diese Worte sind allgemeine Namen und werden auf den eben wahrge-

§ 7. Erfassen von Schriftzeichen

und

Wortlauten

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staben nicht für sich wahr, obwohl sie uns doch nicht aus dem Gesichtsfeld schwinden. Wir lesen, wie man sagt, "ganze Worte" und übersehen dann leicht die Druckfehler. Auch andere Einzelheiten des bedruckten Papiers schwinden zwar nicht aus dem Gesichtsfeld, sie werden aber nicht für sich beachtet. Und wenn es dazu käme, so würde das von uns als ein beim Lesen störendes Moment empfunden, störend, weil die Haupttendenz beim visuellen Lesen auf die Erfassung der typischen Wortgestalten gerichtet ist. Ganz dasselbe geschieht beim Hören einer Ansprache oder eines "rezitierten" literarischen Werkes, wo wir die Einzelheiten des konkreten lautlichen Materials nicht für sich beachten, sondern nur auf die "Wortlaute" als typische Gestalten eingestellt sind. Wenn uns dies aus irgendeinem Grund nicht gelingt, obwohl laut genug gesprochen wird, dann sagen wir oft, wir hätten den Sprechenden "nicht gehört", und haben ihn infolgedessen auch nicht verstanden. Bereits die erste grundlegende Funktion des Lesens eines literarischen Werkes ist somit nicht ein schlichtes und rein sinnliches Wahrnehmen, sondern sie geht über dasselbe durch die konzentrierte Einstellung auf das Typische der Raum- oder Laut-Gestalt2 der Worte hinaus. Sie geht aber noch in

nommenen Gegenstand angewendet, der da zwar in seiner Individulität vor uns steht, aber doch nicht in jeder Einzelheit in strenger Individualität. Erst ein weiteres, aufmerksameres Wahrnehmen führt zu einem genaueren Erfassen des Einmaligen, Einzigen in vielen Einzelheiten, so daß wir dann seine Verschiedenheit von anderen "ähnlichen", "gleichartigen" Gegenständen erfassen. Beim Lesen eines gedruckten Textes kommt es gewissermaßen zu dieser Individuierung der einzelnen Buchstaben oder Wortzeichen nicht. Es kommt uns eben darauf nicht an. Es würde uns im Gegenteil bei der Lektüre stören, wenn uns die individuellen Unterschiede zwischen den einzelnen Buchstaben zu stark "ins Auge" fielen. Dies tritt bei der Lektüre handschriftlicher Texte deutlich zu Tage, wo wir von den individuellen Abweichungen in der räumlichen Gestalt der Buchstaben deutlich absehen und uns, wie man sagt, auf den "Charakter" der Schrift der betreffenden Person, d.h. auf das Typische seiner Schreibweise einstellen. Sonst, wenn [es] uns nicht gelingt, diesen Charakter zu erfassen, können wir den betreffenden Text überhaupt, wie man sagt, nicht "entziffern". Ich würde auf die im Grund triviale Tatsache nicht mit diesem Nachdruck hinweisen, wenn es nicht die Neupositivisten gegeben hätte, die einst Sätze auf Niedergeschriebenes, Niedergeschriebenes aber - als sprachliche Gebilde - auf physische Gegestände, auf Tintenflecken auf dem Papier oder Kreideteilchen an der Tafel zu reduzieren suchten (vgl. Erkenntnis,

1933). [Vgl. Erkenntnis

(hrsg. von R. Carnap und H. Reichenbach), Bd. 3

(1932/1933)] Aber auch die Linguisten, vgl. z.B. das neueste Buch von [Emile] Benveniste,

20

I. Funktionen

des

Erkennens

einer anderen Richtung über das schlichte, rein sinnliche Sehen hinaus, indem erstens die Schrift (der Druck) als "Ausdruck", d.h. als Träger einer Bedeutung genommen wird, 3 und zweitens der Wortlaut, wiederum in seiner typischen Gestalt, sofort miterfaßt wird, der mit dem Schriftzeichen des Wortes auf eine merkwürdige Weise verflochten zu sein scheint. Wenn wir einen Text "im stillen" lesen (ohne die Worte auch nur leise mitzusprechen), beschränkt sich die Erfassung normalerweise nicht auf das Sehen von bloß Niedergeschriebenem, wie es etwa bei chinesischen Schriftzeichen geschieht, wenn wir die chinesische Sprache 4 nicht kennen, oder wenn wir irgendeine Zeichnung (z.B. eine Arabeske) wahrnehmen, ohne überhaupt auf den Gedanken zu kommen, daß sie etwas sprachlich Niedergelegtes sein soll. Bei normalen Menschen, welche die betreffende Sprache in ihrer lautlichen Gestalt wirklich kennen, ist mit dem stillen Lesen sofort ein imaginatives Hören der entsprechenden Wortlaute und auch der Sprachmelodie verbunden, ohne daß sie darauf besonders achtgeben. W o der Wortlaut eine größere Bedeutung hat, kann sich sogar ein unwillkürliches, leises effektives Mitsprechen dieser Laute einstellen, wobei auch zugleich gewisse motorische Phänomene auftreten können. Die auditive Erfassung der lautlichen Gestalt der Worte ist mit der visuellen Erfassung des Niedergeschriebenen so eng verbunden, daß auch die intentionalen Korrelate dieser Erlebnisse eine besonders innige Verbindung einzugehen scheinen. Die lautliche und die visuelle Gestalt des Wortes scheinen gleichsam nur zwei verschiedene Aspekte desselben "Wortleibes" zu sein. Dieser Wortleib wird zugleich, wie schon bemerkt, als "Ausdruck" von etwas von ihm selbst Verschiedenem aufgefaßt; dieses Verschiedene ist eben der Sinn, die Bedeutung des Wortes, die sich auf etwas bezieht oder eine

Problèmes de linguistique

générale [Paris 1966], halten den Wortlaut für die sinnliche

Seite

des Wortes. Und zwar auch dann, wenn wir diese Bedeutung nicht kennen (z.B. in einer fremden, ungenügend beherrschten Sprache) und somit das betreffende Wort nicht verstehen. Das Phänomen des Nichtverstehens kann nur dort auftreten, wo wir es von vornherein mit einem Schriftzeichen und nicht mit einer bloßen Zeichnung zu tun haben. Dasselbe tritt bei allen Sprachen ein, deren "Aussprache" wir nicht kennen.

§ 7. Eifassen von Schriftzeichen und Wortlauten

21

besondere sinnhafte Funktion (wie z.B. eine syntaktische) ausübt. 5 Wenn wir die betreffende Sprache gut kennen und uns ihrer im täglichen Umgang bedienen, dann erfassen wir die Wortlaute nicht als rein lautliche Gebilde, sondern zugleich als etwas, was zu ihrem Laut hin noch einen gewissen emotionalen Charakter trägt oder mindestens tragen kann. 6 Wie ich in dem Buch Das literarische Kunstwerk zu zeigen suchte, kann dieser Charakter (fühlbar anschauliche Momente) entweder durch die Bedeutung des Wortes (bzw. den emotionalen Aspekt des bedeuteten Gegenstandes) bedingt oder auch mit der Funktion des "Ausdrückens" seelischer Vorgänge des Sprechenden (der Furcht, des Zorns, des Begehrens usw.) verbunden sein. Dies letztere bezieht sich vorwiegend auf die im literarischen Text zitierten, durch eine dargestellte Person ausgesprochenen Worte und Wendungen und wird nicht durch die sprachlautliche Gestalt des Wortlauts, sondern durch den Ton bewirkt, in welchem die Worte ausgesprochen werden. Das Merkwürdige ist aber, daß dieser emotionale Charakter uns in ungünstigen Fällen oft das Erkennen der typischen Lautgestalt des Wortlauts erleichtert. Mit dem auf diese Weise sich abspielenden Erfassen der Wortlaute vollzieht sich in einem und davon untrennbar das Verstehen des Sinnes der gelesenen Worte, und eben damit konstituiert sich für den Leser in diesem zwar zusammengesetzten, aber doch eine Einheit bildenden Erlebnis das volle Wort. Es ist also nicht etwa so, daß man zuerst den Wortlaut und erst dann den Sinn der Worte erfaßt. Beides geschieht gleichzeitig: Indem man den Wortich bediene mich hier des Wortes "Ausdruck" in dem von Husserl in seinen Logischen Untersuchungen [2 Bde., Halle 1900; 6 1980] geprägten Sinn. [Karl] Bühler Die Darstellungsfunktion

[Sprachtheorie.

der Sprache, Jena 1934] hat dasselbe Wort später in einem ande-

ren Sinn gebraucht, bei welchem das Ausgedrückte nicht die Bedeutung des Wortes in einer bestimmten Sprache, sondern ein Bewußtseinsphänomen oder ein seelischer Zustand des Sprechenden ist. Diese neue Ausdmcksfunktion der Worte und ganzer sprachlicher Wendungen können die Worte in einem literarischen Werk ausüben, wenn sie von den in ihm dargestellten Personen ausgesprochen werden, z.B. in einem Drama. Die Wortlaute gewinnen dann einen neuen, ganz besonderen Charakter, vorwiegend emotionaler Art, der an ihnen haftet und ebenfalls in sich gar keine sinnliche (z.B. visuelle oder akustische) Qualität ist. Julius Stenzel [Philosophie der Sprache, München 1934] hat einst darauf aufmerksam gemacht. Das oft verwendete Wort "Ausdruck" soll hier nur die lautliche bzw. schriftliche Gestalt des Wortes bezeichnen und wird vom "Wort", das beides: die lautliche Gestalt und die Bedeutung umfaßt, unterschieden.

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I. Funktionen des Erkennens

laut erfaßt, versteht man die Bedeutung des betreffenden Wortes und meint man sie zugleich aktiv. 7 Nur in Ausnahmefällen, wenn uns das betreffende Wort fremd ist oder es zu sein scheint, verbindet sich mit der Erfassung des Wortlautes nicht automatisch auch das Verstehen der Wortbedeutung. Dann tritt aber die natürliche Tendenz zum Vollzug des Verstehens auf. Setzt sie sich aber nicht automatisch in die Erfassung des Sinnes um, dann kommt es zu einer charakteristischen Hemmung oder gar Stockung im Vorgang des Lesens. Eine gewisse Hilflosigkeit ergreift einen, worauf man die Bedeutung zu erraten sucht. Gewöhnlich kommt es erst in diesen Fällen zu einer deutlicheren, thematischen Erfassung des Wortlauts in seiner lautlich-visuellen Gestalt, wobei sich zugleich eine gewisse Verwunderung über das Nichtvorgefundenhaben der Bedeutung einstellt, die sich ja doch ohne weiteres zeigen sollte und uns trotzdem "nicht in den Sinn" kommen will. Fällt uns die Bedeutung ein, dann wird die Stockung überwunden, und der Akt des Verstehens geht in ein neues Verstehen der darauffolgenden Wörter über. Wenn uns aber die Wörter gut bekannt sind, dann ist es charakteristisch, daß die Erfassung des Wortlauts flüchtig ist und sich sehr schnell und ohne Hemmungen vollzieht, da sie nur einen raschen Übergang zum Verstehen der Wörter bzw. der Sätze bildet. Sie ist dann auch kaum bewußt und oberflächlich: die Wortlaute treten wie an der Peripherie des Bewußtseinsfeldes auf und klingen uns nur nebenbei "in den Ohren", falls natürlich nicht etwas Besonderes an ihnen unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gerade aber diese flüchtige Weise der Erfassung der Wortlaute ist beim Erfassen des Ganzen des literarischen Werkes die einzig richtige. Daraus ergibt sich eben die oft gestellte Forderung einer "diskreten" Deklamation, um dem Zuhörer die lautliche Seite der Sprache nicht zu sehr aufzudrängen, sie nicht in den Vordergrund rücken zu lassen. Im literarischen Werk treten aber, wie gesagt, Wörter nicht isoliert auf, sondern sie schließen sich in einer bestimmten Ordnung zu ganzen Sprachgebilden verschiedener Art und Ordnung zusammen. In vielen Fällen, besonders in der sogenannten "gebundenen" Rede, werden sie in erster Linie nicht mit

Wenn wir hier von "Wort" sprechen, so ist das eine künstliche Abstraktion, denn beim normalen Lesen oder Verstehen einer fremden Sprache konzentrieren wir uns nicht auf einzelne, isolierte Wörter, sondern diese bilden für uns von vornherein nur Glieder eines Sprachgebildes höherer Ordnung, insbesondere eines Satzes. Aber darüber später.

§ 8. Wortbedeutungen,

Satzsinne

23

Rücksicht auf den Bedeutungszusammenhang, den sie konstituieren, sondern auf ihre lautliche Gestalt so geordnet, daß sich aus ihrer Aufeinanderfolge ein ganzheitliches Gebilde ergibt, etwa ein Vers oder eine Strophe. Es kommt aber dabei auch zur Konstituierung solcher Erscheinungen wie Rhythmus, Reim, verschiedene "Melodien" des Verses, des Satzes oder auch überhaupt der Rede, andererseits aber auch zu einem anschaulichen Charakter wie "Weichheit" oder "Härte" oder "Schärfe" des sprachlichen Ausdrucks. Beim stummen Lesen erfassen wir gewöhnlich im Fluß der Wortlaute auch jene lautlichen Gestaltungen und Erscheinungen; wenn wir ihnen auch oft keine besondere Aufmerksamkeit schenken, so spielt ihre Erfassung in der ästhetischen Perzeption wenigstens mancher literarischer Kunstwerke doch eine wichtige Rolle. Sie bilden nicht bloß selbst ein ästhetisch bedeutsames Moment des Werkes, sondern sind oft zugleich ein Mittel zur Enthüllung anderer Seiten und Eigenheiten des Werkes, z.B. einer Stimmung, die über den im Werk dargestellten Situationen schwebt. Der Leser des literarischen Kunstwerks muß also ein "Ohr" für die Eigentümlichkeiten der sprachlautlichen Schicht des Werkes (für seine "Musik") haben, obwohl man auch nicht sagen kann, der Leser solle sich auf sie besonders konzentrieren. Sie müssen aber "nebenbei" gehört werden und in der ganzen Gestalt des Werkes mitklingen. Die Enthüllung der sprachlautlichen Erscheinungen höherer Ordnung hängt aber schon mit dem Kennenlernen des literarischen Kunstwerks in seinen einzelnen Phasen zusammen. Es wird also nötig sein, in den späteren Betrachtungen darauf zurückzukommen.

§ 8. D a s Verstehen der W o r t b e d e u t u n g e n u n d der Satzsinne Was besagt aber, daß wir Wörter oder Sätze "verstehen"? In welchen besonderen Erlebnissen vollzieht sich jenes "Verstehen, und wann kommt es soweit, daß wir den Text eines Werkes wirklich "verstanden" haben? Wer kann uns garantieren, daß die in einem Werk in verschiedenen Zusammenhängen und Abhängigkeiten auftretenden Sätze richtig verstanden und nicht falsch gedeutet wurden? Diese letzte Frage drängt sich sofort auf; sie zu beantworten wird aber erst viel später möglich sein.

24

I. Funktionen des Erkennens

Bereits die Beschreibung oder bloße Angabe der Erlebnisse, in welchen wir Worte und Sätze verstehen, bildet eine schwierige Aufgabe, weil wir auf diese Erlebnisse normalerweise gar nicht achtgeben. Nicht alle Forscher bringen sich die Schwierigkeiten, auf die man hier stößt, zum Bewußtsein. 8 So werden wir uns hier auf skizzenhafte Bemerkungen beschränken müssen. Aber auch nur eine andeutende Betrachtung der Verstehenserlebnisse erfordert eine Klärung dessen, was die Bedeutung des Wortes bzw. der Sinn des Satzes ist. Leider ist auch dieses Problem mit Schwierigkeiten verbunden und hängt mit verschiedenen philosophischen Problemen zusammen. Ohne hier auf die zahlreichen Theorien eingehen zu können, die seit den bahnbrechenden Logischen

Untersuchungen

Husserls immer wieder aufgestellt werden, 9

werde ich nur die Hauptpunkte der Auffassung der Bedeutung bzw. des Sinnes der sprachlichen Gebilde rekapitulieren, die ich in meinem Literarischen Kunstwerk angedeutet habe. Die Bedeutung eines Wortes kann man in zwei verschiedenen Gestalten betrachten: als Bestandteil eines Satzes oder einer höheren Bedeutungseinheit, oder als isoliertes Einzelwort, das als ein Ganzes für sich genommen wird. Obwohl dieser letzte Fall in der Praxis kaum vorkommt, ist es doch empfehlenswert, ihm etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Entgegen oft ausgesprochenen Behauptungen ist die Wortbedeutung weder etwas Psychisches (also insbesondere ein Element oder Merkmal eines Denkerlebnisses) noch ein idealer Gegenstand. Die erste durch die Psycholo-

Eine schöne Analyse des "Verstehens" - in verschiedenen möglichen Bedeutungen dieses Wortes - hat Frl. D. Gierulanka in ihrem Buch Zagadnienie swoistosci poznania

matema-

tycznego (Über die Eigenart der mathematischen Erkenntnis), Warszawa 1962, gegeben. Eine große Verwirrung in der Betrachtung des Sinnes der sprachlichen Gebilde haben die Neupositivisten hervorgerufen, indem sie das ganze Problem zu liquidieren suchten und eine physikalistische Theorie der Sprache predigten. Seit dem Kongreß in Prag (1934), wo ich gezwungen war, gegen die These: "Der Sinn des Satzes ist seine Verifizierbarkeit" aufzutreten [vgl. R. Ingarden, "Der logistische Versuch einer Neugestaltung der Philosophie", in: Actes du Ville Congrès International de Philosophie à Prague, Prag 1936, S. 203-208], und auch seit dem Buch [Alfred] Tarskis 'Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen", Studia Philosophica, [Bd. I] 1935, hat man in den neupositivistischen Kreisen versucht, einen anderen Standpunkt zum Problem des Sinnes einzunehmen. Und der "späte" Wittgenstein hat - besonders in den Philosophical Investigations [Oxford 1953] - die hier vorliegenden Probleme gespürt, ohne eine wirkliche Lösung gefunden zu haben.

§ 8. Wortbedeutungen,

25

Satzsinne

gisten vertretene Auffassung wurde bekanntlich von E. Husserl und von G. Frege 10 kritisiert. Die zweite hat Husserl, unter dem Einfluß von Bernard Bolzano 1

in seinen Logischen Untersuchungen aufgestellt, dann aber in der

Formalen und transzendentalen Logik preisgegeben, obwohl er die Ausdrücke "ideale Bedeutung" und "idealer Gegenstand" weiter beibehalten hat. In meinem Literarischen Kunstwerk versuchte ich eine zur letzteren analoge Auffassung durchzuführen. 12 Die Wortbedeutung - und ebenso der Sinn eines Satzes - ist einerseits etwas Objektives, das - falls natürlich das Wort eindeutig ist - bei allen Verwendungen des Wortes in seinem Kern identisch und somit den Denkerlebnissen gegenüber transzendent bleibt. Andererseits ist sie aber ein intentionales Gebilde entsprechend gebauter Denkerlebnisse, indem sie entweder in einem Denkakt schöpferisch gestaltet, oft auf Grund eines originären Erfahrungsaktes, oder aber - nachdem diese Gestaltung bereits vollzogen wurde - nur in Denkakten aufs neue nachgebildet bzw. gemeint wird. Dem Wort wird - nach Husserls treffendem Ausdruck - seine Bedeutung "verliehen". 13 Das, was da in einem intentionalen Denkerlebnis "verliehen" wird, ist selbst eine, wie ich mich ausdrückte, "abgeleitete Intention", die an einem Wortlaut ihre Stütze findet und mit ihm das Wort bildet. Unter ihrem Aspekt wird das betreffende Wort erkannt und verwendet, je nachdem, um welche Intention es sich handelt: sie kann sich auf Dinge, Beschaffenheiten, Beziehungen und reine Qualitäten nennend beziehen, sie kann aber auch verschiedene syntaktisch-logische Funktionen ausüben, indem verschiedene andere Bedeutungen in Beziehung zueinander treten oder auch verschiedene, von den letzteren bedeutete Gegenstände in Beziehung zueinander gesetzt werden. 14

[Vgl. G. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, eine logisch-mathematische

Untersuchung

über den Begriff der Zahl, Breslau 1884; derselbe "Über Sinn und Bedeutung", Zeitschrift fur Philosophie und philosophische Kritik, 100 (1892), 25-50.] 11

[Vgl. B. Bolzano, Wissenschaftslehre, Sulzbach 1837.]

12

[Vgl. R. Ingarden, Das literarische Kunstwerk, Halle 1931, § 18.]

13

[Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II/ Teil 1 (Husserliana XIX/1, S. 44).]

14

Man sagt gewöhnlich (besonders in neupositivistischen Kreisen), daß die syntaktisch funktionierenden Wörter andere "Zeichen" bezeichnen. Dies ist aber vor allem falsch, weil die Funktion eines solchen Wörtchens von der Beziehungsfunktion grundverschieden ist (das Wort "und" in der Wendung "Der Herr und sein Hund" ist kein Name dieser beiden Namen), zweitens aber wird bei dieser Erklärung die weit wichtigere Funktion solcher Wörter,

26

I. Funktionen des

Erkennens

Die bewußt vollzogene Verleihung einer Bedeutung an ein bestimmtes Wort kommt im lebendigen sprachlichen Verkehr relativ selten vor, etwa bei der Bildung neuer Worte in der Wissenschaft mittels einer Definition oder der Angabe entsprechender Beispiele von Gegenständen, 1 5 die eben begrifflich gefaßt und benannt werden sollen. Normalerweise findet man in der bereits vorhandenen Sprache fertige Worte (also mit ihren Bedeutungen) vor und wendet sie einfach auf entsprechende Gegenständlichkeiten an. Indem man es tut, aktualisiert man im lebendigen Denken die in dem betreffenden Wort enthaltene Intention, d.h. man vollzieht einen Denkakt, in dessen gemeintem Inhalt gerade diejenige Intention auftritt, welche die betreffende Wortbedeutung ausmacht. Und der sie tragende Wortlaut wird zugleich als Ausdruck verwendet. Wann und wie gelingt es uns aber, gerade diejenige Bedeutung zu finden und sie eben damit lebendig zu denken, die das betreffende Wort in einer bestimmten Sprache besitzt und in welcher es an einer bestimmten Stelle des Textes verwendet wird? 1 6 Bekanntlich kommt es nicht selten vor, daß man da manchen Irrtümern unterliegt und diese oder andere im Text des gelesenen Werkes auftretenden Wörter

falsch

versteht, d.h. sie in einer anderen Bedeu-

tung nimmt, als sie sie in der betreffenden Sprache tatsächlich besitzen. Diese Gefahr besteht auch tatsächlich, man soll sie aber weder überschätzen noch für unvermeidlich halten. Manche Forscher sind geneigt, es zu tun, indem sie eine Auffassung des Wesens der Wortbedeutung vertreten, bei welcher das richtige Verstehen einer Wortbedeutung zu einem wahren Zufall werden muß. Man identifiziert nämlich die Wortbedeutung mit dem sogenannten "In-

die sie den Gegenständen anderer Wörter (insbesondere Namen) gegenüber ausüben, völlig übersehen. 15

Es ist im Zusammenhang damit in den letzten Jahren zur Mode geworden, von "deiktischen" Definitionen zu sprechen.

16

Ich erwäge hier, wie schon bemerkt, das Erkennen eines literarischen Werkes und insbesondere seiner Bedeutungsschicht nur in dem Fall, in welchem der Leser die Sprache des Werkes wirklich beherrscht. Dann fällt die oft gestellte Frage fort, auf welche Weise man eine Sprache - also den Sinn und die Verwendung der einzelnen Wörter in größeren sprachlichen Gebilden - erlernt. Man soll die im letzteren Fall vorliegende Situation nicht mit derjenigen verwechseln, in der sich der Leser eines Werkes befindet, das in einer ihm vollkommen bekannten Sprache verfaßt ist.

§ 8. Wortbedeutungen,

Satzsinne

27

halt" der Denkakte, wobei dieser "Inhalt" als eine Komponente, als ein "reeller Teil" des Aktes (im Sinne Husserls) aufgefaßt wird. 17 In der realen Außenwelt soll es nur sogenannte "physische Zeichen" geben, deren Vorstellung sich - im Sinne dieser Theorie - vermöge einer "Konvention" oder einer zufälligen "Assoziation" mit einem psychischen Inhalt "verbindet". Dieser psychische Inhalt, der dann natürlich immer je "meinig" ist, soll eben die Bedeutung des Wortes sein, so daß der Leser beim Lesen eines literarischen Werkes oder der Hörer einer fremden Rede nicht über den Bereich seiner eigenen "Inhalte" der Denkakte hinausgehen kann. Wenn also zwei Menschen sich eines und desselben Wortes bedienen, dann hat jeder von ihnen seine eigene, "private" Bedeutung des (vermeintlich) selben Wortes, und lediglich die "Gleichheit" der von ihnen erlebten Inhalte soll die Tatsache bilden, daß dieses Wort von beiden Menschen in "derselben" Bedeutung verwendet wird. Das Wort selbst (eigentlich nur der Wortlaut - aber man identifiziert hier das Wort mit dem Wortlaut) hat von diesem Standpunkt aus gar keine Bedeutung. Um also zu verstehen, in welchem Sinn der andere ein bestimmtes Wort verwendet, muß man einfach erraten, was den Inhalt des entsprechenden Denkaktes des anderen bildet. Die überwiegende Mehrzahl der Psychologen behauptet dabei, daß die Erlebnisse nur demjenigen Subjekt erkenntnismäßig zugänglich sind, das sie erlebt. Dann gleicht das richtige Verstehen der Bedeutung des Wortes (kurz: des Wortes), das vom anderen verwendet wird, einem Wunder. Denn es beruht dieser Theorie nach auf einer völlig zufälligen Assoziation gerade des gleichen Inhalts eines Aktes mit dem bloßen Wortzeichen, es besteht dann aber nicht in einer Erkenntnis der entsprechenden Wortbedeutung. Das richtige Verständnis literarischer Texte, deren Verfasser in vielen Fällen unbekannt ist und gewöhnlich nicht mehr lebt, scheint unter diesen Bedingungen ganz unmöglich zu sein. Jeder literarische Text müßte dann auf die dem betreffenden Leser eigene Weise verstanden werden, und es gäbe im Grunde so viele Verstehensweisen des Textes, als es Leser bzw. Lektüren gibt. Eine echte Verständigung vermittels eines geschriebenen Textes wäre da nicht zu

ιη [Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen phie, Erstes Buch (Husserliana III/l), § 88 ]

Philoso-

28

I. Funktionen des Erkennens

erreichen. Wie wäre dann aber eine, wie man sagt, "intersubjektive" Wissenschaft möglich? 18 Übrigens entspricht diese ganze Auffassung nicht der wirklichen Situation, die im Fall eines Gesprächs zweier, dieselbe Sprache sprechender Personen besteht. Wenn ich z.B. mit jemandem über einen äußeren Tatbestand spreche, und er mich auf einen anderen Zug dieses Tatbestandes aufmerksam macht, so interessiert er sich für die konkreten Inhalte meiner Denkakte nicht, so wie auch ich mich nicht für die von ihm erlebten Inhalte seiner Denkakte interessiere. Beide richten wir uns nach einem für uns beide äußeren Tatbestand, an dessen Zügen oder Einzelheiten wir uns orientieren, ob wir beide über dasselbe sprechen und darüber dasselbe aussagen. Stimmt dann etwas nicht, so können wir auf diesen Tatbestand hinweisend das Verstehen der fremden Rede korrigieren und uns dann auch sprachlich darauf "einigen", dies oder jenes festgestellt und erfahren zu haben. Nur dann, wenn der andere eine mir unverständliche Sprache spricht oder überhaupt nicht sprechen kann, ich aber sehe, daß er mir etwas mitteilen will, beginne ich mich dafür zu interessieren, was er gerade denkt. Aber auch dann suche ich nicht den konkreten Fluß der von ihm erlebten Inhalte zu entdecken, sondern den sprachlichen Sinn, den er zu gestalten und mir mitzuteilen sucht. Ich gehe über seine konkreten Erlebnisgehalte hinweg, um den vorläufig noch nicht verstandenen Sinn der Sprachgebilde zu erfassen. Es wäre auch ganz unzweckmäßig, diese konkreten Inhalte des fremden Denkerlebnisses erfassen zu wollen, da sich diese bei ihrem Übergang aus der jeweils fließenden Gegenwart in die Vergangenheit in stetiger Verwandlung befinden. Unterdessen unterliegt der einmal festgelegte Sinn eines Sprachgebildes solchen Wandlungen nicht und bleibt so lange als eine gleichsam statische Einheit identisch, bis er durch eine eventuelle neue Bedeutungsverleihung einen anderen Sinn bekommt. Die Quelle der von mir hier bekämpften psychologistischen Auffassung der Bedeutungen der Sprachgebilde liegt unter anderem in einer falschen Auffassung von Wortbildung und in der Verkennung der sozialen Natur einer ιχ Das Postulat der Intersubjektivität der Wissenschaft als einer conditio sine qua non stellen merkwürdigerweise gerade diejenigen Forscher auf, die - wie z.B. die Neupositivisten einerseits die Bedeutung bzw. den Sinn der Aussagen psychologisch deuten (bzw. in die sog. Verifizierbarkeit umdeuten), andererseits aber die Unerkennbarkeit der fremden Erlebnisse behaupten.

§ 8. Wortbedeutungen,

Satzsinne

29

jeden Sprache. Es ist einfach nicht wahr, daß jeder von uns die Bedeutungen der Worte allein für sich und in einer völligen Isolierung von anderen Menschen, sozusagen ganz "privat" bildet. Im Gegenteil, fast jede Wortbildung oder Bedeutungsverleihung stellt die gemeinsame Arbeit zweier oder mehrerer Menschen dar, die sich angesichts eines und desselben Gegenstandes (eines Dinges oder eines dinglichen Vorganges) oder in einer gemeinsamen Lebenssituation befinden und den Versuch unternehmen, ihn nicht bloß in seiner Natur und in seinen Eigenschaften zu erkennen, sondern ihn auch mit einem in seiner Bedeutung entsprechend gestalteten, identischen Namen zu belegen oder in einem Satz zu beschreiben. Verständlich für die beiden Menschen wird dieser Name oder der Satz eben im Hinblick auf den gemeinsam betrachteten Gegenstand. 19 Wenn man in einer wissenschaftlichen Forschung genötigt ist, einem neuen Ausdruck einen neuen Sinn (einen Begriff) zu verleihen, so wird er erst dann für andere verständlich, wenn er entweder zu anderen bereits verständlichen Bedeutungen in Beziehung gesetzt bzw. auf sie zurückgeführt wird, oder wenn durch eine mittelbare erkenntnismäßige Beziehung zu entsprechenden Gegenständen für andere die Möglichkeit geschaffen wird, eine unmittelbare Erfassung (insbesondere eine Wahrnehmung) des in Frage kommenden Gegenstandes zu erzielen und angesichts seiner die sich auf ihn beziehende Wortbedeutung zu bilden bzw. nachzubilden, und zwar dieselbe, die schon gebildet wurde. Es gibt dann Mittel, dies nachzuprüfen bzw. die möglichen Mißverständnisse aufzudecken und zu beseitigen. Wie groß die zu überwindenden praktischen Schwierigkeiten auch sein mögen, so ist es dennoch unzweifelhaft, daß die Bildung der Bedeutung eines neuen Wortes sich letz-

19 Dies haben die Sprachlehrer, die die sogennante "direkte Methode" zum Erlernen fremder Sprachen ausgedacht haben, längst verstanden und auch sehr subtile Methoden ausgebildet, um sogar die Bedeutungen sehr abstrakter Wörter dem Schüler beizubringen, ohne zu sprachlichen Definitionen zu greifen. Es ist natürlich weiter zu erforschen, wie man zu der Überzeugung gelangen kann, daß mehrere Personen denselben Gegenstand wahrnehmen und sich seiner Identität versichern können. Das sind aber die letzten prinzipiellen Fragen in der Klärung der Möglichkeit einer "objektiven" Erkenntnis; Fragen, die noch nicht befriedigend beantwortet wurden. Ihre unbefriedigende Beantwortung kann uns aber Uber das anschauliche Haben der identischen gemeinsamen Welt nicht hinwegtäuschen. Aber die Antwort wäre unmöglich, wenn wir nicht Uber eine gemeinsame, allen Mitgliedern derselben Sprachgemeinschaft verständliche Sprache verfügten.

30

I. Funktionen

des

Erkennens

ten Endes immer in geistiger Zusammenarbeit mehrerer Bewußtseinssubjekte und in gemeinsamem, unmittelbar erkenntnismäßigem Kontakt mit entsprechenden Gegenständen vollzieht. Das auf diesem Wege entstehende sinnvolle Wort ist also immer von vornherein ein intersubjektives

und in seinem Sinn

intersubjektiv zugängliches Gebilde und nicht etwas, das eine "private" Bedeutung besäße, die man erst durch Beobachtung fremden Verhaltens erraten müßte. Worte sind auch keine völlig isolierten Gebilde, sondern sie sind immer Glieder eines sprachlichen

Systems,20

so lose auch dieses System im

einzelnen Fall sein mag. Jedenfalls besitzt ein solches sprachliches System sowohl phonetisch als auch [auf] dem Gebiet der Bedeutung gewisse charakteristische Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten, welche für die Bewahrung der Identität einzelner Wortbedeutungen sowie für ihre Determinierung eine entscheidende Rolle spielen. Ein solches Sprachsystem ist - neben der Berufung auf die unmittelbare Erfahrung derselben Gegenstände - das zweite ergiebige Mittel der Verständigung über die identischen Bedeutungen der Worte, die zu einer und derselben Sprache gehören. Die Kenntnis einer Sprache beschränkt

sich

nicht nur auf

die

Kenntnis

einer

großen

Mannigfaltigkeit von Wortbedeutungen in dieser Sprache, sondern bezieht sich auch auf die mannigfachen Regelmäßigkeiten, die die betreffende Sprache beherrschen. Das zunächst unverständliche Wort tritt mit einer Reihe anderer Worte zusammen auf, mit denen es vermittels verschiedener syntaktischer Funktionen oder inhaltlicher Beziehungen verbunden ist. Diese Beziehungen erlauben uns oft die Bedeutung des betreffenden Wortes, wie man sagt, "aus dem Kontext" zu erraten, und zwar nicht nur so, wie sie etwa isoliert im Wörterbuch steht, sondern auch in der vollen, entsprechend nuancierten Gestalt, die sie im Kontext annimmt. Alle diese Hilfsmittel, die übrigens in der philologischen Praxis gut bekannt sind, zeigen, daß das Herausfinden

Daß die Sprache (eine bestimmte Sprache) ein geordnetes System bestimmter Bedeutungen mit bestimmten Regelmäßigkeiten und Zusammenhängen bildet, ist die Grundbehauptung Karl Bühlers. Auch Kasimir Ajdukiewicz, der polnische Logiker, hat sich mit diesem Problem befaßt (vgl. "Sprache und Sinn", Erkenntnis,

vol. IV, H.2, 1934). Er hat sich aber nicht

mit der lebendigen Umgangssprache, sondern mit künstlichen Sprachen deduktiver Systeme beschäftigt. Er ist auch auf die Bedingung der Möglichkeit einer intersubjektiv verständlichen Sprache nicht eingegangen. Er hatte dabei die Idee eines geschlossenen systems entwickelt, die ganz bestimmt nicht für alle "Sprachen" gilt.

Sprach-

§ 8. Wortbedeutungen,

Satzsinne

31

derjenigen Bedeutung des Wortes, die es im Kontext besitzt, bei einer relativ guten Kenntnis der betreffenden Sprache nicht unmöglich und auch nicht derart schwierig ist, wie dies in psychologischer Theorie manchmal behauptet wird. Die Tatsache, daß eine in Gebrauch befindliche Sprache ein geordnetes System von Bedeutungen bildet, die in gewissen bestimmten, formalen und sachlichen Zusammenhängen miteinander stehen und auch verschiedene Funktionen in den Bedeutungseinheiten höherer Stufe und insbesondere in den Sätzen ausüben können, wird durch das Vorhandensein mehrerer verschiedener Grundarten der Wörter ermöglicht, welche sich sowohl durch formale Momente (Formen im grammatikalischen Sinne) als auch durch einen anderen Aufbau ihrer Bedeutung voneinander unterscheiden. Im Hinblick darauf unterscheidet man: 1. Namen, 2. verba finita und 3. funktionierende Wörter oder kürzer: Funktionswörtchen. 21 Die wichtigste Funktion der Bedeutung der Namen liegt in der intentionalen Hervorbringung des Gegenstandes des Namens. Er bestimmt ihn in seiner Form (ob er ein Ding, ein Vorgang oder ein Ereignis ist, z.B. ein Baum, eine Bewegung oder ein Schlag), in seiner qualitativen Beschaffenheit (also hinsichtlich dessen, was für ein und ein wie beschaffener Gegenstand er ist) und endlich in seiner Seinsweise (ob er als ein realer oder idealer oder etwa möglicher Gegenstand gemeint ist). Zum Beispiel: der Name "Baum" bezeichnet ein Ding im Seinscharakter der Realität; eine Wendung wie "die Ähnlichkeit der mathematischen Dreiecke" bezeichnet ein ideales Verhältnis zwischen bestimmten mathematischen Gegenständen; der Name "Wahrnehmbarkeit" bezeichnet eine bestimmte Möglichkeit usw. Zu jedem Namen gehört ein bestimmter rein intentionaler

Gegen-

stand, der in seinem Sein, seiner Form und im Bestand der ihm zugewiesenen materialen Bestimmtheiten von der Bedeutung des betreffenden Namens abhängig ist. Von ihm ist der von der Bedeutung des Namens seinsunabhängige Gegenstand zu unterscheiden, auf welchen der Name angewendet werden kann und der - falls er überhaupt existiert - eben im echten Sinn real oder ideal oder sonst etwas ist. Es gibt natürlich Fälle, wo ein Name zwar ei11 Vgl. dazu Das literarische

Kunstwerk,

§ 15. Zu beachten ist, daß auch die Namen und die

verba finita verschiedenartige syntaktische und logische Funktionen ausüben, wenn sie Glieder seinsmäßiger Gebilde sind. Diese Funktionen werden durch grammatikalische "Formen" sowohl der Namen als auch der Zeitwörter ausgeübt.

32

/. Funktionen des Erkennens

nen rein intentionalen Gegenstand, aber gar keinen als sein Korrelat entsprechenden (zugehörigen) seinsautonomen Gegenstand besitzt, wie z.B. der Name: Zentaur. Da springt uns gerade die reine Intentionalität des Gegenstands klar ins Auge. Im Gegensatz dazu bilden die Funktionswörtchen - wie z.B. "ist" (als Copula beim Erkennen, im Aussagesatz), "oder", "und", "zu", "jeder", "bei" mit ihrem Sinn gar keinen intentionalen Gegenstand, sondern sie dienen lediglich zum Vollzug verschiedener Funktionen, sei es in bezug auf die Bedeutungen anderer Wörter, mit denen sie zusammen auftreten, sei es in bezug auf die Gegenstände der Namen, die sie verbinden. So verbindet das zwischen zwei Namen stehende Wörtchen "und" (Hund und Katze) diese Namen miteinander zu einer Bedeutungseinheit höherer Stufe und schafft korrelativ eine gewisse intentionale Zugehörigkeit der Gegenstände dieser Namen zueinander. Das "und" kann aber *ebensowohl* zwei Sätze verbinden, die dann aufhören, selbständige Sätze zu sein, und sich in Glieder eines zusammengesetzten Satzes verwandeln. Neben den syntaktischen Funktionen, welche durch andere Wörter - Namen und Zeitwörter - vermöge ihrer grammatikalischen Formen und ihrer Anordnung im Satz vollzogen werden, spielen die von den Funktionswörtchen ausgeübten Funktionen eine bedeutende Rolle in der Bildung der Sätze sowie ihrer Zusammenhänge. Ebenso wichtig sind in dieser Hinsicht die bestimmten Zeitwörter, als das wichtigste satzbildende oder satz-mit-bildende Element der Sprache. Erst ihnen - wenn auch nicht ihnen allein - verdankt man die Bestimmung der Sachverhalte als rein intentionaler Satzkorrelate. In ihren verschiedenen Gestalten (Formen), in Verbindung mit mannigfachen syntaktischen Funktionen der Funktionswörtchen, bringen sie eine sehr große Mannigfaltigkeit der Satzstrukturen und der Satzzusammenhänge hervor und korrelativ eine Mannigfaltigkeit der intentionalen Satzkorrelate, insbesondere der Sachverhalte und ihrer Zusammenhänge. Die Sätze verbinden sich auf verschiedene Weise miteinander zu Sinneinheiten höherer Stufe, die eine sehr verschiedene Struktur aufweisen, wodurch solche Ganzheiten, wie z.B. eine Erzählung, ein Roman, ein Gespräch, ein Drama, eine wissenschaftliche Theorie entstehen. 22 Ande77

Das hier Angedeutete habe ich etwas breiter in meinem Literarischen Kunstwerk [§ 15, Punkte b) und c)] dargestellt. Die Sachlage ist sehr verwickelt und erfordert eine umfangreiche und schwierige Untersuchung. Hier beschränke ich mich auf eine sehr oberflächliche

§ 8. Wortbedeutungen,

Satzsinne

33

rerseits bilden sich nicht nur die den einzelnen Sätzen entsprechenden Sachverhalte, sondern auch ganze Systeme von Sachverhalten sehr verschiedener Typen, wie gegenständliche Situationen, komplizierte Prozesse zwischen den Dingen, Konflikte und Übereinstimmungen zwischen ihnen usw. Letzten Endes entsteht eine gewisse Welt mit so oder anders bestimmten Bestandteilen und den sich in ihnen vollziehenden Wandlungen - all dies als ein rein intentionales Korrelat eines Satzzusammenhangs. Bildet dieser Zusammenhang schließlich ein literarisches Werk, dann nenne ich den ganzen Bestand an zusammenhängenden intentionalen Satzkorrelaten die im Werk "dargestellte Welt". Kehren wir aber zu der Frage zurück, worauf das Verfahren des Verstehens beruht. Im Moment der Erfassung des Wortlauts, bzw. einer ganzen Mannigfaltigkeit der Wortlaute, bildet das Auffinden 23 gerade derjenigen Bedeutungsintention des Wortes, die ihm in einer Sprache zukommt, den ersten Schritt des Verstehens. Diese Intention kann in zwei verschiedenen Weisen auftreten: entweder in einer für das isolierte Wort charakteristischen Weise oder in einer, in welcher das Wort Glied einer höheren Bedeutungseinheit ist. Die Bedeutung des Wortes unterliegt einer - in vielen Fällen regelmäßigen Wandlung, j e nach dem Kontext, in dem es sich gerade befindet. 24 Insbesondere bereichert es sich um speziell operative Intentionen, welche die syntaktischen Funktionen vollziehen, die durch die Struktur der entsprechenden Bedeutungseinheit höherer Ordnung sowie durch die Stelle bestimmt werden, an

Skizze. Entsprechend entwickelt führte sie zu einer Theorie der Sprache, andererseits zu einer formalen Ontologie der Seinsgebiete. 23

Man darf dieses Auffinden der Wortbedeutung im normalen Fall nicht so verstehen, als ob dabei diese Bedeutung das Objekt einer gesonderten Betrachtung wäre. So etwas ist natürlich ebenfalls möglich, kommt aber nur dort vor, wo wir es mit einem uns völlig unbekannten Wort zu tun haben, oder wenn wir in theoretischer Einstellung die Wortbedeutung auf besondere Weise betrachten, sie etwa analysieren oder mit anderen Bedeutungen vergleichen. Dies ist aber bei einem schlichten Lesen und Verstehen des Textes gar nicht notwendig und findet einfach nicht statt. Wenn wir es mit einer bekannten Sprache zu tun haben, dann erfassen wir sofort die entsprechende Bedeutung, ohne sie zum Objekt zu machen. Wie das aber geschieht, werden wir gleich erläutern.

24

Vgl. dazu I.e. § 17.

I. Funktionen des Erkennens

34

welcher das betreffende Wort in ihr steht. B e i m Verstehen eines Textes können wir die Bedeutungsintentionen in der einen oder in der anderen Gestalt vorfinden. In allen Fällen aber, in welchen das betreffende Wort nur als Glied eines Satzgefüges fungiert, wäre das Auffinden der Bedeutung in der Gestalt, in welcher sie beim isolierten Wort vorkommt, weder empfehlenswert noch textgetreu. Merkwürdig ist indessen, daß man in solchen Fällen die Bedeutungen der einzelnen Worte ohne weiteres in derjenigen Gestalt, die sie im Kontext haben, erfaßt. Gewöhnlich geschieht dies ohne besonderen Z w a n g , aber auch ohne Widerstand, nicht immer aber mit derselben Geläufigkeit. Nur ganz ausnahmsweise sind wir auf die Entdeckung der lexikalischen Bedeutung der Worte eingestellt. 2 5 Das sich ohne Stocken vollziehende Auffinden der Bedeutungsintention ist im Grunde nichts anderes als eine Aktualisierung

dieser Intention. Das

heißt: indem ich einen Text verstehe, denke ich den Sinn des gelesenen Textes. Ich entnehme ihn sozusagen dem Text und verwandle ihn in die aktuelle Intention meines verstehenden Denkaktes, 2 6 in eine Intention, welche mit der im Text auftretenden Wort- bzw. Satzintention identisch ist. Dann wird der Text wirklich "verstanden". Dies gilt natürlich nur dann, wenn das gelesene Werk in der sog. Muttersprache oder wenigstens in einer dem Leser vollkommen geläufigen Sprache geschrieben ist. Dann braucht der Text nicht in die eigene Sprache des Lesers übersetzt zu werden, sondern wird sofort in der Sprache des Textes gedacht. 2 7

IC Diese lexikalische Gestalt der Wortbedeutung ist übrigens im Grund nur eine künstliche Bildung der Sprachanalyse und nicht die ursprüngliche Gestalt der Wortbedeutung, welche in der lebendigen Sprache immer Glied einer Spracheinheit ist. Das Wort wird in der lexikalischen Gestalt fast immer sehr vieldeutig, während diese Vieldeutigkeit in der konkreten Verwendung des Wortes in größeren Spracheinheiten verschwindet. Husserl würde sagen: des "signitiven Aktes". Vgl. Husserl, Logische 27

Untersuchungen,

Bd.

II, V. Unters, passim. Dieser Unterschied wird gewöhnlich übersehen oder nicht genug beachtet, er ist aber für die textgetreue Erfassung des Werkes sehr wesentlich. Denn nur beim Lesen des Werkes direkt in der Sprache, in welcher das Werk geschrieben ist, ist es möglich, den verschiedenen primitiv emotionalen Charakter der Wörter und Wendungen, die eigentümliche Sprachmelodie sowie alle subtilen Nuancen des Sinnes zu erfassen, die der Text mit sich bringt und die in einer anderen Sprache oft gar kein Äquivalent finden.

S 8. Wortbedeutungen,

35

Satzsinne

Erst dort, wo die Sprache des Werkes dem Leser nicht ohne weiteres verständlich ist, muß er die Bedeutungen der einzelnen Wörter nacheinander und einzeln suchen, sie (manchmal mit Hilfe eines Wörterbuches) finden und sie erst dann - nach einer entsprechenden Ausdeutung des Sinnes - miteinander zu einem satzmäßigen Ganzen "verbinden". So liest man manchmal alte lateinische Texte, ohne die Fähigkeit zu haben, sie einfach lateinisch zu denken (wobei auch der Umstand, daß Latein zu den sog. "toten" Sprachen gehört, eine große Rolle spielt). Im Grunde verstehen wir dann den Text, indem wir ihn in die eigene Sprache übersetzen und kontrollieren nur nach, ob uns dies richtig gelungen ist. Schon abgesehen davon, daß die Übersetzung nie ganz adäquat ist (was ein Problem für sich ist), ist der Verlauf des Lesens selbst in den beiden verglichenen Fällen ganz verschieden. Im ersten Fall nehmen wir die Bedeutungen der einzelnen Wörter so auf, daß wir sofort ganze Sätze denken. Dieses "sofort" soll natürlich nicht so verstanden werden, als ob sich dieses Satz-Denken auf einmal, in einem Moment vollzöge oder als ob das Denken einzelner Worte für das verstehende Denken der ganzen Sätze entbehrlich wäre. Denn jedes Denken eines in Worten explicite formulierten Satzes erfordert zu seinem Vollzug eine kurze Zeitphase, und andererseits muß man beim Denken des Satzes die in seinen Bestand eingehenden Wortbedeutungen denkend passieren. Die von uns verstandenen ersten Worte eines Satzes regen uns zur Entfaltung einer satzbildenden Operation, 28 eines speziellen Denkstromes an, in dem der Satz entfaltet wird. Einmal in Bewegung, in den Gedankenablauf des Satzes versetzt, denken wir ihn als eine Ganzheit für sich, und die einzelnen Wortbedeutungen fügen sich in den Satzfluß (wenn es erlaubt ist, so zu sagen) als dessen für sich nicht abgegrenzte Phasen von selbst ein, und sie können es nur, wenn sie sofort in denjenigen Nuancen des Sinnes, die für sie

Über die satzbildende Operation habe ich zuerst in dem Buch Das literarische

Kunstwerk

[§18] gesprochen. Ihr eigentümlicher Verlauf und ihre möglichen Abwandlungen müßten noch genauer ausgearbeitet werden. Aber auch in jener skizzenhaften Art, in der sie damals von mir behandelt wurde, ist der Hinweis auf ihre Existenz für das Verständnis der Einheit des Satzes und zugleich für die Möglichkeit des Erfassens der Sachverhalte von großer Bedeutung. Gerade weil Franz Brentano in seiner Klassifikation

der psychischen

Phänomene

[Leipzig 1911] für einheitliche Operationen, die über die Phase der einen Gegenwart hinausreichen. keinen Platz gefunden hat, war es ihm auch unmöglich, das Bestehen der Sachverhalte anzuerkennen, was dann später zu der konfusen Theorie des "Reismus" geführt hat.

36

I. Funktionen des Erkennens

als Glieder des betreffenden Satzes charakteristisch und unentbehrlich sind, gedacht werden. Dies ist nur deswegen möglich, weil die satzbildende Operation nichts anderes als der Vollzug eines Systems der syntaktischen Funktionen besonderer Art ist, welche von den in den betreffenden Satz eingehenden Wörtern erfüllt werden. Wenn wir aber einmal in den Fluß des Satzdenkens versetzt sind, sind wir bereit, nach dem Vollzug des Denkens des einen Satzes, auch die "Fortsetzung" wiederum in der Form eines Satzes zu denken, und zwar als eines Satzes, der mit dem soeben gedachten Satz in Zusammenhang steht. So schreitet der Vorgang des Lesens eines Textes mühelos fort. Wenn aber der darauf folgende Satz zufälligerweise mit dem soeben gedachten Satz in gar keinem fühlbaren Zusammenhang steht, dann kommt es im Strom des Denkens zu einer Hemmung. Dieser Hiatus ist mit einer mehr oder weniger lebhaften Verwunderung oder mit Unwillen verbunden. Diese Hemmung muß überwunden werden, soll es aufs neue zu fließendem Lesen kommen. Gelingt dies, dann wird jeder folgende Satz als Fortsetzung der vorangehenden Sätze verstanden. Was da "fortgesetzt" bzw. entwickelt wird, ist ein Problem für sich, und seine Lösung hängt vom Aufbau des gegebenen Werkes ab. Wichtig ist aber momentan nur, daß es so etwas wie einen Prospekt auf neue Sätze gibt. Und die fortschreitende Lektüre tut nichts anderes, als das sich eben Ansagende effektiv zu aktualisieren, es uns gegenwärtig zu machen. In dieser Einstellung auf das, was da kommt, und bei dem Versuch, dieses Kommende zu aktualisieren und zu explizieren, verlieren wir zugleich das soeben Gelesene nicht völlig aus dem Blick. Die bereits gelesenen Sätze denken wir freilich beim Denken des darauffolgenden Satzes nicht mehr lebendig weiter fort. Trotzdem aber wird der Sinn des soeben verstandenen Satzes (und in beschränktem Maße auch einiger vorangehender Sätze) sowie der Laut der soeben ausgesprochenen Worte noch peripher in der Gestalt eines "Nachklanges" erlebt. Dieser "Nachklang" hat unter anderem zur Folge, daß der eben jetzt gelesene Satz sich in seinem Sinn konkretisiert, d.h., daß er gerade diesen nuancierten Sinn bekommt, den er als Fortsetzung der vorangehenden Sätze haben soll. Denn auch die Sätze sind, wie nähere Analysen zeigen, nur bis zu einem gewissen Grade von anderen Sinneinheiten des Textes unabhängig und erlangen ihren vollen, entsprechend nuancierten Sinn erst als Glieder einer Satzmannigfaltigkeit. Der Sinn des Satzes vervollkommnet sich und paßt sich dem Sinn der vorangehenden Sätze an. Aber nicht nur dem der

§ 8. Wortbedeutungen,

Satzsinne

37

vorangehenden. Auch der Sinn mancher Sätze, die erst nachfolgen werden, kann den Sinn des jetzt gelesenen Satzes mitbestimmen, ihn ergänzen oder modifizieren. Dies geschieht während der Lektüre in deutlicherer Weise, wenn wir von vornherein die weiteren Teile des Werkes (z.B. beim wiederholten Lesen) kennen. Bei der ersten Lektüre fällt dies nicht so auf, es sei denn, die bereits gelesenen Sätze seien der Art, daß sie den Sinn der darauffolgenden Sätze in Umrissen vorauszusehen gestatten. Gewöhnlich zeigt es sich aber erst nach der vollzogenen Lektüre einer Reihe aufeinanderfolgender Sätze. In diesem Fall kehren wir rasch überblickend gedanklich zu den bereits gelesenen Sätzen zurück, deren eigentlicher Sinn sich uns erst in diesem Moment enthüllt, und wir denken sie explicite aufs neue im neuen, ergänzten oder koordinierten Sinn. Manchmal kann dies aber auch gewissermaßen automatisch geschehen, ohne eine besondere Rückkehr und ein explizites Neudenken der Sätze. Diese soeben festgestellte Tatsache kann als ein Argument dafür dienen, daß der Sinn wenigstens einiger bereits gelesener Sätze für den Leser nicht vollständig verschwindet, sondern ihm in der Gestalt eines "Nachklanges" auf periphere Weise noch bei der Lektüre der nachfolgenden Sätze mitbewußt wird. Bei entsprechend durchgeführter Lektüre organisiert sich der Inhalt des Werkes quasi automatisch zu einem innerlich zusammenhängenden, sinnvollen Ganzen höherer Stufe und ist nicht eine bloße zusammengewürfelte Anhäufung einzelner voneinander völlig unabhängiger Satzsinne. Eine bedeutende Rolle spielen dabei die verschiedenen Funktionen der speziell diesem Zwecke dienenden Funktionswörtchen, wie "weil", "also" oder "folglich". Der Sinnzusammenhang zwischen mehreren Sätzen kann sich auch implicite, ohne solch ausdrücklich ausgesprochene Wörter, vermöge des materiellen Inhalts der Namen und der Zeitwörter konstituieren. Erst dann, wenn es uns gelingt, alle Faktoren, die der Text liefert, zu nutzen und zu aktualisieren sowie das organisierte sinnvolle Ganze des betreffenden Werkes im Einklang mit den in ihm selbst, in seiner Bedeutungsschicht enthaltenen Sinnintentionen zu konstituieren, verstehen wir wirklich den Inhalt des Werkes. 29 Natürlich 2Q Der Begriff des "Inhalts" im Gegensatz zur "Form" ist bekanntlich sehr vieldeutig. Ich habe auch versucht, die verschiedenen Begriffe gegenüberzustellen und, soweit es geht, zu präzisieren. (Vgl. u.a. "The General Question of the Essence of Form and Content," Journal of Philosophy, Vol. LVII, No. 7, March 31, 1960). Im Text bediene ich mich eines dieser Be-

38

I. Funktionen

des

Erkennens

gelingt uns dies nicht immer. Vor allem gelingt uns dies oft nicht ohne eine besondere Betrachtung des Sinnes der einzelnen, nicht sofort klaren Sätze und ohne das Zurückgreifen auf Sätze, die wir bereits gelesen haben und deren Sinn eventuell korrigiert werden muß. Auch der Zusammenhang der Sätze kann manchmal unklar sein und erfordert dann seinerseits eine Überlegung, um klargestellt zu werden. Hilft aber auch dies nur wenig, so verstehen wir den Text trotz aller Bemühungen nicht; er enthält als weiße Flecken eine Reihe unverständlicher Sätze, die man nicht recht zu verbinden weiß. Wenn es aber auch endlich gelungen ist, alle Schwierigkeiten zu überwinden, so daß man behaupten darf, das Ganze zu verstehen, so gibt diese Weise *der verstehenden Lektüre* die eigene Gestalt des Werkes in ihrer ursprünglichen Form kaum wieder. Der natürliche Fluß der sich nacheinander entwickelnden Satzsinne wird durch diese Leseweise unterbrochen, und die dem Werk eigene Dynamik der Entfaltung des Sinnes im natürlichen Nacheinander seiner Teile wird tangiert oder gar zerstört und ist kaum mehr sichtbar. Bei einem wissenschaftlichen Werk braucht dies oft keine größere Bedeutung zu haben; bei einem literarischen Kunstwerk dagegen wird dadurch mindestens die ästheti-

griffe, der mir der einzig gerechtfertigte und zum Zweck einer Analyse des literarischen Werkes nützliche zu sein scheint. Der "Inhalt" des literarischen Werkes wird als das organisierte Sinnganze

des Werkes genommen, das die Bedeutungsschicht des Werkes bildet.

Natürlich gehört zu diesem "Inhalt" auch eine "Form", in der es steht. Das ist eben nichts anderes als die Weise, in welcher der Inhalt im betreffenden Werk zu diesem Ganzen organisiert ist. Die Form der Bedeutungsschicht muß von den Formen anderer Schichten sowie von der Form des ganzen Werkes, also der Gesamtheit der Schichten in ihrer Struktur der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes unterschieden werden. Jeder dieser Begriffe läßt sich eindeutig bestimmen. Nur darf man diesen verschiedenen "Formen" nicht den "Inhalt" des Werkes im ganzen gegenüberstellen, sondern diesen Begriff für das organisierte der Bedeutungsschicht

Ganze

gelten lassen. Die Bestimmung der verschiedenen "Formen", die

sich im literarischen Werk unterscheiden lassen, und die Klärung ihrer verschiedenen Beziehungen erfordert eine besondere Untersuchung, die hier nicht durchgeführt werden kann. Sie bildet den einzigen Weg, um aus der heillosen Verwiming, die in den Diskussionen über das "Form-Inhalt-Problem" gegenwärtig herrscht, herauszukommen. Vgl. meine Untersuchungen im II. Band der Studien zur Ästhetik (poln. 1957/58) u. d. T. "O formte i tresci dziela sztuki literackiej" (Über die Form und den Inhalt im literarischen Kunstwerk), S. 343-473 [deutsche Kurzfassung "Das Form-Inhalt Problem im literarischen Kunstwerk" in: R. Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk und Wert, Tübingen 1969, S. 31-50].

§ 9. Passives, aktives

Lesen

39

sehe Wirkung des Werkes auf den Leser wesentlich modifiziert. Und wenn das Werk infolge seiner eigenen Unklarheiten und Unordnung nicht anders gelesen werden kann, dann wird sein ästhetischer Aspekt dadurch wesentlich beeinträchtigt. Ob diese Unklarheiten zufällige Mängel oder beabsichtigte Züge des Werkes sind, spielt hier keine Rolle. Zum Schluß noch eine Bemerkung: Die Aussagesätze im literarischen Kunstwerk können im Prinzip auf doppelte Weise gelesen werden: entweder als Urteile über eine vom Werk seinsunabhängige Wirklichkeit oder als Sätze, die nur dem Anschein nach Behauptungen sind. Im ersten Fall beziehen wir uns gedanklich sofort (direkt) auf Gegenstände (Dinge, Sachverhalte, Vorgänge, Ereignisse), die nicht zum Werk selbst gehören und die, dem Sinn der so verstandenen Aussagesätze gemäß, in Wirklichkeit existieren und so sein sollen, wie sie gemeint sind. Eben dadurch geht man Uber den Seinsbereich des literarischen Werkes hinaus, während die im Werke selbst dargestellten Gegenständlichkeiten aus dem Gesichtskreis des Lesers gewissermaßen verschwinden. Sie werden "transparent", durchsichtig, so daß sich der "Sehstrahl" der Meinung des Lesers an ihnen nicht aufhält, nicht auf ihnen ruht. Im zweiten Fall dagegen wendet man sich mit dem Meinungsakt, in dem der betreffende Satz gedacht wird, den im Werke selbst dargestellten Gegenständlichkeiten zu. Man verbleibt dadurch im Bereich des Werkes selbst, ohne sich für eine außer-literarische Wirklichkeit zu interessieren. Diese zweite Deutung der im literarischen Kunstwerk auftretenden Aussagesätze ist ihm gemäß. Ich werde später noch darauf eingehen. Im folgenden suche ich die Erlebnisse des Kennenlernens und Erfassens des literarischen Kunstwerks zu beschreiben, wie sie bei der zuletzt angedeuteten Einstellung des Lesers verlaufen.

§ 9. Passives u n d aktives Lesen Die bereits beschriebenen Tätigkeiten, die man während des Lesens vollzieht, erschöpfen den zusammengesetzten Vorgang noch nicht, den wir das Erkennen des literarischen Werkes nennen. Sie bilden vielmehr nur das unentbehrliche Mittel zum Vollzug eines neuen erkenntnismäßigen Verfahrens, das für die Erkenntnis des literarischen Werkes viel bedeutender als die bisher

40

1. Funktionen des Erkennens

besprochenen Tätigkeiten ist, und zwar der intentionalen Rekonstruktion und dann der Erkenntnis der im Werk dargestellten

Gegenständlichkeiten.

Jedes Verstehen der Bedeutungseinheiten des literarischen Werkes (der Worte, Sätze, Satzzusammenhänge oder *-gefüge*) besteht, wie schon angedeutet, im Vollzug der entsprechenden signitiven Akte und führt eo ipso zum intentionalen Entwerfen ihrer Gegenstände bzw. der intentionalen Gegenstände der betreffenden Bedeutungseinheiten. Es scheint also auf den ersten Blick, daß das sich im schlichten Lesen vollziehende Verstehen selbst dazu ausreicht, die Schicht der im Werk dargestellten Gegenständlichkeiten für den Leser zu konstituieren. Eine nähere Betrachtung zeigt indessen, daß sich die Sache doch anders verhält. Vorläufig sind zwei verschiedene Weisen des Lesens des literarischen Werkes zu unterscheiden: das schlichte, rein passive (aufnehmende) und das aktive Lesen. Jedes Lesen ist, natürlich, eine vom Leser bewußt unternommene Tätigkeit und nicht ein bloßes Erleben, Empfangen von etwas. Trotzdem beruht in manchen Fällen das ganze Bemühen des Lesers lediglich auf dem Denken der Sinne der gelesenen Sätze (ohne dieselben zu Objekten zu machen) und einem - wenn man so sagen darf - Verbleiben in der Sphäre des Sinnes. Es fehlt dagegen der geistige Versuch, von den gedachten Sätzen zu den ihnen zugehörigen, durch sie entworfenen Gegenständen überzugehen. Diese Gegenstände werden freilich immer von selbst durch die Satzsinne, bzw. die Bedeutungen, intentional entworfen. Beim rein passiven Lesen versucht man aber nicht, sie zu erfassen und insbesondere synthetisch zu gestalten. Dazu kommt es überhaupt nicht und infolgedessen auch zu keiner Form des - wenn auch nur fiktiven - Verkehrs mit den Gegenständen. Diese rein passive, bloß aufnehmende und öfters auch mechanische Weise des Lesens kommt relativ oft vor, sowohl bei der Lektüre literarischer Kunstwerke als auch wissenschaftlicher Werke. Man weiß noch, was man liest, obwohl der Bereich des Verstehens sich dann oft nur auf den eben gelesenen Satz beschränkt. Indessen bringt man sich das, worüber man liest und wie es beschaffen sei, nicht mehr zu klarem Bewußtsein. Man ist mit dem Vollzug des Satzsinnes selbst beschäftigt und eignet sich ihn nicht auf die Weise an, daß man in der Lage wäre, sich mit seiner Hilfe in die Gegenstände selbst zu versetzen. Man ist dabei durch den Sinn der einzelnen, gerade gelesenen Sätze

§ 9. Passives, aktives Lesen

41

zu sehr gebunden. Man liest - wie oft gesagt wird - "Satz für Satz", und jeder dieser Sätze wird allein für sich, isoliert verstanden, ohne daß es zu einem synthetischen Zusammenfassen des jetzt gelesenen Satzes mit anderen, manchmal ziemlich weit von ihm gelegenen Sätzen kommt. Wenn man nach einer solchen Lektüre aufgefordert würde, eine kurze Inhaltsangabe des gelesenen Stückes zu machen, so könnte man es nicht. Bei entsprechend gutem Gedächtnis vermöchte man vielleicht noch, den gelesenen Text in gewissen Grenzen zu wiederholen. Das ist aber auch alles. Eine gute Kenntnis der Sprache des Werkes, eine gewisse Übung im Lesen, eine stereotype Struktur der Sätze - all das bewirkt, daß das Lesen sich in vielen Fällen ganz "mechanisch", ohne eine persönliche Teilnahme der Aktivität des Lesers abspielt, obwohl gerade er ein "Leser" ist. Es ist schwierig, den Unterschied zwischen dem passiven, rein aufnehmenden und dem "aktiven" Lesen zu beschreiben, weil wir beim passiven Lesen die Sätze doch denken, so wie wir sie auch beim "aktiven" Lesen denken. Es scheint also in beiden Fällen Aktivität vorzuliegen. Diese verschiedenen Weisen des Lesens ließen sich vielleicht besser gegenüberstellen, wenn es erlaubt wäre zu sagen, daß man beim bloß aufnehmenden Lesen die Sinne der gelesenen Sätze nicht im Vollzug der entsprechenden signitiven Akte denkt, sondern *sie* gewissermaßen nur erlebt oder empfindet,

während es

demgegenüber erst beim aktiven Lesen zum Vollzug der signitiven Akte kommt. Indessen stellt sich die Sachlage nicht so einfach dar, denn in beiden Fällen werden Denkakte vollzogen und der Unterschied besteht lediglich in der Weise, wie sie vollzogen werden. Am schwierigsten ist es aber, diese Weise zu beschreiben. Wollte man sagen, daß im "aktiven" Lesen nicht bloß die Satzsinne verstanden werden, sondern daß es auch zu einer Erfassung ihrer Gegenstände und zu einer Art Verkehr mit ihnen kommt, so wird die Zustimmung durch eine Theorie erschwert, welche im naiv-empirischen bzw. positivistischen Realismus ihre Quelle hat. Man glaubt nämlich, daß wir nur dann mit Gegenständen verkehren können, a) wenn diese real sind, b) wenn wir sie als fertige Gegenstände einfach vorfinden, ohne dabei noch etwas zu tun zu haben, wenn wir also das Vorgefundene nur zu begaffen haben. Es wird dabei ohne weiteres vorausgesetzt, daß jenes Vorfinden lediglich im sinnlichen Wahrnehmen und höchstens noch im inneren Wahrnehmen statthaben kann. Erfährt man also

42

I. Funktionen des Erkennens

von einem Gegenstand ausschließlich beim Verstehen einiger Sätze, so kann man eo ipso nicht unmittelbar mit ihm verkehren. A fortiori scheint dies in allen Fällen ausgeschlossen zu sein, in denen - wie in der überwiegenden Mehrzahl der literarischen Kunstwerke - von Dingen und Ereignissen die Rede ist, die in Wirklichkeit nie existiert bzw. nie stattgefunden haben. Indessen ist es vor allem nicht wahr, daß wir beim sinnlichen Wahrnehmen der Dinge und Vorgänge in der uns umgebenden realen Welt diese nur beim rein passiven "Begaffen" erkennen. Im Gegenteil, um diese Dinge wirklich zu erkennen, müssen wir eine Reihe oft komplizierter und miteinander zusammenhängender Akte vollziehen, die eine ziemlich hohe Aktivität und Aufmerksamkeit von uns erfordern und uns auf Grund der Materialien, die uns durch eine ganze Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen geliefert werden, schließlich zu dem wahrgenommenen realen Gegenstand hinführen. Und erst mit diesem uns so zugänglich gemachten Gegenstand verkehren wir unmittelbar als mit etwas, was wirklich gegeben und selbstgegenwärtig ist. Andererseits ist es auch nicht wahr, daß wir außerhalb des Bereiches der sinnlichen oder inneren Wahrnehmung keine unmittelbare oder mindestens quasiunmittelbare Erkenntnis derjenigen Gegenstände erreichen können, von denen wir vorläufig nur durch das Verstehen gewisser Sätze ein Wissen erlangen. Auf dem Gebiet der Gegenstände einer geometrischen Betrachtung gelangen wir z.B. manchmal durch das Verstehen gewisser Sätze und mit Hilfe der auf eine spezielle Weise modifizierten Vorstellungsakte zu dem unmittelbaren Erfassen gewisser Sachverhalte in den geometrischen Gegenständen sowie notwendiger Zusammenhänge zwischen ihnen. Wenn uns dies nicht gelingen will, so sagen wir, daß wir zwar den Sinn der gelesenen Sätze rein sprachlich verstehen, aber - auch wenn der Beweis geliefert wird - zu keiner echten Überzeugung gelangen, daß es wirklich so sei, wie die betreffende Behauptung besagt, noch uns klar und deutlich zum Bewußtsein bringen können, worum es sich "eigentlich" handelt. Einige von uns drücken das anders aus, indem sie sagen, daß sie in einer solchen Situation zwar "wissen", worum es sich in der betreffenden Behauptung handelt, daß sie aber den Satz in Wahrheit nicht recht verstehen, indem sie das echte Verständnis augenscheinlich erst aus dem anschaulich-unmittelbaren Erfassen des entsprechenden geometrischen Tatbestandes schöpfen.

§ 9. Passives, aktives Lesen

43

Etwas Ähnliches vollzieht sich auch dort, wo gewisse Gegenstände in schöpferisch künstlerischer Einbildung mit Hilfe besonderer Bewußtseinsakte fingiert werden, die zwar rein intentional oder, wenn man will, "fiktiv" sind, die aber gerade infolge der besonderen Aktivität der sie hervorbringenden schöpferischen Akte den Charakter einer eigenständigen Wirklichkeit erwerben. Die einmal so verwirklichten schöpferischen Meinungen werden für uns bis zu einem gewissen Grade bindend. Die ihnen entsprechenden Gegenstände werden in den späteren Phasen des schöpferischen Prozesses als eine von ihnen gewissermaßen unabhängige Quasi-Wirklichkeit entworfen, mit der wir rechnen, an die wir uns anpassen müssen oder die wir - wenn sie uns aus irgendwelchen Gründen nicht befriedigt - erst mit Hilfe eines neuerlichen schöpferischen Aktes umwandeln oder weiter entwickeln und ergänzen müssen. Das Lesen eines literarischen Kunstwerks kann also in dem Sinn "aktiv" durchgeführt werden, daß man den Sinn der gelesenen Sätze mit jener eigentümlich ursprünglichen Urwüchsigkeit und Aktivität denkt, mit der man sich in einer mit-schöpferischen Einstellung in das Gebiet der durch die Satzsinne bestimmten Gegenstände versetzt. Der Sinn schafft in diesem Fall einen Zugang zu den Gegenständen, von denen im Werk die Rede ist. Der Sinn ist, wie Husserl sagt, nur ein "Durchgangsobjekt", das man passiert, um zu dem gemeinten Gegenstand zu gelangen. Genau genommen ist er gar kein "Objekt". Denn wenn wir einen Satz aktiv denken, wenden wir uns nicht seinem Sinn, sondern dem zu, was durch ihn oder in ihm bestimmt oder gedacht wird. Man kann, wenn auch nicht ganz exakt, sagen, daß wir beim aktiven Denken eines Satzes seinen Sinn bilden oder ausführen und, indem wir es tun, eo ipso zu den Gegenständen der betreffenden Sätze, also zu den Sachverhalten (bzw. anderen intentionalen Satzkorrelaten) gelangen und von da aus die Sachen selbst ergreifen, die sich in ihnen anzeigen. Das literarische Kunstwerk enthält neben seinen zwei Schichten der Sprache noch die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten. Um also beim Lesen das ganze Werk zu erfassen, 30 ist es vor allem notwendig, alle seine Schichten zu erreichen und insbesondere die Schicht der dargestellten Gegen-

in Wie sich zeigen wird, ist dies immer nur in einer perspektivischen Verkürzung oder Verschiebung möglich. Darüber später.

44

/. Funktionen des Erkennens

ständlichkeiten. Schon die rein aufnehmende Lektüre enthüllt sie dem Leser, wenigstens in einer gewissen Distanz und im Halbdunkel. Erst das aktive Lesen aber erlaubt dem Leser, sie in ihrer eigenen, charakteristischen Struktur und in der Fülle der Einzelheiten zu entdecken. Dies läßt sich aber nicht durch die bloße Erfassung der einzelnen, zu den Sätzen zugehörigen intentionalen Sachverhalte erreichen. Man muß von diesen Sachverhalten zu ihren verschiedenen Zusammenhängen und dann zu den Gegenständen (Dingen, Vorgängen) übergehen, die in diesen Sachverhalten zur Darstellung gelangen. Um aber nach der Entdeckung und - sit venia verbo - dem Wiederaufbau der Gegenstandsschicht in ihrer oft komplizierten Struktur ihre ästhetische Erfassung zu erlangen, ist es beim aktiven Lesen, wie sich zeigen wird, nötig, sogar über diese Schicht und insbesondere über verschiedene Einzelheiten, die in ihr explicite durch die Satzsinne angedeutet werden, hinauszugehen und das Dargestellte in mancher Richtung zu ergänzen. Und darin erweist sich der Leser gewissermaßen als Mitschöpfer des literarischen Kunstwerks. Besprechen wir das etwas genauer.

§ 10. Objektivierung als der Übergang von den intentionalen Sachverhalten zu den im literarischen Werk dargestellten Gegenständlichkeiten Die direkten (formalen) Objekte der Sätze sind ihre rein intentionalen Korrelate, die noch sehr verschiedener Art und Form sein können und in ihrer Verschiedenheit den mannigfachen Satztypen entsprechen. Insbesondere sind es: Sachverhalte als Korrelate der prädikativen Behauptungssätze, Probleme als Korrelate der Fragesätze usw. 31 Der einzelne intentionale Sachverhalt wird ursprünglich und am genauesten durch den Sinn des betreffenden Satzes bestimmt. Wenn wir also in ei-

-1 I

Eine mehr ins einzelne gehende Analyse der intentionalen Satzkorrelate (insbesondere der Sachverhalte) habe ich im Literarischen Kunstwerk, §§ 20, 28-30 sowie in dem Buch Der Streit um die Existenz der Welt [3 Bde., Tübingen 1964-1974], Bd. II, §§ 52-54 durchgeführt. Die gleichen Probleme habe ich in meinen 'Essentialen Fragen", Jahrbuch f . Philos, [und phänomenologische

Forschung], Bd. VII [1925] behandelt. Hier beschränke ich mich

auf einige Beispiele und skizzenhafte Andeutungen.

§ IO. Sachverhalte

und

45

Gegenstände

nem Einzelfall darauf hinweisen wollen, was den durch einen Satz bestimmten Sachverhalt ausmacht, führt uns das schlichte Denken dieses Satzes direkt zu diesem Sachverhalt hin. Man kann natürlich auf den betreffenden Sachverhalt auch mittelbar, sozusagen "von außen" her hinweisen, d.h. wenn wir über das Denken des Satzes hinausgehen und uns in einem neuen Akt des Meinens auf den Sachverhalt des bereits gedachten Satzes beziehen. Dies geschieht aber bereits unter gewissen formalen Umwandlungen des Sachverhalts. Der Satz: "Krakau, die alte Hauptstadt Polens, liegt an der Weichsel" oder der Satz: "Herr Wolodyjowski hat den Kosakenhelden Bohun im Zweikampf besiegt" besitzt einen durch die in ihm auftretenden Wörter und die durch sie ausgeübten Funktionen material und formal bestimmten intentionalen Sachverhalt, den man mit anderen Wörtern nicht so genau und explicite bestimmen und entfalten kann. Man kann aber auf die entsprechenden Sachverhalte nennend hinweisen, indem man sagt, der erste Satz bestimme "die Lage Krakaus, der alten Hauptstadt Polens, an der Weichsel", der zweite dagegen "die Besiegung des Kosakenhelden Bohuns im Zweikampf durch den Herrn Wolodyjowski". Jeder dieser Sachverhalte erfährt dabei eine Nominalisierung, welche darauf beruht, daß die Gegenstandsform über die Form des Sachverhalts gebaut und damit auch seine ursprünglich kategoriale Struktur bis zu einem gewissen Grad verdeckt oder gar beseitigt wird. Es ist dabei ohne Bedeutung, ob innerhalb der realen, von diesen Sätzen unabhängigen Welt jetzt oder ehemals (bzw. diese) Sachverhalte bestanden haben, die den rein intentionalen Sachverhalten genau gleich wären. Denn bei unserer Überlegung handelt es sich nicht um gewisse, in der realen Welt bestehende oder vergangene

Tatsachen,

sondern lediglich um das, was der betreffende Satz intentional entwirft. Dies schließt nicht aus, daß die gleichen Sätze als Urteile verwendet mit einer Behauptungsfunktion ausgestattet werden, vermöge derer sie sich auf material gleiche reale Tatsachen beziehen und deren Bestehen sie mit Recht oder Unrecht behaupten. Dies hat aber auf das Bestehen und die Form des rein intentionalen Satzkorrelats gar keinen Einfluß; dieses letztere hängt ausschließlich von dem Sinn-Gehalt und der Intentionalitätsfunktion des betreffenden Satzes ab. In einem literarischen Kunstwerk interessieren wir uns ausschließlich für die rein intentionalen Korrelate der Sätze und besonders der Sachverhalte. In einem bestimmten Werk (z.B. Die Buddenbrooks

von Thomas

Mann) gibt es genau so viele Sachverhalte wie Aussagesätze. Wir machen uns

46

I. Funktionen

des

Erkennens

beim normalen Lesen mit diesen Sachverhalten in derselben Reihenfolge bekannt, in welcher die sie entwerfenden Sätze aufeinanderfolgen. 32 Denn die Ordnung der Aufeinanderfolge der Sätze und ihrer Korrelate ist dieselbe. Zugleich aber bestimmen die Sinne der betreffenden Sätze oft ganz andere Zusammenhänge und Ordnungen zwischen den Sachverhalten. Die Beschreibung eines Dinges in mehreren aufeinanderfolgenden Sätzen entwirft eine Mannigfaltigkeit entsprechender Sachverhalte, die alle einem und demselben Ding gleichzeitig zugehören und miteinander kausal verbunden sind oder den Geschehnissen gemäß aufeinanderfolgen, die sich in der dargestellten Welt entwickeln. Jeder von ihnen enthüllt dieses Ding unter einem anderen Blickwinkel oder unter anderen Umständen. Indem wir uns mit ihnen beim Lesen bekannt machen, erkennen wir dieses Ding immer genauer in seinen Zügen oder in seinen weiteren Schicksalen. 33 Es gibt aber auch Sachverhalte, an denen nicht ein, sondern mehrere Dinge teilnehmen. Der Sachverhalt besteht dann in einer ganzen gegenständlichen Situation. Aus einer Reihe solcher Situationen erfahren wir über die Schicksale mehrerer, miteinander in verschiedenen Beziehungen stehender Dinge. So enthüllt sich im Verlauf der Lektüre allmählich eine für sich bestehende Welt der Dinge, Menschen, Geschehnisse und Ereignisse, eine Welt mit eigener Dynamik und emotionaler Atmosphäre.

Ύ1 Wir können natürlich, wenn wir wollen, diese Sätze in einer ganz anderen Reihenfolge, etwa von hinten herein lesen. Das Werk fordert aber gewissermaßen, daß die Sätze in der Reihenfolge gelesen werden, in welcher sie im Text stehen. Ein Beispiel aus den Buddenbrooks

von Thomas Mann: "... die Konsulin Elisabeth Budden-

brook, eine geborene Kröger, lachte das Krögersche Lachen, das mit einem pruschenden Lippenlaut begann, und bei dem sie das Kinn auf die Brust drückte. Sie war, wie alle Krögers, eine äußerst elegante Erscheinung, und war sie auch keine Schönheit zu nennen, so gab sie doch mit ihrer hellen besonnenen Stimme, ihren ruhigen, sicheren und sanften Bewegungen aller Welt ein Gefühl von Klarheit und Vertrauen. Ihrem rötlichen Haar, das auf der Höhe des Kopfes zu einer kleinen Krone gewunden und in breiten künstlichen Locken über die Ohren frisiert war, entsprach ein außerordentlich zartweißer Teint mit vereinzelten kleinen Sommersprossen. Das Charakteristische an ihrem Gesicht mit der etwas zu langen Nase und dem kleinen Munde war, daß zwischen Unterlippe und Kinn sich durchaus keine Vertiefung befand. Ihr kurzes Mieder mit hochgepufften Ärmeln, an das sich ein enger Rock aus duftiger, hellgeblümter Seide Schloß, ließ einen Hals von vollendeter Schönheit frei, geschmückt mit einem Atlasband, an dem eine Komposition von großen Brillanten flimmerte." (I.e. S.7, Gesammelte Werke, Aufbau-Verlag, Berlin 1955, Bd. 1)

§ IO. Objektivierung und Konkretisation

47

All dies im Sinne der im Werke dargestellten Gegenstände. Die Funktion der Darstellung üben eben die intentionalen Sachverhalte aus. Um aber von den einzelnen intentionalen Sachverhalten zu der dargestellten Welt vorzudringen, muß man das Verfahren der "Objektivierung" mehrmals vollziehen. Je nach dem Inhalt der betreffenden Sätze kann sie diese oder eine andere Gestalt annehmen. Unter anderem kann sie darauf beruhen, daß dasjenige, was zum Gehalt eines Sachverhalts gehört, in die formale Struktur eines Merkmals oder eines Zustandes des durch das Subjekt des Satzes genannten Gegenstandes, etwa eines Dinges oder eines Menschen, gefaßt wird. Wenn wir den Satz lesen: "Herr Wolodyjowski hat Bohun im Zweikampf besiegt", 34 so können wir eine der möglichen Objektivierungen durchführen und bei der weiteren Lektüre nur im Gedächtnis behalten: "Herr Wolodyjowski, der Sieger über Bohun". In der Folge gehört dieser so charakterisierte Mensch zu der dargestellten Welt des genannten Romans. Die Objektivierung kann aberebensowohl zu dem "vom Herrn Wolodyjowski besiegten Bohun" führen. Endlich kann sie auch die Tatsache des Sieges des Herrn Wolodyjowski über Bohun bestimmen. Man braucht sich dies alles nicht gerade expressis verbis bei der Lektüre zu sagen. Die Objektivierung kann sich während des Lesens unwillkürlich in schlichten Phantasieakten vollziehen, so daß wir gleichsam den Sieger über Bohun einfach mit diesem Charakter sehen, ohne uns die formale Wandlung, die mit dem dargestellten Gegenstand vor sich ging, deutlich zum Bewußtsein zu bringen. Trotzdem aber hat sie sich doch vollzogen, und in der Folge steht Herr Wolodyjowski, sobald später von ihm die Rede ist, vor unseren "Augen" einfach mit diesem besonderen Charakter da. Bei diesem so einfachen Beispiel bietet der Vorgang der Objektivierung keine besonderen Schwierigkeiten, die mit Mühe zu überwinden wären. In konkreten literarischen Werken haben wir es aber oft mit sehr verwickelten und komplizierten Texten zu tun, bei denen die Durchführung einer zu Recht bestehenden und wenigstens annähernd erschöpfenden Objektivierung eine ziemlich schwierige Aufgabe darstellt, die man während einer flüchtigen Lektüre nur selten tatsächlich durchführt. Fast immer geschieht es sehr partiell

H. Sienkiewicz, Mit Feuer und Schwert [1884; historischer Roman],

48

I. Funktionen des Erkennens

und ohne Abschluß, also auf eine mit einer eigentümlichen Potentialität behafteten Weise. Es ist dabei auf folgendes hinzuweisen: Vor allem kann die Objektivierung bei einem und demselben Satzzusammenhang und sogar bei einem einzelnen Satz auf sehr verschiedene Weise vollzogen werden, wie man an dem soeben angegebenen Beispiel sieht. Im genannten Fall kann sie auf Grund des betreffenden Sachverhalts mindestens in drei verschiedenen Richtungen durchgeführt werden. Bei einer bestimmten Lektüre wird nur die eine Objektivierungsrichtung und Weise (im allgemeinen unwillkürlich) gewählt, je nach dem gerade lebendigen Interesse des Lesers. Es können aber andere Objektivierungsrichtungen oder auch alle zugleich oder nur einige von ihnen berücksichtigt werden. Bei einer Mehrzahl von Sätzen, besonders, wenn sie mehr oder weniger zusammengesetzt sind, wächst natürlich die Anzahl der möglichen bzw. der zulässigen Richtungen und Weisen der Objektivierung in bedeutendem Maße. Sie werden dann vom Leser in diesem oder jenem Umfang effektiv durchgeführt. Wahrscheinlich wird kein Leser - besonders bei einer Lektüre - die ganze Mannigfaltigkeit der zulässigen Objektivierungsrichtungen und -weisen erschöpfen, noch erschöpfen können, sondern er wird nur einige wenige Möglichkeiten berücksichtigen. Der Umfang dessen, was der Leser von diesen Möglichkeiten realisieren kann, hängt von verschiedenen Faktoren ab, die gegenwärtig noch nicht ganz zu übersehen sind. Vor allem ist nicht ganz klar, auf welche Weise die Objektivierung vom Leser subjektiv vollzogen wird - als eine explizit durchgeführte gedankliche Operation oder als ein eher anschauliches ren oder endlich als etwas, was gewissermaßen unwillkürlich

Verfah-

und automatisch

geschieht und sich als ein eigenartiger Niederschlag des beim Lesen der Sätze erworbenen Wissens an den dargestellten Gegenständlichkeiten synthetisch absetzt. Alle diese Weisen scheinen gleich möglich zu sein. Welche von ihnen gerade angewandt wird, dies hängt von den jeweiligen Fähigkeiten des Lesers ab, aber auch von dem Zustand, in den er durch den jeweiligen Text versetzt wird, und damit in hohem Maße von den Suggestionen, die von den Eigentümlichkeiten des Textes selbst herfließen. Es fragt sich auch, in welchem Maße die Objektivierung den Leser absorbiert, bzw. absorbieren kann, und zwar mit Rücksicht darauf, ob sie sich während des Lesens vollziehen läßt, ohne die Lektüre zu unterbrechen, und ob die Objektivierung sich nur nebenbei abspielt, oder ob sie soviel Aufmerksamkeit für sich in Anspruch

§10. Objektivierung und Konkretisation

49

nimmt, daß sie nur entweder während einer Unterbrechung der Lektüre oder erst nach der Lektüre des Werkes in einer besonderen Phase der Reflexion über das Gelesene vonstatten gehen kann. Die beiden letzten Arten scheinen gleich möglich zu sein und werden auch tatsächlich vom Leser beim kritischen Studium literarischer Werke oft durchgeführt. Sie bilden dann eine besondere Phase des Erkennens des Werkes, eine Phase, die über das Erkennen beim schlichten Lesen des Werkes wesentlich hinausgeht. Wir werden uns damit noch beschäftigen müssen. Der Vollzug der Objektivierung ist zwar auch im Verlauf der Lektüre selbst möglich, er ist dann aber durch den Vorgang des Lesens selbst in seiner Effektivität und in seiner Reichweite wesentlich beschränkt, wenn es keine bedeutende Störungen im Prozeß des Lesens geben soll. Aus den vielen möglichen Wegen und Weisen der sich meist unwillkürlich vollziehenden Objektivierung - und dasselbe bezieht sich auf eine voll bewußte, beabsichtigte Objektivierung! - können in jedem einzelnen Fall nur besonders gewählte Möglichkeiten realisiert werden. Und wenn noch weitere Möglichkeiten berücksichtigt werden sollten, dann müßte die Lektüre unterbrochen oder aufs neue unternommen werden, was für die Erfassung des ganzen Werkes die Gefahr der Verunstaltung mit sich bringt. Der Bereich der gerade erfüllten Objektivierungsmöglichkeiten ändert sich dabei bei einem und demselben Werk von einer Lektüre zur anderen und von einem Leser zum anderen weitgehend. Infolgedessen kann ein und derselbe Text zu verschieden objektivierten Gegenständlichkeiten in der dargestellten Welt führen und ihr - wenn man es so fassen darf - ein anderes Antlitz verleihen. Diese Verschiedenheit drückt sich vor allem in einer anderen formalen Struktur dieser Welt aus. Manche Sachverhalte bleiben in ihrer ungegenständlichen Form, andere dagegen werden so oder anders formal umgestaltet und enthüllen eben damit gewisse so oder anders beschaffene Dinge oder Vorgänge, die zunächst, d.h. wenn sie das direkte Korrelat der Sätze bilden, nur an den den Sätzen zugehörigen Sachverhalten teilnehmen. Obwohl diese Unterschiede bloß formaler Natur sind, sind sie für die ästhetische Erfassung des Werkes, bzw. für die Gestalt, die es bei dieser Erfassung erhält, doch nicht ohne Bedeutung. Denn die gegenständliche Schicht des Werkes enthüllt sich dem Leser dann in verschiedenen, ästhetisch valenten Momenten, je nachdem, ob die dargestellte Welt eher dynamisch oder eher statisch zu sein

50

/. Funktionen

des

Erkennens

scheint. Wenn diese Welt verhältnismäßig viele Vorgänge enthält, so können diese einmal vorwiegend in ihrer ursprünglichen, nicht objektivierten Form belassen werden: dann hat die dargestellte Welt einen eher dynamischen Charakter; zum anderen können diese Vorgänge als Gegenständlichkeiten eigener Art erfaßt werden, so daß alles wie erstarrt, wie bereits vollzogen erscheint. Die Weise, in welcher die Objektivierung eines Werkes durchgeführt wird, spielt also, wie man sieht, eine bedeutende Rolle bei der Konkretisierung des Werkes und seiner ästhetischen Expressivität. Die im literarischen Werk dargestellten Gegenständlichkeiten (Menschen, Dinge, Vorgänge, Ereignisse) sind im allgemeinen nicht unveränderlich und sind auch gewöhnlich nicht bloß in einer Zeitphase oder in einem Zustand dargestellt, sondern haben ihre oft sehr verwickelten Schicksale, nehmen an verschiedenen Ereignissen teil und unterliegen manchmal sehr weitgehenden Verwandlungen. All dies wird in einer Mannigfaltigkeit von Sachverhalten gezeigt, welche dieselben Gegenstände nacheinander in verschiedenen Phasen zur Darstellung bringen. Infolgedessen endet die Objektivierung nicht mit der Konstituierung des Gegenstandes in einer Phase seines Seins, sondern sie wird nach jedem neuen Ereignis, nach jeder Wandlung des Gegenstandes aufs neue durchgeführt oder kann wenigstens aufs neue durchgeführt werden. Die einzelnen Gegenstände bereichern sich nicht nur um immer neue Eigenschaften, sie verlieren auch viele andere Eigenschaften und treten später als solche auf, die früher anders bestimmt waren, als sie es "jetzt" sind. Sie treten auch in immer neue Zusammenhänge und Beziehungen zu anderen Gegenständlichkeiten der dargestellten Welt und befreien sich von den sie bis dahin bindenden Beziehungen. Dieses ganze Spiel der Ereignisse und auch alles dessen, was an ihm teilnimmt, gelangt in Sachverhalten zur Darstellung und unterliegt während der Lektüre einer solchen oder anderen Weise der Objektivierung. Es wird infolgedessen als das erfaßt, was in der dargestellten Welt "objektiv" vorhanden ist, sich dort abspielt und in seiner Gesamtheit die eine Welt bildet. Ein rein passives Verstehen der einzelnen Sätze für sich und nacheinander kann dies nicht leisten. Erst mit Hilfe des aktiven Lesens kann man alle diese Wandlungen in der dargestellten Welt gewissermaßen petrifizieren und dann Zeuge all dessen sein, was in ihr enthalten ist und geschieht.

§ IO. Quasi-Wirklichkeit

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und Abfolge der Sätze

Infolge der Objektivierung erlangt die Schicht der dargestellten Gegenstände eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber der Schicht der Bedeutungseinheiten. Unter anderem erhält sie eine andere Ordnung als es diejenige der Aufeinanderfolge der Sätze ist. Die sich auf eine bestimmte Person und ihre Schicksale beziehenden Sätze können im Text in einer ganz anderen Reihenfolge als die Ereignisse der dargestellten Welt auftreten. Die ganze Mannigfaltigkeit von Sätzen, die sich alle auf eine und dieselbe Phase eines Gegenstandes oder einer gegenständlichen Situation beziehen und die sie nacheinander in verschiedenen Einzelheiten, von verschiedenen Seiten und auch in einer anderen Zeitperspektive beschreiben, kann an sehr verschiedenen Stellen des Werks verstreut sein, und diese Streuung der Sätze hat auf die Anordnung und die objektiven Beziehungen der entsprechenden Gegenständlichkeiten untereinander keinen Einfluß. 3 5 In der "Objektivierung" wird dann erst diese rein gegenständliche Ordnung in der dargestellten Welt enthüllt. Damit die Verselbständigung der Gegenstände der dargestellten Welt erreicht wird, muß der Leser eine synthetisierende

Objektivierung durchführen,

in welcher verschiedene, in den einzelnen Sätzen entworfene Einzelheiten gesammelt und miteinander zu einem Ganzen verbunden werden. Sie verbindet die Tatsachen nicht auf eine additive, sondern auf eine

vereinheitlichende

Weise. Durch das Gewebe der Tatsachen und Einzelheiten wird ein einheitlicher Tatbestand oder eine Gestalt eines Gegenstandes erfaßt. Im Zusammenhang damit vollzieht sich beim Leser eine gewisse Verselbständigung seiner Objektivierungsoperationen vom Verständnis der einzelnen aufeinanderfolgenden Sätze. Genauer gesagt: Auf der Grundlage des Verstehens der einzelnen Sätze bauen sich neue Akte des synthetischen Erfassens und Konstituierens der Gegenstände der dargestellten Welt auf. In diesen Akten wird das

Man kann hier viele Beispiele aus der Romanliteratur, aber auch aus dramatischen Werken angeben. Ich gebe sie hier nicht genauer an, da eine Analyse eines jeden Beispiels sehr viel Raum erfordert. Man vergleiche aber den Roman Faulkners Absalom, Absalom... sens Rosmersholm,

oder Ib-

wo sich die sog. Exposition bis zum V. Akt erstreckt, während die sog.

"Handlung" sich ihrerseits fortentwickelt - übrigens unter dem Druck der Tatsachen, die sich vor vielen Jahren abgespielt haben, aber erst "jetzt" zum Vorschein kommen. In der modernen Romanliteratur hat sich eine besondere Erzähltechnik ausgebildet, bei welcher dasselbe mehrmals in völlig anderer Zeitordnung erzählt wird als es sich "tatsächlich" abgespielt hat. Wir werden darauf im nächsten Kapitel noch genauer eingehen.

52

I. Funktionen des

Erkennens

durch die einzelnen Sätze gelieferte Material zum Zweck dieser Konstituierung ausgenutzt, wodurch sich der Leser von der Ordnung der Aufeinanderfolge der Sätze und der ihnen zugehörigen Sachverhalte, sowie auch von der Aufsplitterung einer einzigen Tatsache auf eine Mannigfaltigkeit von Sachverhalten löst. Es ist gerade der Aufbau des Werkes selbst, welcher vom Leser die Realisierung dieser Unabhängigkeit fordert, wenn die Schicht der dargestellten Welt von ihm getreu erfaßt werden soll. Nur dann, wenn der Leser während der Lektüre der einzelnen aufeinanderfolgenden Sätze sich über das schrittweise Verstehen der Sätze zu einer Gesamtauffassung zu erheben vermag, gelingt die Objektivierung und das richtige Verständnis der dargestellten Welt. Dies bringt uns aber auf neue Probleme, an die wir erst später anknüpfen werden (vgl. unten §16). Erst dank der synthetisierenden Objektivierung nehmen die dargestellten Gegenständlichkeiten vor dem Leser die Stellung einer für sich bestehenden Quasi-Wirklichkeit an, die ihr eigenes Gesicht, ihre eigenen Schicksale und ihre eigene Dynamik hat. Erst nach dieser Objektivierung wird der Leser zum Zeugen gewisser Ereignisse und Gegenständlichkeiten, die er vermöge des Verstehens der Sätze und der durchgeführten Objektivierung gewissermaßen aus eigener Kraft intentional nachkonstituiert hat. Indem er auf diese Weise Zeuge geworden ist, erkennt er diese Gegenstände aufs neue, als wenn sie von ihm nur vorgefunden wären, und steht dann unter ihrem "Eindruck"; er erfaßt sie dann in ästhetischer Einstellung und reagiert auf ihre ästhetisch relevanten Bestimmtheiten mit entsprechenden Emotionen, insbesondere mit einer den sich zeigenden Werten anpassenden Wertantwort (um hier das treffende Wort D. v. Hildebrands anzuwenden). 36 Die aufnehmenden Erkenntnisakte sind hier eigentümlich mit den Akten des schöpferischen intentionalen Entwerfens der dargestellten Wirklichkeit verwoben. Indem sich der Leser mit dem Sinn der gelesenen Sätze bekannt macht, rekonstruiert er zugleich beim Prozeß der synthetisierenden Objektivierung intentional die zu den Satz-Sinnen gehörenden Gegenstände, um sie nach ihrer Rekonstruktion wiederum als "fertige" und vorgefundene zu erkennen und in diesem Erkennen oft intentional zu verwandeln, in ästhetischer aufnehmender Einstellung ihren "Eindruck" zu



[Vgl. Dietrich von Hildebrand, "Die Idee der sittlichen Handlung", Jahrbuch phie und Phänomenologische

Forschung

3 (1916), 126-251, S. 164ff ]

für

Philoso-

§ 10. Quasi-Wirklichkeit

und Abfolge der Sätze

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erleben und die sich anmeldenden Werte zu erschauen. Diese letzte ästhetische Erfassung und ästhetische Verhaltensweise des Lesers baut sich erst auf der Unterlage der bereits beschriebenen Akte des Erkennens des literarischen Kunstwerks auf, sowie noch auf anderen Akten, von denen alsbald die Rede sein wird. 3 7 All dies geht über das rein passive Verstehen des Sinnes der einzelnen Sätze hinaus und fordert vom Leser nicht nur eine besondere Aktivität, sondern auch verschiedene Fähigkeiten, die den Eigenheiten und dem charakteristischen Aufbau des betreffenden literarischen Kunstwerks angepaßt sein müssen. Ohne diese Aktivität und ohne angemessene Durchführung einer synthetisierenden Objektivierung wird es überhaupt nicht zur Konstituierung der Welt der im Werk dargestellten Gegenstände kommen. Und eben deswegen wird es ebensowenig zu einem erkenntnismäßig oder ästhetisch unmittelbaren Verkehr des Lesers mit dieser Welt kommen können. Daher gibt es Leser, die zwar einen Text rein wörtlich richtig verstehen, die aber trotzdem nicht wissen, mit was für einer dargestellten Welt sie es eigentlich zu tun haben. Ihre ästhetischen Reaktionen realisieren sich entweder überhaupt nicht, oder wenn es doch zu ihrem Vollzug kommt, sind sie der im Werk sich offenbarenden Welt keineswegs angemessen. Die synthetisierende Objektivierung ist im allgemeinen eine verhältnismäßig schwierige Operation, und ihre glückliche Durchführung hängt im gleichen Maße von den Fähigkeiten und der Intelligenz des Lesers als auch vom Aufbau der Schicht der Bedeutungseinheiten des betreffenden literarischen Werkes ab. Ist diese Schicht kompliziert, undurchsichtig und in vielen Sätzen und Satzzusammenhängen vieldeutig, dann kann die Objektivierung auch dem aufs beste vorbereiteten Leser erhebliche, manchmal unüberwindliche Schwierigkeiten bereiten. Sie stellt dann so große Anforderungen an seine *Scharfsicht*, seine Subtilität und seine Fähigkeit, die zerstreuten Einzelheiten zu einer innerlich kompakten Ganzheit zu einen, daß die Objektivierung schlechterdings nicht gelingen kann. Wir wissen alle, wie viel Mühe es manchmal kostet, die in wissenschaftlichen oder philosophischen Büchern dargestellte Welt genau und werkgetreu zu rekonstruieren. In literarischen

17

Dies schließt, wie wir noch sehen werden, nicht aus, daß die ästhetische Einstellung den Verlauf dieser verschiedenen Operationen modifiziert.

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I. Funktionen des Erkennens

Kunstwerken kann eine getreue Erfassung der dargestellten Gegenständlichkeiten dem Leser noch größere Schwierigkeiten verursachen, da es sich hier um eine Rekonstruktion individueller Gegenstände handelt, die oft mit so eigenartigen Eigenschaften ausgestattet sind, daß es fast unmöglich ist, sie vermittels der Umgangssprache genau zu bestimmen. Gewöhnlich kommt es dabei auf die Konstituierung einer ganzen Mannigfaltigkeit von Dingen, Personen, Vorgängen und Ereignissen an, welche in zahlreichen Beziehungen zueinander stehen. Das synthetische, aktive Lesen des Textes erleichtert dem Leser freilich eine derartige Objektivierung der dargestellten Gegenstände dadurch, daß sie keine voneinander getrennten Einheiten sind, sondern Glieder einer und derselben Welt. Die Ordnung dieser Welt, ihre Erfassung in einem Ganzen, das Herausfinden der Hauptströmung der sich in ihr entwickelnden Ereignisse und Prozesse, die Einfühlung in die geistige Atmosphäre, die sozusagen über den Ereignissen schwebt - all dies erfordert vom Leser eine solche Anspannung und eine solche Weite der Aufmerksamkeit und eine solche Fähigkeit zur Synthese, daß wir oft (wenn auch nicht in allen Phasen der Lektüre) nicht in der Lage sind, die sich hier stellenden Aufgaben zu erfüllen.

§ 1 1 . Die Konkretisierung der dargestellten Gegenständlichkeiten Ich habe schon bemerkt, daß man beim Vorgang der Objektivierung der dargestellten Gegenständlichkeiten über dasjenige, was in der gegenständlichen Schicht des Werkes effektiv enthalten ist, oft weit hinausgeht und auch hinausgehen muß, wenn man eine ästhetische Erfassung des Werkes erreichen will. Man muß diese Gegenstände wenigstens bis zu einem gewissen Grad und in den vom Werk selbst geforderten Grenzen "konkretisieren". Erklären wir dies näher: Das literarische Werk und insbesondere das literarische Kunstwerk ist ein schematisches Gebilde (vgl. Behauptung 7 im § 4). Mindestens einige seiner Schichten, und besonders die gegenständliche Schicht, enthalten in sich eine Reihe von "Unbestimmtheitsstellen". Eine solche Stelle zeigt sich überall dort, wo man auf Grund der im Werk auftretenden Sätze von einem bestimmten Gegenstand (oder von einer gegenständlichen Situation) nicht sagen kann, ob er eine bestimmte Eigenschaft besitzt oder nicht. Wenn etwa in den Bud-

§11. Konkretisierung und Unbestimmtheit

55

denbrooks die Augenfarbe des Konsuls Buddenbrook nicht erwähnt wäre (was ich nicht nachgeprüft habe), dann wäre er in dieser Hinsicht überhaupt nicht bestimmt, obwohl zugleich auf Grund des Kontextes und der Tatsache, daß er ein Mensch war und der Augen nicht beraubt, implicite bekannt ist, daß er irgendeine Augenfarbe haben mußte; nur welche, das wäre nicht entschieden. Analog in vielen anderen Fällen. Die Seite oder Stelle des dargestellten Gegenstands, von der man auf Grund des Textes nicht genau wissen kann, wie der betreffende Gegenstand bestimmt ist, nenne ich eine "Unbestimmtheitsstelle". 38 Jedes Ding, jede Person, jeder Vorgang usw., der im literarischen Werk dargestellt wird, enthält sehr viele Unbestimmtheitsstellen. Besonders die Schicksale der Menschen und Dinge weisen sehr viele Unbestimmtheitsstellen auf. Gewöhnlich gelangen ganze Zeitbereiche des Lebens der dargestellten Menschen zu keiner expliciten Darstellung, so daß die sich wandelnden Eigenschaften dieser Menschen unbestimmt bleiben. Auf Grund von Andeutungen im Text weiß man lediglich, daß die betreffende Person in dieser Zeit existierte, was sie aber in dieser Zeit tat und erlebte, darüber schweigt der Text. Da aber fast ausschließlich die Bedeutungsschicht, und nur in einzelnen Fällen auch die Ausdrucksfunktion der Wortlaute und der Aussprache, alles bestimmt, was sich in der Schicht der dargestellten Gegenstände befindet, so ist es nicht nur so, daß wir, die Leser, nicht wissen, was in den nicht zur Darstellung gebrachten Epochen geschah, sondern die Ereignisse sind überhaupt nicht bestimmt; sie sind weder A noch Nicht-A. Das Vorhandensein der Unbestimmtheitsstellen ist nicht zufällig, etwa die Folge eines Kompositionsfehlers. Es ist für jedes literarische Werk notwendig. Es ist nämlich nicht möglich, mit Hilfe einer endlichen Zahl Wörter, bzw. Sätze, auf eindeutige und erschöpfende Weise die unendliche Mannigfaltigkeit der Bestimmtheiten der individuellen, im Werk dargestellten Gegenstände festzulegen; immer müssen irgendwelche Bestimmtheiten fehlen. Man kann demgegenüber einwenden, daß man mit einem Wort oder einem Satz eine ganze Mannigfaltigkeit von Eigenschaften oder Tatsachen intentional bestimmen kann. Ihre Anzahl muß also nicht gleich der Anzahl der Worte bzw. Sätze sein. Zweitens muß nicht alles direkt bestimmt sein, vieles ergibt sich mittelbar als Folge der im Texte gegebenen, bedeutungsmäßigen Bestim-

io

Vgl. dazu Das literarische Kunstwerk, § 38.

56

I. Funktionen des Erkennens

mungen. Indessen sind im ersten Fall zwar die Mannigfaltigkeit, doch nicht alle zu dieser Mannigfaltigkeit gehörenden einzelnen Elemente (Bestimmtheiten, Eigenschaften, Zustände usw.) in ihrer Individualität angegeben, so daß mindestens die individuellen Einzelheiten dieser Elemente unbestimmt bleiben. Was aber das betrifft, was sich aus dem im Text Entschiedenen implicite ergibt, so können auf diesem Weg all diejenigen Eigenschaften nicht bestimmt werden, welche bei einem Bereich konstanter und notwendiger Bestimmtheiten des Gegenstandes nicht notwendig und somit variabel sind. So folgt z.B. daraus, daß C. J. Caesar ein Mensch war, daß er alle "normalen" körperlichen Glieder besaß; doch folgt aus seinem Menschsein nicht, wie groß seine Füße waren oder wie hoch oder wie gefärbt der Klang seiner Stimme war. Wird dies im Text nicht besonders angegeben, und werden auch keine anderen Tatsachen angegeben, aus denen dies tatsächlich folgen könnte, dann sind die eben angegebenen Merkmale von Caesars Körper (etwa im Shakespeareschen Drama) nicht bestimmt und infolgedessen in der Schicht dieses Dramas überhaupt nicht vorhanden. Es gibt dann besondere Gründe dafür, daß der Versuch, möglichst viele Einzelheiten der dargestellten Gegenständlichkeiten explicite anzugeben, nicht ratsam ist. Nur manche Eigenschaften oder Zustände der dargestellten Personen sind aus Rücksicht auf die künstlerische Komposition wichtig und vorteilhaft, während die anderen lieber unbestimmt gelassen oder bloß in Umrissen angedeutet werden. Sie lassen sich annäherungsweise erraten, werden aber absichtlich im dunkeln gelassen, damit sie nicht störend wirken und damit die besonders bedeutsamen Züge mehr in den Vordergrund treten. Die Wahl der Unbestimmtheitsstellen wechselt von Werk zu Werk und kann sowohl den charakteristischen Zug des betreffenden Werkes als auch eines literarischen oder überhaupt künstlerischen Stils bilden. Auch die sog. literarischen Gattungen können sich in dieser Hinsicht merklich unterscheiden. So haben etwa Untersuchungen der Grundtypen der lyrischen Gedichte, die in meinem *Konversatorium* im Jahre 1934/35 in Lwów durchgeführt wurden, gezeigt, daß die Rolle der Unbestimmtheitsstellen in ihnen von großer Bedeutung ist. Und je "reiner" lyrisch das betreffende Gedicht ist, desto weniger - roh gesprochen - ist das, was im Text positiv gesagt wird, effektiv bestimmt; das meiste bleibt ungesagt. 39

•3Q

Dieses Thema kann hier nicht näher behandelt werden. Eine systematische Durchforschung

§ 11. Konkretisierung

und

57

Unbestimmtheit

Das Vorhandensein der Unbestimmtheitsstellen in der gegenständlichen Schicht des literarischen Werkes läßt vor allem die Möglichkeit zweier verschiedener Weisen des Lesens zu: Manchmal bemüht sich der Leser, alle vorhandenen Unbestimmtheitsstellen als solche zu beachten und sie im Zustand der Unausgefülltheit zu belassen, um das Werk in seiner für es charakteristischen Struktur zu erfassen. Gewöhnlich aber lesen wir literarische Werke auf eine völlig andere Weise: wir übersehen gewissermaßen die Unbestimmtheitsstellen als solche und füllen viele von ihnen unwillkürlich mit Bestimmtheiten aus, zu welchen uns der Text nicht berechtigt. Wir gehen somit bei der Lektüre in verschiedenen Punkten über den Text hinaus, ohne uns deutlich Rechenschaft davon zu geben. Wir tun es zum Teil unter der - wenn man so sagen darf - suggestiven Wirkung des Textes, zum Teil aber auch unter dem Einfluß einer natürlichen Neigung, da wir daran gewöhnt sind, individuelle Dinge und Personen für durch Momente niederster Differenz allseitig bestimmt zu halten. Der Grund dafür liegt auch darin, daß die in literarischen Kunstwerken dargestellten Gegenstände im allgemeinen den Seinscharakter der Realität an sich tragen, so daß es uns dann natürlich scheint, wenn sie ebenso wie die echten, realen, individuellen Gegenstände durch niederste Qualitäten allseitig und eindeutig bestimmt sind. Andererseits wirkt in derselben Richtung die Tendenz, literarische Kunstwerke in ästhetischer Einstellung zu erfassen. Man kann freilich nicht sagen, daß in jeder ästhetischen Einstellung die Tendenz herrscht oder herrschen muß, mit konkreten, allseitig bestimmten Gegenständlichkeiten unmittelbar zu verkehren. Denn auch das Abstrakte als solches und auch - wie man zuletzt bemerkt h a t 4 0 - das "Unvollendete" kann das Objekt ästhetischer Erfahrung und ästhetischer Wertung sein. Trotzdem aber gibt es viele Werke, welche den Leser in die Einstellung bringen, die dargestellte Wirklichkeit (Welt) in einer möglichst vervollständigten Gestalt

verschiedener Typen literarischer Kunstwerke kann sehr interessante Ergebnisse bezüglich der Rolle der Unbestimmtheitsstellen sowie der Beziehung zwischen dem, was explicite bestimmt wird, und dem Unbestimmten liefern. Vgl. den Vortrag H. Lützelers über das Unvollendete in der Kunst des Ostens beim V. Internationalen Ästhetik-Kongreß in Amsterdam 1964 [H. Lützeler, "Zur Theorie des 'Unvollendeten' in der Kunst", in: Actes du 5e Congrès 1964, La Haye, Paris 1968, S. 249-252],

international

d'esthétique,

Amsterdam

58

I. Funktionen des Erkennens

zu erfassen und somit mindestens einige Unbestimmtheitsstellen zu beseitigen. Der Leser liest dann gewissermaßen "zwischen den Zeilen" und ergänzt unwillkürlich, durch ein - wenn man so sagen darf - "überexplicites" Verstehen der Sätze und insbesondere der in ihnen auftretenden Namen, manche von den Seiten der dargestellten Gegenständlichkeiten, die durch den Text selbst nicht bestimmt sind. Dieses ergänzende Bestimmen nenne ich das "Konkretisieren" der dargestellten Gegenstände. Darin kommt die eigene, mitschöpferische Tätigkeit des Lesers zu Wort: aus eigener Initiative und Einbildungskraft "füllt" er verschiedene Unbestimmtheitsstellen mit Momenten "aus", die sozusagen aus vielen möglichen bzw. zulässigen gewählt werden, obwohl letzteres - wie sich noch zeigen wird - nicht notwendig ist. Gewöhnlich vollzieht sich diese "Wahl" ohne bewußte und für sich gefaßte Absicht des Lesers. Er läßt einfach seine Phantasie frei walten und ergänzt die betreffenden Gegenstände durch eine Reihe neuer Momente, so daß sie voll bestimmt zu sein scheinen. Freilich enthalten sie in Wahrheit noch verschiedene Unbestimmtheitsstellen, aber das Bestimmte ist gleichsam dem Leser zugekehrt und verdeckt die noch vorhandenen Lücken in der Bestimmung. Wie dies im einzelnen Fall geschieht, hängt sowohl von den Eigentümlichkeiten des Werkes selbst als auch vom Leser, dem Zustand bzw. der Einstellung ab, in der er sich gerade befindet. Infolgedessen können zwischen den Konkretisationen desselben Werkes bedeutende Unterschiede bestehen, auch dann, wenn sie vom selben Leser bei verschiedenen Lektüren vollzogen werden. Dieser Umstand bringt für das richtige Verstehen des literarischen Werkes und auch für eine getreue ästhetische Erfassung des literarischen Kunstwerks besondere Gefahren mit sich. So muß darauf eine besondere Aufmerksamkeit bei der Betrachtung der Objektivität bzw. des Wahrseins des Erkennens eines literarischen Werkes gerichtet werden. Zu diesen letzten Fragen werden wir zurückkehren, wenn wir das Problem des Erkennens eines

wissenschaftlichen

Werkes aufwerfen werden, und wenn es sich darum handeln wird, auf welche Weise eine echte Erkenntnis eines (literarischen) ästhetischen Gegenstandes gewonnen werden kann. Momentan aber ist noch die Rolle der Konkretisation der im literarischen Werk dargestellten Gegenstände für die ästhetische Erfassung des literarischen Kunstwerks zu erwägen, die Rolle also, welche diese Konkretisation

S II. Konkretisierung

und

59

Unbestimmtheit

beim Übergang von der schlichten, außerästhetischen (oder "vor-ästhetischen") Erfassung des Werkes zu seiner ästhetischen Erfassung spielt. 41 1. Mit Ausnahme der Fälle, in denen das betreffende literarische Kunstwerk auf Grund seiner Textgestaltung vom Leser eine gewisse Enthaltsamkeit bezüglich der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen fordert, ist die Erlangung einer passenden ästhetischen Erfassung eines Werkes durch eine entsprechende Konkretisierung der im Werk dargestellten

Gegenstände

bedingt. 2. Jede Unbestimmtheitsstelle kann im Einklang mit der Bedeutungsschicht des Werkes noch auf mehrere verschiedene Weisen ausgefüllt werden. Wenn z.B. im Text des Shakespeareschen Dramas Hamlet nicht angegeben wird, welche Statur Hamlet, der dänische Thronfolger, hatte oder welche Tonfarbe seine Sprache auszeichnete oder welche Stellung er einnahm, als er mit Yoricks Schädel sprach, so kann der Leser (bzw. der Darsteller im Theater - was übrigens eigene Probleme mit sich bringt) in all diesen Fällen die Gestalt "Hamlet" so oder anders konkretisieren, sich ihn "gut gewachsen" oder im Gegenteil etwas beleibt vorstellen. Vom Standpunkt des Zusammenstimmens der betreffenden Konkretisierung mit dem Text des Werkes sind beide nicht bloß möglich, sondern auch in gleichem Maße zulässig, sofern die Ausfüllung der betreffenden Unbestimmtheitsstelle im Bereich der betreffenden Gattung liegt, deren Einzelfall eben unbestimmt bleibt. Vom Standpunkt des ästhetischen Wertes des konkretisierten Werkes aus sind jedoch nicht alle dieser "zulässigen" Konkretisationen in gleicher Weise zu empfehlen. Dies mag bei rein äußerlichen, körperlichen Einzelheiten der betreffenden dargestellten Person in gewissen Grenzen ziemlich irrelevant sein. Viele Unbestimmtheitsstellen, etwa bezüglich des Charakters des Menschen, seines Empfindens, der Tiefe seiner Denkweise und seiner Emotionalität, dürfen aber nicht auf eine beliebige Weise ausgefüllt werden, da solche Ergänzungen von großer Bedeutung für die betreffende dargestellte Person sind. Eine bestimmte Weise des Ausfüllens kann das Werk sehr verflachen und banalisieren, während eine andere es vertiefen und z.B. viel origineller machen wird - wie man es oft bei der Aufführung eines Dramas im Theater erleben kann. Der Darsteller kon-

Natürlich wird es sich dabei momentan nur um erste Andeutungen der vorliegenden Tatbestände handeln, denn wir werden erst viel später in der Lage sein, das ästhetische Erlebnis zu analysieren.

60

/. Funktionen des Erkennens

kretisiert durch seine Verhaltensweise die von ihm gespielte Gestalt so, daß sie viel interessanter und tiefer ausfällt, als man es nach dem bloßen Text vermuten würde. Obwohl diese - wie man oft sagt - "Interpretation" vollkommen im Rahmen des vom Text Zugelassenen liegen kann, wird der Wert des (konkretisierten) Kunstwerks dadurch wesentlich modifiziert. Die verschiedenen Konkretisationen sind somit nicht gleichwertig, besonders da eine andersartige Ausfüllung gewisser Unbestimmtheitsstellen neue ästhetisch wertvolle Qualitäten in die Schicht der dargestellten Welt einführen kann. 3. Die verschiedenen Konkretisationsweisen der gegenständlichen Schicht führen notwendig zu verschiedenen Konkretisationen des ganzen Werkes. Die in die gegenständliche Schicht eingeführten ästhetisch wertvollen Qualitäten können im Ganzen des Werkes zu neuen Zusammenhängen (zu Zusammenklängen oder eventuell auch zu gewissen Widerstreitserscheinungen) zwischen den ästhetisch relevanten Qualitäten in anderen Schichten des Werkes führen. Der letzte ästhetisch wertvolle Ausklang des Werkes kann dadurch wesentlichen Modifikationen unterliegen, die für den Wert des ganzen Werkes manchmal vorteilhaft, in anderen Fällen dagegen nachteilig sein können. 4. Die Weise der Konkretisierung zeigt aber auch, inwiefern eine bestimmte Konkretisation eines Werks "im Geist" der künstlerischen Intentionen des Verfassers ist, ihnen nahe steht oder im Gegenteil von ihnen abweicht. Entweder ist das konkretisierte Werk dem Stil gemäß oder verwandt, in welchem es - dem im Werk effektiv Vorhandenen entsprechend - geschaffen wurde, oder es hat infolge einer bestimmten Art der Konkretisation diesen Stil verloren. Solche "stilnahen" Konkretisationen eines und desselben Werkes können auch noch verschieden sein und entweder annähernd denselben Wert haben oder in dieser Hinsicht verschieden sein. Es ist also sowohl von dem Gesichtspunkt der Richtigkeit oder Treue der Konkretisation als auch von dem des ästhetischen Wertes aus nicht irrelevant, wie sich eine Konkretisation des Werkes tatsächlich vollzogen hat. Und im Zusammenhang damit stehen die Fragen nach der adäquaten ästhetischen Erfassung

des literarischen

Kunstwerks sowie - in der Folge - nach ihrer treffenden Bewertung (vgl. das V. Kapitel). Sie werden gewöhnlich so behandelt, als gäbe es im Werk gar keine Unbestimmtheitsstellen und als käme es gar nicht zum Vollzug der Konkretisation. Dann sind diese Fragen überhaupt falsch gestellt, und folglich

§ 12. Gegenstände

und

61

Ansichten

kann auch ihre Lösung nicht richtig sein. Erst die Berücksichtigung der Konkretisierung des Werkes ermöglicht die richtige Fassung dieser Probleme. Andererseits stellen sich die völlig anderen Probleme bezüglich der Abhängigkeit der Konkretisationsweise des Werkes von der Atmosphäre der kulturellen Epoche, in welcher sie durchgeführt wird, sowie bezüglich der Grenzen dieser Abhängigkeiten. Von da aus eröffnen sich weite Perspektiven auf die Probleme des sog. "Lebens" eines und desselben literarischen Werkes in verschiedenen Epochen als eines geschichtlichen Prozesses, in welchem sich die Kontinuität des Seins und die Identität des Werkes trotz aller Wandlungen erhält.

§ 12. Aktualisierung u n d Konkretisierung der Ansichten Die Objektivierung und die Konkretisierung der im literarischen Kunstwerk dargestellten Gegenstände geht mit der Aktualisierung und Konkretisierung mindestens mancher schematisierten Ansichten Hand in Hand. Damit gehen wir zur Besprechung der Konstituierung der letzten noch zu besprechenden Schicht des literarischen Kunstwerks *durch den* Leser über. 4 2 Die Schicht der "Ansichten" spielt im literarischen Kunstwerk eine sehr bedeutende Rolle, besonders wenn es sich um die Konstituierung seines ästhetischen Wertes in seinen Konkretisationen handelt. Infolgedessen hat die Weise, in welcher es während der Lektüre zur Aktualisierung und Konkretisierung der Ansichten kommt, eine große Bedeutung für die ästhetische Erfassung des literarischen Kunstwerks. Dabei bilden die Ansichten das Element des Werkes, welches in der Konkretisierung in einem viel höheren Maß als seine übrigen Elemente vom Leser und von der Weise, wie die Lektüre des Werkes durchgeführt wird, abhängt. Im Werk selbst verbleiben die Ansichten lediglich in potentieller

Bereitschaft,

sie werden im Werk nur "parat gehal-

Den Ausdruck "Ansicht" verwende ich hier - wie es bereits im Literarischen

Kunstwerk

an-

gedeutet wurde - in einem sehr erweiterten Sinn, in dem er nicht bloß alle Ansichten, die vom sinnlich wahrnehmenden Subjekt erlebt werden, umfaßt, sondern auch "Ansichten", die Eigenschaften und Strukturen realer psycho-physischer Individuen zur Erscheinung bringen, und zwar unabhängig davon, ob sie in der sog. "inneren" Wahrnehmung oder in der Erfassung fremden Seelenlebens erlebt werden.

62

I. Funktionen des Erkennens

ten". Rein theoretisch sind sie freilich den durch Sachverhalte dargestellten Gegenständen zugeordnet. Sie werden aber nur in relativ unbedeutendem Maße durch diese Sachverhalte bzw. durch die in ihnen zur Darstellung gebrachten Eigenschaften des Gegenstandes wachgerufen, sonst werden sie dem Leser durch andere, davon unabhängige Faktoren des Werkes, und zwar durch gewisse Eigentümlichkeiten der sprachlautlichen

Schicht bis zu einem

gewissen Grad aufgedrängt. Als das, was von einem einen bestimmten Gegenstand wahrnehmenden Subjekt erlebt wird, fordern sie zu ihrem aktuellen konkreten Erlebtwerden, daß ein Subjekt eine konkrete Wahrnehmung oder mindestens eine lebendige Vorstellung vollzieht. Erst wenn sie konkret erlebt wurden, üben sie die ihnen eigene Funktion des Zur-Erscheinung-Bringens eines bestimmten, gerade wahrgenommenen Gegenstandes aus. In der Anwendung auf unsere Problemsituation heißt das: Sollen die Ansichten dem Leser während der Lektüre eines Werkes aktuell sein und auf diesem Wege zum Bestand des gelesenen Werkes gehören, so muß er eine zum Wahrnehmen analoge Funktion vollziehen, da die im Werk durch die Sachverhalte dargestellten Gegenstände überhaupt nicht effektiv wahrnehmbar sind. Gerade diese primitive Tatsache legt den Gedanken nahe, das rein literarisch Dargestellte auf einem anderen, nicht mehr literarischen Weg - also auf der Bühne oder im Film - wenigstens quasi-wahrnehmbar zu machen. Sollen diese Gegenstände nicht bloß rein gedanklich, signitiv gemeint sein, sondern irgendwie zur Erscheinung gebracht werden, so kann dies nur durch ein lebendiges Vorstellen beim Lesen zustande gebracht werden. Und das bedeutet hier nichts anderes, als daß der Leser im lebendigen Vorstellungsmaterial anschauliche Ansichten produktiv erlebt und dadurch die dargestellten Gegenstände zur Anschauung, zur vorstellungsmäßigen Erscheinung bringt. Indem der Leser nach Erlangung einer getreuen Rekonstruktion aller Schichten des Werkes und seiner Erkenntnis strebt, bemüht er sich, für die Suggestionen, welche ihm das Werk liefert, empfänglich zu sein und gerade die Ansichten zu erleben, welche durch das Werk "parat gehalten" werden. Indem er diese im phantasiemäßigen, anschaulichen Material aktualisierten Ansichten erlebt, kleidet er den entsprechenden dargestellten Gegenstand "in das Gewand" anschaulicher, qualitativer Eigenschaften; er sieht ihn gewissermaßen "in der Phantasie", so daß er sich ihm fast in der eigenen leibhaften Gestalt zeigt. Auf diesem Weg beginnt der Leser mit den Gegenständen quasi unmit-

S 12. Aktualisieren der Ansichten

63

telbar zu verkehren. Diese bloß erlebten (also nicht gegenständlich gemeinten!) Ansichten spielen bei der Lektüre mit und gewinnen einen oft bedeutenden Einfluß auf den Verlauf der ästhetischen Erfassung des Werkes und auf die endgültige Gestalt, die das Werk in der Konkretisation erlangt. Ist der Leser bemüht - wie er es doch im Prinzip sein sollte! - , die eigene Gestalt des Werkes in der Konkretisation zu rekonstruieren und zu schauen, so darf er bei der Aktualisierung der Ansichten nicht willkürlich verfahren. Denn im literarischen Kunstwerk sollen nicht bloß bestimmte Dinge und Menschen mit sprachlichen Mitteln intentional entworfen werden, sondern sie sollen sich in entsprechend gewählten Ansichten dem Leser zeigen. Und die Funktion des Lesers besteht darin, sich den vom Werk ausgehenden Suggestionen und Direktiven zu fügen und keine ganz beliebigen, sondern die durch das Werk suggerierten Ansichten zu aktualisieren. Er ist freilich dabei durch das Werk selbst nie völlig gebunden. Macht er sich aber ganz frei, kümmert er sich nicht darum, mit welchen Ansichten die im Werk dargestellte Welt geschaut werden will - dann ist sein Abweichen vom Werk fast sicher, und von einer adäquaten Erfassung kann keine Rede sein. Und wenn dabei auch zufälligerweise die Konkretisation des Werkes an ästhetisch relevanten Qualitäten gewinnen und damit auch seinen ästhetischen Wert erhöhen sollte, so wird das Werk nichtsdestoweniger nicht richtig erschaut oder manchmal sogar arg verfälscht. 43 Aber es kommt nicht nur darauf an, welche Ansichten des betreffenden Gegenstandes aktualisiert werden, sondern auch wie sie zur Konkretion gelangen. Im Werk selbst befinden sich lediglich schematisierte Ansichten, gewisse Schemata, die sich bei verschiedenen Abwandlungen des Wahrnehmens als konstante Strukturen erhalten. Sobald sie durch den Leser aktualisiert werden, werden sie auch ganz von selbst auf diese oder jene Weise konkret gemacht. Sie werden durch konkrete Daten ergänzt, vervollständigt, und die Weise, in der dies geschieht, hängt in großem Maß vom Leser ab. Er füllt jene allgemeinen Ansichtsschemata mit Einzelheiten aus, die seinem Feingefühl, seinen Gewohnheiten des Wahrnehmens, seiner Vorliebe für gewisse Qualitäten und qualitative Zusammenhänge entsprechen und die somit j e

Wie dies im modernen Theater infolge der Neuerungen, die der Regisseur einführt, mit vielen klassischen Werken tatsächlich geschieht.

64

I. Funktionen des Erkennens

nach Leser verschieden sind oder sein können. Er knüpft dabei oft an seine bisherigen Erfahrungen an und stellt sich die dargestellte Welt unter dem Aspekt des Weltbildes vor, das er sich im Leben gebildet hat. Wenn er im Werk auf einen dargestellten Gegenstand stößt, den er in seinem Leben nicht wahrgenommen hat und von dem er nicht weiß, wie er "aussieht", versucht er, ihn sich in der Phantasie auf seine Art "auszumalen". Manchmal ist das Werk so suggestiv, daß es dem Leser unter dem Einfluß des Werkes gelingt, Ansichten annähernd zu rekonstruieren. Manchmal aber bildet er unwillkürlich erfundene, fiktive Ansichten, die weniger dem Werk als seiner eigenen Phantasie entspringen. Manchmal endlich versagt er in dieser Hinsicht vollkommen und vermag überhaupt gar keine Ansichten zu erwecken. Er "sieht" - wie er sagt - nichts von dem dargestellten Gegenstand, begreift ihn nur rein signitiv und verliert dadurch den quasi-unmittelbaren Kontakt mit der dargestellten Welt. Sein Verständnis kann trotzdem in dem Sinn adäquat sein, daß er den Gegenständen im Lesen diese und nur diese Eigenschaften zuweist, die sich rein sprachlich bestimmen lassen und im Text angegeben sind. Erst dort, wo die rekonstruierten und aktualisierten Ansichten der rein sprachlichen Bestimmungsweise zu Hilfe kommen müssen, damit die Gegenstände vom Leser richtig erfaßt werden, ist der zur Rekonstruktion und Aktualisierung der Ansichten unfähige Leser auch nicht imstande, die betreffenden Gegenstände in ihrer Eigenheit zu erfassen und das Ganze des Werkes im Grunde zu verstehen. Die Aktualisierung und Konkretisierung der Ansichten ist auch oft die relativ am schlechtesten ausgebildete Komponente der ästhetischen Erfassung des literarischen Kunstwerks, und es kommen da auch die relativ größten Abweichungen vom Gehalt des Werkes vor. Zur Verdeutlichung nehmen wir als Beispiel eine Stelle aus einem Roman von Stefan Zeromski; die Handlung spielt an dieser Stelle in Paris, obwohl es in diesen Sätzen nicht ausdrücklich gesagt wird, aber aus dem früheren Text hervorgeht. Bl^dzil nie mogijc trafic na bulwary. Pytal o to jakiegos przechodnia. Ten smial siç pokazuj^c mu bulwar o parç kroków odlegty. Nogi niosly go dok^ds. Widok tysi^ca kolorów lamp elektrycznych, szyldów, ruchomych znaków, kól, liter zóltych, p^sowych, zielonych, niebieskich, fiolkowych iznqi oczy jak okruchami szkla. Nie wiedz^c, co czynic, Ryszard wszedl do naroznej Café Cardinal i kazal podac kieliszek koniaku.

§ 12. Aktualisieren

der

Ansichten

65

Er irrte umher und konnte die Boulevards nicht finden. Er fragte einen Passanten. Der zeigte lachend auf den Boulevard, der nur ein paar Schritt entfernt lag. Seine Füße trugen ihn irgendwohin. Die tausendfarbigen Glühbirnen, Schilder, zuckenden Zeichen, Räder, Buchstaben gelb, tiefrot, grün, blau, violett schnitten ihm wie Glassplitter in die Augen. Ryszard wußte nicht, was tun, betrat das Café Cardinal an der Ecke und ließ sich einen Cognac geben. Da unser Leser diesen Roman wohl nicht kennt und somit auch nicht weiß, welche Vorfälle dieser Szene vorausgegangen sind, 4 4 lassen wir die ganze psychische Situation des Helden, dessen Namen auch an dieser Stelle nicht genannt und für uns hier ohne Bedeutung ist 4 5 , beiseite und richten wir unser Augenmerk lediglich auf die fragmentarische Beschreibung des Boulevards und auf die Möglichkeit der Aktualisierung der entsprechenden Ansichten. Aus dem vorausgehenden Text weiß man, daß es sich um einen Pariser Boulevard handelt; es gibt aber viele Boulevards in Paris, so daß diese Angabe nicht genügt, um sich zu orientieren, wo sich die Szene abspielt. Die Bemerkung, daß an einer Ecke das Café Cardinal liegt, besagt auch nicht viel, da es in Paris viele Cafés mit dem Namen "Cardinal" gibt. Der Leser wird sich wahrscheinlich - wenn er Paris überhaupt kennt - irgendeinen

44

Pariser Boule-

Die zitierte Stelle [aus dem Roman Zamiec (Schneesturm) von Stefan Zeromski ( 18641925)] kann uns zugleich als Beispiel für die schon früher angedeutete Situation dienen. Es handelt sich nämlich um die Modifikation des Sinnes der Sätze unter dem Einfluß anderer Sätze, die den ersteren vorangehen. Fallen diese vorausgehenden Sätze aus irgendeinem Grunde weg (weil sie etwa, wie in unserem jetzigen Beispiel, einfach fortgelassen werden), dann versteht der Leser die angegebenen Sätze allein auf Grund der in ihnen auftretenden Wörter und ihrer syntaktischen Funktionen. Der Nachklang der früheren Sätze, welcher im Kontext ihren Sinn ergänzt oder auch modifiziert, fällt hier fort. So weiß unser Leser nicht, um wen es sich eigentlich handelt, in welchem psychischen Zustand er sich eigentlich befindet. Unser Leser spürt nur, daß der Unbekannte eben schon bekannt ist und daß er sich in irgendeinem verstörten Zustand befindet, weil ihn - anscheinend - etwas Erschütterndes getroffen hat, aber was es war, aus welchem Lebensgebiet (Liebe, Mißerfolg oder sonst etwas) und in welcher Lage - das alles ist unbekannt und wird auch vom Leser als etwas Unbekanntes empfunden, als etwas, was deutlich fehlt und was als Manko verschwände, sobald man den vorangehenden Text kennenlernte. Im Zusammenhang damit werden auch die da auftretenden Ansichten wesentlich beeinträchtigt und eigentlich auf das Visuelle reduziert.

45

[Im Original hat Ingarden den Namen "Ryszard" fortgelassen. Vgl. seine Übersetzung im Anhang.]

66

/. Funktionen des Erkennens

vard bei abendlicher Beleuchtung visuell "vorstellen". Die bunten NeonLichter werden ihm bei der Lektüre aufblitzen und der flüchtige Anblick einer abends hell beleuchteten Straße wird sich ihm für einen Moment aktualisieren. Wenn der Leser zufällig das Innere jenes Cafés kennt, dann taucht in ihm vorübergehend der Anblick dieses Cafés wieder auf; wenn nicht, dann erscheint dem Leser in der Phantasie irgendein Pariser Café von innen, schwach beleuchtet, mit vielen Tischen und einer wogenden Menge in solcher oder anderer perspektivischer Verkürzung. Vielleicht wird dem Leser der Anblick der großen beleuchteten Fenster eines Cafés aufleuchten, und er wird auf dem Trottoir aufgestellte Tische und Stühle "erblicken", wonach ihm auch das Innere des Cafés kurz erscheinen wird. Und an einem der Tische wird der Leser vielleicht jenen Unbekannten sehen, der mit trübem Gesichtsausdruck auf den bestellten Cognac wartet. Andere Leser werden vielleicht das Rauschen der Gespräche der im Café sitzenden Menschen oder das Klirren der Gläser an der Theke hören, obwohl darüber nichts im Text steht; das Auftreten der akustischen Phänomene ist aber trotzdem sehr wahrscheinlich, wenn man sich ein GroBstadt-Café lebendig vorstellt. An dem skizzierten Beispiel sehen wir, wie mannigfach die durch den Text suggerierten Ansichten aktualisiert werden und wie verschieden die Art ihrer Konkretisierung sein *können*. Wenn der Leser mehr auf den psychischen Zustand des Helden eingestellt ist, so werden bei ihm die äußeren sinnlichen Ansichten der realen Umgebung, in welcher sich der Held befindet, vielleicht überhaupt nicht geweckt werden. Dies ist um so wahrscheinlicher, als die ganze hier gegebene Beschreibung der Straße und des Cafés einen durchaus sekundären, akzessorischen Charakter hat, während der psychische Zustand des Unbekannten das Hauptthema bildet. Man kann natürlich viele Texte anführen, in denen die beschriebenen Szenen dem Leser z.B. visuelle Ansichten mit sehr großer Kraft und Lebendigkeit aufzwingen. Ein klassisches Beispiel liefert in der polnischen Romanliteratur Henryk Sienkiewicz. Man vergleiche hier z.B. die Beschreibung von Ursus' Kampf mit dem Stier im Zirkus (Quo vadis), wo nach sehr lebhaften visuellen Ansichten dann im Moment der höchsten Spannung, als Ursus dem Stier das Genick bricht, auf einmal akustische Phänomene die Stille, die im

§ 12. Aktualisieren

der

67

Ansichten

Zirkus herrscht, zum Ausdruck bringen. 4 6 In allen diesen Fällen ist der Leser bei der Aktualisierung der Ansichten in viel höherem Maß durch den Text gebunden, als dies bei den in dieser Hinsicht leblosen Werken der Fall ist. Er steht unter der Macht ihm aufgezwungener Ansichten verschiedener Art, und je mehr er ihnen unterliegt, desto lebendiger, deutlicher und vielfältiger erscheint ihm die dargestellte Welt. Man soll aber nicht meinen, dem Leser zwängen sich dann lebendige und bunte Ansichten auf, wenn im Text des Werkes die Ansichten gewisser Dinge beschrieben werden. Im Gegenteil, diese Ansichten werden dann zu Objekten, die vielleicht gar nicht anschaulich faßbar sind, während es sich in unserem Fall um erlebte,

nicht objektivierte, konkrete Ansichten

der Dinge und

Menschen handelt, welche nur dann die Funktion des Zur-Erscheinung-Bringens der Dinge ausüben, wenn der Sinn der Worte und Sätze den Blick des Lesers auf die dargestellten Dinge und Menschen richtet und wenn die bloße Nennung gewisser wahrnehmbarer Eigenschaften oder Seiten der Dinge zur

Man lese auch etwa die folgende Szene aus Lord Jim von Joseph Conrad: "Jim paced athwart, and his footsteps in the vast silence were loud to his own ears, as if echoed by the watchful stars, his eyes roaming about the line of the horizon, seemed to gaze hungrily into the unattainable, and did not see the shadow of the coming event. The only shadow on the sea was the shadow of the black smoke pouring heavily from the funnel, its immense streamer, whose end was constantly dissolving in the air. Two Malays, silent and almost motionless, steered, one on each side of the wheel, whose brass rim shone fragmentarily in the oval of light thrown out by the binnacle. Now and then a hand, with black fingers alternately letting go and catching hold of revolving spokes, appeared in the illumined part; the links of wheel-chains ground heavily in the grooves of the barrel. Jim would glance at the compass,..." Jim ging zwischen Backbord und Steuerbord auf und ab, und seine Schritte klangen ihm in der riesigen Stille laut in den Ohren, als hallten sie von den wachsamen Sternen wider: seine Augen, die Uber die Linie des Horizontes schweiften, schienen hungrig in das Unerreichbare zu blicken und sahen nicht den Schatten des kommenden Ereignisses. Der einzige Schatten auf dem Meer war der Schatten des schwarzen Rauches, dessen mächtige Fahne schwer aus dem Schornstein quoll und sich stetig in der Luft auflöste. Zwei Malaien, schweigsam und fast reglos, steuerten, einer auf jeder Seite des Rades, dessen Messingrand teilweise in dem Oval des Lichtscheins aus dem Kompaßhauschen aufschimmerte. Von Zeit zu Zeit tauchte in dem Lichtschein eine Hand mit schwarzen Fingern auf, die abwechselnd losließen und dann wieder die kreisenden Spaken packten; die Glieder der Steuerkette knirschten in den Hohlkehlen der Trommel. Jim warf einen Blick auf den Kompaß,... [Joseph Conrad, Lord Jim, übers, von Fritz Lorch, Frankfurt a. M. 1983, S. 28/29.]

68

I. Funktionen

des

Erkennens

Folge hat, daß dem Leser auf einmal die entsprechenden Ansichten aufgezwungen werden. Dann sieht er die Dinge, hört die Klänge, die von klingenden Sachen hervorgebracht werden usw. Man soll auch nicht meinen, daß gerade diejenigen Teile des Textes dem Leser aktualisierte Ansichten mit großer Kraft aufzwingen, welche die wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge mit großer ("peinlicher") Genauigkeit beschreiben. Im Gegenteil, es kommt vor, daß die Andeutung eines einzigen Zuges einer gegenständlichen Situation ausreicht, um im Leser eine lebendige Ansicht dieser ganzen Situation bzw. der an ihr teilnehmenden Dinge und Menschen hervorzurufen. Als Beispiel kann die bereits erwähnte Szene von Ursus' Kampf mit dem Stier dienen: man hört in einem bestimmten Augenblick das Fallen der Kohlestückchen von den Fackeln der Diener: so still war es im Zirkus. Zu den visuellen Ansichten des Zirkus, der Zuschauerbänke, der Arena usw. gesellt sich einerseits die Ansicht der flackernden Lichter der Fackeln, andererseits eben die "Ansicht" der tiefen Stille des ganzen Theaters im Kontrast zu dem leisen Geräusch der fallenden kleinen Kohlestücke. Und in dieser Stille hört man auf einmal das zerbrochene Genick des Stieres krachen. Werke, in denen dem Leser die Ansichten mit einer so großen suggestiven Kraft aufgezwungen werden, werden in ihrer Ansichtenschicht viel getreuer rekonstruiert als Werke, in welchen die Ansichten eher idealiter bestimmt und den dargestellten Dingen zugeordnet werden, ohne daß sie dem Leser aufgezwungen wären. Werke, die an anschaulichen Elementen der paratgehaltenen Ansichten aus verschiedenen

Gebieten der sinnlichen Erfahrung sehr reich

sind, kann der Leser insofern falsch rekonstruieren, als er der Mannigfaltigkeit der Ansichten nicht gerecht werden kann. Die Leser sind oft einseitig, sie aktualisieren z.B. visuelle, aber schon keine akustischen oder taktuellen Ansichten mehr. Wo es nötig ist, Ansichten aus sehr verschiedenen sinnlichen Gebieten, besonders aus dem Gebiet der psychischen Strukturen des Menschen zu aktualisieren, da überschreitet diese Aufgabe oft die Phantasiekraft des Lesers. Er aktualisiert dann vorwiegend Ansichten aus einem einzigen sinnlichen Gebiet und läßt viele Ansichten anderer Sinne ganz aus. Infolgedessen kann es zur Enthüllung der für das Werk wesentlichen ästhetisch relevanten Qualitäten gar nicht kommen; die ästhetische Erfassung des Werkes bleibt unvollkommen und wird dem Werk nicht gerecht.

§ 12. Aktualisieren

der

Ansichten

69

Vermöge der aktualisierten Ansichten erlangen die dargestellten Dinge eine größere Plastizität und Deutlichkeit des Auftretens, sie werden lebendiger und konkreter, wodurch der Leser anscheinend in unmittelbaren Verkehr mit ihnen tritt. Aber nicht nur die Intensität und der Reichtum des anschaulichen Erscheinens der dargestellten Gegenstände verdanken wir den bei der Lektüre aktualisierten Ansichten. Sie führen ihrerseits in das Werk eigentümliche, ästhetisch wertvolle Momente, z.B. gewisse dekorative Momente ein. Die Wahl dieser Momente hängt öfters mit der im Werk oder in einem seiner Teile herrschenden Stimmung oder einer metaphysischen Qualität nah zusammen. Die auf diesem Weg erleichterte Erscheinung einer bestimmten metaphysischen Qualität bildet den Kulminationspunkt des Werkes und spielt bei der Konstituierung der ästhetischen Konkretisation des Werkes während der Lektüre eine große Rolle. Angesichts der mannigfachen Weisen, in welchen die Ansichten vom Leser aktualisiert und konkretisiert werden, kann die ästhetische Erfassung eines und desselben Werkes in dieser Hinsicht sehr verschieden ausfallen. Infolgedessen treffen nur manche ästhetische Erfassungen bzw. Konkretisationen das Werk in der ihm eigenen Gestalt. Sogar die werkgetreuen ästhetischen Konkretisationen können sich in dieser Hinsicht noch stark voneinander unterscheiden und sehr verschiedene ästhetisch wertvolle Qualitäten und damit auch verschiedene ästhetische Werte erscheinen lassen. Da stoßen wir wiederum auf einen der Gründe für die Tatsache, daß sich Leser - manchmal gerade sehr hochgebildete und empfindliche Kritiker - bei der Bewertung desselben literarischen Kunstwerks nicht einigen können. Wir werden noch darauf zurückkommen. Die vom Leser aktualisierten Ansichten bilden fast nie ein ganzes Kontinuum, sondern treten gewöhnlich voneinander gesondert auf; sie werden dem Leser nur von Zeit zu Zeit aufgezwungen und mehr oder weniger lebhaft von ihm erlebt. Wo die Ansichten voneinander gesondert sind, kommt es zu einer gewissen Stabilisierung ihrer Gehalte. Es bilden sich bei der Lektüre auch gewisse Stereotypen, gewisse stabilisierte Formen der Ansichten aus, mit deren Hilfe der Leser die Gegenstände zur Erscheinung bringt. Statt eine (dargestellte) Person je nach den Umständen in jeweils anderen Ansichten vorzustellen, stellen wir sie oft in immer denselben Ansichten vor, ohne auf die inzwischen veränderten Eigenschaften dieser Person zu achten. Dies kommt

70

/. Funktionen des Erkennens

z.B. vor, wenn in einem Roman lange Lebensabschnitte einer bestimmten Person dargestellt werden, so daß sie z.B. sichtlich altert bzw. altern muß. Der Leser stellt sich diese Person aber trotzdem immer wieder auf dieselbe Weise, d.h. in stereotyp gewordenen Ansichten vor. Dasselbe gilt auch für die Ansichten der Straßen einer bestimmten Stadt, die ständig von demselben Standpunkt aus vorgestellt werden, während sie in dem betreffenden Werk von verschiedenen Gesichtspunkten aus zur Darstellung gebracht werden. Darin liegt eine weitere Ursache inadäquater ästhetischer Erfassung eines literarischen Kunstwerks, eine Ursache, die in diesem Fall rein subjektiv bedingt ist, aber auf die Enthüllung oder Verdeckung einer am Werk selbst erscheinenden ästhetisch relevanten Qualität ihren Einfluß ausübt. Diese Bemerkungen dürften ausreichen, um uns davon zu überzeugen, daß das literarische Kunstwerk in dieser Hinsicht auf sehr verschiedenartige Weise aufgenommen werden kann.

§ 1 3 . Besonderheit des V e r s t e h e n s des literarischen Kunstwerks als einer D i c h t u n g Bevor ich zu den Problemen der Erfassung des literarischen Kunstwerks im ganzen Zusammenhang aller seiner Schichten und Teile übergehe, muß ich noch einmal auf das Problem des Verstehens seiner sprachlichen Doppelschicht zurückgreifen, da sich bei Kunstwerken dieser Art, und insbesondere bei Dichtungen, spezielle Probleme stellen. Ich habe schon erwähnt, daß in einem literarischen Kunstwerk die Sätze, welche ihrer Form nach prädikative Sätze sind und äußerlich den Charakter von Behauptungssätzen haben, doch nur Quasi-Urteile sind und so gelesen und verstanden werden sollen, wenn man das betreffende Kunstwerk nicht mißverstehen will (was beim naiven Leser übrigens oft geschieht). Ja, wie steht es aber damit? Woher wissen wir denn, daß wir eine Dichtung oder einen Roman auf eben diese Weise lesen sollen, wenn sich - wie es in der gewöhnlichen literarischen Sprache geschieht - die prädikativen Sätze im literarischen Kunstwerk in ihrer äußeren Form als Quasi-Urteile nicht von den echten Ur-

S 13. Signale für Dichtung

(Rilke)

71

teilen unterscheiden? 47 In der Logik 48 hat man bekanntlich ein besonderes Zeichen eingeführt, das Assertionszeichen, welches echte Urteile (wie die Logiker sagen: Thesen des Systems) von den Sätzen unterscheidet, die eben keine Thesen, sondern bloße Aussagesätze (oder in der Meinongschen Terminologie: "Annahmen") sind. 49 Doch sind solche Zeichen in der gewöhnlichen Umgangssprache und auch in der literarischen Sprache nicht eingeführt worden. Und wenn man auch für die Quasi-Urteile ein solches besonderes Zeichen einführt, so wüßte der Leser nur - wenn er die besondere Modifikation der Quasi-Urteile aus eigener Erfahrung nicht kennen würde - , daß er die prädikativen Sätze im literarischen Kunstwerk weder als Behauptungen noch als reine Aussagesätze lesen soll; wie käme er aber darauf, sie in noch einer anderen Funktion zu verstehen? Nun, die Dichter verwenden solche besonderen Zeichen nicht. Trotzdem gibt es, wie ich glaube, in der Sprache der literarischen Kunstwerke besondere Mittel, welche den Leser zu der Einstellung bringen, die prädikativen Sätze

47

Diese Frage stellte mir Käte Hamburger in ihrer Logik der Dichtung und meinte, man müsse die Theorie der Quasi-Urteile fallen lassen, da es eben keinen äußerlichen, formalen Unterschied gebe bzw. da er von mir nicht ausgewiesen worden sei. Sie führte dann einen anderen Namen für die prädikativen Sätze im literarischen Kunstwerk ein, wodurch sich meines Erachtens sachlich nichts geändert hat, und bemühte sich, eine besondere Form des deutschen Präteritums zu finden, welche eben die Quasi-Urteile von den echten Behauptungssätzen unterscheiden soll. Ich bin kein Spezialist für deutsche Sprache und muß die Frage, ob es tatsächlich eine solche besondere Vergangenheitsform des deutschen Zeitworts gibt, den Fachleuten zur Entscheidung überlassen. Rein morphologisch aber scheint mir da kein besonderer Unterschied zwischen der von Käte Hamburger aufgezeigten Form des Präteritums und den übrigen Vergangenheitsformen des deutschen Zeitworts zu bestehen. Wenn dem so ist, dann kann dieser Unterschied nur in einer anderen Verwendung als in den Urteilen liegen. Diese Verwendung hätte dann zur Folge, daß der betreffende Satz keine sozusagen normale Behauptungsfunktion ausübt, sondern in dieser Funktion einer eigentümlichen Modifikation unterliegt, die ich eben bei den von mir so genannten QuasiUrteilen vorzufinden glaube. Aber es bleibt dann die von Käte Hamburger gestellte Frage offen, wie der Leser darauf kommt, die betreffenden Zeitwörter gerade auf solche Weise zu verwenden, um das literarische Kunstwerk richtig zu verstehen. (Vgl. dazu auch meine Diskussion mit K. Hamburger im Literarischen

48

2. oder 3. Auflage.)

Das hat Bertrand Russell in seinem gemeinsam mit [Alexander North] Whitehead verfaßten Buch Principles of Mathematics

49

Kunstwerk,

getan.

[Vgl. Alexius Meinong, Uber Annahmen

(Gesammelte Werke, Bd. 4), Graz 1977.]

72

/. Funktionen

des

Erkennens

als Quasi-Urteile zu lesen. Ich sehe hier von äußeren Mitteln, wie Titel oder auch Untertitel eines Werkes ab (z.B. Der Zauberberg, Roman). Die Gestaltung der künstlerischen Sprache selbst bringt den Leser von der normalen Einstellung, prädikative Sätze als Urteile zu lesen, ab und zwingt ihn, eine andere Einstellung anzunehmen. Es gibt in der Sprache - wie mir scheint - viele solche Mittel, doch führte es uns weit über unser Thema hinaus, wollten wir hier ihre ganze Mannigfaltigkeit ausführlich behandeln. Ich beschränke mich hier also nur auf einige Hinweise. Die genannten Mittel sind sowohl in der sprachlautlichen Gestaltung als auch in der Sinnbildung der Sätze zu suchen. Beim sprachlautlichen Material handelt es sich vor allem um die Wahl der Wörter, die in ihrem Sinn und Wortlaut und dann in ihrer Zusammenstellung der Art sind, daß wir sie weder in der gewöhnlichen Umgangssprache, welche wir beim Handeln verwenden, um mit anderen Menschen in der gemeinsamen realen Welt etwas zu realisieren, noch in der Sprache der Wissenschaft benutzen, da sie dort nicht bloß ungewöhnlich und seltsam, sondern vor allem ungeeignet erschienen. So ist es z.B. mit "pathetischen", "großen" Worten, wo "schlichte", "einfache" Worte am Platz wären. Sie sind der Situation im konkreten Leben gar nicht angepaßt und würden uns eher von dieser Situation ablenken. In der Folge erschienen sie uns eben als nicht passend, unnütz und lächerlich. Auch der sich von der gewöhnlichen Sprach- bzw. Satzmelodie unterscheidende Tonfall der Sätze, die zur Erscheinung kommenden besonderen Rhythmen machen den Leser darauf aufmerksam, daß die Sprache nicht im normalen Verkehr und nicht in der Einstellung auf die gemeinsame reale Welt verwendet wird, sondern augenscheinlich irgendeine andere Funktion ausübt. 50 Lesen wir z.B. das folgende Stück aus R.M.Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke: A l s M a h l b e g a n n s . U n d ist ein Fest g e w o r d e n , k a u m w e i ß m a n w i e . D i e h o h e n F l a m m e n f l a c k t e n , d i e S t i m m e n schwirrten, wirre L i e d e r klirrten aus G l a s und

Diese Erscheinung zeigt sich nicht in allen literarischen Kunstwerken, z.B. in den naturalistischen Dramen vom Ende des XIX. Jahrhunderts, etwa Ibsen, gewiß nicht. Aber da sind es andere Mittel, die den Leser von der Einstellung auf die reale Welt und vom Vollzug echter Urteile abbringen. (Vgl. dazu meinen Artikel "Über die Funktionen der Sprache im Drama [rede: Theaterschauspiel]", der in den späteren Auflagen des Literarischen werks abgedruckt wurde.)

Kunst-

§ 13. Signale für Dichtung (Rilke)

73

Glanz, und endlich aus den reifgewordnen Takten: entsprang der Tanz. Und alle riß er hin. D a s war ein W e l l e n s c h l a g e n in den Sälen, ein S i c h - B e g e g n e n und ein Sich-Erwählen, ein A b s c h i e d n e h m e n und ein W i e d e r f i n d e n , ein Glanzgenießen und ein Lichterblinden und ein S i c h - W i e g e n in den S o m m e r w i n d e n , die in den Kleidern warmer Frauen sind. A u s dunklem W e i n und tausend Rosen rinnt die Stunde rauschend in den Traum der Nacht.

Auch wenn wir diesen Text nicht als Folge anderer Teile der Rilkeschen Dichtung besäßen, sondern als einen Text für sich, so merkten wir bald, daß es sich da nicht um einen einfachen Bericht über ein sich irgendwo und irgendwann wirklich abspielendes Fest handelt. Wer hielte so etwas, z.B. in einer Tageszeitung, für einen Bericht von einer wirklichen Ball Veranstaltung? Es ist Prosa und doch keine Prosa der - wenn man so sagen darf - Wirklichkeitssprache. Es treten ganz besondere Rhythmen, Melodien und auch Reime auf, die man doch in der Wirklichkeitssprache niemals verwenden würde, einfach deswegen, weil es nutzlos und unpraktisch wäre. Wer so spricht und "erzählt", würde diese Rhythmen, diesen Satzbau und diese Reime sicherlich nicht verwenden, wenn er uns einfach über eine wirkliche Tatsache berichten wollte. Die da vorhandenen sprachlautlichen Erscheinungen in einer solchen Zusammenstellung verfolgen sichtlich einen Zweck, der mit einer bloßen Information nichts zu tun hat. Sie üben übrigens noch weitere Funktionen aus, und zwar einerseits solche, die gleichsam im Bereich des Kunstwerks selbst zur Ausführung gelangen, andererseits aber solche, die auf eine besondere Wirkung des Werkes auf den Leser zielen. Innerhalb des Werkes haben sie die Funktion, eine besondere emotionale Atmosphäre für das, wovon gesprochen wird, etwa für das beschriebene Fest, zu schaffen, einen emotionalen Charakter, der mit anderen Mitteln wohl beschrieben, aber nicht anschaulich zur Erscheinung gebracht werden könnte. Gerade darum, daß dieser emotionale Charakter der dargestellten Begebenheiten dem Leser sichtbar gemacht wird und auf ihn auf besondere Weise wirkt, handelt es sich vor allem bei der Verwendung solcher sprachlautlichen Erscheinungen in der Sprache. Wollte man dem Leser nur von einer tatsächlichen Begebenheit berichten, könnte man dies viel schlichter und ruhiger machen. Die erwähnten sprachlautlichen Erscheinungen sollen zugleich im Leser eine Gemütsbewegung hervorrufen, ihn von der gewöhnlichen Einstellung eines im praktischen Leben stehenden Menschen abbringen und zu einer neuen Erlebnisweise bewegen; zu einer Erlebnisweise

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I. Funktionen des Erkennens

nicht bloß des Fühlens, sondern auch des gefühlsmäßigen Erschauens von Qualitäten, die zwar im täglichen Leben auch erscheinen könnten, aber im praktischen Leben unserer Aufmerksamkeit entgehen. Schon die angedeuteten Eigentümlichkeiten der Sprache machen den Leser darauf aufmerksam, daß er es da mit etwas anderem als mit einem Bericht über wirkliche Tatsachen zu tun hat. Aber auch der Sinn der verwendeten Worte macht den Leser darauf aufmerksam, daß es nicht darum geht. Der Sinn einer Reihe von Wörtern wäre unpassend, handelte es sich um einen solchen Bericht. Die Wörter werden nicht in ihrer- wie man sagt- "wörtlichen", sondern in übertragener Bedeutung genommen, sie sollen offensichtlich auf etwas anderes als sonst in der Umgangssprache intentional hinweisen. Wollten sie wörtlich genommen werden, dann hätten wir es mit unwahren, ja lächerlich klingenden Behauptungen zu tun. Wer könnte ernstlich behaupten, daß Lieder "aus Glas und Glanz" "klirren" oder überhaupt "klirren" können? Wer würde behaupten, daß Takte "reif werden oder daß es in Sälen ein "Wellenschlagen" geben kann? Sollte das alles wirklich wörtlich verstanden werden und als ernstlicher Bericht, der wahr sein soll, so müßte man sich sagen, es würde uns da etwas Unglaubliches vorgelogen, das wir in diesem Sinn überhaupt nicht ernst nehmen können. Es wäre also ganz unzweckmäßig, uns über ein wirkliches Vorkommnis in solchen unpassenden, unwahren Wendungen zu berichten, da doch ein Tatsachenbericht nur den Zweck verfolgen kann, denjenigen, dem über etwas berichtet wird, davon zu überzeugen, daß sich alles wirklich so, wie berichtet, abgespielt hat. Augenscheinlich verfolgt der so gestaltete Text einen völlig anderen Zweck und hat auch einen anderen Sinn, wenn er sozusagen "vernünftig" und ernst genommen werden soll: nicht als ein Zusammenhang wahrer Behauptungen, sondern als sprachliches Gebilde, das ein menschliches Geschehnis möglichst anschaulich in einigen hervorstechenden Zügen vorführen soll. Obwohl also die im Text Rilkes enthaltenen Sätze den äußeren Charakter von Tatsachen-Aussagen haben und es kein künstliches Zeichen gibt, das ihnen diesen Charakter abspricht, werden sie dennoch nicht als Urteile gelesen; man kann es nicht, wenn sie nicht lächerlich werden sollen. Sollen wir sie aber als bloße "Annahmen" im Meinongschen Sinn lesen, 51 die überhaupt jeder

5

'

[Vgl. A. Meinong, Über Annahmen (Gesammelte Werke, Bd. 4). Graz 1977.]

§ 13. Mehrdeutigkeit von Dichtung

75

Behauptungsfunktion beraubt, die also streng "neutral" sind? Dies scheint auch nicht der Fall zu sein, und zwar gerade deswegen, weil die verwendeten Worte, sowohl in ihrem Sprachlaut, ihrer sprachlautlichen Zusammenstellung als auch in ihrem merkwürdig "opalisierenden" Sinn die offensichtliche Funktion ausüben, noch einen anderen Zweck zu haben, als uns nur das bloße Denken gewisser Bedeutungseinheiten zu ermöglichen - wie wir es z.B. beim Erlernen der Redewendungen einer fremden Sprache tun, um sie kennenzulernen. Der Zweck ist da sichtlich der, den Leser in eine besondere Stimmung zu versetzen, eine Stimmung, die zwar stark emotional gefärbt ist, zugleich aber nicht so stark und so ernst, daß der Leser wirklich darunter litte oder wirklich glücklich wäre, sondern daß sie ihm erlaubte, *an der sprachlich entworfenen Imago* eines Geschehnisses in der Einstellung des Erschauens in Rührung und bewundernder Anerkennung Gefallen zu finden. Nicht daß wirklich etwas geschieht, ist wichtig, sondern nur, daß das, was sich vor unseren Augen entfaltet und *uns vorschwebt, alles nur so reizend aussieht, - in welchen Farben, Klängen, Bewegungen und selbst offenbaren Emotionen es auch sei gleichgültig, ob es uns vorgetäuscht wird oder gar wirklich war.* Nicht um bloßes Verstehen gewisser Bedeutungseinheiten handelt es sich, sondern um das erfassende Erleben ganz besonderer, anschaulich auftretender wertvoller Qualitäten und Werte, die mit der Wahrheit oder Falschheit gewisser Sätze nichts zu tun haben. Die in besonderes sprachliches Lautmaterial gekleideten Bedeutungseinheiten

in

ihrem

eigentümlich

schillernden

Doppelsinn

entwerfen ein anschauliches, mit besonderen materiell gefärbten Qualitäten durchsetztes Material, an dem der Leser eben jenen qualitativen Wertzusammenhang als eine notwendige Erscheinung übertragend erfassen kann. Daher stammt einerseits der ßwasi-Urteils-Charakter der auftretenden prädikativen Sätze, andererseits ihr Quasi-i/r/eiVs-Charakter. Die Sätze üben eine gewisse Suggestion auf den Leser aus, dem glaubhaft gemacht werden soll, daß so etwas, wie es *an der Imago* aufgezeigt wird, "möglich" ist, und der sie doch nicht als wirklich wahr und den wirklichen Tatsachen entsprechend anerkennen soll. Sie sollen auch vom Leser in diesem Charakter zur Kenntnis genommen werden, und die eben angedeuteten künstlerischen Mittel ermöglichen ihm eine solche Entgegennahme dieser Sätze. Dies setzt aber voraus, daß sie vom Leser in ihrem eigentümlich schillernden oder opalisierenden Sinn richtig verstanden werden. Die Bedeutung der

76

I. Funktionen des Erkennens

Wörter und infolgedessen auch der ganzen Sätze ist, wie ich mich ausdrückte, "opalisierend". Sie ist fast nie die "wörtliche", d.h., das "aus Glas und Glanz Klirren der Lieder" soll nicht im echten, schlichten Sinn aus "Glas und Glanz Klirren" sein. Die Wendung soll aber auch ihren wörtlichen Sinn nicht etwa ganz verlieren, doch soll dieser Sinn in seinem Dasein und in dem durch den Leser Verstanden-Werden zugleich auf etwas anderes hinweisen, was in sich nur irgendwie dem "ähnlich" und analog ist, was das Wort ursprünglich bedeutet. Und es muß zugleich klar werden, daß es eben letzten Endes um dieses andere, nur Analoge geht, während die wörtliche Bedeutung des Wortes infolge des Kontextes zu schillern beginnt, so daß die ganze Wendung nur zu einem besonderen Mittel wird, auf jenes nicht direkt genannte andere hinzuweisen. Die Funktion der wörtlichen Bedeutung einer Wendung erschöpft sich aber nicht darin, auf dieses andere, nur Analoge oder nur irgendwie Ähnliche hinzuweisen. Dieses Hinweisen geschieht auf die Weise, daß der Aspekt jenes "Glases" und jenes "Glanzes" und auch des "Klirrens", wie es für das Glas charakteristisch ist, doch nicht verloren geht, sondern sozusagen nur das anschauliche Gewand für jenen nicht direkt genannten Klangcharakter der Lieder sein soll. Und analog: nicht um echtes "Wellenschlagen" - wie wir es am Meeresstrand wirklich beobachten können - handelt es sich beim "Wellenschlagen in den Sälen", sondern um einen ähnlichen Charakter der Bewegung der in den Sälen tanzenden Menschen. Dieser Charakter der Bewegung, um den es hier eigentlich und letzten Endes geht, wird aber nicht direkt genannt und rein begrifflich bestimmt, so daß er dem Leser nicht direkt in seiner reinen, eigenen Gestalt gegeben wird, obwohl der Leser doch das Gefühl hat, letzten Endes ihn zu meinen. Dieser der Tanzbewegung eigene Zug nimmt gewissermaßen den anderen, durch die wörtliche Bedeutung der Wendung suggerierten anschaulichen Charakter des "Wellenschlagens" an, unter dem er zur Erscheinung gebracht wird, zu einer Erscheinung, die eben vermöge der eigentümlichen Opalisierung der Bedeutung der Wendung hervorgerufen wird. Beide Bedeutungen haben also ihre Funktion, die wörtliche und die nur übertragen verwendete "eigentliche" - um die es letzten Endes geht - , und sie spielen die unentbehrliche Rolle der Konstituierung der im Werk dargestellten Geschehnisse. In den letzten Jahren wurde sehr viel, besonders in der angelsächsischen ästhetischen Literatur, über die sog. "Metapher" geschrieben. Ich habe nicht

§ 13. Mehrdeutigkeit

von

Dichtung

77

die Absicht, das Thema der Metapher - ihrem eigentümlichen Wesen und ihrer Funktion nach - hier ausführlich zu behandeln. Das gehört zu einer weiteren Ausführung der allgemeinen Theorie des literarischen Kunstwerks, die nicht zur Aufgabe unserer jetzigen Überlegung gehört. Es handelt sich hier lediglich darum, auf den besonderen Charakter des Verstehens der Bedeutungsschicht bzw. der Sprache eines literarischen Kunstwerks hinzuweisen. Dieses Verstehen unterscheidet sich wesentlich vom Verstehen etwa wissenschaftlicher oder bloß informativer Texte über wirkliche Tatbestände, wie es z.B. in Zeitungsberichten der Fall ist. Erstens wird die schlichte Behauptungsfunktion der im wissenschaftlichen Werk oder in Tatsachen-Berichten auftretenden Urteile in Quasi-Urteile verwandelt. Zweitens aber handelt es sich im literarischen Kunstwerk um ein ganz anderes Denken der Sinneinheiten als in den Tatsachen-Berichten oder in wissenschaftlichen Werken. In diesen letzteren literarischen Gebilden handelt es sich um ein eindeutiges Mitdenken der Bedeutung, bzw. der Satzsinne, die nicht in einer übertragenen, sondern nur in der den Worten in der betreffenden Nationalsprache eigenen Bedeutung verwendet werden. Jedes "Opalisieren", jedes mittelbare, "doppelstrahlige" Meinen dessen, um was es sich in einem Bericht oder in einem wissenschaftlichen Werk handelt, ist da fehl am Platz. Der "eigentliche" Sinn wird da "ewstrahlig" und direkt erfaßt und gemeint. In einem literarischen Kunstwerk dagegen, in welchem derartige, sagen wir um der Kürze willen "metaphorische" Wendungen auftreten, wäre ein solches Verstehen ganz verfehlt. Der "wörtliche", aber übertragen verwendete Sinn des Wortes wird da zwar verstanden, aber nur als Mittel verwendet, um mit seiner Hilfe eine andere Bedeutung mitzudenken, welche uns zu dem durch die Metapher nur Suggerierten direkt führt, wenn sie wirklich und zentral gemeint bzw. im Mitdenken vollzogen würde, die aber von der "übertragen" verwendeten Bedeutung nur nahegelegt, suggeriert, aber doch nicht in ihrem eigentlichen Inhalt gedacht wird. Das ist ein ganz eigenartiges Mitdenken des Sinnes, der in der Doppelschicht der Sprache des literarischen Kunstwerks enthalten ist, ein Mitdenken, das eben charakteristisch opalisierend, "doppelstrahlig" im Meinen der Wort- und Satzsinne ist und dann doch seinen Abschluß und seine Kulmination in der Eindeutigkeit der Meinung darüber erlangen soll, um was es im Gedicht "eigentlich" geht, was auf einem Umweg über die metaphorische Redeweise bestimmt wird und, genauer besehen, nur auf diesem Weg bestimmt und

78

/. Funktionen

des

Erkennens

gemeint werden kann. Dieses "opalisierende" Verstehen bzw. Mitdenken der Sprache des dichterischen Kunstwerks bringt besondere Schwierigkeiten mit sich, die nicht immer und auch nicht gleich bei der ersten Lektüre vom Leser überwunden werden. Denn "hinter" den Worten, die da verwendet werden und die doch zunächst verstanden werden müssen, gilt es, eine andere Bedeutung zu suchen, und zwar keine beliebige, sondern eine bestimmte, die zwar durch das metaphorisch verwendete Wort oder die Wendung dem Leser suggeriert wird, aber doch gewöhnlich nicht mit der ausreichenden Eindeutigkeit und auch nicht mit der nötigen Kraft, welche es dem Leser ermöglicht, mühelos im Gedicht die "eigentliche", hinter den Worten stehende Bedeutung zu treffen und dann mit voller Aktivität zu vollziehen, ohne zugleich die wörtliche Bedeutung ganz aus den Augen zu verlieren und darauf zu verzichten, sie mitzudenken. Angesichts dieser auf ihm lastenden, schwierigen Aufgabe versagt der Leser leicht, und zwar auf verschiedene Weise. Am schlimmsten da, wo er die Anspielung auf die "uneigentliche", nur metaphorisch verwendete Bedeutung entweder überhaupt nicht berücksichtigt oder in einer anderen Richtung deutet *als diejenige*, um welche es sich im Gedicht wirklich handelt, wo er also die "eigentliche", letzten Endes gemeinte Bedeutung verfehlt. Dann wird das Werk nicht so sehr nicht verstanden, als eben m f/J verstanden. Eine andere Gefahr liegt vor, wenn diese "eigentliche", letzte Bedeutung zwar richtig verstanden wird, aber zugleich die uneigentliche, metaphorische Bedeutung zunächst nur als Mittel zwar verwendet wird, um zur "eigentlichen" Bedeutung zu gelangen, dann aber überhaupt fallen gelassen wird, so daß die uneigentliche Bedeutung bei der Erfassung des Sinnes des Gedichts überhaupt nicht mehr ihre veranschaulichende Funktion ausüben kann und das Gedicht dann nicht opalisierend, "doppelstrahlig" und infolgedessen in schillernder Anschaulichkeit erfaßt wird, sondern in ein rein gedankliches, wenn man so sagen darf, "intellektuelles" Gebilde umgewandelt wird. 5 2 Das Dichterische als solches verschwindet dann ganz aus dem

Man kann die Frage stellen, ob dieses Schillern und Opalisieren des Sinns der Handlungen und Sätze auch z.B. im naturalistischen Drama oder in einem zeitgenössischen Roman erhalten bleibt, die ja - wie es öfters betont wurde - in schlichter Umgangssprache geschrieben sind (vgl. z.B. die Dramen Ibsens, Die Buddenbrooks

von Thomas Mann oder Romane

von Zola). Dies müßte an einzelnen Werken genau untersucht werden. Wenn es sich nicht bestätigen sollte, so müßte man andere künstlerische Mittel suchen, die darüber entschei-

§ 13. Mehrdeutigkeit

von

Dichtung

79

Gesichtsfeld, und es ist überhaupt die Frage, ob das betreffende Werk in diesem Fall doch noch als ein Kunstwerk erfaßt werden kann. 53 Dies passiert manchmal den Literaturforschern, die ihre Leser über den "Inhalt" z.B. eines lyrischen Gedichts belehren wollen und dabei ein philosophisches Theorem aus ihm machen oder das Gedicht als Bericht des Dichters über seine Liebeserlebnisse deuten. Da liegt einer der Kernpunkte und die Hauptgefahr der Kunst der Interpretation, von der Emil Staiger einst sprach, aber in seiner einleitenden Betrachtung, welche diese Kunst bestimmen sollte, nur gar wenig darüber zu sagen hatte. 54 Und das echte Problem der "Interpretation", daß nämlich oft bei einem und demselben literarischen Kunstwerk viele Interpretationen möglich sind und daß sie sich aus dem verschiedenen (aber doch in gewissen Grenzen zulässigen) Verstehen der Doppelschicht der Sprache ergeben, wurde von ihm überhaupt nicht berührt. Aber auf diese verschiedenen erkenntniskritischen und insbesondere auch ästhetisch-kritischen Probleme des "richtigen" und "unrichtigen" Verstehens der literarischen Kunstwerke (und besonders der lyrischen Dichtung) werde

den, daß auch in solchen literarischen Kunstwerken keine echten Urteile, sondern nur Quasi-Urteile auftreten. Zu beachten ist, daß auch die anscheinend schlichtesten Redewendungen, die in ihnen verwendet werden, doch nur eine Nachahmung

der täglichen Rede-

weise der Menschen sind (wovon man sich leicht überzeugen kann, wenn man die künstlerische Prosa eines Romans mit Magnetophonaufnahmen tatsächlich geführter Gespräche oder Vorträge vergleicht). Dann aber wäre zu erwägen, ob bestimmte Kompositionszüge größerer Teile eines Werkes (z.B. einzelner Kapitel oder Akte) nicht ein Anzeichen dafür sind, daß das Ganze doch beabsichtigte Kunst und nicht einfach ein Tatsachen-Bericht ist, wodurch sich sofort zeigt, daß sich die im Werk auftretenden Sätze nicht auf reale, dem Werk transzendente Tatsachen beziehen, sondern auf eine nur mit ihrer Hilfe entworfene vorgetäuschte "Wirklichkeit", und daß sie ebenfalls doppelsinnig sind: anscheinend postulieren sie, sich auf eine echte Wirklichkeit zu beziehen, aber bestimmen nur eine vermeintliche, "dargestellte" Welt, die nur den Anspruch erhebt, eine echte Wirklichkeit vorzutäuschen. Auch in diesem Fall muß der Leser diesem besonderen Fall des "Schillems" der Behauptungseinheiten gerecht werden. Das ist natürlich eine komplizierte Frage, die nur unter Berücksichtigung mehrerer anderer Gesichtspunkte - z.B. *[denke man an die]* mögliche Erscheinung ästhetisch relevanter Qualitäten, die den ästhetischen Wert des Werkes konstituieren - beantwortet werden kann. Sie kann also erst später in Angriff genommen werden. 54

Vgl. Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation

[Zürich 1955], S. 9 - 3 3 .

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I. Funktionen

des

Erkennens

ich erst später eingehen können. Bis jetzt handelt es sich nur um eine beschreibende Analyse dessen, was bei der Lektüre geschieht oder geschehen kann, nur um einerseits die Spezifität des Verhaltens bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerks etwas anzudeuten und um andererseits vorbereitendes Material zu weiteren Betrachtungen zu sammeln.

§ 13a. Das Z u s a m m e n f a s s e n aller Schichten des W e r k e s zur Ganzheit und die E r f a s s u n g seiner Idee Auf diese Weise wurden die zusammengesetzten und eng miteinander verbundenen subjektiven Operationen vorbereitend beschrieben, vermöge welcher der Leser alle Schichten des Werkes zur Sicht bekommt und eine bestimmte Konkretisation desselben hervorbringt. Freilich wurden jene Komplikationen noch nicht berücksichtigt, die sich einerseits aus der quasi-zeitlichen Struktur des literarischen Werkes, andererseits aus dem notwendig zeitlichen Verlauf des Lesens des Werkes ergeben. Darauf wird später eingegangen werden. Wie wir gesehen haben, vollzieht sich das Kennenlernen des literarischen Kunstwerks beim Lesen in mehreren verschiedenen Operationen, die alle zugleich ausgeführt werden müssen. Der Zusammenhang zwischen diesen Operationen hat zur Folge, daß die Schichten des Werkes, mit denen wir uns auf diese Weise bekannt machen, keine voneinander isolierten Gebilde sind, sondern ihrerseits von vornherein in verschiedenen mehr oder weniger engen Zusammenhängen miteinander auftreten. 5 5 Trotz der Verschiedenheit und Menge der Operationen bildet ihr gleichzeitiges Vollziehen erst den ersten, unentbehrlichen Schritt zur Erfassung des Werkganzen, besonders, wenn es sich um seine ästhetische Erfassung handelt. Und dies aus doppeltem Grund: Erstens, weil die Schichten nicht so sehr trotz ihrer Heterogenität, als eben wegen ihr einander angepaßte, aufeinander abgestimmte Glieder einer, wie man gewöhnlich nicht ganz korrekt sagt, "organisch" gebauten Ganzheit sind, die mehr und etwas anderes darstellt als eine zusammengewürfelte Anhäufung loser, nur nebeneinander gelagerter Schichten. Zweitens aber, weil das 55

Wie eng dieser Zusammenhang ist, hängt von verschiedenen Eigenheiten des Werkes ab. Aber die Weise, in welcher das Werk bei der Lektüre erfaßt wird, hat Einfluß darauf, wie eng dieser Zusammenhang dem Leser erscheint.

Das muß später noch untersucht werden.

§ 13a. Ganzheit und Idee des Werks

81

literarische Werk im Hinblick darauf, daß es aus mehreren aufeinanderfolgenden Teilen besteht (vgl. unten Kapitel II), wiederum keine bloße Reihe lose miteinander verbundener und einander fremder Gebilde ist, sondern aus Teil-Phasen besteht, die sich auf verschiedene Weise gegenseitig beeinflussen, näher bestimmen und wiederum zu einem innerlich geschlossenen Ganzen führen, bzw. nur an ihm zu unterscheiden sind. In jeder dieser Hinsichten treten wieder andere Schwierigkeiten bei der Erta»sung des Werkganzen auf. Manche von ihnen sind der Art, daß eine endgültige Erfassung dieses Ganzen in einem Griff überhaupt nicht zu erlangen ist. Ich werde mich zunächst mit der ersten Reihe dieser Schwierigkeiten beschäftigen Auch das Kennenlernen aller einzelnen Schichten des Werkes genügt noch nicht zur Erfassung seiner Ganzheit. Die Operationen, die zu diesem Zweck auszuführen sind, sind dabei verschieden, je nachdem, ob wir das Werk selbst in seiner schematischen Gestalt und in vorästhetischer Einstellung zu erfassen suchen, oder ob wir es als Objekt des ästhetischen Erlebnisses in einer ästhetischen Konkretisation in den in ihr verkörperten ästhetischen Werten zu erschauen trachten. Ich werde aber erst später in der Lage sein, die dabei in Betracht kommenden Unterschiede zu analysieren. Vorläufig muß ich mich darauf beschränken, diejenigen Operationen bzw. Funktionen wenigstens in groben Zügen zu beschreiben, die wie eine Art Skelett den beiden unterschiedenen Weisen des Erkennens des literarischen Kunstwerks zu Grunde liegen, obwohl sie in jeder dieser Weisen einer gewissen Modifikation unterliegen. Zunächst aber muß ich wenigstens kurz auf den sog. "organischen" Aufbau des literarischen Kunstwerks eingehen. Von diesem "organischen" Aufbau des Kunstwerks hat man oft gesprochen - besonders in den Kreisen der Forscher, die unter dem Einfluß des Vitalismus oder der Gestalttheorie oder endlich W. Diltheys gestanden haben. Soviel ich aber weiß, hat man weder den Begriff des "Organismus", bzw. des "organischen Aufbaus", der dabei verwendet wird, näher geklärt, noch auch gezeigt, welche Eigenschaften der einzelnen Elemente des literarischen Kunstwerks zu einem solchen "organischen Bau" führen. In bezug auf die zweite Frage erlaube ich mir, auf mein Buch Das literarische Kunstwerk hin-

82

/. Funktionen des Erkennens

zuweisen, 56 in welchem ich einige Bemerkungen zu diesem Thema gemacht habe. Daher möchte ich mich hier kurz mit der ersten Frage beschäftigen. Was haben wir im Auge, wenn wir es nicht mit einem bloßen Komplex, mit einer zusammengewürfelten Anhäufung von losen, einander im Grunde fremden Elementen, sondern mit einem "Organismus" zu tun haben? Es entscheiden darüber, wie es scheint, viele verschiedene Züge. Auf einige von ihnen möchte ich hier hinweisen: 1. Ein "Organismus" existiert nicht bloß, sondern erfüllt auch oder soll, wenn man so will, eine besondere Hauptfunktion erfüllen, welcher verschiedene andere Funktionen, die von seinen einzelnen Organen ausgeführt werden, untergeordnet sind. Diese Haupt- oder Grundfunktion des Organismus besteht in der Erhaltung des individuellen Lebens, in dem zugleich die Erhaltung der Gattung ermöglicht wird und im Zusammenhang damit der Bildung der Nachkommenschaft dient. Die dieser Grundfunktion untergeordneten und dienenden Funktionen sind das Sich-Ernähren und insbesondere der Nahrungserwerb, die Anpassung an die Bedingungen, unter welchen sich die Verdauung, das Ausscheiden der entbehrlichen Produkte vollzieht, die verschiedenen Funktionen des zentralen Nervensystems usw., die unter anderem dem Lebewesen die unentbehrlichen Informationen über seine Umwelt vermitteln und ihm die Weisen der Reaktion auf die Einwirkungen, welche auf den Organismus von der Umwelt ausgeübt werden, ermöglichen. Der eigentümliche und zum Wesen des Organismus gehörende Zug liegt in der Hierarchie der verschiedenen aneinander angepaßten und auf verschiedene Weise voneinander abhängigen Funktionen, die alle letzten Endes der Hauptfunktion untergeordnet sind. Die Erfüllung dieser Hauptfunktion bildet seinen "Sinn", die Ratio seiner Existenz, seine "Bestimmung".

Zehn Jahre nach dem Erscheinen der ersten polnischen Fassung des Buches Über das Erkennen des literarischen Kunstwerks habe ich mich in meinem Streit um die Existenz der Welt mit dem Problem des "Ganzen" ausfuhrlich beschäftigt und insbesondere die Form eines "organischen Ganzen" analysiert (erschienen 1947/48 in polnischer, in den Jahren 1964/65 in deutscher Redaktion). Zu beachten ist aber, daß bei Kunstwerken von einem "Organismus" nur in übertragenem Sinn gesprochen werden kann, so daß die Form "organischer Bau" im literarischen Kunstwerk noch in verschiedenen Zügen von der Form eines Organismus im echten, bei Lebewesen zutreffenden Sinn abweicht.

§ 13a. Organismus-Begriff

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2. Das hierarchisch geordnete System der Funktionen des Organismus hängt mit der ihnen angepaßten Struktur (Aufbau) des Organismus eng zusammen. Jeder Organismus ist ein System von Organen, deren Bau ihnen die Erfüllung der einzelnen, untergeordneten (dienenden) Funktionen des Organismus erlaubt. Die Hauptfunktion wird aber nicht von den einzelnen Organen, sondern erst vom ganzen Organismus erfüllt. Die einzelnen Organe bedingen einander, ergänzen sich in ihren Funktionen und sind den anderen Organen bei der Erfüllung ihrer Funktionen behilflich. Jede Hypertrophie oder Hypofunktion eines Organs ruft gewisse Störungen in der Funktion anderer entsprechender Organe hervor. Diese Störungen können entweder ausgeglichen werden oder rufen gewisse Schädigungen vor allem an dem betroffenen Organ hervor. Aber das Zusammenwirken der verschiedenen Organe geht so weit, daß Schädigungen oder abnormale Funktionen eines Organs - wenn sie nicht zu schwerwiegend sind - durch die Mitwirkung anderer Organe beseitigt werden können. Man spricht da von der "Selbstregulation" der lebenden Organismen. Ist aber die Störung in der Funktion sowie die Schädigung im Aufbau des betreffenden Organs so bedeutend, daß sich die Veränderung der Funktion bzw. der Schaden im Aufbau des Organs nicht durch eine Selbstregulation beseitigen läßt, dann drückt sich dies in der Funktion und auch im Bau anderer Organe aus, und es kommt dann zu einer gefährlichen Störung oder gar Zerstörung des Gleichgewichts zwischen den Funktionen des Organismus. Solange die Störungen und Schädigungen der Organe aber noch beseitigt werden können, bzw. solange alles ohne Störung verläuft, herrscht in den Funktionen des Organismus ein merkwürdiges Gleichgewicht, das das wesentliche Merkmal der organischen Struktur und die Folge der einander angepaßten Funktionen der Organe ist. Kein Organ des Organismus ist selbständig und geht deshalb nach der Trennung vom Organismus zugrunde. Es darf auch vom Ganzen des Organismus nicht getrennt werden, sofern es sich nicht um ein "Doppelorgan", wie etwa die Lunge, handelt oder um ein Organ, das durch ein künstliches ersetzt werden kann. Dem scheint die Tatsache zu widersprechen, daß man experimentell verschiedene Organe von lebenden Organismen getrennt hat, die dann noch einige Zeit weiter existierten und sogar auf ihre Weise funktionierten. Doch vergißt man dabei, daß man diese

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I. Funktionen des Erkennens

herausgetrennten Organe sogleich in ein entsprechend gewähltes Milieu versetzte, das ihnen das Weiterbestehen und Funktionieren e r m ö g l i c h t e . 5 7 E s gibt im Organismus auch keinerlei Organe, bzw. E l e m e n t e , die von den übrigen Organen völlig isoliert, also in ihrem B a u und in ihren Funktionen von den übrigen E l e m e n t e n des Organismus ganz unabhängig wären. S i e scheinen aber doch in ihren Funktionen so gegeneinander abgegrenzt zu sein, daß sie im allgemeinen in ihren Funktionen von den Funktionen anderer Organe nicht gestört werden, solange sich der Einfluß dieser letzten Funktionen in den G r e n z e n des "Normalen" hält. Die Hierarchie unter den verschiedenen Organen des Organismus besteht nicht nur in dem Sinn, daß ihre Funktionen einander über- und untergeordnet sind und daß sie eine größere oder kleinere B e d e u t s a m k e i t für die Funktion des Organismus haben, sondern auch in dem Sinn, daß der Einflußbereich des einen Organs größer als der eines anderen Organs ist. Infolgedessen ist auch ein M a n g e l oder ein Ausfallen seiner Funktion von umfangreicherem und schädlicherem Einfluß auf die anderen Organe, als ein analoger Einfluß eines anderen Organs. 3. T r o t z aller individuellen Unterschiede im Schicksal der einzelnen Organismen, w e l c h e von deren Lebensumständen abhängen, zeigt sich bei allen Organismen ein gewisser typischer V e r l a u f des L e b e n s : auf die Phase der E n t wicklung und des Aufbaus folgt die Phase der Kulmination ( A K M É ) und dann die Phase des Alterns und der Rückbildung. Die Endlichkeit des L e b e n s scheint so kein Zufall zu sein, sondern das natürliche Ergebnis des Vollzugs seiner Funktionen, z . B . die Wirkung einer Ansammlung entbehrlicher Produkte in einzelnen Organen, welche zu ihrer Funktion nicht positiv beitragen, sondern ihre Leistungsfähigkeit mindern und die allgemeine Widerstandskraft des Organismus im L e b e n s k a m p f allmählich schwächen. O b die R e d e von der natürlichen Atrophie der " L e b e n s k r a f t " berechtigt ist, fühle ich m i c h nicht berechtigt zu entscheiden. Dasselbe gilt für die Frage, o b die teleologi-

Es ist aber bekannt, daß, wenn dieses neue Milieu ein fremder lebender Organismus ist z.B. bei der Verpflanzung einer Niere in einen fremden Organismus - , dieses Experiment in der Uberwiegenden Mehrzahl der Fälle mißlingt, weil der neue Organismus dieses Organ als "fremd" empfindet und es zu beseitigen strebt. Erst eine neuerliche Modifizierung des empfangenden Organismus schwächt diese Abwehr des Organismus und kann - wie es scheint - zu einem neuen Gleichgewicht im letzteren führen. Wie dies im einzelnen verläuft, ist schon nicht mehr unsere Sache.

§ 13a. Organismus-Begriff

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sehe oder die rein kausale Auffassung des Aufbaus des Organismus und seiner Funktionen richtig ist. Ihre Lösung hat übrigens für die Probleme, die mich hier interessieren, keine Bedeutung. Die obigen Bemerkungen reichen zweifellos nicht zu einer systematischen Analyse des Wesens des Organismus aus, 5 8 genügen aber für unseren Zweck durchaus. Es ist klar, daß der Begriff des Organismus auf das literarische Kunstwerk oder das Kunstwerk überhaupt nur in übertragener Bedeutung und annäherungsweise angewendet werden darf. Es ist natürlich kein lebender Organismus und besitzt auch kein seinsautonomes Sein. Es verdankt sein Bestehen und seine Gestaltung den schöpferischen Bewußtseinsakten und sonstigen Akten des Autors. Trotzdem besitzt es gewisse charakteristische Züge, die es erlauben, in ihm ein Analogon zu einem Organismus zu sehen, und zwar: 1. Es kommt hier vor allem die grundlegende Heterogenität der einzelnen Schichten des literarischen Kunstwerks in Betracht. Ihre Bestimmungen sind der Art, daß sie deutlich zueinanderpassen. Doch ist keine der Schichten von den übrigen unabhängig, weder in ihrem Sein noch in ihren Bestimmtheiten. So wie im Organismus eine Hierarchie der Organe besteht, in welcher die einen Organe mehr, die anderen aber weniger von anderen Organen abhängig sind, so gibt es auch im literarischen Werk eine Schicht, die noch am wenigsten von den übrigen abhängt. Es ist die Schicht der Sinneinheiten. Doch auch sie ist nicht völlig unabhängig von der Schicht der sprachlautlichen Gebilde, und in ihren verschiedenen relativen Bestimmtheiten hängt sie von der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten ab, obwohl diese letztere ihr Sein von ihr ableitet. Es tritt im literarischen Werk eine analoge gegenseitige Anknüpfung der Schichten in ihrem Aufbau und in ihrer Funktion aneinander auf, ganz in der Art, in der sich die verschiedenen Organe im Organismus gegenseitig beeinflussen. Das ist aber im literarischen Werk nicht so deutlich sichtbar wie in einem lebenden Organismus, da das literarische Werk als fertiges Gebilde unveränderlich ist. In radikalem Gegensatz zum lebenden Or-

co

Dies ist die Hauptaufgabe einer allgemeinen Theorie über den Organismus. Seit der Zeit, zu der ich dieses Buch schrieb (1935-36), sind mehrere umfangreiche Studien zu diesem Thema publiziert worden (ζ. B. [Ludwig von] Bertalanffy, Theoretische Biologie [Berlin 1932; 2

1951, 2 Bde., Bern]; [Karl Eduardl Rothschuh, Theorie des Organismus [München 1959],

usw.). Sie führen aber alle über den Problemkreis hinaus, der für uns hier wichtig ist.

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I. Funktionen des Erkennens

ganismus, dessen Seinsweise im Vollzug seiner inneren Prozesse besteht, treten in ihm gar keine Veränderungen oder Vorgänge auf. Die Schichten des Werkes oder irgendwelche seiner Teile sind keine Organe, die in ihm bestimmte Tätigkeiten zu erfüllen hätten. Der "Einfluß" der einen Schicht oder des einen Elements auf andere Schichten zeigt sich nur in der Seinsabhängigkeit der letzteren von der ersteren, sowie in dem Vorhandensein gewisser relativer Bestimmtheiten, welche ihr Fundament im gemeinsamen Auftreten verschiedenartiger Elemente im Ganzen des Werkes haben. Erst wenn wir vom Werk selbst, als einem schematischen Gebilde, das isoliert betrachtet wird, zu seiner Konkretisation übergehen, die im Vorgang des aktiven Lesens wiederaufgebaut wird, läßt sie sich als ein sich entfaltender Vorgang auffassen, in welchem verschiedene Faktoren des Werkes bzw. seiner Konkretisation den Anschein des Lebens, der Wirkung, der Funktion anzunehmen beginnen. Die einen Elemente erfüllen den anderen Elementen gegenüber gewisse Funktionen, und zugleich erfüllt auch das ganze konkretisierte Kunstwerk eine Hauptfunktion. Im Werk selbst dagegen läßt sich eher von einer "Rolle" der Elemente des Werkes anderen Elementen und dem ganzen Werk gegenüber sprechen. Natürlich erfüllen die Konkretisation des Werkes (bzw. das konkretisierte Werk) und ihre Elemente erst dann die entsprechenden Funktionen, wenn es zu ihrer Konstitution oder mindestens zur Konstitution ihrer einzelnen Phasen gekommen ist. Und eben deswegen können die Operationen des Lesers, die ich früher beschrieben habe und die zu der Konstitution der einzelnen Schichten des literarischen Werkes führen, sein Ganzsein nicht einmal in einzelnen Phasen wiedergeben. Man muß die einzelnen Funktionen der Elemente des Werkes sich entwickeln lassen, damit das Werk in der Konkretisation sein "organisches" Gesicht zeigen kann. 2. Diese verschiedenen "Funktionen" der Schichten und der Teile des Werkes bilden das zweite Moment, das eine Analogie zwischen dem Werk bzw. seiner Konkretisation und dem Organismus zu sehen erlaubt. Nicht nur ihre Verschiedenartigkeit spielt dabei eine wichtige Rolle, sondern auch ihre gegenseitige Anpassung und der Grad ihrer Unterordnung unter die Hauptfunktion, die von einem bestimmten literarischen Individuum in seiner Konkretisation ausgeführt wird. Wenigstens in der schöpferischen Absicht des Autors, dem es übrigens nicht immer gelungen ist, sie voll zu realisieren, übt jedes literarische Kunstwerk - in sich selbst bis zu einem gewissen Grad nur in

§ 13a. Hauptfunktion des literarischen

Kunstwerks

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potentia und in einer angemessenen Konkretisation in actualitate - eine bestimmte, nur ihm selbst eigene Hauptfunktion aus. Gerade in diesem Moment nähert sich das literarische Kunstwerk sehr dem Organismus. Auch das Kunstwerk ist etwas, was nicht bloß ist, sondern auch einen "Sinn", eine bestimmte Ratio seiner Existenz, eine "Bestimmung" hat. Alle Literaturtheoretiker - vielleicht mit Ausnahme der sehr extremen Formalisten - scheinen dies zu fühlen. Es ist aber nie zu einer einstimmigen Anerkennung und befriedigenden Klärung der Frage gekommen, was für eine Funktion das literarische Kunstwerk erfüllt bzw. zu erfüllen hat, noch was ihr Ergebnis ist. Im Gegenteil, darüber herrschen mindestens sehr einseitige, wenn nicht von Grund auf falsche Ansichten. Natürlich, was für eine Hauptfunktion ein bestimmtes individuelles Kunstwerk erfüllt (z.B. der Hamlet, ein einzelnes lyrisches Gedicht von Goethe, etwa "Über allen Gipfeln ist Ruh...", oder ein Roman, wie die Buddenbrooks

von Thomas Mann) - das ist ein Pro-

blem, das zu der positiven Forschung der Literaturwissenschaft gehört. Es wird freilich nur sehr selten gestellt und noch seltener auf befriedigende Weise gelöst. Für uns aber ist hier nur das ganz allgemeine

Problem wichtig:

Wenn man zugibt, daß für jedes literarische Kunstwerk eine geeignete Hauptfunktion existiert, 59 so fragt es sich, worin der ganz allgemeine Typus dieser Hauptfunktion besteht. Bei der Antwort auf eben diese zweite Frage gehen bis jetzt die vorhandenen Auffassungen sehr auseinander. Diese Tatsache ist zum Teil damit verbunden, daß es literarische Werke gibt, die - wenn man so sagen darf - sich nur für literarische Kunstwerke ausgeben, ohne es de facto wirklich zu sein; zum Teil hängt sie auch damit zusammen, daß ein und dasselbe literarische Kunstwerk tatsächlich auf verschiedene Weise konkretisiert werden kann und daß nicht alle Konkretisationen sich dazu eignen, die eigentliche literarische Hauptfunktion des literarischen Kunstwerks zu aktualisieren. 60

Daß es so etwas wie eine spezifische Hauptfunktion des Kunstwerks und insbesondere des literarischen Kunstwerks gibt, scheint zum Wesen des Kunstwerks, oder besser: zu seiner Idee, zu gehören. Wenn ein Gebilde so gestaltet ist, daß es das Bestehen einer solchen Hauptfunktion bzw. die Möglichkeit ihrer Realisierung ausschließt, so schließt dieser Umstand das Gebilde von vornherein aus dem Bereich der Kunstwerke aus. Auch das wird nicht von allen klar gesehen. So sind wir genötigt, hier zum zweiten Male von einer entsprechenden oder eigentlichen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks zu sprechen, da es eben auch "nicht-entsprechende", in irgendeinem Sinn "falsche" Konkretisationen eines literarischen Kunstwerks

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/. Funktionen des

Erkennens

Am häufigsten findet man zwei verschiedene Auffassungen über die Hauptfunktion des literarischen Kunstwerks: 1. die Hauptfunktion des Werkes bestehe darin, den Geist seines Verfassers (des "Dichters") zum Ausdruck zu bringen oder auch seine Gedanken, seine psychische Struktur oder z.B. seine Einstellung zur Wirklichkeit und eben damit auch seine individuelle Weltauffassung und dergleichen mehr. 2. Das literarische Kunstwerk bringe eine "Idee" zum Ausdruck, manchmal sagt man auch "zur Ausprägung". Diese beiden Auffassungen haben gewöhnlich einen nicht rein theoretischen Charakter. Sie werden gleichsam als Leitfaden benutzt, nach welchem literarische Kunstwerke gedeutet, "interpretiert", ja überhaupt gelesen werden sollen. Die Geschichte der Literaturforschung im XX. Jahrhundert liefert dafür zahlreiche Beweise. Das ist um so wichtiger, als es Gründe dafür gibt, die erste Auffassung als falsch zurückzustellen, die zweite aber als mindestens vieldeutig zu betrachten. Dabei gibt man der letzteren meist eine Deutung, bei welcher sie falsch ist. Gibt man ihr jedoch einen entsprechenden Sinn, so kann sie wahr sein. ad 1. Es ist unzweifelhaft wahr, daß jedes literarische Kunstwerk - ebenso wie alle anderen Gebilde menschlicher Tätigkeit - eine Reihe von Eigenschaften oder Elementen aufweist, deren Auftreten im betreffenden Werk nicht nur mit allgemeinen Eigenschaften des Schöpfers, sondern auch mit charakteristischen Zügen seiner psycho-physischen Struktur und seines individuellen psychischen Lebens in mehr oder weniger enger funktioneller Abhängigkeit steht. Dies trifft z.B. auf gewisse Eigentümlichkeiten der Sprache zu, in welcher das Werk geschrieben ist, z.B. auf besondere Wendungen, die verwendet werden, die besondere Satzstruktur, charakteristische Eigenschaften und Zusammenstellungen der dargestellten Gegenständlichkeiten, auf die Weise ihrer Darstellung und die Auswahl der Ansichten, in welcher sie zur Schau gestellt werden usw. All dies kann ein gewisses Licht auf die psychischen Geschehnisse, die sich im Autor bei der Gestaltung des Werkes abgespielt haben, oder auch auf verschiedene Eigenheiten seines psycho-physischen Organismus werfen. Man kann somit bei der Behandlung eines literari-

geben kann. Was das bedeutet und welche Eigenschaften eine Konkretisation eines literarischen Kunstwerks aufweisen muß, damit sie "entsprechend", "richtig" und nicht "falsch" ist, wird das Thema einer späteren Betrachtung sein (vgl. Kap. V [insbesondere § 32]).

§ I3a. Hauptfunktion

des literarischen

Kunstwerks

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sehen Kunstwerks alle diese Eigenheiten des Werkes dazu verwenden, dies oder jenes über den Autor zu erfahren. Alle Informationen, die wir dadurch über den Autor mit Hilfe des Werkes gewinnen können (aber durchaus nicht gewinnen müssen, so als ob sie sich uns unwiderstehlich aufdrängten), sind immer nur mittelbarer Art. Sie werden immer nur auf Grund des im Werk vorhandenen, oft aber aus dem Werk besonders herausgegriffenen Materials erschlossen. Und sie betreffen etwas, was im Werk selbst und desto mehr in seiner Konkretisation nicht enthalten ist. 61 Wenn es auch wahr ist, daß das literarische Kunstwerk zu solchen Informationszwecken verwendet werden kann, ist es zugleich nicht wahr, daß es zur Erfüllung einer solchen Informationsfunktion bestimmt ist. Wer behauptet, das Kunstwerk habe eine solche immanente, zu seinem Wesen gehörige Bestimmung, da es von uns zu diesem Zweck verwendet werden kann, begeht einen ebenso lächerlichen Fehler, wie wenn jemand behaupten wollte, die Streitwagen der alten Griechen z.B. hätten die in ihrem Wesen liegende Bestimmung, den Alt-Philologen eine Information über das Leben und die psychischen Eigenheiten der alten Griechen zu geben. Die Tatsache, daß viele, ja sehr viele Literaturforscher literarische Kunstwerke dazu benutzen, ein mehr oder weniger wahrscheinliches Wissen über ihren Autor zu gewinnen, zeugt von nichts anderem, als daß sie sich ihre eigentliche Aufgabe gar nicht zum Bewußtsein gebracht haben. Daß sich ihr hauptsächliches Interesse auf die Eigenheiten des Autors richtet, braucht man ihnen gar nicht vorzuwerfen. Jeder Forscher darf sich natürlich mit dem beschäftigen, was ihn gerade interessiert und was er für wichtig genug hält, um die Ergebnisse seiner Forschung anderen mitzuteilen. Nicht dagegen richtet sich mein Vorwurf. Es kommt mir nur darauf an, daß die Forscher, die ich im Sinn habe, der Meinung sind, sie erforschten ein literarisches Kunstwerk, während sie tatsächlich individuelle Psychologie

6

'

betreiben - übrigens

Dies ist eine ganz triviale Tatsache. Und es bestünde gar kein Grund, sie hier besonders hervorzuheben, wenn nicht so oft behauptet würde, der Autor sei in seinem Werk irgendwie anwesend, er bilde seinen wesentlichen Gehalt oder gelange mindestens in seinem Werk zur konkreten Erscheinung. (Alle diese Behauptungen, die das literarische Kunstwerk zu einem bloßen "Ausdruck" seines Verfassers degradieren, halte ich für grundfalsch, kann mich aber hier damit nicht ausfuhrlich beschäftigen. Übrigens war diese Ausdruckstheorie des Kunstwerks zu der Zeit, in der dieses Buch in polnischer Sprache geschrieben wurde, noch sehr [in] Mode. Heute, wo ich die deutsche Redaktion niederschreibe, scheint diese Theorie bereits sehr an Kraft verloren zu haben (1966)).

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/. Funktionen des Erkennens

gewöhnlich ohne hinreichende Bildung auf diesem Gebiet zu haben und ohne die entsprechenden Forschungsmethoden anzuwenden. Hier liegt das prinzipielle Mißverständnis dieser ganzen Forschungsrichtung. Man achtet dabei nicht darauf, daß man das literarische Kunstwerk auf eine besondere, seinem Wesen gar nicht gemäße Weise lesen muß, wenn man es als ein Hilfsmittel zur Erkenntnis seines Autors verwenden will. Man behandelt literarische Kunstwerke als Tagebücher ihrer Verfasser, als Briefe besonderer Art an den Leser, in welchen der Autor auf einem eher künstlichen als künstlerischen W e g über seine eigenen Schicksale informieren will. Dabei ist er so schlau, nicht direkt über sich selbst zu sprechen, sondern immer indirekt, auf dem Umweg über gewisse "Bilder", wenn man so sagen darf, den Leser erst erahnen zu lassen, um was es ihm in Wahrheit geht und was er direkt nicht zu sagen wagt. Natürlich gibt es manchmal auch solche Selbstbekenntnisse des Autors, wie z.B. die Memoiren Oskar Wildes, die jedoch zugleich künstlerischen Wert haben und deswegen auch zur "Literatur" gehören. Aber das sind ganz besondere Fälle, denen man übrigens auch sofort ansieht, daß sie solche Bekenntnisse sind. Auch wenn es Kunstwerke reinster und hoher Lyrik gibt, die nachweislich in engem Zusammenhang mit individuellen Erlebnissen des Autors stehen, so sind sie doch nicht als Bekenntnisse, als Informationsmittel über den Autor selbst geschaffen worden und sind folglich auch nicht so zu lesen. Und auch dann, wenn ein Liebesgedicht zunächst als eigenartiger Brief an die Geliebte verfaßt und von ihr auch so gelesen wurde, verliert es diese Funktion, sobald es nur als Gedicht, als ein besonderes Kunstwerk für sich gelesen wird. Und es verliert auch diese Funktion, sobald es vom Verfasser in einer Gedichtsammlung publiziert wird. Sobald man dann dieses Gedicht als ein Informationsmittel, das über seinen Autor berichtet, liest, fühlt sich der Leser als Psychologe und nicht als literarischer Empfänger. Er liest es als ein psychologisches Dokument und nicht als ein Kunstwerk und übersieht seine ihm eigene literarische Hauptfunktion. ad 2. Was soll die Behauptung besagen, die Hauptfunktion des literarischen Kunstwerks liege darin, eine "Idee" zum "Ausdruck" zu bringen? Dies wird, wie gesagt, auf sehr verschiedene Weise verstanden. A m häufigsten begegnen wir der Meinung, das literarische Kunstwerk drücke eine Behauptung aus, eine, wie man oft sagt, "Wahrheit", wobei diese Behauptung noch gewöhnlich als ein Satz über etwas verstanden wird, was in der realen Welt

§ 13a. Hauptfunktion des literarischen

Kunstwerks

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vorliegt oder was in ihr aus diesen oder anderen Gründen vorliegen oder stattfinden soll. Infolgedessen suchen viele Literaturforscher eine solche Behauptung entweder dem Text des Werkes selbst zu entnehmen, indem sie z.B. Sätze zitieren, die im Werk von irgendeiner dargestellten Person oder auch vom Autor selbst und offen ausgesprochen werden, oder aber sie sind bestrebt, eine solche Behauptung aus dem Text des Werkes herauszukonstruieren. In beiden Fällen wird diese Behauptung dem Autor selbst zugeschrieben und als seine Meinung ausgegeben. Dabei wird gar nicht beachtet, daß dadurch nicht nur der Text des Werkes, in welchem solche Behauptungen (Urteile) überhaupt nicht auftreten, verfälscht wird, sondern auch, daß dadurch dem Autor Ansichten unterschoben werden, die ihm oft ganz fremd sind. Wenn dann eine solche Behauptung das Bestehen einer Tatsache in der realen Welt feststellt, beginnt man oft mit dem Autor darüber zu streiten, ob diese Behauptung tatsächlich wahr sei. Wenn sie dagegen die Gestalt eines Postulats, eines Programms oder einer Norm hat, wirft man dem Autor oft vor, er tue unrecht, ein solches Programm, eine solche, wie man auch sagt, "Ideologie" zu vertreten. Zu Gunsten einer solchen Auffassung von der "Idee" des literarischen Kunstwerks scheint die Tatsache zu sprechen, daß es tatsächlich verschiedene literarische Werke gibt, die gewohnheitsmäßig zur "Literatur" gerechnet werden und die - wie man sich ausdrückt - eine "Tendenz" aufweisen, also gewisse Sätze enthalten, die - wie es aus dem Text hervorzugehen scheint - den Leser überzeugen sollen, daß in der vom Werk unabhängig bestehenden Wirklichkeit diese oder jene Tatsachen bestehen oder bestehen sollten. Versteckter und indirekter geschieht dies, wenn jene Werke in ihrer gegenständlichen Schicht entsprechend gewählte und zugleich auch so beleuchtete fiktive Tatsachen enthalten, welche eben die Funktion haben, dem Leser eine gewisse Überzeugung über eine vom Werk unabhängig bestehende Wirklichkeit aufzuzwingen. Eine solche Tendenz wird dann allen literarischen Kunstwerken zugemutet, ja, mehr noch, es wird sogar gefordert, daß sie sie enthalten, und man macht manchen Werken einen Vorwurf daraus, wenn es sich im einzelnen Fall zeigt, daß da von einer solchen "Tendenz" nichts zu spüren ist. Die Umstände, unter welchen sich die verschiedenen nationalen Literaturen entwickelt haben, trugen auch dazu bei, daß diese Auffassung des literarischen Kunstwerks und seiner sozialen Funktion in der betreffenden Epoche

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I. Funktionen des Erkennens

vorherrschend wurde. Das gilt z.B. für die polnische Literatur sowohl in der Zeit der Romantik als auch in der Epoche des sog. "Warschauer Positivismus", also in den langen Jahren, in welchen die polnische Nation keinen eigenen, selbständigen Staat hatte. Die Literatur hatte damals verschiedene Funktionen übernommen, die ihr als einer besonderen Kunst gar nicht eigen waren, die sie aber nur dann mit einem gewissen Erfolg auszuüben vermochte, wenn ihre Werke echte Kunstwerke waren. Aber auch dann trat ihr künstlerischer Aspekt zurück, und die Weise ihrer Apperzeption wurde ihrem Kunstcharakter nicht gerecht. Das Auftreten von Stanislaw Przybyszewski und der sog. Jungpolnischen Literatur in den neunziger Jahren des XIX. Jahrhunderts mit der Devise "l'art pour l'art" rief dann eine Wandlung in der Atmosphäre hervor und gab der Literatur den Charakter der reinen Kunst zurück. Eben damit wurde es aber offenkundig, daß die Auffassung von der "Idee" des literarischen Kunstwerks als eines wahren Satzes, den es zum Ausdruck bringe, nicht aufrecht zu erhalten ist. Zu beachten ist noch folgendes: Aus der Tatsache, daß manche literarischen Werke (auch wenn sie sonst echte Kunstwerke sind) eine "Tendenz" aufweisen, folgt gar nicht, daß alle echten literarischen Kunstwerke eine solche Tendenz haben und daß man sie unter diesem Aspekt auffassen soll. Das beweist nur, daß manche Autoren ihre Werke zu einem außerkünstlerischen Zwecke verwendet und ihm eventuell angepaßt haben. Aber auch die größte Bedeutsamkeit dieser persönlichen oder sozialen Zwecke kann Werke, die keine Kunstwerke sind, nicht zu Kunstwerken machen, noch ihnen einen künstlerischen Wert verleihen, wenn sie ihn an sich nicht besitzen. Wenn wir ein Werk trotz seiner eventuell vorhandenen "Tendenz" hochschätzen, so tun wir es nicht wegen der sozialen oder ethischen Werte, die es verkörpern kann, sondern eben deswegen, weil es ganz bestimmte, spezifisch künstlerische oder ästhetische Werte in sich verkörpert bzw. zu ihrer Erscheinung in der Konkretisation führt. Dies zeigt sich besonders an Werken, bei denen wir es mit Kunstwerken längst vergangener Zeiten zu tun haben, deren eventuelle "Tendenz" völlig irrelevant geworden ist und - wenn sie bei der Lektüre noch zu spüren ist - uns bei der ästhetischen Erfassung des konkretisierten Werkes eher stört als fördert. Wenn aber ihr Auftreten nicht negativ auf die Struktur des Werkes wirkt und den Vollzug seiner ästhetischen Erfassung nicht erschwert, dann verwischt sie die künstlerisch wertvollen Züge des Werkes

§ 13a. Hauptfunktion des literarischen

Kunstwerks

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nicht, und dann erst können wir das Werk in seiner spezifischen, dem Kunstwerk angemessenen Hauptfunktion erfassen. Sollen also die erwähnten Auffassungen über die Hauptfunktion des literarischen Kunstwerks richtiggestellt werden, so muß die "Idee", welche von dem Kunstwerk "ausgedrückt" werden soll, in einem völlig anderen Sinn verstanden werden. Vorerst aber noch eine Bemerkung bezüglich der Wendung, daß diese "Idee" durch das Kunstwerk "ausgedrückt" werden soll. Sie scheint deswegen unrichtig zu sein, weil sie voraussetzt, daß die "Idee" nicht zum literarischen Kunstwerk gehört, nicht in ihm enthalten ist, sondern erst als ein ihm fremdes Gebilde, als ein zweites Etwas eben nur "ausgedrückt" oder irgendwie "vermittelt" werden soll. Unabhängig davon, ob das Werk wirklich etwas von sich selbst Verschiedenes "ausdrückt", muß zuerst erwogen werden, ob es nicht im literarischen Kunstwerk selbst oder in dem, was durch es bestimmt wird, ihm auf wesenhafte Weise zugehört, etwas gibt, was als seine "Idee" aufgefaßt werden und somit bei seiner treffenden Erfassung entweder in ihm selbst oder in seiner ihm angemessenen Konkretisation

vorgefunden

werden könnte. Und zwar so vorgefunden werden könnte, daß man das Werk erst vollständig erfaßt hätte, wenn dieses besondere Moment sichtbar gemacht wäre. Es ist da noch Verschiedenes zu besprechen. Vor allem: die dem literarischen Kunstwerk eigene Hauptfunktion besteht darin, dem Leser - natürlich nur, wenn er sich dem Werk gegenüber entsprechend verhält - die Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes zu ermöglichen, der zu den möglichen, vom betreffenden Werk zugelassenen ästhetischen Gegenständen gehört, und einen dem Werk gemäßen ästhetischen Wert zur Erscheinung zu bringen. Die Funktionen seiner Elemente bzw. Eigenschaften sollen dieser Hauptfunktion untergeordnet werden, um ihre höchste Leistung zu ermöglichen. Jedenfalls sind sie der Art, daß sie zu ihrer Erfüllung wesentlich beitragen und ihren Verlauf auf positive oder negative Weise bedingen. Alle anderen Funktionen, welche das literarische Kunstwerk in der kulturellen oder insbesondere sittlichen Atmosphäre einer Gemeinschaft ausüben kann - mag es nun sittlich positiv oder negativ auf den einzelnen Leser einwirken - , sind für das Kunstwerk sekundär und nicht spezifisch, so sehr sie aus anderen Rücksichten bedeutsam sein und dem Werk neben seinem künstlerischen bzw. ästhetischen Wert neue Werte oder Unwerte verleihen können. Zur Ausübung dieser anderen Funktionen ist weder das literari-

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I. Funktionen

des

Erkennens

sehe Kunstwerk noch überhaupt ein Kunstwerk in seiner Eigenschaft als Kunstwerk berufen, und wenn es sie nicht ausübt, so ist das kein Mangel. Wenn es dagegen die ihm eigene Hauptfunktion nicht ausübt, dann erfüllt es eine zu seiner Bestimmung gehörende Aufgabe nicht und ist als Kunstwerk verfehlt, wenn es auch dann noch immer zur "Literatur" gehört. Es ist dann nur seiner Anmaßung, aber nicht seinem wirklichen Wesen, nach ein Kunstwerk, oder mindestens nur ein "schlechtes". Den Standpunkt, den ich da vertrete, wird man wohl als "ideenlosen Ästhetizismus" brandmarken wollen. 6 2 Es herrscht nämlich sowohl bei uns als auch in anderen Ländern die Meinung, man anerkenne an einem Kunstwerk nichts anderes als die "bloße Technik", wenn man alle moralischen, sozialen oder auch politischen Tendenzen des literarischen Kunstwerks als etwas, was mit dem Kunstwerk nichts gemein hat, für völlig entbehrlich hält. Diese Meinung ist aber grundverkehrt und kommt nur daher, daß man nicht fähig ist, die "Idee" des literarischen Kunstwerks im eigentlichen Sinn des Wortes zu entdecken und sie begrifflich zu bestimmen, und daß man zugleich eine falsche oder jedenfalls völlig unzureichende Auffassung des ästhetischen Gegenstandes und seines Wertes hat. Man ist gewöhnlich für ästhetische Werte blind oder sucht sie wenigstens zu leugnen oder zu relativieren bzw. auf andere Werte - wie man sagt - "zurückzuführen". Wenn es gelingt, diesen Mangel auch nur vorbereitend zu beseitigen, so wird es sich zeigen, daß die von mir soeben eingenommene Stellung eines "ideenlosen Ästhetizismus" sehr weit davon entfernt ist, das literarische Kunstwerk nur als einen Zusammenhang von technischen Hilfsmitteln zu behandeln und jeglichen - wie man oft sagt "Inhalt" zu leugnen. Dies bedeutet aber, daß wir genötigt sein werden, uns unter anderem auch mit dem ästhetischen Erlebnis und mit dem ästhetischen Gegenstand zu beschäftigen. Die "Idee" des literarischen Kunstwerks im eigentlichen, dem Wesen des Kunstwerks angemessenen Sinn läßt sich hier nur ganz allgemein bestimmen. Bei jedem Kunstwerk ist sie ganz anders, und das, was sie im einzelnen Fall ist und welchen Gehalt sie jeweils hat, läßt sich lediglich auf Grund einer besonf\? Während ich diese deutsche Redaktion niederschreibe, lese ich in dem Buch von E. Gilson, Introduction

aux Arts du Beau [Paris] (1963), eine Reihe von Behauptungen, die mit dem

hier von mir eingenommenen Standpunkt gut zusammenstimmen. Gilson würde sich wohl auch sehr wundern, wenn man ihn des "ideenlosen Ästhetizismus" bezichtigte.

S 13a. Hauptfunktion

des literarischen

Kunstwerks

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deren analytischen (wenn auch am Ende synthetisierenden) Betrachtung des betreffenden Kunstwerks und seiner möglichen, ihm angemessenen ästhetischen Konkretisationen klären und - so weit es geht - begrifflich bestimmen. Allgemein läßt sich aber sagen: die "Idee" des literarischen Kunstwerks bildet ein in ihm oder durch es zur konkreten Erscheinung gebrachter, "gezeigter", synthetischer, wesensmäßiger Zusammenhang aufeinander abgestimmter, ästhetisch valenter Qualitäten, die zur anschaulichen Konstituierung eines bestimmten ästhetischen Wertes führen, wobei dieser Wert in inniger Einheit mit der ihn fundierenden Grundlage - eben dem Kunstwerk selbst ein Ganzes bildet, das wenigstens im Fall großer, echter Kunstwerke unwiederholbar, "einzig" dastehend und unnachahmbar ist. Dieses Ganze enthüllt sich dem Leser in einer dem Werk gemäßen ästhetischen Konkretisation des Werkes, womit noch nicht gesagt ist, daß es dann in seiner vollen Eigentümlichkeit wirklich erfaßt wird. 63 Dieser qualitative, im anschaulich gegebenen Wert kulminierende Zusammenhang verleiht dem Kunstwerk in der Konkretisation eine sozusagen sichtbare, "organische" Einheitlichkeit des Aufbaus. Die in diesen Zusammenhang eingehenden Qualitäten (und insbesondere die ästhetisch wertvollen Qualitäten) sind im literarischen Kunstwerk verschiedenartig, der Verschiedenartigkeit seiner einzelnen Schichten entsprechend. Es gibt zwischen ihnen - bei gut gebauten, wirklich wertvollen Kunstwerken - immer eine gewisse, eine eigene Ordnung aufweisende Hierarchie: nur manche von ihnen (oder vielleicht nur eine einzige) bilden eine Art Kristallisationszentrum des qualitativen Ganzen; die anderen spielen entweder nur die Rolle einer Fundierung des Hauptwertes oder auch einer gewissen Ergänzung desselben. Sie spielen gewissermaßen mit, damit die Zentralqualität, der letzte konstituierte, in sich qualitativ bestimmte Wert desto klarer und ausgeprägter zur konkreten Erscheinung und damit auch zu voller Wirkung gelangen kann. Es gibt aber verschiedene Typen literarischer Kunstwerke, und unter den wirklich großen Meisterwerken bildet - wenn man so sagen d a r f - j e d e s Werk einen besonderen, eigenen, unwiederholbaren "Typus". So läßt sich nicht allgemein und von vornherein sagen, welche besonders wertvollen Qualitäten dieses "Kristallisationszentrums" den werthaften Kern des einzelnen

¿o OJ

Da gibt es noch verschiedene mögliche Tatbestände, die noch analysiert werden müssen.

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I. Funktionen des Erkennens

Kunstwerks bilden. Es gibt z.B. Werke, in denen eigenartig emotionale, ästhetisch wertvolle Qualitäten diesen werthaften Kern des qualitativen synthetischen Ganzen bilden, Qualitäten, die an gewissen zwischenmenschlichen Situationen in der dargestellten Welt zur Erscheinung gelangen oder einen in tragische Konflikte verwickelten Menschen charakterisieren oder endlich in der Gestalt einer metaphysischen Qualität auftreten. 64 Sie können dann dem Leser nicht nur durch die Darstellung gewisser zwischenmenschlicher Situationen unmittelbar anschaulich gemacht werden, sondern ihm auch durch die Weise der Darstellung, durch die Wahl entsprechender Qualitäten der Wortlaute und sprachlautlicher Erscheinungen höherer Stufe, durch eine Dynamik des Satzbaues und der Aufeinanderfolge der Sätze, durch eine charakteristisch gewählte Ansichtenmannigfaltigkeit, in welcher die dargestellten Gegenständlichkeiten zur Erscheinung gebracht werden, aufgedrängt werden. Es gibt aber auch Werke, in denen die eigentümlichen Momente der Dynamik der Zeitperspektive der im Werk dargestellten Zeit oder der Zeitstruktur des Werkes selbst in der Aufeinanderfolge seiner Teile diesen ästhetisch wertvollen Kern bilden; und wieder andere, in welchen der ästhetisch werthafte Kern vor allem in den besonderen Qualitäten der Melodie des Verses fundiert ist usw. Nun, diesen werthaften, qualitativ bestimmten Kern des Ganzen des literarischen Kunstwerks kann man auch als seine "Idee" im engeren Sinn fassen. Wenn das Werk "gut" gebaut ist, so hat es in seiner korrekten Konkretisation meistens nur ein solches Kristallisationszentrum, dessen Konstituierung die ergänzenden ästhetisch relevanten Qualitäten untergeordnet sind. Die einzelnen Elemente des Werkes (oder eine seiner Schichten oder auch Phasen) oder seine besonderen strukturellen Momente üben dann verschiedenartige Funktionen aus, die dazu dienen sollen, gemeinsam die Enthüllung der "Idee" des Kunstwerks im engeren Sinn und ihre Ergänzung bzw. Vervollkommnung durch ihr zugehörige relevante Qualitäten herbeizuführen, wodurch es zu einem wesenhaften Zusammenklang aller in Frage kommenden ästhetisch relevanten Qualitäten kommt. Es scheint aber auch nicht ausgeschlossen zu sein, daß es literarische Kunstwerke (und vielleicht Kunstwerke überhaupt) geben kann, die mehrere solcher "Kristallisationszentren" besitzen, die sich nicht

Über metaphysische Qualitäten vgl. Das literarische Kunstwerk, §§ 48-50.

J 13a. Hauptfunktion

des literarischen

Kunstwerks

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harmonisieren lassen und infolgedessen zu keinem einheitlichen "Gesicht" des Werkes führen. Ihnen fehlt dann die schlicht innerliche, einfach werthafte Ganzheit des Kunstwerks. Das besagt noch nicht, daß dann ein solches Kunstwerk überhaupt wertlos ist; denn auch in dieser nicht zu einer strengen Einheit führenden Gestalt des Kunstwerks kann noch ein besonderer Reiz liegen und es positiv charakterisieren. Es ist dann aber nicht möglich, von einer einheitlichen Idee des Kunstwerks zu sprechen. Es gibt endlich auch literarische Werke, die in dem Sinn ohne "Idee" sind, daß sie, obwohl verschiedene Faktoren in ihrem Gehalt vorhanden sind, die sozusagen fähig wären, eine "Idee" zu konstituieren (bzw. es sich anmaßen - deswegen hat das Werk den Charakter eines Werkes, das ein Kunstwerk sein soll oder als solches versucht wurde), zu keiner anschaulichen Demonstration eines wesenhaften inneren Zusammenhanges miteinander zusammenstimmender, ästhetisch relevanter Qualitäten kommen. Ihr ganzer Gehalt besteht dann in einer zusammengewürfelten Ansammlung verschiedener Einzelzüge und Motive, die an sich ästhetisch wertvoll sein können, doch weist das Werk keinen "organischen" Aufbau auf, so daß es in gewissem Sinn zerfällt. Es vermag dann die Hauptfunktion des literarischen Kunstwerks nicht zu erfüllen. Was bedeutet es also - im Lichte dieser kurzen Andeutungen - , daß die Operationen des Lesers, welche zur Konstituierung bzw. Rekonstruierung der einzelnen Schichten des Werkes führen sollen, nicht zur Erfassung des Werkganzen ausreichen? Dies bedeutet vor allem, daß sie nicht zur Enthüllung der "Idee" des Werkes in der hier angegebenen Bedeutung ausreichen. Erst die Erscheinung der im Werk, genauer in einer ihm gerechten Konkretisation aber darüber werden wir noch später sprechen - entdeckten "Idee" enthüllt dem Leserdas betreffende Werk in seinem letzten "organischen" Aufbau. Es ist zu diesem Zweck nötig, während der Lektüre die im Werk enthaltenen dienenden Funktionen zu erhäschen oder zu erfühlen und ihnen durch entsprechendes Verhalten ihre Entfaltung zu ermöglichen. Ich spreche da von einem "Er-fühlen" oder "Erhäschen" dieser der Hauptfunktion untergeordneten Funktionen der im Werk enthaltenen Elemente und Momente, denn es handelt sich nicht darum, sie zum Gegenstand einer Betrachtung zu machen, sondern nur darum, sie bei der Lektüre zu aktualisieren und auf diese Weise auszunützen, um die Enthüllung der im Werk immanent enthaltenen "Idee" herbeizuführen. Erst dann wird sich die letzte, ganz eigenartige, einzige und auch

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/. Funktionen des Erkennens

letztlich einfach werthafte Qualität des Werkganzen als eines einzigen, unwiederholbaren und nicht nachzuahmenden Individuums unmittelbar zeigen. Abgesehen davon, welche Bedingungen das Werk selbst aufweisen muß, damit es sozusagen seinerseits dazu kommen kann (denn das ist ein Problem, das zur Theorie des literarischen Kunstwerks selbst gehört und somit hier nicht erwogen werden kann), erfordert die konkret zeigende Enthüllung der "Idee" des betreffenden Werkes vom Leser nicht nur ein entsprechendes Feingefühl, ein Offensein und Zugänglichsein für die im Werk bzw. in der Konkretisation auftretenden verschiedenartigen Qualitäten und insbesondere für die ästhetisch relevanten Qualitäten, sondern auch eine besondere Kraftanstrengung, welche zum Vollzug einer emotional unterbauten Erfassung, einer Perzeption jener letzten (letztlich sich ergebenden) Qualität des konstituierten ästhetischen Wertes sowie des ihn fundierenden wesenhaften qualitativen Zusammenhanges mehrerer zusammenspielender und harmonisierender, ästhetisch relevanter Qualitäten unentbehrlich ist. Sie fordert vom Leser, der ja doch im Vollzug der früher beschriebenen mannigfachen Operationen begriffen ist, daß darüber hinaus noch eine besondere Aktivität in der synthetisierenden Ausnutzung der "er-fühlten" mannigfachen ästhetisch relevanten Qualitäten entfaltet, damit er zur anschaulichen Offenbarung der sich in ihnen konstituierenden "Idee", des sich selbstgegenwärtig zeigenden ästhetischen Wertes des betreffenden konkretisierten Kunstwerks kommt und damit das ästhetische Erlebnis in der finalen Erschauung dieser "Idee" zum Abschluß gelangt. Es bedarf einer gewissen Genialität, um das im Kunstwerk zu fühlen und zu schauen, was an echten Kunstwerken eben das ganz Eigentümliche, Unwiederholbare und überhaupt das ist, für das es keine "Vorbilder" gibt. Man kann auch niemanden darüber mit bestimmenden Worten allein belehren, sofern man von den Worten nicht selbst zu einer besonderen Art Wahrnehmung des werthaften qualitativen Zusammenhanges übergeht, zu einer Vision jener letztlich sich konstituierenden, gestaltmäßigen Wertqualität des ästhetischen Wertes des Werkes. Der Leser muß da gewissermaßen ein mit dem Autor zusammenarbeitender und die Hilfe seines Werkes ausnützender Mitentdecker

der eigentümlichen Wertqualität sein, die ursprünglich dem

Autor bei der Schaffung seines Werkes vorgeschwebt und ihm die Realisierung aller jener Bedingungen im Werk selbst (sofern dieses eben "gelungen"

§ 13a. Hauptfunktion

des literarischen

Kunstwerks

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ist) ermöglicht hat, welche zu ihrer konkreten Erscheinung unentbehrlich, wenn auch nicht ausreichend sind. Nicht viele Leser sind bei jeder Lektüre fähig, diese kongeniale Kraftanstrengung zu leisten, die letzte Vision zu vollziehen. Sie kennen dann nur das kalte, wertneutrale und gewissermaßen tote Skelett des Kunstwerks. Sie verkehren dann mit etwas, was die letztlich sich ergebende Einfachheit und das individuelle Gesicht noch nicht an sich hat. Die große Schwierigkeit - und damit auch die große Seltenheit - einer solchen das Ganze des literarischen Kunstwerks umfassenden Perzeption zeigt sich besonders dort, wo es der Leser mit einem großen Meisterwerk zu tun hat. Dies scheint paradox und eben deswegen auch nicht recht wahrscheinlich zu sein. Denn echte Meisterwerke besitzen die größte Kraft, den Leser (den Empfänger) zu beherrschen, und haben, wie es scheint, die Fähigkeit, den Leser in den Stand einer mitschöpferischen emotionalen Feinfühligkeit zu versetzen, bei welcher die adäquate ästhetische Erfassung des Kunstwerks noch relativ am leichtesten gelingen kann. Dies soll auch nicht bezweifelt werden. Aber andererseits zeichnet sich jedes große Meisterwerk im allgemeinen durch eine so weitgehende Innigkeit des "organischen" Aufbaus aus, daß das Übersehen oder die schiefe Erfassung irgendeiner, auch einer untergeordneten Einzelheit dazu führen kann oder manchmal auch dazu führen muß, daß sich in der Konkretisation des Werkes statt des spezifisch gestalteten Ganzen nur ein verunstalteter Torso zeigt. Das für das Kunstwerk Wesenhafte und Einzige verschwindet dann aus dem Gesichtsfeld der betreffenden ästhetischen Erfassung. Indessen, wie aus dem bisherigen Verlauf der Betrachtung hervorgeht, ist die Gesamtheit der Akte und Erlebnisse, die zur Rekonstruktion des literarischen Werkes unentbehrlich sind, sehr umfangreich und enthält mehrere verschiedene Faktoren, die von dem perzipierenden Leser alle zugleich vollzogen werden oder wenigstens in unmittelbarer Verbindung aufeinander folgen müssen. Es ist somit außerordentlich schwierig, alle diese Akte und Erlebnisse so zu vollziehen, daß es nirgends und in keiner Phase der Lektüre zu irgendwelchen unangemessenen Verschiebungen oder Unvollkommenheiten kommt und die Zusammenstimmung der Schichten und die Polyphonie der in ihnen auftretenden ästhetisch relevanten Qualitäten nirgends tangiert oder verändert wird. Obwohl sich Meisterwerke oft durch eine besondere Einfachheit, Durchsichtigkeit und kristallklare Harmonie des Aufbaus auszeichnen,

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I. Funktionen

des

Erkennens

überragen sie zugleich das Niveau des Durchschnitts außerordentlich und bilden etwas ganz Ungewöhnliches und Einzigartiges. Zu ihrer gerechten und vollen Erfassung fordern sie vom Leser, daß er sich über das Niveau seiner Durchschnittlichkeit erhebt und sich auf Werte einstellt, die erst bei großer Konzentration der Erfassung und überhaupt des psychischen Lebens sichtbar werden. Sie fordern auch vom Leser eine gewisse "Frische" des Empfindens und des Erlebens überhaupt. Es kommt hier sowohl auf das Feingefühl für das Ungewöhnliche und vermöge seiner Außerordentlichkeit ganz Neue an, als auch auf die Bereitschaft des Lesers, sich von den bisher von ihm anerkannten Wertsystemen und vom Einfluß der sich stereotyp wiederholenden Mannigfaltigkeiten ästhetisch valenter Qualitäten unabhängig zu machen. Diese Frische des Empfindens und diese innere Freiheit ist angesichts der absoluten Originalität eines jeden Meisterwerkes für eine werkgetreue und richtige Erfassung ganz unentbehrlich, aber sie ist gerade deswegen etwas außerordentlich Seltenes, gerade auch bei den Lesern von hoher ästhetischer Kultur. Diese Kultur macht sie oft unfrei. Aber andererseits ist eben diese hohe ästhetische Kultur für die Entdeckung des Außerordentlichen im Meisterwerk unabdingbar. So hat eine Reihe sehr verschiedener Faktoren zur Folge, daß es sehr schwierig ist, gerade die großen Meisterwerke der Literatur adäquat zu erfassen.

§ 14. Der E i n f l u ß der Z u s a m m e n g e s e t z t h e i t der E r f a s s u n g des literarischen K u n s t w e r k s auf die Gestalt seiner Konkretisation Die Vielheit und die Verschiedenheit der Erlebnisse und Akte der Erfassung, die während der Lektüre vom Leser fast gleichzeitig vollzogen werden und auch vollzogen werden müssen, sofern die Lektüre der Vielschichtigkeit und Vielgestaltigkeit der literarischen Erscheinungen in einem und demselben literarischen Kunstwerk auch nur annähernd gerecht werden soll, hat zur Folge, daß der Leser nicht in allen der von ihm vollzogenen Akte auf gleich aktive Weise lebt und sie auch [nicht] mit der gleichen erforderlichen Lebendigkeit und Ausführlichkeit vollzieht. Infolgedessen unterliegen in den Konkretisationen manche Einzelheiten in den verschiedenen Schichten und Phasen des Werkes mehr oder weniger bedeutenden Verunstaltungen. Entweder werden

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§ 14. Werkerfassung und Gestalt der Konkretisation

manche Einzelheiten des Aufbaus des Werkes in der Konkretisation weggelassen oder bloß unvollständig konstituiert oder im Gegenteil überkonstituiert, zu grell und auffallend entwickelt, oder gar verfälscht, wodurch das im Werk selbst vorhandene und auch von seinen Konkretisationen geforderte Gleichgewicht des Aufbaus, insbesondere der ästhetisch werthaften Qualitäten, gestört wird. Die Einseitigkeit in den Vorstellungstypen des Lesers führt gewisse Deformationen in der Schicht der Ansichten des Werkes mit sich, ein geschwächtes Feingefühl des Lesers für gewisse ästhetisch relevante Qualitäten ruft eine Verarmung der entsprechenden Konkretisation um diese Qualitäten hervor, und die zu wenig subtile Einfühlung des Lesers in die psychische Situation der dargestellten Personen verändert den Gehalt der Schicht der dargestellten Gegenstände nachteilig und hat zur Folge, daß gewisse metaphysische Qualitäten gar nicht sichtbar werden. Es ist hier unmöglich, eine bis ins einzelne gehende Betrachtung dieser verschiedenen möglichen Fälle durchzuführen. Sicher aber ist, daß sich diese verschiedenen Abweichungen der Konkretisation des literarischen Kunstwerks von derjenigen Gestalt, die von ihm selbst gefordert wird, auf die Rekonstituierung der polyphonischen Harmonie der ästhetisch relevanten Qualitäten und damit auch auf die Konstitution des letztlich resultierenden Wertes der Konkretisation als eines ästhetischen Objektes schädlich auswirkt oder mindestens auswirken kann. Die ständigen, nicht zu vermeidenden Konzentrationsschwankungen in der Aufmerksamkeit des Lesers, das Wechseln des Aufmerksamkeitszentrums, die beschränkte Fähigkeit, die Aufmerksamkeit richtig zu verteilen - all das ist von besonderer Bedeutung für die Weise, in der die in der Lektüre sich entfaltende Konkretisation des Werkes gestaltet und umgestaltet wird. Dabei sind Konzentrationsschwankungen

und

Richtungswechsel

der

Aufmerksamkeit

nur

in

beschränktem Maß durch die Eigenheiten des gerade gelesenen literarischen Kunstwerks bestimmt und weitgehend davon unabhängig. Infolgedessen treten nicht alle Einzelheiten des Werkes in der Konkretisation mit genügender Klarheit und Deutlichkeit auf. Einmal wird ein bestimmter Akt, z.B. das Verstehen der Bedeutungsschicht, das andere Mal ein Akt des lebendigen Erschauens der ästhetisch valenten Qualitäten oder der Aktualisierung und Konkretisierung der Ansichten mit größerer Aktivität und Konzentration der Aufmerksamkeit vollzogen, die übrigen Schichten des Werkes dagegen nur peripher miterfaßt, so daß sie am Horizont des Bewußtseinsfeldes verschwim-

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I. Funktionen des Erkennens

men. Gewöhnlich sind wir während der Lektüre in die Erfassung der im Werk dargestellten Gegenständlichkeiten vertieft, die dann sozusagen in den Vordergrund der Konkretisation treten, die Einzelheiten der Schicht der Bedeutungseinheiten dagegen werden am wenigsten für sich gefaßt (z.B. die Eigenheit der Satzgestaltung sowie der Sinnzusammenhänge zwischen den Sätzen), da sie bei der Lektüre im allgemeinen nur Durchgangsobjekte sind. Um das Ganze des Werkes adäquat zu erfassen, dürfen wir die Bedeutungsintentionen nur aktualisieren, um uns dann direkt den Gegenständen zuzuwenden. Infolgedessen erscheint das literarische Kunstwerk in einer so gestalteten Konkretisation wie in perspektivischer Verkürzung, in einer eigentümlichen Verdrehung und übermäßigen Vergrößerung gewisser Schichten des Werkes und einer gleichzeitigen Verkümmerung anderer Schichten. Eine gerade entgegengesetzte perspektivische Verkürzung des literarischen Kunstwerks in der Konkretisation vollzieht sich bei "philologischer" Einstellung des Lesers bei der Lektüre. Das Hauptinteresse wird da gerade der "Sprache" des Werkes geschenkt, und zwar sowohl den rein sprachlautlichen Erscheinungen als auch den Eigentümlichkeiten der Bedeutungsschicht. Es werden die verschiedenen Ausdrucksweisen, die Satzkonstruktion, die Typen der Satzzusammenhänge, der Wortschatz, die verschiedenen Stileigentümlichkeiten mit Vorliebe beachtet und auch betrachtet. Die Philologen haben Freude daran. Über den Wert eines Werkes entscheidet ihrer Meinung nach vor allem all das, was in der Doppelschicht der Sprache auftritt. Dagegen hat das, was in den übrigen Schichten vorhanden ist, der polyphone Zusammenklang aller Schichten und der in ihnen enthaltenen ästhetisch relevanten Qualitäten - all das hat für sie eher sekundäre Bedeutung. So kommt es bei der Weise der Lektüre, welche bei der philologischen Einstellung häufig auftritt, nicht zur vollen und lebendigen Konstituierung in der Konkretisation des Werkes. Die eigene polyphone Harmonie des konkretisierten Werkes wird gestört und unterliegt einer eigentümlichen "perspektivischen Verkürzung", welche vielen Werken nicht adäquat ist. Es soll natürlich nicht geleugnet werden, daß es literarische Kunstwerke gibt, in welchen die beiden Schichten der Sprache mit ihren ästhetisch relevanten Qualitäten tatsächlich eine entscheidende und sehr wichtige Rolle für das Ganze spielen. Die "philologische" Weise des Lesens ist bei solchen Werken vielleicht eher am Platz. Im allgemeinen aber bilden literarische Kunstwerke dieser Art eher eine Ausnahme in

§ 14. Werkelfassung

und Gestalt der

Konkretisation

103

der sog. "schönen" Literatur, und zwar als Dekadenzerscheinung oder Zeugnisse barocken Stils. Wenn sie in der Einstellung auf die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten gelesen werden, zeigen sie eine gewisse Leere und Armut sowohl an "ideologischem" Gehalt als auch hinsichtlich der Polyphonie der in ihnen vorhandenen ästhetisch relevanten Qualitäten. Die Kunstwerke aber, welche eine reiche Polyphonie an solchen Qualitäten enthalten, können in der "philologischen" Weise des Lesens nie ihr eigenes künstlerisches Gesicht offenbaren, da sie bei dieser Art der Erfassung eben um diejenigen Momente gebracht werden, die in ihnen das Wichtigste und zu ihrem Wesen Gehörige bilden. Diese Beispiele werden vielleicht ausreichen, um anzudeuten, um was es bei der sogenannten "perspektivischen Verkürzung" geht. Diese "Verkürzungen" ergeben sich aus dem Kontrast zwischen dem Reichtum und der Kompliziertheit des literarischen Kunstwerks einerseits und der relativen Beschränktheit und Enge des Bewußtseins und der Fähigkeiten des Lesers andererseits, die übrigens von Fall zu Fall schwanken, aber eine oberste Grenze nie überschreiten können. Das literarische Kunstwerk ist aber oft so reich und seine Struktur so kompliziert, daß diese obere Grenze oft überschritten wird. Das echte literarische Kunstwerk - zunächst unabhängig davon, wie "lang" es ist und welche Forderungen es an den Leser bezüglich seiner Erfassung in allen seinen aufeinanderfolgenden Teilen stellt - ist gleichsam zu reich, als daß es selbst von einem sehr begabten Leser in seinem ganzen Reichtum sogleich erfaßt werden könnte. Das ist das erste, nur formale Ergebnis unserer Betrachtung der verschiedenen sich bei einer Lektüre vollziehenden Operationen bei der Konfrontation mit dem dem literarischen Kunstwerk eigenen Aufbau. Welche weiteren Schlüsse daraus zu ziehen sind und welche Möglichkeiten sich für eine erkenntniskritische Betrachtung in den eben besprochenen Operationen sich vollziehenden Erkennens des literarischen Kunstwerks eröffnen, werden wir erst später überlegen können. Vorläufig nur noch eine Bemerkung: Eben die nicht zufällige Tatsache, daß das literarische Kunstwerk sozusagen über die mögliche Reichweite der Operationen, welche sich beim Lesen vollziehen, hinausgeht, zeigt am besten, daß dieses Werk den Bewußtseinserlebnissen, in denen es erkannt wird, transzendent ist und eben damit nicht auf sie "reduziert", also insbesondere nicht "psychologisiert" werden darf. Eine analoge "Transzendenz" zu denjenigen

104

I. Funktionen

des

Erkennens

Erlebnissen, die vom Autor bei der Schaffung des Werkes vollzogen werden, müßte in besonderen Analysen herausgestellt werden, wodurch der "Psychologismus" in der Theorie des literarischen Kunstwerks erst endgültig überwunden wäre. Dies geht aber schon über das Thema dieses Buches hinaus.

II.

Kapitel: Die Zeitperspektive in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks

§ 15. Die Struktur der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes Es gibt aber noch andere perspektivische "Verkürzungen", in welchen sich uns das literarische Kunstwerk darstellt. Sie sind mit seinem Aufbau wesensmäßig verbunden, sind also von den veränderlichen und zufälligen Umständen der Lektüre des Werkes unabhängig, obwohl die Lektüre in ihnen gewisse sekundäre Veränderungen verursachen kann. Sie sind also wesentlich von den bereits besprochenen perspektivischen Verkürzungen verschieden. Damit gehe ich zur Erörterung der Behauptung über, das Kennenlernen des literarischen Werkes vollziehe sich und müsse sich in einer Mannigfaltigkeit zeitlich aufeinanderfolgender und miteinander synthetisch verbundener Phasen vollziehen. Bei verhältnismäßig kurzen Werken, z.B. bei lyrischen Gedichten, können sie ein ununterbrochenes Continuum bilden, bei größeren Werken dagegen sind Unterbrechungen bei der Lektüre praktisch unvermeidlich, was für die Erfassung des Werkes nicht ohne - oft nachteilige - Wirkung bleibt. Jedes literarische Kunstwerk und auch jedes literarische Werk überhaupt hat eine gewisse "Ausdehnung" (Länge) vom "Anfang" bis ans "Ende".1 Die überwiegende Mehrzahl der Werke besteht aus einem Titel und einer Mannigfaltigkeit "aufeinanderfolgender" Sätze. 2 In den relativ seltenen Fällen, in welchen nur ein Satz das ganze Werk bildet, besteht er aus einer Mannigfaltigkeit von Wörtern oder Sinneinheiten höherer Stufe (z.B. den sog. "Neben-

Vgl. Das literarische Kunstwerk, 11. c. §§ 54 und 55. Dieses "Aufeinanderfolgen" der Teile des Werkes, das ja alle seine Teile gewissermaßen zugleich besitzt, von denen keiner zeitlich früher oder später gegenüber den anderen ist, stellt ein besonderes und nicht leicht zu lösendes Problem dar, das ich anderenorts zu lösen suchte [vgl. Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. 1, § 32], Hier ist diese Lösung deswegen ohne Bedeutung, weil es bei der Lektüre um eine Konkretisation des Werkes geht, bei der die Teile des konkretisierten Werkes tatsächlich zeitlich aufeinanderfolgen.

106

II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

Sätzen"),3 die in einer bestimmten Ordnung der Aufeinanderfolge stehen und die bei einer Lektüre nie in concreto in einem Augenblick gedacht werden können. A fortiori bezieht sich dies auf eine Reihe von Sätzen. Auch diese sind in einem fertigen Werk auf eine genau bestimmte Weise geordnet, was auch für alle aus Sätzen bestehenden Einheiten höherer Ordnung gilt, z.B. für einzelne Kapitel eines Romans oder einzelne Szenen oder Akte eines Dramas. Diese Ordnung kaiin nicht verändert werden, ohne im Bau des Werkes sehr wesentliche Veränderungen vorzunehmen, und manchmal kann die Umordnung der Sätze zur Zerstörung des Werkes und insbesondere seiner Einheit des Sinnes und überhaupt des künstlerischen Ganzen führen. Der Grund dafür liegt vor allem in der im vorigen Kapitel angedeuteten Tatsache, daß der Sinn der einzelnen Sätze - wenigstens in sehr vielen, wenn nicht sogar in allen Fällen - erst dadurch voll bestimmt wird, daß er mit anderen Sätzen im Zusammenhang steht, die ihm folgen oder vorangehen. Und dieser Zusammenhang wird in gewissem Maß durch die Stelle bestimmt oder mindestens mitbestimmt, an welcher der betreffende Satz unter den anderen Sätzen steht. Eine andere Anordnung der Sätze hat oft zur Folge, daß der Zusammenhang zwischen ihnen verlorengeht oder wenigstens verwandelt oder verschwommen wird, da die umgestellten Sätze dadurch meist einen etwas anderen Sinn bekommen oder mindestens bekommen können. Dafür ein kurzes Beispiel, das als ein Stück aus einem größeren Ganzen gedacht wird, als Fortsetzung einer früheren, uns unbekannten Situation: ... Der Vater war infolgedessen über das Verhalten seines Sohnes entrüstet. Er versetzte ihm mehrere harte Schläge. Und nachdem er ihn wegen seines Mangels an Familiengefühl getadelt hatte, ging er seines Weges ...

Wenn wir diese Sätze lesen, meinen wir, daß sich der Sohn wahrscheinlich dem Vater gegenüber trotzig und ungehörig benommen hat, so daß sich dieser infolgedessen darüber entrüstete, den Sohn schlug und dann wieder in seiner Beschäftigung fortfuhr. Der Vater erscheint hier in keinem besonders guten Licht und verwendet jedenfalls nicht die richtigen und zweckmäßigen pädagogischen Mittel. Stellen wir jetzt die Sätze um:

Es sind freilich Ein-Wort-Sätze nicht ausgeschlossen, wir können aber von diesem Ausnahmefall hier absehen.

§ 15. Aufeinanderfolge der Teile

107

... Er versetzte ihm mehrere harte Schläge. Der Vater war infolgedessen über das Verhalten seines Sohnes entrüstet. Und nachdem er ihn wegen seines Mangels an Familiengefühl getadelt hatte, ging er seines Weges ...

Diese Umstellung verwandelt den Sinn der angegebenen Sätze und es verwandelt sich dadurch auch die in ihnen dargestellte Situation. Vor allem kommen jetzt nicht zwei, sondern drei Personen in Betracht: der Sohn, der jemanden schlägt, der Geschlagene, der anscheinend zur Familie gehört, und der Vater. Jetzt schlägt der Sohn, der Vater ist ihm böse, aber aus einem anderen Grund als früher, denn er rügt nicht den Trotz, sondern die ungerechte Verhaltensweise einem nahen Verwandten gegenüber. Und so weiter. Beispiele solcher Veränderungen infolge der Umordnung der Sätze kann uns jedes literarische Kunstwerk liefern. Die Umordnung der einzelnen Teile eines literarischen Kunstwerks bringt auch andere Veränderungen in ihm hervor, und zwar in seiner Komposition, in der Dynamik der sich entfaltenden Begebenheiten, im Tempo der sich entwickelnden größeren oder kleineren Gedankeneinheiten usw. Diese Veränderungen, die nur von ihnen abgeleitet sind, spielen aber beim literarischen Kunstwerk oft eine gleich große Rolle, besonders dann, wenn sie diejenigen Eigentümlichkeiten des Werkes betreffen, von welchen sein künstlerischer und ästhetischer Wert abhängt. Sobald aber die Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes einmal festgelegt ist, schreibt sie dem Leser die Ordnung vor, in welcher er diese Teile nacheinander zu lesen hat. Die Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile im Werk selbst verwandelt sich in die zeitliche Aufeinanderfolge der Phasen der Lektüre und auch in die zeitliche Aufeinanderfolge der Teile der Konkretisation des betreffenden Werkes. Und die Lektüre muß in einem in der Zeit dauernden Vorgang vollzogen werden. Zuerst scheint es, als genüge es zu einer getreuen Erfassung eines Werkes, sich mit seinen Teilen in derselben Ordnung bekannt zu machen, in welcher sie aufeinanderfolgen. Jede Abweichung von dieser Ordnung bei der Lektüre dagegen - wenn z.B. jemand ein Werk Kapitel für Kapitel von hintenherein lesen wollte - muß, wie es scheint, zu einer vom Werk selbst stark verschiedenen Konkretisation führen. Indessen zeigt eine genauere Überlegung, daß es, selbst wenn man die Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile bei der Lektüre einhält, zu einer gewissen unvermeidlichen Verschiedenheit der Konkretisation vom Werk selbst kommt. Diese Verschiedenheit ist besonders für die ästhetische Erfassung des literari-

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11. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

sehen Werkes als eines Kunstwerks von Bedeutung. Auf einige Züge dieser Verschiedenheit möchte ich hier hinweisen. Es ist vor allem auf zwei verschiedene Phasen des Erkennens eines literarischen Kunstwerks hinzuweisen: a) Die Phase während der Lektüre und b) die Phase nach der Lektüre.

§ 16. Das Kennenlernen des literarischen Kunstwerks während der Lektüre In Wirklichkeit sind sehr verschiedene Weisen des Lesens eines und desselben Werkes möglich. Es wäre außerordentlich schwierig, sie alle beschreiben zu wollen. Zur Vereinfachung ziehe ich also bloß den Fall in Betracht, daß ein bestimmtes Werk zum ersten Mal von Anfang bis Ende sowohl ohne Unterbrechungen als auch ohne ein Wiederholen der bereits gelesenen Teile gelesen wird. Dies ist natürlich nur bei relativ "kurzen" Werken möglich. Indem wir ein Werk "Satz für Satz" lesen und in jeder Phase der Lektüre die früher beschriebenen zusammengesetzten Operationen vollziehen, haben wir jeweils nur den gerade gelesenen Teil des Werkes unmittelbar und lebendig selbstgegenwärtig. Seine anderen Teile (die "früheren" wie die "späteren") verschwinden zwar nicht alle aus dem Bereich unseres aktuellen Bewußtseins, sie sind aber bereits nicht mehr auf jene lebendige Weise selbst gegenwärtig, wenn wir zu ihrem Wiederaufleben nicht besondere Akte vollziehen. Welchen Umfang die gerade lebendig selbstgegenwärtige Phase des Werkes hat, dies läßt sich nicht für alle Werke und alle Lesungen auf dieselbe eindeutige Weise bestimmen. Dieser Umfang ist nämlich sehr verschieden und veränderlich und hängt vor allem vom Bewußtseinstypus des jeweiligen Lesers sowie von seinem jeweiligen Zustand, aber auch von der Struktur des Werkes selbst ab, und insbesondere von der Weise, in der die Sätze gebaut sind und in welchen Zusammenhängen sie untereinander stehen. Die Gegenwart des Lesers kann - worauf, wie mir scheint, Bergson zuerst hingewiesen hat - eine sehr verschiedene "Ausdehnung" haben und ist nie ein "Zeitpunkt", wie man dies unter dem Einfluß der physikalisch-mathematischen Zeitauffassung gewöhnlich sagt. Der Umfang der jeweilig lebendig gegenwärtigen Phase des gelesenen Werkes muß aber in den Grenzen der jewei-

§ 16. Kennenlernen des Werks

109

ligen "Ausdehnung" der Gegenwart des Lesers enthalten sein. 4 Manchmal kann sie den Bereich eines einzigen Satzes umfassen, manchmal mehrere aufeinanderfolgende, miteinander verbundene Sätze, manchmal aber auch nur ein Fragment eines weitgespannten komplizierten Satzes, besonders wenn der betreffende Satz syntaktisch nicht durchsichtig genug ist. Meistens deckt sich aber der Umfang der jeweilig lebendig gegenwärtigen Phase des Werkes mit dem Bereich der Sinneinheit: dem Satz. Im Verlauf der Lektüre eines Werkes ist stets ein anderer Teil bzw. eine seiner Phasen dem Leser unmittelbar lebendig gegenwärtig. Jede Phase aber geht von dem Zustand, in welchem sie dem Leser noch unbekannt war und sich nur eventuell auf eine vage Weise ankündigt, in den Zustand unmittelbar lebendiger Gegenwart über, wandelt sich aber sogleich in diejenige Gestalt um, in welcher sie bereits bekannt, aber nicht mehr aktuell und unmittelbar lebendig gegenwärtig ist. Sie verschwindet aber doch nicht gleich völlig aus dem Gesichtskreis des Lesers. Sie entfernt sich auf eigentümliche Weise von der je neuen Gegenwart des Lesers und sinkt langsam in seinen Vergangenheitshorizont hinunter, obwohl sie selbst weder ganz zunichte gemacht wird, noch im echten Sinn vorbeigeht. Man könnte sagen, daß sich der Leser von ihr entfernt, sie selbst dagegen weiterhin ist, und sogar auch für den Leser ist, obwohl er sie vielleicht explicite nicht mehr im Gedächtnis behält. Das Lesen eines literarischen Kunstwerks kann man mit der Besichtigung eines Landes vergleichen, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, daß jenes "Land" des Werkes nicht real ist und daß es seitens des Lesers eine gewisse Kraftanstrengung erfordert, das Werk in einer gewissen sich wandelnden Aktualität zu erhalten. Der gerade gelesene Teil eines Werkes ist uns deswegen unmittelbar lebendig selbst gegenwärtig, weil wir gerade in diesem Moment diejenigen signitiven Akte lebendig vollziehen, welche den Sinn des betreffenden Satzes (oder Satzzusammenhanges) in seiner konkreten Entfaltung konstituieren und weil uns der Bestand der Wortlaute und der verschiedenen sprachlautlichen Gebilde und Erscheinungen höherer Stufe in den der Reihe nach auftretenden konkreten Einzelheiten in einer lebendigen Vorstellung "in den Ohren klingt". 4

Auf die Unterschiede in der Aktualität der unmittelbar lebendig gegenwärtigen Phase innerhalb einer Gegenwart des Lesers weise ich hier nicht hin, weil dies ganz verschiedene, komplizierte und schwer beschreibbare Tatbestände umfaßt.

110

II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

Die in der betreffenden Phase des literarischen Kunstwerks dargestellten Gegenstände zeigen sich uns in einem konkreten, anschaulichen Gewand von Ansichten. Es ist so, als wenn wir nacheinander unmittelbar Zeugen dessen würden, was in der gegenständlichen Schicht des Werkes gerade geschieht, und auch all dessen, was in den übrigen Schichten des Werkes in der betreffenden Phase auftritt. Auf welche Weise ein solches "Zeuge-Sein" der im Werk dargestellten Begebenheiten möglich ist, wo wir doch bei einem rein literarischen Werk diese Gegenstände und Vorgänge gar nicht im strengen Sinn des Wortes wahrnehmen, das ist natürlich eine Angelegenheit, die eine besondere Erörterung verlangt. Doch überschritte die Durchführung einer besonderen Analyse der verschiedenen möglichen Bewußtseinsweisen der Gegenstände, mit denen wir in Beziehung treten, unsere gegenwärtige Betrachtung weit. Jedenfalls ist es nicht möglich, sich mit der sich aufdrängenden stereotypen Wendung, die Gegenstände würden vom Leser eben "vorgestellt", zufrieden zu geben. Man müßte mindestens sagen, daß es eine besondere Weise des "Vorstellens" gibt, welche uns die so "vorgestellten" Gegenstände eben "gegenwärtig" macht. Husserl spricht von einer "Vergegenwärtigung", welche von der "Gegenwärtigung", die beim Wahrnehmen stattfindet, verschieden ist und doch eine ausgesprochene Verwandtschaft mit ihr aufweist. 5 Daß es zu einer solchen vergegenwärtigenden Weise des "Vorstellens" in der Gegenwartsphase des Lesens wirklich kommt, das sieht man am besten bei einem Vergleich der gerade gelesenen Phase des Werkes mit seinen bereits gelesenen Teilen, die noch in unserem Bewußtseinsbereich verbleiben, obwohl wir uns ihnen in keinen besonderen Denk- oder Vorstellungsakten zuwenden; das ist natürlich auch wohl möglich, kommt aber meistens nicht vor, wenn es dazu keine besonderen Anlässe gibt. Obwohl wir von den gelesenen Teilen und von den in ihnen dargestellten Gegenständlichkeiten bereits entfernt sind, haben wir nicht nur das Gefühl, sie bestünden noch weiterhin, sondern darüber hinaus bewahren wir sie, oder wenigstens manche von ihnen, in mehr oder weniger lebendigem Gedächtnis. Es gibt sowohl im Werk selbst als auch in den Umständen des Lesens Gründe,

[Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie

und phänomenologischen

phie, Erstes Buch, S. 225 (Husserliana I1I/1, S. 250, 251).]

Philoso-

§ 16. Gegenwart und Vergangenheit der Lektüre

111

die manchen der bereits gelesenen Teile des Werkes erlauben, in solch lebendigem Gedächtnis bewahrt zu werden. Der Zweifel daran, ob es dazu wirklich kommt, ja mehr noch, ob so etwas überhaupt möglich ist, rührt wahrscheinlich daher, daß nicht jede Schicht der bereits gelesenen Teile des Werkes auf dieselbe Weise im Gedächtnis behalten wird. Die sprachlautliche Schicht wird eher in der Gestalt eines gewissen Nachklanges der charakteristischen Rhythmen und anderer sprachlautlichen Gebilde höherer Ordnung im Gedächtnis behalten. Die konkreten Laute der einzelnen Wörter verschwinden eher aus dem Bewußtseinsfeld des Lesers, obwohl manche besonders "kräftige" oder mit emotionalen Momenten behaftete Wörter lebendiger nachklingen können. Die Satzsinne, welche der Leser in der gerade gelesenen Phase des Werkes explicite entfaltet, treten in den bereits gelesenen und in diesem Sinn "vergangenen" Teilen des Werkes als fertige, wie in einem zusammenfassenden Meinungsakt erfaßte Sinneinheiten auf, und in dieser Gestalt werden sie im lebendigen Gedächtnis erhalten. Derartig zusammengefaßte, sozusagen "gekürzte" Sinnganzheiten bilden sich dabei oft nicht aus einzelnen Sätzen, sondern aus ganzen Satzzusammenhängen. Indem der Leser sie im lebendigen Gedächtnis bewahrt, werden manchmal größere, manchmal kleinere Satzzusammenhänge in einen relativ einfachen Sinn zusammengefaßt - z.B. in den Sinn eines Tatbestandes, der "früher" (in den bereits gelesenen Teilen des Werkes) breit und in vielen Einzelheiten zur Darstellung gebracht wurde. Wir lesen z.B. bereits die letzten Kapitel der Buddenbrooks von Thomas Mann, und da klingt uns gewissermaßen im Gedächtnis ein Satz oder auch nur ein Name aus der Szene nach, wo ehemals Johann Buddenbrook zum Senator gewählt wurde, ohne daß wir uns daran in einem besonderen Akt erinnerten. Ich habe gesagt, der Leser "fasse" auf eine "besondere Weise" gewisse bereits gelesene Sätze oder ganze Satzmannigfaltigkeiten "zusammen", weil diese "Zusammenfassung", eine gewisse Kondensierung des Sinnes, gewöhnlich gewissermaßen automatisch, ohne besonderes Überlegen oder Nachdenken des Lesers über diese Sätze und ohne eine besondere Operation des Zusammenfassens zustande kommt. Eine solche Operation ist natürlich auch möglich, aber dann vollzieht sich eine deutliche Rückwendung des Lesers zu den bereits gelesenen Teilen des Werkes, und daraus ergibt sich ihre erneute Aktualisierung. Um sie im lebendigen Gedächtnis zu behalten, ist dies aber

112

li. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

gar nicht notwendig und würde zudem sichtlich den Fortgang der schlichten Lektüre stören, mit der wir uns hier beschäftigen. Der auf solche Weise "kondensierte" Sinn kann noch andere Gestalten haben. Einmal kann er einfach der Sinn eines besonders wichtigen Satzes sein, der sich aus dem Kontext automatisch hervorhebt. Ein anderes Mal kann er der Sinn eines völlig neuen, im Text des Werkes tatsächlich gar nicht auftretenden Satzes oder sogar Namens sein, der dem Leser in kondensierter Abkürzung manchmal sehr umfangreiche Partien des Werkes repräsentiert. Und das Merkwürdige ist, daß es zur Gestaltung eines solch kurz gefaßten Sinnes kommt, ohne daß der Leser es bewußt oder gar absichtlich tut. Es kommt sozusagen von selbst dazu. Wie ich mich ausgedrückt habe, behalten wir im "lebendigen Gedächtnis" einen kondensierten Sinn. Das bedeutet nicht, daß wir bei der Lektüre einen besonderen Erinnerungsakt an diesem Sinn vollziehen, und auch nicht, wie dies vielleicht manche Psychologen zu behaupten geneigt wären, daß wir eine gewisse "Disposition" zum Vollzug solcher Erinnerungsakte haben. Beides kann natürlich einmal eintreten, in der Mehrzahl der Fälle kommt es aber dazu gar nicht. Es kommt jedenfalls im Fall des lebendigen Gedächtnisses, das eine ganz besondere Weise des Bewußtseins ist, nie dazu. Das Phänomen des "lebendigen Gedächtnisses" wurde, soviel mir bekannt ist, bis jetzt in der Psychologie bzw. in der Phänomenologie des Bewußtseins nicht herausgestellt und näher bearbeitet, 6 vielleicht gerade deswegen, weil es etwas ist, was stets besteht und woran wir gewöhnt sind. Wir bringen es uns eigentlich erst deutlich zu Bewußtsein, wenn es uns aus irgendwelchen besonderen Gründen auffällt. Die Klärung dieser besonderen Funktion des Bewußtseins würde umfangreiche Analysen erfordern, die hier nicht durchgeführt werden können.

Man darf es nicht mit der von Husserl eingeführten "Retention" vermengen. Denn die Retention ist ein Erlebnis, dessen gegenständlicher Bereich noch durchaus in der Reichweite der lebendigen Gegenwart liegt, obwohl sie dasjenige betrifft, was "soeben" vergangen ist bzw. vergeht. Die Retention trägt dabei zur Konstitution der lebendigen Gegenwart bei (vgl. Husserl, Vorlesungen

zur Phänomenologie

des inneren Zeitbewußtseins,

1928 [hrsg.

von Martin Heidegger, Halle; 2. verb. Auflage hrsg. von R. Boehm, Husserliana X, Dordrecht 1969]). Das "lebendige Gedächtnis" dagegen führt uns deutlich über den Bereich der aktuellen Gegenwart hinaus. Es ist eine der Weisen, in welchen sich für das Ich die Vergangenheit bzw. das Vergangene konstituiert. Es scheint, daß man im "lebendigen Gedächtnis" manchmal Tatsachen behalten kann, die von unserer Gegenwart relativ weit entfernt sind.

§ 16. Gegenwart und Vergangenheit der Lektüre

113

Nur auf eine ganz vorläufige Weise kann gesagt werden, daß sie eine Art peripheren und nicht genauer präzisierten Fühlens ist, daß etwas Bestimmtes geschah, was mit unserer Gegenwart eng zusammenhängt (wie etwa der Anfang eines begonnenen und weiter gedachten Satzes) und in ihr eine gewisse Fortsetzung, bzw. in dem, was in der Gegenwart eben aktuell ist, seine spürbaren Folgen hat. Dieses unwillkürliche Fühlen des bereits Vergangenen kann entweder in einen deutlichen Akt der Erinnerung an das so Gefühlte übergehen oder aber ganz verstummen. Im letzteren Fall verschwindet jedes gedächtnismäßige Wissen von dem vergangenen Ereignis oder von einer bereits in die Vergangenheit versunkenen Gegenständlichkeit, und es muß ein besonderer neuer Akt des Sich-Erinnerns vollzogen werden, um das Vergangene wiederum "ins Gedächtnis zu rufen" und ein neues Wissen von ihm zu gewinnen. Wenn man von pathologischen Fällen absieht (z.B. eine leichte Alkoholvergiftung), ist dagegen das Bewußtsein der aktuellen Gegenwart stets mit dem lebendigen Gedächtnis mancher bereits vergangener Tatsachen oder Gegenständlichkeiten verbunden. Dies zeigt sich u.a. daran, daß das, was in diesem Gedächtnis behalten wird, an unserer aktuellen Verhaltensweise bzw. an der Bestimmung des gerade Erfaßten als ein deutliches Motiv mitwirkt, wenn wir uns auch davon nicht immer Rechenschaft geben. Das lebendige Gedächtnis des kondensierten Sinnes der bereits gelesenen Teile des literarischen Werkes bildet also nur einen besonderen Fall des lebendigen Gedächtnisses überhaupt. Mit dem Unterschied indessen, daß dasjenige, was so im Gedächtnis behalten wird, nicht zu der realen Welt gehört, sondern zu der besonderen Sphäre des literarischen Werkes. Je "früher" die Teile des gelesenen Werkes sind, bzw. je früher sie gelesen wurden, und je weniger wichtig sie für das Ganze des Werkes oder für den eben gelesenen Teil sind, desto weniger lebendig ist das sich auf sie beziehende lebendige Gedächtnis; es erlischt gleichsam, so daß die entsprechenden Teile des Werkes in einem bestimmten Augenblick der weiteren Lektüre dem Bewußtseinsfeld des Lesers völlig entschwinden. Bei den einzelnen Lesern können in dieser Hinsicht bedeutende Unterschiede bestehen, je nach dem Gedächtnistypus des Lesers und den äußeren Umständen, unter denen sich die Lektüre vollzieht und die eine größere oder kleinere Konzentration des Lesers ermöglichen und in dem Leser ein lebhafteres Interesse hervorrufen. Für die weitere Betrachtung ist aber die Tatsache wichtig, daß der Leser bei literarischen

114

II. Die Zeilperspektive

in der

Konkretisation

Werken größeren Umfangs das Ganze des bereits gelesenen Teiles des Werkes nie im lebendigen Gedächtnis behalten kann, daß ihm aber andererseits immer diese oder jene Fragmente des Werkes in abgekürzter, kondensierter Gestalt auf die angedeutete gedächtnismäßige Weise bewußt sind. Nie verschwindet das, was bereits gelesen wurde, sofort und in allen seinen Zügen aus dem Bewußtseinsfeld des Lesers, von pathologischen Fällen natürlich abgesehen. Auf eine analoge Weise, wie die Bedeutungsschicht des literarischen Werkes, und in engem Zusammenhang damit, behält der Leser die entsprechenden Phasen des in der gegenständlichen Schicht des Werkes Dargestellten in seinem lebendigen Gedächtnis. Nachdem wir von den dargestellten Gegenständen (Dingen, Menschen) bereits dies oder jenes erfahren haben, sind sie uns nicht mehr in ihrem Gewand von Ansichten explicite gegenwärtig. Wir haben von ihnen nur ein mehr oder weniger unanschauliches, gedächtnismäßiges Wissen, vorzugsweise nur ein Wissen darüber, was mit ihnen in den bereits gelesenen Teilen des Werkes geschah, an welchen Ereignissen sie teilgenommen und wie sie sich dabei verändert haben. Es kommt auch in diesem Fall zu einer eigenartigen Kondensierung und Abkürzung der bereits gelesenen Phasen der gegenständlichen Schicht des Werkes. Lebendig im Gedächtnis behalten werden vom Leser nur die Kulminationsphasen der Geschehnisse, die wichtigsten Personen und dergleichen mehr, oder auch Tatsachen, welche ihn persönlich näher berühren, z.B. solche oder andere Gefühle in ihm hervorrufen. Im Verlauf des Lesens behält der Leser immer wieder andere Tatsachen und Gegenstände im lebendigen Gedächtnis. Und zwar nicht allein aus dem Grund, weil die Mannigfaltigkeit der dargestellten Tatsachen immer weiter wächst, sondern auch deswegen, weil oft andere Vorgänge, Ereignisse oder Personen bei fortschreitender Lektüre in den Augen des Lesers eine andere Bedeutsamkeit gewinnen, als sie in den zuerst gelesenen Teilen des Werkes zu haben schienen. Eine an sich zuerst ohne größere Bedeutung auftretende Tatsache entpuppt sich im Verlauf weiterer Begebenheiten als ein Wendepunkt der sich entwickelnden Handlung oder als ein Ereignis, welches an bedeutsamen Wirkungen reicher als andere Ereignisse ist. Dann drängt sie sich dem Leser auf und wird auf einmal ins lebendige Gedächtnis zurückgerufen.

§ 16. Gegenwart und Vergangenheil der Lektüre

115

Im allgemeinen kommt es nur selten vor, daß der Leser die vergangenen Phasen aller Schichten des literarischen Werkes im lebendigen Gedächtnis behält. Es kommt da gewöhnlich zur charakteristischen Einengung (Begrenzung) der Konkretisation des literarischen Werkes auf einige seiner Schichten. Meist überwiegt dabei die Schicht der dargestellten Gegenstände. Der unmittelbar lebendig gegenwärtigen Phase des Werkes stellen sich andererseits diejenigen seiner Teile entgegen, an die der Leser noch nicht herangekommen ist, denen er sich im Verlauf des Lesens aber ständig immer mehr nähert. Auch sie existieren irgendwie für den Leser, obwohl er sie im allgemeinen gar nicht kennt. Die Dynamik des Werkes führt manchmal dazu, daß sich Teile, denen sich der Leser nähert, ihm mit ziemlich deutlichen und bestimmten Zügen ankündigen. Gewisse "kommende" Ereignisse kündigen sich etwa in Umrissen an, manchmal mehrere Möglichkeiten auf einmal. Ihre Ankündigung, so undeutlich und ungenau sie auch sein mag, färbt auf eigentümliche Weise die Ereignisse, deren Zeugen wir bei der Lektüre gerade sind. Aber erst die weitere Lektüre kann uns ein positives Wissen davon geben, ob und in welchem Maß sich das sich Ankündigende wirklich erfüllt. Nicht ohne Bedeutung sind dabei, besonders für die ästhetische Erfassung des literarischen Kunstwerks, die manchmal bewußt vorbereiteten "Überraschungen": es tritt in der gegenständlichen Schicht oder auch in anderen Schichten des Werkes etwas auf, was nicht vorauszusehen war. Oder es tritt im Gegenteil etwas, was vorbereitet und erwartet wurde, gar nicht ein. Die Vorbereitung einer solchen Überraschung geschieht im Werk durch besondere künstlerische Mittel, mit denen im Text etwas als möglich und drohend irgendwie angedeutet wird, was sich dann auf einmal doch nicht erfüllt und durch sein Gegenteil ersetzt wird. Darin liegen besondere künstlerische Effekte. Und es ist für die ästhetische Erfassung des Werkes nicht ohne Bedeutung, daß die Überraschungsphänomene in ihrer richtigen und für die Entfaltung bedeutsamen Rolle durch den Leser wirklich erfaßt werden. Die übrigen Schichten des literarischen Werkes kündigen sich im allgemeinen nicht einmal in einer bloß skizzenhaften Weise an. Es sind aber Ausnahmen möglich. In Gedichten, welche in regulären Versen geschrieben sind, z.B. in einer klassischen Oktave, kann der sich wiederholende Rhythmus den Leser sozusagen so einwiegen, daß er immer auf das Wiederkehren derselben Rhythmen eingestellt ist und ihr Herankommen gewissermaßen schon "im

116

//. Die Zeilperspektive in der Konkretisation

Ohr" hat, ohne daß dazu die graphische Gestalt des Verses im voraus gesehen zu werden braucht. Unabhängig aber davon, auf welche Weise sich die kommenden Teile des Werkes dem Leser ankündigen und was sich vom Werk überhaupt so ankündigt und ankündigen kann, ist dem Leser beständig das Phänomen des Fortschreitens zu immer neuen Teilen bzw. Phasen des Werkes gegenwärtig und manchmal gleichzeitig damit das Phänomen des Immer-weniger-Werdens der noch unbekannten Teile des Werkes; andererseits macht sich das Phänomen des ständigen Anwachsens seiner bereits gelesenen Teile fühlbar. Dies ist es gerade, was dem Vorgang des Lesens den Charakter einer Bewegung verleiht, die in bestimmtem Tempo und mit charakteristischer Dynamik abrollt. Der eben gelesene Teil eines Werkes wird also in der Konkretisation beständig von einem doppelten Horizont umgeben (wenn es erlaubt ist, hier diesen Husserlschen Ausdruck zu verwenden): a) der Teile, die bereits gelesen wurden und in die "Vergangenheit" des Werkes versinken und b) derjenigen Teile, welche noch nicht gelesen und bis zum eben gegenwärtigen Moment noch unbekannt sind. Dieser doppelte Horizont ist als Horizont beständig da, er wird aber immer wieder durch andere Teile des Werkes ausgefüllt. Sein Bestehen hat - obwohl in oft wechselnder Weise - einen ständigen Einfluß auf die Gestaltung des Gehalts des eben gelesenen Teiles des Werkes. In bezug auf die Bedeutungsschicht des Werkes wurde diese Angelegenheit bereits im §8 besprochen. Dieser Einfluß zeigt sich aber in allen Schichten des literarischen Werkes an der eben gelesenen Phase des Werkes mehr oder weniger deutlich. So weitgehend diese Phase in erster Linie und hauptsächlich durch ihren eigenen Gehalt bestimmt wird, so sähe sie doch in ihrer konkreten Gestaltung anders aus, wenn sie tatsächlich nicht gerade auf diese, sondern eine andere, "frühere" Phase des Werkes folgte oder wenn sie überhaupt den Anfang des Werkes bildete bzw. bloß als erste Phase des Werkes gelesen würde. Manche sich in ihr vollziehenden Ereignisse würden dann überhaupt nicht recht verständlich oder sie gewännen eine andere Bedeutung. Ihre Rolle, bzw. Wichtigkeit, ihre innere Dynamik, ihr Ausdruck prägte sich dann ganz anders aus. Auch die dem Leser vom gelesenen Text aufgezwungenen Ansichtenschemata würden sich dann anders konkretisieren, wodurch es manchmal zu wesentlichen Verschiebungen und Beugungen in der polyphonen Harmonie

§17. Phänomene der Zeitperspektive

117

der ästhetisch relevanten Qualitäten käme. Die Konkretisation des eben gelesenen Teiles des Werkes steht also oft in weitgehender funktioneller Abhängigkeit von den bereits gelesenen Teilen des Werkes und in noch höherem Maß von der Weise, in der diese bereits gelesenen Teile in dem betreffenden Fall konkretisiert wurden. In manchen Fällen ist die Konkretisierung des eben gelesenen Teiles des Werkes auch von den sich nur ungenau und nebelhaft andeutenden bzw. vorausgeahnten "späteren" Teilen des Werkes und insbesondere seiner gegenständlichen Schicht funktionell abhängig. Andererseits aber stellen sich auch die dem Leser bereits bekannten Teile des Werkes und insbesondere die in ihnen dargestellten Geschehnisse vom Standpunkt der "späteren", aber eben jetzt gelesenen Phase des Werkes aus gesehen oft in einer anderen Gestalt dar, als in der, in welcher sie sich in der betreffenden Phase des Lesens in ihrer Selbstgegenwart gezeigt hatten. In welchen möglichen Gestalten sie im lebendigen Gedächtnis des Lesers aufbewahrt werden, dies wurde bereits besprochen. Der Leser kann sie aber auch in besonderen Erinnerungsakten wieder wachrufen. In beiden Fällen zeigt sich das Phänomen der perspektivischen Verkürzung, das jedoch von dem im §14 bereits besprochenen völlig verschieden ist. Es kommt nämlich hier die ganz eigentümliche, aber auch bis jetzt kaum untersuchte "Zeitperspektive" in Betracht. Die Phänomene, die in den Konkretisationen der literarischen Kunstwerke während ihrer Lektüre zum Vorschein kommen, bilden nur einen besonderen Fall der "Zeitperspektive" überhaupt. Es wird also nützlich sein, sie auf einem breiteren Gebiet zu untersuchen.

§ 17. Die P h ä n o m e n e der "Zeitperspektive" Das Vorhandensein des lebendigen Gedächtnisses, die von Zeit zu Zeit sich vollziehenden willkürlichen und unwillkürlichen Erinnerungen und die Einstellung des Bewußtseinssubjekts auf die Zukunft und das Leben auf sie zu, dies alles hat zur Folge, daß wir unsere Gegenwart stets als eine in das einheitliche Ganze der Zeit eingefügte Phase erleben. Wir leben in einer phänomenalen Zeit, von der es übrigens verschiedene Abwandlungen gibt, wie z.B. die monosubjektive ("private") Zeit, die uns allen oder nur einer bestimmten Gemeinschaft gemeinsame "intersubjektive", aber immer noch phänomenale

118

II. Die Zeitperspeklive

in der

Konkretisation

Zeit, die zunächst mit der mit Uhren gemessenen Zeit nichts gemeinsam hat, aber doch in einem besonderen kulturellen Milieu auf die Uhr-Zeit bezogen wird und dadurch neue Aspekte gewinnt. In allen ihren Abwandlungen ist diese phänomenale Zeit durch Ereignisse und Vorgänge ausgefüllt, die sich in ihr abspielen, und den zwei Dimensionen, oder wenn man will, den zeitlichen Kategorien: der Gleichzeitigkeit und der Verschiedenzeitigkeit nach geordnet werden. 7 Sie ist im Prinzip nach zwei verschiedenen Richtungen hin bis ins Unendliche zu erweitern. Tatsächlich ist sie aber in dem Sinn beschränkt, daß sowohl die Zeitphasen selbst, als auch die sich in ihnen vollziehenden Geschehnisse nur in einem endlichen Zeitbereich, der auf eine merkwürdige Weise um die jeweilige Gegenwart herum gelagert ist, zur konkreten Erscheinung gelangen. Die Zeitphasen treten deswegen als konkrete Phänomene auf, weil sie - wie Bergson nachgewiesen hat - auf eigentümliche Weise qualitativ bestimmt sind. Dies bezieht sich streng genommen nur auf die jeweilige Gegenwart, auf die bereits erlebten vergangenen Zeitphasen. Dagegen kündigen sich die Zeitphasen der sich nähernden Zukunft entweder als leere Zeitschemata an, die eher bloß gedacht werden und uns nicht phänomenal gegenwärtig sind, oder - wenn wir gewisse kommende Ereignisse erwarten - sie schweben uns unter der Gestalt nur nebelhaft sich anzeigender Qualitäten der Zeitphasen vor. Diese phänomenale Nebelhaftigkeit hat zur Folge, daß eine solche sich bloß qualitativ anzeigende Zeitphase nicht deutlich und endgültig in die phänomenale Zeit eingefügt ist. Gewöhnlich ist, sobald eine solche sich nur nebelhaft ankündigende Zeitphase zur lebendigen Gegenwart wird, ihre

Vgl. dazu vor allem E. Husserl, Vorlesungen

zur Phänomenologie

des inneren

seins, sowie dessen Ideen, §§ 81-82 [Ideen zu einer reinen Phänomenologie nologischen

Philosophie,

Bd. 1, Jahrbuch fitr Philosophie

Zeitbewußt-

und

und phänomenologische

phänomeFor-

schung, Bd. I, Heft 1, 1913; Husserliana III, 1950]. Auch gewisse Ausführungen Bergsons gehören hierher. Seit 1936, als dieses Buch geschrieben wurde, erschien nicht bloß eine neue Auflage der eben erwähnten Husserlschen Betrachtungen, sondern auch verschiedene andere Zeituntersuchungen, wie z.B. [Hedwig] Conrad-Maitius [Die Zeit, München 1954] und verschiedene von Heidegger mitbestimmte Betrachtungen. Ich glaube aber nicht, daß ich meine in diesem Kapitel auftretenden Behauptungen zu ändern brauche. Das von mir einst Ausgeführte könnte höchstens ergänzt und vielleicht vertieft werden. Was aber hier bei der Analyse der Zeitphänomene und der Zeitperspektive dargestellt wird, behält seine Geltung und seine Wichtigkeit für das literarische Kunstwerk und die Weise seiner Erfassung.

S 17. Phänomene der Zeitperspektive

119

qualitative Bestimmung ganz anders, als es in der bloßen Ankündigung zu sein schien, und dies gilt auch dann, wenn die erwarteten Ereignisse sich wirklich erfüllt haben. Sowohl die Phasen der bereits von uns erlebten vergangenen Zeit als auch die Phasen der kommenden Zukunft, treten in ihrer anschaulich erscheinenden qualitativen Bestimmung nur in einem relativ begrenzten Bereich um die jeweils aktuelle Gegenwart herum auf. Dabei stehen sie fast immer in engem Zusammenhang mit den Ereignissen und Vorgängen, die sich in ihnen abspielten oder abspielen und die von uns mehr oder weniger anschaulich wahrgenommen oder bloß vorgestellt werden. Im Bereich der Vergangenheit sind es entweder Vorgangsphasen oder Ereignisse, die in besonderen Akten der Wiedererinnerung nacherlebt werden, oder aber Tatsachen, die noch in den Bereich des lebendigen Gedächtnisses fallen. Beide liegen in den Grenzen der Zeit unseres individuellen Lebens und sind gewöhnlich umso seltener, als sie sich dem Anfang unseres bewußten Lebens nähern. Über das, was sich "früher", vor unserer Geburt, vollzogen hat, können wir nur mit Hilfe von Informationen, die wir von anderen erhalten haben, etwas wissen. Dadurch wird die Vergangenheit für uns um beliebig große Zeitperioden erweitert - mit einem unbegrenzt offenen Horizont nach rückwärts. Dieses ganze, noch so reiche und ins einzelne gehende Wissen über vergangene Ereignisse und Vorgänge, das uns von anderen überliefert wird, ist aber nicht fähig, in uns eine anschauliche, ursprüngliche Gegebenheit der qualitativen Bestimmung der entsprechenden Zeitphasen hervorzurufen. Zu den Geschehnissen, von welchen uns die Berichterstatter erzählen, wählen wir gewissermaßen ein formales Zeitschema, in welches wir jene Geschehnisse rein gedanklich einzufügen suchen, das aber durch sie nie wirklich ausgefüllt wird. Es ist dabei mit vielen Lücken (Leerstellen) behaftet, und zwar in doppeltem Sinn: erstens, weil die Geschehnisse in vielen Phasen fehlen (wenigstens für uns, denen sie völlig unbekannt sind), und zweitens, weil dieses Schema von uns gedanklich nicht in allen seinen Phasen konstruiert wird. Nur wenn wir es aus irgendeinem Grund für nötig halten, überspringen wir gewissermaßen gedanklich jene Lücken, indem wir die Phasen der schematischen Zeit mit Hilfe der Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den Tatsachen, von denen man uns berichtet, miteinander gedanklich verbinden. Oft verwenden wir zu diesem Zweck nur gewisse formale Schemata solcher Zusammenhänge, wodurch der

120

II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

Charakter der so rekonstruierten Zeit, ein bloßes Schema zu sein, noch verstärkt wird. Das Zeitschema ist dann im Prinzip unbegrenzt und bildet einerseits eine Erweiterung unserer erfüllten Vergangenheitszeit und verlängert sich in die Zukunft auf eine analog schematische Weise. Die von uns wirklich erlebte und erfüllte Zeit fügt sich auf diese Weise der einen schematischen Zeit ein. Die Zeitperspektiven, von denen ich da zu sprechen gedenke, treten a) in der phänomenalen qualitativ bestimmten Zeit auf, b) im formalen Zeitschema, jedoch nur dort, wo die Ereignisse, von denen wir erfahren, in einer Periode der schematischen Zeit relativ dicht hintereinander auftreten und offensichtlich aufeinanderfolgen. Was ist aber die so von mir genannte "Zeitperspektive", und worauf beruht sie? Sie bildet ein Analogon zu der Raumperspektive. In der letzteren sind uns die räumlichen Bestimmtheiten der materiellen Dinge sowie ihre räumliche Anordnung in den Ansichten gegeben, in welchen eine regelmäßige Verschiebung und Umgestaltung dieser Bestimmtheiten stattfindet, aber so, daß uns, wenn wir diese verschobenen und umgestalteten räumlichen Bestimmtheiten in den Ansichten konkret erleben, dann die betreffenden Dinge in den ihnen zugehörigen "objektiven" räumlichen Bestimmtheiten gegeben sind, d.h. wir glauben, sie in der betreffenden Wahrnehmung leibhaftig zu sehen, obwohl wir tatsächlich in den Gehalten der Ansichten nur jene verschobenen, "verkürzten" Gestalten erleben. Wenn wir einen regelmäßigen Würfel von bestimmter Größe und in bestimmter Entfernung wahrnehmen, dann erleben wir bekanntlich eine oder mehrere ineinander übergehende Ansichten, in deren Gehalt ein Gebilde mit nur drei Flächen auftritt, die die Gestalt von Rhomben haben, im Raum verschoben zu sein scheinen und verhältnismäßig viel "kleiner" sind als die Größe, welche wir dem Würfel in der Wahrnehmung zuschreiben. Im Raum gegen den Horizont gerichtete parallele Linien treten in den Gehalten der Ansichten so auf, als würden sie "aufeinander zulaufen" usw. 8

Natürlich bringen wir uns bei schlichten auf die Dinge eingestellten Wahrnehmungen den Gehalt der erlebten Ansichten nicht zum Bewußtsein, wir können aber dessen in einem eigentümlich reflektierenden Erleben bewußt werden, ohne das wahrgenommene Ding aus den Augen zu verlieren.

§17. Phänomene der Zeitperspektive

121

Man spricht oft von perspektivischen Täuschungen, die zu berichtigen seien und tatsächlich auch irgendwie berichtigt werden, wenn wir den wahrgenommenen Dingen ihre "wahren", ihnen wirklich zukommenden räumlichen Eigenschaften zuerkennen sollen. Doch liegt da natürlich gar keine Täuschung vor, da wir beim Erleben der der Wahrnehmung zugrundeliegenden Ansichten gar nicht fälschlich daran glauben, der Würfel z.B. habe etwa nur drei Flächen in der Gestalt von Rhomben. Im Gegenteil, die "objektive" eben die Würfelgestalt - ist uns bei der Wahrnehmung auch dann anschaulich gegenwärtig, wenn wir gerade solche Ansichten erleben. Und es besteht eben eine vielleicht merkwürdige, aber trotzdem notwendige regelmäßige Zuordnung9 der einen "objektiven", an dem wahrgenommenen Ding als dessen Bestimmtheit auftretenden Gestalt zu einer Mannigfaltigkeit perspektivisch verschobener, in den Gehalten der zugehörigen Ansichten erlebter Gestalten. Erst wenn wir sozusagen unter der Suggestion einer Ansicht oder einer Mannigfaltigkeit von Ansichten dem wahrgenommenen Ding eine andere räumliche Gestalt (als etwa die des Würfels) zuschrieben, und zwar in der Überzeugung, sie wirklich leibhaftig gesehen zu haben (wie das z.B. bei dem schief im Wasser steckenden Stock, der als "geknickt" erscheint, der Fall ist), erst dann läge eine perspektivisch begründete Täuschung vor. Die Zeitperspektive bildet, wie gesagt, ein Analogon zur Raumperspektive. Bei der Wahrnehmung, aber auch in der Erinnerung an gewisse Vorgänge in der Zeit, sowie der ihnen zugehörigen Zeitphasen selbst, treten merkwürdige Verschiebungen und Umgestaltungen ihrer "zeitlichen Gestalt" in den erlebten "Zeitansichten" auf, in denen sie zur Gegebenheit gelangen. Indem wir diese verschobenen und umgestalteten Zeitgestalten in den Ansichten unmittelbar erleben, erkennen wir zugleich den wahrgenommenen Vorgängen und Zeitphasen die ihnen entsprechenden "unverschobenen" Zeitgestalten anschaulich zu. Auch da soll man nicht von "Täuschungen" sprechen. Es käme erst dann zu besonderen zeitperspektivischen Täuschungen, würden die

Man wird vielleicht bezweifeln, daß die Zuordnung wirklich notwendig sei. Man wird sich darauf berufen, daß z.B. die Chinesen eine völlig andere "Perspektive" in ihren Bildern verwenden als die Europäer. Man könnte sich da auch auf die Unterschiede zwischen dem unmittelbaren Sehen der am Horizont stehenden Berge und deren photographischer Aufnahme berufen. Dies sind aber alles besondere phänomenologische Probleme, die wir hier nicht behandeln können.

122

II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

bloß erlebten, "verschobenen" Zeitgestalten den wahrgenommenen Geschehnissen und den ihnen zugehörigen Zeitphasen "objektiv" zuerkannt. Das kommt natürlich manchmal vor, uns interessiert jedoch nur die Frage, ob und wie diese Täuschungen, die aus der Zeitperspektive stammen, zu entlarven und zu beseitigen sind. Denn es handelt sich unzweifelhaft um eine andere Situation als bei der Raumperspektive, wo eine Entlarvung und Eliminierung solcher Täuschungen leicht möglich ist. Die Raumperspektive zeigt sich vor allem beim Erleben der Ansichten räumlicher, materieller Dinge, die visuell wahrgenommen werden. Von den Vorgängen kommen nur die Bewegungen

materieller Dinge im

gesehenen

Raum in Betracht, und auch da unterliegen nicht die Bewegungen selbst den perspektivischen Verkürzungen, so daß sich die perspektivische Raumverkürzung nur sekundär auf die betreffende Bewegung überträgt. Andere von uns wahrgenommene Vorgänge unterliegen dagegen den raumperspektivischen Verwandlungen in den zugehörigen Ansichten nicht. Im Gegensatz dazu werden alle Vorgänge - und auch die in der Zeit verharrenden Gegenstände - in einer zeitlich ausgedehnten Mannigfaltigkeit von Ansichten der in die Vorgänge verwickelten Dinge wahrgenommen. 1 0 Das Vorhandensein des lebendigen Gedächtnisses sowie der Erinnerungen führen dazu, daß nicht bloß die bereits erlebten Phasen der Ansichtenmannigfaltigkeiten in eigenen "Zeitansichten" - als wenn es Ansichten höherer, sekundärer Ordnung wären auftreten, sondern dann auch die Vorgänge und Dinge, welche in diesen Ansichten zur Erscheinung gelangen, sich in spezifisch zeitlichen Ansichten unmittelbar zeigen. Im Gehalt dieser Ansichten treten dann besondere Erscheinungen der Zeitperspektive auf. Ich möchte hier auf einige von ihnen hinweisen:

Sofern es zu keiner Unterbrechung des Wahmehmungsvorgangs kommt, bilden diese "Mannigfaltigkeiten" de facto ein AnsichtenAonfmuum, in welchem eine Ansicht in die darauffolgende kontinuierlich übergeht. Die einzelnen Ansichten sind im Grunde nur ineinander übergehende Phasen eines im Wandel begriffenen Vorganges. Wir sprechen trotzdem gewöhnlich von den "Ansichten" so, als ob sie gewisse selbständige Einheiten bildeten (als ob sie so voneinander getrennt waren, wie es die kinematographischen Aufnahmen eines kontinuierlich verlaufenden Vorgangs sind). Dies geschieht zur Erleichterung der Analyse der Gehalte der einzelnen Ansichten, es ist aber unzweifelhaft eine abstrakt formale Umgestaltung des konkret verlaufenden Ansichtenkontinuums, die dieses Kontinuum bis zu ein e m gewissen G r a d e auch material verunstaltet.

§17. Verkürzung und Dehnung

123

1. Das Sich-Verkiirzen der Zeitabschnitte (wie man gewöhnlich unkorrekt sagt) sowie der in ihnen sich entwickelnden Vorgänge - das ist das sich vielleicht am ehesten aufdrängende Phänomen der Zeitperspektive. Zeitintervalle der vergangenen Zeit erscheinen in der Erinnerung im allgemeinen kürzer, als sie zu sein schienen, während sie aktuell erlebt wurden. Es ist hier natürlich von der phänomenalen

"Länge" eines Zeitintervalls die Rede, und zwar genau

so genommen, wie sie sich im Erleben präsentiert, und nicht von der "Länge" in dem Sinn, in welchem ein Zeitintervall der Zahl der "objektiv" gemessenen Sekunden nach "länger" oder "kürzer" sein soll. Die phänomenale Verkürzung der Zeitintervalle kann je nach den Umständen größer oder kleiner sein. Die Weise, in der wir uns an ein vergangenes Ereignis oder an vergangene Vorgänge erinnern, spielt dabei eine wichtige Rolle. Es gibt unter anderem zwei Weisen, wie wir uns an vergangene Vorgänge erinnern: entweder erfassen wir *ein ganzes Zeitintervall* und dasjenige, was in ihm geschah, von unserer jeweiligen Gegenwart aus in einem Akt des Erinnerns auf einmal (so wie wir uns z.B. in einem Akt die lange Periode des Ersten Weltkrieges in Erinnerung rufen), oder wir versetzen uns in der Wiedererinnerung gedanklich an den Anfang der erinnerten Periode zurück und schreiten im Vorgang des Erinnerns gleichzeitig mit der erinnerten Periode gewissermaßen fort, indem wir uns die aufeinander folgenden Ereignisse und Vorgänge Phase für Phase in Erinnerung r u f e n . " Im ersten Fall wissen wir zwar von vornherein, daß der Erste Weltkrieg objektiv gesehen über vier Jahre gedauert hat und daß er für uns einst, als wir ihn erlebten, sehr lang war. Die Weise aber, in welcher wir uns diese Zeit jetzt auf einmal in Erinnerung rufen, führt dazu, daß sie uns jetzt viel kürzer erscheint als die von uns einst erlebte, und auch kürzer als dann, wenn wir uns z.B. zunächst die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Erinnerung rufen und erst von da aus die Entwicklung der Kriegsereignisse - wie wir sie einst Phase für Phase erlebten - in der Erinnerung nachvollziehen. Es verlängert sich natürlich auch *das Zeitintervall* des Sich-Erinnerns selbst, aber diese Verlängerung hat mit der phänomenalen Verlängerung des wiedererinnerten Zeitintervalls nichts zu

' '

Im Falle des lebendigen Gedächtnisses kommt nur die erste Weise des Erlebens der vergangenen Vorgänge oder Ereignisse in Betracht. So kommt es z.B. zu einem starken Zusammenfassen und Abkürzen der bereits gelesenen Teile eines literarischen Kunstwerks.

124

II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

tun. Von der Zeitspanne des sich Wiedererinnerns bringen wir uns selbst kaum etwas zum Bewußtsein. Die "Länge"12 des wiedererinnerten Zeitintervalls hängt auch davon ab, wie viele Einzelheiten einer Begebenheit wir in der Erinnerung verfolgen. Je genauer die Erinnerung ist und je mehr sie "ins einzelne" der vergangenen Begebenheit geht, desto länger erscheint die Zeitperiode, in der sie sich abspielte. Diese Länge ist auch davon abhängig, was wir uns da in Erinnerung bringen. Zeitintervalle, die einst mit langweiligem, monotonem Tun ausgefüllt waren und die uns "damals" sehr lang erschienen (deswegen die "Langeweile"), erscheinen in der Wiedererinnerung sehr kurz. Das Warten auf eine Entscheidung, das sich einst sehr "in die Länge" zog, verschwindet gewissermaßen überhaupt aus unserem Leben, so kurz erscheint es uns jetzt, wenn wir uns daran erinnern. 2. Es gibt aber auch Erscheinungen, die den eben beschriebenen direkt entgegengesetzt sind: Zeitphasen, welche in großer nervöser Spannung erlebt werden, die voll Intensität der Handlung sind, scheinen beim Erleben und unmittelbar darauf, sehr kurz zu sein. 13 In einer späteren Erinnerung erscheint aber dieselbe Zeitphase - besonders, wenn wir sie uns im ganzen Verlauf der

19 Ich setze hier stets Anfuhrungszeichen, um anzudeuten, daß sich diese "Länge" von der Länge eines Raumabschnittes, z.B. einer Linie, wesensmäßig unterscheidet, daß es sich da also um keine "Verräumlichung" der Zeit, wie es z.B. Bergson behauptet, handelt. Nur hat die Umgangssprache, deren wir uns hier bedienen müssen, kein besonderes Wort dafür gebildet. Eine Geometrisierung geschieht erst in der physikalischen Zeit, besonders dann, wenn man die Zeit als vierte Dimension eines vierdimensionalen Raumes behandelt. Es gibt aber im ursprünglichen Erleben der konkreten, qualitativ bestimmten Zeit ein besonderes Phänomen z.B. der "Länge" des Dauerns, und diese "Länge" ist dann selbst eine qualitative 1λ

Bestimmtheit sowohl der Zeitphase selbst als auch dessen, was "so lange" gedauert hat. Dies hebt besonders H. Bergson hervor, der im Zusammenhang damit seine Theorie von der "tension de la durée" aufgestellt hat. Er scheint mir dabei aber viel zu weit gegangen zu sein. Daß es aber zu einer solchen Verkürzung im unmittelbaren Erleben und zu einer gewissen - wenn man so sagen darf - "Kondensation" der erlebten Zeitperioden wirklich kommt, davon zeugen vielleicht am besten die Kriegserlebnisse. Ein Kollege erzählte mir einmal, wie ihm bei der Belagerung der Festung Przemysl im Jahre 1914 die etwa zehnstündige Beschießung eines Forts, dessen Kommandant er war, sehr kurz erschien, etwa wie "eine halbe Stunde". Er wurde sich dessen erst in dem Augenblick bewußt, als ihm sein Diener am Abend, nach dem ganzen Tag der Beschießung, das Abendbrot brachte.

§17. Dynamik der

Vorgänge

125

Vorgänge in Erinnerung rufen - viel länger. Es sind dies aber eher Fälle, die relativ selten auftreten. Es gibt aber noch den eigentümlichen Fall, daß uns die Gegenwart sehr lang erscheint - wenn es erlaubt ist, dieses Wort hier anzuwenden. Etwa in Augenblicken höchster Gefahr, in welchen wir mit größter Konzentration das, was eben geschieht, erleben, bzw. staunend betrachten, darauf eingestellt, sofort das Notwendige zu unserer Rettung zu unternehmen. In der Erinnerung stellt sich uns diese "lange" Gegenwart als ein "momentanes" Ereignis dar, so wie es auch tatsächlich nur eine Gegenwart war. In Anbetracht der von so verschiedenen Faktoren abhängigen und je nach ihrer Wirkung sehr verschiedenen phänomenalen Länge der vergangenen und wiedererinnerten Zeitintervalle läßt sich nicht ganz allgemein behaupten, Zeitintervalle erschienen uns immer kürzer, je weiter sie von unserer jeweiligen Gegenwart entfernt liegen. Das trifft zwar in vielen Fällen zu, ist aber durchaus nicht stets der Fall. Es gibt da keine Analogie zu der Raumperspektive, in welcher entferntere Gegenständlichkeiten immer - und nach einer allgemeinen Regel - "kleiner" erscheinen als in der "Nähe", wobei diese "Nähe" sehr verschieden sein kann. 3. Veränderungen in der "Dynamik" der Vorgänge. Nicht alle Vorgänge tragen einen dynamischen Charakter an sich. So fehlt er z.B. bei Vorgängen, die auf einem monotonen Wiederholen derselben Bewegungen beruhen. Der dynamische Charakter oder - wie man oft sagt - die "Dynamik" des Vorgangs (insbesondere einer Handlung) zeigt sich da, wo der Vorgang sich in einer Reihe von untereinander qualitativ verschiedenen Phasen entwickelt und eine Steigerung der Kraftanstrengung sichtbar wird und zu einer Kulmination führt, in welcher die Entscheidung, wie ein besonderes Ereignis für sich, fällt. So hat z.B. jeder Kampf, jeder Streit, auch wenn er manchmal unentschieden abgebrochen wird, einen ausgesprochen dynamischen Charakter. Nach einer Phase der Vorbereitung, des Einschätzens der Kräfte des Gegners und einer ersten Erprobung seiner Widerstandskraft und der Mittel, über die er verfügt und in den Kampf zu führen vermag, folgen Versuche, den Gegner zu überwinden, die sich immer schneller wiederholen und immer heftiger werden, bis es zur höchsten Steigerung der Angriffe und der Gegenangriffe und bis zum vollen Einsatz der beiderseitigen Kräfte kommt. Die Kulminationsphase, die höchste Anspannung des Kampfes dauert bis zum Durchbruch oder Zusam-

126

II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

menbruch der Kräfte einer der beiden Seiten. Dann folgt ein Abflauen des Kampfes oder eine jähe Unterbrechung, weil eine der Parteien die Flucht ergreift. Die Wandlungen in der Anspannung der Kräfte und in der Durchführung der Angriffe usw. verleihen dem ganzen Vorgang des Kampfes einen dynamischen Charakter. Er kann natürlich sehr verschieden sein, je nach dem Verlauf des ganzen Vorganges und auch je nach der Art des Vorganges, der sich "dynamisch" entwickelt. Sei es ein Massenkampf oder ein Duell, sei es eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen oder bloß eine Schachpartie, überall treten Erscheinungen der Dynamik des Vorgangs auf oder wenigstens können sie auftreten. Auch der Verlauf einer infektiösen Krankheit zeichnet sich durch verschiedene dynamische Charaktere aus, ebenso wie auch der verschiedener Naturvorgänge, wie z.B. eines Gewitters, eines Brandes, einer Überschwemmung oder eines Vulkanausbruchs. Auf dem Gebiet der Kunst entfaltet sich das Phänomen der Dynamik vor allem in der Musik und in literarischen Kunstwerken; es läßt sich aber auch in Werken der Architektur und der Malerei in einem vielleicht modifizierten Sinn finden. Wenn wir einen sich eben entwickelnden Vorgang betrachten, eventuell aktiv an ihm teilnehmen, so passieren wir alle seine Phasen, bzw. machen sie mit und nehmen sozusagen unterwegs auch diejenigen seiner Einzelheiten wahr, die über den Charakter seiner Dynamik entscheiden. Im allgemeinen aber, gefesselt vom Auftauchen immer neuer Gegenwartsphasen des Vorgangs, erleiden wir die charakteristischen Züge seiner Dynamik eher, als daß wir sie wahrnehmen. Erst in dem Augenblick, in welchem er zu Ende gegangen ist und wir uns seinen Verlauf und seine charakteristischen Züge retrospektiv - im lebendigen Gedächtnis oder in einer Wiedererinnerung - zu Bewußtsein bringen, fällt uns auch der Bestand seiner dynamischen Eigenheiten in einer merkwürdig stabilisierten, wie erstarrten Gestalt auf. Die Dynamik des Vorganges entwickelt sich bei der lebendigen Erfassung, sie wird gewissermaßen im Prozeß seines Werdens, ganz so wie der Vorgang selbst. In der Erinnerung indessen entsteht eine zeitliche Distanz zwischen dem Akt der Erinnerung und dem erinnerten Vorgang, eine Distanz, welche uns erlaubt, den ganzen Vorgang in seinen Phasen zu überschauen; er nimmt dann die Gestalt von etwas bereits Geschehenem, Unbeweglichgewordenem, für immer Festgelegtem an. In dieser Perspektive treten dann auch seine dynamischen Ei-

§ 17. Ansichten des

Erinnerten

127

genheiten nicht "in statu nascendi", sondern als etwas Fertiges auf. Sie verlieren dadurch viel von ihrer Frische, Lebendigkeit und Angriffskraft. Es gibt übrigens viele Weisen, den dynamischen Charakter in der Wiedererinnerung zu erfassen, je nachdem, wie die Wiedererinnerung verläuft bzw. vollzogen wird. Die am festesten erstarrte Gestalt der Dynamik eines Vorgangs gelangt da zur Erscheinung, wo wir uns in einem Akt auf einmal den ganzen Vorgang in allen seinen Phasen in Erinnerung bringen. In einem statischen Erfassen erschauen wir die "erstarrte" Dynamik des Vorgangs. Sie erscheint in einer synthetischen, kondensierten Gestaltqualität. Wir erfassen dann vielleicht ihre spezifische Eigenheit am deutlichsten, fühlen dann aber das Pulsieren des sich dynamisch entwickelnden Vorgangs nicht mehr, zittern nicht mit in den Phasen der Spannung, folgen nicht dem Wechsel des Tempos und der Kulmination des Vorgangs. Sofern wir in der Wiedererinnerung die einzelnen Phasen des Vorgangs von Anfang bis Ende überblicken, verlieren wir zwar den Gesamtüberblick über die dynamische Gestalt, die Deutlichkeit ihrer synthetischen Erscheinung, aber wir empfinden dann das Pulsieren der in den einzelnen Phasen des Vorgangs aufeinanderfolgenden charakteristischen Momente seiner Dynamik deutlicher, wir erleben gewissermaßen ihre lebendige Entfaltung aufs neue. Man kann sich an einen Vorgang auch auf die Weise erinnern, daß man sich zuerst seine Kulminationsphase auf dem Höhepunkt der dynamischen Anspannung vorstellt, z.B. in der entscheidenden Phase eines Kampfes, und nachher die Wiedererinnerung erweitert, indem man von der Kulminationsphase vorwärts und rückwärts schaut, die ursprüngliche Erinnerung ergänzt und so das Ganze der Dynamik des Vorgangs enthüllt. Sie erscheint dann wiederum in einer anderen perspektivischen Verkürzung und Umgestaltung. Sie weist da weder die fließende Gestalt einer sich entfaltenden, noch die einer "fertigen", "erstarrten" Dynamik, auf, sondern ist etwas Drittes, ganz Eigentümliches. Ich habe mich da etwas ausführlicher mit diesen Wandlungen des dynamischen Charakters beschäftigt, weil sie in der Struktur des Kunstwerks eine große Rolle spielen. Es ist somit sehr wichtig zu beachten, wie sie bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerks zur Erfassung gelangen können. Ich werde noch darauf zurückkommen. 4. Die beschriebenen Phänomene der Zeitperspektive erlauben uns, das besondere Phänomen der Zeitdistanz

zum Bewußtsein zu bringen. Es hat mit

128

II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

der zeitlichen Entfernung des Geschehenen (dem Charakter des "Alters") nichts zu tun. Wir können uns denselben Vorgang oder dasselbe Ereignis in verschiedener Zeitdistanz in Erinnerung bringen. Sie ist dann verhältnismäßig am größten, wenn wir in der Vergangenheit ein Ereignis suchen, von dem wir zwar schon wissen, daß es sich abgespielt hat, es aber noch in keinem bestimmten Moment der wiedererinnerten Zeit lokalisiert haben und es sich selbst unserer Erinnerung auch nicht aufgedrängt hat. Es wurde höchstens gedanklich in die Vergangenheit versetzt, erscheint aber noch an keiner qualitativ bestimmten Stelle der vergangenen Zeit. Sobald es sowek ist, bestimmt sich auch die Distanz dieser Zeitstelle zu unserer Gegenwart. Diese Distanz verkleinert sich aber und wird präziser, wenn es uns gelungen ist, uns jenes Ereignis mit den ihm eigenen Zügen anschaulich in Erinnerung zu rufen, und wenn dies in einem Erinnerungsakt geschieht, in dem das Ganze des Ereignisses oder Vorganges "einstrahlig" erfaßt wird. Wir können dann den erinnerten Vorgang immer näher an unsere Gegenwart rücken, indem wir uns seine Züge entweder bis zu einem gewissen Grad planlos vergegenwärtigen oder ihn in seinem ganzen Verlauf in der Erinnerung von Anfang bis Ende verfolgen. Auch im letzten Fall können wir uns aber die einzelnen Phasen mehr oder weniger weit von unserer Gegenwart entfernt oder angenähert vorstellen, je nachdem es uns gelungen ist, sie in der Erinnerung lebendig und *in gewissem Sinn* selbstgegenwärtig zu erschauen. Es kommt dabei nicht auf die Vielheit der Einzelheiten an, die sich phänomenal zeigen, sondern auf das anschauliche Hervortreten aus dem dunklen Medium der Vergangenheit. Eine absolute Nähe ist da ausgeschlossen. Wäre sie möglich, verwandelte sich das bloß Erinnerte in ein Wahrgenommenes; es gibt aber keine echte Rückkehr zur Vergangenheit. Darin drückt sich eine ganz spezifische Transzendenz des Erinnerten all demgegenüber aus, was in der Gegenwart der äußeren oder inneren Wahrnehmung zugänglich ist. Auch durch die größte Aktivität der Erinnerung kann sie nicht überwunden werden. Das hier mehrmals verwendete Wort "Selbstgegenwart" des Erinnerten ist nur cum grano salis zu nehmen und kann mit der Selbstgegenwart des wahrgenommenen Gegenstandes nicht identifiziert werden. Das Wiedererinnerte - auch wenn es noch so deutlich und nahe hervortritt - stellt sich immer als etwas dar, was den Aspekt des einst Wahrgenommenen und jetzt nicht mehr Wahrgenommenen an sich trägt. Dieser Aspekt kann in manchen Fällen in sich die Qualität jenes Augenblicks tragen,

§ 17. Ansichten des Erinnerten

129

in welchem das Erinnerte wahrgenommen wurde. Es ist aber nicht immer so. Das Erinnerte kann ganz deutlich als das erfaßt werden, was wir einst "wirklich" wahrgenommen haben und dessen Zeugen wir somit waren, trotzdem gelingt es uns aber nicht, uns darüber Rechenschaft zu geben, wann wir es wahrgenommen haben. Und zwar nicht etwa deswegen, weil wir auf Grund der Erinnerung nicht sagen könnten, unter welchen Umständen es war. Denn wir können uns auch diese Umstände in Erinnerung rufen, und doch hat diese ganze wiedererinnerte Situation noch immer nicht den qualitativen Charakter des einstigen Augenblicks. Auch wenn uns z.B. jemand das Datum ganz genau angibt, an dem dasjenige geschah, was wir jetzt in der Erinnerung haben, so wird dies doch nicht viel helfen, bis sich uns das Quale des betreffenden Augenblicks auf einmal aufdrängt, was wiederum mit der anschaulichen und genauen Erfassung der Stelle, an der dieser Moment in der uns in der Erinnerung zugänglichen Vergangenheit liegt, noch nicht identisch ist. Erst wenn auch das der Fall ist, ist das Erinnerte in unserer phänomenalen Vergangenheit eindeutig lokalisiert. Die Zeitdistanz kann dabei stark verkleinert werden, wenn auch der Zeitpunkt, zu dem das Erinnerte stattgefunden hat (sich als "damals" stattgehabt gibt) zu unserer fernen Vergangenheit gehört. Es sind aber noch zwei andere Weisen möglich, sich an etwas zu erinnern: Wir können einen vergangenen Vorgang oder ein Ereignis uns so nahebringen oder von uns entfernen, daß wir in unserem unmittelbaren Empfinden (Fühlen) in unserer fließenden Gegenwart verbleiben

und unser Jetzt als Betrach-

tungszentrum beibehalten, ohne uns seine ständige Verwandlung in ein neues Jetzt zum Bewußtsein zu bringen. Wir fühlen uns im Gegenteil so, als ob wir noch immer in derselben Gegenwart verweilten. 14 Wir können aber gerade umgekehrt unsere immer neu werdende Gegenwart gewissermaßen vergessen - als ob wir nichts erlebten - und uns den vergangenen Ereignissen mehr oder weniger annähern, um uns im Grenzfall in die einstigen Geschehnisse hineinzuversetzen. Es ist dann so, als ob wir uns selbst in die Vergangenheit zurückbegäben und die wirkliche Gegenwart verließen, ohne zu "fühlen", daß diese Gegenwart immer neu wird und daß wir uns mit ihr selbst vom vergangenen

Dieses Phänomen tritt besonders deutlich dann auf, wenn wir uns gleichzeitig verschiedene Phasen eines Vorgangs oder einer Reihe von Ereignissen in Erinnerung rufen und in ihrer Aufeinanderfolge oder ihrer Zeitstelle miteinander vergleichen, oder wenn wir Geschehnisse im Auge haben, die öfters eingetreten sind.

130

11. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisalion

Ereignis unwiderruflich entfernen. Wenn es erlaubt ist, hier zum Vergleich die Raumperspektive heranzuziehen, ist es so, als wenn wir in der Gegenwart an ein von uns entferntes Ding heranträten, um es besser zu sehen, oder umgekehrt dieses Ding mit Hilfe eines Fernglases zu uns heranbrächten. Seine visuellen Ansichten verändern sich auf eine besondere, geregelte Weise. Wir erleben sie aber nur, wenn wir auf das Ding selbst wahrnehmend eingestellt sind. Trotzdem aber ändert sich auch der Bereich der Einzelheiten, die uns von verschiedenen Distanzen gegeben werden, so daß das Erleben einer bestimmten Reihe von Ansichten nicht ohne Einfluß auf die Gestalt des wahrgenommenen Dinges bleibt. So ist es auch mit den Erscheinungen der Zeitperspektive. Das Phänomen der Distanz bleibt nicht ohne Folgen für die Weise, in welcher uns der "objektiv" bestehende, vergangene und jetzt nur von ferne erinnerte Vorgang erscheint. Bei der Raumperspektive können wir die Modifikationen, die sich an dem wahrgenommenen Ding infolge der perspektivisch verkürzten Ansichten bemerkbar machen, dadurch rückgängig machen, daß wir denselben Gegenstand wiederum aus nächster Nähe wahrnehmen. Wir haben noch andere Mittel, die Kontrolle durch Berufung auf Wahrnehmungen anderer Sinne durchzuführen. Bei der Zeitperspektive fallen diese Möglichkeiten weg. So haben hier die Verwandlungen der Gestalt, in welcher ein Vorgang erinnert werden kann, eine viel größere Bedeutung für dieses unser Wissen, das wir vom Vergangenen unter dem Aspekt der verschiedenen Distanzen erlangen können. Immer muß ein vergangener Vorgang oder ein Ereignis oder auch eine bestimmte Phase der vergangenen Zeit von einem zeitlichen "Gesichtspunkt" aus in Erinnerung gebracht werden, der in größerer oder kleinerer phänomenaler Distanz vom Erinnerten liegt und der sich zudem selbst fortwährend verschiebt. Die Wandlung des "Gesichtspunktes" hat zur Folge, daß der erinnerte Vorgang oder das Ereignis sich gewissermaßen jeweils von einer anderen Seite her zeigt. Einmal tritt diese, das andere Mal jene Phase des Vorgangs in der Erinnerung hervor, während die anderen Phasen sozusagen im Dunkel verschwinden. Sie werden weniger deutlich, verschwommener oder nur in einzelnen Zügen sichtbar und verkürzen sich dabei phänomenal in ihrer zeitlichen Ausgespanntheit. Zu jedem Zeitpunkt, bzw. zu jedem Nullpunkt des Erinnerungsaktes, zu dem ein bestimmtes Zeitintervall* und die in ihm gelegenen Geschehnisse zueinander in Beziehung gebracht werden, gehört eine bestimmte zeitliche "Ansicht" des wiedererinnerten Vorgangs oder

§ 17. Das Versinken

in die

131

Vergangenheit

ein ganzer Bestand an solchen "Ansichten", die wir auch "zeitperspektivische" Verkürzungen nennen können. 1 5 Man kann überhaupt keinen Vorgang, bzw. kein Ereignis, das einmal zur Vergangenheit gehörte, auf eine Weise in Erinnerung rufen, die von der Ingerenz der Ansichten der Zeitperspektive frei wäre. Unmöglich ist dies auch dann, wenn wir einen Vorgang in seiner Ganzheit in einem "einstrahligen" Akt der Erinnerung erfassen und den Gesichtspunkt des Erfassens in unserem jeweiligen Jetzt einhalten, wenn also die Distanz, in welcher das Erinnerte erscheint, relativ am größten ist. Auch dann tritt uns dieser Vorgang in einer relativ stark kondensierten und synthetischen zeitlichen Ansicht entgegen. 5. Die soeben besprochene Zeitdistanz darf mit dem Charakter des *"Vergangen-Seins"* der erinnerten Ereignisse nicht verwechselt werden. Neben der Veränderung der Distanz gibt es das von ihr unabhängige Phänomen des ständigen Versinkens in die Vergangenheit,

das mit der Dauer des psychi-

schen Subjekts in der Zeit unabänderlich verbunden ist. Wenn wir auch ein bestimmtes vergangenes Ereignis in der beschriebenen Weise des Erinnerns immer näher an uns "heranbringen", also seine Zeitdistanz vermindern, haben wir trotzdem das periphere Bewußtsein, daß es fortwährend und unabwendbar immer tiefer in die Vergangenheit versinkt. Es wird [ ] immer länger "vergangen" 1 6 . Zwischen das vergangene Ereignis und unsere immer neue Gegenwart schieben sich immer neue, soeben noch gegenwärtige und jetzt schon vergangene Tatsachen, Prozesse usw. Dies geschieht ständig und unabwendbar, wenn auch nicht immer mit demselben T e m p o und obwohl das Versinken der Ereignisse in die Vergangenheit phänomenal durch unser Sich-Erinnern und Sich-in-die-Vergangenheit-Zurückversetzen abgeschwächt zu sein scheint. Denn unsere Gegenwart - die "fließende", immer neue - erschöpft sich dann gewissermaßen in unserem "Sich-Erinnern", in dem "Mit-der-VergangenheitLeben". Keine neuen von der uns umgebenden Welt herankommenden

Selbstverständlich gehören zum Gehalt einer solchen "zeitlichen Ansicht" alle die hier besprochenen Phänomene der Zeitperspektive in verschiedenen Zusammenstellungen und unter dem Hervortreten einmal dieses, einmal jenes Phänomens dieser Perspektive. ' ^ Es fehlt leider das geeignete deutsche Wort, das dem polnischen dawny bei hat das polnische Wort Steigerungsformen, dawniejszy dawny

[ ] entspräche. Da-

[ ] und najdawniejszy,

bardzo

[ ]. Im Deutschen von "Altsein" zu sprechen, trifft nicht das Richtige. [Deutsch sinn-

voll mit "vergangen", "länger vergangen", "längst vergangen" wiederzugeben.]

132

II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

"Inhalte" oder Erfahrungen scheinen sich zu entfalten. Aber auch diese sich in den Erinnerungen fast erschöpfende, eben noch werdende aktuelle Gegenwart geht nichtsdestoweniger vorbei und verwandelt sich in eine neue Vergangenheit, und eine neue Gegenwart erwächst gewissermaßen aus jener vorübergehenden Gegenwart und geht wieder vorbei und trennt uns immer mehr von dem "einstigen" Ereignis, das immer "vergangener" [ ] wird. Es behält natürlich dieselbe qualitativ bestimmte Stelle in der vergangenen Zeit, verschiebt sich in ihr nicht, es kann auch die "späteren" Ereignisse nicht überholen, noch selbst von den "früheren" ("älteren") überholt werden, aber mit ihnen allen zusammen versinkt es immer tiefer in die Vergangenheit, wird "älter", "vergangener" als es noch vor einem Augenblick war. Die ununterbrochene Verwandlung dieses Charakters eines und desselben Ereignisses, während seine zeitlichen Beziehungen zu den es "umgebenden" anderen Ereignissen erhalten bleiben, geschieht ganz unabhängig davon, ob wir es uns zum Bewußtsein bringen oder nicht, tritt aber dann deutlich hervor, wenn wir uns dieses selbe Ereignis mehrmals in Erinnerung bringen. Und das ist ein neues Moment der Zeitperspektive: die Erscheinung des "Immer-mehr-indie-Vergangenheit-Versinkens",

des

"Immer-mehr-vergangen-Werdens",

wenn es erlaubt ist, das so zu formulieren (was natürlich von dem "vergangen" verschieden ist, das als Seinsmodus des "Nicht-mehr-Aktuellen" alle gewesenen Prozesse und Ereignisse, unabhängig davon, wann sie stattgefunden haben, in gleichem Sinn charakterisiert). Als ein notwendiges Ergebnis des Anwachsens des "Sich-Verwirklichens" einer immer neuen Gegenwart ist dieses Phänomen des "In-die-Vergangenheit-Versinkens" unabwendbar und unumkehrbar und besitzt als solches gar kein korrelatives Phänomen in der Raumperspektive. Auch bei einem lang andauernden Sich-Entfernen von uns (etwa einer Galaxis) ist im Raum die Wiederkehr, ein neues "Sich-uns-Nähern" im Prinzip immer möglich. Eine solche Wiederkehr im strengen Sinn des Wortes gibt es im Bereich der phänomenalen Zeit nicht. 17 Wenn es möglich wäre, unser Leben zum zweiten Mal zu erleben, ohne die Erinnerung an das erste zu verlieren, würde es eben ein zweites, späteres Leben, demgegen17 Dies hat natürlich mit dem Problem der sogenannten "Wiederkehr" der Weltgeschichte nichts zu tun, denn da handelt es sich um eine eventuelle Wiederkehr eines Zyklus der Weltgeschehnisse in einer neuen, zukünftigen Zeitepoche und nicht um ein Zurück in die Vergangenheit.

§17. Qualitative Wandlungen des Vergangenen

133

über das erste immer weiter in die Vergangenheit versinkt. Auch wenn wir unser Leben von einem Moment an sozusagen rückwärts zu erleben begönnen (wie im Zauberlehrling

von Heinz Hans Ewers), ein neues Mannesalter, eine

neue Jugend, eine neue Kindheit - und zwar genau so, wie es sich einst abgespielt hat, so wäre all das phänomenal "später" als das einst in der Richtung nach "vorwärts" durchlebte Leben, und das erste würde dabei immer mehr in die Vergangenheit versinken. Nicht die Phasen der Zeit kehren sich da um, nur die Ordnung der Aufeinanderfolge dessen, was in der neuen Zeitperiode vor sich geht. Diese absolute Unmöglichkeit der Wiederkehr erlaubt uns, das Phänomen des Versinkens in die Vergangenheit, des immer mehr "Vergangen-Werdens" uns noch klarer und deutlicher zum Bewußtsein zu bringen und vom Phänomen der Zeitdistanz zu unterscheiden. Dieses Phänomen ist auch ein Grund und ein Moment der Verwandlung der Zeitansichten, in welchen ein und dasselbe Ereignis oder ein Vorgang in der Erinnerung zur Erscheinung gebracht wird. 6. Es gibt aber noch eine besondere Erscheinung bei der Wandlung des bereits Vergangenen, wenn wir es uns mehrmals in Erinnerung rufen. Sie gehört ebenfalls zu der Zeitperspektive und hängt mit den bereits besprochenen Phänomenen zusammen. Sie ist auch in gewissem Sinn viel bedeutender als jene Phänomene. Es handelt sich um eine merkwürdige Wandlung der qualitativen Bestimmung der vergangenen Geschehnisse. Das mag merkwürdig erscheinen und wird vielleicht von vielen unserer Leser für unmöglich erklärt. Denn man ist wohl allgemein der Ansicht, daß das, was einmal in einer Gegenwart geschah und dann vergangen ist, für "alle Zeiten" und notwendig genau dasselbe "bleibt". Dieses "Bleiben" ist hier als Ausdruck nicht sehr geeignet, weil es sich eben um etwas handelt, was - einmal geschehen - nicht mehr "bleiben" kann. Denn "bleiben" heißt: in einer immer neuen Gegenwart identisch dasselbe aktuell sein, während das einmal Geschehene in neuen Gegenwarten nicht mehr existiert. Abgesehen aber von dieser sprachlichen Inkorrektheit muß noch zweierlei auseinandergehalten werden: erstens das, was in einer Gegenwart aktuell ist und als solches die letzte Ausgestaltung seines Seins und seiner Bestimmung in dieser Gegenwart erreicht und als solches nicht mehr aktuell existiert, sich aber infolgedessen auch nicht mehr verändern

134

II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

kann; 18 zweitens die auf eine andere, nicht mehr "aktuelle" Weise doch irgendwie bestehende und in entsprechenden Bewußtseinsakten zur Erscheinung gelangende, qualitativ

bestimmte phänomenale Vergangenheit, 1 9 die

jeder von uns für sich hat (obwohl auch "wir", sobald es zur Konstitution einer echten Gemeinschaft gekommen ist, ebenfalls eine "gemeinsame" Vergangenheit haben können). 2 0 In dieser sich phänomenal konstituierenden Vergangenheit sind die vorkommenden Ereignisse und Vorgänge gar nicht ein für alle Male "fertig" und unabänderlich. Und zwar in doppeltem Sinn: erstens ist diese Vergangenheit nicht abgeschlossen, solange wir noch bewußt leben, weil sich immer etwas Neues ihr zugesellt, das auf das in der Vergangenheit bereits Vorhandene nicht ohne jeden Einfluß ist, und zweitens ist alles, was in ihr auftritt, in seiner konkreten Gestalt nicht unveränderlich, sondern kann ιs Diese Gegenwart, bzw. das in ihr Enthaltene, Gegenwärtige, kann erkenntnismäßig nur von derselben Gegenwart aus erfaßt werden (was übrigens von verschiedener Seite bezweifelt wird). Sobald es sich aber einmal vollzogen, in einer Gegenwart "voll-endet", voll ausgebildet hat und mit ihr vergangen ist, ist es uns nur entweder im lebendigen Gedächtnis oder in einer Wiedererinnerung erkenntnismäßig zugänglich, und zwar durch die sich in diesen Erlebnissen konstituierende Vergangenheit hindurch, welche sich uns in verschiedenen, hier beschriebenen Zeitaspekten, "Perspektiven" offenbart. Ob es möglich ist, auf diesem mittelbaren Weg zu der nicht mehr bestehenden Gegenwart und dem in ihr Enthaltenen zu gelangen und es erkenntnismäßig adäquat zu erfassen, das ist ein Problem, das zu den zentralen Fragen der Erkenntnistheorie gehört, besonders, wenn man beachtet, daß dabei immer die Phänomene der Zeitperspektive ingerieren. Erst von da aus wäre das Problem der geschichtlichen

Erkenntnis aufzurollen, das in dem sogenannten, auf Wilhelm Dilthey zu-

rückgehenden "Historismus" etwas zu rasch gelöst wurde und zu einem ausgesprochenen Relativismus geführt hat. Um zu entscheiden, ob man zu einer solchen Lösung kommen muß, müßten die hier behandelten Phänomene der Zeitperspektive noch weiter analysiert und in ihren Konsequenzen

im Rahmen einer erkenntniskritischen Problematik durchdacht

werden. 19

Etwa zehn Jahre nach der ersten Auflage dieses Buches habe ich in meinem Buch Der Streit um die Existenz der Welt das Zeitproblem als eine Seinsweise behandelt (Bd. I) und mich speziell mit der Seinsweise des Vergangenen beschäftigt. Ich kann dies hier nicht weiter entwickeln. Zu dem Problem der Vergangenheit und des Vergangenen vgl. den interessanten Aufsatz von Nicolai Hartmann in den Kantstudien

1938. [rede:

Blätter für

Deutsche Philosophie 1938, vgl. N.Hartmann, "Zeitlichkeit und Substantialität", in ders., 20

Kleinere Schriften /, Berlin 1955, S . 1 8 0 - 2 I 4 ] Wie sich das nicht mehr Gegenwärtige und das in einer Vergangenheit sich Zeigende zueinander verhalten, das ist wiederum ein ontologisches Grundproblem, das hier nicht zu behandeln ist.

§ 17. Qualitative

Wandlungen des

Vergangenen

135

gewissen Wandlungen - ohne unser bewußtes, absichtliches Hinzutun 21 - unterliegen. Es ist nicht unabänderlich, denn vor allem kleidet sich eine und dieselbe vergangene Tatsache in immer neue Zeitcharaktere, sie sinkt z.B. immer weiter in die Vergangenheit zurück. Dazuhin aber nimmt sie auch noch andere sie determinierende Momente an, indem sie infolge der hinzukommenden, neuen vergangenen Geschehnisse als auch der neuen Erinnerungsakte immer in einer etwas anderen Vergangenheit und Umgebung auftritt. Es gibt ein besonderes Phänomen des "Zeitkontrastes", das - wenn man so sagen darf - eine Umkehrung des aus der Psychologie bekannten "Folgenkontrasts" ist. Sofern im "Folgenkontrast" das spätere Phänomen manche neue Charakteristika deswegen gewinnt, weil es auf ein anderes Phänomen folgt, gewinnt in unserem Fall eine vergangene Tatsache neue, ihr früher nicht zukommende Züge, weil nach ihr andere Ereignisse eingetreten sind. Zum Beispiel: Wie "belanglos" werden gewisse Begebenheiten unserer Jugend, weil sich später andere, schwerwiegende Tatsachen ereigneten. Als wir noch jung waren, schienen sie, ja waren sie sehr bedeutend und haben unsere ganze Lebensaufmerksamkeit und die Kraft unseres Gefühls auf sich gezogen. "Heute", im Alter, bilden sie nur noch eine Episode. Und wir wundern uns vielleicht, daß sie uns einst so tief bewegen konnten. Noch mehr: noch nicht so lange, etwa vor einem Jahr, standen sie noch in einem anderen Lichte vor uns. Wir empfanden ihren wesentlichen Zusammenhang mit unserem aktuellen Leben, mit unserer Persönlichkeit, obwohl sie schon damals viel an Farbe verloren hatten. Heute sind sie nicht bloß belanglos, sondern auch irgendwie fremd geworden, vielleicht sogar bis zu einem gewissen Grad unverständlich. Das sind allgemein bekannte Tatsachen, und wir brauchen uns nicht länger bei ihnen aufzuhalten. Es gibt aber auch andere, weniger bekannte, aber merkwürdigere Tatsachen. Sie erwachsen freilich auch aus dem Zeitkontrast, sie gehen aber über den Bereich bloß relativer Momente hinaus. Wie oft erfahren wir erst auf Grund von Tatsachen, die nach dem betreffenden Geschehnis stattgefunden haben, daß jene Ereignisse und unser Verhalten "im 21 Dieses unser absichtliches Verändern-Wollen dessen, was einmal geschah, ist eben vollkommen machtlos. Die Wandlungen, von denen wir im Text sprechen, geschehen ganz ohne daß wir dies oder jenes ändern möchten, gewissermaßen von selbst, wenn auch nicht unabhängig davon, was sonst in unserem späteren Leben geschieht.

136

II. Die Zeitperspeklive in der Konkretisation

Grunde" ganz anders waren, als es uns damals schien, als wir noch Zeugen ihrer Gegenwart waren. Und zwar waren sie es nicht in ihrer relativen Rolle oder Bedeutsamkeit für unser Leben, sondern in ihrer wesentlichen

Bestim-

mung. Die Tatsachen, die später eintraten und "heute" vielleicht ebenfalls vergangene sind und nur in der Erinnerung aufleben, enthüllen z.B. gewisse "damals" noch verdeckte, nicht zum vollen Bewußtsein gebrachte oder gar aus ihm verdrängte und doch wesentliche und entscheidende Motive unserer Handlungsweise. Ihre Enthüllung hat aber zur Folge, daß diese Handlungsweise ihren wesentlichen Charakter ändert. Was in der damaligen Gegenwart in unseren Augen eine Verteidigung gegen einen fremden Angriff war, hat sich als ein maskierter Angriff enthüllt. Was von uns damals als ein Sieg über uns selbst erlebt wurde, zeigt sich als eine nicht eingestandene Flucht vor einer Gefahr. Was für uns echte Liebe zu einer Person war, die uns für unser ganzes Leben zu binden schien, entpuppt sich "jetzt" als eine bloß nicht eingestandene, aber doch irgendwie von uns intendierte Scheinliebe, die uns vor einer anderen, echten und hoffnungslosen Liebe irgendwie im Leben retten sollte, usw. "Heute" wissen wir es auf unzweifelhafte Weise, nachdem wir auch schon wissen, was später eingetreten ist. Und es kann sich dabei zeigen, daß wir einst - in der vergangenen Gegenwart - diese (im Grunde nur scheinbare) Liebe gar nicht geheuchelt haben. An der Oberfläche unseres einstigen Lebens war das Liebe, nur daß in der Tiefe unserer Seele noch etwas anderes verborgen lag, aber, unenthüllt, praktisch für uns nicht bestand. Und erst eine spätere, heute auch schon zur Vergangenheit gehörende Erfahrung hat die verdeckten Wirkungskräfte unseres Lebens und unserer Handlungsweise an die Oberfläche unserer Seele gebracht und durch die Entdeckung des früher Verdeckten oder Nichteingestandenen unsere einstige Vergangenheit auf wesentliche Weise modifiziert: sie hat ein anderes charakteristisches Gepräge erhalten und sich damit durch und durch verwandelt. Die soeben angeführten Beispiele weisen uns nicht bloß auf die Wandlungen unserer Vergangenheit infolge der Zeitperspektive hin, sondern sie enthüllen uns auch einen der Gründe dafür, die einst aktuelle Gegenwart von unserer Vergangenheit zu unterscheiden. Die einst aktuelle Gegenwart besteht nicht mehr, sie war einmal, und wenn es möglich wäre, sie unmittelbar, ohne jede Zeitperspektive zu erfassen, wäre sie genau so, wie sie eben einst war. Verändert hat sich nur unsere Vergangenheit

infolge neuer Tatsachen, die

§17. Erweiterung der Erinnerung

137

einst noch nicht zur Vergangenheit gehörten und damals noch in keiner Gegenwart aufgetreten waren. Erst später, oder "jetzt", sind sie wirklich eingetreten und haben auf die Neugestaltung der Vergangenheit einen nicht zu übersehenden Einfluß. 7. Zum Abschluß dieser Betrachtungen noch eine Bemerkung: Die Tatsachen (Ereignisse, Vorgänge, die in einer Zeitphase dauernden Gegenstände) können in der Erinnerung unter verschiedenen Aspekten erscheinen, die davon abhängen, ob und in welchem Maß wir unsere Erinnerung erweitern. Untereiner "Erweiterung" der Erinnerung verstehe ich das Sich-Erinnern an Tatsachen, die mit dem zuerst erinnerten Ereignis gleichzeitig waren und es von verschiedener Seite beleuchten oder näher charakterisieren. Gewöhnlich erinnern wir uns nur an eine besondere Einzelheit aus einer ganzen gegenständlichen Situation, z.B. an eine gewisse Gestalt oder an einen Sachverhalt. Erst dieses weitere Erinnern an die Umstände oder an weitere Einzelheiten derselben Gegenständlichkeit erlaubt uns, das zunächst in Erinnerung Gebrachte genauer und umfassender "auszumalen". Es kann dadurch einen anderen Charakter annehmen und dies nicht nur im Bereich der relativen Bestimmtheiten, sondern auch in seinem wesenhaften Kern, der zunächst im Schatten lag, der unbemerkt oder überhaupt nicht deutlich abgehoben war. Man kann dabei nicht nur den Umfang dessen verändern, was auf diesem Weg in Erinnerung gebracht wird, sondern man kann auch mit der Hauptintention der Erinnerung über verschiedene Einzelheiten oder Elemente der Gesamtsituation wandern. Dadurch können manche neuen Einzelheiten aus dem Schatten des Vergessens hervorgeholt werden und in neuer Klarheit und Deutlichkeit auftreten. Zugleich wandelt sich die Raumperspektive innerhalb des erinnerten Weltausschnittes, so daß dieselben räumlichen Gegenstände in verschiedenen Ansichten und perspektivischen "Verkürzungen" in der Erinnerung erscheinen. Sobald aber gewisse Einzelheiten der Gesamtsituation eine bessere "Beleuchtung" erhalten, rücken gewöhnlich andere Einzelheiten und Umstände in den Hintergrund und versinken mindestens zum Teil im Dunkel des nur Miterinnerten. Die ganze erinnerte Situation ist immer von einem Horizont der Dunkelheit und Verschwommenheit umgeben, aus dem sie gewissermaßen nur für einen Augenblick in den Lichtkegel der Erinnerung rückt, um bald wieder in das Zwielicht des bloß Miterinnerten zu versinken. Diese Schwankungen der Helligkeit, der Schärfe und Präzision der in der Erinnerung zur Erscheinung

138

II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

gelangenden Gegenständlichkeiten ist auch etwas, was im Verlauf der Erinnerung (und der ganzen Kontinuität einer Erinnerungswelle) vor sich geht, was also auch in die konkrete qualitative Zeit des Erinnerten fällt und die bereits früher beschriebenen Erscheinungen der Zeitperspektive wesentlich beeinflußt und modifiziert. Diese Schwankungen sind viel größer als im Bereich des unmittelbaren Wahrnehmens, sie sind aber in beiden Fällen unvermeidbar und spielen eine bedeutende Rolle in der erkenntnismäßigen Leistungsfähigkeit der betreffenden Akte. Dabei spielen die Schwankungen dieser Art im Bereich der Wahrnehmung eine wichtige Rolle für die Weise, in welcher dieselben Gegenständlichkeiten nachher in Erinnerung gebracht werden, bzw. auch gebracht werden können, obwohl nicht gesagt werden kann, daß das ungenau und nur im Zwielicht Wahrgenommene notwendig in derselben Ungenauigkeit und demselben Zwielicht erinnert werden muß. Dasselbe bezieht sich auf die Breite und die mögliche Erweiterung der Erinnerung. Auch diese scheint durch die Breite des vorangehenden Wahrnehmens bedingt zu sein. Es scheint aber auch möglich, daß in der Wiedererinnerung manches zentral und im vollen Licht zur Erscheinung gebracht werden kann, was in der Wahrnehmung nur peripher und im Halbdunkel erfaßt wurde. Wie oft kommt es vor, daß wir, in den Prozeß des Erinnerns vertieft, auf einmal sagen: Erst jetzt ist mir eingefallen, daß dies oder jenes eben so war, obwohl ich es einst, während des Wahrnehmens, nicht bemerkt hatte. Es gibt hier also verschiedene Möglichkeiten, die in einer besonderen Analyse im einzelnen betrachtet werden müßten, was aber schon über unser Hauptthema hinausginge. 22

12 Eine erkenntniskritische Betrachtung der erkenntnismäßigen Leistungsfähigkeit der Erinnerung (in ihren verschiedenen Weisen) ist meines Wissens nie durchgeführt worden. Auch wurde nicht erwogen, inwiefern die Erkenntnisleistung der Erinnerung für die in der Wahrnehmung vollzogene Erkenntnis von Bedeutung und vielleicht auch in gewissen Grenzen maßgebend ist. Diese Probleme haben eine besonders große Bedeutung in Fällen, wo es sich um die Erinnerung an Tatsachen handelt, die, einmal vergangen, nie wieder zur wahrnehmungsmäßigen Erkenntnis gebracht werden können, also in Fällen, wo es sich um einmalige Vorgänge handelt, wie es z.B. die Ereignisse und Geschehnisse im Leben eines jeden Menschen sind. Die Weise, wie sie in der Erinnerung "bewahrt" oder in Erinnerung gebracht werden (und werden können) und in welchem Maß die Erinnerung uns da wirkliche (gewesene) Tatsachen zur Erkenntnis bringen kann, spielt eine entscheidende Rolle dafür, was der Mensch "jetzt", also in seiner jeweiligen Gegenwart, ist und wie er in dieser Gegenwart handelt. Diese Probleme sind auch von großer Bedeutung für die Klärung der Weise,

§17. Erweiterung der Erinnerung

139

Die hier kurz angedeuteten Erscheinungen der Zeitperspektive treten vor allem in Fällen der Wiedererinnerung vergangener Tatsachen auf. In gewissem Umfang kommen sie auch im Bereich des lebendigen Gedächtnisses vor, ich kann mich aber hier mit diesen Problemen nicht näher beschäftigen. Die Vorgänge, welche in der Erinnerung in den "Verkürzungen" der Zeitperspektive zur Gegebenheit kommen, brauchen nicht abgeschlossen zu sein. Auch die Phasen eines sich actualiter noch weiter entwickelnden Vorganges, die selbst bereits vergangen sind, treten in analogen Erscheinungen der Zeitperspektive auf, obwohl wir sie uns nicht in besonderen Erinnerungsakten vorstellen und obwohl sie zum Teil in den Bereich des lebendigen Gedächtnisses und sogar der Retention fallen. Noch mehr: jeder Vorgang wird als Vorgang nur deswegen wahrgenommen, weil die soeben vorübergegangenen Phasen im lebendigen Gedächtnis oder in der Wiedererinnerung in den Erscheinungen der Zeitperspektive zur Gegebenheit gelangen. Wenn beide völlig erloschen wären und unser wahrnehmendes Bewußtsein sich ausschließlich auf die aktuelle Phase des strengen "Jetzt" beschränkte, so könnte man zweifeln, ob sich der eben wahrgenommene Vorgang uns noch als Vorgang zeigte. Bis zu einem gewissen Grad kann man dies an den anomalen Fällen sehen, z.B. bei einer nicht zu starken Alkoholvergiftung, wo der Bereich der aktuellen Gegenwart in der Richtung auf die Vergangenheit augenscheinlich eingeengt wird, weil die Retention abgeschwächt und auch das lebendige Gedächtnis und die Wiedererinnerungen zum großen Teil ausgelöscht sind. Es scheint im Grenzfall nicht ausgeschlossen, daß ein Vorgang sich dann der Gestalt einer Mannigfaltigkeit von rasch aufeinanderfolgenden Ereignissen nähert. Dies ist aber nur eine Annäherung an das wirklich Vorhandene, weil sogar im Zustand einer leichten Alkoholvergiftung die Gegenwart bzw. das Gegenwartsbewußtsein sich nie in ein "punktuelles" Bewußtsein verwandelt. Dies letztere scheint nur eine Fiktion zu sein, die bei manchen Psychologen unter dem Druck des Begriffs der mathematisch-physikalischen Zeit entsteht. Käme es aber wirklich zu diesem Grenzfall und wäre auch jede Art von Vergangen-

wie ein literarisches Kunstwerk erkannt wird, wobei die Sachlage sich insofern ändert, als dasselbe Werk mehrmals aufs neue gelesen und erfaßt werden kann. Wir werden in unseren späteren Kapiteln noch darauf zurückkommen.

140

II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

heitserfahrung ausgelöscht, dann wäre auch keine Handlung und auch keine echte Wahrnehmung möglich. Die Fälle der Zeitperspektive der früheren Phasen eines Vorgangs, den wir - in seinen späteren Phasen - noch wahrnehmen, sind für uns besonders interessant, weil sie vor allem bei der Betrachtung der Lektüre eines literarischen Kunstwerks, ohne jede Unterbrechung und ohne Zurückgehen auf die bereits gelesenen Teile des Werkes, in Betracht kommen. Aber auch dieses Zurückgehen oder Zurückgreifen auf frühere Teile des Werkes wird bei der Lektüre längerer literarischer Kunstwerke oft angewandt. Es wird also noch nötig sein, uns damit zu beschäftigen. Vorläufig können wir aber die allgemeinen Betrachtungen über die Zeitperspektive abschließen und zu den Problemen dieser Perspektive zurückkehren, die beim Lesen eines literarischen Kunstwerks auftreten.

§ 18. Die Zeitperspektive in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks Die Erscheinungen (Phänomene) der Zeitperspektive treten in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks in zwei verschiedenen Sphären auf: einerseits erscheinen die im Werk dargestellten Ereignisse und Vorgänge in verschiedenen Phänomenen der Zeitperspektive, andererseits bezieht sich dies auch auf die einzelnen Phasen-Teile des ganzen Werks bzw. seiner Konkretisation, die während einer Lektüre bereits gelesen wurden. Es kommt dabei zu einer merkwürdigen "Kreuzung" der beiden Anwendungen der Zeitperspektive. Das führt oft zu Erscheinungen, die sehr kompliziert und auch sehr schwer vorauszusehen sind, 23 weil sie beide in hohem Maß noch durch das Verhalten des Lesers während der Lektüre bedingt sind. Die Phänomene der Zeitperspektive können in der im Werk dargestellten Welt in verschiedener Gestalt und in verschiedenen Modifikationen vorhan-

Dies ist besonders für den Dichter im Stadium der Komposition des Werkes wichtig. Denn die Erscheinungen der Zeitperspektive haben im allgemeinen eine bedeutende ästhetische Relevanz - wie sich noch im Folgenden zeigen wird - und müssen somit vom Dichter als ein wichtiger Faktor der künstlerischen bzw. ästhetischen Leistungsfähigkeit des Kunstwerks in Rechnung gestellt werden.

§ 18. Zeitperspektiven und Roman, Lyrik, Drama

141

den sein. Ihre Auswahl hängt vor allem von der Darstellungsweise der zur dargestellten Welt gehörenden Gegenstände und insbesondere Vorgänge ab, und damit letzten Endes vom Aufbau und der Aufeinanderfolge der in den Bestand des Werkes eingehenden Sätze und zum Teil auch von den sprachlautlichen Erscheinungen in der Sprache des Werkes. Insofern werden sie durch das Grundgerüst des literarischen Kunstwerks bestimmt und gehören demnach als ein bis zu einem gewissen Grad potentielles Element dem Werk selbst an, obwohl sie sich erst in der Konkretisation des Werkes voll entfalten können. Soweit der Leser sich den Forderungen des gelesenen Werkes fügt und sich ihnen unterwirft, steht er bei der Lektüre gewissermaßen unter der Suggestion der durch den Text vorbestimmten Zeitperspektiven und faßt die dargestellten Vorgänge und Ereignisse unter diesen Perspektiven auf. Die wichtigste Rolle beim Entwurf der Zeitperspektive spielen die verschiedenen Zeitformen der bestimmten Zeitwörter, welche die Funktion der Haupt- oder Nebenprädikate (Prädikate der Nebensätze) ausüben. Das Werk kann - wie bekannt - in der Gegenwartsform oder in verschiedenen Vergangenheitsformen des Zeitworts geschrieben werden. Manchmal wird auch das Futurum verwendet. Gewöhnlich wird, z.B. im Roman, wechselweise die Vergangenheits- oder die Gegenwartsform benutzt. Situationen und Vorgänge werden in Vergangenheitsformen beschrieben, die von den dargestellten Personen ausgesprochenen Sätze dagegen werden vorwiegend in die Gegenwartsform gefaßt. Sie dient auch oft zur Beschreibung z.B. gewisser Dinge oder Menschen. Dies verleiht ihnen einen Schein von Dauerhaftigkeit oder Außerzeitlichkeit, als ob sie sich nicht verwandelten. Manchmal, besonders in der Lyrik, faßt das Gedicht die sogenannte Pointe bis zu einem gewissen Grad außerzeitlich oder überzeitlich auf. Die Gegenwartsform überwiegt auch im Drama und in manchen lyrischen Gedichten. Wird ein Buch ständig im Präteritum geschrieben, so lesen wir es - unabhängig davon, ob die beschriebene Handlung in einer bestimmten historischen Zeit lokalisiert wird - mit einer Einstellung, die derjenigen, die wir bei der Erinnerung vergangener Geschehnisse einnehmen, verwandt ist. Es gibt da aber sehr verschiedene Möglichkeiten. Die bloße Zeitform der Zeitwörter entscheidet aber noch nicht darüber, ob die dargestellten Geschehnisse in der Vergangenheit oder in einer besonderen Gegenwart zu liegen scheinen. Eine kunstvolle Verwendung der verschiedenen Formen der Vergangenheit und Gegenwart in Verbindung mit Lebendig-

142

//. Die Zeilperspektive in der Konkretisation

keit und Plastizität der Darstellung und unter Hervorhebung vieler Einzelheiten der Geschehnisse kann dazu führen, daß die in der Vergangenheitsform dargestellten Geschehnisse dem Leser unter dem Aspekt einer lebendigen Gegenwart gezeigt werden. Der Leser begibt sich gewissermaßen in die dargestellte Vergangenheit und fühlt sich - bei Verringerung der Zeitdistanz auf ein Minimum - als Zeuge der dargestellten Begebnisse. Es bildet sich beim Leser eine merkwürdige erinnerungs-perzeptive Einstellung aus. Die Zeitdistanz schrumpft derart zusammen, daß das Sich-Zurückversetzen in die Zeitphase der beschriebenen Geschehnisse dem Leser erlaubt, diese Geschehnisse gewissermaßen von derselben Zeitphase aus zu betrachten, in welcher sie sich selbst entwickeln. Der Leser schwimmt dann sozusagen mit dem Strom der im Werk dargestellten oder bloß mitdargestellten Zeit mit, indem er beim Lesen zu immer neuen und "späteren" Geschehnissen übergeht, während diejenigen, die "früher" waren und bereits bekannt sind, in die Vergangenheit versinken, 24 und diese "früheren" Begebenheiten beginnen sich dem Leser unter verschiedenen Phänomenen oder "Ansichten" der Zeitperspektive zu zeigen. Die Phänomene der Zeitperspektive können dabei in verschiedenen Kombinationen und Synthesen konkretisiert werden. In manchen Werken wird die Vergangenheitsform der Zeitwörter so verwendet, daß die dargestellten Gegenstände und insbesondere die Vorgänge vorwiegend in einer großen Zeitdistanz zur Erscheinung gebracht werden. Der Leser vermag dann nicht, sich in die Vergangenheit zu "begeben"; er betrachtet die im Werk dargestellten Geschehnisse vom Standpunkt seiner Gegenwart aus, 25 denn er erfährt von ihnen unter großer Verkürzung der Zeit-

24

Und zwar kommt hier eine doppelte Vergangenheit in Betracht, wenn man so sagen darf: die Vergangenheit der im Werk dargestellten "Wirklichkeit" und der mit ihr dargestellten Zeit, und zweitens die Vergangenheit der Zeitstruktur des Werkes selbst. Es ist dabei nicht so leicht zu sagen, was diese "seine Gegenwart" eigentlich ist. Es scheint die Gegenwart der Lektüre, also eine Phase der realiter erlebten Zeit des Lesers zu sein. Aber andererseits scheint die Zeit der Lektüre aus dem Fluß dieser Zeit gewissermaßen herausgehoben. Das konkrete Leben des Lesers steht still, er denkt sich in die Zeit der dargestellten Geschehnisse fiktiv hinein, als ob er in demselben Zeitfluß, nur zu einem viel späteren Moment, von diesen Geschehnissen erführe, und die Zeitphase der Lektüre selbst zählt nicht mit oder schrumpft merkwürdig zu einer Gegenwart zusammen. Sie fällt mit der Zeitstruktur der Konkretisierung des Werkes merkwürdig zusammen. Und erst später, wenn wir von der Lektüre zum konkreten, aktiven Leben zurückkehren, wird diese Zeitphase der

§ 18. Zeitperspektiven und Roman, Lyrik, Drama

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phasen. Vorgänge, die sich in langen Zeitperioden abwickeln, die ihrer Natur nach sehr kompliziert sind und viele mannigfaltige Phasen in sich enthalten, werden nicht in ihrem vollen Verlauf, Phase für Phase und von dem Gesichtspunkt der betreffenden Zeitphase aus beschrieben, sondern nur sehr "summarisch" und in einer undifferenzierten Einheit (Ganzheit) dargestellt. Eine Zeitperiode ist manchmal in nur einem Satz beschrieben. Ein komplizierter Vorgang wird einfach kurz benannt, und es wird festgestellt, daß er stattgefunden hat. Viele und mannigfache Ereignisse werden in einem kurzen Bericht zusammengefaßt, so daß man ihre Entfaltung, ihre Realisierung und ihre Verwandlung nicht zu sehen bekommt. "Sehen" - wenn überhaupt - kann man sie nur in einer großen Zeitdistanz und beim Verharren in der Gegenwart der "Erzählung" selbst, 26 die mit der Gegenwart der Lektüre sich gar nicht deckt, obwohl sie vom Leser mit dieser Gegenwart oft identifiziert wird. Infolge der großen Zeitdistanz wird kaum fühlbar, daß sich der Charakter des *"Vergangen-Seins"* der einzelnen "früheren" und "späteren" Geschehnisse (Ereignisse) während der Lektüre, beim Übergang zu immer neuen Ereignissen, verwandelt. Alles scheint gleich "alt", gleich "vergangen" zu sein und auch gleich weit von der Zeitphase der Erzählung entfernt. Es kommt in diesem Fall nicht zu jener früher erwähnten "erinnerungs-perzeptiven" Einstellung des Lesers, sondern es herrscht eher eine reine Erinnerungseinstellung vor, mit dem - natürlich - prinzipiellen Unterschied, daß der Leser sich im allgemeinen in einer "passiven", "empfangenden" Einstellung befindet, da ihm jene "Erinnerungen", bzw. das "Erinnerte", durch die Erzählung aufgedrängt werden. *Unter anderen Phänomenen der Zeitperspektive tritt hier eine Verkürzung der dargestellten Zeitintervalle ein, und es kommt zu der Erscheinung einer erstarrten, vollzogenen Dynamik der sich entfaltenden Gescheh-

Lektüre irgendwie wieder in den Verlauf unseres Lebens eingefügt, obwohl sie nicht recht dazu gehört. Ich werde bei der Betrachtung des ästhetischen Erlebnisses noch darauf zurückkommen. Diese "Gegenwart" der Erzählung - die natürlich eine fließende Gegenwart ist - bildet ein Problem für sich und tritt besonders da in den Vordergrund, wo der sog. "Erzähler" selbst zu der dargestellten Welt gehört und von dieser Welt aus seine Erzählung gestaltet. Es ist übrigens gar nicht wahr, daß es zu jedem Roman einen im Werk selbst dargestellten und zu der in ihm dargestellten Welt gehörenden Erzähler gibt. Doch darüber noch später.

144

II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisalion

nisse, sofern da überhaupt das Phänomen der Dynamik fühlbar wird.* Eher scheint alles gleichmäßig langsam und ruhig zu fließen. Teils herrscht in den Werken der eine, teils der andere Typus der Zeitperspektive vor. Und dem entspricht auch die Weise des Lesens, die dem Leser bis zu einem gewissen Grad aufgezwungen wird. Meist - besonders im Roman - sind die beiden Darstellungstypen verflochten. Gewöhnlich werden die "wichtigeren" Ereignisse aus der Nähe, andere aus einer großen Zeitdistanz dargestellt. Dieser Wandel der Zeitdistanz hat übrigens eine besondere kompositorische Bedeutung für die Struktur des ganzen Werkes und bildet ein wirksames Mittel zur Konstitution der spezifischen ästhetisch relevanten Qualitäten in der Konkretisation des Werkes. Soll es zu ihrer Konstitution und Offenbarung in der Konkretisation kommen, so muß der Leser ein feines Gespür für die Veränderung der Zeitdistanz der dargestellten Geschehnisse haben. Erst dann gewinnt die dargestellte Welt Plastizität und eine gewisse Dreidimensionalität dadurch, daß verschiedene dargestellte Ereignisse bald in den Vordergrund treten, bald in den Hintergrund rücken. Zur Verdeutlichung des soeben Gesagten geben wir einige Beispiele aus dem Roman Lord Jim von Joseph Conrad. Das erste Kapitel dieses Romans gibt uns ein gutes Beispiel für die Wandlung der Zeitdistanz. Auf den ersten vier Seiten erfahren wir verschiedene Einzelheiten über die Person und die früheren Lebensperioden des "Lord Jim". In einer skizzenhaften Zeichnung wandeln sich vor unseren Augen nicht einzelne Ereignisse, sondern eher ganze Serien von Ereignissen, die sich im Leben Jims mehrmals wiederholten und die ihrer Art nach geordnet sind. Sie werden nur erwähnt, um diesen oder jenen Zug der Persönlichkeit des "Helden" hervorzuheben. Indem wir uns in die dargestellte Welt begeben, befinden wir uns in einem nicht näher bestimmten Augenblick (der dargestellten Zeit), von dem wir nur wissen, daß er irgendwie viel später als die erzählten Begebenheiten ist, die in einer verhältnismäßig großen Zeitdistanz dargestellt werden. Diese Distanz rührt hier von der Skizzenhaftigkeit der Darstellung und auch von der ständigen Verwendung des Iterativs in der Erzählung her. 27 27 Wenigstens ist es so in der polnischen Ubersetzung des betrachteten Werkes [im ersten Zitat aus der polnischen Übersetzung überwiegt das imperfektive Präteritum, im zweiten das perfektive; vgl. O poznawaniu

(1976), S. 126]. Es ist nicht wichtig, ob die Übersetzung in

diesem Punkt dem englischen Original getreu ist; wenn nicht, dann treten in ihr eben diese

§ 18. Zeitperspektiven

und Roman, Lyrik, Drama

145

Wir bekommen immer fast auf einmal eine Mannigfaltigkeit gleichartiger Tatsachen zu Gesicht, die sich in verschiedenen Augenblicken ereignen. So können wir kein echt einmaliges Ereignis für sich erfassen. Wir müssen uns infolgedessen als Leser gewissermaßen außerhalb des konkreten, einlinigen Flusses der Ereignisse stellen und vermögen nicht, uns gedanklich in einen bestimmten Augenblick zu versetzen, um dann mit dem Strom der Geschehnisse zusammen zu schwimmen und sie aus der Nähe zu betrachten. Zum Beispiel: On the lower deck in the babel of two hundred voices he would forget himself, and beforehand live in his mind the sea-life of light literature. He saw himself saving people f r o m sinking ships, cutting a w a y masts in a hurricane, s w i m m i n g through a surf with a line; or as a lonely castaway, barefooted and half-naked, walking on uncovered reefs in search of shellfish to stave o f f starvation. He confronted savages on tropical shores, quelled mutinies ...

A u f dem Unterdeck, in dem G e w i r r von zweihundert Stimmen vergaß er sich oft und bestand v o r w e g im Geiste das Seeabenteuer der leichten Unterhaltungsliteratur. E r sah sich von sinkenden S c h i f f e n Menschen retten, im Orkan die Masten kappen, mit einer Leine durch die Brandung schwimmen, oder als einsamer S c h i f f b r ü c h i g e r , barfuß und halbnackt über bloßgelegte R i f f e wandern auf der Suche nach Muscheln, um dem Hungertod noch einmal zu entrinnen. E r begegnete Wilden an tropischen Gestaden, unterdrückte Meutereien ... u s w .

Auf einmal ändert sich die Zeitdistanz gewaltig. Eine "Szene" wird in ihren verschiedenen Phasen aus großer Zeitnähe beschrieben. Von einem bestimmten Augenblick ab müssen wir uns gewissermaßen in den Gang der Ereignisse einfügen und mit ihnen vorwärtsschreiten, indem wir sie nacheinander mitansehen, wobei es noch zu gewissen, relativ kleinen Wandlungen in der Zeitdistanz kommt. 'Something's up. C o m e along.' He leaped to his feet. The boys were streaming up the ladders. A b o v e could be heard a great scurrying about and shouting, and when he got through the hatchway he stood still - as if confounded.

Erscheinungen, auf die ich hier hinweisen will, nicht auf. In der deutschen Übersetzung sind sie natürlich schwer zu finden, weil die deutsche Sprache kein echtes Iterativ und auch kein echtes Imperfekt kennt.

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II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

It was the dusk of a winter's day. The gale had freshened since noon, stopping the traffic on the river and now blew with the strength of a hurricane in fitful bursts that boomed like salvoes of great guns firing over the ocean. T h e rain slanted in sheets that flicked and subsided, and between whiles Jim had threatening glimpses of the tumbling tide, the small craft j u m b l e d and tossing along the shore, the motionless buildings in the driving mist, the broad ferry-boats pitching ponderously at anchor, the vast landing-stages heaving up and down and smothered in sprays. The next gust seemed to blow all this away. The air was full of flying water. There was a fierce purpose in the gale, a furious earnéstness in the screech of the wind, in the brutal tumult of earth and sky, that seemed directed at him, and made him hold his breath in awe. He stood still. It seemed to him he was whirled-around. He was jostled. 'Man the cutter!' Boys rushed past him. A coaster running in for shelter had crashed through a schooner at anchor, and one of the ship's instructors had seen the accident. A m o b of boys clambered on the rails, clustered round the davits. 'Collision. Just ahead of us. Mr. Symons saw it.' A push m a d e him stagger against the mizzen-mast, and he caught hold of a rope.

'Da ist was passiert. K o m m mit!' Er sprang auf. Die Jungen strömten die Treppe hinauf. Von oben hörte man aufgeregtes Hasten und R u f e n , und als er durch die Luke geklettert war, blieb er stehen wie betäubt. Es war A b e n d d ä m m e r u n g an einem Wintertag. Der Wind war seit Mittag stärker geworden, hatte den Verkehr auf dem Fluß lahmgelegt und blies nun mit der Gewalt eines Orkans in j ä h e n Böen, die wie Salven schwerer Geschütze über das Meer hindröhnten. Der Regen ging in schrägen Güssen nieder, daherfegend und wieder nachlassend, und zwischendurch warf Jim b e k l o m m e n e Blicke auf die sich brechenden Wellen; auf die kleinen Schiffe, die das Ufer entlang tanzten und hinund hergeworfen wurden; auf die reglosen Bauten im treibenden Nebeldunst; auf die breiten Fährboote, die vor Anker liegend gewichtig stampften; auf die mächtigen Landungsbrücken, die in Gischt gehüllt auf- und niederwogten. Die nächste Bö schien alles fortzublasen. Die Luft war von Wasserstaub erfüllt. In d e m Sturm war eine g r i m m i g e Zielstrebigkeit, ein wütender Ernst in d e m Kreischen des Windes, in d e m brutalen G e t ü m m e l der Erde und des Himmels, das auf ihn gerichtet zu sein schien und ihn vor Schreck den Atem anhalten ließ. Er stand still. Ihm war, als würde er herumgewirbelt. Er wurde angestoßen. 'Kutter klar!' Jungen stürzten an ihm vorüber. Ein Küstenfahrzeug, das schutzsuchend eingelaufen war, hatte einen vor Anker liegenden Schoner gerammt, und einer der Ausbilder auf d e m Schiff hatte den Unfall bemerkt. Ein Haufen Jungen kletterte auf die Reling und drängte sich um die Davits. 'Kollision. Direkt vor uns. M r . Symons hat es gesehen.' Ein Stoß ließ ihn gegen den Kreuzmast taumeln, und er hielt sich an einem Seil fest. U n d noch ein Ausschnitt:

§ 18. Zeitperspektiven und Roman, Lyrik, Drama

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Jim felt his shoulder gripped firmly. T o o late, youngster.' The captain of the ship laid a restraining hand on that boy, who seemed on the point of leaping overboard, and Jim looked up with the pain of conscious defeat in his eyes. The captain smiled sympathetically. 'Better luck next time. This will teach you to be smart.'

Jim fühlte, daß er fest bei der Schulter gepackt wurde. 'Zu spät, mein Sohn.' Der Kapitän hielt gebieterisch den Jungen zurück, der im Begriff zu sein schien, über Bord zu springen. Und mit dem Schmerz der eingestandenen Niederlage im Blick sah Jim zu ihm auf. Der Kapitän lächelte verständnisvoll. 'Mehr Glück das nächste Mal. Das wird dich lehren, flink zu sein.'

- usw. bis zum Schluß des Kapitels. Diese ganze Szene hat sich sicherlich viel früher ereignet, als manche von den zuvor beschriebenen Ereignissen (z.B. die Einzelheiten über Jims Dienste als Handelsagent in verschiedenen Häfen). Trotzdem wird dies in einer so kleinen Zeitdistanz dargestellt, daß wir beim Lesen fast zu Augenzeugen der sich "eben" abspielenden Begebenheiten werden. Nur manchmal vergrößert sich die Zeitdistanz, weil eine gewisse Zeitphase - z.B. die Beschreibung des Sturms - in abgekürzter Form geschildert wird, danach kehrt aber die große Nähe des Dargestellten wieder. Dieses Schwanken der Zeitdistanz erlaubt uns nicht, die sich entfaltenden (vollziehenden) Geschehnisse so zu sehen, wie wir sie in der Gegenwart erführen. Trotz ihrer Kleinheit bleibt doch eine geringe Zeitdistanz erhalten. Gerade aber deswegen, weil sie gering ist, treten auch die relativ unbedeutenden Zeit-Unterschiede zwischen dem, was "früher" war, und dem, was "später" kam, deutlicher hervor. Es ist möglich, fast ganz genau die Ordnung der zeitlichen Aufeinanderfolge der dargestellten Ereignisse zu bestimmen. 28 Die von Joseph Conrad oft verwendete Methode des indirekten Erzählens dient auch zur Hervorhebung des "Alters" (dawnosci) der dargestellten Ereignisse im Vergleich zu der Gegenwart der Erzählung selbst und mit plastischer Betonung bedeutender Unterschiede im "Alter" der dargestellten Gescheh-

28

In engem Zusammenhang mit dem Kleiner- oder Größer-Werden der Zeitdistanz treten analoge Wandlungen in der Lebendigkeit und Schärfe der sich dem Leser aufdrängenden Ansichten auf, in denen die dargestellten Gegenstände zur Erscheinung gelangen. Manchmal sind sie in ihrem Gehalt so deutlich, wie wenn wir diese Gegenstände realiter aktuell wahrnähmen. Bei der Vergrößerung der Distanz fließen sie ineinander, werden undeutlich und verschwinden schnell.

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II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

nisse. Es eröffnet sich infolgedessen eine Perspektive auf "frühere" und "spätere" Ereignisse, wobei die "früheren" gewissermaßen durch die "späteren" durchscheinen. Erinnern wir uns an die Erzählung Marlows über das Gespräch mit Jim in der Frontgalerie des Restaurants nach Abschluß der ersten Gerichtssitzung über die Offiziere der "Patna" und zugleich vor dem Urteilsspruch über Jim. In dieser Erzählung verflechten sich auf eine seltsam kunstvolle und zugleich natürliche Weise vier verschiedene Zeitperioden miteinander: 1. die Phase der Erzählung Marlows selbst, 2. die Phase des Gesprächs Marlows mit Jim im Restaurant, 3. die Phase des bereits vollzogenen ersten Teiles der Gerichtsverhandlung und 4. die Zeitperiode des Vorfalls auf der "Patna" und endlich auch dessen, was nach dem Verlassen des Schiffes durch Jim bis zur Landung in Aden vorgefallen ist. Von Zeit zu Zeit schimmert durch die Erzählung das durch, was nach diesem Gespräch geschehen wird, also die kommende entscheidende Sitzung des Gerichts, andererseits eröffnen gewisse Andeutungen über Jims Vater eine Perspektive auf eine noch viel frühere Zeitperiode hin. Die Zeitperiode (1) scheint viel, viel später zu sein als die übrigen Zeitperioden, die erwähnt werden. Sie bildet die immer neu sich entfaltende Gegenwart der Erzählung Marlows, obwohl sie in dem Moment, in dem sie anfängt, bereits in der Vergangenheitsform gegeben wird; die in extenso angeführten Worte Marlows haben aber zur Folge, daß wir Zeuge dieser Erzählung in allen ihren aufeinanderfolgenden Phasen werden. Jede von den hier aufgezählten Zeitperioden ist im Vergleich zu den "später" genannten Zeitperioden "früher". Der Anfang der vierten Periode knüpft an die in den früheren Kapiteln des Romans direkt dargestellte Geschichte der "Patna" an. Indem wir aber die Erzählung Marlows hören, versetzen wir uns hauptsächlich in die zweite Zeitperiode, und erst die von Marlow zitierten Worte Jims bewirken, daß wir uns gedanklich in die früheren Perioden zurückversetzen. Dank Marlows Gespräch mit Jim, vermöge der Lebendigkeit seiner in das Gespräch eingeflochtenen Erzählungen, seiner Erinnerungen und endlich vermöge dessen, was wir bereits auf Grund der früheren Kapitel des Romans wissen, konzentriert sich in der Periode (2) gewissermaßen die ganze mit ihr verbundene Geschichte Jims: verschiedene Vorfälle und verschiedene Vergangenheiten steigen aufs neue in seinen Erinnerungen auf, die auch uns erlauben, Zeugen dieser Vorfälle zu sein und zu der von Jim aufs neue erlebten Tragödie Jims zurückzukehren. Das verschiedene Gewesensein der Vorfälle und

§ 18. Zeitperspektiven und Roman, Lyrik, Drama

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zugleich ihre Verflechtung miteinander, ihr Lasten auf dem, was später in der Seele Jims geschieht, die sichtbare Verwicklung Jims in den einheitlichen Fluß der Zeit, die Dynamik der Geschehnisse und die Kraft ihrer Einwirkung auf spätere Ereignisse - all das führt dazu, daß die Zeit in ihren sehr mannigfachen Perspektiven zur Gestalt einer ganz konkreten Erscheinung gelangt, sich in den einzelnen Phasen ganz eigentümlich färbt und eine mit dem, was in ihr geschieht, eng verbundene Wirklichkeit bildet. Es ist nicht möglich, hier auf die Einzelheiten dieser ganzen Geschichte einzugehen; erst eine Analyse dieser Erzählung, Satz für Satz, könnte den ganzen Reichtum der sich hier entfaltenden Erscheinungen der Zeitperspektive deutlich zeigen, eine Aufgabe, die noch zu erfüllen ist. *Als Beispiele* des "Sich-Begebens" in die Vergangenheit bzw. des "Heranbringens" der Vergangenheit an die Gegenwart können folgende zwei Texte dienen: Der erste stammt aus dem Roman Eifersucht

und Medizin von M. Choro-

manski, der zweite ist ein Gedicht von Leopold Staff. Zona jego pozostala sam na sam ζ chirurgiem. Milczala jak i przedtem, i to milczenie dzialalo na niego bardziej podniecaj^co niz wszystkie znane mu perwersyjne pieszczoty. Zreszt^ Chirurg miai wrazenie, ze cos mówila, ale to bylo jeszcze w obecnosci mçza. Wypowiedziala cos bardzo glupiego, cos, co nie mialo zadnego sensu, jeden ζ beznadziejnie banalnych paradoksów, w których lubowala siç i poza które nie siçgata. Powiedziata cos w rodzaju: Najmniejszy procent mçskosci posiada stuprocentowy mçzczyzna - albo: Kobieta oddaje siç tylko temu, którego nie kocha. - Bylo to bardzo przykre i chirurg ze wstydem spojrzal na Widmara, który widocznie przezywal ten sam wstyd. Widmarowi i chirurgowi zrobilo siç nijako, obaj nawet zaczerwienili siç, gdyz jednakowo silnie reagowali na kobiec^ glupotç. 'Zreszt^ nie mnie to nie obchodzilo 1 , konstatowal chirurg i przytrzymywal kapelusz. Kurz zaprószyl mu oczy, gdzies wysoko w niebie zamigotal ksiçzyc zólty i odpychaj^cy. Doktor Tarnten przetarl oczy i wymamrotal: - Coz to za piekielny wiatr ... Ale gdy Widmar zamkn^l papierosnicç i spojrzal na mnie spode Iba, przeczulem mozliwosc wielkiej przykrosci i w celach samoobrony siçgn^lem do kieszeni. Co zas do mózgu kobiety, to nie obehodzi on mnie nigdy, uwazam, ze kobieta ma ciekawsze organy.' Rozwazal w ten sposób, chutliwy, rozpustny i, co gorsza, trochç sztuczny i nieszczery wobec swych idealów. Gdy zas podjezdzal do bramy szpitalnej, wybiegl na jego spotkanie mlody asystent, a wiatr podniósl do góry poly bialego fartucha. Chirurg Tarnten postara! siç nie zauwazyc asystenta, snul w pospiechu swe mysli dalej, aby

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//. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

nikt mu nie mògi przeszkodzic. Wiedzialem na pewno, ze ten czlowiek moze mnie zadusic swymi rçkami, choc niew^tpliwie czujemy do siebie szczerg wzajemng sympatiç.' Chirurg chcial jeszcze cos sobie przypomniec, rzecz, jak mu siç wydawalo, waznq i nie cierpi^cq zwloki, ale nie miai juz czasu na to. Do dorozki wskoczyl asystent. Seine Frau war mit dem Chirurgen allein geblieben. Sie schwieg nach wie vor, und dieses Schweigen wirkte auf ihn erregender als alle ihm bekannten perversen Zärtlichkeiten. Im übrigen hatte der Chirurg den Eindruck, daß sie etwas gesagt hatte, aber noch in Gegenwart ihres Mannes. Sie hatte etwas sehr Dummes von sich gegeben, etwas absolut Sinnloses, eines dieser hoffnungslos banalen Paradoxe, an denen sie Gefallen hatte und über die sie nicht hinauskam. Etwas in dem Stil: — Die wenigsten Prozente an Männlichkeit besitzt ein hundertprozentiger Mann — oder: — Die Frau gibt sich nur dem Manne hin, den sie nicht liebt — Das war sehr peinlich gewesen, und der Chirurg hatte verlegen zu Widmar geblickt, der sich sichtlich ebenso schämte. Beiden Männern war mulmig zumute, beide erröteten sogar, weil sie gleichermaßen empfindlich auf weibliche Dummheit reagierten. 'Im übrigen ging mich das nichts an', konstatierte der Chirurg nun und hielt seinen Hut fest. Staub war ihm in die Augen gekommen, hoch oben am Himmel schimmerte der Mond gelb und widerwärtig. Dr. Tarnten rieb sich die Augen und murmelte: - Was für ein höllischer Wind... 'Als Widmar das Zigarettenetui zuklappte und mich so finster ansah, war ich auf die übelsten Dinge gefaßt und griff schon zur Selbstverteidigung in die Tasche. Was aber das weibliche Hirn betrifft, so hates mich nie interessiert-ich finde, daß es interessantere Organe bei Frauen gibt'. So meditierte er, wollüstig, unzüchtig, und - schlimmer noch - ein bißchen künstlich und unaufrichtig gegenüber seinen Idealen. Als er dann ans Krankenhaustor vorgefahren kam, war ihm sein junger Assistent entgegengelaufen, der Wind hatte die Schöße seines weißen Kittels gebläht. Der Chirurg war bemüht wegzusehen, in Eile trieb er seine Gedanken weiter voran, damit ihn nur ja niemand störte. 'Ich wußte ganz sicher, dieser Mensch wäre imstande, mich mit bloßen Händen zu erwürgen, obwohl wir ohne Zweifel eine aufrichtige Sympathie füreinander hegen...'. Der Chirurg wollte sich noch an etwas anderes erinnern, an eine Sache, die, wie ihm schien, wichtig und unaufschiebbar war, aber er hatte keine Zeit mehr dafür. Der Assistent war schon in die Droschke gesprungen. Bei der Lektüre der ersten zwei Sätze dieses Ausschnitts haben wir den Eindruck, die Szene werde im Salon direkt vom Verfasser dargestellt und sei eben die Gegenwart, deren Zeugen wir bei der Lektüre sind. Sobald wir aber erfahren, daß die Frau noch "in Gegenwart ihres Mannes" etwas gesagt hatte, *merken wir*, daß auch die ersten beiden Sätze vom Chirurgen jetzt in Erin-

§ 18. Zeitperspektiven und Roman, Lyrik, Drama

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nerung an eine vergangene Szene gedacht werden, und daß der Chirurg in der Erinnerung zu der früheren Situation zurückkehrt, als noch drei Personen im Salon anwesend waren: die Frau, ihr Mann, Doktor Widmar, und der Chirurg, Doktor Tarnten. Die darauffolgenden Sätze malen diese Situation näher aus. Es ist aber noch immer unklar, von welcher Gegenwart aus jene Szene im Salon in der Erinnerung nacherlebt wird. Erst der Satz: '"Im übrigen ging mich das nichts an' - konstatierte der Chirurg nun und hielt seinen Hut fest." - präzisiert die Gegenwart, in welcher sich die Verhaltensweise des Chirurgen und insbesondere seine Erinnerung vollzieht. Und die folgenden zwei Sätze geben die weiteren Einzelheiten dessen, was eben "jetzt" geschieht. In dieser Gegenwart spinnt sich die weitere Erinnerung des Chirurgen fort, bis er auf die vergangene Szene im Salon zurückkommt. Sie erscheint ihm in der Erinnerung so deutlich, daß er sich wieder vollkommen in die Vergangenheit begibt und sich von seiner Gegenwart entfernt. Noch mehr. Er bemüht sich, diese Gegenwart seinem Bewußtsein fernzuhalten, er schiebt sie von sich weg, als der Assistent erscheint, und kehrt noch einmal zu der Vergangenheit zurück, um nur noch einen Augenblick in ihr zu verweilen. In ihr lebt er, die Gegenwart geht spurlos an ihm vorüber, bis er durch den Gang der Ereignisse doch gezwungen wird, sich ihr wenigstens teilweise zuzuwenden. Aber auch dann bemerkt er in ihr nur manche Einzelheiten und führt seine Tätigkeiten mechanisch aus, indem er dabei mit leichtem Sinn leise singt: *"Rebeko, Rebeko, cóz na nas czeka?" (O Rebekka, sieh mein Leiden, was wird heute mit uns beiden...)*. Eine direkt entgegengesetzte Situation stellt sich im folgenden Gedicht von Leopold Staff 2 9 dar: Tr^cam o ciebie, struno bolesna pamiçci, graj^ca cisz^ zmierzchu, woniq sianozçci. We wspomnieniu dom biaty, dwa klonowe drzewa, wieczór letni, w gaiçziach ptak, co slodko spiewa. To wszystko, co zostalo po was, szczçscia chwile: dwa drzewa, ptak, co spiewa... nie... a tyle... tyle... Ich schlage dich an, schmerzliche Saite der Erinnerung, du spielst die Stille der Dämmerung, den Duft der Mahd. In der Erinnerung das weiße Haus, die beiden Ahornbäume, 9Q Ly Ein bedeutender Lyriker der sog. "jungpolnischen" Literatur. *Er lebte von 1878 bis 1957*.

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II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

der Sommerabend, in den Zweigen der Vogel mit seinem süßen Gesang. Das ist alles, was von euch geblieben ist, ihr Momente des Glücks: zwei Bäume, ein Vogel, der singt... ein nichts ... und so viel... so viel... Hier ist die Gegenwart, in der das lyrische Subjekt des Gedichtes lebt. Sie ist durch die Erinnerung an die lange verflossene Vergangenheit, die mit Hilfe einiger unbedeutender Einzelheiten an die Gegenwart herangerufen wird, erfüllt und drückt sich im wehmütigen Bewußtsein von dem aus, was von der Vergangenheit geblieben ist. Das unwiederbringlich verlorene Glück, seine nichtigen und doch kostbaren, in der Erinnerung bewahrten Spuren und die Wehmut über den nicht wieder gut zu machenden Verlust bestimmen emotional die Gegenwart des lyrischen Ich, in der es die Worte des Gedichts ausspricht. Es ist nicht so, als ob sich das lyrische Subjekt in die Vergangenheit begeben würde. Im Gegenteil, sie lebt, wie ein Echo an die Gegenwart herangerufen, jetzt wieder für einen Augenblick auf und verschmilzt mit dem, was eben jetzt geschieht. Es ist die große Kunst des Dichters, daß diese Vergangenheit - obwohl sie nur von ferne und nur in einigen unbedeutenden Einzelheiten gezeichnet wird - sich doch dem Leser mit ihrer spezifischen, sehr lebendigen emotionalen Färbung aufdrängt und den notwendigen Hintergrund der jetzt sich entfaltenden Wehmut bildet, in der sie sich gewissermaßen auswirkt. Obwohl wir diese Gegenwart mit dem lyrischen Ich leben und ihren vollen emotionalen Gehalt erleben, sind wir zugleich nicht in ihr eingesperrt, sondern gewinnen von ihr aus einen Ausblick auf das vergangene Leben und erleben die Gegenwart als einen Nachklang der Vergangenheit mit. Als weiteres Beispiel für die Darstellung einer Gegenwart, in der alle Perspektiven in die Vergangenheit und in die Z u k u n f t entschwinden, k a n n das folgende Gedicht von K. Wierzyñski dienen ([Pamiçtnik milosci] T a g e b u c h der Liebe): Usta twoje siç snuj^, usta twe siç wodz^, Jak dwa ptaki rózowe, po mnie lekko chodz^, Jak dwa swiatla natchnione, oczu dotykaj^, Usta twe mnie zabraly, usta twe mnie maj^. Jak wyznania wstydliwe, jak szepty szalone, Powtarzam w ustach twoje usta niezliczone, Od usmiechu w kgcikach do smaku jçzyka Usta twoje calujq i swiat caly znika.

§ 18. Zeitperspektiven und Roman, Lyrik, Drama

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Deine Lippen schweifen, deine Lippen wandern, Wie zwei rosa Vögel gehen sie leicht über mich hin, Wie zwei begeisterte Lichter berühren sie meine Augen, Deine Lippen haben mich genommen, deine Lippen haben mich. Wie verschämte Bekenntnisse, wie wahnsinnige Flüsterworte Wiederhole ich in meinen Lippen deine unzähligen Lippen, Vom Mundwinkellächeln bis zum Zungengeschmack Deine Lippen küssen, und die ganze Welt vergeht. Ohne uns um eine Analyse dieses Gedichts zu bemühen, achten wir nur auf das Phänomen der Zeit und die Weise ihrer Erfassung. Wie fast alle echt lyrischen Gedichte stellt auch dieses Gedicht ein aktuelles "Jetzt" dar. 30 Die Versunkenheit des lyrischen Subjekts in dieses "Jetzt" ist so vollkommen, daß jede Perspektive auf die Vergangenheit und auf die Zukunft verschwindet. Es bleibt nur die aktuelle Emotion des Entzückens, die sich in der Verhaltensweise des lyrischen Subjekts in diesem Moment ausspricht. Sie gründet in der Bildung und in der Aussprache der das Gedicht bildenden Sätze. Nicht so sehr dasjenige, worüber in ihnen gesprochen wird, als vielmehr die Aussage selbst, als Form der Entladung eines bestimmten Gefühls und dadurch auch als eine anschauliche Enthüllung dieses Gefühls, das überhaupt nicht genannt wird, bildet zusammen mit ihm jene durch das Gedicht geschaffene, aktuelle, in sich geschlossene Gegenwart, die wir in ihrer eigentümlichen (einzigartigen) Gestalt und in voller qualitativer Bestimmung mitzuerleben haben. Wir können sie aber nicht aus der Distanz durch Anschauen oder Betrachten einer uns "objektiv" dargebotenen Lebenssituation "erfassen" - so wie es wäre, wenn uns jemand von einer analogen Situation erzählte - , sondern durch Beseiti-



Die in meinem Oberseminar in den Jahren 1934/35 durchgeführten zahlreichen Analysen haben gezeigt, daß wenigstens in lyrischen Gedichten eines besonderen Typs das charakteristische Moment darin besteht, daß sie eine Weise des Verhaltens des lyrischen Subjekts selbst im Bereich einer Gegenwart sind, die durch ein in ihr konzentriertes Erlebnis qualitativ bestimmt ist. Diese Gegenwart ist zugleich wie aus dem Fluß der Zeit herausgenommen, bzw. sie ist im Zeitfluß nicht lokalisiert, und zwar auch dann nicht, wenn von ihr aus im Erleben des lyrischen Subjekts auf eine Vergangenheit oder auf die Zukunft hingewiesen wird. Daß die Gegenwart in der lyrischen Dichtung eine besondere Rolle spielt, hat schon früher in Polen Julius Kleiner ["Rola czasu w rodzajach literackich". Pam. Lit. 1925/26, 1, 8-15] festgestellt. Auf die Probleme der Lyrik komme ich noch zurück.

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II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

gung 31 jeglicher Distanz zwischen uns als Lesern und dem lyrischen Subjekt während der Lektüre und durch die Realisierung eben jenes "Jetzt", welches im Gedicht geschaffen, fingiert wird. Zwischen dem "Jetzt" des Gedichts und dem "Jetzt" der Lektüre gibt es und kann es bei richtiger Lektüre keine Distanz, keine Doppelheit geben. Und zwar ist das "Jetzt" des Gedichtes ausschließlich durch den Sinngehalt der Sätze, die das Gedicht bilden, bestimmt und ist - wie man aus dem Text sieht - in gar keinen bestimmten Zeitfluß versetzt und gar nicht bestimmt lokalisiert. Anders gesagt: es kann gerade durch diesen Mangel an einer einmaligen, festbestimmten Position im realen Zeitfluß sozusagen in jeder Gegenwart konkretisiert werden. Gerade deswegen wenn es zu einer Art Deckung zwischen den beiden "Jetzt", dem der Dichtung und dem der Konkretisierung der Lektüre, kommen soll - muß das "Jetzt" der Lektüre gewissermaßen aus dem Fluß (Gang) unseres normalen realen Lebens herausgehoben werden und sich durch den Gehalt der Gegenwart des Gedichtes bestimmen lassen, um zum "Jetzt", zu der im Gedicht entworfenen Gegenwart - mit ihrer ganzen Fülle - zu werden. Der Leser, als ein bestimmtes psychisches Subjekt, muß - anders gesagt - sich mit dem im Gedicht sich äußernden lyrischen Subjekt nicht nur solidarisieren, sondern sich für einen Augenblick als ein solches, so erlebendes und sich auswirkendes Subjekt fühlen, es in Actione werden. Dann erst wird es zu einer Konkretisation des Gedichts kommen, welche ihm selbst nahe stehen wird, und dann auch wird eine volle, unmittelbare, distanzlose ästhetische Erfassung der entstandenen Konkretisation möglich sein. Wie wir sehen, zeigt sich ein weitgehender Gegensatz zu den früher beschriebenen Einstellungen des Lesers (die durch das gelesene Werk bestimmt werden) und der dabei zur Sicht gelangenden Zeitperspektiven. Sofern früher dieses oder jenes Hinausgehen des Lesers über die Sphäre seiner Aktualität in die im Werk fingierte Vergangenheit wesentlich war, ist hier das völlige SichVersenken des Lesers in das fingierte Jetzt des Gedichts notwendig, wobei jede - reale oder nur im Werk dargestellte - Vergangenheit und Zukunft fortfällt.

•j ι Von "Beseitigung" zu reden ist da insofern nicht am Platz, als diese Distanz - infolge der dichterischen Kunst - von selbst wegfallt oder, noch besser, von vornherein nicht vorhanden ist.

S 18. Zeitperspektiven

und Roman, Lyrik, Drama

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Sofern man für die Zeit oder für die Dauer in der Zeit das Versunkensein in einen Zeitwandel bei vollem Mitschwingen der Vergangenheit und dem sich Ankündigen einer Zukunft und nur beim Hervortreten der aktuellen, aber eben sich wandelnden Gegenwart für wesentlich hält, so könnte man sagen, daß die im besprochenen Gedicht geschaffene und dem Leser aufgezwungene Gegenwart außerzeitlich ist. Eines ist daran richtig: Die im Gedicht entworfene Gegenwart ist eben darin eigentümlich und von der Gegenwart, deren Zeugen wir z.B. im Drama sind, verschieden, daß hier im Gegensatz zum Drama das Mitschwingen, bzw. die Perspektive auf eine bestimmte Vergangenheit und eine Zukunft fehlt. Von "Unzeitlichkeit" oder "Außerzeitlichkeit" zu reden, wäre aber verfehlt, weil das "Jetzt" als solches schon - wenn man so sagen d a r f - eine "Zeitkategorie" ist, nur daß hier die Horizonte - um das Wort Husserls hier zu verwenden - sehr unbestimmt oder gar leer sind. 32 Es gibt aber eine Gestalt des lyrischen Gedichts, bei der man vielleicht von einer (zwar nicht Außerzeitlichkeit, aber doch) gewissen Überzeitlichkeit sprechen möchte, ohne deswegen die Behauptung fallen zu lassen, daß auch da ein "Jetzt" entworfen wird. Dies geschieht bei einer Art der sog. "Gedankenlyrik". Lesen wir z.B. das bekannte "Schlußstück" aus dem Buch der Bilder R. M. Rilkes (ich glaube, daß man in den Sonetten an Orpheus viele solche Beispiele finden könnte, sie sind aber viel komplizierter). Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. Auch hier spricht so das lyrische Subjekt, es denkt diesen Gedanken, erlebt ihn zugleich und versinkt in ein ungenanntes Sinnen und stilles Fühlen, und das bildet einen konkreten gegenwärtigen Augenblick seines Lebens. Also auch dieses Gedicht ist eine Verhaltensweise des lyrischen Gedichts in einem Augenblick. Aber das, was da gesagt wird, konstituiert nicht, wie in dem früher besprochenen Gedicht, eine einzige, sich eben entfaltende konkrete, erfüllte Gegenwart des menschlichen Lebens, sondern etwas, was sozusagen über allen Gegenwarten als das ewige Schicksal des Menschen schwebt, was da ist, auch dann, wenn gar nicht daran gedacht wird, wenn das jeweilige Jetzt durch verschiedene, ja dem Tod anscheinend ganz entgegengesetzte Ge-

Wir werden sogleich noch andere Gründe anfuhren, welche uns verbieten, hier von Außerzeitlichkeit zu sprechen.

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II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

schehnisse ("wir sind die Seinen lachenden Munds") erfüllt wird. Das über jedem Jetzt Schweben dessen, "was mitten in uns zu weinen wagt", gibt dem Ganzen - trotz der Gegenwart des erlebenden lyrischen Subjekts - das Gepräge einer gewissen Überzeitlichkeit. Und nicht anders ist es z.B. mit Goethes "Über allen Gipfeln ist Ruh...". 33 Verweilen wir aber noch einen Augenblick beim Drama. Gelesen oder geschaut, erlaubt es idem Leser (dem Zuschauer) das Verfolgen einer immer neuen Gegenwart der sich eben entwickelnden Geschehnisse, also nicht einer Gegenwart, in die wir uns wie in eine vergangene Zeit versetzen müßten, sondern einer Gegenwart, die sich im Lauf des Dramas stets neu realisiert, aktuell wird. Dieses Mitgehen mit der immerfort werdenden Gegenwart ist es, was den Zuschauer eines Dramas charakterisiert, sofern er sich den vom Werk an ihn gestellten Forderungen unterwirft. Es ist aber nicht die Gegenwart des lyrischen Gedichts. Es gibt natürlich sehr verschiedene Abwandlungen des Dramas, und wir können hier nicht alle Fälle besprechen, da alle diese Erwägungen nur die Rolle eines konkretisierenden Beispiels haben. Sagen wir also ganz unverbindlich: es gibt einerseits ausgesprochen historische Dramen, wie z.B. die verschiedenen "Königsdramen" Shakespeares, und daneben auch nichthistorische Dramen in dem Sinn, daß sie keine geschichtlich ausdrücklich lokalisierte, individuelle Geschichte zur Darstellung bringen, so sehr sie auch sonst die Spuren einer geschichtlichen Zeit an sich tragen mögen und dann doch-durch die Literaturforscher - zeitlich lokalisiert werden. Also in einem solchen "nichthistorischen" Drama fassen wir, indem wir die sich entwickelnde "Handlung" verfolgen - auf die wir doch primär konzentriert sind - , ein immer neues "Jetzt", das durch das eben Geschehende erfüllt und bestimmt wird. Dieses "Jetzt" ist aber zugleich eine in den Gang der mit der im Drama dargebotenen Geschichte dargestellten Zeit eingeflochtene Phase. Die in jedem neuen Jetzt dargebotene, sich wandelnde Situation ermöglicht dem Zuschauer, dieses Jetzt an sich im aktualisierenden Geschehen direkt, ohne jede Distanz, selbst zu erfassen. Es ist stets von einer bereits verflossenen Vergangenheit einerseits und von einer sich ankündigenden, manchmal drohenden, manch-

Da sagen die Philologen oft, es sei eben eine "ewige Wahrheit" ausgesprochen, wobei sie noch bemüht sind, diese "Wahrheit" auf ein sozusagen philosophisches Theorem zurückzuführen. Aber dann verlassen sie schon das Gedicht und machen aus ihm ein im Grunde banales Traktätchen.

§ 18. Zeitperspektiven

und Roman, Lyrik, Drama

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mal hoffnungsvollen Zukunft andererseits umrahmt. Die bereits vergangenen Ereignisse (die zum Teil selbst lebendig "gezeigt" wurden, zum Teil nur irgendwie im Gespräch und im Verhalten der dargestellten Personen zur Sicht gelangen oder bloß erwähnt werden) werden vom Zuschauer entweder bloß im lebendigen Gedächtnis behalten oder durch ihn wieder in Erinnerung gebracht, wobei sie in solchen oder anderen Phänomenen der Zeitperspektive erscheinen. Und diese Mitgegebenheit, dieses Mitschwingen der vergangenen Geschehnisse ist nicht ohne Folgen für die weitere unmittelbare Erfassung des eben "jetzt" Geschehenden. So sehr der Zuschauer durch das eben Geschaute erschüttert und dadurch sein Mitgefühl erregt werden kann, so sehr er dabei gewissermaßen in die Handlung miteinbezogen oder durch sie mitgerissen werden mag, bleibt er doch bis zum Ende der dargestellten Geschehnisse nur ein "Zuschauer", der außerhalb der dargestellten Welt und infolgedessen auch außerhalb ihrer Zeit verbleibt. Es kommt also hier nie zu einer solchen Nähe, zu einem solchen Sich-Einleben in die dargebotene Gegenwart wie beim Erleben eines lyrischen Gedichts. Es kommt auch nicht zu jener Begrenzung der dargebotenen Gegenwart auf diese allein, weil diese Gegenwart im Drama nicht bloß immer neu wird, sondern auch eben immer nur ein Durchgang, eine Phase einer sich entfaltenden und sich eben als Zeitverlauf konstituierenden Zeit ist. Bei der Erfassung der sich eben abspielenden Geschehnisse fehlt zwar die früher beschriebene Zeitdistanz, die für die Erscheinungsweise der vergangenen Geschehnisse und auch der im Roman dargestellten Geschehnisse oft charakteristisch ist, es bleibt aber eine - wenn man so sagen darf - Distanz der Erfassung oder der Perzeption übrig, die im Drama nicht zu beseitigen ist. Diese letzte Distanz aber verschwindet bei einem lyrischen Gedicht, wie dem besprochenen von Wierzynski. Das "Jetzt" des Gedichts und das "Jetzt" des Empfängers decken sich da mit der ganzen Fülle der Qualifikation und Ausfüllung so, als ob sie eins und dasselbe wären. Dabei ist nicht zu vergessen, daß die Fülle des Erlebens beim Empfänger auf merkwürdige Weise an der Peripherie des Erlebens abgedunkelt wird. 34

Ich leugne natürlich nicht, daß das Gedicht von Wierzynski auf eine ganz andere Weise gelesen und perzipiert werden kann. Also z.B. so. daß sowohl die Zeitdistanz als auch die perzeptive Distanz bewahrt wird, und auch ohne die reale Verschiedenheit des Lesers und des lyrischen Ich in irgendeiner Weise anzutasten. Ich gebe es zu, wobei ich aber dann von der Frage absehe, ob es bei einer so verschiedenen Weise der Lektüre noch zur Konstituierung

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II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

Es liegt aber noch der folgende Einwand nahe: Die Zeit, in der das angegebene Gedicht gelesen wird, ist - trotz der Kürze dieses Gedichts - doch sicher nicht "ein Augenblick". Es gehen sicher mehrere Sekunden vorüber, bis das Gedicht zu Ende gelesen ist. In dem Moment, in dem wir die letzten Worte des Gedichtes lesen, sind die Augenblicke, in denen wir anfingen, das Gedicht zu lesen, schon vorüber, gehören also zur Vergangenheit. Wie kann man also von einem Jetzt des Lesers sprechen, das dazuhin noch mit dem "Jetzt" des Gedichtes zur Deckung gebracht werden soll? Und von diesem letzten "Jetzt" kann man auch nicht sagen, daß es eine Gegenwart bildet, da auch der Dichter oder - wenn man will - das lyrische Subjekt seine im Entzücken ausgesprochenen Worte gewiß nicht "in einem Augenblick" wird aussprechen können. Obwohl dieser Einwand auf einem Mißverständnis beruht, gebe ich ihn hier an, weil er mir erlauben wird, eine andere Weise, in der die Zeitperspektive im literarischen Kunstwerk zur Erscheinung gelangt, zu besprechen. Worin besteht aber das Mißverständnis? Ich habe schon früher bemerkt, daß man die phänomenale, qualitativ bestimmte Zeit von der mit der Uhr gemessenen, insbesondere der physikalischen Zeit unterscheiden muß. Sowohl die Betrachtungen Bergsons wie auch die späteren, viel weiter geführten Untersuchungen Husserls über die erlebte, erfüllte Zeit 35 berechtigen uns, diese Unterscheidung in Betracht zu ziehen. Wenn ich hier von einem "Jetzt" oder einer Gegenwart spreche, kommt es mir nicht auf eine in Sekunden oder in Bruchteilen von Sekunden gemessene Zeit an. Die Momente der phänomenalen Zeit, wenn man sie überhaupt mit der Uhrzeit vergleichen soll, sind eben in diesem Vergleich als Zeitphasen 36 zu betrachten, die - "gemessen" - "kürzer" oder "länger" sein können. Die konkret erlebten "Augenblicke" unterscheiden sich durch ihre verschiedene qualitative, einzigartige und - wie Bergson mit Recht sagt - unwiederholbare

einer getreuen Konkretisation dieses Gedichtes kommen wird. Wesentlich für mich ist nur, daß es möglich ist, dieses Gedicht gerade so zu lesen, wie ich es hier im Text darzustellen suchte; bei Werken eines anderen Typus ist dies nicht möglich. [Vgl. H. Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1889; E. Husserl, Zur Phänomenologie •y fi JO

des inneren Zeitbewußtseins

Haag 1966.] Obwohl dies rein erlebnismäßig nicht richtig ist!

1893-1917

(Husserliana X), Den

§ 18. Zeitperspektiven

und Roman, Lyrik,

Drama

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Färbung. Diese Färbung aber ist vor allem durch die Erfüllung des betreffenden Moments, d.h. durch das, was im Erlebnisbereich des Erlebenden gerade geschieht, eindeutig bestimmt. Auch ein gewisser Nachklang des soeben Vergangenen und des sich erst Ankündigenden ist für die Färbung mitbestimmend. Zwei Momente entscheiden aber darüber, daß es eben ein Augenblick, ein Jetzt ist: erstens ist es jene einheitliche qualitative Färbung, zweitens aber die Aktualität all dessen, was diese Färbung an sich trägt und dieses Jetzt erfüllt, obwohl es durch Retention und Protention umrahmt ist. Es ist eine Zeiteinheit, die erst als solche in die Vergangenheit versinkt, den Charakter des "soeben" Gewesenen gewinnt und dann noch im lebendigen Gedächtnis in einer gewissen Mit-Anwesenheit erhalten bleibt, um nach ihrem Versunkensein in der Vergangenheit nur mit Hilfe eines besonderen Aktes "in Erinnerung" gebracht zu werden. Aber dann ist sie schon etwas, was seine Selbstgegenwart für immer verloren hat und eben damit dem Erinnerungsakt transzendent ist, so lebendig man sich auch daran erinnern mag. Diese zur Vergangenheit gewordene einstige "Gegenwart" unterliegt der beschriebenen Zeitperspektive. In allen Modifikationen aber, in denen sie wieder erscheint, tritt sie immer als eine identische Zeiteinheit auf. In dem besprochenen Gedicht von Wierzyñski wird die Erfüllung des "Jetzt" durch die ganze durch den Text ausgedrückte bzw. dargestellte psychische Situation und Verhaltensweise des lyrischen Subjekts gebildet. Sie bestimmt die einheitliche Färbung des "Jetzt". Und weil diese Färbung einheitlich ist und die ganze Zeitphase umspannt, in der sich das Gedicht entfaltet, haben wir es hier nur mit einem Jetzt, mit einer Gegenwart zu tun und nicht mit einem Zeitfluß, in welchem sich mehrere qualitativ bestimmte Zeiteinheiten abzeichneten. Dies schließt aber nicht aus, daß sich in dieser Zeiteinheit verschiedene Momente abzeichnen, wie z.B. die Vorbereitung und die Kulmination der sich entladenden Emotion. Sofern wir also dieses Gedicht in der (gewiß etwas einseitigen) Einstellung auf das, was zum Dargestellten bzw. Ausgedrückten gehört, erfassen, ohne auf seine anderen Seiten achtzugeben, die bei seiner vollen ästhetischen Erfassung auch offenbar werden, dann behält alles, was oben über die Zeitstruktur des Gedichtes gesagt wurde, seine Geltung. Es fordert aber eine Ergänzung. Denn das betrachtete Gedicht - wie jedes literarische Kunstwerk - ist ein mehrschichtiges Gebilde. In der durchgeführten Analyse wurde aber vor-

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11. Die Zeitperspektive in der Konkretisation

läufig nur eine seiner Schichten berücksichtigt, und auch diese nur unter ihrem Zeitaspekt. Die sprachlautliche Schicht wie auch die Schicht der Bedeutungseinheiten wurde zunächst nicht berücksichtigt, *auch nicht* die Tatsache, daß dieses Gedicht aus mehreren Sätzen besteht, die in einer kürzeren oder längeren Phase gelesen werden müssen. Wenn wir die zweite Strophe lesen, ist die erste Strophe bereits gelesen worden und wird im lebendigen Gedächtnis behalten, sobald wir das ganze Gedicht verstehen und zur ästhetischen Erfassung bringen. Auch die sprachlautlichen Gebilde und Erscheinungen, wie z.B. der Reim und die Sprachmelodie des Verses, entfalten sich in den Zeitphasen der Lektüre. Beides, die Sinneinheiten der Sätze und die Verseinheiten lassen eine Rhythmisierung des Zeitflusses des Lesens und der Erscheinung des Gedichts in der Struktur der Aufeinanderfolge seiner Phasen hervortreten. Lassen wir hier die Frage beiseite, ob die "Länge" des Gedichts uns erlaubt, alle seine Sätze im Bereich unserer einen Gegenwart zu lesen, oder ob es so ist, daß die am Anfang stehenden Sätze und Wendungen schon über diesen Bereich hinausgehen oder sogar - bei längeren Gedichten - darüber hinausreichen müssen, wenn wir die letzten Worte gerade erfassen. Denn dies hängt - wie bereits angedeutet - noch in großem Maße von der Spannweite der Gegenwart des Lesers ab. Sie kann bei verschiedenen Lesern und auch bei ein und demselben Leser je nach der Konzentration und der Anspannung seines jeweiligen Bewußtseins schwanken. Ragen aber die ersten Verse bzw. Worte schon über den Bereich unserer Gegenwart hinaus, wenn wir am Ende des Gedichts anlangen, dann müssen sie in die Vergangenheit - sei sie auch noch so "nahe" - versinken und damit im Gewand der Zeitperspektive auftreten, sofern sie noch im Bewußtsein des Lesers mitschwingen. Das kann nicht ohne Einfluß auf die Gestaltung des Gedichts bleiben. Mit der Kürze der aufeinanderfolgenden Sätze, die eher emotionalen Ausbrüchen als ruhig geformten Gedanken gleichen, mit der Wiederholung gewisser Wendungen bringen sie in das Ganze des Gedichts einen Faktor der Unruhe, des Sich-nicht-beherrschen-Könnens in dem überwältigenden Gefühl, das die Schranke des Schweigens durchbricht. Sie, die einzelnen hervorgestoßenen Worte in ihrem Laut, die planlos hingeworfenen Sätze bilden ein Pendant zu dem durch sie bestimmten Gehalt des Dargestellten und ergänzen es auf eine eigene Weise, indem sie zur Fülle der Dynamik und des Gefühls die eigene Unruhe hinzufü-

§ 18. Nacheinander

und System der

Zeilansichten

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gen. Zu erfassen, wie sie aufeinanderfolgen, wie die einen schon abklingen, während die anderen erst anklingen und auftauchen, dies ergänzt das Jetzt des Entzückens durch einen mit ihm harmonisierenden, mit der Erschütterung des lyrischen Subjekts zusammenklingenden Faktor. Und mit dem so gestalteten lyrischen Ich identifiziert sich in fictione der Leser für einen Moment. Es ist klar, wie wichtig es in diesem Fall für die Konstituierung des Gedicht-Ganzen ist, die "früheren" Phasen des Gedichts in ihren eigentümlichen Zeitperspektiven im lebendigen Gedächtnis zu behalten. Schon eine Abschwächung des lebendigen Gedächtnisses und das Ersetzen seiner Funktion durch einsetzende Erinnerungsakte würde das Ganze des sich in der Konkretisation zeigenden Gedichts in Frage stellen und es zu zerstören drohen. Die früheren Phasen des (konkretisierten) Kunstwerks im lebendigen Gedächtnis zu behalten, bzw. sich - wenn das unentbehrlich ist - in allen ihren Schichten an sie zu erinnern, ist natürlich auch bei Werken viel größeren Ausmaßes sehr wichtig. Und zwar ohne Rücksicht darauf, in welchen Zeitstrukturen die in der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten auftretenden Ereignisse und Vorgänge zur Erscheinung kommen. Bei einem größeren Umfang des Werkes wird die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Phänomene der Zeitperspektive, in welchen die früheren Phasen des konkretisierten Werkes auftreten, immer reicher. Welche Phänomene es im einzelnen Fall sind, läßt sich natürlich nicht allgemein sagen, da sie sehr verschieden sein und in verschiedener Auswahl vorkommen können. So kommt es hier lediglich darauf an, auf die besondere Gruppe der Erscheinungen hinzuweisen, welche bei der Erfassung und besonders bei der ästhetischen Erfassung des literarischen Kunstwerks eine bedeutende Rolle spielen. 37 Alle früher besprochenen Phänomene der Zeitperspektive kommen in der Weise, wie der Leser die "früheren" Phasen des (konkretisierten) Werkes im lebendigen Gedächtnis behält oder in der Wiedererinnerung hat, in dieser oder jener Auswahl, in Betracht.

Von den deutschen Philosophen hat zuerst Herder diese Zeit-Phänomene der Aufeinanderfolge der Teile des Kunstwerks gesehen oder mindestens in einer Polemik gegen Lessing erwähnt, ohne sie übrigens näher analysiert zu haben. (Vgl. Kritische

Wälder.) Später hat

nur Fr. Th. Meyer in seiner Poetik [Theodor A. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig 1901; Frankfurt a. M. 1990, II. Abschnitt, S. 45ff. ?] darauf hingewiesen, aber auch er hat die Phänomene der Zeitperspektive und ihre Rolle bei der ästhetischen Erfassung des literarischen Kunstwerks nicht weiter untersucht.

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II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

Indem wir mit den sich uns enthüllenden neuen Phasen des Werkes mitgehen, "sehen" wir die bereits gelesenen Teile des Werks in immer neuen Phänomenen der Zeitperspektive, und zwar gewöhnlich in einer Auswahl, welche durch den Gehalt des gerade gelesenen Teiles des Werkes mindestens mitbestimmt wird. In diesen Wandlungen erst offenbart sich nicht nur die Dynamik des Werkes (und nicht der in ihm dargestellten Geschehnisse allein), sondern auch seine einheitliche Struktur dieser oder jener Art, die in seinen Kompositionseigentümlichkeiten fundiert ist. Diese Kompositionsmomente 38 perzipieren wir (erfahren wir gewissermaßen) im Verlauf der Lektüre, nicht immer aber auf dieselbe Weise. Denn sie ist sowohl vom Werk als auch von der A u f nahmefähigkeit des Lesers und seiner jeweiligen Aufgeschlossenheit für die strukturellen Eigenheiten des Werkes abhängig. A l s Ergebnis dieser Betrachtungen kann gesagt werden: Indem wir uns bei der Lektüre eines Werkes von seinem A n f a n g bis an sein Ende langsam vorschieben, erfassen wir das konkretisierte W e r k von einem immer neuen zeitlichen Gesichtspunkt aus, immer aber nur in einer zeitlichen Ansicht, die sowohl dem vom Leser eingenommenen Standpunkt und seiner Einstellung als auch dem eben gelesenen Teil des gelesenen Werkes entspricht. Keine von diesen Ansichten, von diesen zeitlichen perspektivischen "Verkürzungen" für sich vermag uns während der Lektüre das ganze Kunstwerk in seiner Aktualität gegenwärtig zu machen. Jede von ihnen enthüllt uns in einer "Verkürzung" nur ein Fragment des Werkes. Nur im Nacheinander aller Teile des Werkes während der Lektüre erhalten wir das ganze System seiner Zeitansichten, die - wenn wir sie alle zugleich haben könnten - uns die Fülle des Kunstwerks in e/ner ästhetischen Erfahrung zu geben vermöchten. Dies ist aber gerade durch das Wesen des literarischen Kunstwerks - mit Rücksicht auf eine Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile - ausgeschlossen. Das literarische Kunstwerk kann sich uns in der Lektüre nicht anders zeigen als nur in einem sich in der Zeit entfaltenden Continuum der Phänomene der Zeitperspektive (sofern es natürlich zu keiner Unterbrechung der Lektüre kommt, was z.B. bei einem Roman stets eintritt). Eben damit aber ist es nicht zulässig, eine solche Erfassung des Kunstwerks zu fordern, die sich in einem "Jetzt" vollziehen und alle ->o Erst eine wissenschaftliche Analyse des Werkes, welche über das einfache Lesen und auch über die ästhetische Erfassung hinausgeht, kann diese Kompositionsmomente begrifflich erfassen.

§19. Erkennen nach der Lektüre

163

seine Phasen und Schichten umfassen soll. Die Aufstellung eines solchen Postulats würde nur beweisen, daß man einen Wesenszug des literarischen Kunstwerks nicht erfaßt und auch nicht verstanden hat.

§ 19. Das Erkennen des literarischen K u n s t w e r k s nach der Lektüre Man wird vielleicht sagen, daß wir eine "allseitige" Erkenntnis des Ganzen des Werkes erst in dem Moment besitzen, in welchem wir die Lektüre abgeschlossen haben und uns noch unter dem lebendigen Eindruck des Werkes befinden. Ich werde mich noch später damit beschäftigen, was nach der Lektüre eines literarischen Kunstwerks unternommen werden kann, um es zu einer besseren und anderen Erfassung zu bringen, als dies während der (ersten) Lektüre möglich ist. Aber zu meinen, es sei nach der Lektüre besser oder leichter, das Werk allseitig zu erfassen, ist eine Illusion. Wenn wir unmittelbar nach einer Lektüre das Werk in lebendigem Gedächtnis behalten, bzw. wir uns noch lebendig daran erinnern - man sagt auch manchmal "nacherleben" - , so haben wir es selbstverständlich immer nur in einer Zeitperspektive, und zwar von einem bestimmten Punkt, nämlich vom Ende des Werkes aus. Diese Ansicht des Werkes hat zwar gewisse Vorzüge vor allen anderen im Verlauf der Lektüre gewonnenen Ansichten; sie gibt uns - wenigstens im P r i n z i p - d a s ganze Werk. Wir wissen, daß kein weiterer Teil mehr folgt, daß also nichts fehlt, was natürlich für das Verständnis wichtig ist. Es sollte sich wenigstens im Prinzip alles geklärt haben. Wenn es sich aber um die Zeitperspektive und die Ansicht vom Ende her handelt, so gibt diese Ansicht das Werk nicht etwa adäquater wieder als alle früheren Ansichten. Jedenfalls können die etwaigen perspektivischen "Verkürzungen" nicht beseitigt werden, es ist vielleicht nur noch schwieriger, das Ganze des Werkes vom Ende her zu überschauen. Außerdem ist der sogenannte "Eindruck", den das Werk auf uns in diesem Moment gemacht hat und unter dem wir noch einige Zeit leben, nur ein Nachklang der soeben vergangenen Perzeption (Erfahrung eigener Art). Kein Teil des Werkes ist uns mehr in aktueller Erfassung selbst gegenwärtig, während früher bei der Lektüre wenigstens immer eine Phase gegenwärtig war. Und man muß eine besondere synthetisierende, auf das

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II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

bereits Vergangene gerichtete Erfassungsbemühung unternehmen, um ein Résumé des ganzen Werkes zu erlangen. Es ist aber zuzugeben, daß die Ansicht des Werkes, die wir nach beendeter Lektüre gewinnen bzw. mindestens gewinnen können, aus verschiedenen Gründen eine wichtige Rolle für die Erkenntnis des Werkes spielt. Nicht deswegen, weil wir schon alle Teile des Werkes in der unmittelbaren Lektüre einmal kennengelernt haben, sondern weil wir erst jetzt die endgültige

Anord-

nung sowohl der im Werk dargestellten Gegenstände als auch der Aufeinanderfolge der Teile der Darstellungsweise sowie endlich die Zuordnung aller übrigen Schichten des Werkes zueinander in unserem Erfahrungsfeld haben. Der Leser besitzt also erst jetzt nicht bloß das ganze (rohe) "Material" - wenn es erlaubt ist, dies so zu formulieren - sondern auch das endgültig

geordnete

"Material" mit allen inneren relativen Beziehungen, die zwischen den verschiedenartigen Komponenten des Werkes bestehen. Dies erlaubt dem Leser, eine weitere Erkenntnisarbeit am Werk zu beginnen, und ermöglicht insbesondere den Vollzug sowohl analysierender als auch synthetisierender Erfassungsakte, von denen eine tiefere Erkenntnis des Werkes abhängt. Diese nach der Lektüre einsetzenden (möglichen) Erkenntnisakte müssen später einer besonderen Analyse unterworfen werden. Sie sind sehr mannigfaltig und können auf sehr verschiedene Weise verlaufen, was sowohl von den Eigentümlichkeiten des Werkes selbst als auch von der Einstellung, dem Interesse und den Fähigkeiten des Lesers wesentlich abhängt. Aber alle diese Akte setzen voraus, daß derjenige, der sie zu vollziehen sucht, die erste Lektüre des betreffenden Werkes, von der wir hier einige Züge zu beschreiben suchten, wirklich durchgeführt hat. Ohne sie hat man im Grunde noch keine Erfahrung vom Werk, und alle eventuell ohne sie unternommenen Denk- und Betrachtungsakte, die sich auf das Werk beziehen würden, sind letztlich gegenstandslos. Es ist notwendig, immer wieder auf die Ergebnisse der Lektüre zurückzugreifen, besonders dann, wenn etwaige Einzelheiten des Werkes in Vergessenheit gerieten oder auf Grund der ersten Lektüre nicht zur klaren Erfassung gelangt sind. Die sich nach der Lektüre etwa entwickelnden Erkenntnisvorgänge lassen solche Lücken sichtbar werden und weisen uns wieder auf das Werk selbst hin. Ohne diese Rückkehr zum Werk und ohne erneute Lektüre kann man in dem Bemühen, das Werk in seinem ihm eigenen Aufbau und in seinen spezifischen Eigenheiten wirklich zu verstehen und zur

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§19. Erkennen nach der Lektüre

synthetischen Erfassung zu bringen, nicht vorwärts kommen. Die Lektüre führt uns an die Quelle, an das Werk selbst heran. An dem, was da gegeben werden, bzw. was man da vom Werk gewinnen kann, werden alle so oder anders gewonnenen Urteile über das Werk gemessen. Man kann zwar behaupten, das Kennenlernen des Werkes bei der Lektüre, bei der sich uns zuerst die einzelnen Teile des Werkes konstituieren, bilde nur einen Anfang, eine Vorbereitung zu den später auszuführenden Erkenntnisoperationen am Werk selbst. Aber diese "Vorbereitung" ist als diejenige Phase, in welcher die Erfahrung vom Werk gewonnen wird, nicht bloß unentbehrlich, sondern sie ist auch unersetzlich, weil sie für alle weiteren Erkenntnisoperationen, die eventuell noch folgen, ausschlaggebend ist. Wir können wohl das betreffende Werk noch einmal - im Ganzen oder in einzelnen Teilen - lesen. Die erste Lektüre hat aber - bei allen ihren eventuellen Mängeln - auch solche Vorzüge allen späteren Lektüren gegenüber, daß es weitgehend an ihr liegt, ob eine richtige Erfassung des betreffenden Werkes überhaupt gelingt. Besonders wichtig ist die erste Lektüre bei literarischen Kunstwerken, die in ästhetischer Einstellung perzipiert werden und die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes ermöglichen. Dies wird vielleicht später deutlich

werden.

Momentan müssen wir uns mit diesen Andeutungen zufrieden geben. Jetzt nur noch eine Bemerkung. Die Tatsache, daß das literarische Werk nur in einer Mannigfaltigkeit aufeinanderfolgender und ineinander übergehender Ansichten zur Erscheinung gebracht und nicht in einem einzigen Akt auf einmal erfaßt werden kann - ganz so, wie eine Statue nicht von allen Seiten auf einmal gesehen werden kann - , zeigt ihrerseits vielleicht am deutlichsten, daß das literarische Kunstwerk sowohl den mannigfachen Erfassungsakten, die während der Lektüre vollzogen werden, als auch der Mannigfaltigkeit der Ansichten, in denen es zur Gegebenheit gelangt, transzendent

ist. Es ist

etwas, worauf sich unsere Bewußtseinsakte richten, das sie zu erfassen suchen, das sie treffen oder verfehlen, das aber immer außerhalb dieser mannigfachen Bewußtseinsvorgänge bleibt. Da erst sieht man, wie von Grund aus verfehlt die Theorie ist, nach welcher das literarische Kunstwerk in der "Seele des Schöpfers" oder in der "Seele des Lesers" enthalten sein soll. Sie konnte nur in einer Atmosphäre entstehen, in der man vom literarischen Kunstwerk in seinem eigenen Wesen im Grunde nichts wußte. Man las nur die einzelnen Werke, ohne sich zu Bewußtsein zu bringen, womit man es eigentlich zu tun

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II. Die Zeitperspektive

in der

Konkretisation

hatte und was eigentlich geschieht, wenn man sie liest. Was sich da im Lesen vollzieht, versuchte ich hier in einem ersten Zugriff aufzuweisen. Wir sind aber erst am Anfang und müssen noch viele Schwierigkeiten überwinden und dunkle Punkte aufhellen.

III.

Kapitel: Bemerkungen über das Erkennen des wissenschaftlichen Werkes

§ 20. Über den Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen Werk und dem literarischen Kunstwerk Bevor ich zur Besprechung weiterer Fragen übergehe, muß ich einiges über das Erkennen eines wissenschaftlichen Werkes im Unterschied zum Erkennen eines literarischen Kunstwerks sagen. In meinem Buch Das literarische Kunstwerk suchte ich den Aufbau des "literarischen Werkes" in einem sehr weiten Sinn herauszustellen, dessen besondere Fälle einerseits das literarische Kunstwerk (das Werk der sogenannten "Schönen Literatur") und andererseits verschiedene sprachliche Werke bilden, unter denen das wissenschaftliche Werk an erster Stelle steht. Zu seinem Wesen gehört es, daß es Ergebnisse wissenschaftlicher Erkenntnis auf irgendeinem Gebiet festlegen, enthalten und anderen übermitteln soll, damit die wissenschaftliche Forschung durch seine Leser weiter fortgeführt und entwickelt werden kann. 1 Wenn es daneben noch andere Funktionen ausübt, so gehören diese nicht zu seinem Wesen und es erfüllt sie gewissermaßen zufällig. Dagegen ist das literarische Kunstwerk vor allem nicht dazu bestimmt, einer wissenschaftlichen Erkenntnis ihre begriffliche und urteilsmäßige Prägung und Festlegung zu ermöglichen, noch dient es dazu, anderen solche Ergebnisse zu übermitteln. Und falls es sozusagen durch Zufall dazu kommt, so geht das über seine ihm eigene Funktion weit hinaus. Es dient nicht zur Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern zur Verkörperung in der Konkretisation gewisser Werte ganz besonderer Art, die man gewöhnlich "ästhetische" Werte nennt. Diese Werte bringt es zur Erscheinung, um in der Folge dem Menschen zu ermöglichen, sie zu erschauen und auch ästhetisch zu erleben, was schon in sich einen gewissen Wert birgt. Wenn das literarische Kunstwerk im besonderen Fall aus irgendwelchen Gründen nicht fähig ist, diese Werte zu verkörpern, Vgl. Das literarische

Kunstwerk,

3. Aufl., S. 350-52.

168

III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

dann hilft ihm der eventuell vorhandene ganze Bestand an übermittelter Erkenntnis dieser oder jener Art gar wenig. Es ist dann eine Mißgeburt und gehört nur scheinbar zu der "Schönen" Literatur. Dies gilt auch für den Fall, daß es zwar keine ästhetischen Werte zur Erscheinung bringt, dafür aber wichtige philosophische oder psychologische Einsichten zum Ausdruck bringt. Es ist somit ganz verfehlt, literarische Kunstwerke derart zu befragen und zu interpretieren, als wenn sie verkappte philosophische Systeme wären. Auch wenn literarische Kunstwerke manchmal andere soziale Funktionen ausüben oder zu ihrer Erfüllung verwendet werden, so trägt dies zu ihrem Kunstwerksein nicht das mindeste bei und rettet sie auch als Kunstwerke nicht, wenn sie in ihrer Konkretisation keine ästhetischen Werte verkörpern. Aus diesem fundamentalen Funktions-Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen (literarischen) Werk und dem literarischen Kunstwerk ergibt sich, daß das erste einen ganz anderen Aufbau als das zweite hat, so sehr es auch noch zu den "literarischen Werken" im weiten Sinn gehören mag. Dies läßt sich kurz zusammenfassen. 1. Alle Aussagesätze in einem wissenschaftlichen Werk sind Urteile, die vielleicht nicht alle wahr sind und auch nicht wahr sein müssen, die aber alle den Anspruch erheben, wahr zu sein. Als solche weisen sie auf Begründungszusammenhänge hin, welche diesen Anspruch als legitim zu erweisen haben und entweder in der Erfahrung, also außerhalb aller literarisch gefaßten wissenschaftlichen Werke liegen, oder in Beweisen enthalten sind, die schon literarisch, d.h. in begrifflicher Sprache gegeben werden. Gibt es in einem wissenschaftlichen Werk keine solchen Rückverweise auf Begründungszusammenhänge, dann kann es zwar die Funktion der Übermittlung gewisser Erkenntnisergebnisse noch erfüllen, doch erschwert dies die Verifizierung der in ihm aufgestellten Behauptungen in erheblichem Maß und setzt seinen funktionellen Wert herab. Die literarischen Kunstwerke dagegen (oder mindestens solche, die den Anspruch erheben, Kunstwerke zu sein), enthalten keine echten Urteile, sondern, wie ich anderenorts zu zeigen versuchte, nur bloße Quasi-Urteile, die auch keinen Anspruch erheben, wahr zu sein, und zwar auch dann, wenn sie einen solchen Inhalt haben, daß sie unter dem Gesichtspunkt des Wahrseins betrachtet werden könnten, sobald sie aus dem Kunstwerk herausgenommen

§ 20. Wissenschaftliches Werk / literarisches Kunstwerk

169

wären. Auch dann fungieren sie im literarischen Kunstwerk nicht als wahre Sätze im logischen Sinn. Eine analoge Verschiedenheit besteht in den beiden Typen literarischer Werke zwischen den Sätzen, die eine andere sprachliche Struktur haben. So sind z.B. Fragesätze im wissenschaftlichen Werk keine echten Fragen, die an eine seinsautonome Sphäre ernstlich gestellt werden, d.h. eine Antwort erheischen, und die auch beanspruchen, "richtig" zu sein, obwohl es sich manchmal zeigt, daß sie unrichtig sind und z.B. ein falsch gestelltes Problem formulieren. 2 Solche Fragen kommen aber im literarischen Kunstwerk nicht vor, was natürlich nicht ausschließt, daß solche Fragen im literarischen Kunstwerk von den dargestellten Personen gestellt werden, aber dann diese Funktion nur im Rahmen der dargestellten Welt beibehalten. Dasselbe bezieht sich übrigens auch auf Sätze, die von einer dargestellten Person als Urteile ausgesprochen werden. Auch diese erheben nur im Rahmen der dargestellten Welt den Anspruch, wahr zu sein, sie sind da aber selbst bloß "dargestellte Behauptungen" und gehören nicht zu dem Grundtext des betreffenden literarischen Kunstwerks. 3 2. Zu einem wissenschaftlichen Werk gehört zwar auch (so wie zum literarischen Kunstwerk) die Schicht der "dargestellten Gegenständlichkeiten". Sie werden auch hier von den Satzsinnen intentional entworfen. Die Bedeutungsintentionen dieser Sätze gehen normalerweise durch diese Gegenständlichkeiten hindurch, suchen entsprechende (analog bestimmte) Gegenständlichkeiten in einer vom wissenschaftlichen Werk unabhängigen Seinssphäre, z.B. in der realen Welt, zu treffen und erheben damit den Anspruch, diese Gegenstände durch ihren Sinn so zu bestimmen, wie sie in sich selbst sind. Darin liegt der Wahrheitsanspruch der Urteilssätze eines jeden wissenschaftlichen Werkes. Er hat seine Quelle in der Behauptungsfunktion der Urteilssätze. Die im wissenschaftlichen Werk entworfenen, bloß dargestellten Gegenständlichkeiten bilden zwar ein aus der Intentionalität des Satzsinnes sich notwendig ergebendes Gebilde, sind aber zugleich nur ein unwillkürliches Nebenprodukt,

Vgl. dazu meine "Essentialen Fragen", Jahrbuch f . Philosophie und Forschung, Bd. VII, 1925. Vgl. dazu Das literarische Kunstwerk, § 26.

phänomenologische

170

III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

das beim richtigen Lesen 4 eines wissenschaftlichen Werkes überhaupt nicht zur Sicht kommt. Die Funktion des wissenschaftlichen Werkes besteht darin, die Intention des Lesers, welche von ihm im Verstehen der Sätze (Urteile) vollzogen wird, auf die dem Werk transzendenten Gegenstände zu lenken; diese Gegenstände sollen an sich unabhängig vom Werk existieren und so bestimmt sein, wie es sich eben aus dem Sinn der im Werk auftretenden Urteilssätze ergibt. 3. Auf den ersten Blick würde man vielleicht geneigt sein zu behaupten, die in einem wissenschaftlichen Werk dargestellten Gegenständlichkeiten hätten hauptsächlich die Funktion, die ihnen entsprechenden transzendenten, in einer seinsautonomen Seinssphäre bestehenden Gegenstände abzubilden. Indessen ist dem nicht so. Um diese Funktion wirklich auszuüben, müßten sie, so wie in einem literarischen Kunstwerk, dem Leser bei der Lektüre gegeben werden. Das ist aber normalerweise nicht der Fall. "Normalerweise", d.h. dann, wenn das betreffende wissenschaftliche Werk so gelesen wird, wie es gelesen werden soll. Wie lesen wir es aber, wenn wir seine Funktion richtig erfassen? Wir lesen es dann als eine Mannigfaltigkeit oder einen Zusammenhang von Urteilen, die über gewisse vom Werk unabhängige Gegenstände etwas behaupten. D.h., wir vollziehen den Sinngehalt dieser Urteile von vornherein so, daß wir uns in der dem Werk entnommenen Meinung direkt den betreffenden seinsunabhängigen Gegenständen zuwenden und sie im Licht dieser Meinung zu erfassen suchen, und zwar sowohl in ihrer qualitativen Bestimmtheit als auch in ihrer Seinsweise, die ihnen in der Behauptungsfunktion zugeschrieben wird. In dieser Einstellung des Lesers sind für ihn die rein intentionalen, bloß dargestellten Gegenständlichkeiten - wie ich mich einst ausdrückte - "transparent". Sie befinden sich überhaupt nicht im Blickfeld des Lesers. Sie werden infolgedessen weder mit den seinsunabhängigen Gegenständlichkeiten verglichen, noch sind sie dazu da, sie "abzubilden" oder sie etwa zu "repräsentieren". Es gibt aber Momente in der Lektüre eines wissenschaftlichen Werkes, wo sie vom Leser gesehen und auch erfaßt werden. Das ist der Augenblick, in welchem man entweder etwas nicht versteht oder daran zu zweifeln beginnt,

Wie eben ein wissenschaftliches Werk richtig gelesen wird und wie es noch anders gelesen werden darf - das ist eine Frage, auf die ich sogleich zurückkommen werde.

§ 20. Wissenschaftliches

Werk / liierarisches

Kunstwerk

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ob die im Text stehenden Sätze wirklich so wahr sind, wie sie vorgeben zu sein. Dann versucht man, sich zu Bewußtsein zu bringen, was denn die "Auffassung" oder - wie man sagt - den "Gedanken" des Verfassers bildet. Und dann konzentriert man die Aufmerksamkeit entweder auf den Sinn der Sätze selbst oder auf die ihnen entsprechenden intentionalen Korrelate. Man liest die Sätze aufs neue und beachtet alle verwendeten Worte sowie ihre syntaktischen Zusammenhänge usw., um das Verstehen nachzukontrollieren. Im zweiten Fall sucht man die Satzkorrelate und insbesondere die Sachverhalte zu erfassen, man vollzieht die früher beschriebene Operation der "Objektivierung", wonach man endlich versucht, die durch die Sätze entworfenen Gegenständlichkeiten, so wie sie eben gemeint sind bzw. so wie [sie] sich auf Grund der vollzogenen (kontrollierten) Objektivierung konstituiert haben, zur klaren Erfassung zu bringen. Die dargestellten Gegenständlichkeiten zeichnen sich dann entweder klar und eindeutig ab, oder sie enthalten gewisse dunkle Punkte oder sozusagen Doppelbestimmungen in sich oder bilden überhaupt kein verständlich zusammenhängendes Ganzes. Und erst da, wo diese Arbeit des Erfassens und des Verstehens der dargestellten Gegenständlichkeiten relativ abgeschlossen zu sein scheint, beginnt man, das erzielte Ergebnis mit einer "Wirklichkeit" zu konfrontieren, um nachzuprüfen, ob die - infolge der Behauptungsfunktion - bestehende Meinung berechtigt ist, "so etwas" existiere in einer vom Werk seinsunabhängigen Sphäre. Erst in diesem Moment tritt die den dargestellten Gegenständen verliehene Funktion der "Abbildung" zutage und wird in der Konfrontation mit der "Wirklichkeit" auf ihre Leistungsfähigkeit geprüft. Dabei muß man natürlich über das betreffende wissenschaftliche Werk hinausgehen und in einem aus eigenen Kräften unternommenen Versuch einen direkten Kontakt mit dieser Wirklichkeit herstellen. Auf welchem Wege dies geschieht, hängt noch von verschiedenen Umständen ab. Es kann z.B. ein Rückgriff auf entsprechende Erfahrungen sein oder die Berufung auf Tatbestände, die in anderen wissenschaftlichen Werken als bereits erkannt und als unzweifelhaft existierend anerkannt werden. Der auf diesem Weg erzielte Vergleich der in dem betreffenden Werk dargestellten Gegenständlichkeiten mit denjenigen, die uns dann auf irgendeinem von ihm unabhängigen Wege gegeben sind, kann zu verschiedenen Ergebnissen führen. Entweder werden die dargestellten Gegenstände als eine richtige, getreue Abbildung der "Wirklichkeit" anerkannt, oder sie werden unter Beru-

172

///. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

fung auf die "Erfahrung" als Fiktion bzw. als Irrtum zurückgewiesen. Endlich können wir genötigt werden, die Ergebnisse der bisher gewonnenen Erfahrung auf Grund der in dem betreffenden Werk zunächst bezweifelten Tatbestände zu korrigieren oder zu ergänzen und somit in einem neuen Versuche eine "richtigere" Erfahrung zu gewinnen. Wir können dann auch zu dem Ergebnis kommen, daß die neu gewonnene Erfahrung den Wahrheitsanspruch des Werkes bestätigt. Alle diese Operationen und Verhaltensweisen des Lesers und die damit verbundenen Wandlungen in der Funktion der dargestellten Gegenständlichkeiten fallen fort, wenn wir das betreffende wissenschaftliche Werk einfach schlicht lesen und die Intentionen der Urteilssinne vollziehend uns direkt auf die dem Werk transzendenten Gegenstände beziehen. Auf eine andere Weise fallen diese Operationen fort, wenn man es mit einem literarischen Kunstwerk zu tun hat. Das Augenmerk des Lesers wird sofort direkt auf die dargestellten Gegenständlichkeiten in ihrer eventuellen Abbildungsfunktion gerichtet. Sie treten infolgedessen von vornherein in ihren Eigentümlichkeiten auf und spiegeln dem Leser eine eigenständige Wirklichkeit vor, so als ob sie diese Wirklichkeit selbst wären. Wenn sie aber einmal dem Leser zur Quasi-Selbstgegenwart gekommen sind, bilden sie bei entsprechender Einstellung des Lesers das Objekt einer ästhetischen Erfassung und werden in ihren ästhetisch relevanten Qualitäten von ihm "ausgekostet", wonach wiederum jeglicher Vergleich mit einer transzendenten "wirklichen" Wirklichkeit wegfällt. Denn die im Werk selbst dargestellten Gegenständlichkeiten treten als diese vermutliche Wirklichkeit selbst auf. 4. In einem wissenschaftlichen Werk können - wie bereits bemerkt - in den verschiedenen Schichten ästhetisch relevante Qualitäten auftreten und sogar zur Konstituierung bestimmter ästhetischer Werte führen. Sie brauchen aber in diesem Werk gar nicht vorhanden zu sein und stellen - falls sie doch da sind - einen im Grund entbehrlichen Luxus dar. Manchmal können sie sogar das betreffende Werk in der Ausübung der ihm eigenen Funktion stören, indem sie dem Leser die Annäherung an die im Werk zur erkenntnismäßigen Erfassung gebrachte transzendente Wirklichkeit erschweren. In einem literarischen Kunstwerk dagegen bilden diese Qualitäten nicht nur ein zu seinem Wesen gehöriges Element, sondern das bedeutendste Moment in dem zur ästhetischen Konkretisierung gebrachten Kunstwerk. Ihre polyphone Harmonie

§ 20. Wissenschaftliches Werk / literarisches Kunstwerk

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ist der ästhetische Wert des Kunstwerks; wenn sie dagegen fehlen oder wenn sie zu keinem Zusammenklang führen, sondern in einem qualitativen Widerstreit enden, der in keinem höheren Zusammenklang aufgelöst werden kann, dann ist das betreffende Werk entweder überhaupt wertlos oder mit einem negativen Wert (Unwert) belastet, und seine sonstigen etwaigen Vorzüge können es dann als Kunstwerk trotzdem nicht retten. Und ein wertvolles Kunstwerk zu sein, ist j a seine "Bestimmung". 5. Wie verhält es sich aber in einem wissenschaftlichen Werk mit der Schicht der Ansichten? Sie können im wissenschaftlichen Werk auftreten, im allgemeinen brauchen sie aber in ihm gar nicht vorhanden zu sein. Ob sie da sind und sozusagen an richtiger Stelle parat gehalten werden, dies hängt vor allem vom Gebiet der Gegenstände ab, die im Werk behandelt werden. Es kann sich da um Gegenstände handeln, die zur Sphäre der sinnlich wahrnehmbaren Dinge gehören und etwa zur Erscheinung gebrachte Kunstwerke sind. Aber es können im Gegenteil Gegenstände sein, die überhaupt nicht wahrnehmbar und nicht einmal vorstellbar sind. So ist es z.B. in manchen Gebieten der mathematischen Forschung. Dann fehlen im Werk die schematisierten Ansichten, und sie müssen überhaupt fehlen. Das betreffende wissenschaftliche Werk ist dann einfach nur dreischichtig. W o sie aber durch die Eigentümlichkeiten der Doppelschicht der Sprache sowie durch die in ihr bestimmte Art der Gegenstände parat gehalten und auch vom Leser zur Konkretisierung gebracht werden, da kann noch zweierlei eintreten. Entweder üben sie dann eine Hilfsfunktion bei der erkenntnismäßigen Erfassung der Gegenstände aus, auf die sich die Sätze des Werkes beziehen, oder auch nicht. Im letzteren Fall sind sie entbehrlich und könnten ohne Schaden für das Werk fortfallen. Sie können aber auch den Leser bei der Erlangung der Erkenntnis des Werkes stören. Dann wäre es besser, sie wären überhaupt nicht vorhanden oder würden mindestens nicht durch den Leser aktualisiert. Im ersteren Fall dagegen können sie dem Leser behilflich sein, sich die Gegenstände, um die es sich handelt, leichter "vorzustellen" und damit auch das Werk genauer zu verstehen, bzw. sich in die Situation, die in der betreffenden dem Werk transzendenten Seinssphäre bestehen soll, besser einzuleben. Deswegen werden manchmal Werke, die im Grund unwahrnehmbare und auch unvorstellbare Gegenstände betreffen, wie z.B. in der Mikrophysik, absichtlich inhaltlich und formal so geschrieben, daß sie - wie man sagt - "Modelle" verwenden,

174

III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

d.h. an Stelle der Gegenstände, um die es sich eigentlich handelt, andere, aber mit ihnen in gewissen Hinsichten isomorphe Gegenstände bestimmen, welche den Vorzug haben, daß sie wenigstens im Prinzip wahrnehmbar sind und daß ihre Darstellung eine Mannigfaltigkeit schematisierter Ansichten vorbestimmt und parat hält. Mit Hilfe dieser Ansichten vermag dann der Leser, sich (per analogiam) jene Situation, um die es sich eigentlich handelt, besser "auszumalen", dadurch die Akte des eigentlichen Verstehens des Textes zu vollziehen und auch zur Erfassung dieser Situation überzugehen. Dann ist das Vorhandensein der entsprechenden Ansichten im wissenschaftlichen Werk berechtigt, obwohl sie eigene Gefahren für die richtige Verwendung solcher Werke mit sich bringen. Sie spielen aber auch dort, wo sie vorhanden sind, eine ganz andere Rolle, als es im literarischen Kunstwerk der Fall ist. In diesem letzteren dienen sie zwar auch zur "Ausmalung" der Gegenstände, aber nicht als "Modelle" anderer, dem Werk transzendenter Gegenstände, sondern eben als der im Kunstwerk selbst zur Darstellung gelangenden selbstherrlichen "Wirklichkeit". Dies ist aber nur ihre Funktion der Veranschaulichung einer anderen Schicht desselben Werkes selbst, eine Funktion, die übrigens die Ratio ihres Vorhandenseins im Kunstwerk gar nicht erschöpft. Ihre wichtigste Funktion besteht darin, in ihrem Gehalt neuartige, ästhetisch valente Qualitäten sichtbar zu machen und eben damit an der Konstitution des polyphonen ästhetischen Wertes des konkretisierten Kunstwerks teilzunehmen, ihn zu bereichern und den Zusammenklang der ästhetisch valenten Qualitäten zu konkretisieren. Es ist ein Mangel oder ein Fehler bei einem literarischen Kunstwerk, wenn die paratgehaltenen Ansichten fehlen oder nur sehr selten auftreten und an ästhetisch valenten Qualitäten arm sind, oder endlich, wenn sie einen Mi&klang in die Polyphonie dieser Qualitäten bringen. Das Fehlen der Ansichten-Schicht in einem wissenschaftlichen Werk dagegen ist - abgesehen von dem bereits erwähnten besonderen Fall, wo sie an der Erkenntnisfunktion des Werkes beteiligt ist - vollkommen bedeutungslos. 6. Dasselbe gilt endlich auch für die metaphysischen Qualitäten, die im literarischen Kunstwerk eine oft sehr große Rolle spielen; dagegen sind sie im wissenschaftlichen Werk - natürlich den Fall ausgenommen, wo sie selbst den Gegenstand der Betrachtung bilden! - ganz entbehrlich und können, wenn sie manchmal doch zur Selbstoffenbarung gelangen, einen Störfaktor bilden. Wenn sie aber in einem wissenschaftlichen Werk zum Thema der Be-

§ 21. Verslehen vs. perzeptives

Erfassen

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trachtung gemacht werden, so spielen sie in ihm eine völlig andere Rolle als in einem literarischen Kunstwerk: sie sollen da jedenfalls nicht den ästhetischen Wert des Werkes mitkonstituieren, und es kommt nicht so sehr darauf an, daß sie zur Selbstoffenbarung gelangen und den Leser in eine besondere Emotion versetzen, sondern nur, daß sie in ihrer Eigentümlichkeit erkannt und - wo dies überhaupt möglich ist - begrifflich gefaßt werden. Das wiederum ist im Kunstwerk gar nicht der Zweck ihres Vorhandenseins. Es ließen sich noch mehr Unterschiede zwischen einem wissenschaftlichen und einem "literarischen" Werk im engeren Sinn herausarbeiten. Man könnte z.B. verschiedene Typen wissenschaftlicher Werke herausstellen und ihre Eigentümlichkeiten zu bestimmen suchen. Das Gesagte genügt aber, die Unterscheidung zwischen diesen beiden Grundarten "sprachlicher" Werke als begründet zu betrachten.

§ 2 1 . Das Verstehen des wissenschaftlichen Werkes und die perzeptive Erfassung des literarischen Kunstwerks Es ist merkwürdig, daß es bis jetzt eigentlich keine Theorie über das Erkennen des wissenschaftlichen Werkes gibt. Dies ist um so merkwürdiger, als von der Lösung der Fragen, die sich da aufdrängen, die Entscheidung des Problems abhängt, wie die Wissenschaft als ein Gebilde möglich ist, das intersubjektiv verifizierbare Ergebnisse der wissenschaftlichen Erkenntnis enthält. Die so verstandene Wissenschaft entwickelt sich allmählich in einem geschichtlichen Prozeß vermöge der Forschungen der einzelnen Wissenschaftler und durch die Niederlegung ihrer Ergebnisse in wissenschaftlichen Werken. Zur Entstehung und zur weiteren Entwicklung der Wissenschaft ist unentbehrlich, daß sich die Wissenschaftler gegenseitig verstehen und sich über die erzielten Ergebnisse und auch über die noch offenen Fragen bzw. die eventuell entstehenden Zweifel einigen. Denn nur auf diesem Weg ist eine Kontrolle und eine Verifizierung oder eine Falsifizierung der Ergebnisse, wo dies nötig wäre, möglich. Das gegenseitige Verstehen wird zwar teils in mündlichen Diskussionen, teils in schriftlich niedergelegten Werken erzielt, doch kommt beides letztlich auf dasselbe hinaus. Die bloß gesprochenen Behauptungen und Theorien sind im Grunde auch sprachlich (bzw. "literarisch") geformte Wer-

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III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

ke, obwohl sie nicht auf dem Papier niedergelegt worden sind. Den Inhalt dieser Werke kennenzulernen, ist aus doppeltem Grund für die Existenz und die Fortentwicklung der Wissenschaft notwendig: Erstens deswegen, weil wir alle dieselben sprachlich formulierten Ergebnisse erfassen müssen, wenn überhaupt der Vorgang der Kontrolle (der Verifizierung bzw. Falsifizierung) in Gang gebracht werden und sinnvoll sein soll (sonst kommt es zu dem sogenannten "Aneinander-Vorbeireden", das zu keinem Ergebnis führt). Zweitens aber können wir nur mit Hilfe der wissenschaftlichen Werke erfahren, was in der betreffenden Wissenschaft bereits von anderen geleistet wurde und auf welchem Wege dies geschah. Dies kann unseren eigenen Erkenntnisbemühungen und unserer Unwissenheit in den Fällen behilflich sein, in denen wir allein nicht zu Rande kämen. Alle unsere jetzige wissenschaftliche Erkenntnisarbeit ist nur eine Fortsetzung und Ergänzung der bereits geschaffenen Wissenschaft, und wissenschaftliche Werke entlasten nur das Gedächtnis der Menschheit. Ohne das Bestehen der ganzen wissenschaftlichen Literatur wäre nicht bloß jeder Fortschritt der Wissenschaft und der menschlichen Kultur aufgehalten, sondern es wäre auch unmöglich, das bereits erreichte Niveau zu halten. Es ist also höchst wichtig, daß wissenschaftliche Werke nicht bloß vorhanden sind, sondern daß sie auch genau in dem Sinn gelesen und verstanden werden, der in seinen Sätzen und Satzzusammenhängen enthalten ist.5

Man würde vielleicht geneigt sein, diesen Satz anders zu formulieren. Nämlich: Es ist wichtig, daß das wissenschaftliche Werk genau in dem Sinn verstanden wird, den ihm sein Verfasser gegeben hat (der von seinem Verfasser gemeint war). Eine solche Formulierung führt aber das Problem auf einen Abweg, nämlich auf die Frage nach der Zusammenstimmung der Denkerlebnisse

zweier Menschen, so als ob es zwischen ihnen kein

identisches

Sinngebilde - eben das wissenschaftliche Werk selbst - gäbe und als ob dieses Werk nur ein Stimulans zur Weckung verschiedener Gedankenerlebnisse wäre, ein Stimulans, das manchmal, wie es scheint, versagt; es gibt aber dann kein Mittel, seine Fähigkeit in dieser Hinsicht zu erweisen. Das ist ein RUckfall in das psychologistisch-positivistische Fahrwasser, bei dem das wissenschaftliche Werk nur beschmutztes Papier ist. Auf diesem Wege gibt es auch gar keine Lösung des Problems. Auch die neupositivistische Zuruckführung der Sätze in ihrer sprachlautlichen Schicht auf Tintenkleckse, in ihrem Sinn auf die "Verifizierbarkeit", löst das Problem nicht. (Vgl. dazu meinen Vortrag auf dem VIII. Internat. Kongreß für Philosophie, "Der logistische Versuch einer Neugestaltung der Philosophie" [Prag 1934]; auch ["L'essai logistique d ' u n e refonte de la philosophie"] Revue phique [vol. IX, nos. 7-8], Paris 1935.)

philoso-

§ 21. Verstehen vs. perzeptives

Erfassen

177

Aber dann ist es ebenso wichtig zu wissen, auf welche Weise sich ein Verstehen des wissenschaftlichen Werkes vollzieht und wie in dieser Verfahrensweise eine getreue und erschöpfende Erfassung des Sinnes der im Werk auftretenden Sätze erzielt werden kann. Es ist auch außerordentlich wichtig zu untersuchen, welche Gefahren und Schwierigkeiten dem richtigen Verstehen des wissenschaftlichen Textes im Wege stehen, und ob und wie sie eventuell beseitigt werden können. Denn, wenn es sich eventuell zeigen sollte, daß es auch bei größter Anstrengung und äußerster Vorsicht nicht möglich ist, den Sinn der Sätze eines wissenschaftlichen Textes zu eruieren und wirklich eindeutig zu verstehen, dann wäre die Möglichkeit, in der Forschung verschiedener Wissenschaftler identische Erkenntnisergebnisse zu erzielen, einem glücklichen Zufall überlassen. 6 Und jedenfalls wäre von einer gegenseitigen Unterstützung in der Forschung und damit von einem wirklichen Fortschritt in der Entwicklung der Wissenschaft wohl keine Rede. Um da zunächst den ersten Schritt zur Lösung der vor uns liegenden Aufgabe zu tun, wird es nützlich sein, uns zu Bewußtsein zu bringen, welche Unterschiede zwischen dem Erkennen des wissenschaftlichen Werkes und dem Erkennen des literarischen Kunstwerks bestehen. Daß sie überhaupt bestehen, scheint sich aber aus der Verschiedenheit der Werke der beiden Typen zu ergeben. Wenn wir ein wissenschaftliches Werk zu Forschungszwecken lesen (also nicht etwa, um uns an seinem Stil, an seiner Komposition, an der Klarheit des Gedankens usw. zu ergötzen), so wollen wir durch seine Vermittlung letztlich ein Wissen von denjenigen Gegenständlichkeiten erlangen, auf welche sich die in ihm auftretenden Urteile beziehen, und zwar genau dasjenige Wissen, das uns durch das Werk vermittelt werden soll. Unser Interesse für das betreffende Werk ist dann viel beschränkter und viel einfacher als dasjenige, das wir bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerks, insbesondere bei ästhetischer Einstellung, haben. Der Aufbau des letzteren ist viel komplizierter und rei-

Diese Gefahr würde im Grund unüberwindlich, wenn die psychologistische Auffassung des literarischen Werkes richtig wäre. Deswegen war es für mich von grundlegender Bedeutung, mir zunächst den Aufbau des literarischen Werkes klarzulegen. Aber selbst die Herausstellung einer solchen Struktur des literarischen Werkes, wie ich sie in Umrissen geklärt zu haben glaube, ist für die Lösung des Problems, vor lem wir jetzt stehen, nicht hinreichend.

178

III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

eher als der des wissenschaftlichen Werkes *, in dem viele Elemente und Momente bei der Lektüre bei der angedeuteten Einstellung ohne größere Bedeutung sind*. So werden vor allem alle ästhetisch relevanten Qualitäten, die

in

der

Schicht

der

sprachlautlichen

Gebilde

des

betreffenden

wissenschaftlichen Werkes eventuell vorhanden sind, völlig irrelevant. Sie werden auch bei der Lektüre gewöhnlich außer acht gelassen, auch wenn sie sich irgendwie anschaulich zeigen. Die sprachlautliche Schicht hat im wissenschaftlichen Werk ausschließlich Bestimmung der Wortbedeutungen

die Funktion, ein Mittel

zur

bzw. der Satzsinne zu sein und spielt sonst

im Werk gar keine Rolle. Da die Wortlaute und die sprachlautlichen Erscheinungen - bekanntlich - sehr schwankend sind und durch verschiedene Intonation zur Bestimmung eines anderen Sinnes als des vorgesehenen führen könnten, so könnte es vorteilhaft erscheinen, die Lautschicht aus dem wissenschaftlichen Werk überhaupt fortzulassen und durch ein für alle Male eindeutig festgelegte Schriftzeichen, die bloße Begriffssymbole wären, zu ersetzen, wie das z.B. in der positivistischen mathematischen Logik postuliert wird, aber im Grunde nie voll durchgeführt worden ist. Wirklich große literarische Kunstwerke getreu zu übersetzen, scheint kaum möglich zu sein, während bei wissenschaftlichen Werken eine "gute" Übersetzung nicht ausgeschlossen, wenn auch oft sehr schwierig ist. Dies weist daraufhin, daß die lebendige, natürliche Sprache mit ihrem wortlautlichen Material und mannigfachen stehenden Wendungen mehr zu leisten vermag, als künstliche wissenschaftliche Symbole. Und auch mehr als eine andere natürliche Sprache, welche wiederum über andere Möglichkeiten zur Ausprägung der Gedanken verfügt. Abgesehen von verschiedenen außersemantischen Funktionen, die entsprechende Wörter zweier lebender Sprachen analog ausüben können, die in wissenschaftlichen Sprachen manchmal eher störend wirken können, ist es in zwei verschiedenen Sprachen oft sehr schwierig, Worte zu finden, die genau denselben Sinn bzw. dieselbe Vieldeutigkeit haben. Die subtilen Verschiebungen des Sinnes einzelner Wörter in Wendungen, die auch im wissenschaftlichen Werk unersetzliche Dienste leisten können, sind rein begrifflich kaum zu fassen, so daß es schwierig wäre, sie durch künstliche Symbole zur Abhebung zu bringen. Nicht alle Wörter lassen sich in ihrem Sinn streng definieren, wie das die logistischen Versuche bei der Bildung formalisierter Sprachen deutlich gezeigt haben. Es ist eine Illusion zu

S 21. Verstehen vs. perzeplives

Erfassen

179

meinen, die sprachlautliche Schicht im wissenschaftlichen Werk könnte überhaupt so gestaltet werden, daß jede Mehrdeutigkeit beseitigt und durch eine eindeutig festgelegte Schicht graphischer Symbole ersetzt wäre. In diesen Bemerkungen zeigt sich uns aber, worum es sich bei der "richtigen" Erfassung des wissenschaftlichen Werkes vor allem handelt. Die in ihm auftretenden Wörter sollen in ihrem Laut ( bzw. im Schriftzeichen) genau notiert und mit dem, was an ihnen für die eindeutige Bestimmung der Bedeutung wesentlich ist, zum Verstehen des Werkes verwendet werden. Alles übrige, was da noch an Wortlauten vorhanden ist und diese oder jene Funktion ausüben kann, darf bei der Lektüre einfach übersehen werden, und es ist eigentlich gut, wenn es dazu wirklich kommt. Denn die Beachtung etwa der künstlerischen Funktion der sprachlautlichen Erscheinungen kann bei dem Versuch, das wissenschaftliche Werk richtig zu verstehen, störend sein. Es ist überhaupt wichtig, sich da vom Einfluß der ästhetisch-emotionalen Einstellung zu befreien, um bezüglich der im wissenschaftlichen Werk behandelten Gegenstände reine Erkenntnisfunktionen frei walten zu lassen. Analog verhält es sich mit den in einem wissenschaftlichen Werk eventuell parat gehaltenen Ansichten, sofern sie nicht eine besondere Erkenntnisfunktion im Werk ausüben. Man braucht sie beim Lesen eines wissenschaftlichen Werkes im allgemeinen nicht zu aktualisieren oder gar zu beachten. Auch die Aufgabe, etwaige im Gehalt der Ansichten auftretende ästhetisch relevante Qualitäten mit zu erfassen, fällt bei der Lektüre des wissenschaftlichen Werkes fort. Dasselbe gilt für alle ästhetisch relevanten Qualitäten, die in einem wissenschaftlichen Werk auftreten können. Insofern vereinfacht sich die Funktion des Lesens in diesem Fall beträchtlich, und es scheint viel leichter zu sein, ein wissenschaftliches Werk als ein literarisches Kunstwerk zu lesen. Nichtsdestoweniger bestehen besondere Schwierigkeiten, auf die hier noch vorbereitend einzugehen ist. Die Hauptaufgabe, die dem Leser gestellt wird, bildet das richtige und erschöpfende Verstehen der Schicht der Bedeutungseinheiten des Werkes. Die vorliegenden Schwierigkeiten sind je nach Werk und auch je nach dem Erkenntnisgebiet, zu dem das betreffende Werk gehört, und endlich auch je nach dem Stand des Wissens auf diesem Gebiet sehr verschieden; sie können sehr groß oder auch unbedeutend sein, doch verschwinden sie nie. Im Gegensatz zu einem literarischen Kunstwerk, wo die Vieldeutigkeit einzelner Wörter als

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III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

auch ganzer Sätze beabsichtigt und oft ein Mittel der Darstellung sein kann, wo vieles in Vergleichen, Metaphern und uneigentlicher, bildlicher Redeweise gesagt wird, und wo alle diese Erscheinungen der Sprache gar kein Fehler in der künstlerischen Gestaltung zu sein brauchen, ja im Gegenteil oft bei der Hervorbringung ästhetischer Effekte eine durchaus positive und sogar unentbehrliche Rolle spielen können, ist es das Ideal eines wissenschaftlichen Werkes, einen möglichst eindeutigen,

"strengen", präzisen Text, d.h. vor al-

lem, eine so gestaltete Schicht der Bedeutungseinheiten zu haben. Und vieles, wenn nicht alles, muß darangesetzt werden, dieses Ideal bis zu einem hohen Grad zu realisieren. Es kann aber im Grunde nie voll realisiert werden. Immer bleibt - wie gesagt - eine Spur an Vieldeutigkeit übrig. Infolgedessen ist der Leser - auch derjenige, der den Intentionen des Werkes zu folgen gewillt ist fast nie gezwungen, das Werk auf eine bestimmte, ganz eindeutige Weise zu verstehen. Ist er unkritisch oder steht er zu stark unter dem Einfluß eigener Sprachgewohnheiten, dann liest er das Werk automatisch in derjenigen Deutung, die ihm beim Lesen in den Sinn kommt, und ahnt nicht einmal, daß irgendwelche Vieldeutigkeiten im Text vorhanden sind, die die Möglichkeit eröffnen, den Text anders zu verstehen. So kann diese Weise des Lesens zu groben Mißdeutungen führen. Ist der Leser kritisch genug und feinfühlig für Mehrdeutigkeiten, so steht er oft vor der Notwendigkeit, sich zu entscheiden, welche von den sich ankündigenden Deutungen des Textes durch ihn hineingelesen sind. Bei gut und verantwortlich geschriebenen wissenschaftlichen Werken kommt es selten vor, daß keine dieser Deutungen vor den anderen als die "wahrscheinlichste" ausgezeichnet ist. Um sie aber zu finden und sich auch für sie zu entscheiden, muß der Leser Gründe dafür suchen, warum sie wirklich die "wahrscheinlichste" ist. Es gibt verschiedene Mittel und Wege, diese Gründe zu finden, z.B. die Erforschung der Eigentümlichkeiten der Sprache des Werkes (insbesondere der wissenschaftlichen Terminologie des betreffenden Erkenntnisgebietes), bzw. der Sprache des Verfassers, die Berücksichtigung anderer im Zusammenhang stehender Sätze, der aus diesen Deutungen folgenden Konsequenzen und insbesondere der etwa auftretenden Widersprüche, die bei einer anderen Deutung vermieden worden wären. Wie dies im einzelnen verlaufen mag, kann nur am bestimmten Werk gezeigt werden. Aber eins ist sicher: wenn es auch gelingt, auf diesem Weg eine Entscheidung zu treffen und die "wahrscheinlichste" Deutung zu wählen, dann

§21. Verstehen vs. perzeptives

Erfassen

181

wird diese Wahl gewöhnlich mit Hilfe des Verständnisses der anderen Teile des Werkes (oder auch anderer Werke) getroffen und ist nur so weit als richtig zu erkennen, als eben diese anderen Teile richtig und eindeutig verstanden wurden (falls sie natürlich überhaupt eindeutig verstehbar sind). Die Richtigkeit der Entscheidung des Lesers ist durch die Richtigkeit seines Verständnisses der anderen Teile des Werkes (oder anderer Werke) bedingt. Das Problem des eindeutigen Verstehens des Textes wissenschaftlicher Werke verschiebt sich bei diesem Verfahren, bzw. bei dem Versuch, aus einer bemerkten Vieldeutigkeit herauszukommen, nur vom Verstehen eines Textes auf das Verstehen anderer Texte. Ist es überhaupt möglich, bei diesem Wandern und Kreisen das feste Land der Eindeutigkeit zu erreichen? Weiter ist auch klar, daß das Lesen sich hier nicht so abspielen kann, wie wir es zunächst bei der Lektüre des literarischen Kunstwerks gefordert haben, nämlich in einem gradlinigen und nicht unterbrochenen Ablaufen aller Phasen des Werkes vom Anfang bis ans Ende. Was dort in bezug auf eine adäquate ästhetische

Konkretisierung

des Kunstwerks und eine ungestörte ästhetische Erfassung dieser Konkretisierung verboten war, hat beim Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes keine

störende Wirkung. Im Gegenteil, es ist geboten, eben solche Unterbrechungen zu machen, gegebenenfalls einzelne Stellen wiederholt zu lesen, verschiedene Partien des Werkes zusammenzustellen und zu vergleichen, um auf diesem Wege die drohende Vieldeutigkeit oder Mißdeutung zu vermeiden. Der dem Werk immanente Sinn wird da nicht einfach aufgenommen, vorgefunden, sondern erst in manchmal komplizierten und schwierigen Operationen erarbeitet. So entsteht eine gewisse Distanz zwischen dem Leser und dem Text des Werkes (d.h. der Doppelschicht der Sprache). Dies aber bedeutet nicht, daß etwa die Sinneinheiten der Urteile zu Erkenntnis gegenständen werden oder gar werden sollen. Es gibt gewiß Phasen, wo wir darüber nachdenken, wie etwa der Sinn des betreffenden Satzes bzw. eines ganzen Satzzusammenhanges verstanden werden soll. Und dann kommt es vorübergehend dazu, daß der Sinn dasjenige ist, worauf sich unsere Aufmerksamkeit richtet, und er dadurch selbst gewissermaßen zum Objekt wird. Sobald es aber zur Entscheidung kommt, wie er eigentlich zu verstehen sei, wird er dann gleichsam in die Intention des Denkaktes aufgenommen und einfach schlicht gedacht, wobei auch die Behauptungsfunktion des Satzes mitvollzogen wird, so daß das von ihm Gemeinte, der betreffende Sachverhalt oder der sich in Sach-

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/ / / . Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

verhalten enthüllende Gegenstand zum eigentlichen Objekt wird, auf den sich das verstehende Denken des Lesers richtet. Und zwar ist dann dieser Gegenstand der dem Werk transzendente,

in einer bestimmten Seinssphäre existie-

rende Gegenstand (Sachverhalt, Ding, Ereignis usw.). So bringt das gelungene Verstehen bzw. Verstandenhaben der Sinneinheiten in der Doppelschicht der Sprache des wissenschaftlichen Werkes den Leser über dieses Werk hinaus zu einer "Wirklichkeit". Nicht immer aber gelingt es, eine sich ankündigende Vieldeutigkeit des Textes zu beseitigen. Es gibt oft Fälle, bei denen der Leser beim kritischen und analytischen Lesen klar erkennt, welche Vieldeutigkeiten vorhanden und welche Deutungen des Textes damit möglich sind, wobei es ihm aber nicht gelingt, die "wahrscheinlichste" Deutung (oder wie es jetzt Mode ist zu sagen: "Interpretation") zu wählen. Dann gibt es keinen anderen Ausweg, als festzustellen, das betreffende Werk ist an einer bestimmten Stelle eben

vieldeutig,

und sich nur klar zu Bewußtsein zu bringen, welche verschiedenen Deutungen der Text zuläßt. Und es ist dann geboten, beim weiteren Lesen des Werkes jene Deutungsmöglichkeiten des Textes im Gedächtnis zu behalten und nachzuprüfen, wie sich die Ausdeutung dieser weiteren Teile und schließlich des ganzen Werkes darstellt, wenn man die vorgefundenen und nicht zu beseitigenden Vieldeutigkeiten berücksichtigt. Merkwürdig ist dann das Verhalten des Lesers zu der durch das Werk bestimmten Wirklichkeit. Er kann sie nicht mehr in voller Bestimmtheit als an sich bestehend denken. Die ehedem schlicht vollzogenen (genauer: unter der Suggestion des Werkes mitvollzogenen) Urteile werden jetzt mit einem Vorbehalt versehen. Die Schicht der bloß dargestellten Gegenstände, die bei schlicht gelesenen und mitvollzogenen Urteilen völlig transparent wird, beginnt dann aufzutauchen in ihrem Seinscharakter, der im Gehalt der dargestellten Gegenstände auftritt, in einer seinsautonomen Seinssphäre nur angesetzt, aber doch nicht gesetzt: die transzendente Seinssphäre beginnt sich zu entfernen, sie ist nicht wirklich erfaßbar, obwohl doch die Satzsinne und die Behauptungsfunktion immer noch auf sie gerichtet sind. Die im Werk eindeutig formulierten Urteilssätze erlauben dem Leser in dieser dem Werk transzendenten Wirklichkeit doch Fuß zu fassen und in ihr selbst - schon unabhängig vom gelesenen Werk - Tatbestände zu suchen, die ihm erlauben könnten, aus der entstandenen Unsicherheit und Vieldeutigkeit herauszukommen. Denn die intellektuellen Impulse, die er

§ 21. Verslehen

vs. perzeptives

Erfassen

183

vom Werk erhalten hat, erlauben ihm oft, die in der betreffenden Seinssphäre bestehenden Tatbestände selbständig, "auf eigene Faust" leichter zu erkennen als ohne die Hilfe des Werkes. Das ist nur natürlich, denn eigentlich dient jedes wissenschaftliche Werk dazu, uns eben diese selbständig vollzogene Erkenntnis zu erleichtern. Es kommt auch oft vor, daß wir wenigstens einige von den im betreffenden Werk festgestellten Tatsachen schon früher aus anderen Quellen oder aus eigener Erfahrung kennengelernt haben und dann das betreffende Werk von vornherein im Licht der uns bekannten Tatsachen lesen und es infolgedessen leichter verstehen können. Das hat natürlich seine Vorzüge, aber auch seine Nachteile. Die Vorzüge liegen eben in der Erleichterung des Verständnisses des Werkes bei der Lektüre. Fast jedes wissenschaftliche Werk ist heute (nur vielleicht von manchen philosophischen Werken abgesehen) ein Fortschritt in der erkenntnismäßigen Beherrschung eines bestimmten Seinsgebietes. Die Sprache des Werkes ist weitgehend von anderen auf diesem Gebiet früher erschienenen Werken übernommen. Sie bedient sich einer Reihe ausgebildeter, terminologisch festgelegter Begriffe und Begriffszusammenhänge und wird nur in einigen Einzelheiten, z.B. durch Einführung neuer Termini, durch genauere Präzisierung mancher Begriffe, durch Verwerfung als falsch erwiesener Sätze usw. zum Teil umgebildet und zum Teil auch ergänzt. All dies hilft natürlich einem Leser, der das betreffende Buch ohne Vorbereitung liest, gar wenig. Man versteht ein wissenschaftliches Werk nur, wenn man seine Fachsprache beherrscht; das reicht natürlich oft nicht aus und läßt sich auch selten bloß auf Grund des betreffenden Werkes tun. Das Werk hilft dem Leser nur, die Wandlungen der Sprache zu erfassen, denen sie infolge neuer wissenschaftlicher Errungenschaften unterworfen ist. Die Priora dazu muß man selbst erlernen, und erst die Weiterentwicklung der Forschung, die sich im Werk andeutet, lernt der Leser aus dem Werk selbst und erweitert dadurch seine eigene Kenntnis des betreffenden Seinsgebietes. Manche Gefahren müssen dabei vermieden werden, vor allem die Gefahr, daß das gelesene Werk vom Leser unter dem Eindruck der früher von ihm beherrschten Sprache eines Wissenszweiges, bzw. der ihm aus der Erfahrung bekannten Tatsachen mißverstanden wird. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Das vom Leser mitgebrachte, automatisierte Wissen führt oft dazu, daß unbedeutende Sinnverschiebungen einzelner Ausdrücke, die in den

184

III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

im Werk neu gewonnenen Erkenntnissen begründet sind, vom Leser unbemerkt bleiben. Die Sätze werden dann in einer im Werk nicht mehr vorhandenen Sprache verstanden. Die in ihnen neu entdeckten Tatsachen werden in ihrer Eigenart und Neuheit oft nicht genau erfaßt, weil man, um dies zu erreichen, neue freie Erkenntnisakte vollziehen müßte, die eben durch den Automatismus des früher gewonnenen Wissens gehemmt werden. So werden die im Werk neu dargestellten Tatsachen im Licht der früher anerkannten Theorie umgedeutet oder einfach abgelehnt. Die Schwierigkeit eines richtigen Verständnisses wissenschaftlicher Werke, die wirklich schöpferisch sind und vom Leser fordern, das Neue zu erfassen, liegt eben darin, daß er einerseits das früher Gewußte voll beherrscht, andererseits aber die Kraft findet, sich vom Druck des überlieferten Tatsachenmaterials und von den Sprachgewohnheiten zu befreien und dem vom Werk neu Gebotenen geistig zugänglich zu sein. Damit aber die Lektüre solcher Werke wirklich erfolgreich wird, muß der Leser noch die Kraft haben, sich dem neu Gebotenen gegenüber, nachdem er es möglichst eindringlich erfaßt hat, geistig frei zu verhalten, um bei selbständigem Suchen nach den entsprechenden Tatsachen auf dem betreffenden Seinsgebiet noch Tatbestände zu entdecken, die es ihm erlauben, jenes neu Gebotene kritisch zu prüfen. Eine solche Verhaltensweise des Lesers ist besonders bei philosophischen Werken von Nutzen, die einen Umschwung der geistigen Atmosphäre der Zeit wie einen Keim in sich tragen. Einen direkten Kontakt mit den Tatbeständen in einem vom wissenschaftlichen Werk unabhängigen Seinsgebiet zu gewinnen, wird dem Leser in einem solchen Werk von vornherein dadurch erleichtert, daß in ihm auftretende Sätze echte Urteile sind, die sich mit den Intentionen ihres Sinnes direkt auf dem Werk selbst transzendente Sachverhalte beziehen, die in einem vom Werk seinsunabhängigen und in den meisten Fällen auch seinsautonomen Seinsgebiet begründet sind. Sobald der Leser dem Sinn des Textes folgt, befindet er sich bei seinem Mitvollzug der Urteile sofort in einem solchen Gegenstandsgebiet und vermag sie dann mit Hilfe eigener Erfahrungsakte zu erkennen und am gefundenen Tatsachenmaterial einerseits den Sinn der gelesenen Sätze klarer zu verstehen, andererseits in ihnen den Ausgangspunkt zu weiterer Forschung zu finden. Das wissenschaftliche Werk erfüllt eigentlich die ihm zugedachte Funktion nicht, wenn es seinen Leser nicht zur nötigen forschenden Einstellung bringt und ihm nicht dazu verhilft, über es selbst hin-

§ 21. Verstehen vs. perzeptives

Erfassen

185

aus zu einer bestehenden Wirklichkeit zu gelangen. Diese Hilfeleistung fällt bei einem literarischen Kunstwerk einfach fort, da es bei ihm kein solches entsprechendes seinsunabhängiges Seinsgebiet gibt, und die in ihm auftretenden Sätze überhaupt nicht die Funktion übernehmen können, den Leser an ein solches Seinsgebiet heranzuführen. Und es ist durchaus falsch, wenn man bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerks ein solches von ihm seinsunabhängiges Tatsachengebiet sucht. Seine ihm gemäße Funktion liegt darin, dem Leser eine angemessene ästhetische Konkretisierung eines ästhetischen Gegenstandes zu ermöglichen, an ihm die zur Erscheinung gelangende Weise zu erschauen. Der Leser erfüllt nicht die ihm bevorstehende Aufgabe, wenn er bei der Lektüre eines wissenschaftlichen Werkes - nachdem er es möglichst genau verstanden hat - nicht über es hinaus zur entsprechenden "Wirklichkeit" hinauszugehen weiß und wenn er nicht auf ihm mit seinem forschenden Blick verweilt, um eventuell nachher zum Werk zurückzukehren und dann entweder "Ja" oder "Nein" dazu zu sagen oder aber erst dann zu seinem richtigen und tieferen Verständnis zu gelangen. Wenn wir dagegen ein literarisches Kunstwerk getreu erfassen wollen, kann uns bei dem Bestreben, seine Sätze richtig und voll zu verstehen, das Erkennen gewisser, außerhalb des Kunstwerks in einer Wirklichkeit existierender Gegenstände, welche in dieser oder jener Hinsicht den im Werk dargestellten Gegenständlichkeiten ähnlich sind oder die von den letzteren irgendwie "abgebildet" werden sollen, nicht viel oder, genauer gesagt, gar nicht helfen. Dies gilt auch für die sogenannten "historischen" literarischen Kunstwerke (also z.B. für "historische" Romane oder Dramen). Hier hat der Leser vor allem die Aufgabe, den Sinn der Worte und Sätze des betreffenden Kunstwerks ausschließlich

auf Grund ihres eigenen Gehalts getreu und möglichst

ganz zu erfassen. Gewiß, unsere früheren Kenntnisse der in einer Wirklichkeit existierenden und den im Werk dargestellten Gegenständen ähnlichen Gegenstände können dabei nicht ohne jede Bedeutung sein. Diese vorherigen Kenntnisse können aber bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerkes oft eher die Quelle falscher

Suggestionen sein oder - was schlimmer ist - den

Leser dazu bewegen, dieses Kunstwerk eben nicht als Kunstwerk, sondern als

186

III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

eine Information über eine gewisse Wirklichkeit zu lesen. 7 Bei naiven Lesern, die im Grunde zu einer ästhetischen Erfassung des Werkes nicht reif genug sind, kommt dies leider oft vor. Schlimmer ist es, wenn sogar in manchen Kreisen der Literaturforschung die literarischen Kunstwerke so gelesen, so "interpretiert" und auch von diesem Standpunkt aus bewertet werden. Die im Kunstwerk dargestellte Welt verschwindet dann entweder überhaupt aus dem Blickfeld des Lesers oder, wenn er sie doch erfaßt, wird sie nur beachtet, um mit einer Wirklichkeit verglichen zu werden. Dann wird dem Werk ein Wert zugeschrieben, wenn die in ihm dargestellten Gegenständlichkeiten mit jener Wirklichkeit zusammenstimmen, oder der Wert abgesprochen, wenn das Gegenteil der Fall ist. Die ästhetische Erfassung und die ästhetische Wertantwort auf das Kunstwerk selbst kommt da indessen überhaupt nicht zustande. Die unter diesem Gesichtspunkt durchgeführten Betrachtungen

literarischer

Kunstwerke - so interessant sie auch aus anderen Gründen sein mögen tragen zu ihrer ästhetischen Analyse sowie zum Verständnis des Wesens der literarischen Kunst gar wenig bei. So wie das literarische Kunstwerk nicht wie ein Informationswerk und insbesondere nicht wie ein wissenschaftliches Werk gelesen wird, so darf auch dies letztere nicht wie ein Kunstwerk behandelt werden. Dies passiert manchmal philosophischen Werken, so als ob sie nicht Erkenntnis

einer von ihnen unabhängigen Welt zu leisten hätten,

sondern bloße "Auffassungen", "Weltanschauungen" gewisser sonderbarer Dichter wären. Um ein literarisches Kunstwerk - unabhängig davon, ob es ein "historisches" Werk ist, in welchem die dargestellten Gegenständlichkeiten gerechterweise die Funktion der "Abbildung" ausüben oder ein Werk, aus dessen Struktur erhellt, daß es dies gar nicht sein will - in der ihm eigenen Gestalt getreu zu erfassen, ist es notwendig, sich von der bekannten außerliterarischen Wirklichkeit loszureißen und sich in den Mikrokosmos des be-

Es ist neuerdings Mode, Kunstwerke überhaupt als Informationen zu behandeln (z.B. Bense [Max Bense, Aesthetische Information - aesthetica II, Krefeld, Baden-Baden 1956]), dieses Problem müßte aber in einer besonderen Betrachtung behandelt werden. Hier ist nur zu bemerken, daß der modische Begriff der "Information" im Sinn der "Informationstheorie" so erweitert wurde, daß heute alles mögliche, auch z.B. Glieder einer kausalen Beziehung darunter fallen. Damit ist jede Anwendung, etwa auf das literarische Kunstwerk so vage, daß sie eigentlich auch nichtssagend ist. Außerdem müßte auch präzisiert werden, worüber in einem literarischen Kunstwerk informiert wird.

§ 21. Verstehen vs. perzeptives Erfassen

187

treffenden Kunstwerks mit allen seinen Schichten hineinzuversenken und es so zu rekonstruieren, daß dabei alle künstlerischen Fertigkeiten zur Konstituierung einer getreuen ästhetischen Konkretisation ausgenutzt werden. Und deswegen ist es oft viel schwieriger, die im Werk dargestellte Welt und auch alle übrigen Momente seiner vielschichtigen und vielphasigen Ganzheit getreu zu erfassen, als die Behauptungen eines wissenschaftlichen Werkes richtig zu verstehen. Der gesamte Vorgang des Kennenlernens eines literarischen Kunstwerks ist von demjenigen des Verstehens eines wissenschaftlichen Werkes von Grund aus verschieden. Dies sieht man auch an den folgenden Einzelheiten, auf die hier noch eingegangen werden muß. Die getreue Erfassung eines literarischen Kunstwerks vollzieht sich in viel komplizierteren Erlebnissen als das Verstehen eines wissenschaftlichen Werkes. Alles, was im ersten Fall für die ästhetische Erfassung von allergrößter Bedeutung ist, spielt beim Verstehen wissenschaftlicher Werke gar keine Rolle. Dies bezieht sich vor allem auf die ganze Mannigfaltigkeit ästhetisch relevanter Qualitäten, die den ästhetischen Wert konstituieren, für das wissenschaftliche Werk und seine wesentliche Funktion jedoch völlig belanglos sind, falls sie aus Zufall doch in ihnen zur Erscheinung kommen. Wir brauchen uns bei der Lektüre des Werkes nicht mit ihnen zu beschäftigen. Wenn es dazu käme, so wäre dies eher störend. Die schlichte Erfassung des Sinnes der in ihm auftretenden Urteile könnte darunter leiden. Der Leser könnte dabei in eine emotionale Einstellung versetzt werden, welche nicht ohne Einfluß auf die Anerkennung oder Verwerfung der in ihm enthaltenen Behauptungen bliebe. Das verstößt gegen die wesentliche Funktion des wissenschaftlichen Werkes. Es erkennen heißt nichts anderes, als seine Schicht der Sinneinheiten richtig verstehen und dadurch zur Erkenntnis der dem Werk transzendenten und in ihm gemeinten "Wirklichkeit" (in der betreffenden Seinssphäre) gelangen. Alles andere, was während der Lektüre noch geschehen mag, muß dieser prinzipiellen Aufgabe untergeordnet werden. Und noch eins: Für die Konstituierung einer dem literarischen Kunstwerk getreuen ästhetischen Konkretisation ist es wichtig, während der Lektüre die Ordnung der Aufeinanderfolge seiner Teile zu erhalten. Jede Veränderung dieser Ordnung etwa durch eine Umstellung seiner Teile tastet die charakteristischen Züge seiner Komposition an, ruft oft ganz andere dynamische Effekte

188

III. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

hervor und verändert die Erscheinung der spezifischen Phänomene der Zeitperspektive sowohl im Rahmen der Geschehnisse in der dargestellten Welt als auch in der Aufeinanderfolge der Teile des ganzen Werkes selbst. All das hat oder kann mindestens einen Einfluß auf die Aktualisierung ästhetisch valenter Qualitäten und somit auch auf die Konstituierung des in ihnen fundierten ästhetischen Wertes haben. Manchmal können sogar anscheinend geringfügige Veränderungen odér eine ungenügende Erfassung gewisser Einzelheiten des Kunstwerks dazu führen, daß es sich überhaupt nicht in seiner letzten, ihm eigenen oder sein künstlerisches Wesen adäquat ausprägenden ästhetischen Gestalt konstituiert. In anderen Fällen gelangen seine positiv wertvollen ästhetischen Qualitäten nur in einer noch unvollkommenen Gestalt zur Erscheinung. Das Gleichgewicht der Qualitäten im Ganzen des Kunstwerks kann dadurch ins Wanken geraten und zur Konstituierung verschiedener Mängel des Werkes führen. Größere Unterbrechungen in der Lektüre, das Wiederholen gewisser Teile des Werkes während der Lektüre, das Zurückgreifen auf Teile, die bereits gelesen wurden und in die phänomenale Vergangenheit versunken waren - all dies verunstaltet die ästhetische Konkretisation des literarischen Kunstwerks und ihren ästhetischen Wert. Dies übt aber keinen nachteiligen Einfluß auf die Erfassung des wissenschaftlichen Werkes aus. Oft verhilft es im Gegenteil zu seinem richtigen und tiefen Verständnis. Schopenhauer hat einmal gesagt, man müsse sein Werk Die Welt als Wille und

Vorstellung

zweimal lesen, um es richtig zu verstehen. Man möchte hinzufügen: mehrere Male, und zwar unter wiederholtem Lesen einzelner Teile, unter Vergleich verschiedener Behauptungen usw. Das flüchtige Verstehen beim raschen Durchgehen der aufeinanderfolgenden Sätze kann nur bei sehr oberflächlichen Werken gelingen. Meist ist das Verständnis ohne die richtige Erfassung der logischen und sachlichen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Behauptungen und die richtige Bewertung ihrer logischen Funktion und ihres Erkenntnisranges nicht zu gewinnen. Denn abgesehen vielleicht von den deduktiv geschriebenen Systemen in der Mathematik bzw. Logik, sind die wissenschaftlichen Werke im allgemeinen nicht so geschrieben, daß sie in der Darstellung immer die logische Ordnung ihrer Sätze wahren und darin die logische Struktur der Betrachtung ausprägen. Und dies kommt gerade bei denjenigen Autoren oft vor, die auf dem betreffenden Seinsgebiet schon sehr viel wissen und in ihren Werken nur Bruchteile dessen geben, was sie und was

S 21. Verstehen vj. perzeptives

Erfassen

189

man überhaupt auf diesem Gebiet zu sagen hat. Es werden dann nur gewisse Hauptthesen - oft nur skizzenhaft - gegeben, und den Rest muß der Leser selbst, entweder aus anderen Quellen oder aus eigenen Kräften, ergänzen. Andererseits bildet gerade die Hervorhebung der logischen Zusammenhänge zwischen den Behauptungen sowie die Nachprüfung ihrer formalen Korrektheit, z.B. der Beweisführungen, für den Leser ein Hilfsmittel zum besseren Verständnis des wissenschaftlichen Textes. Bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerks ist dies oft nicht so ergiebig, weil dort nicht notwendig strenge logische Zusammenhänge zwischen den Sätzen bestehen bzw. bewahrt werden müssen. Und eine gewisse "Unlogik" kann manchmal als künstlerisches Mittel verwendet werden. Der Leser eines wissenschaftlichen Werkes ist indessen oft gezwungen, sich von der Aufeinanderfolge der Sätze unabhängig zu machen und sie im Sinn ihrer logischen Ordnung selbständig umzustellen. Erst dann läßt sich oft die Bedeutsamkeit gewisser Behauptungen beurteilen und lassen sich eventuell gewisse beiseite gelassene Einzelheiten in den Vordergrund stellen und sich auf diesem Wege der theoretischen einheitlichen Ganzheit annähern, welche das Werk selbst nur in Umrissen gibt. Dabei geht man gewiß über das betreffende Werk in seiner tatsächlichen Gestalt hinaus. Dies schadet aber insofern nicht, als es eigentlich vom Werk selbst gefordert wird. Man soll im Grund Uber seinen Gehalt hinausgehen und die in ihm begonnene und nur bis zu einer bestimmten Grenze geführte Erkenntnis weiterführen. Jedes wissenschaftliche Werk bildet ja nur eine Phase im großen Prozeß der Forschung und kann nie ein abschließendes, das Ganze einer Theorie umfassendes Wissen geben. Es eröffnet neue Problemhorizonte und weist neue Forschungswege. Wenn es dies nicht tut, ist es bis zu einem gewissen Grad unfruchtbar. Dies alles gilt für ein literarisches Kunstwerk nicht. Es ist ein Ganzes für sich, und wenn es dem Leser gewisse Horizonte eröffnet, so ist dies nur in dem Sinn zu verstehen, daß es Ausgangspunkte möglicher, aber werkgetreuer Konkretisationen sind. Ein Versuch, auf solche Weise über das Kunstwerk hinauszugehen, wie dies beim wissenschaftlichen Werk möglich und zulässig ist, würde bestenfalls zu ganz neuen literarischen Kunstwerken führen, die gar keine Fortsetzung des betreffenden Kunstwerks wären. Das Kunstwerk, für uns insbesondere auch das literarische Kunstwerk, bildet nicht bloß den Höhepunkt eines schöpferischen Prozesses, sondern auch seine Vollendung, in der er zum Abschluß und zur Ruhe kommt. Das

190

111. Erkennen des wissenschaftlichen

Werkes

Werk - wenn es gelungen ist - ist die Verkörperung der künstlerischen Gestalt, die dem Dichter nur vorgeschwebt hat. Über diese Vollendung hinaus gibt es keine mögliche Fortsetzung, wie sie beim wissenschaftlichen Werk wohl möglich und ganz natürlich ist. Vielleicht werden diese skizzenhaften Bemerkungen ausreichen, um zu der Überzeugung zu kommen, daß man bei einer zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführten Lektüre eines wissenschaftlichen Werkes sich anders verhält und auch verhalten soll, als dies bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerks der Fall ist, die zur Aktualisierung einer ästhetischen Konkretisation des Werkes führt. Diese Bemerkungen werden auch vielleicht nicht ohne Bedeutung für diejenigen sein, die sich wissenschaftlich

mit litera-

rischen Kunstwerken beschäftigen. Sie können als eine an sie gerichtete Warnung dienen, daß sie diese Kunstwerke nicht so lesen, wie man

wissenschaft-

liche Werke über literarische Kunstwerke liest. Gerade als Wissenschaftler auf dem Gebiet der literarischen Kunst dürfen sie nicht Wissenschaftler allein sein. Sie müssen literarische Kunstwerke als ästhetische Empfänger, als literarische Konsumenten lesen und in einer gewissen Phase ihrer Beschäftigung auch selbst Künstler sein, die sich in den Gang der dichterischen Schöpfung hineinfühlen und somit das fertige Kunstwerk in seinen künstlerischen Absichten in den zur Realisierung dieser Absichten führenden Mitteln verstehen können und sich damit über die künstlerischen Fertigkeiten des von ihnen untersuchten Kunstwerks orientieren. Erst in dem Augenblick, in dem es ihnen bereits gelungen ist, die ästhetische Konkretisation eines Kunstwerks auf Grund der im ästhetischen Erlebnis durchgeführten Lektüre zu konstituieren, können sie dieses Kunstwerk und auch *diese* Konkretisation zum Objekt ihrer wissenschaftlichen Forschung machen, zum Objekt besonderer, neuerlicher, oft sehr komplizierter wissenschaftlicher Erkenntnisbemühungen, welche gewissermaßen auf Grund der ästhetischen Erfahrung des konkretisierten Kunstwerks unternommen werden müssen. Das nächstfolgende Kapitel wird uns erlauben, diese Fragen etwas näher zu behandeln.

IV.

Kapitel: Die Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks

§ 22. Ausblick auf weitere P r o b l e m e Die bisherigen Ausführungen hatten zur Aufgabe, ein Schema des ersten Kennenlernens des literarischen Kunstwerks auf vorbereitende Weise zu entwerfen. Sie bilden nur den Anfang der Betrachtungen in dieser Richtung. Es war notwendig, sie unter einer Reihe vereinfachender Bedingungen durchzuführen, um uns vorerst in der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse und Phänomene zu orientieren, welche in diesem Bereich zutage treten. Es wäre verfrüht, diese vereinfachenden Bedingungen schon zu beseitigen, da wir uns dann in einem Gewirr komplizierter und mannigfacher Tatbestände und Vorgänge befänden, die zu beherrschen uns im jetzigen Stadium der Betrachtung nicht möglich wäre. So werden auch die folgenden Erwägungen gewisse Ergebnisse vorlegen, die man auch nur für eine gewisse Idealisierung, nur für eine erste "Annäherung" halten darf. Eine solche Verfahrensweise scheint überall dort natürlich und auch unvermeidlich, wo die Forschung in ein im Grund unbearbeitetes Gebiet eintritt. Zu betonen ist aber noch einmal, daß wir hier keine Psychologie treiben und daß somit das tatsächlich vollzogene Lesen literarischer Kunstwerke auf sehr mannigfache Weise verläuft und oft durch äußere Umstände gestört oder sogar zum Abbruch gebracht wird. Daß dem in Wirklichkeit so ist, möchte ich gar nicht in Frage stellen, obwohl es an wirklich durchgeführten empirisch-psychologischen Untersuchungen auf diesem Gebiet noch fehlt, so daß man noch nichts darüber behaupten darf, wie das individuelle Lesen in Wirklichkeit verläuft. Was ich da zu zeigen suche, ist bloß dies, daß sich bei den oben angegebenen vereinfachenden Bedingungen ein allgemeines Schema der Verfahrensweisen des Lesers beim Kennenlernen literarischer Kunstwerke zeichnen läßt, das die Grenzen der möglichen Abwandlungen der konkreten Lesungen bestimmt, soweit keine störenden Einflüsse ihren Gang wesentlich modifizieren.

192

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Die weiteren Betrachtungen sollen auf zwei verschiedene Weisen durchgeführt werden, nämlich dadurch, daß sie a) die deskriptiven

Analysen fort-

führen und b) die Problematik einer erkenntnisÄnfi'jc/ien Betrachtung aufwerfen, d.h. also einer Betrachtung, die sich zur Aufgabe stellt, über den möglichen Erkenntniswert der Ergebnisse, welche sich in den verschiedenen Weisen des Erkennens des literarischen Kunstwerks erreichen lassen, zu einer wenigstens vorläufigen Klarheit zu kommen. Es handelt sich zunächst darum, die erkenntniskritischen Probleme zu umreißen, welche einerseits die im Erkennen des literarischen Kunstwerks gewonnenen Ergebnisse hinsichtlich ihres Wahrheits- bzw. Objektivitätswertes betreffen, andererseits sich auf diese Erkenntnisoperationen in ihrer Fähigkeit, zu solchen Ergebnissen zu gelangen, beziehen. Damit würden die ersten Fundamente einer kritisch eingestellten Erkenntnistheorie der Erkenntnisweise des literarischen Kunstwerks und des literarischen Werkes überhaupt geschaffen. In ihrem Licht erst könnte man die Frage nach der "Möglichkeit" einerseits einer Literaturwissenschaft, andererseits einer Ästhetik als einer Art besonderer Erfahrung von Kunstwerken aufwerfen, eine Frage also, die oft ohne genaue Formulierung und Präzisierung der Grundprobleme im negativen Sinn entschieden wird. Fügen wir da noch einige einleitende Bemerkungen ein. Die deskriptiven Betrachtungen haben vor allem die verschiedenen möglichen typischen Abwandlungen des Erkennens des literarischen Werkes, insbesondere des literarischen Kunstwerks, zu unterscheiden. Diese verschiedenen Weisen ergeben sich aus zwei Gründen. Die erste Quelle möglicher Unterschiede liegt darin, daß der Leser einem und demselben Werk gegenüber grundverschiedene Einstellungen

einnimmt und sich demgemäß ihm gegen-

über auf verschiedene Weise verhält. Im Zusammenhang damit verfolgt er auch verschiedene Zwecke, die er zu realisieren hofft. Die zweite Quelle der Differenzierung seines Verhaltens liegt in den grundlegenden

Verschieden-

heiten zwischen den literarischen Werken überhaupt und den literarischen Kunstwerken insbesondere. Sie zwingen den Leser bzw. den Literaturforscher dazu, andere Weisen und Mittel anzuwenden, um das Werk zu erkennen. Natürlich kommt es uns hier in beiden Fällen nur auf die typischen Unterschiede und nicht auf diejenigen an, die von Werk zu Werk und von Leser zu Leser auftreten können. Manchmal können sich die beiden typischen Abwandlungen kreuzen und führen dann zu mannigfachen Komplikationen im

§ 22. Ausblick auf weitere

193

Probleme

Verlauf des Erkennens des literarischen Werkes, die dann kaum übersehbar sind. Man muß also auch da wiederum manche Vereinfachungen und Abstraktionen vornehmen. Die Untersuchung der Grundtypen literarischer Kunstwerke ist leider noch immer nicht abgeschlossen. 1 So wird es nötig sein, hier zunächst diejenigen Untersuchungen, welche die Verschiedenheit unter den Erkenntnisweisen, die mit den Unterschieden zwischen den Grundtypen der literarischen Kunstwerke verbunden sind, auf später zu verschieben und sich hier lediglich auf die Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks zu beschränken, die sich aus den Grundtypen der möglichen Einstellung des Lesers (bzw. Forschers) ergeben. Ich werde mich aber hier nur mit zwei verschiedenen Einstellungen des Lesers beschäftigen, und zwar mit der Einstellung des Forschers, der das Werk zum Zweck einer wissenschaftlichen Erkenntnis liest und es so oder anders untersucht, und andererseits mit

Als ich vor fast 40 Jahren Das literarische

Kunstwerk meinen Lesern übergab, hatte ich ge-

hofft, meine allgemeine Auffassung des literarischen Kunstwerks gäbe den Literaturwissenschaftlem ein Werkzeug in die Hand, vermöge dessen u.a. das Problem der sog. literarischen Gattungen oder Grundtypen der literarischen Kunstwerke angegriffen werden könnte. Meine Erwartungen haben sich nur in relativ beschränktem Maß erfüllt. Immerhin sind einige Untersuchungen erschienen, die von der allgemeinen Literaturwissenschaft aus dieses Problem anzufassen suchten und zu gewissen - wie mir scheint - mit meiner Auffassung übereinstimmenden Ergebnissen gekommen sind. Man hat sich dabei freilich nicht auf mein Buch berufen, aber eine gewisse Gemeinsamkeit der Plattform der Betrachtung ist doch erkennbar. Diese Ergebnisse scheinen mir vor allem in dem Buch von Emil Staiger Grundbegriffe

der Poetik [Zürich 1946 u.ö.] vorhanden zu sein, dann aber auch in einer

Reihe von Betrachtungen über den Roman (worunter ich auch das Buch von Käte Hamburger zähle), sowie endlich manche Untersuchungen der polnischen Literaturwissenschaft (die im Westen natürlich unbekannt geblieben sind), von denen insbesondere Julius Kleiner [Studia ζ zakresu teorii literatury, Warszawa 1961], Manfred Kridl [Wstçp do badañ dzieiem

literackim,

Wilno 1936] und Kasimir Wyka [O potrzebie

historii

nad

literatury,

Krakow 1969] zu nennen wären. Auch die bei uns nach dem Kriege im Institut für literarische Forschung [gegr. 1948, u.a. von K. Wyka] der Polnischen Akademie der Wissenschaften unternommenen formalen Vorarbeiten sowie die in der von Frau Stefania Skwarczynska redigierten Zeitschrift Zagadnienia

rodzajów

literackich

(Probleme der literari-

schen Gattungen) publizierten Studien wären da zu erwähnen. Bei all dem ist sowohl der Stand der Forschung als auch der hier von mir entwickelten Problematik noch weit davon entfernt, daß ich mich hier auf erzielte Ergebnisse berufen und die korrelativen, erkenntnistheoretisch gerichteten Betrachtungen mindestens in ihrer Problematik daran anknüpfen könnte.

194

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

der Einstellung des Lesers, dem es vor allem darauf ankommt, das Werk mit Hilfe einer Lektüre zur Aktualisierung einer ästhetischen Konkretisation zu bringen, um es in dieser Konkretisation ästhetisch zu genießen und zu bewundern. Diese Gegenüberstellung scheint wichtig zu sein. Denn mit ihr verbinden sich die erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundprobleme der Literaturwissenschaft,

und zwar als einer Wissenschaft von Kunstwerken

einer ganz besonderen Art. Es wird sich zeigen, daß auch das Erkennen des literarischen Kunstwerks zu bestimmten Forschungszwecken noch in zwei grundverschiedenen Abwandlungen vollzogen werden kann: in einer sozusagen "vorästhetischen" und einer "ästhetischen". Im ersten Fall bildet den Hauptgegenstand der Forschung das literarische Kunstwerk selbst (in seiner schematischen Gestalt), im zweiten dagegen seine in ästhetischer Erfahrung aktualisierte Konkretisation. Später wird es sich zeigen, daß es in der Literaturwissenschaft eine Phase der Betrachtung geben muß, in welcher die beiden Einstellungen und die mit ihnen verbundenen Verfahrensweisen notwendig in Zusammenhang gebracht werden müssen. Erst daraus ergeben sich ganz besondere Probleme der literarischen Kunst (der künstlerischen Leistungsfähigkeit) sowie auch verschiedene weitere Probleme bezüglich der wissenschaftlich begründeten Bewertung des (einzelnen) literarischen Kunstwerks und ihrer Rechtmäßigkeit. Das sind aber momentan noch weit entfernt liegende Perspektiven der zu behandelnden Problematik. Auch das Erkennen des literarischen Kunstwerks, das bloß zu Zwecken einer ästhetischen Konsumption durchgeführt wird, kann sich in zwei verschiedenen Abwandlungen vollziehen, die hier auch betrachtet werden müssen. An die erkenntniskritischen Probleme des Erkennens des literarischen Kunstwerks wird man erst dann herantreten können, wenn die deskriptiven Betrachtungen zu einigermaßen befriedigenden Ergebnissen geführt haben und sobald die bis jetzt notwendig belassenen Lücken beseitigt sind. Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, wenigstens einige Grundprobleme

der Kritik der

Erkenntnis des literarischen Kunstwerks als eines Kunstwerks besonderer Art hier zu formulieren. Die Lösung dieser Probleme wird der Zukunft überlassen bleiben müssen.

§ 23. Verschiedene Einstellungen beim Erkennen

195

§ 23. Ü b e r verschiedene Einstellungen b e i m E r k e n n e n des literarischen K u n s t w e r k s Wir lesen literarische Kunstwerke in sehr verschiedenen Einstellungen. Einige lesen sie nur, um Zeit totzuschlagen und sich dabei etwas zu amüsieren. Andere tun es, weil sie einfach mit gewissen eigentümlichen Gegenständlichkeiten, die man "Kunstwerke" nennt, verkehren wollen. Sie glauben, Kunstwerke seien mit ganz eigentümlichen Fähigkeiten begabt und mit ebenso eigentümlichen Charakteren, die man Werte und insbesondere ästhetische Werte nenne, und sie trachten danach, mit ihnen in Kontakt zu treten und davon einen Genuß zu haben. Nicht dieser Genuß aber bildet den eigentlichen Zweck, den man bei der Lektüre erreichen will. Er ist nur wie eine besondere Gabe, die man erhält, weil man dem Kunstwerk im unmittelbaren Verkehr Gerechtigkeit zollt. Es gibt aber noch Leser, die in ihrer Grundeinstellung Wissenschaftler sind, sie lesen literarische Kunstwerke mit einer "forschenden" Einstellung und wollen auf diesem Weg eine wahre und begründete Antwort auf die Frage erhalten, wie das betreffende Werk beschaffen ist, welcher Gattung es angehört usw. Ich werde mich hier nicht näher damit beschäftigen, wie literarische Kunstwerke von Lesern kennengelernt werden, denen es bloß darauf ankommt, sich zu amüsieren, ohne sich darum zu kümmern, was es eigentlich ist, das ihnen Vergnügen macht. Da sie unzweifelhaft lesen, müssen sie wahrscheinlich die Mehrheit der Erkenntnisakte vollziehen, die wir oben zu beschreiben suchten. Sie tun es bloß flüchtig, ungenau und lässig, bloß um vorwärts zu kommen und zu erfahren, wie die Geschichte endet. Man schlägt das "happy end" nach. Da ihnen nichts an einer gerechten Konkretisation des Kunstwerks liegt, noch an dem Wert, der da zur Erscheinung kommt, sondern lediglich an ihrem eigenen Erlebnis und dem erlebten Vergnügen, so erlangt die Konkretisation des Werkes vorwiegend eine sehr unvollkommene und wenn man so sagen darf - schiefe Gestalt, die sie aber befriedigt und ihnen Vergnügen macht. Sie könnten ebensowohl ganz andere Mittel verwenden, um ein solches Vergnügen zu erleben; das Werk wird da zu einem bloßen Vergnügungswerkzeug herabgesetzt. Die überwiegende Masse der Leser gehört freilich zu diesem Typus der "Konsumenten", aber sie können nur für

196

IV. Abwandlungen des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

die Psychologie oder Soziologie des Massenkonsums der Kunst interessant sein. Für unsere Zwecke spielen sie keine Rolle, vielleicht nur im Zusammenhang mit der Frage, wie literarische Kunstwerke nicht gelesen werden sollen, da ihnen damit Unrecht geschieht. Es ist aber zu erforschen, welche charakteristischen Züge das Kennenlernen bzw. Erkennen des literarischen Kunstwerks bei einer Lektüre besitzt, die 1. Forschungszwecken dient oder 2. in einer ästhetischen Einstellung durchgeführt wird. In diesen beiden Fällen hört das literarische Kunstwerk bzw. seine Konkretisation auf, ein bloßes Werkzeug zu etwas anderem zu sein, und wird zum Hauptthema des Verhaltens des Lesers, insbesondere seiner Bewußtseinsakte. Im I. Kapitel habe ich versucht, diejenigen Erlebnisse zu charakterisieren, welche in diesen beiden Weisen des Erkennens des literarischen Kunstwerks eine wesentliche Rolle spielen. Jetzt handelt es sich darum, die Modifikationen herauszuarbeiten, die sich aus der jeweiligen Einstellung des Lesers ergeben. Vor allem ist es nötig, die hier gegenübergestellten Einstellungen des Lesers beim Verkehr mit einem literarischen Kunstwerk in einigen Zügen zu kennzeichnen. Sie bilden nur besondere Möglichkeiten der beiden allgemeinen Einstellungen des Menschen beim Verkehr mit den ihm entgegentretenden Gegenständen: a) der rein erkenntnismäßigen oder "forschenden" Einstellung, b) der "ästhetischen" Einstellung. Sie unterscheiden sich beide von der "praktischen" Einstellung des Menschen, in welcher er darauf ausgeht, etwas in der Welt zu ändern oder zu verwirklichen. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß es nur diese drei Einstellungen des Menschen zum Leben gibt. Man sagt gewöhnlich, daß man einem und demselben Gegenstand gegenüber irgendeine der (drei) Einstellungen einnehmen kann. Führt z.B. j e m a n d eine Handelsoperation durch Ankauf eines Bildes eines alten Meisters durch, so vollzieht er sie eben in einer "praktischen" Einstellung. Und analog, wenn er z.B. das gekaufte Bild in seinem Arbeitszimmer an der Wand aufhängt. Wenn er hingegen untersuchen will, ob er nicht vom Verkäufer betrogen wurde und ob er nicht eine Fälschung erworben hat, dann nimmt er eine erkenntnismäßige, "forschende" Einstellung ein und bemüht sich, eine Reihe der Eigenschaften und charakteristischen Züge des gekauften Gemäldes zu erkennen. Wenn er sich endlich ruhig auf sein Sofa setzt, sich - wie man sagt -

§ 23. Verschiedene

Einstellungen

beim

Erkennen

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in seine "Kontemplation" vertieft und das Bild in seiner Ganzheit, in seiner künstlerischen Gestalt zu erschauen sucht, dann erst nimmt er die "ästhetische" Einstellung ein und entdeckt im Vollzug des "ästhetischen Erlebnisses" das Bild in seiner vollen Individualität und auch in seinem zur Erscheinung gebrachten eigenen Wert. Dasselbe soll in allen diesen drei Fällen das Objekt von Grund aus verschiedener Erlebnisse und verschiedener Verhaltensweisen des betreffenden Menschen sein, die lediglich etwas anderes zum Ziele haben. Und zwar: in der praktischen Einstellung will der Käufer mit Hilfe gewisser psycho-physischer Tätigkeiten einen neuen Tatbestand in der realen psychischen oder psycho-physischen Welt realisieren. Beim Ankauf des Bildes will er einen neuen Rechtszustand schaffen, dann aber auch eine neue physische Tatsache, das Aufhängen des Bildes an der Wand, realisieren. In der Forschungseinstellung hingegen will er gar keine neuen Tatsachen in der Welt schaffen, insbesondere will er mit dem Gegenstand seines Interesses, dem Bild, nichts "machen", da er es j a bloß kennenlernen bzw. erkennen will. Im Gegenteil, wenn es sich zeigt, daß dieser Gegenstand infolge seines erkenntnismäßigen Verhaltens, infolge des Vollzugs gewisser Erkenntniserlebnisse irgendwelche Veränderungen erlitte, so käme er zu der Überzeugung, es sei ihm nicht gelungen, dieses Bild einfach zu "erkennen". Anders gesagt: Das Erkennen und auch die erzielte Erkenntnis soll einen Gegenstand betreffen, den wir in dem Moment, in dem wir ihn zu erkennen beginnen, bereits in einer von unserem Erkennen seinsunabhängigen realen Welt vorfinden. Der Zweck dieses Erkennens ist es aber, ein Wissen - oder wenn man will, eine Anzahl von wahren Sätzen - zu erwerben, das sich auf diesen vorgefundenen und in seinem Zustand durch das Erkennen unberührten Gegenstand bezieht, ihn auf solche oder andere Weise bestimmt und in seinem Sein feststellt, alles so, wie er in sich oder an sich ist. In der ästhetischen Einstellung endlich werden - wie man oft glaubt - einige von den Gegenständen, die wir erkennen, als eigentümliche Reizmittel verwendet, um in uns ganz merkwürdige Erlebnisse hervorzurufen, die wir gerne erleben und dabei ein gewisses "Vergnügen" bzw. einen Genuß verspüren. Und da gehen bekanntlich die Ansichten auseinander. Der Streit geht um die Natur dieser Erlebnisse. Manche sprechen da einfach von einem sinnlichen Genuß, der merkwürdigerweise mit gewissen "Vorstellungen" "verbunden" sein soll, andere sagen, es handle sich um "Kontemplation", wieder andere sprechen

198

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

von "Einfühlung" oder von solchen oder anderen Gefühlen, insbesondere von "autopathischen" 2 Gefühlen, die mit dem Inhalt gewisser Vorstellungen zusammengingen usw. Der ästhetische Gegenstand ist von diesem Standpunkt aus - wie früher - ein vorgefundener

Gegenstand, so wie diejenigen

Gegenstände, die irgendeiner Handlung oder einem Erkennen unterworfen werden. Er soll zu der realen Welt gehören und selbst real sein, wie z.B. eine physische Sache, ganz unabhängig davon, ob er einfach ein "Naturgegenstand" - wie z.B. "schöne Berge", "eine schöne alte Eiche"- oder ein von einem Künstler verfertigtes, physisches Ding, etwa ein Marmorblock ist. Er unterscheidet sich nach dieser Auffassung von anderen realen Dingen dadurch, daß er gewisse besondere Merkmale hat oder nur zu haben scheint, die man gewöhnlich mit den Worten "schön", "hübsch", "reizend", "niedlich" usw. belegt, die aber nichts anderes sein sollen als die Fähigkeit des Gegenstandes, in der ihn wahrnehmenden Person gewisse Erlebnisse (z.B. Gefühle, Empfindungen und dergleichen mehr) hervor[zu]rufen. Oft wird dabei der passive Charakter des ästhetischen Erlebnisses betont, und man beschreibt es so, als ob es ein momentanes Erlebnis wäre. Ich habe nicht die Absicht, jetzt eine Kritik der vielen verschiedenen Auffassungen des "ästhetischen Erlebnisses" durchzuführen. Dies würde zuviel Platz einnehmen und uns von unserem Hauptthema viel zu weit abbringen. Unentbehrlich scheint mir dagegen der Versuch zu sein, das ästhetische Erlebnis sowie sein Korrelat, das ästhetische Objekt, positiv zu charakterisieren. Ich beschränke mich nur auf das Hauptsächlichste.

["Autopathie", gr. "Selbstempfindung", vgl. "Sympathie", "Einfühlung".]

§ 24. Erlebnis und ästhetischer

199

Gegenstand

§ 2 4 . D a s ästhetische Erlebnis und der ästhetische G e g e n s t a n d 3

Der Grundfehler aller bisherigen Auffassungen, die ich im vorigen Paragraphen angedeutet habe, liegt, wie mir scheint, in der Behauptung, daß dasselbe, was ein Element der realen Welt und zugleich ein Objekt unserer Handlungen und auch unseres Erkennens bildet, Gegenstand eines ästhetischen Erlebnisses ist. Es gibt zwar unzweifelhaft Sachlagen, in welchen es so zu sein scheint, als ob gerade diese Auffassung richtig wäre. Erlebten wir etwa nie, daß wir im Frühling, am frühen Morgen den Vorhang von unserem Fenster zurückzogen und auf einmal die Bäume in unserem Garten über Nacht aufgeblüht und in heller Sonne am blauen Himmel weiß schimmern sahen? Wir waren wie geblendet und ganz entzückt von der herrlichen Blüte der Obstbäume am frühen Frühlingsmorgen. Was gefiel uns denn daran so? Sind es nicht gewisse reale Dinge, die wir in der uns umgebenden Welt vorfinden, die wir sehen, bevor wir dieses Entzücken über dies wahre Wunder der Schönheit erlebt haben, und die wir auch weiterhin sehen, wenn die Woge des Gefühls und des Gefallens bereits abgeflaut ist? Und ist es anders - wird man uns fragen - wenn wir, durch die Säle des Louvre zu Paris wandelnd, auf einmal von ferne vor tiefdunklem Hintergrund die schneeweiße Venus von Milo in ihrer ganzen Schlankheit, Leichtigkeit und Anmut in ihrer kaum angedeuteten Bewegung erblicken? Ist das, was uns gefällt, nicht einfach ein Marmorblock, der nur auf eine besondere Weise geformt wurde? Worauf bezieht sich unsere Bewunderung? Die Tatsache, daß dieser geformte Marmorblock das Werk eines Künstlers ist, scheint daran nichts zu ändern, daß das, was uns gefällt, von uns in rein erkenntnismäßiger, forschender Einstellung erkannt werden kann, indem wir

Ein kurzes Resumé dieses Paragraphen bildete meinen Vortrag auf dem II. Internationalen Kongreß für Ästhetik in Paris im Jahre 1937. Es wurde auch in den Akten dieses Kongresses damals veröffentlicht (vgl. "Das ästhetische Erlebnis", Ile Congrès

International

d'Esthétique et des Sciences de l'Art, Paris 1937, Vol. I, p. 54-60). Außerdem ist im Jahre 1960 eine englische Übersetzung der polnischen Fassung dieses Paragraphen, wie er im Jahre 1937 in dem Buch O poznawaniu der Zeitschrift Philosophy

dzieta literackiego

and Phenomenological

[Lwow] veröffentlicht wurde, in

Research,

vol. XXI, 1960 unter dem Ti-

tel "Aesthetic Experience and Aesthetic Object" publiziert worden. Der hier wiedergegebene Text ist etwas erweitert, die ursprüngliche Auffassung aber unverändert geblieben. ["Das ästhetische Erlebnis" ist ebenfalls in R. Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk 3 - 7 , erschienen.]

und Wert, op. cit., S.

200

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

etwa die Maße der Statue feststellen oder die Oberfläche des Marmors genau betrachten, um z.B. kleine Beschädigungen, die er im Lauf der Zeit erlitten hat, festzustellen. Die soeben angeführten Tatsachen bestehen ohne Zweifel. Und trotzdem scheint die Theorie, welche man auf Grund solcher Tatsachen aufstellt, irrig zu sein. Tatsache ist bloß, daß wir in vielen solchen Fällen, wie den soeben angeführten, mit dem Wahrnehmen eines realen Dinges anfangen. Es ist aber die Frage, ob wir von einem realen Gegenstand ausgehend, auch dann noch bei ihm verbleiben, wenn sich in uns die ästhetische Perzeption (Erfassung) vollzieht, und zweitens, ob dieses Ausgehen von einem bestimmten realen Gegenstand (z.B. Marmorblock) in jedem Fall einer ästhetischen Erfassung unentbehrlich ist. Die Tatsache, daß uns völlig fiktive, von uns in der Einbildung erdachte und bloß vorgestellte Gegenständlichkeiten - die also von uns nie wahrgenommen wurden und auch nie wahrgenommen werden können - gefallen, beweist, daß die zweite von den soeben gestellten Fragen negativ beantwortet werden muß. Wir können uns z.B. eine sehr tragische zwischenmenschliche Situation ausdenken, von der wir von Anfang an genau wissen, daß sie nie stattgefunden hat, und die wir auch im Umgang mit anderen Menschen nie erfahren bzw. wahrgenommen haben, und trotzdem können wir ihr gegenüber eine positive oder negative ästhetische Einstellung einnehmen. Weitere Beispiele kann jedes literarische Kunstwerk liefern. Unter den physischen oder psychischen oder endlich psycho-phy si sehen Gegenständen finden sich überhaupt keine literarischen Kunstwerke. Unter den physischen Dingen sind lediglich Bücher vorhanden, in ihrer heutigen Gestalt also zusammengeheftete, mit farbigen Zeichen (Druckerschwärze) bedeckte Papierblätter. Aber ein Buch ist noch kein literarisches Kunstwerk, sondern nur ein materielles Werkzeug (Mittel), einem literarischen Kunstwerk eine feste, relativ unveränderte reale Grundlage zu liefern und auf diesem Wege dem Leser einen Zugang zu ihm zu verschaffen. Unter den psychischen Zuständen und Erlebnissen treten nur Akte des Lesens auf, die früher hier beschrieben wurden, oder verschiedene Denkakte und Vorstellungen, welche sich auf ein bestimmtes literarisches Kunstwerk beziehen, es zum Objekt haben, nicht aber literarische Kunstwerke selbst. Trotzdem können aber literarische Kunstwerke, bzw. ihre Konkretisationen, Objekte ästhetischer Erlebnisse oder mindestens Objekte

§ 24. Erlebnis und ästhetischer

Gegenstand

201

sein, auf deren Grundlage es beim Vollzug entsprechender ästhetischer Erlebnisse zur Konstitution spezifischer ästhetischer Gegenstände kommt, sofern sie in ihnen zu einem gewissen Abschluß gelangt. Im Zusammenhang mit unserer zweiten Frage kann bezweifelt werden, ob man es beim Lesen oder beim Hören eines literarischen Kunstwerks nicht doch zunächst mit einem realen Ding oder Vorgang - mit Schriftzeichen auf dem Papier oder mit dem konkreten Lautmaterial - zu tun haben muß. Daß wir es tatsächlich oft tun, scheint auf den ersten Blick wirklich der Fall zu sein. Indessen brauchen wir es nicht zu tun, da wir es sehr wohl mit Hilfe bloß vorgestellter Schriftzeichen lesen können. Zweitens ist es die Frage, inwieweit wir beim konkreten Lesen eines gedruckten Buches wirklich zunächst das individuelle Papier und die individuellen Flecken von Tinte oder Druckerschwärze sinnlich wahrnehmen und wahrnehmen müssen, oder ob wir sofort darauf eingestellt sind, die typischen Gestalten der gedruckten "Worte" oder die typischen Wortlautgestalten zu erfassen, ohne uns zu Bewußtsein zu bringen, wie die individuellen Schriftzeichen überhaupt aussehen. 4 Nicht in jedem Fall eines ästhetischen Erlebnisses also muß von der Wahrnehmung eines individuellen realen Dinges ausgegangen werden, damit der Übergang zu einem anderen, nicht mehr realen Gegenstand vollzogen werden kann. Das Beispiel mit dem "Lesen" der Korrekturen legt uns die Vermutung nahe, daß auch dort, wo der ganze Vorgang des ästhetischen Erlebnisses mit einer sinnlichen Wahrnehmung (einem schlichten Sehen) eines realen Dinges beginnt oder zu beginnen scheint, die Realität dieses Dinges und die Erfassung dieser seiner Realität und Individualität für den Vollzug der ästhetischen Erfassung und überhaupt für das Sich-Entfalten des gesamten ästhetischen Erlebnisses und endlich zum unmittelbaren Verkehr mit dem ästhetischen Gegenstand gar nicht unentbehrlich ist. Wenn wir - wie man gewöhnlich sagt - den Marmorblock wahrnehmen, der der allgemeinen Auffassung nach eben

Man kann sich davon z.B. bei der Durchführung von Korrekturen überzeugen, wo wir so häufig Fehler "übersehen". Das heißt, wir sind sofort auf das Typische des Wortzeichens eingestellt, und das schlicht und streng Individuelle wird überhaupt nicht im Wahrnehmen erfaßt. Es vollzieht sich also im Grunde schon bei schlichter Lektüre des literarischen Werkes kein wirklicher Übergang vom individuell wahrgenommenen Ding zum nicht mehr schlicht wahrgenommenen, "gesehenen" Worttypus, sondern es werden sofort typische Wortgestalten erfaßt.

202

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

die "Venus von Milo" ist, so könnte es passieren, daß wir dabei einer merkwürdigen Täuschung oder Illusion unterlägen. Wir wären dann zwar davon überzeugt, diesen Marmorblock als etwas Wirkliches wahrzunehmen, dies aber wäre bloß eine Illusion; "in Wirklichkeit" gäbe es kein solches reales Ding im betreffenden Saal des Louvre, oder es existierte nur ein von dem von uns (angeblich) wahrgenommenen völlig verschiedenes Ding. Wäre dann ein ästhetisches Erlebnis unmöglich? Darauf müssen wir antworten: Sofern nur das Phänomen der Venus von Milo weiter bestünde, würde sich an den Bedingungen einer ästhetischen Erfassung nichts ändern. Dieselben Züge des konkretisierten Kunstwerks wären uns gegeben, und wir fühlten im entsprechenden Moment dieselbe Bewunderung. Die Realität des wahrgenommenen physischen Objekts (des Marmorblocks) sowie die Erfassung dieser Realität ist also für die Entfaltung des ästhetischen Erlebnisses gar nicht notwendig. Normalerweise kommt es auch gar nicht zur expliziten Erfassung des Realitätscharakters des Marmorblocks und seiner individuellen Eigenschaften. Und wenn auch dieser Realitätscharakter und die individuellen Züge des Steins erfaßt würden, so bildeten doch weder diese Realität noch diese Züge den Grund dafür, daß uns etwas gefällt oder mißfällt. Anderenfalls müßten alle in ihrem Realitätscharakter deutlich auftretenden Gegenstände für uns "schön", "hübsch", "reizend", "voll Anmut" usw. sein, was gar nicht der Fall ist. Die deutliche Erfassung der Realität des Marmorblocks stört im Gegenteil die freie Entfaltung des ästhetischen Erlebnisses, dessen Gegenstand die Venus von Milo ist. Denn im Grunde müssen wir den Marmorblock auf eigentümliche Weise verlassen, ihn bis zu einem gewissen Grad vergessen, damit es zur Entfaltung und freien Fortbildung des ästhetischen Erlebnisses kommt, in welchem die Venus nicht bloß konstituiert wäre, sondern auch als schön empfunden würde. Dies reicht aber nicht, um behaupten zu können, daß wir in keinem Fall der ästhetischen Erfassung eines ästhetischen Gegenstandes und der Enthüllung seiner Schönheit oder Häßlichkeit bei dem realen Ding verbleiben, mit dessen Wahrnehmung das ästhetische Erlebnis seinen Anfang nahm. Denn es könnte ja so sein, daß zwar die Realität des wahrgenommenen Gegenstandes für sich allein für das Auftreten der ästhetischen Wertmomente des wahrgenommenen Gegenstandes weder nötig ist noch deren Auftreten nach sich zieht oder irgendwie beeinflußt, daß aber trotzdem andere Bestimmtheiten

§ 24. Erlebnis und ästhetischer

Gegenstand

203

des betreffenden realen Gegenstandes sowohl die Quelle als auch das Objekt des ästhetischen Erlebnisses wären. Dieser Meinung sind eben diejenigen Forscher, die die Objekte des ästhetischen Erlebens und Erfassens einfach für gewisse, besonders beschaffene reale, sinnlich wahrnehmbare Dinge halten. Von dieser besonderen Beschaffenheit - sagen sie - hinge alles ab, und weiter brauche nichts anderes mehr berücksichtigt zu werden. Um diese Frage zu entscheiden, beachten wir vor allem, was wir tun, wenn wir in rein erkenntnismäßiger Einstellung nach der Erkenntnis eines realen Dinges mit Hilfe entsprechender sinnlicher Wahrnehmungen bzw. Erfahrungen streben. Und zweitens, was wir tun, wenn sich in uns ein Vorgang des ästhetischen Erlebnisses vollzieht, das uns letzten Endes an ein eigentümliches Objekt heranbringt, welches für uns in unmittelbarem Erfahren eigener Art so oder anders ästhetisch wertvoll ist. Es wird uns aber nicht gelingen, dies zu klären, solange wir an dem ziemlich allgemein verbreiteten Vorurteil festhalten, die beiden hier gegenübergestellten Tätigkeiten oder Verhaltensweisen seien nur gewisse momentane Erlebnisse, die sich voneinander nur dadurch unterschieden, daß sich im zweiten Fall an die momentane, sofort vorübergehende sinnliche Wahrnehmung ein "Gefühl" des Gefallens oder Mißfallens anschließt, während dies im ersten Fall gar nicht statt hat. Sowohl das Erkennen eines realen Dinges in sinnlicher Wahrnehmung (oder bloß mit deren Hilfe) als auch das sog. "ästhetische Erlebnis", das wir gleich betrachten werden, sind zeitlich ausgedehnte Vorgänge, die sich in mannigfach bestimmten Phasen entwickeln und in deren Verlauf gewöhnlich mehrere, voneinander verschiedene Bewußtseinsakte vollzogen werden. 5 Den Marmorblock, den man heute als "Venus von Milo" kennt, kann man in der forschenden Einstellung nur auf die Weise erkennen, daß man vor allem eine Mannigfaltigkeit sinnlicher und insbesondere visueller Wahrnehmungen vollzieht, die oft unmittelbar aufeinander folgen, aber nicht notwendig so folgen müssen. Diese Wahrnehmungen dürfen aber nicht - wie einmal Max Scheler boshaft sagte - bloßes "Begaffen" sein, sondern sie müssen auf den

Man hat das ästhetische Erlebnis vorwiegend für ein momentanes

Erlebnis gehalten, es

fehlte aber nicht an Hinweisen darauf, daß es eine Zeitlang dauert und sich in mehreren Phasen entwickelt. Ich möchte aber im Folgenden etwas mehr zeigen, daß es nämlich - sofern es sich nur ungestört entwickelt - in seinem typischen Verlauf aus mehreren, sinnvoll zusammenhängenden Phasen besteht, die in einer bestimmten Ordnung aufeinanderfolgen.

204

IV. Abwandlungen des Erkennens des Uterarischen Kunstwerks

Marmorblock so verständnisvoll gerichtet und konzentriert sein, daß man sich in ihrem Vollzug zu Bewußtsein bringt, mit was für einem und mit einem wie beschaffenen Ding man es da zu tun hat. Es muß dabei berücksichtigt werden, auf welche Weise dieses Ding in seinem Beschaffensein gegeben wird und unter welchen Bedingungen dies geschieht. Denn diese Gegebenheitsweise berechtigt uns anzuerkennen, daß die Bestimmtheiten, in denen es gegeben ist, ihm wirklich als seine Eigenschaften zukommen. Es kommen also im Erkenntnisvorgang nicht bloß Wahrnehmungen, sondern auch gewisse Urteile vor, in denen die Ergebnisse der Wahrnehmung zusammengefaßt und begrifflich gefaßt werden und auf diesem Wege dem Erkennenden zu Bewußtsein kommen. Es müssen dann die Ergebnisse verschiedener, sich auf denselben Marmorblock beziehender Wahrnehmungen miteinander verglichen und eventuell zusammengefaßt werden, wobei beständig die objektiven und subjektiven Bedingungen, unter welchen die betreffenden Wahrnehmungen vollzogen wurden, berücksichtigt werden, da sie auf die erkenntnismäßige Auswertung dieser Ergebnisse Einfluß haben. So handelt es sich dabei z.B. um die Art der Beleuchtung des Raumes, in welchem jener Marmorblock sich befindet, um das Auftreten anderer Gegenstände (Dinge) im Gesichtsfeld und in der Umgebung des wahrgenommenen Dinges, deren Mitbeachtung mindestens gewisse scheinbare Charaktere an dem wahrgenommenen Ding hervorrufen kann. 6 Solche Momente, die den Gehalt des im Wahrnehmen Gegebenen beeinflussen, brauchen nicht einmal gewisse im Gesichtsfeld auftretende Dinge zu sein; es können z.B. im Wahrnehmenden zufällig auftretende Störungen, Stimmungen oder Gefühle sein, deren Vorhandensein gar nicht durch das im Wahrnehmen Gegebene hervorgerufen wird, aber auf den Gehalt des Gegebenen nicht ohne Einfluß bleibt. Die Berücksichtigung all dieser mitbedingenden Umstände hat die Beurteilung der Rolle zum Zweck, die sie im Verlauf der Wahrnehmung und beim Auftreten

Wir erinnern uns daran, wie der Saal einst aussah, in dem die Venus von Milo aufgestellt war. Die Wände waren damals mit rotem Tuch bespannt, das auf eine sehr unangenehme Weise mit der Farbe der Statue kontrastierte. Jetzt steht die Venus in einem farbig neutralen Raum, der zum Kunstwerk einen unaufdringlichen Hintergrund bildet. Abends scheint die künstliche Beleuchtung zu brutal zu sein. Aber die Rolle dieser jetzt berücksichtigten Umstände hat erst bei einer ästhetischen Betrachtung der Venus, die sich mit dem Marmorblock nicht identifizieren läßt, eine Bedeutung.

§ 24. Erlebnis und ästhetischer

205

Gegenstand

dieser oder jener Bestimmtheiten im Gegebenen spielen. Die Motive, die uns dabei leiten - die z.B. von den Naturforschern beim Beobachten gewisser Dinge oder Vorgänge oder bei der Durchführung wissenschaftlicher Experimente ständig beachtet werden - beruhen einerseits in der Tendenz, dem Gegenstand, der dem Erkennen unterworfen wird, ja nicht solche Momente zuzuerkennen, die zwar in der Wahrnehmung als Eigenschaften des Gegenstandes auftreten, die aber ihr Auftreten den Umständen verdanken, unter welchen der Gegenstand wahrgenommen wird und nicht im Beschaffensein und der Natur dieses Gegenstandes selbst ihren Grund haben. Andererseits handelt es sich

darum, diesem

Gegenstand

gewisse

Eigenschaften

berechtigterweise zuzuerkennen. Es gibt dabei zwei verschiedene Möglichkeiten: Entweder sind manche Bestimmtheiten sichtlich als Eigenschaften des Gegenstandes gegeben; dann sollen sie dem Gegenstand zuerkannt werden, wenn ihr Gegebensein sich nicht aus gewissen sich wandelnden (außerhalb des Gegenstandes liegenden) Umständen des Wahrnehmens (oder irgendeiner anderen Erkenntnisweise) ergibt, sondern sich im ganzen Erkenntnisvorgang als von diesen Umständen unabhängig und als lediglich in dem betreffenden Gegenstand, dem sie zukommen, fundiert erweist. Oder aber sie sind in keiner Wahrnehmung des betreffenden Gegenstandes selbst gegeben; dann haben wir aber das Recht, auf Grund einer Reihe kontrollierter Wahrnehmungen den Schluß zu ziehen, daß sie einen von allen bei der Wahrnehmung vorkommenden Umständen unabhängigen Faktor bilden, der die unentbehrliche und hinreichende Bedingung für das Auftreten unter den Gegebenheiten

der

Wahrnehmungen

vom

betreffenden

Ding

einer

bestimmten Qualität als einer Eigenschaft dieses Gegenstandes darstellt. 7 In diesem Fall sollen sie als Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes anerkannt werden. Der ganze, aus vielen verschiedenen Erkenntnisakten zusammengesetzte Vorgang des Erkennens wird da - sofern er nur regelmäßig verläuft - von der Idee geleitet, daß die in ihm gewonnenen Erkenntnisergebnisse dem zu erkennenden Gegenstand angepaßt werden und daß alle Momente aus ihm beseitigt werden, die auch nur den geringsten

Zum Beispiel: die Eigenschaft der Reflexion gewisser Wellen (oder Strahlen) und der Absorption anderer derartiger Wellen.

206

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Verdacht erwecken, daß sie auf irgendwelche dem Gegenstand fremde Faktoren zurückgehen. Ganz anders verhält es sich mit dem verhältnismäßig komplizierten Vorgang, den ich der Kürze halber "ästhetisches Erlebnis" nennen werde. Wer einmal in Paris war und den Marmorblock aus der Nähe beobachtet hat, der uns das Erfassen der Venus von Milo ermöglicht, der weiß, daß dieser Block verschiedene reale Merkmale hat, die bei dem ästhetischen Erlebnis, in welchem uns letzten Endes die Venus von Milo gegeben wird, nicht nur nicht in Betracht kommen, sondern - wenn sie beachtet würden - uns beim ästhetischen Erleben deutlich störten, und die deswegen, wie unwillkürlich, übersehen werden. Die "Nase" der Venus z.B. hat einen dunklen Fleck, der die einheitliche Fläche dieser "Nase" unterbricht und sie verunstaltet. Der Stein zeigt auch gewisse Unebenheiten, Einbuchtungen und an den "Brüsten" sogar kleine "Löcher", die - wie es scheint - durch das Wasser ausgehöhlt wurden, eine "Beschädigung" der linken "Brustwarze" 8 usw. Dies alles übersehen wir in der ästhetischen Einstellung, in welcher sich die Erfassung der Venus vollzieht. Wir verhalten uns so, als bemerkten wir diese Einzelheiten des Steins nicht, als hätten wir die Gestalt der "Nase" in einheitlicher Farbe gesehen, als zeigte die Oberfläche der Brüste keine kleinen Beschädigungen. Wir sehen tatsächlich - würde man vielleicht zu sagen geneigt sein - die glatte, etwas glänzende, gelblich-weiße Oberfläche des Blocks, und doch ist es so, als sähen wir sie nicht, als vergäßen wir irgendwie, daß der "Leib" der Venus doch nicht so blendend "weiß" ist, daß er keine so glänzende Oberfläche hat usw. Wir übersehen das, was uns in der Auffassung vom "lebendigen Leib einer Frau", ja einer "Göttin" nicht paßt, und wir ergänzen - ohne uns dies deutlich zu Bewußtsein zu bringen und gewissermaßen unwillkürlich - diejenigen Momente, die zu der Gestalt "lebendiger Leib einer Frau" passen. Diese Momente sind nicht etwa bloß gedacht (obwohl man gerne sagen würde, es geschehe eben "in Gedanken", daß sie da sind), sondern gelangen irgendwie zur lebendigen Erscheinung und fügen sich harmonisch in die Gesamtheit anderer die Gestalt des Frauenleibes konstituierender Momente. Im Verlauf des ästhe-

Schon wenn wir da von einer "Nase", von der "Brust", von einer "Beschädigung" sprechen, ist es klar, daß wir bereits über die sinnliche Wahrnehmung des Marmorblocks hinaus sind und auch diesen Block verlassen haben und schon sozusagen bei der "Venus" - irgendwie - angelangt sind.

§ 24. Erlebnis und ästhetischer

Gegenstand

207

tischen Erlebnisses werden gerade solche Momente hinzukomponiert, welche bei Erhaltung des möglichen "Optimums" des ästhetischen "Eindrucks" eine positive, konstruktive Rolle spielen und die Erscheinung derjenigen Gestalt des ästhetischen Gegenstandes herbeiführen (oder dazu wenigstens verhelfen), welche ästhetisch relevante Qualitäten und ästhetische Werte unter den gegebenen Umständen im relativ höchsten Grade zur Ausprägung bringt. 9 Beim Erkennen des Marmorblocks in der Forschungseinstellung wäre es durchaus fehl am Platz, die Beschädigungen zu übersehen und an ihrer Stelle nicht vorhandene Qualitäten zu setzen. Dies bedeutete ja eine bewußte oder unbewußte Fälschung. Bei ästhetischer Perzeption der Venus dagegen ist dies nicht nur durchaus "am Platz", sondern es ist sogar- wenn man so sagen darf "empfehlenswert". Und es geschieht merkwürdigerweise auf eine von uns gar nicht beabsichtigte Weise, wie von selbst. Und zwar geschieht es gar nicht deswegen - wie man das vielleicht interpretieren wollte - , weil wir uns etwa zuredeten, alle jene Einzelheiten, die wir übersehen, seien ja nur "spätere Beschädigungen", die wir somit "übersehen", von denen wir "abstrahieren" dürften, weil sie in der Skulptur, wie sie aus der Hand des Künstlers hervorgegangen ist, gar nicht vorhanden waren. Eine solche Auffassung dieses Tatbestandes wäre nur dann gerechtfertigt, wenn wir als Kunsthistoriker in forschender Einstellung auf Grund des jetzigen Zustandes der Statue (des Steines) erfahren wollten, wie sie ursprünglich war, als sie aus der Hand des Meisters hervorging. Dann müßten wir vor allem die jetzt fehlenden Hände der Venus beachten und imaginativ irgendwie ergänzen, was man übrigens bei verschiedenen - und merkwürdigerweise mißlungenen - Rekonstruktionsversuchen tatsächlich zu tun bestrebt war. Das tun wir aber merkwürdigerweise gar nicht. Denn sowohl die Weise als auch der Grund des "Übersehens" sowie des "Hinzukomponierens" gewisser Einzelheiten in der ästhetischen Einstellung und im ästhetischen Erfassen der Venus sind von dem soeben beschriebenen

J. Volkelt spricht in seinem System der Ästhetik [3 Bde.. München 1905; ^ 1925-1927] von einem "Ergänzen" im ästhetischen Erlebnis - wie er sagt - der "wirklichen Empfindungen" durch "vorgestellte Empfindungen". Er spricht dabei von einer "Einempfindung" und von einem "Mitsehen". Wie mir scheint, steht beides mit den von mir hier beschriebenen Tatbeständen in engem Zusammenhang. Ob von "vorgestellten Empfindungen" mit Recht gesprochen werden darf, ob es sich überhaupt um "Empfindungen" handelt oder handeln kann, lassen wir hier dahingestellt. (Vgl. 1. c. Bd. I, S. 117. 2. Auflage 1927.)

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Fall der Betrachtung der "Skulptur" völlig verschieden. Die "übersehenen" Einzelheiten "stören" uns irgendwie, obwohl sie von uns in ihrer Eigenheit und auch in ihrer störenden Rolle nicht deutlich, nicht "thematisch" erfaßt werden. Sie werden nur im Vorbeigehen mitbeachtet, und wir fühlen gewissermaßen oder - wenn man will - "empfinden" die sich anzeigende Störung als einen disharmonisierenden Faktor, der die sich entwickelnde Einheit und Harmonie des Gegenstandes zu untergraben droht, und sehen dann gewissermaßen von diesem nur störenden Moment ab. Dabei ist dieser Gegenstand, dessen Harmonie und Einheit gefährdet wird, doch nicht der Marmorblock selbst, der Stein, sondern bereits die Venus. Für einen Marmorblock bedeutete es keine "Störung", wenn er an einer bestimmten Stelle eben einen dunkleren Fleck hätte oder eine flache Aushöhlung auf einer halbkugelförmigen Rundung. Irgendwie also hängt das miteinander zusammen, daß uns bereits nicht der Stein, sondern die Venus gegeben ist, daß die störenden Einzelheiten "übersehen" werden, da wir von ihnen absehen, oder gar, daß wir an ihrer Stelle doch etwas fast völlig anderes wie sehend erfassen. Und weil uns die Venusgestalt bereits gegeben ist, dürfen wir von "Händen", "Brüsten", vom "Kopf' und vom "Blick" der Venus sprechen. Und zwar dürfen wir davon sprechen, weil wir dies alles bereits sehend erfassen. Wir sehen doch den lebendigen Leib einer Frau, obwohl er doch zugleich nicht lebt, was wir peripher doch irgendwie wissen, obwohl wir geneigt sind, es zu vergessen, fast ebenso, wie dasjenige, wovon wir absehen oder was wir "übersehen". Daß es gerade die Venus ist, das sehen *wir heutigen Europäer* freilich nicht. Wenn wir so sagen und auch gewissermaßen die Venus zu erfassen glauben, so geschieht das, weil wir bereits irgendeine Information erhalten haben. Von den Kunsthistorikern natürlich, die uns im Museum alles schön sagen, was ihnen in ihrer kunsthistorischen und didaktischen Einstellung notwendig zu sein schien. Wie es aber war, als die Tradition der griechischen Religion oder, allgemeiner gesagt, der altgriechischen Lebensweise noch ganz lebendig war, das können wir heute nicht mehr nacherleben. Nur vermuten können wir jetzt, daß diese Frauengestalt für die alten Griechen doch irgendwie *die Imago* einer individuell bestimmten Göttin war. Man könnte sagen: natürlich, auch damals war irgendeine "Information", daß es die "Venus" sein soll, notwendig. Es handelte sich aber sicher nicht um diese rein intellektuelle, kunsthistorische Information, die man uns heute gibt, ohne die wir überhaupt mit der

§ 24. Erlebnis und ästhetischer

Gegenstand

209

"Venus" auf keine Weise in Kontakt kommen könnten und die doch den alten Griechen damals kaum nötig und brauchbar war. Sie waren doch in einer lebendigen religiösen und mythologischen Tradition erzogen und lebten in ihr. Sobald diese Tradition bis zu uns vordringt, erleben auch wir bei der Betrachtung der "Venus von Milo" den Eindruck, wir hätten es mit einer Verkörperung einer mythischen Göttin zu tun, obwohl man es der zur Darstellung gebrachten Frauengestalt sozusagen nicht "ansieht". Aber, wie es auch damit stehen mag, unzweifelhaft ist uns die "Venus von Milo" als eine junge Frau gegeben, und das ergibt sich nicht aus irgendeinem sekundären, begrifflichen Wissen (einer - wie es jetzt Mode ist zu sagen - "Information"), sondern daraus, daß die Statue eben eine bestimmte körperliche Gestalt hat, die uns veranlaßt, einen bestimmten Frauenleib - und mehr - eine bestimmte Frau zu sehen. Diese gesamte Gestalt ist sinnbestimmend für das Erscheinen der Frau, und zwar deswegen, weil sie für den Marmor gar nicht charakteristisch ist. Sie steht in gar keinem Zusammenhang mit seiner allgemeinen Natur und wird ihm sichtlich von außen her künstlich aufgezwungen. Andererseits ist sie gerade eine "Frauengestalt", für den weiblichen Leib charakteristisch. Beim ersten Anblick wird uns somit diese Deutung aufgedrängt. Es entscheidet sich gewissermaßen von selbst, daß wir in der räumlichen Gestalt des Steins die Gestalt des Frauenleibes anschaulich erfassen, so daß wir dann sozusagen sekundär das Recht erhalten, vom Kopf, von den (fehlenden) Händen, von den Brüsten, von einer bestimmten Bewegung des ganzen Leibes zu sprechen. Wir sehen, es ist uns ein bestimmter Frauenleib gegeben. Und nicht nur ein Leib. Wir sehen im ästhetischen Erlebnis gewissermaßen noch mehr, wir erfassen auf anschauliche Weise die "Venus", aber das soll jetzt nur heißen, eine bestimmte Frau in einer bestimmten Situation und einer Geste, in einer psychischen Zuständlichkeit, welche im Gesichtsausdruck, im Blick, in einem ganz besonderen Lächeln usw. zur Ausprägung gelangt. Es ist aber zugleich kein realer Frauenleib und auch keine reale Frau. Man kann sich doch denken: wenn wir eine reale Frau mit solchen abgehauenen (sagen wir: bereits geheilten) Armen (Händen) erblickten, so würden wir gewiß einen starken Widerwillen oder Ekel oder endlich Mitleid für die arme Frau empfinden. In der ästhetischen Perzeption (Erfassung) der "Venus von Milo" ist indessen nichts Derartiges vorzufinden. Es geschieht dabei etwas ganz Merkwürdiges. Man kann weder sagen, wir sähen etwa die Armstümpfe

210

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

überhaupt nicht, noch auch, wir sähen sie gerade deutlich, wir lenkten unsere Aufmerksamkeit besonders auf sie und unterstrichen gewissermaßen das Bestehen dieses Mangels, oder endlich wir ergänzten in Gedanken die fehlenden Arme irgendwie. 1 0 In der ästhetischen Einstellung stört uns nicht, daß die Arme fehlen. Man hat - wie bekannt - mehrmals die Frage aufgeworfen, ob es nicht besser wäre, wenn diese Arme nicht abgeschlagen wären. Aber in welcher Hinsicht "besser"? Ja doch nicht für den Marmorblock, der ja als "Block" gewiß schon seinen Materialwert verloren hat. Aber in gleichem Maß nicht für die Venus als eine Frau. Daran denkt man ja überhaupt gar nicht, wenn es auch wirklich besser ist, heile Arme zu haben als "abgehauene". Aber doch gewiß "besser" für die Gestaltung eines im ästhetischen Erlebnis zur Konstituierung gelangenden ästhetischen Gegenstandes. Und noch genauer: "besser" mit Rücksicht auf einen Wert besonderer Art, der im ästhetischen Erleben zur anschaulichen Erfassung gelangt und in diesem Gegenstand seine Fundierung findet. So sehr auch dabei die Ansichten darüber, was besser wäre, auseinandergehen mögen, ist es beachtenswert, daß es viele geben wird, die auf diese Frage mit einem entschiedenen "Nein" antworten. Ohne auf den Mangel der "fehlenden" Arme gerade eingestellt zu sein, übersehen wir auch nicht völlig ihr Fehlen - aber nur sekundär, indem wir vor allem einen ästhetisch positivwertigen anschaulichen Charakter der ganzen

Gestalt der

"Venus" erfassen; die Arme hindern uns nicht daran, die reine Linie des Körpers und die eigentümliche Schlankheit

der ganzen Gestalt direkt zu

sehen, was sich besonders dann zeigt, wenn wir die Statue aus größerer Entfernung erblicken und uns die Subtilität und Leichtigkeit der kaum angedeuteten Bewegung des Leibes auffällt. Die Arme brächten noch einen weiteren Akzent und eine neue Bewegung in das Ganze. Dies hätte eine Komplikation zur Folge, die im jetzigen Zustand nicht vorhanden ist und deren Fehlen uns erlaubt, uns auf die Gestalt des Frauenleibes (falsch wäre es zu sagen: des "Rumpfes", obwohl es anatomisch richtig wäre) in Ruhe zu konzentrieren.

Es ist natürlich beides sehr wohl möglich, und wir täten es gewiß, wenn wir die Aufgabe bekämen, die Statue in ihrem jetzigen Zustand wissenschaftlich zu beschreiben oder Entwürfe zu einer "Rekonstruktion" des Kunstwerks in seinem ursprünglichen Zustand zu machen. Das Merkwürdige ist aber gerade, daß wir es in der ästhetischen Einstellung gar nicht tun.

§ 24. Erlebnis und ästhetischer

Gegenstand

211

Wie dem auch sein mag, sicher ist nur, daß die Grundsituation, in welcher es zu der Überlegung, was "besser" wäre, kommt, weder die schlichte sinnliche Wahrnehmung eines Marmorblocks noch die Wahrnehmung einer lebendigen, realen Frau, noch endlich die kühle Betrachtung eines Kunsthistorikers ist, der die Einzelheiten des aus dem Meer herausgeholten "Kunstwerks" genau beachtet, um es "wissenschaftlich" zu beschreiben, und der sich hauptsächlich auch bloß einer sinnlichen Wahrnehmung bedient. Es ist dagegen diejenige Situation, in welcher man erwägt, was für die ästhetische Gestalt des Kunstwerks besser wäre. Die sinnliche Wahrnehmung bildet für sie nur eine zwar unentbehrliche Grundlage 11 weiterer, in ihr eine gewisse Stütze findender Erlebnisse, die schließlich zur Erfassung der "Venus von Milo" als eines Objekts eigentümlicher ästhetischer Erfahrung führen. Korrelativ gesagt: das Objekt dieser ästhetischen Erfahrung ist mit keinem realen Gegenstand identisch 12 . Lediglich manche auf eine besondere Weise gestalteten realen Gegenstände (insbesondere in der Skulptur: Dinge) dienen als Ausgangspunkt und Grundlage zur Konstituierung gewisser ästhetischer Gegenstände im Verlauf eines sich in der ästhetischen Einstellung entfaltenden Erlebnisses. Diese als Ausgangspunkt und Grundlage dienenden realen Gegenstände sind in ihrer Gestalt und in verschiedenen sichtbaren Zügen nicht ganz irrelevant und nicht beliebig, wenn es zu einem Erlebnis kommen soll, in dem sich ein bestimmter ästhetischer Gegenstand konstituiert. Der schöpferische Künstler sucht ihm eben jene Gestalt und jene zur Anschauung gebrachten Züge zu verleihen, die - bei entsprechender Einstellung des Betrachters Richtlinien der Konstituierung eines (vom Künstler erwarteten, in gewissem Sinn vorausgesehenen) ästhetischen Gegenstandes festlegen. Da liegen eben die "Geheimnisse" der Kunst, die wir erst, nachdem das Kunstwerk bereits geschaffen ist, zu entziffern vermögen. Aber das ist ein Thema, das wir hier

11

12

Diese Grundlage unterliegt - wie im Folgenden ausgeführt wird - im Verlauf des ästhetischen Erlebnisses einer wesentlichen Umwandlung. Die Auffassung, daß der ästhetische Gegenstand kein reales Ding sei, wird im System

der

Ästhetik J. Volkelts nachdrücklich vertreten; sie findet sich auch z.B. in R. Odebrechts Buch Grundlegung

einer ästhetischen

Werttheorie [Berlin 1927], So ist die eben ausgesprochene

Behauptung nichts Neues. Mit dieser bloßen Feststellung ist aber auch nicht viel getan. Es muß vor allem gezeigt werden, wie dieser Gegenstand in einem besonderen Erlebnis zur Konstituierung gelangt und zur konkreten Erscheinung gebracht wird, und zweitens, wie er sich in seiner allgemeinen Form näher umschreiben läßt.

212

IV. Abwandlungen

des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

nicht allgemein entwickeln können. Momentan ist nur wichtig, daß das in Frage kommende Erlebnis nicht ein momentanes, auf einmal sich realisierendes und sogleich verlöschendes Erlebnis ist, sondern ein Vorgang, der sich in einer Mannigfaltigkeit aufeinanderfolgender Erlebnisse und Verhaltensweisen des ästhetischen Betrachters entfaltet und in seinen einzelnen Phasen sozusagen besondere Funktionen auszufüllen hat. Um die Venus von Milo wirklich in ästhetischer Erfahrung zur vollen Gegebenheit zu bringen und die in ihr gründenden Werte zu erschauen, genügt es nicht, auf den Marmorblock und eventuell schon auf die Venus von einem einzigen Gesichtspunkt aus flüchtig hinzublicken und sich dann ruhig abzuwenden, in der Überzeugung, man habe schon alles "gesehen". Sobald es bereits dazu gekommen ist, daß man die Venus bzw. die Frauengestalt sieht, muß man sie von verschiedenen Seiten und auch von verschiedenen Gesichtspunkten aus in wechselnden perspektivischen Verkürzungen betrachten und auf Grund der sich dabei vollziehenden, wesentlich modifizierten, 1 3 sinnlichen Wahrnehmungen in jeder neuen Phase des sich entfaltenden Erlebnisses die sichtbaren Einzelheiten des Ganzen, sowie auch dieses Ganze des Kunstwerks selbst, erfassen, welche die ästhetischen Werte zur Enthüllung und auch zu einer besonderen Wirkung bringen. Und erst wenn es gelungen ist, diese Werte anschaulich zu konkretisieren und synthetisch die letzte Einheit des Ganzen zu erlangen, dann kann man sich erst in einer ganz besonderen emotionalen Kontemplation dem Zauber der sichtbaren und gefühlten Schönheit des schließlich konstituierten ästhetischen Gegenstandes hingeben. Dieser ganze, oft sehr komplizierte Vorgang kann sich im einzelnen Fall noch auf sehr verschiedene Weise abspielen. Sehen wir aber hier davon ab und versuchen wir, in diesen mannigfachen Abwandlungen die wichtigsten Züge einer sich konstant erhaltenden Struktur des ästhetischen Erlebnisses allgemein zu erfassen. 1. Im Gegensatz zu dem, was man öfters hört, ist das ästhetische Erlebnis kein bloßes Erlebnis einer momentanen Lust oder Unlust, die sich in uns als eine Art Reaktion auf etwas in sinnlicher Wahrnehmung Gegebenes regte. 11 Modifiziert insofern, als die endgültige Gestalt des physischen Dinges (z.B. des Marmorblocks mit einer merkwürdigen raumlichen Gestalt) nicht einfach gegeben wird, sondern gerade dieser räumlichen Gestalt ein anderes Subjekt sozusagen unterschoben wird - eben nicht ein toter Marmorblock, sondern eine lebendige Frau.

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

213

Nur scheinbare Motive sprechen dafür, daß dieses Erlebnis wirklich momentan und relativ einfach ist. Sie kommen daher, daß sich oft - infolge ganz nebensächlicher Gründe - das ästhetische Erlebnis nicht voll entfaltet. Es wird unterbrochen, bevor es zur Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes gekommen ist, und infolgedessen fehlt auch die Kulmination des Erlebnisses. Gewisse Berufsgewohnheiten oder künstliche Vorbereitungen führen dazu, daß es sich nicht in seinem ganzen Verlauf entwickelt, sondern sich erst sozusagen von der Mitte an, nachdem der ästhetische Gegenstand schon zur Gegebenheit gelangt ist, zu entfalten beginnt. 14 So ist es z.B., wenn wir ein Bild betrachten, das wir schon mehrmals gesehen und so zu sehen gelernt haben, wie es sich uns einst im ästhetischen Erlebnis als ästhetisches Objekt in ganz bestimmten Momenten konstituiert hat. Die Quelle der Auffassung von der Augenblicklichkeit des ästhetischen Erlebnisses kann auch darin liegen, daß man es nur in seiner letzten, abschliessenden Phase einer Analyse unterwirft. Dagegen ist die beständige Reduzierung des ästhetischen Erlebnisses auf Lust oder Genuß nur der Ausdruck der Primitivität der psychologischen Behandlung des ganzen Problems. Man stellt sich dabei nicht einmal die Frage, warum dann dieses Erlebnis "ästhetisches" Erlebnis genannt wird, obwohl schon z.B. Baumgarten es wohl im Sinn hatte. Die Länge sowie die Komplizierung des ästhetischen Erlebnisses kann übrigens sehr verschiedene Grade erlangen und hängt davon ab, mit was für einem Gegenstand man es zu tun hat, mit einem mehr oder weniger komplizierten oder gar einem einfachen Gegenstand, und davon, ob er selbst sich in mehreren Zeitphasen - wie z.B. ein musikalisches oder ein literarisches Kunstwerk - entfaltet oder, im Prinzip wenigstens, "auf einmal" erfaßt werden kann, wie z.B. ein Bild (obwohl es tatsächlich nie zu einer momentanen Erfassung eines Bildes kommt). Manchmal kann auch eine einfache Farbenqualität oder eine besondere Beschaffenheit eines Tones (z.B. seine Klangfarbe) zum Objekt eines ästhetischen Erlebnisses werden, welches ebenfalls relativ einfach ist und gewöhnlich rasch vorbeigeht; aber auch dieses Erlebnis ist kein momentanes und einfaches Lust- oder Unlustgefühl.

14

Ostap Ortwin [1876-1942], ein bedeutender polnischer Kritiker und Uteraturforscher, hat mich darauf aufmerksam gemacht.

214

IV. Abwandlungen

des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

2. Wenn ein ästhetischer Vorgang mit rein sinnlichem Wahrnehmen beginnt, so ist es die interessanteste und zugleich die schwierigste Aufgabe zu klären, worin der Übergang von einem Wahrnehmen eines realen Gegenstandes (Dinges) zum ästhetischen Erlebnis besteht, jene eigentümliche Wandlung von der natürlichen Einstellung des praktischen Lebens oder von einer Forschungseinstellung in die ästhetische Einstellung. Was ruft diese Wandlung der Einstellung hervor? Was geschieht, wenn man, statt sich weiter mit den verschiedenen Angelegenheiten des täglichen, praktischen oder theoretischen Lebens zu beschäftigen, dessen "normalen" Gang (wie oft ganz plötzlich und unerwartet) unterbricht und sich mit etwas anderem zu beschäftigen beginnt, was zu unserem Leben gewissermaßen nicht zu gehören scheint, es jedoch zugleich auf ungeahnte Weise bereichert und ihm einen neuen, oft sehr tiefen Sinn verleiht? Es kann sein, daß es bei verschiedenen Menschen zu dieser Wandlung auf verschiedene Weise kommt, und daß sie selbst sich j e nach den Umständen auf sehr verschiedene Weise vollzieht. Es wird aber vielleicht doch nicht sehr weit von der Wahrheit entfernt sein, wenn ich da auf folgende - wie ich glaube - wesentliche Momente hinweise: Beim Wahrnehmen eines realen Dinges etwa fällt uns eine eigentümliche Qualität oder eine Mannigfaltigkeit von Qualitäten oder endlich eine besondere Gestalt (z.B. eine Farbe oder eine Farbenharmonie (ein Akkord) oder eine Qualität einer Melodie oder eines Rhythmus usw.) auf, die nun nicht nur unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht und konzentriert, sondern uns zudem nicht kalt läßt. Sie ist uns irgendwie nicht gleichgültig besondere W e i s e .

'5

15

und affiziert uns auf

Diese besondere, uns auffallende und uns affizierende

Was das für eine Qualität ist, das läßt sich nicht von vornherein sagen, da dies manchmal nicht nur von ihr selbst, sondern auch von der Prädisposition des wahrnehmenden Subjekts abhängt. Darauf, daß dies meist eine Gestaltqualität ganz besonderer Art ist, hat Frau Luszczewska-Romahn in den Diskussionen, welche in meinem Ober-Seminar über das ästhetische Erlebnis im Jahr 1935/36 an der Universität Lwów stattgefunden haben, hingewiesen. In diesem Seminar habe ich meine hier zusammengefaßte Auffassung des ästhetischen Erlebnisses zum ersten Mal entwickelt und bin meinen damaligen Mitarbeitern und Freunden, die an diesem Seminar teilnahmen, für manche kritische Bemerkung meinen besten Dank schuldig. Der einige Jahre später ausgebrochene Krieg und die darauffolgenden Jahre haben es mit sich gebracht, daß von der damals 30 Personen zählenden Arbeitsge-

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

215

Qualität ruft in uns eine ganz eigentümliche Emotion hervor, die ich im Hinblick auf ihre Rolle im ästhetischen Erlebnis die "Ursprungsemotion" dieses Erlebnisses nennen will. Denn sie ist der eigentliche Anfang des spezifischen Vorgangs des ästhetischen Erlebnisses, obwohl nicht vergessen werden darf, daß sie bereits die Folge der Affektion ist, der wir durch jene uns auffallende Qualität unterliegen. Die Qualität fällt uns - wie gesagt - auf, drängt sich auf, ergreift uns oder wie man sonst noch sagen mag. Dadurch will ich andeuten, daß ihre Aufnahme passiv und in dieser Erlebnisphase auch vorübergehend ist, sie selbst dagegen sich durch eine eigentümliche Aggressivität uns gegenüber auszeichnet. Sie und ihre Anwesenheit sind dabei der Art, daß wir, würde das ästhetische Erlebnis in dieser Phase abgebrochen, nicht imstande wären, die Frage zu beantworten, was das für eine Qualität war. Wir empfangen vielmehr nur eine Empfindung von ihr, die uns aus dem Gleichgewicht bringt, wir erleben sie zu stark, als daß wir sie wirklich zu erfassen vermöchten. Die Ursprungsemotion, die sich aus diesem Empfangen jener Qualität entwickelt, ist aber nicht jenes "Gefallen", von welchem man oft bis zur Langeweile in verschiedenen Betrachtungen über "Ästhetik" spricht. In ihrem ersten Anfang, im Moment, wo sie entsteht, ist sie nichts anderes als ein Erregtsein durch jene Qualität, welche uns am wahrgenommenen Gegenstand auffiel oder sich uns aufdrängte. Ohne daß wir uns im ersten Moment zu Bewußtsein brächten, was das für eine Qualität ist, fühlen wir nur, sie locke uns an, sie wolle uns dazu bewegen, uns ihr zuzuwenden, um sie in einem direkten anschaulichen Kontakt (wie durch Berührung) zu besitzen. In dieser Erregung ist zugleich das Moment einer gewissen, im allgemeinen angenehmen Verwunderung über das Auftreten der ursprünglich erregenden Qualität enthalten oder vielmehr die Verwunderung darüber, daß die Qualität eben eine solche ist, daß es überhaupt so etwas gibt, obwohl wir noch gar keine Zeit hatten, zu ihrer deutlichen, beabsichtigten und bewußten Erfassung zu gelangen. Um das zunächst auf übertragene Weise auszudrücken, berührt, weckt oder erregt sie uns eher auf eine eigentümliche Weise, als daß sie uns gegeben wäre. Die-

meinschaft (an der einige Professoren, Kunstkritiker sowie mehrere junge Doktoren teilnahmen) nur einige wenige am Leben geblieben sind.

216

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

se Erregung verwandelt sich in ein eigenartiges augenblicklich ausbrechendes Verliebtsein in sie, das in einer weiteren Phase der Ursprungsemotion in ein mehr ausgestaltetes, ausgeprägtes emotionales Erlebnis übergeht, in dem sich folgende ursprüngliche Momente unterscheiden lassen: a) das emotionale, immer noch im Entstehen begriffene, unmittelbare Verkehren mit der empfangenen Qualität, b) ein gewisser Hunger nach dem Besitz dieser Qualität und nach Steigerung des Genusses, den uns ihr anschaulicher Besitz verspricht, c) ein wachsendes Streben nach Sättigung mit dieser Qualität, nach ihrem dauernden Besitz. 1 6 Obwohl also die Ursprungsemotion in ihrer Basis unzweifelhaft ein Gefühl ist, treten in ihr auch deutliche Momente des Begehrens auf, und zwar eines Begehrens,

das auf die ursprüngliche, uns affizierende Qualität

gerichtet ist und zuerst auf ihre Erschauung, dann aber auf ihren Besitz und

'6

Natürlich sind alle hier verwendeten Ausdrücke im übertragenen Sinn genommen und tragen einen - wenn man so sagen darf - dichterischen Charakter an sich. Das ist nur die Konsequenz der Eigenartigkeit der hier auftretenden Phänomene, die direkt nicht genannt werden können, einfach deswegen, weil die Sprache solche spezielle Nennworte noch nicht gefunden hat. Sie sollen auch die in Frage kommenden Phänomene nicht begrifflich bestimmen, sondern nur das Gespür des Lesers für sie wecken und seine Aufmerksamkeit unmittelbar auf sie lenken, bzw. ihn dazu bewegen, daß er im eigenen einstigen Erleben in analogen Situationen auf derartige Momente achtet und sie aus dem verschwommenen Ganzen des Erlebnisses hervorzuholen bestrebt ist. Das ist eine besondere Sprachtechnik, die uns beim Aufspüren der vorhandenen komplizierten Erlebnisse behilflich sein, nicht aber die Funktion eines etwa definitorischen Bestimmens ausüben soll. Kein rein begriffliches Bestimmen kann uns da etwas helfen. Was hier eine Bestimmungsfunktion ausübt, ist nur, daß auf verschiedene Momente im Erlebnis der ursprünglichen Eingangsemotion hingewiesen wird, die dann mit Hilfe der metaphorischen Ausdrucke vom Leser in seiner eigenen Erfahrung und mit eigener Kraftanstrengung lebendig erlebt und im Erlebnis für sich herausgehoben werden sollen. Eine gewisse Mehrdeutigkeit und Unscharfe der benutzten metaphorischen Ausdrücke hat hier sogar den Vorzug, daß in den Grenzen der Unscharfe des Sinnes noch verschiedene individuelle Abwandlungen der Erlebnisse Platz finden, die sich in den einzelnen Fällen abspielen können. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es einmal gelingen wird, die Beschreibung weiter zu fuhren und die metaphorischen Ausdrücke durch lebendige, aus einer schöpferischen Sprache übernommene Ausdrücke zu ersetzen, welche weder die Vieldeutigkeit noch die hier noch vorhandene Unscharfe der Bedeutungen aufweisen werden. Am Anfang einer Analyse der Erlebnisse, die gewöhnlich nur gehabt und unachtsam vollzogen werden, weil man sich ihnen bloß hingibt und nicht auf ihre Klärung aus ist, ist es nicht möglich, anders zu verfahren.

§ 24. Struktur des ästhetischen

217

Erlebnisses

das Auskosten ihres Zaubers drängt. Die oft bei der Betrachtung des ästhetischen Erlebnisses sich wiederholende Rede von "Lust", von "angenehmen" Gefühlen - und so weiter - heißt, wenn es sich um diese Phase des Erlebnisses handelt, nicht bloß das Problem trivialisieren, 17 sondern auch an dem da zu erfassenden Phänomen

vorbeischießen.

Denn auch dort, wo in

der

Ursprungsemotion ein Moment der Lust auftritt, ist es für sie nicht charakteristisch und erschöpft auch dieses Erlebnis gar nicht, um so weniger, als in dieser Emotion auch ein Moment der Unlust oder des Unbehagens auftreten kann (wenn wir uns mit solchen Allgemeinheiten wirklich abgeben sollen). Die

Ursprungsemotion

ist

nämlich

voll

innerer

Dynamik,

des

Unbefriedigtseins oder eines gewissen Hungers, der dort und nur dort auftritt, wo wir durch eine Qualität bereits erregt worden sind, es uns aber noch nicht gelungen ist, sie in unmittelbar anschaulichem Erleben so zu erschauen, daß wir uns an ihr berauschen könnten. In diesem Zustand des Unbefriedigtseins (des "Hungers") kann man - wenn man will - ein Moment des Unbehagens, der Unannehmlichkeit sehen, aber nicht in dieser Unannehmlichkeit, sondern in der inneren Unruhe, in dem Unbefriedigtsein besteht das Charakteristische der Ursprungsemotion als erster Phase des ästhetischen Erlebnisses. Sie ist eben deswegen eine Ursprungsemotion, weil sich aus den in ihr vorhandenen Momenten eines spezifischen Begehrens sowohl der weitere Verlauf des ästhetischen Erlebnisses entwickelt als auch die Bildung seines intentionalen Korrelats, des ästhetischen Gegenstandes. 1 8

17 Eine "Trivialisierung" ist es deswegen, weil 1. der Ausdruck "Lust" oder "ein angenehmes Gefühl" so vag ist, daß er eigentlich nichts erklärt, 2. man in jedem - sogar in einem rein intellektuellen - Erlebnis etwas "Angenehmes" oder "Unangenehmes" finden kann. Der Hinweis darauf also, daß im ästhetischen Erlebnis ein lustvolles oder angenehmes Moment vorhanden ist, lehrt uns weder etwas Wesentliches noch etwas für dieses Erlebnis Charakteristisches. Man hat auch oft dagegen protestiert, daß die Lust ein für das ästhetische Erlebnis wesentliches Moment bilde. Vgl. z.B. [Richard] Müller-Freienfels, Psychologie

der

Kunst [2 Bde., Leipzig und Berlin 1912; 2 1992, 3 Bde.], Bd. I [2. Aufl.]. "Ich hebe hervor, daß diese Lustgefühle nur Bewußtseinsbegleiter, nicht allein das Wesen des ästhetischen Erlebens sind. Käme es nur auf Lust an, so müßten gewisse Toxine, wie Opium oder StickIO stoffoxydul als höchste ästhetische Werte gepriesen werden" (1. c. S. 6 ff.). Im I. Band seines Systems der Ästhetik schreibt J. Volkelt: "Besonders wenn das Sehen und Hören ausdrücklich von dem Gefühl sinnlicher Frische begleitet ist, wird es auch daran nicht fehlen, daß sich dem Sehen und Hören ein gewisses Verlangen danach, eine gewisse Hingebung zugesellt. Es handelt sich also um eine Richtung unseres stimmungsmäßigen

218

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

3. Betrachten wir aber vor allem die unmittelbaren Folgen der Ursprungsemotion für die weitere Entwicklung des ästhetischen Erlebnisses. Sie gehen in verschiedene Richtungen. Und zwar: a) Das Auftreten der Ursprungsemotion im Bewußtseinsstrom eines Menschen ruft vor allem eine gewisse Hemmung im vorangehenden "normalen" Lauf der Erlebnisse und der Verhaltensweisen den ihn umgebenden Gegenständen der realen Welt gegenüber hervor. Dasjenige, womit er sich noch einen Augenblick zuvor beschäftigt hat, verliert auf einmal sein Gewicht, wird uninteressant, gleichgültig. Deswegen hält er - vielleicht nur "für einen Augenblick" - in seinen Beschäftigungen inne, in deren Verlauf sich ihm jene die Ursprungsemotion hervorrufende Qualität aufgedrängt hat. Wie oft kommt es doch vor, daß wir etwa beim Wandern auf einem nicht ganz ungefährlichen Gebirgspfad vor allem auf den Weg aufpassen und nicht auf die Schönheit der Landschaft achten. Und auf einmal blicken wir auf und sind von der Aussicht überwältigt. Wir halten dann unwillkürlich inne. Die Einzelheiten des Pfades, auf dem wir zum Gipfel stiegen, sind für uns auf einmal uninteressant geworden. Wir haben jetzt sozusagen keine Zeit mehr, darauf zu achten, etwas anderes "zieht" uns an. Wir versenken uns in das Betrachten der Berge oder der sich eröffnenden Ausblicke in ein Tal. So ist es auch, wenn wir im Gespräch über gewisse sehr wichtige Lebensangelegenheiten oder über gewisse theoretische Fragen auf einmal durch den Anblick oder durch einen besonderen Ausdruck einer vorbeigehenden schönen Frau in die Ursprungsemotion versetzt werden; dann unterbrechen wir dieses Gespräch - unfähig, es weiter zu führen.

Strebens. Wir fühlen uns geneigt zu schauen, wir fühlen uns dem Schauen liebevoll zugewandt." (I.e. S. 89, 1. Aufl.) Es scheint mir, daß Volkelt hier nichts anderes als das im Auge hat, was ich die "Ursprungsemotion" nenne. Es ist aber Volkelt nicht gelungen, sie näher zu analysieren; er bringt sich auch die Wichtigkeit dieser Emotion für das ästhetische Erlebnis nicht zu Bewußtsein. Daher führe ich hier den Text von Volkelt nur als eine gewisse Bekräftigung meiner Beschreibung dieser ersten Phase des ästhetischen Erlebnisses an. Der erste, der auf ein Moment des "Verliebtseins" in die sich zuerst anzeigende Qualität sowie eines gewissen Begehrens im ästhetischen Erlebnis aufmerksam geworden ist, war Piaton, vgl. z.B. seine Ausführungen im Phaidros.

Diese Momente treten - wie ich glaube - vor

allem in der Ursprungsemotion des ästhetischen Erlebnisses auf.

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

219

Mit dieser "Hemmung" hängt auch eine gewisse Dämpfung oder sogar ein Verlöschen der aktuellen Erlebnisse zusammen, die sich auf Dinge und Angelegenheiten der realen Welt beziehen. Es kommt zu einer deutlichen Einengung des sich auf diese Welt beziehenden Bewußtseinsfeldes, obwohl wir das unwillkürliche Gefühl ihrer Anwesenheit und Existenz nicht verlieren und uns weiter in der Welt fühlen. Trotzdem verschiebt sich die Überzeugung von der Existenz der Welt, welche unsere Aktualität beständig färbt, gewissermaßen an die Peripherie des Bewußtseins, bzw. verliert an Gewicht und Kraft. In den späteren Phasen des intensiven ästhetischen Erlebens kann es zu einem merkwürdigen, uns aber gut bekannten Phänomen einer Quasi-Vergessenheit der realen Welt kommen. Dies steht mit der Wandlung der Einstellung des Menschen, welche sich infolge der Eingangsemotion vollzieht, in unmittelbarem Zusammenhang. Ich komme darauf bald zurück. Die "Hemmung", von der die Rede war, kann tiefer oder schwächer, länger oder rasch vorübergehend sein, je nach der Stärke der Eingangsemotion und dem vorangehenden Interesse an den Vorgängen des realen Lebens. Ist diese Stärke nicht groß und sind zugleich die Angelegenheiten des täglichen Lebens wichtig genug, dann kommt es zu den weiteren Phasen des ästhetischen Erlebnisses nicht. Nach einer rasch vorübergehenden Hemmung kehren wir zum täglichen Leben zurück. Die dabei auftretende gewisse Desorientierung in der Lebenssituation zeugt am besten dafür, daß es zu einer solchen Hemmung gekommen ist, obwohl wir sie uns nicht notwendig zu Bewußtsein bringen müssen. Wenn dagegen der Vorgang des ästhetischen Erlebnisses sich fortentwickelt, dann dauert die Hemmung des "normalen" Ganges des täglichen Lebens länger, und es bedarf entweder der vollen Entfaltung des ästhetischen Erlebnisses oder eines neuen stärkeren Reizes der Angelegenheiten des täglichen Lebens, damit wir zu diesem Leben zurückkehren. Das Phänomen der "Rückkehr" ist sehr charakteristisch. Dabei knüpfen wir gewöhnlich wieder an die Angelegenheiten und Tätigkeiten an, die durch die Ursprungsemotion unterbrochen wurden, und kehren zu der Einstellung des täglichen Lebens zurück. Dies letztere zeigt am besten, daß die Ursprungsemotion zu einer Änderung der Einstellung des Menschen führt. Das Phänomen der "Hemmung" ist nur ein äußerer Ausdruck dieser Wandlung. Die Rückkehr zu den Angelegenheiten des früheren Lebens vollzieht sich oft mit einem Unbehagen, mit einem Gefühl der drückenden Last des Lebens, von der uns die äs-

220

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

thetische Ursprungsemotion gewissermaßen befreit hatte. Viel seltener ist dagegen ein Gefühl der Zufriedenheit darüber, daß wir wieder mitten im konkreten aktiven Leben stehen. Es gibt da aber sehr verschiedene Möglichkeiten, und die Stimmung, in welcher das aktive Leben wiederum in Angriff genommen wird, hängt sehr davon ab, welcher Art die Ursprungsemotion selbst war und in welcher Lage wir uns vor dem Beginn des ästhetischen Erlebnisses befunden haben. b) Der Einfluß der Ursprungsemotion reicht aber weiter. Wie früher angedeutet, ist die Phase unserer aktuellen Gegenwart (des Jetzt) immer durch einen Nachklang der soeben vergangenen Erlebnisse, bzw. Geschehnisse, welche mehr oder weniger innig mit dem jeweiligen Jetzt in Zusammenhang stehen, sowie durch die Perspektive auf die sich eröffnende nächste Zukunft "umrahmt". Die Ursprungsemotion hat zur Folge, daß der Nachklang der unmittelbar vorangehenden Erlebnisse bedeutend gedämpft und die Perspektive auf die kommende Zukunft des realen Lebens beseitigt oder abgeschwächt wird. 19 Unser neues Jetzt, das durch die Ursprungsemotion und die sich aus ihr entwickelnden weiteren Phasen des ästhetischen Erlebnisses erfüllt wird, I Q

Natürlich geschieht dies nur dann, wenn es unerwartet zu der Ursprungsemotion kam. Unter den mechanisierten Bedingungen unseres jetzigen Lebens sind bestimmte Stunden für ästhetische Erlebnisse vorgesehen. Wir gehen zu einer bestimmten Tageszeit ins Theater oder ins Konzert, und wir sind dann von vornherein darauf eingestellt, "jetzt" ästhetische Erlebnisse zu haben und uns dem Kunstgenuß hinzugeben. So erwarten wir diese Erlebnisse, bevor sie sich wirklich zu vollziehen beginnen. Wenn sie dann wirklich eintreffen - was natürlich oft nicht geschieht - dann ist das sich entwickelnde ästhetische Erlebnis mit der Phase des Erwartens verbunden, und das Phänomen der Hemmung tritt nicht auf. Diese Tatsache darf aber nicht als Argument gegen die hier entwickelte Beschreibung des Verlaufs des ästhetischen Erlebnisses angeführt werden. Denn in den soeben erwähnten Fällen unterbrechen wir selbst, und zwar absichtlich, den Gang der Lebensbeschäftigungen, wir hemmen ihn selbst, und wir schwächen auch selbst den Nachklang der vorangehenden Erlebnisse ab, eben um uns ohne Störung dem ästhetischen Verkehr mit dem betreffenden Kunstwerk hingeben zu können. Das, was die Ursprungsemotion sonst aus sich selbst bewirkt, wird hier willentlich, aber auch eben damit künstlich hervorgerufen. Vielleicht liegt gerade darin der Grund dafür, daß die Ursprungsemotion, auf deren Erscheinen wir uns vorbereiten, oft gar nicht eintreten will, oder daß sie zwar auftritt, aber jener ursprünglichen, originellen Kraft und Frische beraubt wird, die sie dann charakterisiert, wenn sie ganz unerwartet durch eine uns berührende besondere Qualität hervorgerufen wird. Die Mechanisierung des Lebens ist auch hier ein desorganisierender oder demoralisierender Faktor unseres Selbst.

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

221

verliert dadurch jegliche deutlichere Verbundenheit mit der unmittelbaren Vergangenheit und Zukunft unseres täglichen Lebens. Es bildet dann eine für sich herausgehobene Ganzheit des Lebens, welche wir erst ex post in den Lauf des Lebens einfügen, nachdem das ästhetische Erlebnis vorbei ist. Auf diesem Herausgehobensein, oder besser, dieser Aussonderung des ästhetischen Erlebnisses aus dem Verlauf des tätigen Lebens beruht dasjenige, was Stanislaw Ossowski bei der Analyse des ästhetischen Erlebnisses "das Leben 'mit dem Augenblick' oder 'in dem Augenblick' " nennt 2 0 und was er für das charakteristische Hauptmoment des ästhetischen Erlebnisses hält. Diese Aussonderung aus dem tätigen Leben ist - wie wir sehen - nur ein aus der Ursprungsemotion herzuleitendes und mit ihren anderen Konsequenzen verbundenes Moment, von denen sogleich die Rede sein wird. Diese Aussonderung (oder Herausgehobenheit) ist aber für das ästhetische Erlebnis nicht charakteristisch. 21 Eine analoge Isolierung vom dahinströmenden tätigen Leben sowie eine Versunkenheit und ein Sicheinschließen in den aktuellen Moment kann auch durch andere starke Erlebnisse hervorgerufen werden. Ein sehr konzentriertes, rein theoretisches Nachdenken über ein uns stark bewegendes Problem führt zu einer analogen Versunkenheit in der aktuellen Gegenwart und zu ihrem Ausschluß vom Gang sonstiger Interessen. Dies zeigt sich natürlich vor allem dort, wo das Nachdenken sich auf sehr abstrakte Probleme bezieht, die mit der realen Welt in gar keinem Zusammenhang stehen, z.B. bei gewissen mathematischen oder philosophischen Betrachtungen. c) Die Ursprungsemotion ruft in uns eine radikale Wandlung in der Einstellung hervor, nämlich von der natürlichen des tätigen Lebens zur spezifisch ästhetischen Einstellung. Dies bildet ihre wichtigste Funktion. Sie hat zur Folge, daß man von der Einstellung auf bestehende oder zu realisierende Tatsachen innerhalb der realen Welt zur Einstellung auf anschauliche

qualitative

Gebilde und die Erlangung eines unmittelbaren Verkehrs mit ihnen übergeht. Sowohl in den sinnlichen oder inneren Wahrnehmungen, welche in den Gang unserer praktischen Interessen und Tätigkeiten eingeflochten sind, als auch in

90 Vgl. Stanislaw Ossowski, U podstaw

estetyki (Probleme, die der Ästhetik zugrundeliegen,

Warszawa 1935), IV. Teil. S. 259 ff. Ossowski spricht übrigens nur davon, daß im ästhetischen Erleben die Einstellung auf die Zukunft beseitigt wird, und berücksichtigt die Ab71

schwächung des Nachklanges der Vergangenheit nicht. Dies stellt übrigens auch Ossowski fest.

222

IV. Abwandlungen

des Erkennens

des literarischen

Kunstwerks

den Wahrnehmungen, die zu reinen Forschungszwecken durchgeführt werden, sind wir auf das, was tatsächlich ist, auf wirkliche Dinge und Tatbestände eingestellt. Es ist dabei zwar nicht ohne Bedeutung, was und wie

beschaffen

das ist, was wir wahrnehmen - und in dieser Richtung gehen auch unsere Bemühungen, es zu entdecken. Letzten Endes aber kommt es uns darauf an, daß etwas so Beschaffenes wirklich ist, wie es ist. Unsere Erkenntnisoperationen erreichen in der Zustimmung zur realen oder idealen Existenz gewisser Tatsachen oder Dinge ihren Höhepunkt. Normalerweise werden alle unsere erkenntnismäßigen oder praktischen Tätigkeiten auf dem Boden einer generellen, in der natürlichen Einstellung beständig von uns gehegten Überzeugung von der Existenz der realen Welt, in welcher auch wir selbst existieren, vollzogen. 2 2 Sobald sich aber die ästhetische Ursprungsemotion vollzieht, wird diese Überzeugung zwar weder in Frage gestellt, noch aufgehoben, noch aus dem Bereich unserer gewöhnlichen Überzeugungen beseitigt, sie wird aber doch in die Peripherie unseres Bewußtseins verdrängt und in ihrer Aktualität abgeschwächt. Denn infolge der Ursprungsemotion sind wir nicht auf die Tatsache der realen Existenz dieser oder jener Qualitäten, sondern auf diese Qualitäten selbst, auf ihre - wenn es erlaubt ist, so zu sagen - "Gestalt" eingestellt. Ihr tatsächliches Auftreten an einem realen Gegenstand als dessen Bestimmung wird für uns gleichgültig. Es kommt uns insbesondere wenig darauf an, ob das Ding, an dem eine uns ästhetisch berührende Qualität auftritt, wirklich so ist, wie es vordem zu sein schien, bevor die Ursprungsemotion uns bewegte, oder ob es nur Schein war. Das bloße Erscheinen dieser Qualität reicht zu ihrer Erschauung in ihrer Spezifität und infolgedessen auch zur Entstehung der ästhetischen Ursprungsemotion vollständig aus. Unter dem Einfluß dieser Emotion wird die sinnliche Wahrnehmung, unter deren Gegebenheiten die uns ästhetisch berührende Qualität aufgetreten ist, auf eine wesentliche Weise modifiziert. Und zwar a) die in ihrem Akt enthaltene Überzeugung von der realen Existenz des Gegenstandes, an dem jene Qualität zur Erscheinung gelangte, wird vom erlebenden Subjekt gewissermaßen nicht zur Kenntnis genommen oder unwillkürlich neutralisiert; 23 b) die Qualität, welche ursprüng-

21 Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie,

§§ 2 7 - 3 2 .

Aus diesem Grund tritt bei Husserl die Tendenz auf, das ästhetische Erlebnis für ein "neutralisiertes" Erlebnis zu halten. Dies ist aber unrichtig, wie sich in späteren Ausführungen zeigen wird. In der letzten Phase des ästhetischen Erlebnisses tritt nämlich ein Moment der

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

223

lieh als Merkmal des in der betreffenden Wahrnehmung gegebenen Dinges auftrat, wird jetzt von dieser formalen Struktur gewissermaßen gelöst, sie verbleibt für einen Moment reine Qualität, um sogleich in den nächstfolgenden Phasen des ästhetischen Erlebnisses zu einem Kristallisationszentrum eines neuen Gegenstandes: des ästhetischen Gegenstandes zu werden. Dieser Übergang von der praktischen in die ästhetische Einstellung ist vielleicht die tiefgreifendste Wandlung in der psychischen Einstellung des Menschen. Es ist somit nicht zu verwundern, daß das ästhetische Erlebnis sich in dem Maß aus dem Gang unseres täglichen Lebens aussondert und unsere praktischen Beschäftigungen hemmt. Es zeigt sich da das Phänomen der "Weltvergessenheit", und das ästhetische Erlebnis muß entweder zum Abschluß kommen oder es muß ein starker Reiz "von außen" her einwirken, damit sich jene "Rückkehr" zum "realen" Leben wirklich vollzieht, von der früher die Rede war. Man darf aber aus diesem Grund nicht meinen, das ästhetische Erlebnis sei ein rein passives, untätiges und unschöpferisches "Kontemplieren" einer Qualität (oder wie einmal Max Scheler sagte: ein Begaffen), das sich in dieser Hinsicht dem "aktiven" praktischen Leben entgegensetzte. 24 Im Gegenteil, das ästhetische Erleben bildet eine Phase eines sehr aktiven, intensiven und schöpferischen Lebens des Menschen, es sind aber "Tätigkeiten", die keine Veränderungen in der uns umgebenden realen Welt hervorrufen und die auch nicht darauf "berechnet" sind, es zu tun. Dies werde ich noch zu zeigen suchen. Es wird dann auch klar werden, daß der ganze Vorgang des ästhetischen Erlebens einerseits Phasen einer besonderen Aktivität in sich enthält, andererseits aber auch Momente der passiven Rezeptivität, einer gewissen Erstarrung und Unbewegtheit in der Kontemplation und Bewunderung aufweist. 4. Die Ursprungsemotion enthält in sich, wie bereits angedeutet, das Verlangen nach einer Sättigung mit der uns ursprünglich erregenden Qualität und nach dem Verharren ihres Besitzes im anschaulichen Umgang mit ihr. Sie

Existenzsetzung auf, das aber vom Moment der Seinsthesis bezüglich eines in der Wahrnehmung gegebenen Dinges völlig verschieden ist. Die Passivität des ästhetischen Erlebens behauptet unter anderem Oswald Külpe [u.a. in Einleitung kelt.

in die Philosophie,

Leipzig 1903, S. 95], Ihm widerspricht darin Johannes Vol-

224

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks

geht also - ohne daß sie völlig verschwände - in eine solche Phase des ästhetischen Erlebens über, in welcher das anschauliche Erfassen (die P e r z e p t i o n 2 5 ) derselben Qualität, welche diese E m o t i o n hervorgerufen hat, überwiegt. Nach der Phase der E m o t i o n , die uns auf einen A u g e n b l i c k beherrscht, folgt die R ü c k k e h r zu der erregenden Qualität. Obwohl ihre Erfassung sich in manchen F ä l l e n auf der Grundlage der früheren W a h r n e h m u n g vollzieht, hat die früher beschriebene Modifikation dieser W a h r n e h m u n g vor allem zur Folge, daß die betreffende Qualität j e t z t in den Vordergrund tritt und viel deutlicher und in größerer Fülle erfaßt wird, als es bei ihrem ersten Auftreten der Fall war. Zudem wird sie j e t z t selbst zum O b j e k t der Erfassung (und nicht das Ding, an dem sie auftritt), sie beginnt sich endlich von ihrer U m g e b u n g abzuheben. D a wir sie j e t z t erfassen, nachdem wir früher die Ursprungsemotion erlebt haben, und weil sie uns i m m e r erregt (bewegt), erwirbt die in der Erfassung begriffene Qualität gewisse neue sekundäre Z ü g e : sie erfüllt unser B e g e h r e n , sie zu "sehen", sie befriedigt es wenigstens bis zu einem gewissen Grad und im Zusammenhang damit wird sie auch - populär gesagt - viel "schöner" als sie früher war, sie erwirbt eine gewisse Lebendigkeit, eine Anmut und einen Zauber, den wir früher kaum geahnt haben. W i r sättigen uns gewissermaßen an ihr. D i e Qualität, die in diesem Licht auftritt und uns bezaubert, wird j e t z t für uns zu einem besonderen Wert, und zwar zu e i n e m W e r t , der nicht kühl beurteilt wird, sondern von uns nur unmittelbar gefühlt wird. Dies ruft in uns eine neue W e l l e der Emotion hervor, die in diesem Fall wirklich eine gewisse F o r m ( W e i s e ) des Gefallens, der Freude an dieser Qualität, an ihrem A n b l i c k oder an ihrer Selbstgegenwart ist. S i e berauscht uns und entzückt uns einen Augenblick, wie uns der Duft einer schönen B l u m e berauscht. Fast j e d e s Entzücken, j e d e s Sich-mit-etwas-Sättigen birgt in sich einen K e i m neuen Verlangens und neuen B e g e h r e n s . S o bildet auch diese zweite Phase der E m o t i o n im unmittelbaren V e r k e h r mit der uns erregenden und ent-

Da die Ursprungsemotion nicht notwendig auf dem Hintergrund der äußeren oder inneren Wahrnehmung entstehen muß, ist es nicht immer eine "Perzeption" im strengen Sinn des Wortes. Wenn die sie hervorrufende Qualität bloß vorgestellt wird, dann vollzieht sich die Rückkehr zu ihr ebenfalls in einer Vorstellung, in welcher wir uns bemühen, diese Qualität möglichst klar zu erfassen. Es ist dann keine einfache Vorstellung, sondern eine besondere Form der Erfassung (der Perzeption) in der Vorstellung. Sie bezieht sich natürlich auf den Gegenstand der Vorstellung und nicht auf ihren wechselnden Inhalt.

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

225

zückenden Qualität gewöhnlich keinen Abschluß des ästhetischen Erlebnisses (obwohl auch das möglich ist). 26 Aus doppeltem Grund kann es zu einem neuen Gefühl des Unbefriedigtseins kommen. Entweder ist die in ästhetischer Erfassung begriffene Qualität solcher Art, daß sie eine Ergänzung erfordert, oder es kommt bei ihrer Erfassung zur Erscheinung völlig neuer qualitativer Einzelheiten des Gegenstandes, an dem die betreffende Qualität zuerst aufgetaucht ist; diese Einzelheiten sind dabei solcher Art, daß sie mit der ursprünglich gegebenen Qualität Zusammenstimmen und das Ganze des Gegebenen bereichern. Dann setzt eine neue Entwicklung des ästhetischen Erlebnisses ein, die oft sehr kompliziert und mannigfaltig sein kann. Sie kann dabei in zwei verschiedenen Situationen vonstatten gehen. Entweder regen uns die Ursprungsemotion und die am Anfang auftretende Qualität zu einer völlig freien Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes an, ohne daß wir mit den uns umgebenden Gegenständen im weiteren Kontakt bleiben, oder diese Qualität ist eine Einzelheit an einem Kunstwerk, das zu seinem physischen Seinsfundament ein vom Künstler so gestaltetes reales Ding (ein Gemälde, ein Gebäude usw.) hat, daß dessen Wahrnehmung den Betrachter in die ästhetische Einstellung versetzt, ihm eine Mannigfaltigkeit ästhetisch valenter Qualitäten zu erschauen gestattet und ihn zur Rekonstruktion des entsprechenden Kunstwerks und zur Konstituierung eines bestimmten ästhetischen Gegenstandes bewegt. Den ersten Fall will ich hier nicht näher betrachten, denn es handelt sich in ihm eher um das schöpferische Verhalten des Künstlers. Es ist aber nützlich, uns mit dem zweiten Fall ein wenig zu beschäftigen. 27 Bei der Rückkehr zu der Qualität, welche die ästhetische Ursprungsemotion hervorgerufen hat, finden wir aufs neue das Ding bzw. das Kunstwerk vor, an dem jene Qualität ursprünglich aufgetreten ist, und die sich weiterhin an ihm zeigt, freilich auf eine insofern verschiedene Weise, als inzwischen oft Wenn es wirklich dazu kommt, so bedeutet dies, daß wir es mit einem sehr primitiven ästhetischen Gegenstand zu tun haben, z.B. mit einer satten Farbe oder mit einem einfachen Farbenkontrast. Auch solche einfachen ästhetischen Gegenstände sind möglich, wenn auch ihr Wert nicht sehr hoch ist. Diese beiden Fälle haben aber viel Gemeinsames. Im zweiten Fall gelangt der ästhetische Betrachter, während er das Werk des Künstlers erfaßt, zu einer gewissen kongenialen Mitarbeit mit ihm. Das will sagen, daß auch der Betrachter eine gewisse schöpferische Verhaltensweise entwickeln muß, um zu einer ästhetischen Konkretisation des Werkes, also zu einem ästhetischen Gegenstand zu kommen.

226

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

die ursprüngliche Wahrnehmung auf die oben angedeutete Weise modifiziert wurde. Indem wir jetzt ausschließlich auf Qualitäten eingestellt sind und danach begehren, uns ihres Anblicks und ihrer Gegenwart zu erfreuen, bemerken wir entweder einen gewissen Mangel oder eine Ergänzungsbedürftigkeit in der Qualität selbst, oder es drängen sich jetzt neue Einzelheiten des betreffenden Kunstwerks von selbst auf. Im ersten Fall könnte es z.B. der Anfang einer sich entwickelnden Melodie sein, deren Fortführung sich ankündigt, oder der besondere Ausdruck eines menschlichen Gesichts, das selbst nicht erfaßt wurde, oder der allgemeine Umriß einer gotischen Domfassade, die sozusagen danach verlangt, mit bestimmten Einzelheiten ausgefüllt zu werden. Dann suchen wir selbst nach jenen fehlenden Qualitäten, welche sich zur Vollendung der analysierten Ganzheit anbieten. Manchmal vermag der vorgegebene Gegenstand, bzw. das betreffende Kunstwerk, jene Qualität nicht zu liefern, deren Mangel fühlbar ist und deren Entdeckung einen neuen von uns nur geahnten qualitativen Zusammenklang gestalten könnte. Es wird dann von uns eine Anstrengung, ein manchmal qualvolles neues Aufgebot unserer Kräfte gefordert, damit wir mit lebendiger Vorstellung jene fehlende Qualität oder einen ganzen qualitativen Zusammenhang, den sie mitfundiert, entdecken. Stellen wir uns vor, dies sei uns gelungen. Dann gibt es noch zwei Möglichkeiten: 1. Die Vorstellung jener ergänzenden Qualität ist so lebendig, daß sie, ohne daß wir es uns zu Bewußtsein bringen, dem zur Erscheinung gebrachten Kunstwerk aufgeprägt wird, obwohl es uns dazu eigentlich gar nicht berechtigt. Wir sehen es dann (oder hören usw.) unter dem Aspekt der dadurch entstandenen Harmonie der Qualitäten (von denen nur die eine, d.h. die ursprüngliche gegebene, uns durch das Kunstwerk aufgedrängt wurde). Wenn wir dabei die etwa vorhandenen Mängel des Kunstwerks übersehen, dann kommt es zu einer Vervollkommnung des Werkes. Denn wir konstituieren dann einen ästhetischen Gegenstand, dessen qualitativer, ästhetisch valenter Gehalt reicher ist als derjenige, den das betreffende Kunstwerk selbst suggeriert. Zugleich bewirkt gerade die Tatsache, daß eine gewisse Mannigfaltigkeit von zusammenstimmenden Qualitäten einem physischen Gegenstand (z.B. einem Marmorblock) aufgeprägt wird, daß dieser letztere der Träger dieser Qualitäten zu sein scheint. Wir vergessen, daß es einen Unterschied zwischen dem physischen Ding, dem Kunstwerk und dem ästhetischen Gegenstand

§ 24. Struktur des ästhetischen Erlebnisses

227

gibt. Dazu trägt auch der Umstand bei, daß wir uns die wesentliche Modifikation der dabei vollzogenen W a h r n e h m u n g nicht zu B e w u ß t s e i n bringen. Das Ding, das Kunstwerk und der gerade konstituierte ästhetische Gegenstand scheinen dasselbe zu sein. W i r k o m m e n zu der Überzeugung, daß das Ding selbst j e n e ästhetisch valenten Qualitäten und die sich darin konstituierenden Wertqualitäten besitzt, daß wir sie einfach am Ding wahrnehmen. Deswegen glauben wir, dieses Ding selbst als "schön" zu erfassen. Daraus ergeben sich auch j e n e falschen T h e o r i e n , von welchen am Anfang dieser Überlegungen die R e d e war. Und erst die eben durchgeführte Analyse zeigt, daß sich die S a c h e n doch anders verhalten. 2. Die Vorstellung der ergänzenden Qualität kann nicht lebendig und konkret genug sein, um dazu zu führen, daß diese Qualität dem Kunstwerk aufgeprägt wird. Zwar kann diese neue Qualität (bzw. in der weiteren Phase des Erlebnisses sogar ein ganzer Z u s a m m e n h a n g von Qualitäten) mit der ursprünglich gegebenen Qualität gut zusammenklingen und mit ihr ein "gut abges c h l o s s e n e s " 2 8 qualitatives G a n z e s bilden, aber die von uns zugleich gesehenen Einzelheiten des Kunstwerks enthalten sie nicht nur gar nicht, sondern klingen mit ihr auch nicht gut zusammen. Aus z w e i f a c h e m Grund also kommt es in diesem Fall nicht dazu, daß die neu vorgestellte Qualität d e m gesehenen (gehörten) Kunstwerk aufgeprägt wird. Die Verschiedenheit des Kunstwerks vom bloß vorgestellten qualitativen Zusammenklang stellt sich in unseren Augen als Mangel oder F e h l e r dar. Infolgedessen vollzieht sich in uns als Antwort auf das (bereits in einer modifizierten Wahrnehmung erfaßte) Kunstwerk eine negative emotionale R e a k t i o n . Das W e r k gefällt uns nicht, schockiert uns, ist nicht ausgereift und dergleichen mehr. Man kann sagen, daß in diesem Fall eigentlich zwei verschiedene ästhetische Gegenstände konstituiert werden: ein lebendig vorgestellter Gegenstand mit einem vollen (vollendeten) qualitativen Z u s a m m e n k l a n g und ein zweiter, der auf der Grundlage wahrnehmungsmäßiger G e g e b e n h e i t e n erfaßt wird und "nicht ausgereift", "häßlich", "schlecht" ist. W i r haben dann ein merkwürdig zusammengesetztes, zwiespältiges ästhetisches Erlebnis, das zwei verschiedene emotionale Antw o r t e n 2 9 auf die konstituierten und miteinander streitenden ästhetischen G e -

2 8

Das ist ein Ausdruck, den der polnische Psychologe Wtadyslaw Witwicki ( 1 8 7 8 - 1 9 4 8 ) für Gestaltqualitäten eingeführt hat.

2 9

Von der "emotionalen" Antwort wird bald die Rede sein.

228

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

genstände enthält. Das Erlebnis kann mit dieser Dissonanz enden, es kann auch zur Verwerfung, Verurteilung des "häßlichen" Kunstwerks führen, woraus sich dann eine Versenkung in die Kontemplation des in der Phantasie gebildeten ästhetischen Gegenstandes entwickeln kann. Es kann endlich die im wahrnehmungsmäßigen Schauen sich vollziehende ästhetische Erfassung des "unausgereiften", "häßlichen" Kunstwerks überwiegen und die Betrachtung des bloß phantasierten ästhetischen Gegenstandes ganz verdrängen. Das ganze Erlebnis findet dann in einer endgültigen Konstituierung des negativwertigen ästhetischen Gegenstandes und in einer ihm angemessenen emotionalen Wertantwort seinen Abschluß. Die Betrachtung des zweiten Falles hat uns der Situation nahe gebracht, in welcher - nach unserer Rückkehr zu der ursprünglich gegebenen Qualität das vorgefundene Kunstwerk uns selbst seine weiteren Einzelheiten aufdrängt und insbesondere weitere Qualitäten, die in uns eine neue Welle der ästhetischen Erregung hervorrufen, welche wir als die ästhetische Ursprungsemotion beschrieben haben. Setzen wir noch voraus - denn dieser Fall ist für uns besonders interessant - daß, wenn wir die Ursprungsemotion einmal erlebt haben und zu der anschaulichen Erfassung der uns ursprünglich erregenden Qualität zurückgekehrt sind, wir es in der Einstellung tun, den ästhetischen Gegenstand, zu welchem wir im weiteren Gang des ästhetischen Erlebnisses vorzudringen hoffen, so zu gestalten, daß er dem Kunstwerk, das uns die Ursprungsemotion geliefert hat, möglichst nahe steht. Dann warten wir nicht passiv darauf, daß uns dieses Kunstwerk selbst neue, uns ästhetisch bewegende Qualitäten aufdrängt, sondern wir nutzen die vom Kunstwerk gelieferten Möglichkeiten aus und suchen selbst in ihm solche Seiten und Einzelheiten, die uns erlauben, neue Qualitäten zu erfassen, die mit der Ausgangsqualität zusammenklingen. Dies erfordert eine aufmerksame und allseitige Betrachtung des Kunstwerks 3 0 - immer in der von der Ursprungsemotion modifizierten Abwand-

In dieser Phase tritt das auf, was Johannes Volkelt für die unentbehrliche Bedingung des ästhetischen Erlebnisses hält, indem er behauptet, daß "das Wahrnehmen erstens von geschärfter Aufmerksamkeit

begleitet sein muß". (System der Ästhetik, Bd. I, S. 88, 1. Aufl.)

Natürlich kann hier keine Rede von einem "Begleiten" der geschärften Aufmerksamkeit sein. Es handelt sich dagegen um eine besondere Weise des Wahrnehmens, bzw. allgemeiner gesagt, des Betrachtens. Volkelt bringt sich auch nicht zum Bewußtsein. daß dieses

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

229

l u n g - , also eine Betrachtung, in welcher wir auf die Qualitäten und insbesondere auf die ästhetisch relevanten Qualitäten allein eingestellt sind und nicht auf ihre - sozusagen - "Funktion" der Bestimmung eines realen Dinges achten, dafür aber im Kunstwerk nach solchen Qualitäten suchen, die mit der ursprünglich gegebenen Qualität einen qualitativen Zusammenklang 3 1 bilden. Dies läßt sich nicht alles auf einmal machen und auch nicht so, daß man von vornherein sagen könnte, zu welchem qualitativen Zusammenklang es endlich kommen wird. Nicht auf einmal, weil das Kunstwerk - wie z.B. ein Bild oder ein architektonisches Werk - von verschiedenen Seiten und auch von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden muß und die in jeder Phase gelieferten Qualitäten sowohl innerhalb einer Phase als auch in der Aufeinanderfolge der Phasen aufeinander abgestimmt werden müssen. Dies geschieht sogar bei einem Bild. Wenn es uns auch im ersten Augenblick gelingt, das Ganze eines Bildes zu erfassen, so genügt das zu seiner ästhetischen Erfassung nicht. Sobald wir uns aber näher mit ihm zu beschäftigen beginnen, beachten wir seine verschiedenen Teile und Einzelheiten und betrachten sie von verschiedenen Gesichtspunkten aus. Dadurch wird der erste Eindruck nicht bloß ergänzt, sondern auch kontrolliert und eventuell korrigiert, jedenfalls synthetisch zu einem Ganzen zusammengefaßt. Nicht anders ist es auch mit der Betrachtung anderer Kunstwerke, wobei bei Werken der Literatur oder Musik zu den bereits früher angedeuteten Komplikationen noch hinzukommt, daß sich sowohl ihre Betrachtung als auch ihre in derselben sich vollziehende Konkretisation in der Zeit entfaltet und somit den Betrachter zu besonderen synthetisierenden Operationen zwingt. So gibt es hier verschiedenartige Zusammenklänge "ästhetisch relevanter Qualitäten", die einander auf verschiedene Weise bedingen und ergänzen und somit vom Betrachter ganz besondere Verhaltensweisen erfordern, um in ihrer Mannigfaltigkeit und dem daraus resultierenden letzten Zusammenklang konstituiert und erfaßt zu werden. 5. Bei diesem Erfassungsvorgang vollzieht sich zugleich eine Formung der erfaßten Qualitäten auf zwei verschiedene, wenn auch miteinander zu-

Wahmehmen infolge der ästhetischen Ursprungsemotion einer wesentlichen Modifikation

"3 I

unterlag. Von diesem Zusammenklang wird bald die Rede sein.

230

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

sammenhängende Weisen. Und zwar a) in kategorialen Strukturen, b) in Strukturen des qualitativen Zusammenklanges. ad a) Wenn die Qualität, welche in uns die Ursprungsemotion hervorrief, z.B. die Schlankheit der Linie, von einer solchen räumlichen Gestalt ist, wie sie der menschliche Körper besitzen kann, dann fassen wir sie im Wahrnehmen als die Gestalt des menschlichen Körpers auf, obwohl wir, rein visuell genommen, lediglich ein Stück Marmor vor uns haben. Zu der Qualität der betreffenden Gestalt fingieren wir das entsprechende Subjekt von Eigenschaften hinzu, d.h. den menschlichen Körper, also nicht dasjenige Subjekt von Eigenschaften, welches jene Gestalt in Wirklichkeit

besitzt (d.h. den Mar-

morblock oder ein Stück Leinwand, das mit Farben bedeckt ist). Etwas ähnliches zeigt sich auch auf anderen Gebieten der "darstellenden Kunst". Den gegebenen Qualitäten schieben wir sozusagen die formale Struktur eines Eigenschaftssubjektes unter, das in seiner Natur material auf eine uns durch die erfaßte Qualität suggerierte Weise bestimmt ist. Wir verlassen eben damit das Gebiet der realen wahrgenommenen Dinge (des uns gegebenen Marmorblocks, der Leinwand, des Gebäudes), die das physische Fundament des Kunstwerks (also der "Niobe", von Rembrandts "Selbstporträt", der "Notre Dame" von Paris usw.) bilden, und an die Stelle des aus dem Gesichtsfeld verschwundenen realen Subjekts von Eigenschaften schieben wir (unwillkürlich und unter dem Druck der uns ästhetisch bewegenden Qualität) ein völlig neues Subjekt von Eigenschaften, das so gewählt ist, daß es Träger der uns eben gegebenen Qualitäten sein könnte. Oder anders gesagt: dieser Träger ist in seiner Materie (in seiner konstitutiven Natur) durch die Mannigfaltigkeit der uns gegebenen und von uns erfaßten Qualitäten sowie der zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge bestimmt. Da dieses neue Subjekt von Eigenschaften - sobald es nur von uns fingiert wird - selbst in den konkreten, von uns erfaßten Qualitäten zu erscheinen beginnt, nimmt es den Charakter eines besonderen, uns gegenwärtigen Gegenstandes an. Und korrelativ: nach der Phase des kategorialen Gestaltens des Gegenstandes, der im Kunstwerk dargestellt wird, folgt die Phase des Perzipierens (des Empfangens) des Gegenstandes durch das ästhetisch erlebende Subjekt sowie des verschiedenartigen, emotionalen Reagierens auf den fingierten, quasi-existierenden Gegenstand. Hier, beim Vorgang des Hinzukonstruierens eines neuen Subjektes von Eigenschaften zu den gegebenen Qualitäten vollzieht sich das, was Theodor

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

231

Lipps wahrscheinlich im Auge hat, wenn er von der "Einfühlung" und von der "ästhetischen Wirklichkeit" als eines Korrelats der Einfühlung spricht. 32 Dies zeigt sich vor allem in den Fällen, in denen wir zu den uns gegebenen Qualitäten ein psychisches oder psycho-physisches Subjekt hinzukonstruieren. Wir "fühlen" dann in sie nicht bloß dieses Subjekt, sondern auch seine bestimmten psychischen Z u s t ä n d i g k e i t e n und Akte "ein", und zwar gerade diejenigen, deren "äußerer Ausdruck" (z.B. die Gestalt der zum Lächeln geschlossenen Lippen) unter den uns gegebenen Qualitäten auftritt. Das Phänomen dieses Ausdrucks fällt uns auf; wenn es im emotionalen Mitfühlen erfaßt wird, führt es zum "Einfühlen" (z.B. einer Freude oder freudigen Bewunderung der von uns fingierten Person) in das anschauliche Phänomen und wandelt es von Grund aus. Sobald sich aber der Akt der Einfühlung vollzogen hat, spielt sich jener merkwürdige unmittelbare Verkehr oder jenes Zusammenleben mit der fingierten Person und ihrem Zustand ab. Es regen sich in uns Gefühle, die jenen Gefühlen sehr ähnlich sind, die wir empfänden, wenn wir in Wirklichkeit mit einer solchen Person und ihren Zuständlichkeiten zusammenlebten, also Akte der "Mitfreude", der "Mitbewunderung", des "Mithasses" und dergleichen mehr. Fast ganz so, als existierte diese fingierte Person und ihr Leben in Wirklichkeit. Diese Akte des emotionalen Mitlebens bilden die erste Form der emotionalen Antwort des ästhetisch erlebenden Subjekts auf den konstituierten ästhetischen Gegenstand. Es gibt aber noch eine zweite Form dieser Antwort, welche mit einer anderen Formung der Struktur des qualitativen Zusammenklanges im Gehalt des ästhetischen Gegenstandes im Zusammenhang steht. Wir gehen jetzt zu ihrer Beschreibung über. ad b) Sobald im ästhetischen Gegenstand nicht eine einzige Qualität, sondern eine ganze Mannigfaltigkeit von ihnen auftritt, treten sie nicht lose nebeneinander auf, sondern bilden ein harmonisches Ganzes, einen qualitativen Zusammenklang. Sie stimmen sich gegenseitig ab. Was dies bedeutet, wird gleich gesagt werden.

-lo Lipps meint mit "Einfühlung" sehr verschiedene Erscheinungen und subjektive Tätigkeiten, die er nicht unterscheidet. Es ist nicht möglich, dies hier auseinanderzusetzen. Ich möchte aber betonen, daß ich nur eine Art von den Tatsachen, welche Lipps mit diesem Ausdruck deckt, meine, wenn ich hier von der "Einfühlung" spreche. [Vgl. Theodor Lipps, Ästhetik. Psychologie S. 39ff.]

des Schönen

und der Kunst, Bd. 1/2, Hamburg und Leipzig 1903/1906, Bd. 2,

232

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

A. Jede der auftretenden Qualitäten wirkt auf die übrigen in mehr oder weniger hohem Maße ein. Diese Einwirkung drückt sich in einer qualitativen Wandlung, in einer gewissen Verschiebung der Qualität nach der einen oder anderen Richtung aus. Diese "Einwirkung" ist dabei im allgemeinen gegenseitig. Eine bestimmte Qualität, die mit einer bestimmten Mannigfaltigkeit anderer entsprechend angeordneter Qualitäten auftritt, ist nicht genau dieselbe, wie wenn sie mit einer anderen Mannigfaltigkeit von Qualitäten (eventuell anders angeordneter) zusammen vorkäme oder wenn sie - wenn dies überhaupt möglich wäre - ganz allein wäre. Die einfachsten Beispiele solcher qualitativer Wandlungen kann man aus dem Gebiet der Farben nehmen. Es ist bekannt, daß man, um einen Farbfleck mit sattem und lebendigem Ton zu erhalten, einen entsprechenden Hintergrund wählen muß, der die Leuchtkraft der Farbe nicht abschwächt. Alle Fälle des sog. (gleichzeitigen) Kontrasts gehören hierher, aber nicht nur sie. 33 Zu beachten ist, daß diese Wandlungen der Qualität sich alle im Rahmen ihrer Identität abspielen. Erst eine radikale Änderung der Beleuchtung kann zu einer solchen Wandlung der Farbe führen, daß die Identität abbricht. B. Formaliter zeichnet sich der qualitative Zusammenklang dadurch aus, daß die in ihm auftretenden qualitativen Momente in dem Sinn zum Ganzen dieses Zusammenklanges gehören, als sie ihre absolute Besonderheit und Unabhängigkeit verlieren. C. Die gegenseitige Modifizierung der zusammen auftretenden Qualitäten kann zur Erscheinung einer völlig neuen Qualität führen, die sich sozusagen auf der Grundlage der sich modifizierenden Momente aufbaut. Sie läßt sich dann mit keiner der "fundierenden" Qualitäten noch mit den Beziehungen zwischen ihnen, noch endlich mit der Tatsache des gemeinsamen Auftretens vieler Qualitäten in einem Ganzen identifizieren. Denn sie ist im Verhältnis zu den sie fundierenden Momenten eine neue Qualität, deren Erscheinung durch das gleichzeitige Auftreten vieler verschiedener sich gegenseitig modifizierender Qualitäten in einer bestimmten Anordnung bedingt ist, um nur ein einfaches Beispiel zu geben. Wenn zwei Töne c und e zusammenklingen, dann erscheint neben der vollen qualitativen Bestimmung dieser Töne noch Natürlich soll hier von der psycho-physiologischen Interpretation dieser Erscheinungen abstrahiert werden. Hier kommt es nur auf das rein Deskriptive an, das in der unmittelbaren Erfahrung als Gegebenheit auftritt.

§ 24. Struktur des ästhetischen

233

Erlebnisses

die spezifische Qualität der großen Terz, die sich z.B. deutlich von einer kleinen Terz oder von einer Quart unterscheidet - eine Qualität, die hier - wie bekannt - von der absoluten Höhe dieser Töne unabhängig ist und nur von ihrem relativen Höhenunterschied abhängt. Diese neue Qualität bildet eine Art Klammer,

welche

die

sie

fundierenden qualitativen

Momente

miteinander zu einem Ganzen vereinigt, indem sie ihm ein eigenartiges qualitatives

Gepräge

verleiht.

Ich

nenne

sie

die

"Qualität

des

Zusammenklanges", seit Ehrenfels 34 wird sie gewöhnlich "Gestalt" oder "Struktur" oder auch "Ganzheit" genannt. 35 Sie zeichnet sich u.a. dadurch aus, daß sie die sie fundierenden Qualitäten nicht verdeckt. Überall da also, wo sie auftritt, haben wir es nicht bloß mit ihr als mit etwas absolut Einfachem und Einheitlichem, sondern immer auch mit einer, manchmal sehr reichen, zusammenfließenden, qualitativen Vielheit zu tun, die trotz der Vereinheitlichung mit allen ihren sie fundierenden Qualitäten "klingt". Dabei kann der qualitative Zusammenklang bei derselben ihn vereinheitlichenden Qualität - wie die Erfahrung lehrt - noch verschieden sein. Nicht eine jede Mannigfaltigkeit von Qualitäten führt aber zur Konstituierung eines Zusammenklanges und seiner Qualität; welche allgemeinen Gesetzmäßigkeiten zwischen den mannigfachen Qualitäten bestehen müssen, damit es zu einem Zusammenklang kommt, ist bis jetzt noch nicht geklärt worden. D. Zwischen den eine bestimmte Qualität ihres Zusammenklanges fundierenden Qualitäten können besondere Gruppierungen bestehen, die zur Bildung verschiedener Glieder des Ganzen führen. Im Rahmen eines solchen

34

•sc

[Vgl. C. von Ehrenfels, "Über 'Gestaltqualitäten'", Vierteljahrsschrift für

wissenschaftliche

Philosophie 14 (1890), 242-292.] Tatsächlich hat H. Bergson als erster in der modernen Philosophie auf die Existenz solcher "Gestaltqualitäten" in seinem Essai sur les données immédiates de la conscience

[Paris

1889] hingewiesen, obwohl er diesen Namen nicht eingeführt hat. Heute wird der Name "Gestalt" bzw. "Gestaltqualität" nicht von allen gleich verstanden. Er wird auch in einem weiteren Sinn genommen als die hier bestimmte Qualität des Zusammenklanges. Andererseits wird das Bestehen der "Gestalten" von vielen, insbesondere vom Positivismus verschiedener Provenienz, geleugnet. Eine noch größere Vieldeutigkeit zeichnet den Ausdruck "Struktur" aus, worunter die ganze Bewegung des sog. "Strukturalismus" - z.B. in der allgemeinen Linguistik - leidet. Ich kann mich hier nicht damit beschäftigen, sondern versuche nur, diese Termini möglichst zu meiden.

234

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Gliedes ist der Zusammenhang zwischen den es fundierenden Qualitäten viel enger als zwischen den Qualitäten, welche zu verschiedenen Gliedern des Ganzen gehören. Es bilden sich dabei Gestaltqualitäten höherer und niedrigerer Stufe aus, welche wiederum miteinander zusammenhängen usw. Ohne seine Einheitlichkeit zu verlieren, welche die bestimmende oberste Qualität bewahrt, zeichnet sich dann das Ganze durch eine besondere Gliederung aus, welche bei Erhaltung der letzten, das Ganze prägenden Qualität noch verschiedener Art sein kann. Diese "Gliederung" eines qualitativen Zusammenklanges ist das, was im strengen Sinn seine "Struktur" genannt werden kann. Sie muß von der Qualität des Zusammenklanges, von der "Gestalt", unterschieden werden. Die Gestaltung in unmittelbarer Erfassung eines derartigen qualitativen Zusammenklanges mit dieser oder jener Struktur kann auch in manchen Fällen von der Verhaltensweise der ästhetisch erlebenden Person abhängig sein. Besonders die Gliederung des Ganzen gestaltet sich oft - bei derselben Mannigfaltigkeit der fundierenden Qualitäten - so oder anders, j e nach dem Verlauf des ästhetischen Erlebnisses und den in ihm sich vollziehenden Bewußtseinsoperationen. Die Durchführung der Gliederung eines qualitativen Zusammenklanges - w o dies überhaupt möglich ist - bildet jenen zweiten Vorgang der Formung eines qualitativen Zusammenklanges, der früher erwähnt wurde. 3 6 Die Konstituierung eines gegliederten (strukturierten) qualitativen Zusammenklanges mit einer ihn letztlich bestimmenden Qualität bildet sozusagen das letzte Ziel des ganzen Vorgangs des ästhetischen Erlebnisses oder mindestens seiner letzten schöpferischen Phase. Die /categoriale Formung des ästhetischen Gegenstandes ist seiner Struktur (vgl. sub a) untergeordnet. Das heißt: Die kategoriale Formung soll so durchgeführt werden, daß ein mög-

In den Kreisen der Musikästhetiker spricht man oft von der "Strukturiening" der Tongebilde. Man tut es aber so, als ob diese Strukturierung etwas - eben die "Struktur" - bildete, was ohne jedes fundamentum

in re vom Subjekt fingiert wird. Meiner Meinung nach indes-

sen ist die Struktur entweder hinreichend durch die Elemente eines qualitativen Zusammenklanges fundiert, oder sie findet in ihm zwar eine unentbehrliche, aber nicht hinreichende Bedingung, die dann eben durch das subjektive Verhalten des ästhetisch erlebenden Subjekts ergänzt werden muß, aber eben nur ergänzt und nicht vom Subjekt ganz frei geschaffen wird.

§ 24. Struktur des ästhetischen Erlebnisses

235

liehst reicher und wertvoller qualitativer Zusammenklang erreicht wird. Dieser Zusammenklang und insbesondere seine ihn determinierende Qualität ist - wenn man so sagen darf - das letzte Prinzip der Bildung und der E x i s t e n z des ästhetischen Gegenstandes. Das Kunstwerk hilft uns (im erörterten F a l l ) bei dieser Bildung, indem es uns die Richtschnur der obersten Qualität und der Struktur des ästhetischen Gegenstandes liefert. Dies führt entweder zur Bildung eines genau bestimmten qualitativen Zusammenklanges oder schafft die Grundlage für eine Mannigfaltigkeit möglicher, durch das Kunstwerk zugelassener und dem perzipierenden S u b j e k t suggerierter qualitativer Zusammenklänge. O b und welcher von diesen möglichen qualitativen Z u s a m m e n klängen bei einem bestimmten Kunstwerk wirklich in einem ästhetischen Erlebnis konstituiert wird, dies hängt eben vom V e r l a u f dieses Erlebnisses und den in ihm vollzogenen Bewußtseinsoperationen ab. Die Gestaltung eines solchen qualitativen Zusammenklanges durch das erlebende S u b j e k t geschieht oft mit Hilfe eines schwierigen und qualvollen Verfahrens. Dies ist besonders dann der Fall, wenn das Kunstwerk dem B e trachter a u f Grund seiner Eigenschaften die hinreichende Hilfe versagt. E r ist dann genötigt, selbst die fehlenden M o m e n t e oder Glieder des zu bildenden Zusammenklanges oder ihre Koordinierung hinzuzukomponieren. E s kommt vor, daß wir das Fehlen dieser M o m e n t e fühlen und die höchste Qualität des Zusammenklanges zwar ahnen, aber doch, wenigstens vorläufig, nicht fähig sind, das fehlende qualitative M o m e n t explicite zu erschauen und infolgedessen auch nicht vermögen, die letzte Gestalt des Zusammenklanges zu konstituieren und daraufhin zu erfassen. Denn erst, wenn die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes vollendet ist, fängt die letzte Phase des ästhetischen Erlebnisses an, welche seine Kulmination besonderer Art bildet. 6 . Die vorangehenden Phasen des ästhetischen Erlebnisses zeichnen sich alle dadurch aus, daß sich in ihrem relativ zusammengesetzten Aufbau dreierlei E l e m e n t e abheben: a ) emotionale (die ästhetische Erregung, die Ursprungsemotion, emotionale R e a k t i o n ) , b ) aktive, schöpferische (Gestaltung des ästhetischen Gegenstandes) und c ) passive, empfangende E l e m e n t e (die Erfassung der bereits enthüllten und zusammenstimmenden Qualitäten). Die einzelnen Phasen des Erlebnisses sind mit diesen Elementen auf verschiedene W e i s e durchwoben, wobei einmal diese, das andere Mal j e n e E l e m e n t e überwiegen. Diesen ganzen Abschnitt des ästhetischen Erlebnisses zeichnet eine

236

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Unruhe forschenden Suchens, eine Veränderlichkeit aus, charakterisiert durch eine wechselvolle Dynamik. Im Gegensatz dazu tritt in der letzten Phase des ästhetischen Erlebnisses eine gewisse Beruhigung ein. Einerseits mündet es in ein Versunkensein in eine ruhigere Betrachtung, in die Kontemplation des qualitativen Zusammenklanges an dem bereits konstituierten ästhetischen Gegenstand, sowie in die Aufnahme der einzelnen sichtbar gewordenen Qualitäten. Andererseits und in Einklang damit beginnt sich das zu vollziehen, was ich oben die zweite Form der emotionalen Antwort auf den konstituierten qualitativen Zusammenklang nannte. Es regen sich nämlich Gefühle, in denen sich das Anerkennen des Wertes des konstituierten ästhetischen Gegenstandes, die ihm gebührende Weise der Bewunderung, vollzieht. 37 Erlebnisse dieser Art, wie z.B. das Gefallen, die Bewunderung, das Entzücken, die Begeisterung für etwas, das sind alles ausgesprochen emotional bestimmte Akte - Max Scheler spricht da vom "intentionalen Fühlen" im Unterschied zu den reinen "Gefühlen", in denen bei gleichzeitigem Sich-auf-Etwas-unmittelbar-intentional-Beziehen diesem Etwas diese oder jene Form der Verehrung ausgesprochen wird. 38 Eben darum vollzieht sich in einem Akt des Fühlens die Anerkennung eines Wertes. Sie bildet unsere "würdige", passende "Antwort auf den Wert". D. v. Hildebrand spricht damit Recht von einer "Wertantwort"?9 Sie erwächst aus der Kontemplation eines unmittelbar gegebenen Wertes.

Das Wort "Anerkennen" soll hier nicht in dem Sinn genommen werden, in welchem es von verschiedenen Theoretikern (z.B. Fr. Brentano) in der Urteilstheorie als Anerkennung der Existenz eines Tatbestandes (im Gegensatz zum "Verwerfen") verwendet wird. Der Sinn, um den es sich da handelt, zeigt sich z.B. in der Wendung "er wandte sich ihm mit Worten voller Anerkennung zu", nur mit dem Unterschied, daß es sich da um keine rein intellektuell durchgeführte Beurteilung eines Wertes handelt, sondern um ein Erlebnis, in dem der emotionale Faktor wesentlich überwiegt. Man zollt jemandem seine Anerkennung, seine Bewunderung für etwas usw. [Vgl. M. Scheler, Der Formalismus

in der Ethik und die materiale

Wertethik (Gesammelte

Werke, Bd. 2), Bern und München 1966, S. 2 6 1 - 2 6 5 ] OQ

Vgl. D. v. Hildebrand, "Die Idee der sittlichen Handlung", Jahrbuch f . Philosophie phänom.

Forschung,

und

Bd. III [(1916), 126-251, S. 164ff.]. Bei Hildebrand handelt es sich

vor allem um sittliche Werte, der Begriff der Wertantwort kann aber so weit gefaßt werden, daß er sich auch auf die emotionale Anerkennung der ästhetischen Werte anwenden läßt.

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

237

Nur im unmittelbaren Umgang mit dem ästhetischen Gegenstand ist eine ursprüngliche und lebendige Antwort auf seinen Wert möglich. Man kann natürlich den Wert von etwas kühl "beurteilen", d.h. ein Urteil über seinen (ästhetischen) Wert fällen, indem man sich der entsprechenden fachmännischen Kriterien bedient, ohne je das entsprechende ästhetische Erlebnis vollzogen zu haben und ohne je einen qualitativen Zusammenklang im ästhetischen Gegenstand konstituiert und ihn erschaut zu haben. Menschen, die sehr viel mit Kunstwerken zu tun haben und sich fast an sie gewöhnt haben, sind bis zu einem gewissen Grade dadurch "verdorben" und können sich nicht so leicht von etwas entzücken lassen. Sie bilden sich eine gewisse Technik aus, sich an gewissen sekundären Merkmalen des Kunstwerks zu orientieren, ob es einen Wert besitzt oder nicht, ohne diesen Wert je erschaut und ohne die Wertqualität überhaupt gekannt zu haben. Aus den bemerkten sekundären Merkmalen schließen sie rein intellektuell, daß das betreffende Kunstwerk zur Konstitution eines wertvollen ästhetischen Gegenstandes führen kann. Sie beurteilen das Kunstwerk im Hinblick darauf, daß es gewisse Möglichkeiten

zur Bildung

ästhetisch wertvoller Gegenstände in sich enthält. Das Urteilen über den Wert eines Kunstwerks ist in diesem Fall ein rein intellektueller Akt, der nicht minder intellektuell ist als z.B. die Beurteilung, daß ein bestimmter Baum eine Eiche ist. Der Unterschied besteht da nur darin, was über einen Gegenstand prädiziert wird. Ein solches bloß erschlossenes Urteil über den ästhetischen Wert eines Gegenstandes gehört nicht mehr zum ästhetischen Erlebnis. Es kann falsch oder sogar richtig sein. Die Erfahrung aber, die es wesensmäßig begründet, die es als rechtmäßig erweist, liegt in der Endphase des ästhetischen Erlebnisses und ist insbesondere in dem auf das Erschauen des qualitativen Zusammenklanges des ästhetischen Gegenstandes gegründeten emotionalen Anerkennen des Wertes dieses Gegenstandes enthalten. Lediglich die in diesem emotionalen Anerkennen gründenden Urteile sind wirklich begründet, bewährt, erwiesen. Die von den Fachkritikern oft mit großer Fertigkeit gefällten Urteile sind im allgemeinen nur mittelbare Beurteilungen nicht des Wertes des ästhetischen Gegenstandes, sondern des Kunstwerks als eines Mittels (Werkzeugs), das beim Vollzug des ästhetischen Erlebnisses zu einem positiv wertvollen ästhetischen Gegenstand führen kann. Deswegen vermögen die Fachkritiker - auch wenn sie in der Beurteilung der Kunstwerke nicht irren - so wenig über den wesentlichen Gehalt der zugehörigen ästhetischen

238

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Gegenstände zu sagen, weil sie oft schon nicht mehr fähig sind, ein volles ästhetisches Erlebnis zu haben. Dies zeigt sich eben, sobald sie die von ihnen richtig beurteilten Kunstwerke als angebliche ästhetische Gegenstände zu beschreiben suchen. Der Wert des ästhetischen Gegenstandes ist nicht der Wert eines Mittels (Werkzeugs) zu etwas, was außerhalb desselben liegt und dem ein anderer Wert zukommen würde. Er ist, falls er überhaupt besteht, im ästhetischen Gegenstand selbst enthalten und ist in seinen Qualitäten und dem in ihm konstituierten qualitativen Zusammenklang fundiert. Wenn wir ihn anerkennen, ihm in Akten der emotionalen Antwort Gerechtigkeit widerfahren lassen, stehen wir mit dem betreffenden ästhetischen Gegenstand im engsten Kontakt und lassen uns ausschließlich von ihm bestimmen. Nachher, nach dem Vollzug des ganzen ästhetischen Erlebnisses, wenn wir einen gewissen Abstand von dem uns anschaulich gegenwärtigen ästhetischen Gegenstand gewonnen haben, können wir ihm in einem Urteil einen Wert zuschreiben; wir können auch Urteile über diesen Wert fällen oder ihn mit anderen Werten vergleichen und die werthaften Gegenstände in Wertreihen einordnen. All dies geschieht aber bereits nicht mehr in ästhetischer Einstellung, sondern in einer forschenden Erkenntniseinstellung, zu der wir zurückkehren, wenn wir uns kühl zu Bewußtsein zu bringen suchen, was uns in dem ästhetischen Erlebnis gegeben war, und wenn wir das Fazit dieses Erlebnisses begrifflich bestimmen wollen. Man soll zweifellos die urteilsmäßige Bewertung eines ästhetischen Gegenstandes nicht geringschätzen. Sie bezieht sich auf einen Teil dessen, was im ästhetischen Erlebnis unter der Gestalt des unmittelbar erschauten und zugleich erfühlten qualitativen Zusammenklanges aufgetreten ist. Etwas ästhetisch erleben und insbesondere den qualitativen Zusammenklang im anschaulichen Erfassen betrachten - das heißt noch nicht wissen (im engeren Sinn des Wortes), was der betreffende ästhetische Gegenstand ist, wie er beschaffen ist, welche Qualitäten in ihm auftreten und welchen immanenten Wert sie in ihm konstituieren. Um dieses Wissen zu erlangen, muß man zur Forschungseinstellung zurückkehren. Man muß einerseits den bereits konstituierten ästhetischen Gegenstand in weiterem Umgang mit dem fundierenden Kunstwerk in der Aktualität erhalten, was bei Bildern, Skulpturen und architektonischen Werken auf keine unüberwindlichen Schwierigkeiten stößt, was aber bei literarischen und musikalischen Werken kaum so leicht möglich sein dürf-

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

239

te. Andererseits muß man aber auch den Gehalt der Wertantwort und auch die Ergebnisse der sich auf den ästhetischen Gegenstand beziehenden Erfassungsakte möglichst lange im lebendigen Gedächtnis behalten. Beides ermöglicht uns, das betreffende Werturteil, bzw. das Urteil über den Wert des konstituierten ästhetischen Gegenstandes, im Zustand eines klaren Wissens über den durch das ästhetische Erlebnis gelieferten Tatbestand zu fällen. Man kann auch versuchen, auf die Erinnerung zurückzugreifen und mit ihrer Hilfe die Gestalt des früher konstituierten ästhetischen Gegenstandes wieder aufleben zu lassen. Endlich kann man auch versuchen, auf dem bereits vollzogenen ästhetischen Erlebnis ein neues Erlebnis aufzubauen, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit auf den konstituierten ästhetischen Gegenstand richten und seine Einzelheiten und insbesondere seinen Wert zur klaren Erfassung bringen. Man muß mit anderen Worten das im ästhetischen Erlebnis Konstituierte bis zu einem gewissen Grad zu rationalisieren suchen, um das mit emotionalen Momenten Durchtränkte in Begriffe zu fassen und in streng formulierten Urteilen prädikativ zu bestimmen. Ob und in welchem Maße dieses hier nur postulierte Wissen wirklich realisierbar ist, wird noch zu erwägen sein. Momentan ist aber nur sicher, daß dies ohne das grundlegende ästhetische Erlebnis, das besonders in seiner letzten Phase eine Weise der ästhetischen Erfahrung bildet, nicht möglich ist. Wer also die Erforschung der Kunstwerke mit der rein forschenden Einstellung des Erkennens eines realen Gegenstandes beginnt, dagegen nicht versucht, zunächst das sich darauf aufbauende, manchmal ziemlich komplizierte Kunstwerk zu restituieren, und zugleich sich auch nicht die Aufgabe stellt, im ästhetischen Erleben einen in diesem Kunstwerk fundierten ästhetischen Gegenstand zu konstituieren, um etwas von ihm zu erfahren, der wird das Wissen von den ästhetischen

Werten nie

gewinnen können. Andererseits wird auch das ästhetische Erleben allein ihm dieses Wissen nicht liefern. Es gibt ihm lediglich eine Erfahrung, welche wie jede Erfahrung - in ihrem Ergebnis - soweit es geht - begrifflich erfaßt werden muß. Nicht jedes ästhetische Erlebnis endet natürlich mit der positiven emotionalen Wertantwort auf den sich uns in ihm enthüllenden Wert des ästhetischen Gegenstandes. Den letzten Abschluß dieses Erlebnisses kann auch eine negative emotionale Antwort in der Gestalt von Widerwillen oder Abscheu oder gar Ekel bilden. Es kann natürlich auch zu keiner Wertantwort kommen,

240

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

obwohl das ästhetische Erlebnis angelaufen ist. Zu einer negativen Wertantwort kommt es dann, wenn ein negativer Wert zur Konstitution gelangt. Aber dieser negative Wert kann noch auf Verschiedenem beruhen. Entweder beruht er darauf, daß der ästhetische Gegenstand keinen einheitlichen qualitativen Zusammenklang bildet, der durch eine letztliche Qualität zusammengehalten würde. Dann bildet er eigentlich keine echte Ganzheit, sondern ist eher aus nicht genügend harmonisierten ästhetisch wertvollen Qualitäten zusammengewürfelt, die sich gegenseitig gar nicht fordern oder die sogar von sich aus die Forderung stellen, nicht an einem und demselben Ganzen teilzuhaben. Dann kommt es im ästhetischen Erlebnis auch zu keiner Kontemplation der letzten ästhetisch wertvollen Qualität des Zusammenklanges und zu einem Sich-mit-dieser-Qualität-Sättigen. Es kommt dann auch nicht zu der Intimität, Innigkeit und Wärme des Verhältnisses des Erlebenden mit dem ästhetischen Gegenstand, welche die Kulmination eines positiv ausklingenden ästhetischen Erlebnisses charakterisiert. Man kann eher sagen, daß hier eine deutliche Distanz des Erlebenden zum ästhetischen Gegenstand bestehen bleibt. Der Akt des Verurteilens (als Gegensatz zur "Anerkennung") vergrößert diese Distanz noch und zwingt den Erlebenden, den Gegenstand zu verwerfen und sich nicht mehr mit ihm zu beschäftigen. Diese Distanz tritt auch in anderen Fällen ästhetischer Erlebnisse auf, die mit einer negativen Wertantwort enden, und zwar wenn der negative Wert nicht auf der Desorganisation des Aufbaus des ästhetischen Gegenstandes beruht, sondern in sich selbst durch eine "negative" Qualität konstituiert ist, z.B. durch eine ausgesprochen abstoßende Häßlichkeit oder giftige Scheußlichkeit. Dann wird der so konstituierte ästhetische Gegenstand oft sehr aktiv verworfen, ein Verwerfen, das übrigens mit Anerkennung und eventuell auch Bewunderung der künstlerischen Fertigkeit des Kunstwerks zusammengehen kann, das diese Scheußlichkeit so kraß hervorzuheben vermochte. 4 0 Wir sagen dann: es ist häßlich und abscheulich, doch zeigt es diese Häßlichkeit meisterhaft.

In der Kunst des XX. Jahrhunderts gibt es viele Beispiele von Werken, welche derartige ästhetische Gegenstände zu konstituieren vermögen, und es herrscht zugleich eine ausgesprochene Neigung zu derartigen ästhetischen Erlebnissen. Man erlebt eben gerne Akte des Verwerfens, der Verurteilung häßlicher Gegenstände. Das beweist nicht, daß sich diese negativen Werte in positive verwandeln - wie etwa die Relativisten gerne behaupten würden

§ 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

241

In beiden Fällen - dem positiven und negativen - kommt es zur Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes. Das ästhetische Erlebnis kann aber wie gesagt - auch so verlaufen, daß diese Kulminationsphase einer Wertantwort überhaupt ausbleibt. Das ästhetische Erlebnis, obwohl es einsetzte und sich einige Zeit entfaltete, verflüchtigt sich gewissermaßen oder versandet in einer gewissen Leere, in einem - wie wir auch manchmal sagen - nichtssagenden, charakterlosen, gesichtslosen Gegenstand, den wir einfach fallen lassen und an dem wir kühl vorbei zu anderen Beschäftigungen gehen. Korrelativ kann es da noch verschiedene Möglichkeiten geben. Entweder konstituiert sich überhaupt gar kein ästhetischer Gegenstand. Ein realer Gegenstand, der vom Künstler als Kunstwerk gedacht war, ist uns dann ästhetisch überhaupt ganz irrelevant; wir gehen an ihm ohne jede ästhetische Regung vorbei, da die ästhetische Ursprungsemotion überhaupt nicht einsetzt. Wenn wir nicht über eine äußere Information verfügten, daß der betreffende Gegenstand überhaupt ein Kunstwerk sein soll, käme es uns überhaupt nicht in den Sinn, uns mit ihm ästhetisch zu beschäftigen. Wir beurteilen dann manchmal ein solches "Kunstwerk" negativ, indem wir es kritisieren; wir tun es aber zu Unrecht, da ihm gar keine ästhetische Beurteilung gebührt, sondern nur ein neutrales daran Vorbeigehen. Nur eine negative Beurteilung der

künstlerischen

Mängel des mißlungenen Kunstwerks wäre da am Platz, aber das ist ein anderes Problem, das hier nicht zu behandeln ist. - Es kann aber auch sein, daß ein Kunstwerk in uns eine ästhetische Ursprungsemotion hervorgerufen hat, so daß sich das ästhetische Erlebnis zu entwickeln beginnt. In dem sich allmählich konstituierenden ästhetischen Gegenstand treten dann manche weiteren relevanten Qualitäten auf, schließlich aber löst sich allmählich alles auf, und aus den sich hie und da meldenden ästhetisch relevanten Qualitäten resultiert gar kein ästhetischer Wert. So etwas kommt manches Mal in literarischen, z.B. dramatischen, Werken vor oder in mißlungenen Filmen: wir beginnen schon mit Interesse zuzusehen, wir beginnen auch die ästhetische Ursprungsemotion zu erleben, dies oder jenes scheint uns gut oder interessant, aber dann zeigt es sich, daß es einfach eine Schmiere, ein fabrikmäßiges Produkt für

- sondern nur, daß die Wertantwort nicht einfach mit "Gefallen" oder "Lust" zu identifizieren ist. Ich werde gleich noch darauf zurückkommen.

242

IV. Abwandlungen

des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

große Massen ist, die überhaupt nicht ästhetisch erleben wollen, sondern nur einen "Zeitvertreib" suchen. Dann stehen wir auf und verlassen enttäuscht den Saal. Das ästhetische Erlebnis hat sich einfach aufgelöst, obwohl der ästhetische Gegenstand sich bereits zu konstituieren begann. Bevor ich diese Erwägungen abschließe, noch ein Gedanke, der bereits gestreift wurde. Das ästhetische Erlebnis enthält in seinem ganzen Verlauf, und besonders in der positiv verlaufenden Kulminationsphase, unzweifelhaft gewisse Elemente, die für den Erlebenden angenehm sind. Es ruft auch im Erlebenden gewisse weitere angenehme, sogar lustvolle oder im Gegenteil unangenehme Zustände der Unlust hervor. Es ist unzweifelhaft eine große Wonne, mit einem (hochwertigen) ästhetischen Gegenstand in unmittelbarem Sehen und in Bewunderung zu verkehren. Wer aber in dieser Wonne das Haupt- und Wesens-Moment des ästhetischen Gegenstandes sieht, der geht eigentlich an ihm völlig vorbei und beschäftigt sich nur mit einer

Folgetr-

scheinung des ästhetischen Erlebnisses, einer Erscheinung übrigens, die nicht nur durch ein ästhetisches Erlebnis hervorgerufen werden kann. Es gibt viele verschiedene Mittel, uns in einen Lustzustand oder in eine Wonne zu versetzen, die nichts mit Kunst und mit dem ästhetisch Wertvollen gemein haben. Wer auf solche Weise an dem ästhetischen Erlebnis und auch an dem ästhetischen Gegenstand mißverständlich vorbeigeht, der ist auch nicht fähig, die wesentliche Funktion des ästhetischen Erlebnisses zu verstehen. Sie besteht in der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes und damit in der "Realisierung" ganz bestimmter und nur auf diesem Wege zur Konkretion zu bringender Werte, und andererseits in der Realisierung einer emotionell-kontemplativen Erfahrung des Zusammenklanges ästhetisch wertvoller Qualitäten und damit auch der in ihr fundierten Werte. Darin liegt einerseits die Bereicherung der dem Menschen zugehörigen Welt um spezifische, durch nichts anderes ersetzbare Werte, andererseits auch die Bereicherung des menschlichen Lebens um eine Erfahrungsart, welche den Zugang zu jenen Werten eröffnet, und endlich auch dem Menschen selbst eine Fähigkeit verleiht, die u. a. zu seiner Konstituierung als menschlicher Person wesentlich gehört. Wer diese besondere Funktion des ästhetischen Erlebnisses nicht versteht und nicht ahnt, daß es so etwas überhaupt gibt, und sich in der Hoffnung, ästhetisch zu erleben, nur auf die Erreichung einer gewissen Lust oder Wonne einstellt, der kennt eigentlich die ästhetischen Werte überhaupt nicht und ist

§ 24. Struktur des ästhetischen

243

Erlebnisses

auch im Grunde nicht würdig, diese Werte zu erschauen. Er erreicht auch gewöhnlich die Konstituierung des Zusammenklanges der ästhetisch relevanten Qualitäten nicht und gewinnt nur eine gewisse Lust aus seinen eigenen Erlebnissen, und insbesondere aus den Lustgefühlen, die oft nur eine Form sind, in welcher man mit den im Kunstwerk dargestellten

Gegenständen (z.B. in ei-

nem Roman) emotional verkehrt. Man ist durch die Schicksale der "Helden" angenehm bewegt, man wird erotisch erregt, man erhitzt sich für die Realisierung gewisser sozialer, ethischer oder religiöser Ideale usw., aber dies alles hat mit der ästhetischen Ursprungsemotion und den sich im ästhetischen Erlebnis enthüllenden Werten nichts gemein. 4 1 7. Die endgültige Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes bei positiver emotionaler Wertantwort führt zum Auftreten eines weiteren Moments in der Kulminationsphase des ästhetischen Erlebnisses. Bei der Besprechung der Modifikation, welcher unter dem Einfluß der ästhetischen Ursprungsemotion die Wahrnehmung des Gegenstandes unterliegt, auf dessen Hintergrund die erste, den Erlebenden bewegende ästhetisch wertvolle Qualität erscheint, habe ich erwähnt, daß ich die Auffassung, nach welcher das ästhetische Erlebnis "neutralisiert" ist, für falsch halte. Es ist jetzt an der Zeit, mich dafür zu verantworten. Beim ästhetischen Erlebnis treten verschiedene - wie Husserl sagen würde - "thetische" Momente, d.h. Momente der Seinsannahme 4 2 von etwas auf. Ihre erste Gruppe bezieht sich auf die im Kunstwerk - und insbesondere im literarischen Kunstwerk - dargestellten

Gegenständlichkeiten und ist denjeni-

gen seinsannehmenden Momenten verwandt (wenn auch nicht identisch), die in den Erkenntniserlebnissen und insbesondere in den Wahrnehmungen realer Gegenstände auftreten. Derartige seinsannehmende, dem Bestehen von etwas zustimmende Momente treten aber nur in manchen ästhetischen Erlebnissen auf, beim unmittelbaren ästhetischen Verkehr mit Skulpturen, (darstellenden) Bildern oder literarischen Werken. Sie sind also für das ästhetische Erlebnis überhaupt nicht unentbehrlich, sie fehlen z.B. bei der ästhetischen Erfassung

4

'

Vgl. dazu die sehr treffenden Ausführungen von Moritz Geiger in der Abhandlung "Vom Dilettantismus im künstlerischen Erleben" in seinem Buch Zugänge

zur Ästhetik

[Leipzig

1928], 42

[Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie phie, Erstes Buch, S. 214 (Husserliana III/l, S. 229).]

und phänomenologischen

Philoso-

244

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

der Werke der reinen, nicht-darstellenden Musik. Wenn sie aber in einem ästhetischen Erlebnis einmal vorkommen, dann bereichern sie dieses Erlebnis und beeinflussen seinen Verlauf, ganz ähnlich, wie ein vielschichtiger ästhetischer Gegenstand, der unter seinen Schichten auch die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten besitzt, in gewissem Sinn reicher ist als z.B. ein einschichtiges abstraktes Bild. Diese besonderen "thetischen" Momente treten aber hier in einer eigentümlichen Abwandlung

der Seins[an]erkennungsmo-

mente auf, die in jeder Erfassung eines realen Gegenstandes, insbesondere auf dem ganzen Gebiet der sinnlichen Erfahrung, vorkommen. Ganz ernst und uneingeschränkt glauben wir zwar nicht, daß die in einem Roman oder in einem Drama dargestellten Gegenstände, Menschen, Schicksale, Kämpfe, Siege und Niederlagen wirklich existieren, wir verhalten uns aber so, als ob wir uns selbst vormachten, wir glaubten daran so ganz ernst und schlechthinnig. Wir gestehen uns zugleich bis zu einem gewissen Grad nicht ein, daß wir nur "so tun als ob". Es ist eine ganz eigentümliche Abwandlung oder Modifikation des Glaubens, des Überzeugtseins von der Realität einer Sache, welche in ihrer Eigentümlichkeit sehr schwer zu beschreiben ist. 4 3 Wir kennen aber diese Abwandlung des Überzeugtseins sehr gut. Das Auftreten dieser Abwandlung des Überzeugtseins bzw. der Seinsanerkennungsmomente im ästhetischen Erlebnis bildet noch eine bis jetzt unberücksichtigte Folge der ästhetischen Ursprungsemotion und steht mit der kategorialen Formung des Gehaltes des ästhetischen Gegenstandes und insbesondere mit der Hinzudichtung zu den entsprechenden reinen Qualitäten der durch sie bestimmten Eigenschaftssubjekte im engen Zusammenhang. Das intentionale Korrelat dieser modifizierten "thetischen" Momente bildet der Charakter der QuasiRealität der im ästhetischen Gegenstand zur Darstellung gelangenden Dinge, Menschen und Geschehnisse. 4 4

4 3

Diese Modifikation hatte [Hans] von Vaihinger im Sinn, als er sein Buch Die

Philosophie

des Als-Ob [Berlin 1911] schrieb, er hat aber diesen Begriff so stark erweitert, daß noch sehr verschiedene Phänomene in den Bereich des "Als-ob" einbezogen wurden. 44

Deswegen sind die im literarischen Kunstwerk auftretenden Aussagesätze keine echten Urteile, noch die Meinongschen "Annahmen", sondern nur Quasi-Urteile. Um sie in dieser Modifikation richtig zu lesen, muß man entweder durch die ästhetische Urspmngsemotion hindurchgehen oder sich von vornherein künstlich auf diese besondere Weise des Lesens des literarischen Kunstwerks einstellen.

§ 24. Struktur des ästhetischen

245

Erlebnisses

Obwohl diese Abwandlung des Überzeugtseins in natürlicher Weise in einem ästhetischen Erlebnis auftreten kann, ist sie doch für dieses Erlebnis nicht charakteristisch und auch selbst nicht spezifisch ästhetisch. Sie tritt nicht in ästhetischen Erlebnissen auf, die sich auf die nichtdarstellenden (man sagt auch unrichtig: "ungegenständlichen") Künste, wie reine Musik, Architektur und die abstrakte Malerei beziehen. Es existiert indessen in jedem

ästheti-

schen Erlebnis, in dem es überhaupt zur Konstituierung eines (positiv-wertigen) ästhetischen Gegenstandes gekommen ist, ein Moment der Seinsanerkennung und betrifft den ganzen

ästhetischen

Gegenstand,

für den der

Zusammenklang von ästhetisch wertvollen Qualitäten konstituiert ist. Es ist ebenso wie die Seinsanerkennung der Realität ein Moment der Anerkennung (Husserl sagt immer "Setzung") 45 eines Seins, das man aber nicht mit dem Realsein identifizieren darf. Obwohl das ästhetische Erlebnis, welches zur Konstituierung eines völlig neuen Gegenstandes führt, der nicht bloß über jedwedes reale Sein, sondern auch über das zugrunde liegende Kunstwerk hinausreicht, insofern schöpferisch ist, so ist es doch zugleich in gewissem Sinn ein entdeckerisches

Erlebnis, indem es unter den Suggestionen, die von

der Perzeption des Kunstwerks herrühren, [den Leser] zur Entdeckung gewisser notwendiger Zusammenhänge unter den reinen Qualitäten, insbesondere unter den ästhetisch wertvollen Qualitäten führt und nach ihrer Erfassung zur Fingierung der qualitativen, im ästhetischen Gegenstand verleiblichten Zusammenklänge

bringt.

Insbesondere

sind

es

ästhetisch

wertvolle

Gestaltqualitäten, die mit Hilfe der vom Kunstwerk suggerierten ästhetisch wertvollen Qualitäten dem ästhetischen Gegenstand im ästhetischen Erlebnis aufgeprägt werden. Sobald es aber auf diesem Wege zur vollendeten Konstitution dieses Gegenstandes kommt, der in der darauf folgenden Phase vom ästhetisch Erlebenden perzipiert wird, taucht im ästhetischen Erlebnis ein spezifisches Seinsanerkennungsmoment auf, das in dem Überzeugtsein besteht, daß es einen solchen Zusammenklang

ästhetisch

wertvoller

Qualitäten überhaupt gibt. Am konkretisierten ästhetischen Gegenstand wird seine Möglichkeit

erwiesen. Es wird da eben etwas als möglich erschaut,

dessen Vorhandensein man weder erwartet noch geahnt hat. Sobald wir uns

[Vgl. E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen phie, Erstes Buch, S. 214 (Husserliana HI/1, S. 229).]

Philoso-

246

IV. Abwandlungen

aber

beim

konstituierten

Zusammenklang

des Erkennens

des literarischen

ästhetischen

Kunstwerks

Gegenstand

ästhetisch wertvoller Qualitäten

einem

gegenüber

solchen befinden,

überwältigt uns eine gewisse Verwunderung, daß "so etwas" überhaupt möglich ist - so etwas, d.h. eine derartige Harmonie, ein solcher Kontrast, ein derartiger Rhythmus, eine solche melodische Linie usw. Diese Möglichkeit wird, im ästhetischen Gegenstand "realisiert", 46 in einem schöpferisch-entdeckerischen ästhetischen Erlebnis ad oculos gezeigt. Wir sehen da: es gibt so etwas. Und in der Feststellung der "Existenz" dieses Etwas ist eben jenes Moment der Seinsanerkennung, des Überzeugtseins, das schon erwähnt wurde, enthalten. Natürlich ist diese "Existenz" kein Realsein,

sondern das ideale

Bestehen eines wesensnotwendigen Zusammenhangs zwischen reinen Qualitäten, die da insbesondere reine, ästhetisch wertvolle Qualitäten sind. Und gerade im Entdecken des an einem Concretum "realisierten", möglichen Zusammenklanges ästhetisch wertvoller Qualitäten besteht eine wesentliche Verwandtschaft zwischen einem ästhetischen Erlebnis und einem Erlebnis, in welchem die effektive Erkenntnis eines notwendigen Seinszusammenhanges erreicht wird. Und analog tritt, wie in diesem letzten Erlebnis, auch in der letzten Phase eines gelungenen ästhetischen Erlebnisses das Moment der Seinsanerkennung auf dem Gebiet der reinen idealen Qualitäten auf, insbesondere der ästhetisch wertvollen Qualitäten verschiedener, besonderer, qualitativer Zusammenhänge und Zusammenklänge. Was die Rede von der "idealen Existenz" besagen soll, kann hier nicht auseinandergesetzt werden, da sich da komplizierte existentialontologische und erkenntnistheoretische Probleme eröffnen, die das Thema unserer Betrachtung wesentlich überschreiten. 47 Hier kommt es nur darauf an, auf das Seinsanerkennungsmoment in der letzten Phase eines gelungenen ästhetischen Erlebnisses hinzuweisen, welches vom Moment der Seinsanerkennung der rea-

4 6

Wir setzen hier das Wort "realisiert" in A n f ü h r u n g s z e i c h e n , da es sich nicht um eine Realität im echten Sinn handelt noch handeln kann, weil jeder ästhetische Gegenstand - obwohl er auf dem Fundament eines realen Dinges zur Gegebenheit gebracht wird - doch nicht im echten Sinn "real" ist. Aber das Wort "Realisierung" hat noch eine andere Bedeutung, die uns veranlaßt, es hier zu benutzen, und zwar den Sinn des "In-Erfiillung-Gehens", was zunächst nur potentiell, nur beabsichtigt, nur geplant und als solches nur gedacht wird.

4 7

Nur einen Teil dieser Probleme suchte ich im I. Band des Buches Der Streit um die der Welt (deutsch 1965/66) zu analysieren.

Existenz

S 24. Struktur des ästhetischen

Erlebnisses

247

len, uns umgebenden Welt und sogar vom modifizierten Moment der Seinsanerkennung der in einem Kunstwerk dargestellten Gegenständlichkeiten verschieden und von ihnen völlig unabhängig ist. Dieses Moment verwandelt sich (oder geht ein) in ein Moment der Bestätigung oder Bekräftigung der Existenz, z.B. eines qualitativen Zusammenklanges. Man könnte es auch interpretieren als das Moment des Postulierens, des Fordems, der betreffende qualitative Zusammenklang solle weiter bestehen, irgendwie dauerhaft gemacht werden. Es ist mit dem Moment der Anerkennung des Wertes, die wir ihm in der emotionalen Wertantwort zollen, eng verbunden. Ein anderer Tatbestand liegt bei einem ästhetischen Erlebnis vor, in welchem die emotionale Wertantwort negativ ist. Sie verbindet sich da mit dem Moment des Überzeugtseins von der Unmöglichkeit und damit vom Nichtbestehen eines Zusammenklanges ästhetisch wertvoller Qualitäten, bzw. von der Unmöglichkeit seiner "Realisierung" in einem bestimmten ästhetischen Gegenstand. Es kann auch sein, daß wir diesen qualitativen Zusammenklang ahnen und suchen, aber in einem mißlungenen ästhetischen Erlebnis zu der Überzeugung kommen, daß er wenigstens mit Hilfe der in dem betreffenden ästhetischen Gegenstand auftretenden ästhetisch relevanten Qualitäten nicht "realisierbar" ist. Es kann aber auch sein, daß es im ästhetischen Erlebnis zur "Realisierung" eines qualitativen Zusammenklanges mit einem resultierenden negativen Ausklang kommt. Dann ist mit der negativen emotionalen Wertantwort zugleich ein postulati ves Moment des Nicht-weiter-Bestehens dieser resultierenden Wertqualität enthalten, das Moment der Forderung, daß sie "nie wieder" "realisiert" werde, bzw. daß ihre Realisierung unmöglich gemacht werde. Dies wäre also eine skizzenhafte Umschreibung der grundlegenden Momente des ästhetischen Erlebnisses. Sie enthält gewisse Vereinfachungen und Idealisierungen, um zu ermöglichen, zunächst das allgemeine Skelett dieses Erlebnisses aufzuzeigen. In Wirklichkeit, insbesondere beim praktischen Umgang mit Kunstwerken verschiedener Art, gibt es verschiedene Abwandlungen des ästhetischen Erlebnisses als Ganzes genommen sowie seiner einzelnen Phasen. Ihre Gestaltung hängt sowohl von der Beschaffenheit des betreffenden Kunstwerks ab, von den psychischen Eigentümlichkeiten des Erlebenden als auch von den wechselnden Umständen, unter denen sich das ästhetische Erlebnis entwickelt. Eine große Rolle spielt dabei die ästhetische Empfindlichkeit der erlebenden Person, ihr emotionaler und intellektueller

248

¡V. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Typus, ihre allgemeine und ästhetische Kultur usw. Die Ausarbeitung der verschiedenen möglichen Abwandlungen des ästhetischen Erlebnisses bildet die Aufgabe der speziellen Untersuchungen des subjektiv orientierten Teiles der Ästhetik. Sie können hier nicht durchgeführt werden. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß die hier gegebenen Beschreibungen verschiedene Ergänzungen in der Ausarbeitung der Einzelheiten erfordern, sowie auch eine Reihe kritischer Betrachtungen der Schwierigkeiten, welche sich aus dem allgemeinen Schema des Verlaufs des ästhetischen Erlebnisses ergeben.

§ 25. Gibt es ein "literarisches" Erlebnis besonderer Art oder gehört es zu den ästhetischen Erlebnissen? In den dreißiger Jahren hat Wladyslaw Tatarkiewicz die Behauptung aufgestellt, man solle nicht nur eine Gattung ästhetischer Erlebnisse abgrenzen, sondern solle drei grundverschiedene Typen der sog. "ästhetischen" Erlebnisse (im weiteren, bisher vertretenen Sinn) unterscheiden. Und zwar: a) ästhetische Erlebnisse im engeren Sinn, die sich ausschließlich beim Umgang mit den sinnlich wahrnehmbaren Kunstwerken - also mit Werken der Skulptur, der Malerei, der Architektur und auch der Musik - abspielen sollen, und b) die "literarischen" Erlebnisse, die beim Umgang mit literarischen Kunstwerken vorkommen. Die ersteren sollen sich von den letzteren durch eine Anschaulichkeit par excellence

unterscheiden. Es sollen in ihnen

gewisse Dinge unmittelbar gegeben werden, auf deren "Aussehen" wir uns "konzentrieren" (die wir "kontemplieren"), während die anderen sich vermittels der Sprache und der Vorstellung auf Gegenstände beziehen, die uns nicht unmittelbar gegeben sind. "In der Dichtung ist uns unmittelbar nur das Wort gegeben, die ästhetische Konzentration ist also nur auf das Wort möglich, das Wort aber ... ist eher ein Vermittler, ein Zeichen, das die abwesenden Dinge suggerieren, im Gedanken hervorrufen soll." Das literarische Erlebnis "ist ein mittelbares Anschauen und Verkehren mit den Sachen, im Gegensatz zum unmittelbaren Verkehr, welcher in der ästhetischen

§ 25. Literarisches

Erlebnis. Antwort

249

aufTatarkiewicz

Einstellung sensu stricto auftritt". 4 8 Wäre die Auffassung von Tatarkiewicz richtig, könnte der begründete Zweifel entstehen, ob die von uns im vorigen Paragraphen aufgestellten Behauptungen über das ästhetische Erlebnis auf Erlebnisse anzuwenden seien, die wir beim Umgang mit literarischen Kunstwerken haben. So müssen wir diese Auffassung kritisch erwägen. Es ist zweifellos notwendig, verschiedene Abwandlungen (Arten) des ästhetischen Erlebnisses zu unterscheiden. Die ästhetischen Erlebnisse, welche wir beim Umgang mit literarischen Werken haben, unterscheiden sich auch tatsächlich in mancher Hinsicht von den ästhetischen Erlebnissen, die sich in uns bei der Erfassung einer Skulptur, eines Bildes oder eines architektonischen Werkes abspielen. Auf manche Momente, die für die Erlebnisse, in denen wir mit literarischen Kunstwerken verkehren, charakteristisch sind, habe ich selbst einst hingewiesen (was von Tatarkiewicz wahrscheinlich übersehen wurde). 4 9 Übrigens sowohl die von mir früher dargestellte Auffassung des literarischen Kunstwerks selbst als auch der bisherige Gang der Betrachtungen in diesem Buch zeugt am besten davon, daß ich diesen Unterschied anerkenne. Indem ich aber zustimme, muß ich zwei Fragen stellen: Erstens: Sind diese Unterschiede so bedeutend, daß sie keinen allgemeinen Typus des ästhetischen Erlebnisses anzunehmen gestatten und eine Art Parzellation der Ästhetik durchführen lassen, wie sie Tatarkiewicz wenigstens in einigen seiner Ausführungen 5 0 anscheinend fordert, oder betreffen sie nur gewisse sekundä-

48

Vgl. Wtadystaw Tatarkiewicz, "Skupienie i marzenie" (Konzentration und Träumen), Marcholt Nr. 3, 1935 [vgl. die Buchausgabe Skupienie

i marzenie.

Studia ζ zakresu

estetyki,

Krakow 1951], Außerdem: "Postawa estetyczna, poetyczna i literacka" ("Die ästhetische, dichterische und literarische Einstellung), Sprawozdania Umiejftnosci

ζ posiedzeñ

Polskiej

Akademii

w Krakowie (Sitzungsberichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften

in Krakau), Bd. 62, 1933; auch: "L'attitude esthétique, poétique et littéraire", Bulletin

inter-

national de l'Académie Polonaise des Sciences et des Lettres (1933). Jene dritte Einstellung soll eben jenes "Träumen" sein, das beim Umgang mit Kunstwerken möglich sein soll. 49

Vgl. Das literarische

Kunstwerk,

S. 223. Diesen Unterschied hat man übrigens früher sehr

stark unterstrichen, vgl. z.B. [Friedrich] Bouterwek, Ästhetik

[Leipzig 1806], Fr. Th. Vi-

scher, Ästhetik [3 Bde./5 T., Reutlingen und Leipzig 1846-57], E. von Hartmann,

Philoso-

phie des Schönen [2. Teil seiner Ästhetik, 2 Bde., Berlin 1886-87], Th. A. Meyer,

Stilgesetz

der Poesie [Leipzig 1901], u.a. Der Standpunkt von Tatarkiewicz ist übrigens in dieser Hinsicht nicht ganz eindeutig. Einmal drückt er sich so aus, als wenn er zwei Arten des ästhetischen Erlebnisses annehmen

250

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

re Momente, die als Ar/momente innerhalb einer Gattung des ästhetischen Erlebnisses zulässig wären? Zweitens: Soll man innerhalb der "literarischen" Erlebnisse ästhetische und nicht-ästhetische Erlebnisse unterscheiden? Auf die erste Frage soll man - wie ich glaube - im Sinn der zweiten angedeuteten Eventualität antworten. In den im vorigen Paragraphen durchgeführten Betrachtungen habe ich versucht, auf solche Momente des ästhetischen Erlebnisses hinzuweisen, die für jedes ästhetische Erlebnis wesentlich sind und die zugleich die bestehenden Unterschiede zwischen den bei der Betrachtung direkt anschaulich gegebener Kunstwerke stattfindenden Erlebnissen und den ästhetischen Erlebnissen bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerks nicht ausschließen. 51 Denn sie sind von diesen Unterschieden ganz unabhängig. Sowohl die ästhetische Ursprungsemotion als auch die durch sie hervorgerufenen Folgen (insbesondere die Änderung der Einstellung, die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes als eines qualitativen Zusammenklanges und die verschiedenen Weisen der Wertantwort) setzen gar nicht voraus, daß das Kunstwerk, welches den Ausgangspunkt zur Konstituierung auf seiner Grundlage eines ästhetischen Gegenstandes bildet, "sinnlich" wahrnehmbar52 sein müßte und nicht zum Teil in verschiedenen Vorstellungsakten (oder in imaginativen Akten) veranschaulicht werden könnte. Es läßt sich dabei die Behauptung von Tatarkiewicz nicht bestätigen, daß der Gegenstand des "äs-

wollte, das andere Mal tritt bei ihm deutlich die Tendenz auf, den Begriff des ästhetischen Erlebnisses ausschließlich auf Erlebnisse einzuengen, welche wir bei der Betrachtung der sinnlich wahrnehmbaren(?) Kunstwerke haben. 5

'

Ich habe mich da zwar der Beispiele für den Umgang mit den "visuell" gegebenen Kunstwerken bedient, es geschah aber nur, um den Bereich der Beispiele zu erweitern und um anzudeuten, daß die Behauptungen über das ästhetische Erlebnis sich gar nicht nur auf Erlebnisse beschränken, die wir im Umgang mit literarischen Kunstwerken haben. Daß diese "sinnliche" Wahmehmbarkeit gewisser Kunstwerke cum grano salis genommen werden muß, beweist die Existenz zahlreicher Theorien der "Einfühlung", die man seit Fr. Th. Vischer bis [hin zu] Theodor Lipps und Johannes Volkelt in Deutschland aufgestellt hat, um die Probleme, welche das ästhetische Erlebnis den Forschern damals stellte, zu lösen. Das besagt nicht, daß ich mich für diese verschiedenen Einfühlungstheorien ausspreche. "Sinnlich wahrnehmbar" - auch bei aller "plastischen" Kunst - ist nur das physische Ding, das das Seinsfundament des Kunstwerkes bildet, also z.B. das "Gemälde" im Unterschied zum "Bild".

§ 25. Literarisches

Erlebnis. Antwort

aufTatarkiewicz

251

thetischen" Erlebnisses im engeren Sinn, wie ihn Tatarkiewicz bestimmt, uns einfach in sinnlicher Wahrnehmung gegeben sei. Die von mir hier durchgeführten Analysen zeigen, daß auch bei der Betrachtung eines Bildes oder einer Skulptur die normale visuelle Wahrnehmung - also eine solche, die wir vollziehen, wenn wir ein reales Ding, also insbesondere das physische Fundament des Kunstwerks, zu erkennen suchen - anders verläuft als dann, wenn wir sie als eine Ausgangsoperation verwenden, um zunächst das betreffende Kunstwerk und dann dieses Kunstwerk in ästhetischer Einstellung zu erfassen. Sie reicht auch zum Vollzug und Verlauf des ästhetischen Erlebnisses gar nicht aus. Meine Untersuchungen weisen auch nach, daß uns der ästhetische Gegenstand in der Endphase des ästhetischen Erlebnisses tatsächlich gegeben ist (und zwar auf der Grundlage der Wahrnehmungs- oder Vorstellungsakte und der signitiven Akte); damit es aber dazu überhaupt kommen kann, muß er zunächst auf die oben beschriebene Weise konstituiert werden, so daß er also nie ein Gegenstand ist, den wir einfach als einen in seiner schlichten sinnlichen Wahrnehmung gegebenen vorfinden.

Und zwar gilt dies ganz unabhängig

davon, ob wir es mit einer Skulptur, einem Bild, einem Bauwerk oder mit einem literarischen Kunstwerk zu tun haben. Immer müssen wir, um das betreffende Kunstwerk zu erfassen, über die zum Ausgangspunkt dienende sinnliche Wahrnehmung und die in ihr gegebenen realen Dinge hinausgehen und beim Übergang in die ästhetische Einstellung sich den ästhetischen Gegenstand konstituieren lassen. Im ästhetischen Umgang mit einem Kunstwerk, dessen physisches, visuell wahrgenommenes Fundament mit dem Kunstwerk in einem viel engeren Verhältnis steht, als es beim literarischen Kunstwerk der Fall ist, ist natürlich der Anteil der sinnlichen Wahrnehmung am Verlauf des ästhetischen Erlebnisses verhältnismäßig viel größer und bedeutender als beim ästhetischen Erleben einer Dichtung. Es ist infolgedessen auch richtig, daß die durch die sinnliche Erfahrung dem ästhetischen Erlebnis gelieferten Qualitäten uns bei der ästhetischen Betrachtung viel mehr binden, als es bei der ästhetischen Erfassung eines Gedichts der Fall ist. Wir brauchen da auch nicht so aktiv wie beim Umgang mit einem literarischen Kunstwerk zu sein, wo z.B. die Konstituierung der in ihm dargestellten Gegenständlichkeiten und die Aktualisierung der mannigfachen Ansichten, in denen sie zur Erscheinung gebracht werden, uns eine viel umfangreichere und kompliziertere Aufgabe auferlegt, als es z.B. bei der Betrachtung einer Kathedrale oder beim Hören

252

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

einer Beethoven-Sonate der Fall ist, wo diese Funktionen überhaupt wegfallen oder jedenfalls viel leichter zu erfüllen sind. All dies bildet aber nur gewisse graduelle Unterschiede zwischen den verschiedenen Abwandlungen des ästhetischen Erlebnisses. Man soll sie natürlich weder übersehen noch ihre Bedeutung unterschätzen, sie ermächtigen uns aber nicht, den Begriff des ästhetischen Erlebnisses so einzuengen, wie Tatarkiewicz es zu tun vorschlägt. Es ist jetzt an der Zeit, auch zu erwägen, ob man innerhalb der Erlebnisse, in denen wir mit literarischen Kunstwerken verkehren, ästhetische und außerästhetische Erlebnisse zu unterscheiden hat. Diese Gegenüberstellung muß tatsächlich anerkannt werden, aber nicht in dem Sinn, wie es Tatarkiewicz vorschlägt. Das Erleben eines literarischen Kunstwerks, bei dem sich in keiner Phase eine ästhetische Ursprungsemotion abspielt, wo sich die Einstellung gar nicht ändert und auch keine emotionale Wertantwort auftritt, da es überhaupt zu keiner Konstituierung eines literarischen ästhetischen Gegenstandes kommt und auch kein ästhetischer Wert erscheint, ist nämlich nicht bloß möglich, sondern vollzieht sich tatsächlich oft in uns. Es kommt aber trotzdem zur Konstituierung einer Konkretisation des betreffenden literarischen Werkes oder gar Kunstwerks. Ein derartiges nicht-ästhetisches Erlebnis kann sich z.B. vollziehen, wenn wir die "Ilias" als klassische Philologen lesen, um uns über die Sitten und die Lebensweise der alten Griechen belehren zu lassen, oder wenn wir als Germanisten die Prosa Thomas Manns studieren und zu diesem Zweck zuerst die Buddenbrooks, dann etwa den Zauberberg lesen und auf die Struktur der Aussagesätze in diesen beiden Romanen achtgeben. Es kommt aber auch nicht selten vor, daß wir ein literarisches Kunstwerk als einfache Konsumenten lesen und, durch nichts bewegt, zu keiner ästhetischen Ursprungsemotion gelangen, das Werk aber doch zu Ende lesen, weil wir an den Schicksalen der in ihm dargestellten Menschen interessiert sind. Es gibt aber literarische Werke, etwa Romane, die sich überhaupt nicht in ästhetischer Einstellung lesen lassen, weil sie nicht fähig sind, die ästhetische Ursprungsemotion in uns hervorzurufen. Tatarkiewicz will aber offenbar die Erlebnisse beim Umgang mit einem literarischen Kunstwerk auf eine durchaus andere Weise in ästhetische und außerästhetische einteilen. Die "ästhetischen" sollen nämlich seiner Auffassung nach diejenigen sein, in welchen es der Leser mit sprachlautlichen Gebilden und Erscheinungen zu tun hat, die "außerästhetischen" dagegen dieje-

§ 25. Literarisches

Erlebnis. Antwort

253

aufTatarkiewicz

nigen, welche sich auf Gebilde und Erscheinungen in den übrigen Schichten des literarischen Kunstwerks beziehen. Denn die ersteren würden "sinnlich" wahrgenommen, während die letzteren dem Leser nur gedanklich oder vorstellungsmäßig zugänglich seien. Man sieht aber: Tatarkiewicz berücksichtigt gar nicht, daß Wortlaute, und eventuell auch die anderen sprachlautlichen Gebilde und Erscheinungen, keine individuellen Laute, sondern typische Lautgestalten sind, die überhaupt in keiner schlichten Gehörswahrnehmung gegeben sind, sondern in ganz spezifischen Erfassungsakten zur Erscheinung gebracht werden. Zweitens aber ist klar, daß Tatarkiewicz die besonderen Phänomene, die zur Konstitution ästhetisch relevanter Qualitäten und zur Erscheinung der ästhetischen Werte führen, in seinen Erwägungen überhaupt nicht berücksichtigt hat. Seine Scheidung der "ästhetischen" und "literarischen" Erlebnisse beruht auf einem Prinzip, mit dessen Hilfe sich die ästhetischen Erlebnisse überhaupt nicht abgrenzen lassen. Und das letztlich Entscheidende ist, daß gerade die spezifisch ästhetischen Phänomene sowohl an einem sinnlich unmittelbar gegründeten Material (also in einer Erlebnisweise, deren sinnliches Material in sinnlichen Empfindungen gründet) als auch bloß an einem "vorstellungsmäßig" entworfenen Material zur anschaulichen Gegebenheit gebracht werden können. Wir können also sowohl die sprachlautlichen Erscheinungen als auch die in der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten auftretenden Gegebenheiten (z.B. die zwischen-menschlichen Situationen) ästhetisch erleben. Die Unterscheidung der ästhetischen literarischen Erlebnisse und der Erlebnisse, die zwar "literarisch", aber nicht ästhetisch sind, muß also auf eine ganz andere Weise durchgeführt werden, als dies Tatarkiewicz vorschlägt. Wenn wir die verschiedenen, bereits vorläufig unterschiedenen Weisen des Umgangs oder des Erkennens - im weiten, hier eingeführten Sinn - des literarischen Kunstwerks auseinanderhalten, so sind die

vier

folgenden Arten

"literarischer" Erlebnisse aufzuzählen: Α. 1. Die nicht- oder außer-ästhetischen Erlebnisse des literarischen Konsumenten, 2. das ästhetische Erlebnis eines literarischen Konsumenten, B. 1. das vor-ästhetische Erkennen des literarischen Kunstwerks in der Forschungseinstellung,

254

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

2. das sich auf Grund eines ästhetischen Erlebnisses vollziehende, in der Forschungseinstellung durchgeführte Erkennen einer ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks. Welche Grunderlebnisse (Funktionen und Operationen) in den Bestand eines jeden dieser komplizierten Vorgänge eingehen, das wurde schon in den bisherigen Betrachtungen geklärt. Es bleiben noch die Einzelheiten zu ergänzen, welche in den eben zusammengestellten Abwandlungen des "literarischen" Erlebnisses auftreten. Nur die unter Α. 1. genannte Abwandlung werde ich nicht mehr analysieren.

§ 26. Einige B e m e r k u n g e n

über die literarischen ästhetischen Erleb-

nisse Das ästhetische literarische Erlebnis ist in einem noch höheren Grade kompliziert als das nicht-ästhetische. In seinen Bereich fallen nicht bloß die Erlebnisse aller Arten, die wir im I. Kapitel besprochen haben, sondern noch gewisse besondere Emotionen und Verhaltensweisen (Tätigkeiten), welche bei einem vor-ästhetischen Umgang mit literarischen Werken gar nicht in Betracht kommen. Außerdem unterliegt der ganze Vorgang gewissen Modifikationen (manche Akte werden anders vollzogen), wobei ein besonderer Nachdruck auf die Elemente des Erlebens bzw. Erkennens gelegt wird, die von denen beim vor-ästhetischen Verkehr mit dem literarischen Kunstwerk verschieden sind. Das besagt aber, daß das ästhetische literarische Erlebnis sich ebenfalls bei einer Lektüre (oder beim Hören aller Teile eines Werkes nacheinander) vollzieht, nur daß dieses "Lesen" jetzt um verschiedene Elemente reicher ist und in den einzelnen Phasen anders verläuft. Die ästhetische Einstellung dem literarischen Werk (Kunstwerk) gegenüber können wir auf zwei verschiedenen Wegen gewinnen. Entweder auf dem natürlichen Wege, indem es zum Vollzug der ästhetischen Ursprungsemotion infolge einer im Werk auftretenden besonderen, ästhetisch aktiven Qualität kommt (wobei diese Emotion noch sehr verschieden sein kann, je nachdem, in welcher Schicht des Werkes sie erscheint, eventuell in welcher Phase des Zusammenwirkens aller Schichten miteinander) - oder auf eine sozusagen künstliche Weise, indem der Leser sich selbst in diese Einstellung versetzt

255

§ 26. Literarische ästhetische Erlebnisse

oder von vornherein so eingestellt ist, wenn ihn der Titel des Werkes darüber informiert, daß es sich um ein Gedicht oder um ein Drama handelt. Dieses künstliche Einnehmen der ästhetischen Einstellung kann übrigens mißlingen, wenn sie vom gelesenen Werk nicht unterstützt wird. Sie hat dann lediglich zur Folge, daß wir die im Werk auftretenden Aussagesätze als Quasiurteile zu lesen beginnen. Dadurch gehen wir in der Vermeinung der Sätze über die reale Welt in den Bereich der im Werk bloß dargestellten Gegenständlichkeiten hinaus; dies allein genügt aber nicht, um das ästhetische Erleben in Gang zu bringen, obwohl der modifizierte Vollzug der Satzsinne zu diesem Erleben gehört. Wir können auch wissenschaftliche Werke so lesen, daß wir die Sätze nicht in der Gestalt echter Urteile mitvollziehen, sondern ihre Geltung - wie Husserl sagt - "in Klammern setzen", um bloß zu verstehen, was im Werk behauptet wird, ohne den im Werk ausgesprochenen Urteilen sogleich zuzustimmen. Nicht jeder bloß intentionale Gegenstand und auch nicht jeder in einem literarischen Werk dargestellte Gegenstand ist schon eben damit ein ästhetischer Gegenstand. Das ist nur dann der Fall, wenn in seinem Gehalt gewisse ästhetisch relevante Qualitäten auftreten, die untereinander zusammenstimmen bzw. mit anderen im Werk auftretenden ästhetisch relevanten Qualitäten zu einem qualitativen Zusammenklang führen. Wenn diese Qualitäten fähig sind, im Leser die ästhetische Ursprungsemotion hervorzurufen, dann kommt es zu einer ästhetischen Perzeption des betreffenden Werkes und zur Konstitution eines ästhetischen Gegenstands. Gelingt das nicht, dann können wir das ganze betreffende literarische Kunstwerk in außerästhetischer Einstellung lesen, um am Ende zu der Überzeugung zu gelangen, daß die Absicht, dieses Werk solle zu einer ästhetischen Konkretisation führen, mißlungen ist. Der Grund dafür kann entweder im Werk selbst oder beim Leser oder auch bei beiden liegen: das erste ist der Fall, wenn es im Werk gar keine

künstlerischen

Werte gibt, die zur Konkretisation entsprechender ästhetisch relevanter Qualitäten führen, das zweite, wenn der Leser für die im Werk auftretenden künstlerischen Werte nicht empfindlich ist oder sich dafür sozusagen unempfindlich macht, weil er z.B. die ästhetische Erfassung des betreffenden Werkes ausschließen will, um es in seiner nackten, neutralen und schematischen Gestalt "objektiv" zu erkennen. Wir kommen noch darauf zurück. Sobald aber einmal im Leser die ästhetische Ursprungsemotion hervorgerufen ist, entfaltet sich das ästhetische Erlebnis unter dem weiteren Einfluß

256

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

der während der Lektüre konkretisierten Einzelheiten des Werkes, die, selbst zur Konkretion gelangt, vom Leser zur Erfassung gebracht werden. Es vollendet sich damit die Konstitution des ästhetischen Gegenstandes. Unter dem "ästhetischen Gegenstand" verstehen wir hier eine solche Konkretisation des literarischen Werkes, in welcher es zur Aktualisierung und Konkretisierung der durch die künstlerische Leistungsfähigkeit des Werkes bestimmten ästhetisch valenten Qualitäten, zu einem Zusammenklang derselben und damit auch zur Konstituierung des ästhetischen Wertes gelangt. Es gibt da aber verschiedene Möglichkeiten. Entweder wird im Verlauf des ästhetischen Erlebnisses das ganze Werk zu einem ästhetischen Gegenstand konstituiert, oder es gelangen in seinem Bereich mehrere verschiedene ästhetische Gegenstände zur Konstituierung. Im letzteren Fall können sie sozusagen indifferent nebeneinander bestehen, ohne sich gegenseitig zu beeinflussen und zur Gestaltung einer höheren synthetischen ästhetischen Ganzheit zu führen. Sie können aber im Gegenteil einen gewissermaßen hierarchisch gebauten ästhetischen Gegenstand hervorbringen, der trotz eines gegliederten Unterbaus doch letzten Endes ein Ganzes ist. Wie dieses letztere möglich ist, werde ich sogleich noch zu besprechen versuchen. Zunächst ist aber noch etwas zu beachten. Ein Zusammenklang ästhetisch relevanter Qualitäten kann in einem literarischen Kunstwerk in ästhetischer Erfassung entweder aus Qualitäten Zustandekommen, die alle nur in einer Schicht des Werkes auftreten, während die übrigen in dieser Hinsicht wertneutral sind, oder ästhetisch valente Qualitäten in verschiedenen oder sogar in allen Schichten des Werkes zu seinem Fundierungsgrund haben. Im ersten Fall konzentriert sich das ästhetisch Werthafte z.B. nur in der sprachlautlichen oder nur in der gegenständlichen Schicht, während die übrigen Schichten ästhetisch jeweils neutral sind. Im entgegengesetzten Fall umfaßt der ästhetische Zusammenklang dieser Qualitäten alle Schichten. Bei einer so reichen Polyphonie ästhetisch relevanter Qualitäten kann es noch sehr verschiedene Fälle (oder Gestalten) des letzten wertqualitativen Ausklanges des Werkes geben, und zwar je nachdem, ob die aus verschiedenen Schichten stammenden ästhetisch relevanten Qualitäten eine gleiche oder eine verschiedene Bedeutsamkeit für den auf ihrer Grundlage sich konstituierenden polyphonen Zusammenklang haben. Wenn z.B. die ästhetisch valenten Qualitäten, die aus einer Schicht (z.B. der der dargestellten Gegenständlichkeiten) stammen, hervorstechen, während z.B. die aus der

§ 26. Synthetische

Zusammenklänge

und Mehrphasigkeit

257

Schicht der sprachlautlichen Erscheinungen zurücktreten, so gestaltet sich dann der synthetische, polyphone Zusammenklang dieser Qualitäten auf eine andere Weise als dann, wenn die Rollen der ihn unterbauenden Qualitäten entgegengesetzt verteilt sind. Wie sich dies alles in einer individuellen ästhetischen Konkretisation des Werkes gestaltet, hängt sowohl vom betreffenden Werk als auch von der Art ab, wie sich das ästhetische Erlebnis während der betreffenden Lektüre vollzieht (was natürlich seinerseits sowohl von den Fähigkeiten des Lesers als von den weiteren Umständen, unter welchen sich das ästhetische literarische Erlebnis gerade abspielt, abhängt). Es ist mit Rücksicht darauf wichtig, daß der Leser bei der Verwendung, wenn möglich, aller mannigfachen Funktionen des Erkennens des literarischen Kunstwerks zugleich den Versuch unternimmt, seine künstlerische

Leistungsfähigkeit ganz auszunützen und auf

Grund des Werkes alle in seinen Schichten fundierten ästhetisch valenten Qualitäten zu aktualisieren. Von einem Versuch bzw. von einem Bemühen des Lesers zu reden ist insofern nicht ganz am Platz, als der Leser, sofern er zur ästhetischen Ursprungsemotion (die sich ja nicht künstlich und willkürlich hervorrufen läßt) gerade nicht kommt, es nicht vermag, die ästhetische Erfassung des Werkes zu erreichen. Diese Rede ist also nur insofern berechtigt, als es möglich ist, sich bis zu einem gewissen Grade für ästhetisch valente Qualitäten empfindlicher zu machen. Man kann aber auch für diese Qualitäten innerlich unzugänglich (oder wenigstens für gewisse Arten "schwerhörig") sein, und zwar vorübergehend oder auch ständig. Im letzteren Fall ist der Leser für Kunstwerke gewisser Art "blind" und kann sie überhaupt nicht als ästhetische Gegenstände konstituieren und sie somit auch nicht erfassen. Dies bedeutet aber nicht, daß die betreffenden Kunstwerke künstlerisch wertlos sind und infolgedessen zu keinen wertvollen ästhetischen Gegenständen führen können (sie überhaupt nicht "haben"). Wie wir sehen, eröffnen sich da verschiedene Möglichkeiten des Erfassungswertes der ästhetischen "Perception" eines und desselben literarischen Kunstwerks, die später das Thema unserer Untersuchung werden sein müssen. Es gibt verschiedene Einzelheiten der literarischen ästhetischen Erlebnisse, in denen sie sich von den übrigen ästhetischen Erlebnissen auf charakteristische Weise unterscheiden. Es gehört dazu vor allem die von Tatarkiewicz unterstrichene Tatsache, daß mit Ausnahme der Qualitäten, welche in der

258

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

sprachlautlichen Schicht des literarischen Kunstwerks auftreten, alle anderen Qualitäten in den übrigen Schichten uns nicht auf der Grundlage der sinnlichen Empfindungsdaten zugänglich sind, sondern nur auf Grund der anschaulichen Vorstellungen, die durch die signitiven Akte des Verstehens des Sinnes der Satzeinheiten geleitet werden. Deswegen spielt bei der ästhetischen Erfassung der literarischen Kunstwerke die möglichst volle Reaktualisierung der im Werk paratgehaltenen Ansichten der dargestellten Gegenstände eine große Rolle. Sie erst ermöglichen die anschauliche Gegenwart oder QuasiGegenwart der dargestellten Gegenstände und unter anderem der an ihnen zur Erscheinung gelangenden ästhetisch valenten Qualitäten. Das zweite wesentliche Moment der literarischen ästhetischen Erlebnisse, das sie vom ästhetischen Erlebnis der Werke der Malerei, der Skulptur und der Architektur bis zu einem gewissen Grad unterscheidet, liegt darin, daß ein literarisches Kunstwerk nur in einem sich in mehreren Phasen abspielenden ästhetischen Erlebnis erfaßt werden kann, in dem alle aufeinanderfolgenden Teile des Werkes nacheinander rekonstruiert werden müssen, und daß es keine Phase dieses Erlebnisses gibt, in welcher das ganze Werk in voller Aktualität auf einmal zur Erfassung gebracht werden könnte. Und in jeder Phase abgesehen von der letzten - ist immer nur ein Teil des Werkes erkannt und bekannt und immer nur in einer für diese Phase charakteristischen Zeitperspektive. Jede neue Phase der ästhetischen Erfassung des literarischen Kunstwerks liefert immer neue Einzelheiten des Werkes, die an den Nachklang seiner früheren, nicht mehr aktuellen Teile anknüpfen und neue Zusammenstellungen von Qualitäten bilden, die im Leser andere Verhaltensweisen, Emotionen und intentionale Gefühle hervorrufen und ihn für die darauffolgenden Phasen des ästhetischen Erlebens des Werkes entsprechend stimmen und umstimmen. Die Konstituierung der ästhetischen Konkretisation bzw. des ästhetischen literarischen Gegenstandes geschieht nie in einem Augenblick, sondern dauert eine Zeitlang, je nach der Länge des Werkes selbst. Manches Mal, bei größeren Werken, ist sie nie ohne wesentliche Unterbrechungen realisierbar. Sie wird während der ganzen Lektüre immer durch neues Material ergänzt und damit oft von Grund auf verwandelt, besonders wenn es sich um die ästhetisch relevanten Qualitäten handelt, und sie ist auch nie wirklich vollendet. Denn in dem Moment, in welchem sie sich zuerst vollendet, hört sie für den Leser auf, in ihrer Ganzheit aktuell zu sein, und rückt unabänderlich immer weiter von

§ 26. Synthetische Zusammenklänge und Mehrphasigkeit

259

ihm in die Vergangenheit ab, so daß er das ganze literarische Kunstwerk in seiner ästhetischen Konkretisation nur im Nachklang, in der Wiedererinnerung und in der rückwärtigen zeitperspektivischen Ansicht haben kann. In dieser Hinsicht ist die ästhetische Konstituierung des literarischen Kunstwerks der ästhetischen Konstituierung des Musikwerks verwandt. Aber die S a c h l a g e bei der ästhetischen Erfassung des Musikwerks ist nicht so kompliziert wie im Fall eines literarischen W e r k e s . Natürlich hängt dies bis zu einem gewissen Grad von der Gestalt bzw. der Komposition sowohl des literarischen als auch des musikalischen W e r k e s ab. I m allgemeinen aber ist der B e r e i c h der früher erfaßten T e i l e eines Musikwerks, welche a u f die Erfassung der späteren T e i l e noch einen wesentlichen Einfluß haben, nicht so groß und mannigfach wie bei einem literarischen Kunstwerk. Das lebendige Gedächtnis der soeben erfaßten T e i l e eines Musikwerks erlischt relativ schneller als bei einem literarischen W e r k . Dies hängt noch mit verschiedenen Eigentümlichkeiten der da verglichenen W e r k e und ihrer Erfassung zusammen. D e r Zusammenhang zwischen den einzelnen T e i l e n des literarischen W e r k e s ist im allgemeinen viel inniger als in einem Musikwerk, weil in ihm die Schicht der Bedeutungseinheiten enthalten ist, welche verschiedenartige logische Zusammenhänge zwischen den Sätzen und in der F o l g e auch zwischen den zugehörigen gegenständlichen Korrelaten der Sätze bestimmen, welche in einem Musikwerk im allgemeinen nicht m ö g l i c h sind. Auch die syntaktischen Funktionen, z . B . im R a h m e n eines zusammengesetzten Satzes, statuieren nicht bloß eine innere Einheit des Satzes, sondern erleichtern es auch in großem M a ß e , das G a n z e des Satzes im lebendigen Gedächtnis zu behalten. Eine analoge R o l l e üben im Musikwerk die Tongestalten aus, die sich auf der Grundlage einer Mannigfaltigkeit von Klängen aufbauen, die Einheit der Musikgebilde statuieren und auf eine ähnliche W e i s e zur Erhaltung des Gebildes in der Aktualität der musikalischen Erfahrung verhelfen. A b e r die B e z i e h u n gen zwischen derartigen Tongebilden sind nicht so eng wie z . B . zwischen den Sätzen und Satzzusammenhängen vermöge der Einheit des Sinns. Insofern ist es beim ästhetischen Erleben des Musikwerks viel schwieriger, die bereits vergangenen T e i l e des W e r k e s im lebendigen Gedächtnis und in der W i e d e r e rinnerung zu behalten als beim literarischen Kunstwerk. Andererseits ist aber die Konstituierung eines literarischen ästhetischen Gegenstandes insofern schwieriger, als es m a n c h m a l nötig ist, ästhetisch relevante Qualitäten nicht

260

IV. Abwandlungen des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

bloß aus verschiedenen Schichten (die im Musikwerk nicht vorhanden sind), sondern auch aus verschiedenen, ziemlich weit voneinander entfernten Teilen des Werkes zu aktualisieren. Das ästhetische Erlebnis, das beim Erkennen eines literarischen Kunstwerks vollzogen wird, erfordert also mindestens in manchen Fällen eine viel größere Konzentration und ein dynamischeres Zusammenhalten der sich entfaltenden Teile des Werkes als die ästhetische Konstituierung eines Musikwerks. Das sind freilich nur Unterschiede des Grades zwischen den verglichenen ästhetischen Erlebnissen, die aber hier trotzdem zu beachten sind. Eine viel tiefere Verschiedenheit besteht indessen zwischen den beiden eben betrachteten ästhetischen Erlebnissen und denjenigen, welche sich bei der Erfassung der sog. "Raumkunst" - eines Bildes, einer Skulptur und eines Werks der Architektur - vollziehen. Mit Rücksicht auf die partielle bzw. allmähliche Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes steht die ästhetische Erfassung eines Werkes der Architektur dem ästhetischen literarischen Erlebnis noch am nächsten. Denn auch hier können wir das Werk in seinen verschiedenen Teilen und Ansichten nur nacheinander ästhetisch betrachten. Um es in seiner Ganzheit zu erfassen, müssen wir es von außen und von innen betrachten, immer ist es aber eine zum Teil bloß präsumptive Erfassung. Zwar sind alle Teile des Werkes gleichzeitig, sie können aber nicht alle zugleich aktuell gegenwärtig sein. Es gibt infolgedessen immer eine längere oder kürzere Phase des sich in seinen Teilen und Ansichten

konstituierenden

architektonischen

ästhetischen

Gegenstandes. Von demselben Gebäude kann die Konstituierung des ästhetischen architektonischen Gegenstandes auf sehr verschiedenen Wegen durchgeführt werden. Die Aktualisierung der ästhetisch relevanten Qualitäten kann dann in sehr verschiedener Reihenfolge vonstatten gehen, woraus sich oft ein verschiedenes Zusammenspiel dieser Qualitäten ergibt *, das dann* verschiedene dynamische Charaktere mit sich führt. So sehr das Gebäude, das dem architektonischen Werk als physisches Fundament zugrunde liegt, in sich (makroskopisch genommen) unveränderlich und sozusagen statisch ist, ist doch jeder architektonische ästhetische Gegenstand voll innerer Dynamik, was speziell an dem Zusammenspiel der ästhetisch valenten Qualitäten sichtbar ist. Wenn man diese Verschiedenheiten beachtet, so muß man zugeben, daß es von einem und demselben architektonischen Werk eine - im Prinzip unendliche - Mannigfaltigkeit seiner ästhetischen Konkretisationen geben

§ 26. Synthetische

Zusammenklänge

und

Mehrphasigkeit

261

kann, besonders dann, wenn viele Betrachter von demselben architektonischen Werk zu verschiedenen Zeiten (und historischen Epochen) ästhetische Konkretisationen bilden. Die Betrachter können in ihrer Fähigkeit, ästhetisch relevante Qualitäten und die sich auf ihnen gründenden qualitativen Zusammenklänge zu aktualisieren, sehr voneinander abweichen. Die meisten ästhetischen architektonischen Gegenstände sind somit - im Vergleich zu der vollen Qualifizierung des architektonischen Kunstwerks - nur partiell und inadäquat. Man könnte dies auch so sagen, daß sie in ihrer Konstituierung zwar abgeschlossen, aber unvollendet sind. Im wesentlichen ist es nicht anders mit der Konstituierung ästhetischer Gegenstände im Bereich der Skulptur. Dagegen verhält es sich mit der ästhetischen Konkretisierung der Bilder doch etwas anders. Zwar ist es nicht wahr, daß das Bild, wie man vielleicht zu behaupten geneigt wäre, in einem Moment ästhetisch erfaßt werden kann. Denn auch bei der Betrachtung eines Bildes gibt es verschiedene mögliche Standpunkte, die in verschiedenen Richtungen zur Bildfläche und in verschiedenen Entfernungen von ihr liegen. Es braucht aber nicht von allen Seiten betrachtet zu werden, sondern nur "von vorne", aber auch da kann man nur von einem relativ beschränkten Raum aus eine optimale Erfassung des Bildes erzielen. Es ist auch nicht nötig, das Bild von allen Punkten dieses Raumes aus zu betrachten, um - wie z.B. bei einem architektonischen Werk - eine "volle" ästhetische Konkretisation des Bildes zu erreichen. So gut man bei der Betrachtung des Bildes von einem bestimmten Gesichtspunkt aus mit dem Blick über die Oberfläche des Bildes wandern - was bei relativ großen Bildern nicht ohne Bedeutung für die ästhetische Erfassung des Bildes ist - und dadurch auch noch verschiedene Wege zur Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes beschreiten kann, so ist es doch immer möglich - im Gegensatz zu allen bisher besprochenen Kunstwerken - das Bild als Ganzes in einem Moment in seiner vollen Aktualität zu haben. Trotz aller zeitlichen Dauer des ästhetischen Erlebnisses und auch der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes gibt es da einen Moment der Vollendung dieser Konstituierung in einem relativ statisch erfaßten "Bild". 53

Es ist da das Problem der Konstituierung und der Vollendung des ästhetischen Gegenstandes im Gebiet der Malerei von dem Problem der Erkenntnis Kunstwerks

des Bildes selbst als eines

zu unterscheiden. In dem letzteren Fall gibt es verschiedene komplizierte Sach-

lagen, welche für sich betrachtet werden müßten. Momentan handelt es sich lediglich um

262

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Ein anderes wichtiges Moment, welches die literarischen ästhetischen Erlebnisse von den übrigen ästhetischen Erlebnissen unterscheidet, ist ihr Anteil am rein intellektuellen Verstehen der Sinneinheiten, die in das literarische Werk eingehen. Infolgedessen hat man Zugang zu der Welt der dargestellten Gegenstände immer durch die begrifflichen Schemata, und niemals erfaßt man sie direkt in ihren anschaulich zugänglichen Eigenschaften. Man muß diese Gegenstände erst objektivieren und mit Hilfe der paratgehaltenen Ansichten in ein anschauliches Gewand "kleiden". Im Zusammenhang damit steht, daß das literarische ästhetische Erlebnis nie so irrational und rein emotional sein kann, wie es - wenigstens bei manchen - Musikwerken möglich ist. 54 Sogar in Werken rein emotionaler Lyrik ist jenes Moment des intellektuellen Verstehens nicht nur vorhanden, sondern es läßt sich nicht einmal beseitigen oder irgendwie dämpfen, damit es sich nicht auf die übrigen Momente des Gehalts eines lyrischen Gedichts, bzw. des entsprechenden ästhetischen Gegenstandes schädlich auswirkt. Man soll sich nicht bemühen, dieses besondere Moment des literarischen Erlebnisses, bzw. korrelativ des zugehörigen ästhetischen Gegenstandes zu beseitigen, da es beides auf seine Weise bereichert. Ist aber bei der ästhetischen Erfassung des Werkes eine besondere Empfänglichkeit für die in dieser Schicht erscheinenden ästhetischen valenten Qualitäten möglich und für die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes vorteilhaft? Und andererseits: gibt es überhaupt ästhetisch valente Qualitäten besonderer Art in der Schicht der Bedeutungseinheiten? Diese beiden Fragen sind positiv zu beantworten. Unzweifelhaft kommen vor allem gewisse, sich aus der Struktur der Sätze und um so mehr der Zusammenhänge ergebende Qualitäten in Betracht. Bei der Analyse der Sprache eines literarischen Werkes spricht man oft vom "guten" oder "schlechten" "Stil" des Werkes. Man hat

die verschiedenen Weisen der Konstituierung der ästhetischen Gegenstände auf dem Gebiet verschiedener Künste, ohne hier die Frage zu stellen, ob und in welchem Maße die dabei konstituierten ästhetischen Gegenstände das betreffende Kunstwerk getreu zur Ausprägung bringen und dadurch die Erkenntnis des sich durch sie zeigenden Kunstwerks ermöglichen. Aber auch da gibt es ein Verstehen, übrigens völlig anderer Art als bei den literarischen Werken. Dieses Verstehen bezieht sich da vor allem auf die tonalen Gebilde und die sich aus ihnen ergebenden Strukturen des betreffenden Musikwerks. Das ist aber ein weites Thema für sich, das hier nicht behandelt werden kann.

§ 26. Intellektuelles

Verstehen beim literarischen

263

Erlebnis

dabei in erster Linie gewisse Eigentümlichkeiten der sprachlautlichen Erscheinungen im Sinn. Viel wichtiger aber sind die Vorzüge oder Nachteile der syntaktischen Bildungen in der Bedeutungsschicht des Werkes. Manche glauben dabei z.B., daß es einen Vorzug (also wohl eine positiv wertvolle ästhetische Qualität) der Satzbildung ausmache, wenn die Sätze einfach und kurz sind, da sie dann "klar" und leicht "verständlich" seien. 5 5 Es ist natürlich ein falsches Vorurteil zu glauben, ein einfacher und "kurzer" Satz sei "klarer" oder "verständlicher" als ein zusammengesetzter, aus vielen Worten bestehender Satz, besonders wenn er hypotaktisch aufgebaut ist. Und es ist ein ebenso großes Vorurteil zu glauben, es bilde einen Vorzug für den Stil eines Werkes, wenn der Prozentsatz der einfachen, kurzen Sätze in einem Werk besonders hoch ist. Es kommt indessen momentan nur darauf an, daß die "Klarheit" oder "Verständlichkeit" als Vorzug des Stils gilt, und zwar als Vorzug mit Rücksicht auf die ästhetische "Güte" des Stils, die ihrerseits wiederum als positiver Wert des literarischen Kunstwerks gilt. Wenn wir uns aber mit den zusammengesetzten, hypotaktisch strukturierten Sätzen etwas näher beschäftigen, so finden wir, daß gerade die verschiedenen syntaktischen Strukturen eine Menge ästhetisch relevanter Qualitäten in sich bergen. Es gibt verschiedene Typen der Architektonik "zusammengesetzter" Sätze, die rein als Strukturen nicht bloß "interessant" sind, sondern auch gewisse Folgeerscheinungen nach sich ziehen, die man z.B. im Sinn hat, wenn man von der "Schwere" oder von der "Leichtigkeit" der Satzbildung spricht. Diese "Schwere" oder "Leichtigkeit" hat mit der Schwere der Verständlichkeit der Sätze nichts gemein, obwohl sie damit in eins gehen kann. 5 6 Ebenso gehören solche Unterschiede hierher, wie z.B. zwischen "Einfachheit" und "Künstlichkeit" des Stils, zwischen der "fließenden" Sprache eines Werkes und den Werken, bei denen man immer wieder neu "einhaken" muß, weil die Sätze zu kompliziert sind und ihre Aufeinanderfolge zu keinem ein-

55

Deswegen ist es seit einigen Jahren Mode, die Anzahl der kurzen Sätze in einem literarischen Kunstwerk nachzurechnen und ihren Prozentsatz in der Mannigfaltigkeit der Sätze festzustellen.

56

Man denke hier z.B. an die Namen: Kleist, Thomas Mann einerseits und etwa Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft oder in der Grundlegung

zur Metaphysik

der Sitten

andererseits. Sie schreiben alle in "langen", zusammengesetzten Sätzen und sind doch wesentlich hinsichtlich der "Leichtigkeit" oder "Schwere" ihrer Satzbildung unterschieden.

264

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks

heitlichen Sinn des Satzzusammenhangs führt. In ihnen gründen Gegensätze von ästhetisch valenten Qualitäten, welche ihr Fundament in den Eigenheiten der mannigfachen Bedeutungseinheiten besitzen. Die Dynamik und das Tempo der sich entfaltenden Satzstrukturen und ihrer Aufeinanderfolge können als weitere Beispiele der hierher gehörenden ästhetisch relevanten Qualitäten dienen. Sie alle spielen eine bedeutende Rolle bei der Konstituierung der literarischen ästhetischen Gegenstände, und ihre Erfassung im ästhetischen Erlebnis des Werkes ist zur Konstituierung dieses Gegenstandes ganz unentbehrlich. Erst ihre Enthüllung und Aktualisierung in der ästhetischen Konkretisation des Werkes zeigt das eigentlich "Literarische" im Aufbau des Werkes, natürlich nebst den ästhetisch relevanten Qualitäten, die an der sprachlautlichen Schicht zur Erscheinung gelangen. Die in den beiden übrigen Schichten im literarischen ästhetischen Gegenstand aktualisierten ästhetisch relevanten Qualitäten sind der Art, daß sie auch in der sog. bildenden Kunst, d.h. im Bild oder in der Skulptur, aktualisiert werden können, sie sind also für die Literatur nichts Spezifisches. Spezifisch dagegen für das literarische ästhetische Erlebnis und sein intentionales Korrelat ist die Heterogenität und der Reichtum der in einer ästhetischen Konkretisation aktualisierbaren ästhetisch relevanten Qualitäten, welche im Verlauf der ästhetischen Erfassung des Werkes zu einem Zusammenklang gebracht werden können. Bei keinem anderen ästhetischen Erlebnis ist eine so weitgehende Heterogenität dieser Qualitäten möglich. Damit das wirklich sich vollziehende Erlebnis den Bereich der Möglichkeiten, welche dem Erlebenden von einem echten literarischen Kunstwerk geboten werden, in dieser Hinsicht auch nur annähernd erschöpfen kann, muß der Leser für Qualitäten ganz verschiedener Grundart ein sehr feines Gespür und dazu noch im Erleben selbst die Fertigkeit haben, diejenigen ästhetisch valenten Qualitäten, die er spürt, bzw. von denen er fühlt, daß sie durch das betreffende Werk vorbestimmt werden, effektiv zu aktualisieren und sie in ihrem Zusammenklang zu erfassen. Angefangen von den ästhetisch relevanten Qualitäten, welche an den Wortlauten der Sprache des betreffenden Werkes, an der Sprachmelodie, an den verschiedenen Rhythmen auftreten können, über diejenigen Qualitäten, die - hier schon erwähnt - an den Bedeutungseinheiten zur Erscheinung kommen können, bis auf die sehr mannigfachen ästhetisch relevanten Qualitäten, welche an den dargestellten Gegenständen und ihrem

§ 27. Forschendes Betrachten des Werks

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anschaulichen Gewand, an den Lebenssituationen der "Helden", unter anderem als metaphysische Qualitäten an der dargestellten Welt überhaupt offenbar werden können, gelangen in der ästhetischen Erfassung eines literarischen Kunstwerks sehr zahlreiche Qualitäten (immer freilich nur in einer Auswahl) zur Aktualisierung. Sie alle bilden aber erst das qualitative Material, auf dem sich die verschiedenen möglichen Zusammenklänge und synthetischen Wertqualitäten aufbauen können, die in dieser Mannigfaltigkeit in keiner anderen Kunst zur Erscheinung gelangen. Alle diese ästhetisch relevanten Phänomene verbinden sich im Zugleichsein und in der Aufeinanderfolge miteinander, sie modifizieren sich gegenseitig, manchmal verstärken sie sich, manches Mal löschen sie einander aus - alles in einer Lebendigkeit und Dynamik, die vielleicht nur in der Musik ihr Analogon haben kann. Dies stellt den ästhetisch erlebenden Leser vor außerordentlich schwierige Aufgaben, fordert von ihm nicht nur einen nach vielen Seiten offenen Sinn, sondern auch die Fähigkeit, rasch von der aktiven und schöpferischen Einstellung - in welcher die betreffenden Qualitäten in ihrer größtmöglichen Fülle aktualisiert werden - zur rezeptiven Einstellung überzugehen, von der einen Emotion zur anderen, von einer Wertantwort zu einer anderen, ohne daß diese Emotion die Fähigkeit des aufmerksamen Erfassens immer neuer Einzelheiten des sich entfaltenden Werkes lahmlegen dürfte. All das werden wir in Erwägung ziehen müssen, wenn vor uns das Problem einer adäquaten ästhetischen Erfassung des literarischen Kunstwerks und der Bedingungen ihrer Möglichkeit auftauchen wird.

§ 27. Das vor-ästhetische forschende Betrachten des literarischen Kunstwerks Im Vergleich mit dem ästhetischen Erlebnis des literarischen Kunstwerks scheint seine vor-ästhetische Erforschung viel einfacher zu sein, da man sich bei ihr ausschließlich auf diejenigen Eigenschaften des literarischen Kunstwerks einstellt, welche vom ästhetischen Erlebnis unabhängig sind. Man braucht also in ihr u. a. all dies nicht zu umfassen, was erst in diesem Erlebnis zu Aktualisierung und letzter Konstituierung gelangt. Wird sich aber diese Erwartung wirklich erfüllen?

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Vor allem ist zu bemerken, daß die Möglichkeit eines solchen rein forschenden Erkennens des literarischen Kunstwerks für die Möglichkeit bzw. für die Existenz der Literaturwissenschaft als einer Wissenschaft von literarischen Kunstwerken außerordentlich wichtig ist. Denn erst die Ergebnisse dieses Erkennens erlauben es, das literarische Kunstwerk selbst den verschiedenartigen und insbesondere seinen ästhetischen Konkretisationen gegenüberzustellen. Sie können wenigstens im Prinzip das objektive Wissen vom einzelnen Werk liefern, welches in allen Konkretisationen in seinem schematischen Aufbau identisch enthalten bleibt. Es ist dasselbe unwandelbare Skelett, das in den Konkretisationen gleichsam in das Gewand der verschiedenen Qualitäten gekleidet wird, die in ihm selbst effektiv (aktualiter) nicht enthalten sind und durch es nur als gewisse Potentialitäten bestimmt werden, und zwar zum Teil auf nicht hinreichende Weise (wie z.B. die möglichen Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen). Bei diesem forschenden, vorästhetischen Erkennen des literarischen Werkes handelt es sich vor allem darum, diejenigen Eigenschaften und Elemente in ihm aufzufinden, welche es zum Kunstwerk machen, d.h. welche den Grund für die Konstituierung der ästhetisch relevanten Qualitäten in den ästhetischen Konkretisationen bilden. Dieses Erkennen kann erst dann einsetzen, wenn das betreffende Werk bereits in der gewöhnlichen Einstellung eines literarischen Konsumenten gelesen wurde. Es vollzieht sich unter Berücksichtigung der Ergebnisse dieser ersten Lektüre und mit Hilfe einer neuerlichen, gewöhnlich sich nur in einzelnen Fragmenten vollziehenden Lektüre. Es geht aber insofern über das bloße Lesen hinaus, als da besondere gedankliche Erwägungen, Vergleiche, analytische und synthetische Betrachtungen durchgeführt werden, die bei der schlichten Lektüre überhaupt nicht vorkommen. Dabei müssen auch Fragmente der verschiedenen möglichen ästhetischen Konkretisationen des Werkes in Betracht gezogen werden. So ist es im allgemeinen ein sehr kompliziertes Verfahren, das nicht auf die Lektüre verzichtet und sie sogar immer zu Rate zieht, aber notwendig über sie hinausgeht. Warum dies notwendig ist, werden wir sogleich zu klären suchen. Die vor-ästhetische, forschende Betrachtung eines literarischen Kunstwerks wird gewöhnlich unternommen, um - wie man sagt - eine "objektive" Erkenntnis von ihm selbst zu erzielen. Der Begriff der "Objektivität" der Erkenntnis ist aber bekanntlich sehr vieldeutig. Wir können hier die verschiede-

§ 27. Forschendes Betrachten des Werks

267

nen Ausdeutungen dieses Begriffs nicht präzisieren. 57 Es wird vielleicht genügen, hier zu sagen, daß die hier zu charakterisierende Erkenntnis dann "objektiv" wird, wenn es ihr gelingt, die dem literarischen Werk selbst zukommenden Eigenschaften und strukturellen Eigenheiten zu entdecken, welche als solche von den Wandlungen unabhängig sind, denen das Erkennensverfahren unter verschiedenen Umständen unterliegt - je nachdem, wer dieses Erkennen durchführt und unter welchen äußeren Bedingungen es geschieht. Sobald man die Forderung stellt, ein solches Erkennen zu erzielen, wird gewöhnlich zugleich verlangt, daß es unter bewußtem und konsequent durchgeführtem Ausschluß aller "Gefühle" vollzogen werde. Der Umfang des Begriffs "Gefühl" wird dabei meist nicht genau bestimmt, es besteht aber die Tendenz, ihn sehr weit zu fassen. Man ist nämlich der Ansicht, jede Teilnahme des sog. "Gefühls" am Vorgang des Erkennens mache die Erreichung einer "objektiven" Erkenntnis des betreffenden Gegenstandes unmöglich, weil das Gefühl dabei eine verfälschende Rolle spiele. Die strikte Erfüllung dieser Forderung hält man somit für die Bedingung sine qua non jeder Wissenschaft ("science") überhaupt. Infolgedessen glaubt man auch, es könne keine Wissenschaft von der Literatur als Kunst geben, da man zugleich meint, es sei beim Umgang mit literarischen Kunstwerken (und mit allen Kunstwerken überhaupt) nicht möglich, die angeblich störende Rolle des "Gefühls" auszuschließen. Wie steht es also mit dem vorästhetischen forschenden 5 8 Erkennen des literarischen Kunstwerks? Ist es wirklich und soll es auch so völlig "gefühlsrein" sein? Eine wesentliche Schwierigkeit, diese Frage zu entscheiden, liegt in dem sehr unbestimmten Begriff des "Gefühls", obwohl uns allen scheint, wir unterscheiden im täglichen Leben ein gefühlsfreies Verhalten eines Menschen Vgl. dazu meinen Artikel "Betrachtungen zum Problem der Objektivität", Zeitschrift f . Philosophische Forschung, Bd. 21, Heft I—II [1967; auch in Erlebnis, Kunstwerk und Wert, op.cit.,S. 219-55], CO

Man würde gerne sagen: "wissenschaftlichen" Erkennen, aber das ruft sofort heftige Proteste der naturwissenschaftlich, d.h. im Grunde positivistisch eingestellten Forscher hervor. Es gibt aber noch andere Gründe, die uns davon abhalten, hier das Wort "wissenschaftlich" zu benutzen. Denn, wie ich glaube, kann es noch verschiedene Weisen der "objektiven" Erkenntnis literarischer Kunstwerke geben, von welchen nur eine der Literaturwissenschaft vorbehalten werden soll.

268

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

ohne Schwierigkeit von seinem gefühlsmäßigen Engagement. Und es gibt sicher solche emotionalen Reaktionen des Menschen auf verschiedene von der äußeren Welt herkommende, ihn bedrängende Einflüsse, wie z.B. Zorn, Haß, Neid, Begierde, aber auch solche "sanfteren" Gefühle, wie z.B. Dankbarkeit, liebevolle Neigung usw., welche uns vor allem beim Erkennen stören. Sie lassen uns nicht die Ruhe, welche bei einem aufmerksamen Beobachten eines Dinges und seiner Eigenschaften, bzw. eines menschlichen Verhaltens, unentbehrlich ist. Manche von ihnen - wie z.B. Haß oder Neid machen uns zudem für verschiedene Eigenschaften des betrachteten Gegenstandes blind und lassen andere seiner Eigenschaften manchmal besonders stark hervortreten. Im Gegensatz dazu sollen die "positiven" Gefühle, wie z.B. die Liebe, täuschende Phänomene des positiven

Wertvollseins

hervorrufen, während sie uns zugleich für negative Bestimmtheiten des (geliebten) Gegenstandes unempfindlich machen, also im ganzen den Gegenstand eben in demjenigen verfälschen, was für uns irgendwie bedeutsam ist. Und gewiß sollen beim vor-ästhetischen forschenden Erkennen des literarischen Kunstwerks solche verfälschenden Einflüsse der Gefühlsreaktionen vermieden werden. 59 Nicht alle Gefühle aber ziehen solche verfälschenden Phänomene nach sich. Und es ist im Gegenteil sicher, daß es, wenn nicht gerade "Gefühle" der oben erwähnten Art, so jedenfalls emotional gefärbte Verhaltensweisen (nämlich das intentionale Fühlen 60 ) gibt, die das Erkennen gewisser Gegenstände oder gewisser gegenständlicher Momente überhaupt erst ermöglichen. Denn sie schaffen erst einen erfahrungsmäßigen Zugang zu ihnen. Nicht alles wäre also in einem literarischen Kunstwerk überhaupt der Erkenntnis zugänglich, wenn wir schlechthin alle gefühlsmäßigen oder wenigstens gefühlsmäßig gefärbten Verhaltensweisen ausschließen wür-

CQ

Die Relativisten in der Werttheorie, welche jeden Wert einfach für ein durch ein Gefühl hervorgerufenes Phänomen halten, würden dann sicher fragen: würde dies nicht dazu führen, daß alle literarischen Werke überhaupt als etwas vollkommen von jedem Wert Freies erscheinen werden? Können wir dann aber noch im Bereich der Kunstwerke bleiben, wie das gerade in diesem Paragraphen gefordert wird? Dies hängt aber davon ab, ob alle Werte darin übereinstimmen, daß sie im gefühlsmäßig betonten Erkennen zur Erfassung gelangen. Vgl. dazu Max Scheler, "Formalismus in der Ethik und materielle Wertethik" [Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung, Bd. 1. Heft 2 (1913). Bd. II (1916)].

§ 27. Forschendes

Betrachten

des Werks

269

den. 61 In vielen literarischen Kunstwerken gelangen verschiedene psychische (seelische) Zuständlichkeiten und Verhaltensweisen der Menschen und Tiere zur Darstellung. Es werden menschliche Charaktere gezeigt sowie die sich zwischen ihnen entwickelnden Konflikte und dergleichen mehr beschrieben. Dies geschieht durch direkte Nennung der verschiedenen psychischen Tatbestände, oft aber nur durch Beschreibung des äußeren Aussehens oder der äußeren (leiblichen) Verhaltensweise der Menschen. Es werden auch Menschen gezeigt, die sich von uns, von den Lesern selbst und von unseren Bekannten sehr unterscheiden. Wie sollen wir das alles verstehen können? Man sprach einst sehr viel von der "Einfühlung", und vielleicht wäre sie beim Erkennen der literarisch dargestellten Personen anzuwenden, falls es wirklich so etwas wie Einfühlung gäbe. Im Grund handelt es sich hier eher um ein Mitfühlen mit den uns dargestellten Menschen, um eine gewisse Sympathie mit ihnen. Jedenfalls ist es kein rein intellektueller oder gedanklicher Akt und auch keine bloße Vorstellung, sondern ein Erlebnis, in welchem das Moment des Fühlens und auch das Moment des gefühlsmäßigen Miterlebens fremder psychischer Geschehnisse eine wesentliche Rolle spielt. Wenn wir beim Verfolgen der Schicksale der dargestellten Menschen uns in ihre Situation hineinversetzen, sie also nicht bloß von außen her kühl und unbeteiligt betrachten, sondern uns eben an ihrem Schicksal beteiligen, dann beginnen wir sie besser, lebendiger und anschaulicher zu verstehen, und zwar von ihrem Standpunkt aus. Dies geht aber nicht ohne ein wirkliches Mitfühlen. Bei einem völlig kühlen, besser: neutralen Zuschauen von außen erhält der Leser bestenfalls nur ein rein begriffliches Wissen davon, daß die dargestellte Person sich in einem bestimmten psychischen Zustand oder in einer Stimmung befindet bzw. befinden soll. Es fehlt dann aber in der dargestellten Welt jede Fülle der psychischen Realität. Bei einem vor-ästhetischen Erkennen des literarischen

6

' Zwei Punkte müssen dabei noch beachtet werden. Erstens ist es fraglich, ob alle Werte überhaupt beim "intentionalen Fühlen" dem Erkennen zugänglich sind oder nur manche von ihnen, z.B. die sittlichen und die ästhetischen, nicht aber die "künstlerischen" Werte. Zweitens aber fragt es sich, welche Werte beim Erkennen des literarischen Kunstwerks als eines schematischen Gebildes in Betracht kommen? Sind es bloß die künstlerischen, oder müssen dabei noch die ästhetischen Werte sein, die freilich - wie zu erwarten ist - über das reine Kunstwerk hinausgehen, aber doch nicht völlig außer acht gelassen werden dürfen? Beides muß in der Folge geklärt werden.

270

¡V. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Kunstwerks ist es also notwendig, ein solches "Mitfühlen" zu erleben, sich also nicht auf eine rein intellektuelle Weise zu verhalten. Wir können aber dabei die Behauptung, daß man sich bei diesem Erkennen von jeder gefühlsmäßigen Reaktion fernhalten soll, aufrechterhalten. Man darf also weder Haß gegen die im Werk dargestellten Menschen hegen, noch Liebe zu ihnen fühlen. Das Mit-Fühlen, das soeben erwähnt wurde, ist auch keine gefühlsmäßige Reaktion, sondern ein Mittel, gewisse psychische Tatsachen in ihrer Lebendigkeit zu enthüllen und sie auf diesem Weg zu einer rekonstruierenden Konstituierung zu bringen. Erst nachdem dies gelungen ist, kann das forschende Erkennen der entsprechenden Elemente des Werkes beginnen und in Akten des Verstehens zur Erfassung ihrer Eigenart führen. Die Akte des Mitfühlens, des sich lebendig in fremde Lebenssituationen Hineinversetzens führen aber von selbst noch gar nicht zur ästhetischen Erfassung der Konkretisation des Werkes. Sie werden j a nicht bloß im konkreten täglichen Verkehr mit anderen Menschen, sondern auch z.B. in psychologischen Analysen angewendet. Wenn man z.B. im Theater eine Vorstellung vorbereitet und zunächst gemeinsam mit dem Regisseur den Text des Theaterstückes liest, um sich genau in die auf der Bühne darzustellenden zwischen-menschlichen Situationen einzuleben, so tut man nichts anderes, als daß man eben die Akte des Mit-Fühlens mit den dargestellten Personen in ihren sich wandelnden Schicksalen vollzieht, bevor noch an die Art gedacht wird, wie das ganze Stück künstlerisch zu gestalten ist, um den Zuschauern eine ästhetische Erfassung des betreffenden Dramas zu ermöglichen. Bei dem forschenden Erkennen eines literarischen Kunstwerks in allen seinen Einzelheiten gehen wir unzweifelhaft über die reale Welt hinaus, indem wir die entsprechenden Gegenständlichkeiten intentional konstruieren bzw. rekonstruieren. Dieses Hinausgehen über die reale Welt bildet zwar - wie schon bemerkt - eine unentbehrliche, aber nicht hinreichende Bedingung der ästhetischen Erlebnishaltung. Man kann sagen: So wie zur "Natur" der realen Personen, die in der Psychologie untersucht werden, ihr emotionaler Zustand, ihr tieferes seelisches und geistiges Leben, ihre in den einzelnen Verhaltensweisen, in verschiedenen Lebenssituationen sich offenbarende psychische Struktur gehört, so gehört es auch zur "Natur" der im literarischen Kunstwerk dargestellten Menschen - so wie sie eben in ihm effektiv zur Darstellung gelangen - , daß sie die vermittels literarischer Mittel bestimmten Zuständlichkeiten erleben. Sie müssen vom

S 27. Forschendes

Betrachten des Werks

271

Leser bei dem Sich-mit-dem-Werk-Bekanntmachen zunächst in ihrer ganzen Fülle konstituiert bzw. rekonstruiert werden, damit sie dann im vor-ästhetischen Erkennen des Werkes als gegeben erkannt werden können. Deswegen spielt sich das jetzt betrachtete vor-ästhetische Erkennen des Kunstwerks auf Grund einer (passenden) Lektüre desselben ab, einer Lektüre, die, um eben "passend" zu sein, vom Erkennenden in ihrem Verlauf reguliert und in ihren Ergebnissen nachgeprüft werden muß. Jenes Mitfühlen, welches dem Erkennenden den erkenntnismäßigen Zugang zu manchen Tatsachen fremden Seelenlebens schafft, vollzieht sich indessen nicht auf Grund einer ästhetischen Ursprungsemotion und auch nicht in der Tendenz, sie mit ästhetisch valenten Qualitäten zu erfüllen, sondern lediglich in der Einstellung, das echte Wissen darüber zu erlangen, wie gewisse Einzelheiten der im Werk dargestellten Welt beschaffen sind. Und dies entscheidet darüber, ob jenes Mitfühlen selbst uns nicht in das ästhetische Erleben überführt, sondern im Bereich des vorästhetischen forschenden Erkennens des literarischen Kunstwerks bleibt. Als Folge des Ausschlusses der emotionalen Reaktionen des Betrachters aus diesem Erkennen werden die ästhetischen Ursprungsemotionen - auch wenn sie sich sozusagen von selbst im Erkennenden zu regen begönnen - zunächst bewußt und absichtlich unterdrückt. So kommt es *nicht zum weiteren Verlauf des ästhetischen Erlebnisses* und damit auch zu keiner ästhetischen Konkretisation des Werkes. Das betreffende Kunstwerk entfaltet sich vor unseren Augen wie aller in ihrer Aktualität vorhandenen ästhetisch relevanten Qualitäten beraubt, so sehr sie sich auch in einer gewissen Potentialität andeuten. In diesem Sinn ist dann das so betrachtete literarische Kunstwerk ästhetisch neutral. Das zeitweilige Auftauchen der ästhetischen Ursprungsemotionen, die dann unterdrückt werden, ist aber nicht ohne Bedeutung. Der Erkennende notiert ihr Auftauchen und sucht nach einer Erklärung dafür. Sie wird durch die Entdeckung derjenigen Eigenschaft oder Funktion des betreffenden literarischen Kunstwerks gegeben, welche den Grund des Auftauchens der Ursprungsemotion bildete. Auf diesem Wege gelangt man zu der Erkenntnis, daß das betreffende literarische Kunstwerk, bzw. gewisse seiner Eigenschaften oder Elemente die Quelle seiner möglichen ästhetischen Aktivität sind. Es birgt in sich eigentümliche Kräfte, die in Anwesenheit eines Betrachters auf ihn einwirken und ihn zur Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes bringen können. Da sein Zweck darin liegt, den Empfänger mit seiner Hilfe

272

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

zur Konstitution eines wertvollen ästhetischen Gegenstandes zu bringen, erfüllt es seine Bestimmung desto besser und erhält einen desto höheren Wert, je zahlreicher in ihm jene entsprechend gewählten Eigenheiten auftreten, welche imstande sind, die ästhetische Ursprungsemotion hervorzurufen und einen Grund für die Aktualisierung ästhetisch relevanter Qualitäten zu bilden. Es hat aber sichtlich den Wert eines Mittels der ästhetischen Einwirkung auf den Empfänger. Es ist also ein relationaler Wert und unterscheidet sich darin von dem ästhetischen Wert des Gegenstandes, der darin immanent enthalten und ausschließlich in ästhetisch relevanten Qualitäten gegründet ist. Er ist also ein in diesem Sinn "absoluter" Wert und kommt dem ästhetischen Gegenstand ganz unabhängig davon zu, ob derselbe noch zu irgendeinem Zweck dient oder irgendeine Funktion ausübt. Den ersten dieser Werte nenne ich den künstlerischen,

den zweiten den ästhetischen Wert. 6 2 Die Enthüllung und Er-

fassung der künstlerischen Werte gehört u.a. zur Aufgabe des vorästhetischen forschenden Erkennens des literarischen Kunstwerks, die Erfassung der an der ästhetischen Konkretisation des Kunstwerks auftretenden ästhetischen Werte bildet die Aufgabe eines völlig anderen Erkennens, das erst nach der Konstituierung des literarischen ästhetischen Gegenstandes im ästhetischen Erlebnis unternommen werden kann. Die Erforschung der künstlerischen Werte im literarischen Kunstwerk wird - wie soeben gesagt wurde - in der vorästhetischen Erkenntnis vollzogen. Der besondere Charakter der Relativität dieser Werte zwingt uns aber, daß wir uns dabei nicht auf diese Erkenntnis beschränken dürfen, sondern auch das ästhetische Erlebnis der Konkretisation dieses Werkes zu Hilfe rufen müssen. Um uns zu "Vergegenwärtigen*, ob gewisse Eigentümlichkeiten des Werkes einen künstlerischen Wert besitzen, müssen wir sie sozusagen in ihrem Funktionieren bei der Vorbestimmung und Aktualisierung der ästhetisch relevanten Qualitäten erfassen. So müssen wir einen Einblick in die an der betreffenden Stelle des Werkes möglichen

ästhetisch

relevanten

Qualitäten gewinnen, was sich nur auf Grund früherer Erfahrung oder eines aktuellen ästhetischen Erlebens erreichen läßt. So müssen wir sozusagen probeweise *auf dieses Erlebnis* rekurrieren.

Vgl. dazu meinen Artikel "Artistic and Aesthetic Values" in: The British Journal of Aesthetics, vol. 4, no. 3, 1964. [Vgl. die leicht veränderte Fassung "Künstlerische und ästhetische Werte" in Erlebnis, Kunstwerk und Wert, op. cit., S. 153-79.]

§ 27. Forschendes Betrachten des Werks

273

Das zweite charakteristische Moment des vorästhetischen Erkennens des literarischen Kunstwerks liegt darin, daß es in seinen ersten Phasen analytisch ist. Im Zusammenhang kann es nicht bei einer Lektüre in continuo vom Anfang bis ans Ende des Werkes durchgeführt werden, sondern es knüpft zwar an gewisse Phasen der Lektüre des Werkes an, unterbricht aber diese Lektüre dann entschieden und wird zu Erwägungen veranlaßt, die sich nicht in einer durchgehenden, sondern nur auf Grund der unterbrochenen Lektüre vollziehen lassen. In seinen späteren, fortgeschritteneren Phasen verfährt es eher synthetisch und macht sich von der Lektüre noch unabhängiger. In seiner analytischen Phase ist es auf Einzelheiten des Werkes gerichtet, die es zu besonderen Untersuchungsgegenständen (Themen) macht und für sich zu fassen sucht. Diese "Einzelheiten" können sowohl gewisse besondere Bestimmtheiten als auch besondere Elemente, z.B. einzelne Schichten oder auch einzelne Teile des Werkes sein. Während der Analyse werden sie vom Rest des Werkes bis zu einem gewissen Grad abstrahierend abgehoben, obwohl man sich dabei hüten muß, ihren Zusammenhang mit anderen Elementen oder Zügen des Werkes aus der Sicht zu verlieren. All dies unterscheidet diese Weise des Erkennens des literarischen Kunstwerks von der schlichten ununterbrochenen Lektüre, welche die nicht durch das Werk geforderten Unterbrechungen meidet, um die mit der Kontinuität der Entfaltung des Werkes von Anfang bis ans Ende verbundenen ästhetischen Effekte nicht zu stören. Anders gesagt: der analytische Charakter dieser Weise des Erkennens ist mit einer gewissen Destruktion des Kunstwerks verbunden. Dies ist aber - wenigstens für diese Phase des Erkennens des Werkes - insofern nicht allzu gefährlich, als es sich dabei nicht um die Erfassung des ästhetisch wertqualitativen Aspekts des Kunstwerks handelt. Nichtsdestoweniger wäre diese Destruktion für das Verständnis der inneren Anatomie des Werkes nicht unschädlich, wenn es bei ihr bliebe und wenn auf die Analyse nicht der Versuch eines synthetischen Zusammenfassens der analytisch gewonnenen Ergebnisse in Hinsicht auf das Ganze des Werkes folgte. Auf welche Einzelheiten des Werkes richtet sich aber diese vorästhetische Betrachtung des Kunstwerks? Es ist klar, daß sich da gar keine Regeln vorschreiben lassen. Und zwar nicht bloß deswegen, weil sie in ihrem Verlauf durch das jeweilige Interesse des Erkennens sehr subjektiv mitbedingt ist, sondern auch, weil ihr Verlauf durch die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit der

274

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

einzelnen Momente und Teile des betreffenden Kunstwerks beeinflußt wird. Wenn ich also hier gewisse Themen dieser vor-ästhetischen Betrachtung des Werkes behandeln will, so tue ich es nicht in der Absicht, eine Systematisierung dieser Betrachtungsweisen zu geben, sondern lediglich, um ihre einzelnen Schritte etwas genauer zu besprechen. Die Gegenüberstellung von literarischem Kunstwerk selbst und seinen möglichen verschiedenartigen und insbesondere ästhetischen Konkretisationen schien einigen Lesern der ersten polnischen Redaktion dieses Buches oft undurchführbar zu sein. Man glaubte, jede Lektüre liefere eine Konkretisation des Werkes, d.h., enthalte schon Elemente, die im Werk selbst nicht enthalten sind. Es gäbe dann eigentlich kein literarisches Kunstwerk selbst, sondern nur seine Konkretisationen. Angesichts der weitgehenden Verschiedenheiten zwischen ihnen könne man nicht sagen, welche von ihnen das Werk selbst rekonstruiert und welche von ihnen dem Werk selbst näher steht, welche dagegen weiter von ihm entfernt ist und es mehr oder weniger verfälscht. Schon der Begriff einer Verfälschung oder Annäherung an das Werk selbst wäre ganz unhaltbar, denn es gäbe dann nur die Mannigfaltigkeit der "Konkretisationen", die nur untereinander

zu vergleichen und einander mehr oder

weniger verwandt wären. Wäre diese Interpretation meiner Auffassung richtig, dann wäre auch die ganze Betrachtung des literarischen Kunstwerks selbst rein illusorisch. Nun, das Prinzip der Unterscheidung des literarischen Kunstwerks selbst von seinen Konkretisationen liegt in der Behauptung, daß das Werk selbst Unbestimmtheitsstellen sowie verschiedene potentielle Elemente (wie z.B. die Ansichten, die ästhetisch relevanten Qualitäten) enthält, während sie in einer Konkretisation zum Teil beseitigt bzw. aktualisiert werden. Die soeben angeführte Auffassung wäre also nur dann richtig, wenn man das Werk nicht zu lesen vermöchte, ohne die Unbestimmtheitsstellen beseitigen zu müssen und die potentiellen Elemente zu aktualisieren. Indessen ist dies gerade nicht der Fall. Wir können uns der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen ganz wohl enthalten. Es ist sogar beim besten Willen nicht möglich, alle Unbestimmtheitsstellen zu beseitigen. Im konkreten Fall handelt es sich darum, uns klarzumachen, welche Unbestimmtheitsstellen im gerade untersuchten Werk vorhanden sind. Wir können hier das Aufsuchen solcher Unbestimmtheitsstellen an keinem Beispiel wirklich durchführen, da dies eine sehr umfangrei-

S 27. Vorkommen und Funktionen der

275

Unbestimmtheitsstellen

che Untersuchung erforderte, selbst wenn wir zu diesem Zweck nur eine kleine Erzählung nehmen wollten. Denn die Anzahl der Unbestimmtheitsstellen ist in jedem literarischen Werk sehr groß. So wollen wir hier nur darauf hinweisen, warum die Kenntnis der Unbestimmtheitsstellen für die Erkenntnis eines literarischen Kunstwerks interessant ist. Zunächst ist zu beachten, daß nicht alles, was im Text des Werkes nicht expressis verbis gesagt ist, bereits eine "Unbestimmtheitsstelle" in unserem Sinn ist. Das so Nicht-Gesagte kann vor allem all das sein, was entweder als Voraussetzung oder Folge implicite eindeutig mitgesagt (mitgemeint) wird. Wir lesen z.B. in den ersten Sätzen des Tristan von Thomas Mann: H i e r i s t 'Einfried', das Sanatorium! W e i ß u n d geradlinig liegt e s m i t s e i n e m langgestreckten Hauptgebäude und s e i n e m Seitenflügel inmitten des weiten Gartens, der mit Grotten, Laubengängen und kleinen Pavillons aus Baumrinde ergötzlich ausgestattet ist, und hinter seinen Schieferdächern ragen tannengrün, massig und w e i c h zerklüftet die Berge h i m m e l a n . Nach w i e vor leitet Doktor Leander die Anstalt. Mit s e i n e m z w e i s p i t z i g e n schwarzen Bart, der hart und kraus ist w i e das Roßhaar, mit d e m man die M ö b e l s t o p f t . . .

Es wird da nicht gesagt - und auch später im ganzen Text nie - , wo dieses Sanatorium "liegt". Dieses "wo" - z.B. in Europa, in Deutschland - bildet eine Unbestimmtheitsstelle, die eben irgendwie - wenn überhaupt - tacite vom Leser mitgemeint und so "ausgefüllt" werden mag. Und zwar kann dieses Hinzubestimmen der im Text nicht angegebenen Ortschaft bzw. Landschaft auf eine wahrscheinlichere oder unwahrscheinlichere Weise vollzogen werden. Wir haben soeben zwei ziemlich wahrscheinliche Ergänzungen über die Lage des Sanatoriums "Einfried" genannt. Wenn wir aber unwillkürlich mitdächten, das Sanatorium liege an der Nordseite der Alpen - etwa in Südbayern - , so wird dies dem Kontext nicht widersprechen. Man könnte aber schon dafür im Text keine entscheidenden Argumente angeben, denn es sind nur irgendwelche Berge, die hinter den Dächern des Sanatoriums "himmelan" ragen. Dieses "himmelan" braucht auch nicht zu wörtlich genommen zu werden, besonders von jemand, der aus Lübeck kommt. Eine solche durch den Leser vollzogene Ergänzung des Textes wäre aber nicht unerlaubt. Der Spielraum der "zulässigen" Ausfüllungen dieser Unbestimmtheitsstelle ist ziemlich weit. Im Text wird aber ebenfalls nicht expressis verbis gesagt, daß das Sanatorium

an

der

Erdoberfläche

"liegt".

Das

bildet

aber

keine

"Unbestimmtheitsstelle" in dieser Erzählung, denn es ist eine eindeutige Vor-

276

IV. Abwandlungen des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

aussetzung einer Reihe von Bestimmungen, die im Text gegeben werden. Es ist so "selbstverständlich", daß es nicht gesagt zu werden braucht. O b wir es beim Lesen auch mitdenken oder nicht, spielt für das Verständnis der Erzählung keine Rolle. Ebenso wird tacite eindeutig präjudiziert, daß "Doktor L e ander" ein Mensch ist, und dies ist auch keine Unbestimmtheitsstelle, obwohl es zu dem Nicht-Gesagten gehört. Ebenso wird auch am Schluß der Erzählung nicht gesagt, daß "Herrn Klöterjahns Gattin" an der Lungenblutung, die sie erlitten hat, wirklich gestorben ist. Wenn man aber erfährt, daß Herr Spinell "seine Augen langsam an dem Gebäude empor bis zu einem der Fenster, einem verhängten Fenster, an dem sein Blick eine Weile ernst, fest und dunkel haftete", gleiten ließ - dann glaubt man darin implicite eine Information über den Tod von "Herrn Klöterjahns Gattin" erhalten zu haben. Das ergibt sich einerseits aus den früheren Informationen über den Verlauf der Krankheit von "Herrn Klöterjahns Gattin", über die telegraphische Herbeirufung ihres Mannes, aus den Worten der Frau Spatz zu Herrn Klöterjahn und endlich aus j e nem am hellen Nachmittag "verhängten Fenster" - wenn man die Sitte kennt, nach dem Tode einer Person die Vorhänge in ihrem Sterbezimmer zuzuziehen. Es ist also wiederum etwas Nichtgesagtes, das aber keine Unbestimmtheitsstelle ist, sondern eine eindeutige Folgerung aus dem, was im Text e f f e k tiv gesagt wird. Es braucht auch nicht gesagt zu werden, da es eine entbehrliche Information wäre. Dieses Nichtgesagtsein übt die besondere künstlerische Funktion aus hervorzuheben, daß der nicht genannte Tod doch auf Herrn Spinell und auch auf dem Leser in desto expressiverer Anwesenheit lastet. Es übt da also die Funktion der Verleihung der Konkretisation der unausbleiblichen Gestalt aus, welche in diesem Moment eine ästhetisch relevante Qualität zur Ausprägung bringt. Diese Aktualität gehört eben deswegen, weil es im Text der Erzählung zu keiner effektiven Nennung des Todes kommt, nicht mehr zum Schema des Werkes selbst. Dagegen bilden alle Einzelheiten des Todes, wie er eintrat, ob rasch oder langsam, unter Qualen oder als sanftes Entschlafen usw., die Unbestimmtheitsstellen der betrachteten Erzählung von Thomas Mann - Unbestimmtheitsstellen, die wahrscheinlich von keinem Leser durch irgendwelche Angaben ausgefüllt und damit auch nicht beseitigt werden. Dies wird auch durch den Text auf gar keine Weise suggeriert, und eine solche Ausfüllung ist für die künstlerische Gestalt der Novelle nicht notwendig. Im Gegenteil, dieses im Dunkeln-Lassen dieser Einzelheiten macht

§ 27. Vorkommen und Funktionen der

Unbestimmtheitsstellen

277

die Situation um so expressiver und eindrucksvoller. Ihre Ergänzung würde da eine Abschwächung des ästhetischen Effektes nach sich ziehen. Bei entsprechender Lektüre bringen wir uns nicht einmal zu Bewußtsein, daß es hier in der Erzählung eine Lücke, eine Unbestimmtheitsstelle gibt. Trotzdem besteht sie rein objektiv genommen tatsächlich, und es ist nicht ausgeschlossen, daß es doch bei einer Lektüre zu ihrer Ausfüllung kommt. Wie man sieht, kann uns eine Betrachtung der verschiedenen Fälle des Nicht-Gesagten, und insbesondere der verschiedenen Arten der Unbestimmtheitsstellen, ihr Vorhandensein zeigen und uns auch über die

künstlerische

Struktur des betreffenden Werkes belehren. Und zwar kommt es dazu, wenn man sich nicht auf die bloße Feststellung des Vorhandenseins dieser oder jener Unbestimmtheitsstelle beschränkt, sondern sie zugleich einer funktionellen Betrachtung unterwirft, das heißt, wenn man sich bei jeder Unbestimmtheitsstelle, die man feststellt, fragt, warum sie im Werk eingeführt wurde und welche Rolle sie im künstlerischen Aufbau des Werkes spielt. Die funktionelle Betrachtung stellt auch die Frage, welche Rolle im Aufbau des Kunstwerks die verschiedenen möglichen Ausfüllungen dieser Unbestimmtheitsstelle im ganzen der betreffenden Konkretisation spielen, d.h. wie sie sich in dieses Ganze einfügen, es bereichern, in ihm eine neue Stimme im Akkord anderer Motive spielen, mit ihm harmonisieren oder eine Dissonanz in diesen Akkord bringen usw. Das ist eine besondere, analytische, völlig die Funktion der schlichten Lektüre überragende, wenn auch sich auf die Ergebnisse der Lektüre berufende Betrachtungsweise des literarischen Kunstwerks selbst, welche zugleich immerfort zu den möglichen ästhetischen Konkretisationen hinschielt, um die aktualisierbaren ästhetisch relevanten Qualitäten im Gesichtsfeld der Betrachtung auftauchen zu lassen. Dieses kleine Beispiel zeigt uns, daß es möglich ist, ein literarisches Werk so zu betrachten, daß seine Unbestimmtheitsstellen als solche hervortreten, oder anders gesagt, daß es möglich ist, das Werk in seiner schematischen Struktur zu erfassen und es verschiedenen Konkretisationen gegenüberzustellen. Wenn wir aber schon bei den Unbestimmtheitsstellen verweilen, so sei noch auf eine interessante Frage hingewiesen, die sich bei der vorästhetischen, aber zugleich das Künstlerische im Werk suchenden Betrachtung stellt. Läßt es sich am Studium eines ausgewählten Werkes, z.B. des Tristan von Thomas Mann zeigen, daß die Unbestimmtheitsstellen in dieser Erzäh-

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

lung nicht völlig chaotisch oder planlos eingeführt werden, sondern daß sie, im Gegensatz zu dem, was expressis verbis gesagt wird, sich nach gewissen Arten oder Typen der Bestimmtheit der dargestellten Gegenstände oder nach der Art der Lebenssituationen, an welchen diese Gegenstände teilnehmen, und dergleichen mehr einordnen lassen, und daß sie in einer künstlerisch geplanten und verständlichen Auswahl und Anordnung im betreffenden Werk verwendet werden, um eine ästhetisch wertvolle Konkretisation zu ermöglichen? Wir können uns fragen, ob im Tristan gewisse Eigenschaften der dargestellten Menschen überhaupt oder in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle verschwiegen werden, um auf andere Eigenschaften dieser Menschen ein helles Licht zu werfen? Oder, ob sie deswegen unbestimmt gelassen werden, damit dem Leser eine gewisse Freiheit in der Art ihrer Ausfüllung belassen wird, der dann verschiedene ästhetisch wertvolle Konkretisationen gestalten kann? Oder, ob alle Personen, die in der Erzählung irgendwie genannt werden, mit derselben Ausführlichkeit oder umgekehrt in derselben Skizzenhaftigkeit dargestellt werden, wie sich also die Unbestimmtheitsstellen in der Art ihrer generellen qualitativen Bestimmung um diese Personen gruppieren? Es fällt uns sofort ein, daß im Tristan nur die drei Hauptpersonen, d.h. Herr Klöterjahn, seine Gattin und Herr Spinell durch eine etwas größere Anzahl von Bestimmtheiten ihres äußeren Aussehens und ihrer sich aus ihrer Verhaltensweise ergebenden seelischen Zuständlichkeiten bestimmt werden, 6 3 während die übrigen Personen nur mit einzelnen ausgewählten Zügen charakterisiert werden und im übrigen gleichsam aus "Unbestimmtsein" bestehen. Das ist gewiß kein Zufall, sondern eine bestimmte künstlerische Absicht. Ihre Realisierung bildet ein charakteristisches Merkmal der "Komposition" des schematischen Aufbaus dieser Novelle. Sie kann aber auch einen Zug der Komposition der Novellen Thomas Manns überhaupt bilden oder endlich auch das Charakteristische der Novelle - als einer besonderen literarischen "Gattung" - sein. Wie diese künstlerische Absicht im Einzelfall durchgeführt wird, das macht das Besondere dieses Werkes aus und spielt eine Rolle für die ästhetischen Effekte, welche in seinen verschiedenartigen ästhetischen Konkretisationen erzielt werden können. Die einzelnen in der Erzählung vorhandenen

o Das Übrige, das jetzt zu analysieren wäre, bildet das verschiedenartige Ungesagte und insbesondere die Unbestimmtheitsstellen.

§ 27. Vorkommen und Funktionen der Ansichten

279

Unbestimmtheitsstellen (unter Berücksichtigung der Stelle im Werk, an welcher sie sich befinden) können sehr verschieden leistungsfähig in der Art sein, welche Rolle sie als unausgefüllte Unbestimmtheitsstellen spielen und welche Ausfüllungen sie zulassen bzw. mehr oder weniger suggerieren. Vermöge dieser ihrer Leistungsfähigkeit können sie dem Leser helfen, verschieden wertvolle Qualitäten in der ästhetischen Konkretisation zu aktualisieren. Und die Art und das Maß ihrer Leistungsfähigkeit in dieser Hinsicht bildet nichts anderes, als eben dasjenige, was wir den "künstlerischen Wert" nennen. 6 4 In dem schon Gesagten ist noch ein Zug des literarischen Kunstwerks als eines schematischen Gebildes implicite enthalten, mit dem wir uns jetzt kurz beschäftigen müssen. Dieses Schema ist nicht bloß ein Etwas, das gewisse Lücken enthält, sondern zugleich ein Etwas, das in sich durch "erfüllte" Qualitäten positiv bestimmt ist und in diesem Bestimmtsein zugleich auch das Aktuelle des Werkes bildet. Es ist aber nicht bloß etwas Aktuelles, sondern es bestimmt von sich aus, vermöge seiner positiven Bestimmtheiten, verschiedene Potentialitäten, die als Potentialitäten für das betreffende Werk charakteristisch sind. 6 5 Bei der analytischen, vorästhetischen Betrachtungsart des literarischen Kunstwerks kommt es sehr darauf an zu klären, welche potentiellen Elemente des Kunstwerks durch die aktuellen Momente bestimmt werden und zugleich auf welche Weise und mit welcher Ergiebigkeit es zu ihrer Bestimmung im Einzelfall bei dem betreffenden Werk kommt. Das ist um so wichtiger, als in dem, was im Werk das bloß Potentielle bildet, in der Aktualisierung in einer Konkretisation verschiedene ästhetisch relevante Qualitäten enthalten sein können. Wir wissen, daß zu den potentiellen Elementen des literarischen Kunstwerks die "Ansichten" gehören, die - wie ich mich einst ausdrückte - nur "paratgehalten" werden. Es gibt sehr verschiedene Weisen dieses "Parathaltens" der Ansichten: es kommt z.B. dazu durch den Inhalt der Sätze oder, besser gesagt, durch die vermittels der Sätze bestimmten gegenständlichen Tatbestände. Auch das entsprechend gewählte Material der Wortlaute sowie der

Natürlich gibt es im literarischen Kunstwerk noch künstlerische Werte völlig anderer Art, z.B. die Werte, welche durch die im Werk gegebenen positiven Bestimmtheiten der dargestellten Personen und Lebenssituationen realisiert werden. 65

In meinem Buch Das literarische Kunstwerk habe ich diese "Potentialitäten" besonders untersucht. Ich möchte das hier nicht wiederholen.

280

IV. Abwandlungen

des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

anderen sprachlautlichen Erscheinungen spielt da eine große Rolle. Beim schlichten Lesen verwenden wir die im betreffenden Werk vorhandenen Mittel (bzw. Funktionen) zur Aktualisierung der Ansichten, Bestimmtheiten der gegenständlichen Tatbestände, ohne uns zum Bewußtsein zu bringen, was es tut und wie es eigentlich geschieht. Erst in der vorästhetischen forschenden Erkenntnis des Werkes steht dies zur Frage. Im Tristan werden verschiedene an der Handlung teilnehmende Personen mehr oder weniger ausgiebig charakterisiert, aber die dazu verwendeten Züge führen nicht immer dazu, daß wir diese Personen in ausreichend lebendigen Ansichten zur Erfassung bringen. Manchmal genügt aber schon ein Zug, damit der betreffende Mensch mit besonderer Lebhaftigkeit erscheint. Zum Beispiel gibt es in "Einfried" einige Herren, die immer fast auf dieselbe Weise erwähnt werden (denn nicht mehr als eine "Erwähnung" ist es). Wir lesen: "Mehrere Herren mit entfleischten Gesichtern werfen auf jene unbeherrschte Art ihre Beine, die nichts Gutes bedeutet." Oder: "Die Herren mit den entfleischten Gesichtern lächelten und versuchten angestrengt, ihre Beine zu beherrschen, wenn sie in ihre Nähe kamen...". Diese kurze Charakterisierung ist besonders geeignet, die visuelle Ansicht der Bewegungen dieser Herren beim Leser hervorzurufen. 66

66

Natürlich muß der Leser Uber eine frühere Erfahrung der Gangart der Tabeskranken verfügen, damit in ihm die entsprechende Ansicht wachgerufen wird. Die Kunst des Dichters beruht darin, an solche früheren, besonders lebendigen Erfahrungen zu appellieren. Wenn aber dabei auf einen zu engen Kreis derjenigen, welche die entsprechende Erfahrung besitzen, appelliert wird, und wenn zudem dies mit wenig geeigneten Mitteln getan wird, dann gelingt es nicht, die gewünschte Ansicht hervorzurufen. Man verwendet manchmal zu diesem Zweck die Nennung bestimmter individueller Gegenstände - in der Meinung, daß sich die konkrete Ansicht dann herstelle. Doch versagt dieser Kunstgriff, wenn dies mit unzureichenden Mitteln gemacht wird. So lesen wir z.B. am Anfang der Novelle Der Tod in Venedig von Thomas Mann, nachdem wir bereits erfahren haben, daß sich die Geschichte in München abspielt, folgenden Satz: "Zufällig fand er den Halteplatz (der Tram) und seine Umgebung von Menschen leer. Weder auf der gepflasterten Ungererstraße, deren Schienengeleise sich einsam gleißend gegen Schwabing erstreckten, noch auf der Föhringer Chaussee war ein Fuhrwerk zu sehen...". Nun, wenn der Leser diese beiden Straßen in München aus eigener Erfahrung nicht gut kennt, so genügt ihm diese Information nicht, die entsprechende Ansicht von der eindeutig angegebenen Stelle in München bei der Lektüre zu erleben. Wahrscheinlich wird ihm auch die Angabe, daß die eine der Straßen "gepflastert" war und daß sich die "Schienengeleise einsam gleißend gegen Schwabing erstreckten", in dieser Lage nicht viel helfen, weil die angegebenen Einzelheiten dieser Straßen viel

§ 27. Vorkommen und Funktionen der Ansichten

281

Manchmal übt diese Funktion der Ton aus, in welchem die Worte ausgesprochen, oder die Weise, wie sie gefaßt werden; sie bringen die konkrete Ansicht einer seelischen Situation zum Ausdruck. Im Tristan lesen wir z.B. über die Verhaltensweise des Herrn Klöterjahn, als er vom Blutsturz seiner Frau erfährt: '"Ist sie tot?' schrie Herr Klöterjahn... Dabei packte er die Rätin am Oberarm und zog sie auf der Schwelle hin und her. 'Nein, nicht ganz, wie? Noch nicht ganz, sie kann mich noch sehen ... Hat sie wieder ein bißchen Blut aufgebracht? Aus der Lunge, wie? Ich gebe zu, daß es vielleicht aus der Lunge kommt... Gabriele ! ' sagte er plötzlich, indem die Augen ihm übergingen, und man sah, wie ein warmes, gutes, menschliches und redliches Gefühl in ihm hervorbrach. 'Ja, ich komme!' sagte er, und mit langen Schritten schleppte er die Rätin aus dem Zimmer hinaus und über den Korridor davon. Von einem entlegenen Teile des Wandelganges her vernahm man noch immer sein rasch sich entfernendes 'Nicht ganz, wie?... Aus der Lunge, was?...'." Diese ganze Darstellung erlaubt es, diese Szene lebendig anschaulich zu erleben. Insbesondere z.B. ist der letzte Satz geeignet, eine akustische "Ansicht" der sich entfernenden Worte Herrn Klöterjahns hervorzurufen. Nun, solche verschiedenen Fälle und die in ihnen verwendeten Mittel müssen untersucht und auch daraufhin geprüft werden, ob sie erfolgreich sind oder mehr oder weniger unergiebig verlaufen. Es ist klar, daß die bloße Lektüre solcher Stellen nicht ausreicht, um sich dies zum Bewußtsein zu bringen. Man muß die Einzelheiten eines Teils des gelesenen Textes selbst in neuerlichen intentionalen Erfassungsakten zum Objekt machen und dann noch untersuchen, was dieser Text in bezug auf die Konstituierung einer Ansicht in einer Konkretisation zu leisten vermag: ob in ihr gerade diejenigen Phänomene konkretisiert werden, die man als eine Leistung der betreffenden Stelle des Textes erwartet. Man geht also bei dieser Betrachtung über den nackten Text (d.h. über die Doppelschicht der Sprache) zur Konkretisation einer Phase der Schicht der Ansichten hinaus, um sie nicht bloß zu haben (wie man sie bei einer schlichten Lektüre "hat"), sondern um außerdem eben die da auftretende Ansicht oder eine Mannigfaltigkeit von Ansichten in ihrem Gehalt und auch

zu wenig charakteristisch und auffallend sind, als daß sie dem Leser diesen Dienst erweisen könnten.

282

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

in der Weise ihres Auftretens zu betrachten. Diese Betrachtung vollzieht sich sozusagen von einer höheren "Etage" aus, von wo man das fertige Werk in seinen unterschiedenen Einzelheiten überblickt und dieselben in ihren Beziehungen miteinander vergleicht. Insbesondere erforscht man, wie aus dem Wandel des einen Gliedes einer Beziehung, z.B. einer Satzfolge mit bestimmten syntaktischen Eigenheiten, sich korrelativ eine Wandlung eines anderen Gliedes, z.B. der hervorgerufenen Ansicht und der Weise ihres Auftretens, ergibt. Auf diese Weise erfaßt man die Rolle und die Fähigkeit der betreffenden Satzgebilde, Ansichten wachzurufen bzw. parat zu halten. Diese neue wie ich mich bildlich ausdrückte - "Etage" oder "Stufe", von welcher aus man gewisse Teile des betreffenden Werkes betrachtet, ermöglicht das Auftreten des Werkes oder eines seiner Teile in einer gewissen Distanz vom Erkennenden, von der Seite einer Distanz, die für die Erfassung der Sprachgebilde in ihren verschiedenen Funktionen, z.B. das Parathalten oder die Aktualisierung der Ansichten, unentbehrlich ist, während bei der schlichten Lektüre die Funktionen der sprachlichen Gebilde vom Leser nur vollzogen und nicht objektiv erfaßt werden. Das Augenmerk des Lesers richtet sich während der Lektüre direkt auf die dargestellten Gegenständlichkeiten und erfaßt sie aus der Nähe in ihren Konkretisationsansichten. Das distanzhafte Überblicken verschiedener Teile des Werkes erlaubt dem Betrachtenden, sie im einzelnen in ihrer Rolle für gewisse andere, gewählte Einzelheiten des Werkes zu beurteilen. Das Mißliche dieser Verfolgungsweise aber, sowie der emotionalen Neutralität der Betrachtung, liegt darin, daß manche Einzelheiten des konkretisierten Werkes nicht mehr mit derselben Lebendigkeit zur Erscheinung gelangen, wie es bei der schlichten Lektüre geschieht, oder daß sie überhaupt vom Erscheinungsfeld verschwinden. Dies betrifft insbesondere die ästhetisch relevanten Qualitäten, welche entweder emotional empfunden oder im intentionalen Fühlen erfaßt werden müssen. Im analytischen vorästhetischen Betrachten werden sie höchstens auf begriffliche Weise als dasjenige gemeint, was vermöge entsprechender Fähigkeiten gewisser Eigenheiten des literarischen Kunstwerks als etwas ihm potentiell Zugehöriges bestimmt wird. Die ästhetisch relevanten Qualitäten werden meist erst indirekt durch die Einzelheiten der dargestellten Gegenständlichkeiten oder durch Ansichtsmannigfaltigkeiten oder endlich durch das Zusammenspiel verschiedener Schichten des Kunstwerks bestimmt, so daß man ihren unmittelbaren Grund

§27. Dargestellte Zeit und Ordnung der Darstellung

283

in den Sprachgebilden nicht spürt. Ihre Bestimmung hängt aber nicht bloß davon ab, was in der gegenständlichen und in der Ansichtenschicht durch die Sprache intentional entworfen wird, sondern auch von der Weise, wie die Gegenständlichkeiten dargestellt werden. Die vorästhetische Betrachtung des literarischen Kunstwerks hinsichtlich seiner künstlerischen Leistungsfähigkeit kann die in ihm verwendeten Methoden der Darstellung nicht unberücksichtigt lassen. In meinem Buch Das literarische Kunstwerk habe ich mich deswegen andeutungsweise mit den verschiedenen möglichen Darstellungsweisen der Dinge, Menschen und Geschehnisse vermittels der unmittelbar durch die Satzsinne intentional entworfenen Satzkorrelate (insbesondere Sachverhalte) beschäftigt 67 und möchte mich hier nicht wiederholen. Es gilt nun zu klären, wie eine analytische Betrachtung der Darstellungsweisen verlaufen kann bzw. zu verlaufen hat, wenn sie für die Probleme der literarischen Kunst instruktiv sein soll. Bei ihrer Betrachtung entfernt sie sich noch weiter vom schlichten, kontinuierlich verlaufenden Lesen des Werkes, obwohl sie eine solche Lektüre voraussetzt und sich auch ihrer in einzelnen Phasen mehrmals bedient. Es ist zunächst nötig, sich auf Grund der Lektüre gut zu orientieren, was -

welche Dinge, Menschen, Geschehnisse,

Situationen, in welchen sie sich vollziehen usw. - im betreffenden Werk zur Darstellung gelangt. Das heißt, wir müssen die gegenständliche Schicht des Werkes auf Grund der Lektüre gut kennenlernen und uns auch über zwei Ordnungen der Geschehnisse gut orientieren: über die Ordnung der Aufeinanderfolge dieser Geschehnisse in der dargestellten Zeit und über die Ordnung der Aufeinanderfolge derselben in der Darstellung

in dem

betreffenden Werk. Es ist sehr selten, daß sich diese beiden Ordnungen decken, obwohl dies nicht ausgeschlossen ist. 68 Daß sie sich aber decken oder

67

Vgl. Das literarische Kunstwerk, Kap. VII.

68

Wenn man den Anfang der Buddenbrooks liest, so scheint es zunächst, als ob sich diese beiden Anordnungen fast deckten. Aber schon während des Festessens der Familie Buddenbrook (im Oktober 1835) mit ihren Gästen wird in verschiedenen Reden und Gesprächen im Verlauf des Empfangs die "Vorgeschichte" auf verschiedene Weise enthüllt - die Geschichte des neuen Hauses, die Geschichte der früheren Besitzer des Hauses, die Erinnerung an den Fall mit den "silbernen Löffeln während der Napoleonischen Kriege" usw. Auch die früheren internen Angelegenheiten aus dem Familienleben des Johann Buddenbrook (seine erste Frau, die Heirat seines ältesten Sohnes usw.) werden erwähnt und mischen sich in die fortschreitende Darstellung der Geschehnisse des ersten Empfangs im

284

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

weit auseinander gehen, ist mit der Kunst der Darstellung eng verbunden und hat sehr mannigfache künstlerische Effekte zur Folge, die dann auch sehr verschiedene ästhetisch valente Phänomene in der Konkretisation der betreffenden Werke nach sich ziehen. Man hat im modernen Roman eine große Mannigfaltigkeit der verschiedenen möglichen Verflechtungen dieser beiden "Ordnungen" versucht und eine besondere Technik ausgebildet, die betreffende Art der Darstellung konsequent anzuwenden, wobei man unzweifelhaft auf diesem Weg eigene künstlerische und ästhetische Effekte zu erzielen suchte. Und die Entwicklung geht - wie es scheint - dahin, die Ordnung der Aufeinanderfolge der Darstellung von der Ordnung der Aufeinanderfolge in der dargestellten Zeit nicht bloß möglichst weitgehend unabhängig zu machen, sondern auch die Ordnung in der dargestellten Zeit zu verwischen oder zu zerschlagen, so daß es im Grenzfall fast unmöglich ist, die Linie der Entwicklung der Geschehnisse nicht nur rein phänomenal zu erleben, sondern auch ihre bewußte Verfolgung durchzuführen. Diese literarischen Tatsachen sind bekannt, und wenn ich sie hier erwähne, so tue ich es, um darauf hinzuweisen, daß die Erforschung dieser verschiedenen Weisen der Darstellung (sowohl im Roman als auch z.B. im Drama) ein wichtiges Thema der vorästhetischen Betrachtung des literarischen Kunstwerks bildet, ein Thema, dem man bis jetzt viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Es sind sowohl die rein technischen künstlerischen Mittel in diesen verschiedenen Weisen der Darstellung viel zu wenig analysiert worden als auch die dadurch erzielten ästhetischen Phänomene, besonders in ihrer Rolle für die Konstituierung der sich in den einzelnen Fällen ergebenden ästhetischen Werte. Es handelt sich da natürlich um Phänomene der Zeitperspektive, aber insbesondere um den Fall, in welchem es zu einer eigentümlichen Kreuzung der beiden Zeitordnungen - der dargestellten Zeit und der Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile des Werkes - kommt. Diese Kreuzung führt zu synthetischen Bildungen, welche besondere künstlerische und ästhetische Effekte nach sich ziehen. Es handelt sich aber oft um mehr oder auch um

Hause Buddenbrook. Diese Weise des Enthüllens der Vorgeschichte in den jetzt sich abspielenden Gesprächen zwischen den dargestellten Personen (und nicht direkt durch den "Autor") bildet nur eine mögliche Weise der Darstellung in der Beschreibung der fortlaufend "jetzt" sich entwickelnden Geschehnisse.

J 27. Dargestellte Zeit und Ordnung der Darstellung

285

etwas anderes als um Phänomene, welche eine ästhetische Rolle spielen. Es handelt sich um eine besondere Strukturierung der dargestellten Welt, die mit verschiedenen Aspekten der Realität, bzw. allgemeiner gesagt, der Seinsweise verbunden ist, in welcher die in dieser Welt vorkommenden Geschehnisse auftreten bzw. - der Intention des Dichters nach - auftreten sollen. Die Zeitordnung bzw. das strenge Einhalten dieser Ordnung durch die dargestellten Geschehnisse scheint mit dem Realitätscharakter irgendwie zusammenzuhängen. Zunächst scheint es, daß bei allen möglichen Abwandlungen der Beziehung zwischen den beiden Ordnungen auch bei der größtmöglichen Unabhängigkeit voneinander ein[e]s eingehalten werden muß, daß nämlich bei aller Anordnung der Aufeinanderfolge der Darstellung sich doch immer eine klare und eindeutige Ordnung der dargestellten Geschehnisse in der dargestellten Zeit ergeben muß. Indessen bilden diejenigen literarischen Kunstwerke, in welchen diese letzte Ordnung klar, lückenlos und stets eindeutig bestimmt wird, nur einen Grenztypus der literarischen Kunst, der weder der einzig mögliche noch der künstlerisch bzw. ästhetisch einzig wertvolle ist. Er ist charakteristisch für diejenige Darstellungsweise, die man gerne mit dem Wort "Realismus" belegen möchte. Er geht mit einer Reihe anderer charakteristischer Züge der Darstellungsweise zusammen, die für sich herausgearbeitet werden müssen, bzw. er muß mit ihnen zusammengehen, wenn es im Werk zu keinen mißtönenden Disharmonien kommen soll (die übrigens in manchen Fällen künstlerisch beabsichtigt sein können). Es kommt übrigens fast nie dazu, daß die beiden "Ordnungen" sich in dem Sinn "decken", daß jeder neue im Text folgende Satz einen in einem neuen zugeordneten Moment der Zeit stattfindenden Tatbestand bestimmt. In der Mehrzahl der Fälle gibt es manchmal ganze Mannigfaltigkeiten von Sätzen, welche sich auf verschiedene Einzelheiten der in einem bestimmten Moment der dargestellten Zeit befindlichen Gegenstände und Vorgänge beziehen. Das geschieht überall da, wo die an einer Handlung teilnehmenden Personen und Dinge in ihren Eigenschaften beschrieben werden. 69 Die zur Beschreibung gehörenden Sätze können

So geschieht es am Anfang der Buddenbrooks, daß nur ein ganz kurzes Gespräch zwischen den anwesenden Mitgliedern der Familie Buddenbrook stattfindet, das aber in eine lange Beschreibung der einzelnen Personen und auch des Empfangszimmers, in dem sie sich befinden, eingeflochten wird. Diese Beschreibung, die natürlich einige Zeit dauert, wird aber aus dem Lauf der dargestellten Zeit gleichsam herausgenommen, die Zeit steht gewisser-

286

IV. Abwandlungen des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

entweder einen fortlaufenden Text bilden oder an verschiedenen Stellen des Textes verstreut liegen. Nur im ersten Fall, wenn sich die Beschreibung auf einen Tatbestand bezieht, der in einer Gegenwart existiert, kann noch von einem

annähernden

Deckungsverhältnis

der beiden

Ordnungen

der

Aufeinanderfolge gesprochen werden; in anderen Fällen gehen diese Ordnungen auseinander. Schon die in die Darstellung eines Geschehens eingeflochtenen (gewöhnlich vom Autor gegebenen) Beschreibungen von Situationen und Vorgängen, die sich in einem anderen Zeitabschnitt vollziehen, haben zur Folge, daß sich die beiden Ströme der Aufeinanderfolge (der Erzählung und des Erzählten) voneinander scheiden. Und die Vorgänge, von denen später berichtet wird, die sich aber früher als die sich eben jetzt entwickelnden Geschehnisse vollzogen haben, müssen erst vom Leser sozusagen an die entsprechende Zeitstelle in der dargestellten Zeit versetzt werden. Der Text instruiert gleichsam den Leser, wie das gemacht werden soll; die Weise dieser Instruktion kann mehr oder weniger genau und eindeutig sein, so daß es nicht immer klar ist, wie die in die Erzählung eingeschachtelten "früheren" Ereignisse in den Strom der dargestellten Zeit eingesetzt werden sollen. Und da gibt es eben noch verschiedene Methoden, diese Operation dem Leser zu erschweren, so daß er im Grenzfall sehr im Unklaren gelassen wird, wie die dargestellten Ereignisse zeitlich zusammenhängen. Darunter leidet auch der sachliche, insbesondere auch der ursächliche Zusammenhang zwischen den dargestellten Ereignissen; die dargestellte Welt beginnt zu zerfallen, manchmal wegen der künstlerischen Unfähigkeit des Verfassers, manchmal als Folge seiner beabsichtigten künstlerischen Leistungsfähigkeit. Angesichts dieser verschiedenen möglichen Sachlagen eröffnen sich u.a. folgende Aufgaben für die vor-ästhetische Erforschung des literarischen Kunstwerks: Es sind zunächst diejenigen Sätze zusammenzustellen, welche die Fortentwicklung des Geschehens in der dargestellten Welt bestimmen und damit auch den Rahmen der dargestellten Zeit festlegen. Es klärt sich gleich

maßen still, indem wir uns mit den Zügen der anwesenden Personen bekannt machen. In den älteren Romanen, z.B. eines Zola, erhält der Leser zunächst eine lange, mehrere Seiten umfassende Beschreibung z.B. des Zimmers, in dem etwas geschehen soll, bevor sich etwas zu ereignen beginnt.

§ 27. Dargestellte

Zeit und Ordnung der

Darstellung

287

auf, in welchem Maße die Zeit durch die gezeichneten Geschehnisse erfüllt ist und mit ihnen zur Vergangenheit wird oder nur als ein Schema entworfen wird, dem manche nur erwähnte, aber nicht effektiv dargestellte Geschehnisse zugeordnet werden, und endlich welche Lücken im Geschehen und in der Folge auch in der Zeit selbst vorhanden sind; andererseits wird es klar, ob und auf welche Weise sich die in einer anderen Darstellungsordnung vorgebrachten Vorgänge und Ereignisse in diese dargestellte Zeit einheitlich einordnen lassen. Außerdem lassen sich auch diejenigen Sätze zusammenstellen, welche bloß die weiteren Bestimmtheiten der dargestellten Gegenständlichkeiten entwerfen, aber selbst zur "Handlung" und zum Geschehen in der dargestellten Welt nichts beitragen. Jedem dargestellten Gegenstand kann man die entsprechende Mannigfaltigkeit der ihn bestimmenden Sätze zuordnen. Und dann sieht man, was von dem betreffenden Gegenstand wirklich bestimmt (sowohl im Bereich seiner Eigenschaften, als auch seiner Anteilnahme an dem im Werk dargestellten Geschehen), was dagegen verschwiegen wurde und insbesondere eine Unbestimmtheitsstelle bildet. Andererseits zeigt es sich, in welchen Sachverhalten der betreffende Gegenstand zur Darstellung gebracht wurde. Es enthüllt sich dann vor dem Betrachter das ganze Spiel der verschiedenen möglichen Weisen, wie es zu dieser Darstellung kommen kann. Und zwar können diese Weisen bei Erhaltung nicht bloß der Identität des Gegenstandes, sondern auch desselben Bereiches seiner Bestimmtheiten auf mannigfache Art variieren. Trotzdem ist es nicht irrelevant, welche Darstellungsweisen gerade angewendet werden, da sie jeweils eine andere Leistungsfähigkeit in der anschaulichen Konkretisierung des Gegenstandes und in der Ausgeprägtheit seiner Bestimmtheiten besitzen. Gerade mit Rücksicht darauf beginnt die eigentliche Analyse der künstlerischen Verfahrensweisen, die dazu dienen, den betreffenden Gegenstand möglichst prägnant und expressiv zur Erscheinung zu bringen. Es handelt sich dabei nicht um statische oder gar statistische Feststellungen, sondern um eine funktionelle Analyse der Darstellungsfähigkeiten der entworfenen Sachverhalte und ihrer möglichen Variationen. Manche von ihnen sind vielsagend, andere dagegen eben nichtssagend, manche einfach und schlicht, während andere zusammengesetzt und kompliziert sind. Manche von ihnen sind schlagend und reich an sich andeutenden Konsequenzen, während andere Momente in sich enthalten, die matt sind und nichts ankündigend. Wichtiger ist aber, daß manche Sachverhalte

288

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

unmittelbar die Natur des Gegenstandes zur Ausprägung bringen, während die anderen nur nebensächliche, belanglose, unwesentliche oder zufällige Momente des Gegenstandes enthüllen. Insbesondere gibt es auch solche durch Sätze entworfene Tatbestände, welche ästhetisch relevante Qualitäten an den dargestellten Gegenständen zur anschaulichen Aktualisierung bringen und somit die Bedingungen zur Konstituierung eines bestimmten ästhetischen Wertes vorbereiten. All dies muß in einer dynamisch-funktionellen Betrachtung der tatsächlichen, durch Sätze des betreffenden Kunstwerks entworfenen Sachverhalte und der in ihnen zur Konstitution gelangenden Gegenstände gezeigt werden. Diese Betrachtung verläuft fortwährend an der Grenze zwischen der Erfassung der Einzelheiten eines literarischen Kunstwerks als eines schematischen und ästhetisch neutralen Gebildes und den verschiedenen, sich als Möglichkeiten nur andeutenden ästhetischen Konkretisationen des betreffenden Werkes, vorläufig nur an Hand seiner ausgewählten und funktionellanalytisch betrachteten Teile. Das ist eine besonders schwierige Betrachtungsart. Denn einerseits muß man die "kühle", ästhetisch neutrale Einstellung in der vorästhetischen Analyse einhalten, andererseits sich aber immer wieder entweder auf das Gedächtnis der früher vollzogenen Konkretisationen des Werkes berufen oder in die aktuelle ästhetische Einstellung hineinversetzen, in welcher man wenigstens das in Frage kommende Fragment der Konkretisation des Werkes zu aktualisieren versucht. Endlich kann man nur bestrebt sein, lediglich die verschiedenen sich nur andeutenden Möglichkeiten der Konkretisierungsweise dieses Fragments vorauszusehen. Nur eine Kontrastierung der in den Sachverhalten zur Darstellung gebrachten Gegenstände in ihren wertneutralen Momenten mit den mannigfachen, sich auf den verschiedenen Wegen aktualisierenden, ästhetisch wertvollen Qualitäten kann uns darüber belehren, welche künstlerischen Fähigkeiten die im Werk tatsächlich "realisierten" Tatbestände haben, die werthaften Momente der ästhetischen Konkretisation zu konstituieren. Durch die Analyse der Fälle, in welchen es zu einer gelungenen Konstituierung dieser Momente kommt oder sich wenigstens die Suggestion einer solchen Konstituierung andeutet, die erst den ästhetisch erlebenden Leser effektiv zu ihrer Aktualisierung bewegen kann, und andererseits durch die Kontrastierung mit den Fällen, in welchen dies mehr oder weniger mißlingt, bringen wir uns in concreto und nicht in bloß abstrakten Vermutungen zu Bewußtsein, welche Mittel der künstlerischen

§ 27. Darstellungsleistung

der Sätze und Wörter

289

Gestaltung erfolgreich sind und welche dagegen versagen. Es ist eine besondere Empirie, die beim schöpferischen Künstler im allgemeinen nur als eine dunkle Vorahnung vorhanden ist und sich sofort in die schöpferische Tätigkeit umsetzt und die der Erforscher der literarischen Kunst eben bewußt erlangen muß, um an den durch sie gelieferten Ergebnissen die künstlerische Leistungsfähigkeit bestimmter Kunstgriffe der literarischen Darstellung zu beurteilen und somit den künstlerischen

Wert des betreffenden Werkes zu be-

stimmen. Natürlich sind die intentionalen Korrelate der Sätze und insbesondere die Sachverhalte, welche den Gegenständen gegenüber die Darstellungsfunktion ausüben, sowohl in ihrem "sachhaltigen" (wie Husserl sagt) 7 0 Gehalt als auch in ihrer syntaktischen Struktur, als endlich auch in den Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, vom Aufbau der Sätze, die sie intentional entwerfen, abhängig. So ist die künstlerische darstellerische Leistungsfähigkeit der Sachverhalte auf die Leistungsfähigkeit der Sätze zurückzuführen - und zwar der Sätze als besonders gestalteter Sinneinheiten als auch als eines geordneten wortlautlichen Materials mit den aus der Aufeinanderfolge der Wortlaute sich ergebenden sprachlautlichen Erscheinungen, wie z.B. dem Rhythmus, der Satzmelodie und dergleichen mehr zusammen genommen. So erstreckt sich die vorästhetische analytische, funktionelle Betrachtung des literarischen Kunstwerks auf die beiden sprachlichen Schichten des Werkes. Sie ist zunächst bestrebt, die bewußtseinsmäßige Erfassung gewisser Gesamtcharaktere der satzmäßigen Sinneinheiten zu erlangen. Sie sind verschiedener Art, wie z.B. Einfachheit und Zusammengesetztheit im grammatikalischen Sinn und Einfachheit im Sinn der Schlichtheit des "Stils", im Gegensatz zur "Kompliziertheit" oder auch "Einfachheit" - im Sinn der Ökonomie der verwendeten Mittel, im Gegensatz zur Hypertrophie der verwendeten Motive - , dann aber z.B. die Freiheit im Fluß der sich entfaltenden Sätze und die Gebundenheit (eine gewisse Steifheit) sowohl in der Entfaltung des Sinnes der einzelnen Sätze als auch in ihrer Aufeinanderfolge, die Klarheit und Unklarheit, die Durchsichtigkeit des Aufbaus des Satzsinnes und seine Undurchsichtigkeit, womit sich auch eine Undurchsichtigkeit der "Intention", was der Satz

70

[Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, selbe, Formale und transzendentale

Bd. II/ Teil 1 (Husserliana XIX/1, S. 259), der-

Logik, Halle 1929, S. 63 (Husserliana XVII, S. 76).]

290

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

eigentlich "sagen" will, verbindet, usw. Diese Gesamtcharaktere der Satzsinne können nicht beim bloßen Denken oder Verstehen der Sätze, sondern erst bei besonderer Beachtung erfaßt werden, welche auf die zu gewissen Objektivitäten gemachten Sätze gerichtet ist. Es sind dies alles besondere qualitative Momente des Satzganzen, sobald sich dieses im Vollzug des Denkens des betreffenden Satzes konstituiert hat. Ihre Fundierung liegt aber in besonderen formalen Momenten des Satzbaues, welche wiederum im analytischen Verfahren zu entdecken sind. Sie sind verschiedener Art, wie z.B. die parataktische oder die hypotaktische Ordnung der relativ selbständigen Glieder in den sogenannten "zusammengesetzten" Sätzen, die Ansammlung der adjektivischen Bestimmungen des Satzsubjektes oder der daran angeknüpften Relativsätze, die Einfachheit oder Zusammengesetztheit des Prädikats usw. Eine bedeutende Rolle spielt hier auch der Umstand, ob die einzelnen in den Sätzen auftretenden Worte eindeutig oder auf eine unübersichtliche Weise vieldeutig sind (wobei aber spürbar ist, daß sie vieldeutig sind, obwohl man zunächst nicht sagen kann, welche Bedeutungen sich hinter dem vieldeutigen Wort verstecken). Es mag zweifelhaft sein, ob die qualitativen Gesamtcharaktere der Sätze alle ästhetisch wertneutral oder relevant sind, und somit, ob sie in einer vorästhetischen Betrachtungsart erfaßbar oder erst in einem ästhetischen Erlebnis konstituierbar und zugänglich sind. Im Gegensatz dazu sind die eben genannten formalen Eigenheiten der Satzsinne sicher alle ästhetisch wertneutral und sind somit der vorästhetischen Betrachtungsart des literarischen Kunstwerks zugänglich. Sie können zudem sowohl in literarischen Kunstwerken als auch in wissenschaftlichen Werken auftreten. Ihre Klärung gehört zu der Aufgabe einer gewissermaßen "logischen" Analyse der sprachlichen Schicht literarischer Werke überhaupt. Diese Analyse erfüllt aber nur dann ihre Rolle in der analytischen Betrachtung literarischer Kunstwerke, wenn sie im Zusammenhang mit der Enthüllung der qualitativen Gesamtcharaktere der Sätze überhaupt durchgeführt wird und wenn die "formalen" Momente der Sätze unter dem Aspekt ihrer möglichen Funktion der Konstituierung jener qualitativen Gesamtcharaktere und im weiteren Zusammenhang mit der Betrachtung der Rolle (Funktion) dieser Charaktere in der Konstituierung verschiedener Typen der intentionalen Satzkorrelate bzw. Sachverhalte durchgeführt wird. Erst bei einer solchen funktionellen analytischen Betrachtung kann das Bestehen des engen Zusammenhangs zwischen der syntakti-

§ 27. Darstellungsleistung

der Sätze und Wörter

291

sehen Struktur der Sätze und der Weise, in welcher sich die dargestellte Welt und das, was in ihr geschieht, dem Leser bei der Lektüre enthüllt, aufgezeigt werden. Denn dieser Zusammenhang wird einerseits im Aufbau der Sätze, andererseits aber in der Konkretheit und Deutlichkeit (auch Schärfe), mit welcher die dargestellte Welt sich dem Leser zeigt, verankert. Die ganz konkreten Ergebnisse einer solchen Analyse zeigen uns aber noch mehr. Und zwar nicht bloß das Bestehen, sondern auch die Art bzw. die Abart dieses Zusammenhanges, welche im analysierten Werk besteht. Der Charakter des Auftretens der dargestellten Gegenständlichkeiten hängt aber nicht bloß mit dem formalen Aufbau der Sätze zusammen, sondern auch mit der Art der Wörter, welche in diesen Sätzen auftreten. Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel genauer zeigen, um hier nicht bei bloßen Allgemeinheiten stehen zu bleiben. Natürlich beschränke ich mich nur auf einzelne ausgewählte Fälle, wobei ich das Beispiel aus der sogenannten "erzählenden" Literatur nehme, wo diese Verhältnisse noch relativ am einfachsten liegen. Die Buddenbrooks von Thomas Mann zeichnen sich bekanntlich dadurch aus, daß die zur Darstellung gebrachten Menschen und Dinge sowie die Geschehnisse, an welchen sie teilnehmen, in großer Plastizität gezeigt werden und den Charakter einer individuellen Wirklichkeit an sich tragen. Von Anfang an hat der Leser den Eindruck, als ob er mit wirklichen Menschen in individuo in einer wirklichen Welt verkehrte und Zeuge der Geschehnisse wäre, in die sie verwickelt sind. Mit welchen Mitteln wird dieser Eindruck hervorgerufen? Der I. Teil des Romans beschreibt den Empfang im neuen Haus der Familie Buddenbrook. Er dauert ungefähr 7 Stunden, und es scheint, daß diese ganze Zeit mit dargestellten Vorgängen und Ereignissen erfüllt ist, obwohl es natürlich auch da Zeitphasen gibt, in denen man auf Grund des Textes nicht sagen kann, was passiert. 71 Im I. Kapitel werden wir vor allem mit den Personen und den Räumen, in denen sie verweilen, bekannt gemacht. Nur zu einem minimalen Prozentsatz wird dabei auf Vorgänge und Ereignisse eingegangen. Die Personen und Dinge werden statisch beschrieben, indem vor allem ihre sichtbaren Eigen7

'

Die Beschreibung dieses Abends umfaßt 49 Seiten (in der Gesamtausgabe der Werke Th. Manns). Wir müssen uns hier auf Bruchteile dieser Erzählung beschränken, und zwar auf das Kapitel I und daraus ausgewählte Teile.

292

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Schäften genannt werden, so daß der Leser sie zu sehen meint. So werden in erster Linie ihre Kleider beschrieben, wobei vor allem auf ihre Farben hingewiesen wird. Zählt man die Haupt- und Eigenschaftswörter nach, so bestätigt die Rechnung den allgemeinen Eindruck, den man bei der schlichten Lektüre gewinnt. Im I. Kapitel überwiegt die Anzahl der Hauptwörter und der Eigenschaftswörter zusammen

genommen die Anzahl der

Zeitwörter

beträchtlich. Bildet man die Summe der vier Wortkategorien: Substantive + Eigenschaftswörter + Verba finita + Adverbien - , dann beträgt die Anzahl der nominalen Ausdrücke (Substantiva + Eigenschaftswörter) 71 % dieser Summe, während die Anzahl der Verba finita nur 20 % ausmacht. Nehmen wir aber nur die drei ersten Seiten des I. Kapitels für sich, auf welchen eigentlich noch nichts geschieht und nur die Personen und Dinge beschrieben werden, dann steigt die Summe der nominalen Wendungen bis auf 79,22 %, während die Anzahl der Verba finita auf 14,66 % sinkt. Betrachten wir dagegen die letzte Seite des I. Kapitels für sich, auf welcher schon etwas zu geschehen beginnt, dann fällt die Anzahl der nominalen Wendungen auf 58,9 % ab und die Anzahl der Verba finita steigt auf 32,7 %. Nehmen wir zum Vergleich einen Abschnitt des I. Kapitels aus dem V. Teil des Romans, so verschiebt sich das Verhältnis der beiden Wortgruppen zueinander ein wenig. Hier sind die handelnden Personen sowie die Wohnräume schon bekannt und brauchen also nicht beschrieben zu werden, es geschieht aber etwas zwischen den anwesenden Personen. So beträgt die Anzahl der nominalen Wendungen jetzt 60,4 %, dagegen die Anzahl der Verba finita 26,8 % der gebildeten Wortsumme. Interessant sind auch die Schwankungen in der Anzahl der Eigenschaftswörter. Auf den ersten drei Seiten des I. Kapitels (des I. Teils) beträgt sie 32,4 %, während in der letzten Phase des I. Kapitels nur 19,6 % der berechneten Wörtersumme, im ganzen I. Kapitel aber 25,08 %, während sie auf den ersten drei Seiten des I. Kapitels des V.Teils des Romans nur 13,1 % beträgt. Auch das Verhältnis aller im I. Kapitel (I. Teil) auftretenden Eigenschaftswörter zu der Anzahl derjenigen Eigenschaftswörter, welche visuelle Eigenschaften der dargestellten

Gegenstände

bestimmen,

ist

beachtenswert. Es gibt nämlich 237 Eigenschaftswörter, wovon 112, also 47,25 %, visuelle Momente bestimmen. Es bestätigt sich also der Eindruck

§ 27. Darstellungsleistung

der Sätze und Wörter

293

des Lesers, daß Thomas Mann in diesem Kapitel vor allem die sichtbare Welt darstellt. 72 Die Behauptung über den Zusammenhang zwischen den Eigentümlichkeiten der dargestellten Welt und dem Wortmaterial des Textes wird auf diese Weise bestätigt. Sie ist aber ohne besondere Nachforschung offenkundig, da die dargestellte Welt nur ein Folgegebilde des Gehaltes der Sinneinheiten der sprachlichen Schicht des literarischen Werkes ist. Alle Eigentümlichkeiten der Doppelschicht der Sprache haben ihre Resonanzerscheinungen in der dargestellten Welt. Treten in der Sprache gewisse Abwandlungen ein, so entsprechen ihnen zugeordnete Abwandlungen in der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten. Diese Zuordnungen können die Einzeluntersuchungen zeigen. Die große Ansammlung der nominalen Wendungen und insbesondere der Adjektive in den betrachteten Teilen des Textes des Romans von Thomas Mann ist natürlich beachtenswert und weist auf eine bestimmte Technik der Darstellungsweise. Sie zeigt dem Leser die Menschen und Dinge nicht bloß in ihren visuellen, sondern vor allem in ihren dauerhaften Eigenschaften, so wie sie sich präsentierten, wenn wir sie ruhig und aufmerksam beobachteten und nicht so - oder jedenfalls nicht in erster Linie so - wie sie sich in ihrem Leben und Handeln zeigen würden. Ist aber das Übergewicht und die Anzahl der nominalen Bestimmungen schon hinreichend, um im Leser den Eindruck der Wirklichkeit und Individualität der dargestellten Gegenständlichkeiten hervorzurufen? Oder ihnen den Charakter der Anschaulichkeit und unmittelbaren

7? Die Zahlenangaben sollen nicht den Anschein erwecken, der Verfasser lege großen Wert auf statistische Berechnungen. Vor allem werden sie hier nur als eine gewisse Bestätigung für die Behauptungen verwendet, welche in einer qualitativen analytischen Betrachtung gewonnen wurden. Zweitens werden diese statistischen Berechnungen nur in einem absichtlich sehr beschränkten Umfang durchgeführt, unter Vermeidung großer Zahlen und als Beantwortung von Fragen, welche die qualitative Analyse stellt; dies alles im bewußten Gegensatz zu den statistischen Berechnungen, die jetzt massenhaft durchgeführt werden. Man macht für sie viel Propaganda in der durchaus falschen Überzeugung, daß erst auf diesem Weg die sog. "strengen" und "objektiven" Ergebnisse der Literaturforschung erzielt würden. Man macht auch diese Berechnungen auf eine ganz chaotische Weise, ohne klar zu wissen, wozu sie dienen sollen, in dem falschen Glauben, daß erst diese Berechnungen die Ziele der Forschung bestimmen werden. Das ist aber ein Thema für sich, mit dem ich mich hier nicht näher beschäftigen möchte.

294

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Anwesenheit und Nähe zu verleihen? Macht die bloße Vielheit der gegebenen Einzelheiten, daß sich der Leser vom ersten Augenblick an im Haus der Familie Buddenbrook wie zu Hause fühlt und in direkte Beziehung zu seinen Bewohnern tritt? Hängt das nicht - wenigstens zu einem großen Teil - von der Wahl der Adjektive ab, die verwendet werden? Diese Wahl wird ja durch die Erfordernisse der Gestaltung der einzelnen Personen bestimmt. Sie gehören zu drei verschiedenen Generationen und sind auch ihrer Abstammung nach nicht alle gleich. Die den einzelnen Personen beigefügten Bestimmungen z.B. die Einzelheiten der Kleidung (später auch der Sprechweise) - dienen dazu, die Individualität jeder von ihnen auch im Äußeren sofort anzudeuten und den Eindruck einer lebendigen und individuellen, durch ihr Leben und ihre Geschichte gestalteten Natur hervorzurufen. Die Bestimmtheiten werden mit Vorsicht gewählt, um eine möglichst prägnante und ausgiebige, rasche Information über die Menschen zu geben, deren Schicksale später dargestellt werden. Die große Ansammlung der Einzelheiten erklärt sich durch die Absicht des Dichters, auf möglichst raschem Weg eine konkrete Basis für die zu entwickelnde Handlung zu geben, und es auf eine Weise zu tun, welche der Verfasser selbst in einem anderen Roman die "Gründlichkeit" nennt und als künstlerisch erfolgreich rühmt. 73 Dies klärt aber die statistische Berechnung der Prozentsätze nicht; vielmehr ließe die Ausdehnung der statistischen Berechnung auf das ganze Buch diese Ansammlung verschwinden. Die Statistik klärt auch nicht, wie die Wahl der da gegebenen Bestimmtheiten der eingeführten Personen durchgeführt wird, bzw. durchgeführt werden muß, damit sie die künstlerischen Ziele der Komposition des Werkes zu realisieren ermöglicht. Das kann erst eine analytische und funktionelle Betrachtung der einzelnen gezeichneten Züge der dargestellten Personen klären, indem man ihre Funktion in der Charakterisierung der betreffenden Person beurteilt sowie ihre Rolle für die Schaffung der Grundlage für das spätere Sich-Verhalten derselben und für den davon abhängenden Verlauf der Handlung richtig versteht. Natürlich muß dabei auch der Aufbau der Sätze, in welchen diese Worte auftreten, beachtet und berücksichtigt werden. Denn es ist nicht leicht, so viele Einzelheiten der dargestellten Personen und der Räumlichkeiten in kurzer

~7Ί

"Ohne Furcht vor dem Odium der Peinlichkeit, neigen wir vielmehr der Ansicht zu, daß nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei." (Der Zauberberg,

Vorsatz S. 6.)

§ 27. Darstellungsleistung

der Sätze und Wörter

295

Form zu geben, ohne dabei trocken oder langweilig zu sein oder es endlich in schwer lesbaren Sätzen zu tun. So muß man jetzt wieder zum Aufbau der Sätze zurückkehren, aber diesmal von einem anderen Gesichtspunkt aus und mit Rücksicht auf eine andere Funktion des Aufbaus des Satzes, also nicht mit Rücksicht darauf, wie gebaute Sachverhalte von ihm entworfen werden und wie diese Sachverhalte die entsprechenden Gegenstände zur Darstellung bringen, sondern mit Rücksicht auf gewisse Eigentümlichkeiten des Satzbaues selbst, welche eine Rolle bei leichter oder schwerer Lesbarkeit des Textes spielen. Es handelt sich da auch um die Weise des Einwirkens der Sätze auf den Leser: Ob der Gang der Erzählung den Leser langweilt oder nicht, ob er ihn ermüdet oder ihm ein flottes, angenehmes Lesen ermöglicht. Wiederum eine analytische Aufgabe, die sich durch gar keine statistische Berechnung von selbst lösen läßt. Um dies zu verdeutlichen, beschränke ich mich auf den ersten Auftakt der Buddenbrooks. Den Anfang des Romans bildet bekanntlich ein aus zwei Sätzen bestehendes Fragment eines Gesprächs, das zunächst unverständlich ist. Der Zweck dieses Fragmentes ist es, beim Leser das Interesse zu wecken, daß er angeregt sei zu erfahren, worum es sich eigentlich handelt. Aber zunächst folgt keine Fortsetzung des Gesprächs. Es werden zuerst die Personen vorgestellt, die an ihm teilnehmen. Und zwar in einem Satz, der sie alle nennt. Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weißlackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt.

Es sind also fünf Personen, deren Familienbeziehungen genannt werden und deren Verteilung im Zimmer genau bestimmt wird. Beschrieben wird dagegen das Sofa mit einer Reihe von visuellen Eigenschaften. Und diese Beschreibung wird zwischen das Satzsubjekt und das Prädikat so eingefügt, daß bei sechs Bestimmungen nur ein Relativsatz eingesetzt wird. Trotz der konzentrierten Fülle der so gegebenen Informationen liest sich der Satz nicht schwer, und es muß gesagt werden, daß die ganze Situation geschickt in einem gar nicht so langen Satz entworfen wird. Dann folgt ein kurzer Satz, der die Fortsetzung des Gesprächs bildet, der aber noch keine Klärung dessen bringt, um was es sich eigentlich handelt. Die

296

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Situation klärt sich zum Teil in dem darauffolgenden, sehr langen Satz, dessen Konstruktion nicht gerade sehr geschickt und einheitlich zu sein scheint. Er umfaßt 13 Zeilen (fast hundert Wörter) und gibt zunächst eine Beschreibung der "kleinen Antonie", ihrer Kleidung und ihrer Verhaltensweise, die sich in einer Reihe von ihr ausgesprochener Worte äußert. Sie sollte nämlich einen Artikel aus dem Katechismus auswendig vortragen, was ihr unter der Mithilfe der Mutter dann doch noch gelingt. Dabei erfährt der Leser noch das Datum der Neuausgabe des Katechismus, woraus sich zugleich auch das ungefähre Datum des Gesprächs und damit des Anfangs der ganzen Geschichte ergibt. Es wird also wiederum viel durch diesen Satz erreicht, nichtsdestoweniger aber setzt er sich aus so vielen aufeinanderfolgenden, und zwar gleichgeordneten Gliedern (es sind zusammen 17 Glieder, abgesehen von drei eingeschobenen Fragmenten des Gesprächs) zusammen, daß der Leser nur mit einer gewissen Mühe dem Gang dieses Satzes folgen kann. Wenn man aber nur gut aufpaßt, verliert man sich in dem Satz nicht. Seine Konstruktion ist durchsichtig. Sie erfordert vom Leser nur ein gutes, weit ausgespanntes lebendiges Gedächtnis. Käme es bloß auf die Lösung der Spannung an, die durch die nicht recht verständlichen Fragmente des Gesprächs ausgelöst wurde, dann könnte der Satz viel kürzer und leichter faßbar sein. Er übt aber zugleich die Funktion aus, für die Verhaltensweise der kleinen Tony eine anschauliche Basis durch die Angabe einer Reihe von Zügen des Aussehens des Kindes zu schaffen. Es soll beides zugleich erledigt werden - daher die Länge und eine gewisse Kompliziertheit des Satzes. Die Darstellung der Verhaltensweise der kleinen Tony - diesmal durch Berücksichtigung ihrer inneren Erlebnisse - wird dann in den zwei darauffolgenden Sätzen fortgesetzt. Dann tritt auf die Bühne der bis jetzt nur erwähnte Großvater, "Monsieur Johann Buddenbrook", der auf Tonys Worte auf seine Weise reagiert. Diese Reaktion wird in drei Sätzen dargestellt. Sie wird nur deswegen geschildert, weil sie zur Charakterisierung des alten Herrn dient. Und in weiteren drei gleichgeordneten Sätzen wird dann seine Gestalt vermittels einer Reihe von visuell faßbaren Zügen beschrieben. Alle diese Sätze geben mehrere Einzelheiten des Aussehens und der Verhaltensweise des alten Herrn an. Sie haben eine relativ einfache Konstruktion, sind auch in ihrem Sinn leicht faßbar und erfüllen vorzüglich die Funktion, Johann Buddenbrook dem Leser in seinen konkreten anschaulichen Zügen vorzustellen. Auf eine ähnliche Weise werden dann in

§ 27. Darstellungsleistung der Sätze und Wörter

297

übersichtlichen Sätzen die beiden Damen Buddenbrook in ihrem konkreten Aussehen gezeigt, worauf endlich auch der jüngere Konsul Buddenbrook in seinem Aussehen und seiner Verhaltensweise dargestellt wird: Der Konsul beugte sich mit einer etwas nervösen Bewegung im Sessel vornüber. Er trug einen zimmetfarbenen Rock mit breiten Aufschlägen und keulenförmigen Ärmeln, die sich erst unterhalb des Gelenkes eng um die Hand schlossen. Seine anschließenden Beinkleider bestanden aus einem weißen, waschbaren Stoff und waren an den Außenseiten mit schwarzen Streifen versehen. Um die steifen Vatermörder, in die sich sein Kinn schmiegte, war die seidene Krawatte geschlungen, die dick und breit den ganzen Ausschnitt der buntfarbigen Weste ausfüllte ... Er hatte die ein wenig tiefliegenden, blauen und aufmerksamen Augen seines Vaters, wenn ihr Ausdruck auch vielleicht träumerischer war; aber seine Gesichtszüge waren ernster und schärfer, seine Nase sprang stark und gebogen hervor, und die Wangen, bis zu deren Mitte blonde, lockige Bartstreifen liefen, waren viel weniger voll als die des Alten.

So wie früher werden da die Hauptzüge dessen, was man von diesem Menschen sieht - die Kleidung, das Gesicht, die Hände - gezeichnet, wobei die Züge der Kleidung zur Charakterisierung der Mode, also mittelbar der Zeit der jüngeren Generation der Buddenbrooks dienen. Es deutet sich da eine bestimmte Technik der Darstellung an, welche Thomas Mann in seinen Romanen bzw. kürzeren Erzählungen, besonders aber am Anfang des betreffenden Werkes oft anwendet. Alles in allem wird dies alles so gemacht, daß der Leser ohne Mühe sich mit den Hauptpersonen der ihn erwartenden Geschichte (worauf später auch noch die Räume des Hauses genau beschrieben werden, um die Umwelt, in welcher diese Personen leben, in anschaulichen Zügen zu zeichnen) bekannt macht und sie dabei so dargestellt erhält, daß er sie in lebendigen, deutlichen visuellen Ansichten kennenlernen kann. Dann erst folgt die Darstellung der Geschehnisse, wobei neue Personen auf die Bühne treten und oft auf eine analoge Weise - aber wesentlich kürzer - beschrieben werden. So könnte man den ganzen Roman - Stelle für Stelle - analysieren und sich die künstlerischen Darstellungsmittel zum Bewußtsein bringen und ihre mannigfachen Funktionen in der Ausgestaltung der verschiedenen möglichen ästhetischen Konkretisationen entdecken, so daß einem dann der Zusammenhang zwischen den Elementen und Momenten des Kunstwerks aufzugehen beginnt. Die analytische Phase des forschenden Erkennens des literarischen Kunstwerks beginnt in das synthetische Stadium überzugehen.

298

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Bevor wir aber darauf eingehen, sei uns noch erlaubt, einiges über das forschende Erkennen der literarischen Kunstwerke, die einer völlig anderen literarischen Gattung angehören, zu sagen. Es handelt sich um die Frage, wie lyrische Gedichte einer analytisch-funktionellen Betrachtung zugänglich sind bzw. sein können. Denn man könnte mir vorwerfen, diese Betrachtung sei zwar bei Werken der erzählenden Kunst möglich und mit Erfolg anwendbar, sie versage aber bei einem echten lyrischen Gedicht völlig, weil sie - man könnte dies so formulieren - die innige Einheit des Gedichts zerschlage, ohne welche es überhaupt nicht recht verständlich und in seiner Kunst auch nicht erfaßbar sei. Die Schwierigkeit, vor welcher wir da stehen, beruht vor allem darin, daß lyrische Gedichte in ihrer Gestalt, ihrer Funktion und den künstlerischen Mitteln so ungeheuer verschiedenartig und an ästhetischen Effekten so außerordentlich reich sind, daß man Gefahr läuft, die Analyse bei jedem echten lyrischen Gedicht aufs neue unternehmen zu müssen, um unerlaubte Verallgemeinerungen zu vermeiden. Sie sind auch in ihrer emotionalen Stimmung so zart und gebrechlich, ^ a ß jede Analyse sie zu* zerstören, ihr inneres Gleichgewicht zu gefährden droht. So wollen wir hier nur an einigen Beispielen die Schwierigkeiten verdeutlichen, mit denen eine analytische Betrachtung lyrischer Gedichte zu kämpfen hat. Zunächst aber noch einige Worte über einige charakteristische Züge der "lyrischen" Dichtung. Es gibt aber natürlich verschiedene "lyrische" Gedichte, die in die hier angedeutete Charakteristik gar nicht passen. Sie sind eben dann "lyrisch" in einem anderen Sinn und stellen uns beim Erkennen derselben vor andere Aufgaben. Ich habe bei der Besprechung der Beispiele, die aus der sogenannten "erzählenden" Literatur genommen wurden, das Problem des sogenannten "Erzählers" ganz außer acht gelassen. Es brächte eine besondere Komplikation in unsere Überlegungen und gehört vor allem zu der Theorie des literarischen Kunstwerks einer besonderen Art und nicht zu der Theorie des Erkennens desselben, die uns hier beschäftigt. Dürfen wir aber auf dieselbe Weise mit den sogenannten "lyrischen Gedichten" verfahren? Können wir aus unseren Überlegungen das "lyrische Ich" einfach ausschließen? Dies hieße, ein solches Gedicht bloß auf die Darstellungsfunktion der Sätze reduzieren und

§ 27. Lyrik in analytisch-funktioneller

Betrachtung

299

aus dem Gedicht all das beseitigen, was vermittels dieser Sätze zum Ausdruck gebracht wird. Es hörte dann im Grund auf, "lyrisch" zu sein. Das lyrische Gedicht oder, genauer, die Sätze, aus denen sein Text besteht, bilden, wenn sie in ihrer dynamischen Entwicklung verstanden werden, eine Aussage, einen Ausspruch von jemand so Sprechendem, also des sogenannten "lyrischen Subjekts". Das Aussprechen dieser Sätze bildet eine Verhaltensweise des lyrischen Ich oder - genauer gesagt - ihr Aussprechen gehört zu seiner Verhaltensweise. Jemand, der in seiner psychischen Struktur und seinem psychischen Zustand lediglich durch die Tatsache des Aussprechens und durch den Inhalt dieser Sätze intentional bestimmt wird, verhält sich so, daß er eben diese Sätze ausspricht, bzw. sie bloß denkt, sie in sich denkt. Zu seinem ganzen Verhalten gehört etwas mehr als das Aussagen dieser Sätze, und zwar all das, was sich im Inhalt dieser Sätze darauf bezieht und was sie außerdem von seinem Leben und seiner Psyche ausdrücken. Dieses Ausdrücken, das sich im Ton des Aussprechens und in der Wahl der Worte und in ihrer Aufeinanderfolge vollzieht, gehört zu der wesentlichen Funktion des lyrischen Gedichts, das eben nichts anderes als eine Äußerung des lyrischen Ich ist. Wenn wir den vollen Gehalt eines solchen Gedichtes erfassen sollen, müssen wir nicht bloß den gesamten Inhalt der das Gedicht bildenden Sätze mitdenken und ihre sprachlautliche Seite in ihrer dynamischen Entfaltung mitbeachten und auf uns wirken lassen, sondern außerdem auch die Ausdrucksfunktion mitverstehen und das lyrische Subjekt in seinem seelischen Zustand oder in seiner momentanen psychischen Wandlung zur Konkretion bringen. Man spricht oft statt vom "lyrischen Ich" vom "Autor" des Gedichts. Wenn dieses letzte Wort das und nur das bezeichnen soll, was durch den vollen Inhalt und die Ausdrucksfunktion der Sätze des Gedichts intentional bestimmt wird, dann ist gegen diese Redeweise nichts einzuwenden. Wenn dagegen dieses Wort den Autor als den realen Menschen (also z.B. J. W. Goethe oder R. M. Rilke) bezeichnen soll, dann ist es besser, es zu vermeiden und zwischen dem lyrischen Subjekt (Ich) und dem realen Dichter streng zu unterscheiden. Das lyrische Subjekt ist ein rein intentionaler Gegenstand, der durch den gesamten Inhalt der zu dem betreffenden Gedicht gehörenden Sätze und durch ihre Ausdrucksfunktion intentional entworfen wird und einen auf diesem Weg in dem betreffenden Gedicht dargestellten Gegenstand bildet. Es ist mit den anderen im Gedicht dargestellten Gegenständlichkeiten

300

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

und auch mit dem Gedicht selbst untrennbar zu einem Ganzen verbunden. Der "Dichter" im strengen Sinn ist dagegen ein realer Mensch, der das Gedicht "gedichtet" und niedergeschrieben hat. Er verbleibt völlig außerhalb

seines

Gedichts und hat zudem viele Bestimmtheiten, die dem lyrischen Ich gar nicht zukommen. Er braucht dagegen keine solchen Bestimmtheiten zu haben - und hat sie oft auch nicht - , welche für das betreffende lyrische Ich gerade gelten. Von den Züständlichkeiten und Charaktereigenschaften des realen Dichters erfährt man auch aus verschiedenen anderen Quellen. Es ist auch sehr zweifelhaft, ob man berechtigt ist, die von ihm geschaffenen Gedichte als eine Informationsquelle über ihn zu benutzen. Manchmal kann es dafür positive Gründe geben, wenn z.B. ein Gedicht einen Teil eines reellen Briefes des Dichters an irgendeinen seiner Bekannten bildet. Sobald aber dieses gleiche Gedicht aus dem Brief herausgenommen und als ein Ganzes für sich publiziert wird, verliert es den Charakter einer wirklichen Mitteilung an jemanden. Dann muß das lyrische Subjekt ausschließlich aus dem Gesamtgehalt des Gedichtes (zu dem dann auch das Ausgedrückte gehört) herauskonstruiert werden, und alle nebensächlichen Informationen sind dann fortzulassen. In der Meinung des Dichters braucht das lyrische Subjekt gar nicht er selbst zu sein, es kann eine ganz fiktive Gestalt sein, in die sich der Dichter hineinversetzt oder hineinfühlt oder die ihm nur als eine Maske dient, hinter welcher er sich selbst verbirgt. Die Gedichte selbst sind nicht einfach psychologische Dokumente, wofür sie oft gehalten werden. Als psychologisches Dokument kann höchstens die bloße Tatsache dienen, daß der Dichter in einer bestimmten realen Situation das bestimmte Gedicht gedichtet hat. Wir wären bei vielen Gedichten in großer Verlegenheit, wenn wir verantwortlich

feststellen sollten,

daß in ihnen wirklich der Dichter sich selbst aussprechen will und nicht nur wirklich "Dichter" ist, d.h. jemand, der mit Hilfe gewählter Wortmannigfaltigkeiten eine dichterische "Wirklichkeit" gestaltet, welche für ein künstlerisches Ganzes gelten soll. Es fehlen uns dann gewöhnlich sichere Kriterien, die das zu entscheiden gestatteten. Die Unterscheidung des lyrischen Subjekts und des realen Dichters ist keine rein theoretische Haarspalterei. Erst das Auseinanderhalten dieser grundverschiedenen Gegenständlichkeiten erlaubt uns, lyrische Gedichte auf eine ihnen adäquate Weise zu lesen und zu verstehen. Setzt man den realen Dichter an die Stelle des lyrischen Ich, so führt das nur zu Mißdeutungen des

§ 27. Lyrik in analytisch-funktioneller

Betrachtung

301

Kunstwerks und in der Folge auch zu einer verfälschten Psychologie des Dichters, statt daß man bei literarischen Kunstwerken verbleibt und die dichterische Kunst betrachtet. Die in einem lyrischen Gedicht "dargestellte Welt" umfaßt somit a) die vom lyrischen Ich ausgesprochenen Sätze, bzw. Worte, welche das Gedicht ausmachen, bzw. genauer gesagt, in ihm bloß "angeführt" werden, b) das lyrische Subjekt (Ich), c) das, wovon in den Sätzen des Gedichts die Rede ist und d) alles, was diese Sätze vom seelischen und geistigen Leben und von der psychischen Struktur des lyrischen Ich ausdrücken. Oft ist der Sinn der Sätze so gestaltet, daß die in ihnen auftretenden Worte einen Bestand von dargestellten Gegenständlichkeiten bestimmen, welche eine symbolische

Funktion

ausüben und somit auf etwas völlig anderes hinweisen, was durch den wörtlichen Sinn der Sätze direkt gar nicht gemeint wird und was durch das direkt Dargestellte nur auf eine merkwürdige Weise hindurchschimmert, aber zugleich eben dasjenige ist, worum es sich eigentlich handelt. Manchmal ist in einem lyrischen Gedicht der Sinn der Sätze so gestaltet, daß das durch sie Dargestellte sozusagen in seiner Bedeutsamkeit erhalten bleibt, daß aber zugleich an ihm selbst eine völlig neue Qualität zur Erscheinung gebracht wird, die sich gar nicht direkt mit sprachlichen Bedeutungen bestimmen und um so weniger zeigen läßt: z.B. eine metaphysische Qualität oder ein notwendiger Seinszusammenhang zwischen ästhetisch relevanten Qualitäten, die berufen sind, einen ästhetischen Wert in konkreter Anschaulichkeit zu konstituieren und ihn dem Leser vor Augen zu stellen oder seinem intentionalen Fühlen zugänglich zu machen. In diesem Fall gehört zu dem, was in einem solchen lyrischen Gedicht "dargestellt" wird, auch die nur symbolisch enthüllte, sozusagen zweite "Wirklichkeit" oder jene mittelbar zur Erscheinung gebrachte metaphysische Qualität, bzw. die notwendigen Seinszusammenhänge zwischen ästhetisch relevanten Qualitäten. Und die Entwerfung und Erschauung all dieser Phänomene erlaubt eben die Verhaltensweise des lyrischen Ich zusammen mit dem von ihm ausgesprochenen Gedicht selbst zu erfassen, in die der Leser sich gleichsam einfühlen muß. Daß die den Text des lyrischen Gedichts bildenden Sätze wirklich als die vom lyrischen Ich ausgesprochenen Worte gelesen werden sollen, zeigt vielleicht am besten die von niemandem bezweifelte Tatsache, daß das lyrische Gedicht nicht ganz stumm oder lautlos gelesen werden soll, sondern entweder

302

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

effektiv - und zwar in einer adäquaten "Deklamation" - "vorgetragen" oder beim stillen Lesen mindestens als etwas aufgefaßt wird, worin die sprachlautliche Schicht des Gedichtes mit allen in ihr auftretenden lautlichen Erscheinungen - Vers- und Satz-Melodie, der die Ausdrucksfunktion ausübende Ton des Vortrags usw. - in lebendiger Imagination vorgestellt wird. Eine falsche Intonation, eine nicht adäquate Wiedergabe des Rhythmus oder der Versmelodie, eine falsche Aussprache der einzelnen Worte vernichtet leicht den inneren Zusammenhang aller Elemente des Gedichts oder droht das in ihm herrschende Gleichgewicht der ästhetisch valenten Qualitäten zu zerstören oder macht endlich die Ausdrucksfunktion der gesprochenen Sätze unwirksam, so daß sich dann das lyrische Gedicht nicht in der Fülle seiner Emotion konstituieren kann. All das bewirkt, daß sich kein echtes, wirklich wertvolles lyrisches Gedicht in eine fremde Sprache übersetzen läßt - eben weil die sprachlautliche Schicht dann durch ein völlig anderes Wortmaterial ersetzt wird, das nicht einmal all jene Funktionen ausüben kann, die im Original mühelos vollzogen wurden. Lyrische Gedichte - besonders wenn es sich um große, echte Kunstwerke handelt - können entweder in der eigenen Muttersprache gelesen werden oder auch in einer fremden Sprache, die man in dem Grad beherrscht, daß sie fast wie die Muttersprache verwendet wird. Das richtige Aussprechen des lyrischen Gedichts ist zwar für jede echte Lyrik unentbehrlich, es reicht aber nicht aus, das betreffende literarische Werk dadurch eo ipso "lyrisch" zu machen. Denn z.B. müssen die in einem Drama durch eine dargestellte Person ausgesprochenen Worte ebenfalls in ihren sprachlautlichen Eigenheiten adäquat gestaltet werden, wenn sie ihre Ausdrucksfunktion ausüben und insbesondere, wenn sie an die dramatische Situation, in welcher sie ausgesprochen werden, genau angepaßt werden sollen. Dies allein macht sie nicht zu "lyrischen" Aussagen. Das für die Lyrik Spezifische muß erst noch hinzukommen, damit sich ein lyrisches Gedicht von einer im Drama ausgesprochenen Rede spezifisch unterscheidet. Die Verhaltensweise eines lyrischen Subjekts ist auch völlig anders als das Verhalten einer Person im Drama, die eine Handlungsquelle ist. Für das lyrische Ich ist das gar nicht möglich. Es zeichnet sich durch eine eigentümliche Inaktivität aus, durch eine Unfähigkeit, wirkliche Taten in der Welt zu vollbringen (natürlich in der dargestellten Welt, zu welcher übrigens auch die Dramatis

§ 27. Lyrik in analytisch-funktioneller

Betrachtung

303

Personae gehören), Taten, die etwas Neues in der Welt hervorbringen. Das lyrische Ich nimmt eher die Einstellung eines sinnenden Betrachters ein, eines Menschen, der sich etwas zu Bewußtsein bringt und dadurch in einen Gefühlszustand versetzt oder einer Gefühlswandlung unterworfen wird. Es befindet sich auch nicht in einer Welt, in welcher das Vollführen echter Taten überhaupt möglich wäre, die von ihm selbst vollbracht würden. Das aber, was in ihm geschieht, das ist entweder eine einfache emotionale Reaktion oder ein Ausbruch des Gefühls, der sich in ihm als Folge eines Innewerdens von etwas vollzieht, was in ihm geschieht und was sich eben jetzt abspielt oder in der Vergangenheit abgespielt hat. Das lyrische Subjekt ist viel zu sehr mit dem beschäftigt, was sich in ihm abspielt, es gibt sich viel zu sehr dem hin, was es empfindet, als daß es fähig wäre, eine Tat zu vollbringen, die eine Änderung in der es umgebenden Welt hervorbrächte. Und dort, wo es - wie in der Reflexionslyrik - zu einem Gefühl infolge eines zum Bewußtsein gebrachten Gedankens kommt, erlaubt die zu große Hingabe an dieses Gefühl oder das Sich-dem-Gefühl-Ergeben nicht, einen kühlen, auf die gegenständliche Welt gerichteten Erkenntnisakt zu vollziehen. Es endet alles mit einem flüchtigen "Eindruck", mit dem, was sich dem Subjekt in seiner durch das Gefühl bestimmten Einstellung von vornherein aufdrängt, es kommt aber zu keinem ernstlich unternommenen Versuch, etwas in der es umgebenden Welt richtig zu erfassen. Ein einfacher vorübergehender Kontakt mit der Welt reicht dem Ich gerade nur aus, sich in einem positiven oder negativen Gefühl, in einem Aufbruch oder Zusammenbruch zu entladen. Einzig vielleicht in der religiösen Lyrik erscheinen für einen Moment Fragmente einer Extase, des Erreichens einer Wirklichkeit. Aber auch hier ist die Hingabe an die Stimmung des Entzückens oder der Demut der letzte Ausklang des Verhaltens des lyrischen Subjekts. Und erst im Zusammenhang mit diesen spezifischen Momenten des Verhaltens des lyrischen Subjekts - mit Momenten, die noch für sich in jedem einzelnen Fall zu untersuchen wären - treten weitere, sehr verschiedenartige Züge der lyrischen Dichtung auf. 7 4

Die neue deutsche Lyrik nach 1945, die ich übrigens nur in Bruchteilen kenne, scheint mir zu einem ganz anderen Typus zu gehören. Sie ist vor allem kühl und intellektuell und sucht die äußere Welt in scharfen, oft groben Zügen zu zeichnen. Das lyrische Ich steht dieser (dargestellten) Welt in einer kühlen Distanz gegenüber und bietet sie gewissermaßen dem Leser an, damit er tätig auf sie reagiere, es bleibt aber selbst in derselben Inaktivität, wie in

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IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Gegenstände und Sachverhalte, welche in den Sätzen eines lyrischen Gedichts entworfen werden, gehören dem Innenleben des lyrischen Ich oder seiner Umwelt an. Diese Welt ist in ihrem existentialen Grundcharakter ein intentionales Korrelat der Einstellung und des Erlebnisses des lyrischen Subjekts, obwohl sie in der Intention dieses Subjekts für real gehalten wird. Es beschreibt sie aber nicht auf objektive Weise als etwas, was von ihm völlig seinsunabhängig und was von aller Beleuchtung und allen Reflexen seiner Verhaltensweise und insbesondere von seinem Gefühl völlig frei ist, wie dies in der "epischen" Dichtung geschieht. In der letzteren ist diese Welt freilich wie in jedem literarischen Kunstwerk überhaupt - bloß dargestellt und nicht wirklich sensu stricto. Trotzdem geht die Intention der Beschreibung dahin, diese Welt in ihrem Seinscharakter und in ihrer Beschaffenheit als vom Erzähler völlig unabhängig, von ihm vorgefunden und in ihren eigenen Zügen darzustellen. Das lyrische Subjekt dagegen, wenn es sich in dem, was es spricht und denkt, auswirkt, benutzt gewisse Wendungen, Vergleiche, Metaphern und Sätze, welche alle zusammen einen gewissen Aspekt seiner Umwelt bestimmen, einen Aspekt, der durch seinen gegenwärtigen psychischen Zustand und sein Erleben bedingt ist. Populär, aber nicht ganz korrekt gesagt: in einem lyrischen Gedicht bekommt man nur ein "subjektives Bild" einer Wirklichkeit. Die für das lyrische Subjekt charakteristische Verhaltensweise hat zur Folge, daß sich jener Aspekt von derjenigen Gestalt, in welcher die dargestellte Welt in einem epischen oder in einem dramatischen Werk auftritt, wesentlich unterscheidet. Dies zeigt sich vor allem daran, daß Menschen und Dinge in einem lyrischen Gedicht nur mit einigen wenigen ganz einfachen, aber ins Auge fallenden oder irgendwie bedeutsamen Zügen gezeichnet werden, während alle Einzelheiten, die zur Festlegung der Situation nicht unentbehrlich sind, weggelassen werden. Sie zeichnen dabei die betreffenden Gegenstände nicht in dem, was für sie selbst charakteristisch ist, sondern verleihen ihnen

der hier beschriebenen, ausgesprochen emotionalen Lyrik. Die oft auftretenden, gewissermaßen programmatischen Unverständlichkeiten erschweren aber oft - wenigstens dem Verfasser dieses Buches - das Erfassen des eigentlichen Sinnes des Gedichts in dem Maße, daß er nicht einmal schwankt, wie das betreffende Gedicht zu behandeln und zu beurteilen ist (1967).

§ 27. Lyrik in analytisch-funktioneller

Betrachtung

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nur einen - meist emotionalen - Aspekt, welcher aus dem Verhältnis des lyrischen Subjekts zu ihnen entspringt, was also für dieses Subjekt von Bedeutung ist und einen Ausdruck dieses Verhältnisses bildet. Wie das Subjekt die Gegenstände seiner Umwelt sieht und fühlt, so spricht es über sie, so zeichnet es sie auch. Und es sieht sie und fühlt sie nur in dem, was für das in ihm keimende Erlebnis ausschlaggebend ist. Die auf diese Weise entworfenen Gegenstände der Umwelt des lyrischen Subjekts spielen im ganzen der gegenständlichen Schicht des lyrischen Gedichts die Rolle einer Anregung und eines Hintergrundes, aus dem die Erlebnisse und insbesondere die Gefühle des lyrischen Subjekts hervorwachsen. Diese Gefühle werden gewöhnlich gar nicht mit Worten genannt oder irgendwie sonst erwähnt, sondern sie werden sozusagen vor dem Leser vermittels der Ausdrucksfunktion der gesprochenen Sätze persönlich hervorgerufen; sie lassen sich von ihm fühlen. In der Folge dieser ganzen Sachlage urteilt das lyrische Subjekt über seine Umwelt nie auf eine verantwortliche Weise, obwohl es den von ihm entworfenen Aspekt seiner Umwelt für eine echte Wirklichkeit hält. Die von ihm ausgesprochenen Aussagen haben immer den Charakter gewisser, aus seinem emotionalen Leben fließender, innegewordener, vorübergehender Überzeugungen, in welchen das nicht genannte, bloß hervorquellende Gefühl die Form seiner Auswirkung und seiner Kulmination annimmt. Das lyrische Ich ist mit seiner Umwelt, die durch sein gerade sich entfaltendes Gefühl spezifisch gefärbt wird, viel zu innig verwachsen, als daß es fähig wäre, sich ihr gegenüberzustellen und ihre eigenen Züge in der Distanz einer objektiven (oder objektivierenden) Erkenntnis zu erfassen und über sie ein echtes Urteil zu fällen. Wenn es gewisse Sätze ausspricht, welche die äußere Gestalt der Behauptungssätze haben, so bilden sie nur den Ausdruck einer Erleuchtung oder einer Offenbarung, die aus seiner unmittelbaren emotionalen Beziehung zu seiner Umwelt erwächst. Aus den beiden hier angedeuteten wesentlichen Momenten des lyrischen Gedichts ergeben sich gewisse Folgeerscheinungen, die aber für seine besondere Struktur nicht weniger wichtig sind. Das erste, was hier zu erwähnen ist, ist die besondere Gestaltung der sprachlautlichen Schicht des Gedichts. 75 Wenn ich hier immer vom "Gedicht" spreche, so will ich damit nicht notwendig betonen, daß es in "Versen" geschrieben sein muß. Aber wenn es auch nicht in "gebundener Rede" verfaßt ist, so darf es trotzdem nicht den Charakter eines "prosaischen" Textes haben. Es

306

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Diese Schicht darf vor allem nicht fortfallen, also z.B. durch lautlose Zeichen ersetzt werden, wie dies zur bloßen Bestimmung der Satzsinne ausreichen würde, z.B. in einer mathematischen Schrift. Dies trifft übrigens für alle literarischen Kunstwerke zu. Diese Schicht muß aber auf eine besondere Weise gestaltet werden, denn sie bringt hier mit ihrem Lautmaterial und den mannigfachen sprachlautlichen Erscheinungen ein neues, spezifisch qualitativ

be-

stimmtes Element in das Ganze des Kunstwerks hinein, welches dieses Ganze auf eigentümliche Weise

bereichert,76

Dieses Element darf aber nicht beliebig und von den übrigen Schichten des Kunstwerks völlig unabhängig sein. 77 Denn sowohl die gewählten Worte selbst in ihrem Laut als auch ihre Ordnung in der Aufeinanderfolge sind im lyrischen Gedicht so bestimmt, daß sie vor allem die Funktion des Ausdrückens übernehmen können, und zwar des Ausdrückens seelischer Zuständlichkeiten des lyrischen Subjekts. Diese Zuständlichkeit - oder besser, die sich im lyrischen Subjekt vollziehende seelische Wandlung - umfaßt natürlich - je nach dem Fall - sehr Verschiedenes. Sie enthält heterogene Erscheinungen in sich, also sowohl gedankliche Erlebnisse, die zu Worten führen, als auch emotionale Erlebnisse, die sich im Ton der Aussprache offenbaren. Und "Emotion", "emotional" bedeutet da wiederum vieles Verschiedene. Es sind nicht bloß echte Gefühle, sondern auch alle möglichen "Rührungen", wie z.B. Sehnsucht, Begierde, Wunsch, Wehmut, Klage usw. Und die sprachlautliche

muß "Dichtung" sein, d.h. die sprachlautliche Schicht muß besonders gestaltet werden, wodurch sie sich im Ton von der gewöhnlichen Umgangssprache unterscheidet. Darauf haben besonders die russischen Formalisten hingewiesen, wobei sie von einer "autonomen" Rolle der Wortlaute sprachen. Inwieweit und in welchem Sinn hier von einer "Autonomie" gesprochen werden darf, ist eine Frage für sich. Sicher ist aber, daß es keine "stumme", "lautlose" Poesie geben kann. Das war der Grund, warum ich bei einer allgemeinen Betrachtung literarischer Kunstwerke eine besondere Schicht der sprachlautlichen Gebilde und Erscheinungen unterschieden habe. Vgl. Das literarische

Kunstwerk,

Kapitel 4.

77 Das macht eben die Rede von einer "Autonomie" der sprachlautlichen Gebilde verdächtig. Daß es in manchen lyrischen Schichten in der Romantik - wie gezeigt wurde - sozusagen "verselbständigte" sprachlautliche Gebilde gibt, die keinen Sinn bestimmen und mehr als Melodie oder Rhythmus fungieren, beweist nicht, daß sie auch sonst völlig autonom sind und ein völlig sinnloses Gebilde bilden. Auch da ist ihr Vorhandensein in einem sprachlichen Kunstwerk nur deswegen berechtigt, weil sie eine bestimmte Funktion - und zwar eine dienende Funktion - im Ganzen des Gedichtes ausüben.

§ 27. Lyrik in analytisch-funktioneller

Betrachtung

307

Gestalt des Gedichts bringt es nicht bloß zum lebendigen, unwillkürlich sich vollziehenden Ausdruck, sondern trägt zugleich gewisse entsprechende "emotionale" Charaktere in sich selbst. "Entsprechende", d.h. solche, die mit der emotionalen Atmosphäre (Stimmung), in welcher sich das lyrische Subjekt mit seiner Umwelt gerade erlebnismäßig befindet, zusammenstimmen, mit ihr in einer qualitativen Harmonie stehen. Der emotionale Charakter der sprachlautlichen Schicht klingt mit der emotionalen Atmosphäre des lyrischen Subjekts und seiner Umwelt in einem Akkord dieser oder jener Art. Es gibt da unzählige, sich tief voneinander unterscheidende, mögliche Zusammenklänge, die manchmal auch in einem Widerstreit kulminieren können. Eins aber darf nicht sein: daß nämlich in der sprachlautlichen Schicht des Gedichts eine völlig neutrale, jeder emotionalen Färbung beraubte Atmosphäre herrscht. Denn dann könnte diese Schicht erstens die ihr obliegende Ausdrucksfunktion kaum ausüben, zweitens aber wäre sie im Aufbau des Gedichts als eines Kunstwerks völlig entbehrlich, indem sie dann nur die Funktion der Bedeutungsträger - wie etwa in einem mathematischen Werk ausübte, aber jeder künstlerischen Rolle beraubt wäre. Sie könnte dann durch eine Mannigfaltigkeit lautloser Zeichen ersetzt werden. Führen aber die sprachlautlichen Erscheinungen in einem Gedicht zu einem Zusammenklang mit seinen anderen Schichten, dann können sie ohne eine wesentliche Änderung seiner künstlerischen Gestalt nicht durch eine andere Mannigfaltigkeit solcher Erscheinungen ersetzt werden. Es gibt aber noch eine Funktion der sprachlautlichen Schicht, die bei allen literarischen Kunstwerken nicht irrelevant ist, aber in lyrischen Gedichten eine besondere Rolle spielt. Das ist die Funktion des emotionalen Einwirkens auf den Leser. Dieses "Einwirken" kann sehr verschiedener Art sein; im allgemeinen beruht es einerseits auf der Weckung entweder eines bloß emotionalen Mitklingens mit den im Gedicht zum Vorschein kommenden emotionalen Wandlungen oder auch dessen, daß der Leser für diese Wandlungen verständnisvoll gestimmt wird, andererseits aber in der Weckung der ästhetischen Ursprungsemotion, welche dem Leser die ästhetische Erfassung des Gedichtes ermöglicht. Natürlich kann diese doppelte Funktion der sprachlautlichen Schicht des Gedichts nur in Gang gebracht werden, wenn in ihr entsprechend gestaltete Gebilde in Erscheinung treten. Sie können sehr mannigfacher Art sein und lassen sich ganz allgemein ihrer Art nach nicht charakterisieren. All dies hat zur Folge, daß jedes echte,

308

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

wirklich wertvolle lyrische Gedicht unübersetzbar ist. Und zwar gilt dies vor allem mit Rücksicht auf den reinen emotionalen Zusammenklang der sprachlautlichen Schicht mit den übrigen Schichten des Gedichts, zweitens aber in bezug auf die Entsprechung der in den verschiedenen Schichten potentiell bestimmten ästhetisch relevanten Qualitäten, welche in ihrem letzten Ausklang den ästhetischen Wert der möglichen ästhetischen Konkretisationen des Gedichts bilden. Wie sich dies alles im Einzelfall gestaltet, kann in keiner schlichten, ohne Unterbrechung in ästhetischer Einstellung verlaufenden Lektüre wirklich zu klarem Bewußtsein gebracht werden, so sehr auch der Leser durch das Gedicht und die Fülle seiner Erscheinungen berührt und bereichert wird. Es entsteht aber die Frage, ob überhaupt, und eventuell in welchem Maße, dies mit Hilfe einer analytischen erforschenden Betrachtung des lyrischen Gedichts erreicht werden kann. Bevor ich darauf eine Antwort zu geben versuche, möchte ich auf noch einen charakteristischen Zug der lyrischen Dichtung hinweisen. Es kommt da auf die Zeitphänomene an, die im lyrischen Gedicht zur Darstellung gebracht werden und die auch in der Ordnung der Aufeinanderfolge der Phasen des Gedichts zur Erscheinung gelangen. 7 8 Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die hier wenigstens andeutungsweise berücksichtigt werden müssen. Es gibt zunächst Gedichte der sogenannten reflexiven Lyrik, in denen es in der das lyrische Subjekt umgebenden Umwelt anscheinend gar nicht zur Konstituierung eines bestimmten Zeitmoments kommt. Zum Beispiel: Rainer Maria Rilke, Buch der Bilder, Schlußstück79 Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns.

78 Es wurde bereits im II. Kapitel [§ 18] dieses Buches auf sie hingewiesen. Uns geht es um damit im Zusammenhang stehende Probleme. 79 andere, Wir haben dieses Gedicht schon einmal analysiert [§ 18, S. 155]. Wir tun es jetzt von einem anderen Standpunkt aus.

§ 27. Lyrik in analytisch-funktioneller

Betrachtung

309

oder: Initiale Aus unendlichen Sehnsüchten steigen, endliche Taten wie schwache Fontänen, die sich zeitig und zitternd neigen. Aber, die sich uns sonst verschweigen, unsere fröhlichen Kräfte - zeigen sich in diesen tanzenden Tränen.

In dem, worüber in diesen Sätzen gesprochen wird, vollzieht sich gar kein individuelles Geschehnis; somit gibt es auch keine eindeutige Situierung in einem bestimmten Zeitmoment. Es wird ein allgemeiner Gedanke über den Tod und das Leben, bzw. über die menschlichen Taten in dichterischer Weise ausgesprochen. Und zwar wird in beiden Fällen auf solche ihrer Eigentümlichkeiten hingewiesen, die zu ihrem Wesen zu gehören scheinen, auf etwas also, was in jedem Fall stattfindet und somit überzeitlich ist. Wenn wir aber diese Gedichte in ihrem vollen Gehalt nehmen, also unter Berücksichtigung des sprechenden lyrischen Subjekts, so merken wir, daß es in ihm zu einem Innewerden dessen kommt, was den Wesenszug des Todes, bzw. den der menschlichen Taten bildet. So kann hier doch nicht gesagt werden, daß überhaupt nichts geschieht. Denn es geschieht eben im lyrischen Subjekt jenes Innewerden bzw. Sich-zum-Bewußtsein-Bringen. Wenn wir indessen fragen, wann es dazu kommt, an welchem Tage, um welche Stunde, so kann darauf keine Antwort gegeben werden. Vielleicht würde uns hier ein Literaturforscher sagen: man müsse eben nachforschen und das Datum ausfindig machen, an welchem dieses Gedicht geschrieben wurde. Dies bedeutete aber eine Verfälschung des Textes. Denn sicher kommt es nicht auf jenen Tag an, an dem Rilke dieses Gedicht verfaßt hat. Es kommt auf die sich vollziehende Einsicht überhaupt an, darauf, daß man zu ihr kommt, man, d.h. irgendwer. Es handelt sich eben um das sonst auf keine Realität bezogene lyrische Subjekt, welches nur durch den Vollzug dieses Innewerdens und die Erreichung dieser Einsicht und endlich durch die aus ihr sich ergebende tragische Ruhe individuiert wird. Es bleibt aber trotzdem nur "jemand", in dem sich dies alles vollzieht, ein Jemand, der jeder von uns sein könnte. Sowohl das Innewerden, die sich daraus entfaltende Emotion als auch die Verwandlung des Innewerdens in die Emotion vollzieht sich in der Zeit, und zwar in einem Moment. Das Wesentliche

310

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

dabei ist, daß es einerseits kein bestimmter, einmal im Zeitfluß gelegener Moment ist noch sein soll, sondern daß er sich über den konkreten Zeitfluß der realen Welt erhebt, daß andererseits aber die im Gedicht entworfene Situation eine innere momenthafte Zeitstruktur aufweist. Alles, was mit und in dem lyrischen Subjekt geschieht, kondensiert sich sozusagen in einer (gewissermaßen überzeitlichen) Gegenwart. Diese Kondensation zu einer Gegenwart vollzieht sich nicht bloß im Gehalt des Gedichts, sondern auch in der Gesamtheit der im Gedicht auftretenden und aufeinanderfolgenden Verse bzw. Sätze. Um das Gedicht adäquat zu erfassen, muß man die Fähigkeit haben, sowohl das in ihm zur Darstellung Gebrachte als auch die aufeinanderfolgenden Sprachgebilde in einem konkreten (Gegenwarts-) Moment zusammenzufassen. Sonst wird das Ganze des Gedichts in Stücke zerschlagen. So drängt sich wiederum die Frage auf, ob und wie es möglich ist, ein derartiges lyrisches Gedicht in einem analytischen forschenden Erkennen zu erfassen. Kann es für uns in diesem Fall etwas mehr als ein schlichtes Lesen geben oder vielmehr noch weniger? Gewiß, bei einer schlichten Lektüre erlebt der Leser unmittelbar diese Konzentration in einer Gegenwart, und diese ursprüngliche Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen. Aber das in ihr Erfahrene, eben jenen besonderen Gegenwartsaspekt in seiner Eigentümlichkeit thematisch zu erfassen, erlaubt uns erst eine besondere reflektive Hinwendung, die sich erst einstellt, nachdem es uns gelungen ist, nicht bloß diesen Gegenwartsaspekt schlicht zu erleben, sondern ihn als ein Ergebnis analytisch in dem aus dem Gesamtgehalt des Gedichtes hervorgehobenen Moment synthetisch zu verstehen. Hier - wie schon an mehreren angedeuteten Stellen - geht die analytische vorästhetische Betrachtung des Gedichtes unmittelbar in eine synthetische Zusammenfassung der analytisch gewonnenen Ergebnisse über. Sie wäre ohne das ursprüngliche, schlichte Erleben während einer einfachen Lektüre und ohne die streng analytische Betrachtung nicht möglich. Wenn sie aber auf dieser Grundlage vollzogen wird, gibt sie in dem Sinn etwas mehr als eine sozusagen naive, schlichte Lektüre eines literarischen Konsumenten, daß sie das im ursprünglichen Erleben schlicht Erfahrene in den Lichtkegel der scharfen Erfassung bringt, die uns erst das echte Wissen von dem zunächst bloß Erfahrenen liefert. Nicht alle lyrischen Gedichte scheinen so konzentriert zu sein wie die oben zitierten. Nichtsdestoweniger gibt es viele solcher Gedieh-

§ 27. Lyrik in analytisch-funktioneller

Betrachtung

311

te, 8 0 und so ist die Frage danach, wie das analytische forschende Erkennen auf sie angewendet werden kann, von besonderer Wichtigkeit. Derartige Gedichte weisen in doppeltem Sinn eine innige qualitative Einheit auf: in bezug auf den Zusammenklang der verschiedenen Schichten, insbesondere in ihren ästhetisch relevanten Qualitäten, und in bezug auf die in ihnen auftretenden Zeitphänomene: die Gestalt einer "kondensierten" Gegenwart. In einer schlichten, ununterbrochenen, in ästhetischer Einstellung durchgeführten Lektüre kann beides in seiner innigen Einheitlichkeit konstituiert und erfaßt (oder mindestens erlebt) werden. Die analytische Betrachtung - wenn wir z.B. die einzelnen Sätze im "Schlußstück" lesen und auf den Satzbau achtgeben - scheint dagegen das Ganze des Gedichts so weitgehend zu zerschlagen, daß es zweifelhaft wird, ob dann noch der polyphone Zusammenklang der Qualitäten zum Vorschein kommt. Wir bringen uns dann z.B. die Einzelheiten der sprachlautlichen Schicht nicht klar zu Bewußtsein. Wir merken z.B. nicht, daß es auf das Wort "groß" gar keinen Reim gibt, während das weiche und singende (wiegende) "seinen"-"meinen"-"weinen" auf merkwürdige Weise mit dem kurzen und scharfen, abbrechenden "Munds" -"uns" kontrastiert. War es künstlerische Absicht, daß das "groß" allein ohne Zusammenklang da steht, oder war es bloß die technische Schwierigkeit, einen treffenden Reim darauf zu finden? Und ist der Kontrast zwischen dem "seinen"-"meinen"-"weinen" und "Munds"-"uns" rein klanglicher Natur und erschöpft er sich in der Bildung eines Zuges der musikalischen Versmelodie, oder bildet er zugleich ein sinnhaftes Analogon zu dem im Inhalt der Sätze ausgesprochenen Kontrast zwischen dem Leben und dem mit ihm irgendwie verwachsenen Tod? Ist dieses "uns" nur sozusagen aus rein inhaltlichen Gründen in den Text des Gedichts eingefügt, oder soll dieser kurze, abbrechende Laut wiederum symbolisch fungieren, als ein Analogon zum Abbruch des Lebens durch den Tod? Ist das sich wiederholende "mitten" vom Dichter nur aus Versehen im Text belassen worden, oder ruft es gerade da einen besonderen phonetischen Akzent hervor, wo die beiden sich andeutenden, verschiedenen Bedeutungen dieses Wortes hervorgehoben werden sollen? Ohne diese Fragen entscheiden zu wollen, weisen wir auf sie hin, um anzudeuten, wie die rein lautliche Seite des Gedichts nicht bloß als ein klangliches Element eine

KO In der Lyrik des jungen Goethe kann man viele Beispiele finden.

312

IV. Abwandlungen des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

Rolle im Aufbau des Gedichts spielen kann, sondern auch gewisse symbolische Funktionen auszuüben vermag, deren Beachtung in analytischer Betrachtung zur Klärung der inneren Beziehungen zwischen den Elementen des Kunstwerks beiträgt. In erster Linie muß aber die inhalts-logische Struktur des Gedichts analysiert werden. Im "Schlußstück" sind drei Sätze enthalten. Die zwei ersten sind einfache prädikative Sätze, während der dritte ein zusammengesetzter - der Form nach - hypothetischer Satz ist. Wie ist aber das "wenn" in seinem Vorsatz zu verstehen? Soll es wirklich ein rein hypothetisches "wenn" sein oder eher soviel bedeuten wie "immer, wann" - seil, "wir uns mitten im Leben meinen"? Es kann auch erwogen werden, was die Wendung "wir sind die Seinen" bedeuten soll. Heißt es soviel wie "wir sind in seiner Macht" oder "droht er uns ständig" usw.? Beides ist aber schon eine Interpretation eher prosaischer Art, die dichterische, wenn auch nicht ganz eindeutige Wendung sagt uns mehr, schlicht, aber doch auf eindringlichere Art, wie wir dem Tod ausgeliefert sind. Kehren wir aber zu den Sätzen selbst zurück. Der erste bildet eine bündige, schlichte Feststellung: "Der Tod ist groß." Die darauf folgenden Sätze bilden eine Begründung *dieser Feststellung*, indem sie darauf hinweisen, daß der Tod sowohl in die fröhlichen Bereiche des Lebens als auch in unser Innerstes eingreift. Nicht ohne Bedeutung ist auch der Titel. Er soll gewiß nicht bloß den Sinn haben, daß dieses Gedicht am Schluß des Buches steht, sondern auch, und vor allem, daß dasjenige, was in ihm zum Bewußtsein gelangt, ein letzter Ausklang jener so verschiedenen Gestalten des Lebens und der menschlichen Rolle in ihm ist, die im "Buch der Bilder" entwickelt worden sind. Es ist ein bedeutsames Pendant zum Sinn des hier ebenfalls zitierten Gedichts "Initiale", in welchem die menschlichen Taten zwar in dichterischer Paraphrase als "schwache Fontänen" und "tanzende Tränen" gezeichnet werden, aber doch zugleich als dasjenige, in dem sich uns "unsere fröhlichen Kräfte" zeigen. All das ist aber so gesagt, daß es nicht Philosophie ist (wie so viele R. M. Rilke unberechtigterweise zu einem Philosophen stempeln wollten). Es ist kein Heideggerscher Traktat vom "Sein zum Tode". Nein! In einer einfachen, schlichten Feststellung wird der Tod in seiner Anwesenheit "mitten in uns" einfach gezeigt, alles in einem mit tragischer und doch erschütternder Ruhe sich vollziehenden Innewerden des "Dichters", wie man sagt, d.h. des lyrischen Ich. In diesem Innewerden,

§ 27. Thematische Objektivierung und Zerstörung der Werkhierarchie

313

das zur Aussprache gelangt ist, prägt sich der zu dieser Einsicht gelangende Mensch aus, der sie mit Ernst und Ruhe zu ertragen vermag. Natürlich bringen wir uns all das nicht in der ersten schlichten Lektüre zu klarem Bewußtsein. Sobald wir es im analytischen Nachdenken erfaßt haben, können wir zu der einfachen Lektüre zurückkehren. Und dann erscheint uns das Ganze des Gedichts nicht notwendig in einem neuen, aber doch in einem alles durchdringenden Verständnis, welches das Erleben des im Gedicht vibrierenden Gefühls nicht stört, sondern ihm sich frei zu entfalten erlaubt. Und wir erleben dann auch das Ganze, das uns das Gedicht zugänglich macht, das Ganze, das es selbst ist, im Bewußtsein des es durchgreifenden einheitlichen Zusammenklanges aller seiner Elemente und Momente. Man wird da aber gegen uns einwenden: Wenn wir uns - wie oben - solche Fragen bezüglich der sprachlautlichen Erscheinungen und dann bezüglich des syntaktisch aufgebauten Sinns der aufeinanderfolgenden Sätze stellen, haben wir dann nicht den lautlichen, sich wandelnden Fluß und die Melodie der Verse verloren? Wir unterbrechen ja auch den freien einheitlichen Gang des Gedankens und stellen lose, abgetrennte Sätze nebeneinander, welche die Lebendigkeit der Entwicklung verloren haben. Wir müssen das Gedicht aufs neue fortlaufend lesen, um die lebendige Melodie des Gedichts zu rekonstituieren, und es ist doch nur eine Rekonstituierung, welche die Musik der Sprache nicht mit derselben Frische wiedergibt, die wir bei der ersten Lektüre empfunden haben. Auch der sich bei der ersten Lektüre zuerst enthüllende Gedanke steht jetzt von vornherein als fertig und bekannt vor uns da, und die Effekte, die mit dem ersten Begreifen verbunden waren, fallen jetzt fort. Bei der analytischen Betrachtung der beiden Schichten der Sprache vollziehen wir die Ausdrucksfunktion der im Text auftretenden Sätze nicht mit, so daß uns die Stimmung des lyrischen Subjekts entschwindet, die uns bei der ersten Lektüre in ästhetischer Einstellung aufgedrängt wird und uns bewegt. Ein wesentliches Moment des Kunstwerks erscheint nicht mehr in unserem Erfahrungsfeld usw. Nun, dies alles ist natürlich wahr. Aber dies spricht nicht gegen die Möglichkeit und Nützlichkeit der Anwendung einer solchen Analyse. Natürlich muß ihr, wie schon bemerkt wurde, eine schlichte Lektüre des Gedichts vorangehen, damit wir den ersten Eindruck von dem lebendigen Ganzen des Gedichts gewinnen. Und wir müssen auch nach der Analyse das Gedicht aufs

314

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

neue schlicht lesen, also eine synthetische Erfassung des Ganzen erzielen. Die dazwischen eingeschobene analytische Betrachtung kann uns aber auf Einzelheiten aufmerksam machen, die uns bei der ersten Lektüre entgangen sind. Und sie kann infolgedessen unsere spätere Erfassung des Gedichts bereichern und vervollkommnen. Sie kann uns auch dazu verhelfen, den Sinn des Gedichts viel eindeutiger als zu Anfang zu erfassen. Sie kann uns als Literaturforscher und insbesondere als Forscher, die sich für die künstlerische Technik interessieren, über den künstlerischen Aufbau und die künstlerische Leistungsfähigkeit des Gedichts (d.h. über seine rein künstlerischen Werte) belehren. Dies alles wäre für uns ohne die analytische Betrachtung nicht erreichbar, weil wir bei der schlichten Lektüre, die wir als ästhetische Konsumenten durchführen, zwar von diesen Leistungsfähigkeiten Gebrauch machen, sie ausnützen, um die ästhetischen Werte des Gedichts zu konkretisieren, uns aber diese Fähigkeiten als besondere künstlerische Mittel nicht zu Bewußtsein bringen können. *Es ist etwas anderes, ob man gewisse Fertigkeiten ausnützt, sich gewisser Mittel bedient, oder ob man diese Mittel in ihrer Eigenart und Leistung objektiviert und als eigene Gegenständlichkeiten erkennt.* Und auf dieses neue Erkennen können wir uns bei der schlichten Lektüre des Gedichts nicht einlassen, weil es die schlichte Anwendung dieser Mittel und damit auch die Lektüre des Werkes unmöglich machte. Ja gewiß, man würde uns vielleicht sagen: die analytische Betrachtung vernichtet eben den "ersten Eindruck" des Gedichts. Sie beseitigt verschiedene konkrete Phänomene, z.B. jene Kondensierung einer Mannigfaltigkeit von vorübergehenden Phasen des Gedichts zur dichterischen Gegenwart, und beraubt uns eben derjenigen Effekte, welche für die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes ganz unentbehrlich sind. Und noch eins: sie hindert uns im Grunde, diesen Gegenstand aufs neue zu konstituieren, da sie den echten Aufbau des Kunstwerks in falschen Proportionen zeigt. Sie zerstört die den Elementen des Gedichts eigene Hierarchie, indem sie unwichtige, nebensächliche Momente, die bei normaler, schlichter ästhetischer Erfassung kaum mitklingen, wie durch ein Vergrößerungsglas beobachtet und ihnen Ausmaße und eine Bedeutsamkeit verleiht, die ihnen gar nicht gebühren, andere dagegen gleichzeitig in die Peripherie rückt und sie somit zu kaum spürbaren Momenten macht. Die vergrößerten, zum Thema der Betrachtung gemachten Momente, in sich analysiert, zeigen zudem Momente (eine Mikrostruktur

§ 27. Thematische

Objektivierung

und Zerstörung

der

Werkhierarchie

315

gewissermaßen), die beim schlichten Erfahren des Ganzen des Werkes überhaupt unsichtbar sind. Dadurch werden gewissermaßen in das betreffende Gedicht (oder Kunstwerk überhaupt) Einzelheiten hineingetragen, die gar nicht in ihm vorhanden sind und auch nicht vorhanden sein sollen, weil sie, durch die Analyse sichtbar (eventuell fühlbar) gemacht, die Hierarchie der Momente und damit auch den "natürlichen" Zusammenklang der Qualitäten stören, wenn nicht sogar zerstören. Der Vorwurf lautet also: das analytische Verfahren in der Betrachtung der Dichtung (oder auch der Kunst überhaupt) macht gewisse Züge oder Elemente des Gedichts unsichtbar, und damit bewirkt sie auch, daß sie nicht vorhanden sind, andere dagegen, welche unsichtbar oder kaum sichtbar sind und so bleiben sollen, bringt sie zur deutlichen Erscheinung. So wie das z.B. eine Mikrophotographie von sehr kleinen Bestandteilen der Dinge oder eine sehr scharfe, äußerst kurz belichtete (ein Tausendstel einer Sekunde dauernde) photographische Aufnahme vom bewegten Meeresspiegel macht. Das Gedicht (das Kunstwerk überhaupt) enthüllt uns dann wirklich neue, unerwartete Einzelheiten. Kommen sie ihm denn aber wirklich zu? Und sollen sie bei der intuitiven Aufnahme des Gedichts in seinem Ganzen mitklingen? - So könnte etwa Benedetto Croce oder ein Henri Bergson sagen, indem er eine - wie er sagt - "intellektuelle" Analyse verwirft und lediglich ein intuitives Erschauen des Kunstwerks postuliert. Der eventuelle Vorwurf Croces ist gewiß ernst, besonders dann, wenn man zugibt, daß das - übernehmen wir dies Wort für eine Weile! - "intuitive" Erfassen des dichterischen Werkes oder - in unserer Sprache - das ästhetische Erleben des Gedichts mit emotionalen Momenten durchsetzt ist, deren Ergebnis im erfaßten Werk sehr schwer "auf einen Begriff zu bringen ist. Es ist auch die Frage, ob die ästhetische Konkretisation des literarischen Kunstwerks (und des Kunstwerks überhaupt) erkannt werden kann, ohne daß die ästhetischen Werte aus dem Blickfeld verschwinden. Außerdem ist zu beachten: Bereits bei der Lektüre des Werkes, die man sozusagen zu "Konsumptionszwecken" unternimmt, macht man sich - wie die Ausführungen des I. Kapitels erwiesen haben - in zusammengesetzten Erlebnissen mit verschiedenen Schichten des literarischen Kunstwerks bekannt und unterscheidet sie in gewissem Maß voneinander. Man tut es aber bezüglich mancher Schichten (z.B. mit der Schicht der sprachlautlichen Gebilde

316

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

oder der Schicht der Sinneinheiten) eher nur im Vorbeigehen, beim Übergang zu anderen Schichten und zur Erfassung des Ganzen des Werkes. Beim betrachtenden Erkennen des Werkes dagegen zerschlägt man bis zu einem gewissen Grade dieses, zwar schichtenmäßige, aber doch innig innerlich gebaute Ganze in die einzelnen Schichten, ohne daß man auf seine übrigen Elemente besonders acht gibt, und man erkennt diese Schichten in ihrem Aufbau einzeln für sich. Denn auch jede dieser Schichten wird dann in einzelne Elemente und Erscheinungsmomente auseinandergelegt, z.B. die sprachlautliche Schicht in die einzelnen Wortlautzusammenhänge (z.B. in der Dichtung in die einzelnen Verse oder sogar in die einzelnen Worte, damit sie in ihrer Eigentümlichkeit für sich erfaßt werden). Dies ist die "analytische" Phase des betrachtenden Erkennens des Werkes. Schon in dieser Phase aber verführe man falsch, wenn man die einzelnen Elemente (z.B. die einzelnen Worte) in völliger Absonderung betrachtete, ohne diejenigen Merkmale oder Erscheinungen zu beachten, die ihnen als Bestandteilen eines gewissen Ganzen und auch als Elementen, welche in der Nachbarschaft bestimmter anderer Elemente auftreten, zukommen, und auch ohne die Funktionen zu berücksichtigen, welche das betreffende hervorgehobene Element in einem gewissen Ganzen ausübt. 81 Die Entdeckung all dieser Momente bildet gewissermaßen den Übergang zur synthetischen Phase des betrachtenden Erkennens des literarischen Kunstwerks. In dieser neuen Phase wird die ursprünglich durchgeführte Zersetzung des Werkes *in einzelne Fragmente allmählich beseitigt durch die Entdeckung der Zusammenhänge zwischen ihnen und insbesondere* durch die Erfassung der Ganzheiten immer höherer Ordnung und der neuen Zusammenhänge zwischen diesen Ganzheiten, bis auf die Zusammenfassung des ganzen Werkes in seinen in letzter Synthese gefundenen Eigentümlichkeiten. Trotz dieser abschließenden Synthese bleibt das literarische Kunstwerk in dem endgültigen Ergebnis der betrachtenden analytischen Erkenntnis in eine Mannigfaltigkeit einzelner Sätze auseinandergelegt, die auch wenn sie in einem innig zusammenhängenden System verbunden werden - doch kein adäquates Äquivalent des einheitlichen "Bildes" des Werkes bilden kann, das man in einem ursprünglichen, aktiven Lesen des

fi I

Ich habe dies im I. Kapitel [§ 8] bei der Analyse des Verstehens der einzelnen Worte und Sätze besprochen.

317

§ 27. Thematische Objektivierung und Distanz zum Erkannten

Werkes, besonders wenn es sich in ästhetischer Einstellung vollzieht, erlangen kann. Dafür liefert sie aber eine Klärung und begriffliche Fassung einer Reihe von Einzelheiten, die man beim einfachen Lesen entweder nicht für

sich

beleuchtet

oder

wenigstens

nur

ohne

eine

thematische

Vergegenständlichung erfaßt. Zu beidem kommt es beim einfachen Lesen nicht etwa infolge einer Nachlässigkeit nicht, sondern weil einem literarischen Konsumenten vor allem an der synthetischen Erfassung des Ganzen des Werkes liegt, wobei es zu einer gewissen Hierarchie hinsichtlich der Klarheit und Deutlichkeit des Auftretens der einzelnen Seiten und Elemente des Werkes wie auch hinsichtlich ihrer Objektivierung kommen muß. Diese Hierarchie wird in hohem Maß durch das Werk selbst bestimmt, obwohl auch das Interesse und die Neigungen des Lesers auf ihre Gestaltung einen oft störenden Einfluß haben. Die Phase des analytischen Erkennens des Werkes verletzt gewissermaßen diese Hierarchie. Denn um eine objektive Erkenntnis der einzelnen Seiten (Schichten) und Momente des Werkes zu erlangen, sucht man alle untersuchten Elemente zu demselben thematischen

Objektivierung

Grad der Deutlichkeit

und

zu bringen. Es ist gewissermaßen so, als wenn

wir ein größeres Ding, das man gewöhnlich mit bloßem Auge sieht, mit einer starken Lupe betrachteten. Wir bemerken dann manche Einzelheiten, die beim normalen Sehen zusammenfließen, dafür können wir aber die Gestalt des ganzen Dinges nicht sehen. Und man muß erst die Gegebenheiten der einzelnen Betrachtungen durch die Lupe gedanklich miteinander verbinden, um sich ein künstliches, begriffliches Erkenntnis-Äquivalent dessen zu bilden, was im gewöhnlichen Sehen auf einmal gegeben ist bei gleichzeitiger Verschwommenheit der Einzelheiten. Worauf beruht aber die "thematische Objektivierung" im betrachtenden Erkennen des literarischen Kunstwerks? Sobald man sich auf einen Gegenstand betrachtend einstellt, sucht man sich ihm so zuzuwenden, daß er in das Zentrum des Aufmerksamkeitsfeldes fällt, daß er das Hauptthema unserer Erkenntnisakte wird. Dasjenige, was nur nebenbei und flüchtig zu unserem Bewußtsein gelangt, was nur empfindungsmäßig gefühlt wird und sich infolgedessen auch nur undeutlich anzeigt, wird durch diese Einstellung zum Ziel der

318

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

bewußten und oft beabsichtigten Gerichtetheit unserer Erkenntnisakte. 8 2 Der Übergang von einer Weise des Erkennens zur anderen vollzieht sich nicht immer auf einmal, abrupt, sondern erfordert oft manchmal sehr mühsame Versuche. Denn dies, was uns bloß von der Peripherie her berührt, tritt oft in einer so undeutlichen Gestalt auf, daß wir sogar in dem Moment, in welchem wir uns dafür zu interessieren beginnen, nicht klar wissen, was wir und wo wir es suchen sollen. Zudem kommt es noch vor, daß gerade dasjenige, wonach wir suchen, gerade deswegen aus unserem Blickfeld verschwindet oder wenigstens undeutlicher wird, weil wir es suchen. Es ist dann vorteilhaft, für einige Zeit in die Einstellung des bloß passiven und unwillkürlichen Erlebens zurückzukehren, um gewissermaßen mit einem schielenden Seitenblick zu erfassen, was sich uns zunächst nur sehr undeutlich angezeigt hat. Dann erst muß man zur Einstellung des direkten Gerichtetseins auf die betreffende Erscheinung zurückkehren. Aber auch dann, wenn es uns schon gelungen ist, diese Einstellung zu gewinnen, zeichnet sich dasjenige, was sich bereits im Zentrum unserer Aufmerksamkeit befindet, nicht deutlich und klar genug ab. Es sind dann noch weitere Versuche nötig, eine größere Konzentration, eine Steigerung der geistigen Erkenntnis-Aktivität zu gewinnen, damit es möglich wird, den betreffenden Gegenstand oder die Erscheinung mit voller Klarheit und Deutlichkeit zu erfassen. Dann erst wird es zum "Thema" unserer Erkenntnisakte, und dann erst erkennen wir es in betrachtender Einstellung im exakten, strengen Sinn des Wortes. Die Folgen des Übergangs vom pheripheren Erleben zum thematischen Erkennen sind verschiedenartig. Am häufigsten hat man unterstrichen, daß dabei die Klarheit des Auftretens des Gegenstandes vermehrt und seine Merkmale stärker differenziert werden. Es gibt aber noch viel wichtigere Folgen dieses Überganges. Erst bei einer solchen thematischen Einstellung kommt es zu einer deutlichen Gegenüberstellung

dessen, was wir erkennen,

und uns selbst als Vollzieher der thematisch eingestellten Erkenntnisakte. Das, was wir erkennen, wird zu einem "Gegenstand" im etymologischen Sinn des Wortes, zu dem, was uns gegenüber steht. Und dieses "Gegenüber" geht mit einer - wiederum im übertragenen Sinn ausgedrückt - gewissen Distanz 82

Vgl. dazu die Ausführungen Husserls über den sog. "Aktualitäts- und Inaktualitätsmodus des Bewußtseins", Ideen zu einer reinen Phänomenologie,

§ 35. Den Begriff des "Themas"

in einem spezifischen Sinn hat ebenfalls Husserl eingeführt.

§ 27. Thematische

Objektivierung

und Distanz zum Erkannten

319

zwischen dem Erkannten und dem Erkennenden in eins, mit einer Distanz, welche unter anderem auf einer phänomenalen Scheidung zweier gegenseitig abgeschlossener Ganzheiten beruht: des Gegenstandes und des den Erkenntnisakt vollziehenden Subjekts. Wir erfassen den Gegenstand gewissermaßen von außen, aus einer gewissen "Entfernung". "Entfernung" im räumlichen Sinn bildet nur einen Spezialfall der "Entfernung", um die es sich hier generell handelt. Der Gegenstand tritt hierbei in der Gestalt einer strukturierten, allseitig abgeschlossenen Ganzheit auf. Er wird als etwas erkannt, was in den kategorialen, gegenständlichen Formen steht. 83 Es vollzieht sich hier eben das, was ich oben die "thematische Objektivierung" genannt habe. Als eine eventuelle Folge der thematischen Objektivierung dessen, was wir in der betrachtenden Einstellung erkennen, eröffnet sich die Frage der sog. "statischen" Erfassung des so Erkannten und insbesondere der sich entfaltenden Vorgänge. Man vertritt oft die Meinung, jede Objektivierung stabilisiere den Vorgang, mache ihn - der j a doch ein sich dynamisch entfaltender Strom von Verwandlungen ist - zu einer Einheit, zu einem konstanten, unveränderlichen Ganzen. Man glaubt auch oft, das visuelle Erkennen (Wahrnehmen oder ein rekonstruierendes Vorstellen) prädisponiere uns zu einer derartigen stabilisierenden "statischen" Erfassungsweise des Erkannten. Seit Bergsons Angriff auf die sog. "intellektuelle Erkenntnis" behauptet man auch oft, jede statische Objektivierung bedeute eine Verfälschung

dessen, was wir zu

erkennen haben, und somit sei wenigstens in gewissen Fällen die thematische Objektivierung zu meiden, besonders dort, wo wir es mit einem sich dynamisch entfaltenden Strom von Verwandlungen zu tun haben. Es ist natürlich zuzugeben, daß die Gefahr der verfälschenden Stabilisierung der sich dynamisch entwickelnden Vorgänge, die wir zu erkennen haben, tatsächlich besteht. Sie kann mit der thematischen Objektivierung zusammengehen, ist aber mit ihr nicht notwendig verbunden und muß nicht immer zu einer Verfälschung führen. Es ist indessen wahr, daß sich ein Vorgang erst dann "objektivieren" läßt, wenn er sich bereits vollzogen hat; während seines Verlaufs können wir allein aufmerksam verfolgen, wie er sich entwickelt, O

"1 Es ist dabei nicht diese Struktur, sondern der kategorial strukturierte Gegenstand

gegeben.

Wie diese gegenständliche, kategoriale Struktur (Form I) sozusagen aussieht, habe ich im II. Band meines Buches Der Streit um die Existenz der Welt im einzelnen zu zeigen versucht. Vgl. I. c. Kapitel VIII.

320

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

indem wir gewissermaßen mit ihm gehen. Die beiden Weisen des Erkennens sind den Vorgängen eigen, und keine von ihnen verfälscht die Vorgänge in ihrer formalen Eigenheit; aber nur in der thematischen, "objektivierenden" Erkenntnis werden ihre objektiven Eigenschaften erfaßt. Stabilisiert, unberechtigterweise statisch erfaßt wird ein Vorgang nur dann, wenn er in voneinander abgegrenzte Phasen zerlegt wird, innerhalb deren schon gar keine Wandlungen unterschieden werden. 8 4 Die hier soeben angedeuteten Fragen sind für uns wichtig, weil beim Übergang vom Kennenlemen des literarischen Kunstwerks im schlichten Lesen (eventuell in ästhetischer Einstellung) durch den literarischen Konsumenten zum betrachtenden vorästhetischen Erkennen des Werkes verschiedene solche Seiten und Momente des Werkes thematisch objektiviert werden, welche im schlichten Lesen nur im Vorbeigehen, im peripheren Erleben "ungegenständlich" miterfaßt werden. Je nach der Weise des Lesens betrifft dies einmal diese, das andere Mal jene Elemente bzw. Momente des Werkes. In der üblichen Einstellung des Lesers auf die dargestellten Gegenständlichkeiten werden die übrigen Schichten des Werkes nur peripher erlebt, ein philologisch und sprachwissenschaftlich eingestellter Leser beachtet kaum die dargestellten Gegenstände und die Ansichten, in welchen sie zur Erscheinung gebracht werden, dagegen treten die Eigentümlichkeiten der Sprache des Werkes in den Vordergrund. Dies zieht jene "perspektivischen Verkürzungen" nach sich, von denen im I. Kapitel die Rede war. In der analytisch betrachtenden Erkenntnisweise des Werkes, bei der wir auf die Erfassung seines Ganzen vorübergehend verzichten, kommt es zur Beseitigung dieser Verkürzungen, indem die nur peripher erlebten Seiten des Kunstwerks zur thematischen Gegebenheit gebracht werden, wobei natürlich wiederum andere Seiten und Momente des Werkes vorübergehend peripher erlebt oder überhaupt aus

Dies kann hier nur festgestellt werden, ohne eine nähere Begründung zu geben, denn sonst müßten wir hier komplizierte formal-ontologische und erkenntnistheoretische Betrachtungen anstellen, die uns weit von unserem Thema wegführten. Ich gestatte mir, mich hier auf zwei meiner Arbeiten zu berufen: 1. auf mein Buch "Intellekt und Intuition bei Henri Bergson" (Jahrbuch für Philosophie

o

und phänomenologische

1994, in: R. Ingarden: Frühe Schriften

zur Erkenntnistheorie,

Forschung,

Bd. V [1921;

hrsg. von W. Galewicz,

(Gesammelte Werke, Bd. 6), Tübingen]) und 2. Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. II/2, Kapitel XIV.

§27. Analytische Betrachtung, funktionelle

Perspektive

321

dem Blickfeld verdrängt werden. So kommt es immer wieder zum Übergang aus der Peripherie in das Zentrum der Beachtung und zur thematischen Objektivierung des zunächst bloß Erlebten sowie zum Verlassen dieses Zentrums durch andere Momente des Werkes und zu ihrer Abdunklung an der Peripherie des erkennenden Bewußtseins des Lesers. Und dabei können die Gefahren einer unangebrachten Stabilisierung verschiedenen Seiten des Werkes drohen, sie können aber beim vorsichtigen, betrachtenden Erkennen vermieden werden. Auch die eventuell begangenen Verschiebungen beim Erfassen des Werkes können rückgängig gemacht werden. Die Distanz, welche beim thematischen Erfassen und Objektivieren der Einzelheiten des Werkes, zwischen dem betrachteten Werk und dem Erkennen entsteht, ermöglicht dem letzteren, sich bis zu einem gewissen Grad von den Suggestionen des Werkes, die Unbestimmtheitsstellen auf eine bestimmte, oft automatische Weise auszufüllen, unabhängig zu machen und dann die verschiedenen Möglichkeiten zu erwägen, wie sie ausgefüllt werden könnten. Sie erleichtern es auch, das Werk selbst in seiner rein schematischen Struktur zu erfassen, ohne zu einer seiner möglichen Konkretisationen unwillkürlich überzugehen, so daß dann das Werk selbst zur wissenschaftlichen analytischen Betrachtung sozusagen zur Verfügung steht. Dies ist für die Literaturwissenschaft - wenigstens in einer Phase ihrer Verfahrensweise - von grundlegender Bedeutung. Dasjenige, was dann als das Erkannte vor dem Blick des Betrachters steht, werde ich im Unterschied zu den gewöhnlichen Konkretisationen die Rekonstruktion

des lite-

rarischen Werkes nennen, welche dann noch dem synthetischen Verfahren unterzogen und in Beziehung zu den möglichen ästhetischen Konkretisationen des Kunstwerks gesetzt werden muß. Wenn die analytische forschende Betrachtung des literarischen Kunstwerks (und der Lyrik insbesondere) ohne eine vorherige schlichte, in ästhetischer Einstellung durchgeführte Lektüre durchgeführt würde, so könnte sie uns, wenigstens in manchen Fällen, in die Irre führen. Es wird hier aber von vornherein gefordert, zuerst das betreffende Werk einfach als Konsument zu lesen und es erst dann zu analysieren. 85 Diese erste Lektüre liefert dem Leser eben jene etwa von Croce oder Bergson geforderte, angeblich "intuitive" (im Bergsonschen Sinn) ästhetische Konkretisation des Werkes und damit auch

Darin liegt freilich eine gewisse Gefahr, auf die ich sogleich zu sprechen komme.

322

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

die Richtlinien dafür, wonach in einer analytischen Betrachtung des Werkes gesucht werden kann und gesucht werden soll, wenn diese Analyse für die Erkenntnis des Kunstwerks und auch des zugehörigen ästhetischen Gegenstandes und seines Wertes zu befriedigenden Ergebnissen führen soll. Die analytische Betrachtung liefert das Verständnis des Aufbaus des Werkes in dem, was das gegenständliche Fundament der möglichen ästhetischen Konkretisationen bildet. Daß es in diesem Fundament verschiedenes nicht gibt und daß somit auch das nicht vorzufinden ist, was in der ästhetischen Konkretisation wesensmäßig enthalten ist, das ist ganz natürlich. Und es wäre falsch, wenn wir von diesem analytischen Erkennen des Werkes selbst mehr forderten als es leisten kann. Dieses Erkennen ist nicht bloß beschreibend, sondern es muß auch in dem Sinn funktionell sein, daß es die Funktionen der im Werk selbst vorgefundenen Tatbestände in ihrer Rolle für die Konstitution - unter Mithilfe des Lesers - der ästhetisch valenten Qualitäten und des ästhetischen Wertes enthüllt. Dieses analytische Verfahren muß somit - wie schon bemerkt - immer an die in der ästhetischen Konkreti sation des Werkes auftretenden Momente und ästhetisch valenten Tatbestände anknüpfen und auf diesem Wege zu verstehen suchen, was es im Werk selbst geben muß, damit es in der Konkretisation zur Erscheinung entsprechender ästhetisch valenter Tatbestände käme; und umgekehrt, zu welchen Phänomenen in der Konkretisation das führt, was im Werk selbst enthalten ist. Diese Orientierung kann uns die schlichte, auch in der ästhetischen Einstellung durchgeführte Lektüre des literarischen Werkes nicht geben. Denn sie gibt nur sozusagen die Realisierung des einen möglichen Falles, und dabei kommt es noch zu keiner besonderen Betrachtung dessen, was im betreffenden Kunstwerk selbst enthalten ist und wie man von da aus zu der erlangten Konkretisation kommt. Dies kann uns erst der Übergang vom kühlen analytischen Verfahren zur ästhetischen Einstellung geben, welche dann eine bewußte Erlangung der bestimmten ästhetisch valenten Qualitäten liefert. Beides kann dann zusammengestellt werden. Es soll aber dadurch nicht eine bloße Zuordnung der Elemente zweier Reihen von Momenten vorgenommen werden, denn dies allein könnte das funktionelle Problem noch nicht lösen. Es müßte zudem gezeigt werden, wie und in welchem Maß die ästhetisch relevanten Qualitäten in der betreffenden Konkretisation des Werkes in den ihnen zugeordneten Momenten des Werkes selbst, die übrigens in der Konkretisation ebenfalls

§ 27. Analytische

Betrachtung, funktionelle

Perspektive

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auftreten, fundiert sind. Und dies ist oft schwer zu erschauen. Hier kann ein gewissermaßen experimentelles Verfahren behilflich sein, das oft von Künstlern selbst angewendet wird. Es werden Versuche dahingehend angestellt, was für Effekte man mit Hilfe gewisser Wendungen oder Worte im literarischen Kunstwerk erzielen kann und was sich in der ästhetischen Konkretisation ändert, wenn man an ihre Stelle andere Worte oder andere Wendungen oder endlich auch eine andere Anordnung der Worte oder der Satzglieder setzt. Dasselbe tun oft Maler, wenn sie einen Teil des sich in statu

nascendi

befindlichen Bildes verdecken oder durch andere Farbflecken ersetzen und nachforschen, was sich dadurch am Anblick des Ganzen ändert. Literaturforscher können zu diesem Zweck verschiedene, nicht zur letzten Vollendung herangereifte Redaktionen desselben Gedichts mit dem endgültigen Text vergleichen und dann die entsprechenden Konkretisationen in unmittelbarer, in ästhetischer Einstellung vollzogener Erfassung nach ihrem ästhetischen Wert befragen. 8 6 Fehlen mehrere Redaktionen desselben Gedichts oder desselben Bildes, 8 7 dann kann der Literaturforscher selbst versuchen, z.B. die einzelnen Worte des Textes, die im Verdacht stehen, daß von ihnen das Auftreten bestimmter ästhetisch relevanter Qualitäten abhängig ist, durch andere Worte zu ersetzen und nachzuprüfen, ob und was sich dadurch im Werk, bzw. in der ästhetischen Konkretisation ändert, ob z.B. die ursprünglich vorhandene, ästhetisch relevante Qualität infolge der durchgeführten Änderung des Textes verschwindet oder sich so oder anders wandelt oder im Gegenteil ganz unemp-

In der polnischen Literaturforschung hat in den letzten Jahren K[azimierz] Wyka [Pan Tadeusz, t. 1-2, Krakow 1963] an den erhalten gebliebenen Redaktionen des Anfangs der Dichtung Herr Tadeusz gezeigt, wie Mickiewicz verschiedene Versuche unternommen hat, ehe er zu der endgültigen meisterhaften Formulierung gekommen ist. Dasselbe läßt sich an den verschiedenen Redaktionen des ersten Krim-Sonetts von Mickiewicz "Die A k e r m a n Steppe" zeigen. Man könnte unter diesem Gesichtspunkt die Gedichte von Trakl untersuchen, der bekanntlich sehr viele Redaktionen desselben Gedichts schrieb, um endlich zu der letzten Fassung zu gelangen. Professor [Walther] Killy hat sich mit ihnen beschäftigt. Merkwürdig ist, daß sich dann gewöhnlich die letzte Redaktion als die wirklich beste erweist (was natürlich gar nicht notwendig ist). 0-7

Der polnische Maler W. Taranczewski malt ganze Zyklen von Bildern über dasselbe Thema, wobei die einzelnen Bilder einer solchen Reihe jeweils in einem anderen Farbton komponiert sind. Auch in diesem Fall kann man studieren, wie die Änderungen im Farbton zu Bildern mit anderem ästhetischen Wert führen, obwohl die Gestalt und die Anordnung der Farbflecken fast dieselbe bleibt.

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

findlich dagegen ist. Durch solche Versuche lassen sich die Fundierungsprobleme der ästhetisch relevanten Qualitäten wenigstens in einigen Fällen lösen. Natürlich setzt dies voraus, daß wir in jedem dieser Fälle die entsprechenden ästhetischen Konkretisationen des Gedichts "realisieren" können und daß es uns dann auch gelingt, die betreffenden ästhetisch relevanten Qualitäten nicht bloß zu konkretisieren, sondern sie auch in der Konkretisierung klar und eindeutig zu erfassen. Damit stehen wir vor einem weiteren wesentlichen Schritt in der Betrachtung des Erkennens des literarischen Kunstwerks, nämlich vor dem Problem der Möglichkeit einer Erkenntnis der bereits konstituierten ästhetischen Konkretisationen eines literarischen Kunstwerks, nachdem das analytisch erforschende Betrachten des literarischen Kunstwerks in seiner schematischen Gestalt bereits, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, durchgeführt wurde. Wir werden bald zu diesem neuen, grundlegenden Problem bzw. zu diesem neuen Thema unserer Betrachtung übergehen. Zuerst aber noch einige Bemerkungen. Wir müssen die verschiedenen Weisen des Erkennens des literarischen Kunstwerks und seiner Konkretisationen nacheinander, sozusagen separat behandeln. Man darf aber nicht meinen, daß die hier von uns unterschiedenen Weisen des Erkennens des literarischen Kunstwerks in wissenschaftlicher Praxis ebenfalls ganz separat und auch voneinander unabhängig verlaufen bzw. verlaufen sollen. Wir haben schon mehrmals daraufhingewiesen, daß es verschiedene Übergänge von einer Weise des Erkennens zur anderen gibt und sogar geben muß. Man muß z.B. mit der schlichten, ununterbrochenen Lektüre des Werkes anfangen. Man kann sie aber auch unterbrechen, um zu einer analytischen Betrachtung des Werkes selbst bzw. ausgewählter Teile von ihm überzugehen und um dann noch probeweise zu versuchen, eine ästhetische Konkretisation des Werkes zu konstituieren, um danach wiederum von derselben zu der analytischen Betrachtungsweise zurückzukehren usw. Dasselbe betrifft auch das Verhältnis der Konstituierung einer ästhetischen Konkretisation eines bestimmten Werkes zur erkenntnismäßigen Erfassung der bereits konstituierten Konkretisation. Auch diese brauchen nicht ganz separat und nacheinander zu verlaufen. Es ist möglich, Teilkonkretisationen zu konstituieren, nachher zu der Erfassung der in ihnen bereits konstituierten ästhetisch relevanten Qualitäten überzugehen, um danach z.B. zu der analytischen Betrachtung des entsprechenden Teils des Werkes selbst zurückzukehren usw.

§ 27. Analytische

Betrachtung, funktionelle

Perspektive

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Eine große Wandlungsfähigkeit des Forschers und seines Feingefühls ist hier erforderlich, damit er von der einen Erkennensweise zur anderen überzugehen imstande ist. Und es muß zugleich gefordert werden, daß die auf so verschiedenen Wegen erzielten Ergebnisse dann in Zusammenhang gebracht und in ihrer Rolle entsprechend beurteilt werden. Ich habe schon mehrmals gesagt, daß der analytischen Betrachtung des Werkes eine schlichte Lektüre vorangehen muß, weil sie für diese Betrachtung Richtlinien der Forschung bestimmen kann. Ich habe dabei bemerkt, daß damit eine gewisse Gefahr verbunden ist. Die erste, für die weitere Forschung ausschlaggebende schlichte Lektüre kann nämlich nicht nur unvollkommen, sondern überhaupt auch sehr fehlerhaft sein. Dies ist um so eher möglich, als genügend bekannt ist, daß die meisten Leser literarischer Kunstwerke - besonders, wenn es sich um große Werke der Weltliteratur handelt - sehr mangelhaft lesen. Die Betrachtungen unserer beiden ersten Kapitel haben gezeigt, wie kompliziert die Operationen sind, die vom Leser bei der ersten Lektüre vollzogen werden bzw. vollzogen werden müssen, damit es zu einer gelungenen Konkretisierung des Werkes kommt. Soll die erste schlichte Lektüre des Werkes die Richtlinien für das weitere Erkennen des Werkes im analytischen Verfahren bestimmen, dann wird der Gang der analytischen Betrachtung von vornherein in seiner Richtigkeit und Zweckmäßigkeit bedroht. Sie kann auf falsche Wege geleitet werden. Diese Gefahr besteht unzweifelhaft wirklich, und die bisherigen Schicksale der Literaturforschung zeigen am besten, wie groß die Gefahr einer darin gründenden radikalen Verfehlung der Forschung ist. Es handelt sich da nicht bloß um einfache Unbildung oder zufällige Unfähigkeit der einzelnen Leser. Es handelt sich - was viel schlimmer ist - um Moden in der Weise, die Lektüre durchzuführen, die zu fehlerhaften Konkretisationen der gelesenen Werke führen. Diese Moden hängen oft mit der geistigen Atmosphäre der Zeit (manchmal mit der politischen Lage des Landes oder einer bestimmten Klasse der lesenden Gemeinschaft) zusammen und führen dazu, daß manchmal eine ganze Lesergeneration das betreffende Kunstwerk einfach verfehlt. So ist es z.B., wenn literarische Kunstwerke von vornherein als Werke zur "Erbauung" des Lesers oder als Werke, deren Sinn in der Verherrlichung eines politischen Systems liegen soll, oder endlich als Werke, die uns über die Lebensschicksale des Autors belehren sollen, gelesen und in der Folge nicht

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

als Kunstwerke behandelt werden, welche bestimmte ästhetische Werte zu verkörpern und auch dem Leser zu zeigen haben. Wenn auf Grund einer solchen Lektüre, die oft noch durch die jeweils herrschende (falsche) Literaturwissenschaft bestimmt wird, eine analytische Betrachtung des literarischen Kunstwerks durchgeführt wird, so wird sie von vornherein in falsche Bahnen gelenkt und kann uns die eigene Struktur des Kunstwerks selbst sowie die in ihm verkörperten künstlerischen Werte gar nicht enthüllen. Das war auch der Grund, warum hier das Kennenlernen des literarischen Kunstwerks in der schlichten Lektüre einer genauen Analyse unterzogen wurde, damit man sich orientiert, wie kompliziert dieses Verfahren verläuft. Dies war aber nur eine Beschreibung der möglichen Tätigkeiten des Lesers; die Probleme der Rechtmäßigkeit der Lektüre - also die Richtlinien der kritischen Betrachtung der in der Lektüre vollzogenen Erkenntnisoperationen - sollen erst in der Folge besprochen werden. Momentan ist nur anzudeuten, daß die Gefahr, welche der analytischen Betrachtung infolge einer falschen Lektüre des Werkes droht, nur dann wirklich besteht, wenn sie den Ergebnissen einer solchen Lektüre ganz unterworfen wäre, ihr völlig unkritisch gegenüberstünde und unfähig wäre, sich von ihr zu befreien. Dies ist aber gar nicht notwendig und widerspräche auch dem Geist der analytischen Betrachtung, da sie selbst kritisch eingestellt ist und ihre Verfahrensweise mit einer neuerlichen, vorsichtigen und aufmerksamen Lektüre des Werkes beginnt. Aber bereits die erste Lektüre in ästhetischer Einstellung kann man nicht vorsichtig genug durchführen. Außerdem wird diese Lektüre von demjenigen, der an eine analytisch forschende Betrachtung des Werkes herantritt, als durchaus vorläufig behandelt. Sie kann uns dann zwar gewisse Forschungsrichtungen suggerieren, aber sie muß uns gar nicht binden. Wir können also das forschende analytische Betrachten der einzelnen Teile des Werkes relativ selbständig beginnen und uns dabei auch davon überzeugen, ob und in welchem Maß die bereits durchgeführte Lektüre und die dabei erzielte Konkretisation rechtmäßig durchgeführt wurde. Es ist möglich, auf diesem Weg zu erfahren, was an der bereits vollzogenen Lektüre bzw. Lesart des Werkes zu ändern ist, um eine korrektere Konkretisation zu erlangen. Und die darauf folgende, neuerliche Lektüre kann uns eine vollkommenere Konkretisation des Werkes geben und uns damit gewisse, früher nicht geahnte, ästhetisch relevante Qualitäten enthüllen, nach deren Fundierung wir im Kunstwerk selbst in einer von neuem fortgesetzten analy-

§ 27. Analytische

Betrachtung, funktionelle

Perspektive

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tischen Betrachtung forschen können. So kommt es zu einer mehrfachen Verflechtung der analytischen Betrachtung des betreffenden literarischen Kunstwerks mit mehreren seiner aufs neue unternommenen Konkretisierungen und zu einem genaueren Verständnis der Zusammenhänge, welche zwischen den im Werk auftretenden künstlerischen Mitteln und den in den Konkretisationen zur Erscheinung gelangenden ästhetisch valenten Qualitäten sowie den in ihnen fundierten ästhetischen Werten *bestehen*. Insbesondere liefert ein derartiger erkenntnismäßiger Umgang mit dem literarischen Kunstwerk das Verständnis dafür, wie zu einem und demselben Werk verschiedene, ästhetisch bestimmte mögliche Konkretisationen gehören, in welchen verschiedene ästhetische Werte zur Erscheinung gelangen, und zwar Werte nicht bloß verschiedener qualitativer Bestimmung, sondern auch verschiedener Höhe. Es kann sich dabei zeigen, daß nicht alle Werte in gleichem Maß eine rechtmäßige Fundierung im betreffenden Kunstwerk haben, oder anders gesagt, daß nicht alle Konkretisationen eine - wie man gewöhnlich sagt - richtige Interpretation

des betreffenden Werkes sind.

Die analytische Betrachtung des literarischen Kunstwerks kann uns zunächst einen Überblick über die Mannigfaltigkeit der möglichen Interpretationen geben, ohne selbst diese Konkretisationen zu realisieren. In Zusammenhang damit taucht wiederum das schon mehrmals behandelte Problem der Unbestimmtheitsstellen im literarischen Kunstwerk auf, diesmal aber von einem anderen Gesichtspunkt aus. Bei der Durchführung einer Konkretisation eines literarischen Werkes werden gewöhnlich einige von den Unbestimmtheitsstellen durch eine konkrete Ausfüllung beseitigt, oder mindestens wird die Grenze der Variabilität der möglichen Ausfüllungen eingeengt. Jede solche Ausfüllung bildet eine Ergänzung der positiven Bestimmtheiten des Werkes, vor allem in der Schicht der dargestellten Gegenstände. 8 8 Diese Ergänzung kann künstlerisch belanglos sein, d.h. ohne Bedeutung für die Konstituierung der ästhetisch relevanten Qualitäten. Dann ist sie zwar unschädlich, aber von diesem Standpunkt aus entbehrlich. Sie kann aber auch künstlerisch bedeutsam sein, und zwar in doppelter Richtung: entweder positiv, indem sie zur Konstituierung OQ

Sie wird normalerweise implicite

vorgenommen, d.h. ohne eine explizierte Erweiterung

oder Änderung der sprachlichen Doppelschicht, obwohl das ergänzende Moment irgendwie durch den Leser mitgemeint sein muß.

328

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

gewisser ästhetisch relevanter Qualitäten irgendwie beiträgt, die mit den übrigen derartigen Qualitäten in positivem Einklang stehen, oder negativ, indem sie entweder die Konstituierung solcher Qualitäten verhindert oder zur Konstituierung einer solchen Qualität führt, die mit den übrigen ästhetisch valenten Qualitäten einen Mißklang bildet. Sie kann aber noch in zweifachem Sinn für die Gestalt des Kunstwerks schädlich sein. Erstens, weil sie eine Unbestimmtheitsstelle beseitigt, die in der Konkretisation des betreffenden Werkes unausgefüllt bleiben sollte, oder weil sie zwar direkt keinen Einfluß auf den Bestand der ästhetischen wertvollen Qualitäten ausübt und auch selbst wertneutral ist, aber mit den übrigen Bestimmtheiten der dargestellten Gegenstände nicht zusammenstimmt, z.B. nicht im Stil der dargestellten Welt ist. Vor der analytischen Betrachtung des literarischen Kunstwerks stehen im Zusammenhang damit mehrere Aufgaben, die - soviel ich weiß - bis jetzt von der Literaturwissenschaft völlig übersehen wurden und die mit der künstlerischen Funktion des literarischen Kunstwerks in engstem Zusammenhang stehen. Und zwar: 1. Vor allem ist festzustellen, welche Unbestimmtheitsstellen im betreffenden Werk vorhanden sind. Man darf natürlich nicht meinen, diese Aufgabe könne jemals vollständig erledigt werden. Dies ist aber gar nicht notwendig, da es viele Unbestimmtheitsstellen gibt, die im Aufbau des Kunstwerks keine Rolle spielen. Die Analyse der Sinne der Sätze und der Satzzusammenhänge muß so durchgeführt werden, daß sie das Ungesagte oder Verschwiegene spürbar macht und zudem darauf hinweist, welche von den Unbestimmtheitsstellen für den Aufbau des Werkes bedeutsam sind und in ihrer Art geklärt werden müssen. Die Beurteilung, welche Unbestimmtheitsstellen diese Bedeutsamkeit besitzen, ist gewiß nicht leicht und setzt ein gutes Verständnis dessen voraus, was in der sprachlichen Schicht des Werkes wirklich expliziert gesagt wird. Dann fällt auch das auf, was nicht gesagt wird, was der Leser auf Grund des Textes des Werkes allein noch nicht weiß. 2. Den nächsten Schritt bildet die Orientierung darüber, welche Unbestimmtheitsstellen beseitigt werden dürfen, welche dagegen als Unbestimmtheiten des Werkes stehenbleiben sollen. Dies läßt sich sowohl im Hinblick darauf erreichen, daß man bei der Analyse des Textes den Mangel gewisser Informationen über die dargestellten Gegenstände und ihre Schicksale empfindet, indem man nicht alles wirklich ganz versteht. Andererseits übt der

§ 27. Unbestimmtheilsstellen

(Rekapitulation)

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Text des Werkes gewisse Suggestionen auf den Leser aus, so daß er manche Unbestimmtheitsstellen beseitigt, während dies bei anderen Unbestimmtheiten, die dann bei der Lektüre achtlos beiseite gelassen werden, nicht stattfindet. Die analytische Betrachtung soll dies nur zu klarem Bewußtsein bringen. 3. Es ist eine Orientierung darüber zu gewinnen, welcher Variabilitätsbereich der möglichen Ausfüllungen der einzelnen Unbestimmtheitsstellen durch den sie bestimmenden Kontext festgelegt wird. Diese Variabilitätsgrenze ist dabei auf doppelte Weise zu betrachten: a) mit Rücksicht auf die Bestimmungen der betreffenden Unbestimmtheitsstelle allein, ohne daß man den weiteren Kontext und die übrigen Unbestimmtheitsstellen berücksichtigt, und b) unter Beachtung dessen, wie die Variabilitätsgrenze der betreffenden Unbestimmtheitsstelle durch die Ausfüllungen der übrigen Unbestimmtheitsstellen und die Forderung der Einstimmigkeit des Textes eingeengt wird. 8 9 Diese Einengung kann zunächst rein mit Rücksicht auf die Vermeidung der Unstimmigkeiten und Widersprüche im ästhetisch wertneutralen Skelett des literarischen Kunstwerks betrachtet werden. Die Berücksichtigung der Möglichkeiten der Konstituierung ästhetisch valenter Qualitäten führt zur Notwendigkeit einer weiteren Einengung der Variabilitätsgrenzen der künstlerisch zugelassenen Ausfüllungen der einzelnen Unbestimmtheitsstellen. Bei der Betrachtung der Variabilitätsgrenze der Ausfüllungen der einzelnen Unbestimmtheitsstellen können zwei Umstände behilflich sein: erstens, daß die Unbestimmtheitsstellen meist durch gewisse allgemeine Namen und nominale Wendungen bestimmt werden. Der Umfang dieser nominalen Ausdrücke bestimmt unter Berücksichtigung des Kontextes die Variabilitätsgrenze der betreffenden möglichen Ausfüllung. Diese Grenze V ist immer gleich oder größer als 2, denn wenn V=1 wäre, dann wäre es gar keine Unbestimmtheitsstelle, weil dann alles, wenn auch ungenannt, eindeutig bestimmt wäre. Nicht alle Fälle aber, die innerhalb dieser Grenze liegen, sind völlig gleichartig. Der Text, wie schon bemerkt, suggeriert dem Leser bis zu einem gewissen Grad diejenigen Fälle aus dem Bereich der möglichen Ausfüllungen einer Unbestimmtheitsstelle, die naheliegend sind und deren Aktualisierung

Die Struktur des Textes des betreffenden Werkes ist es, die diese Forderung und ihre Grenzen aufstellt. Nicht alle literarischen Texte müssen streng einstimmig sein, aber dann gibt es - in literarisch gut konstruierten Werken - eine gewisse "Logik" (Konstanz) dieser Unstimmigkeit.

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

deswegen bei der Lektüre wahrscheinlicher ist. Diese Fälle müssen bei der analytischen Betrachtung des Werkes berücksichtigt und die Folgen ihrer Aktualisierung für die Gestaltung der Konkretisation durchdacht werden. Die Rolle des Lesers, besonders wenn er sich in ästhetischer Einstellung befindet, bei der Gestaltung der Konkretisation und ihr modifizierender Einfluß darf natürlich nicht vergessen werden. Bei der großen Mannigfaltigkeit der Leser und ihrer Zustände ist dieser Einfluß sehr schwer zu beurteilen. Man muß aber auch beachten, daß der Leser bei der Wahl der Konkretisation in ästhetischer Einstellung unter dem Einfluß der bereits gelesenen Teile des Werkes steht und somit sich dem Geist des Werkes in hohem Maß fügt. 4. Die schwierigste Aufgabe zeigt sich bei der analytischen Betrachtung des literarischen Werkes erst in dem Moment, in dem man erwägen soll, welche ästhetisch wertvollen Qualitäten infolge einer bestimmten Ausfüllung einer Unbestimmtheitsstelle in der Konkretisation konstituiert werden können. Es gibt da verschiedene Möglichkeiten, die vom Forscher vorauszusehen sind. Dies bedeutet, daß er genötigt ist, verschiedene ästhetische Konkretisationen des von ihm erforschten Werkes probeweise zu konstituieren, sie nach den in ihnen auftretenden ästhetisch valenten Qualitäten zu befragen und sich zugleich zu orientieren, von welchen Ausfüllungen der vorhandenen Unbestimmtheitsstellen ihre Aktualisierung abhängig ist. Er darf mit anderen Worten das betreffende Werk nicht einseitig lesen und die von ihm aktualisierte Konkretisation bevorzugen. Es ist unzweifelhaft, daß diese Aufgabe gewöhnlich nur [ ] partiell gelöst wird, denn die Mannigfaltigkeit der sich andeutenden verschiedenen Konkretisationen ist sehr groß. Nichtsdestoweniger ist auch eine bloß partielle Lösung dieser Aufgabe für die Erkenntnis der Kunstfertigkeit eines literarischen Kunstwerks außerordentlich wichtig. Die Zusammenarbeit vieler Forscher an demselben Kunstwerk kann hier natürlich sehr wertvoll sein. Das Studium dieses ganzen Problemzusammenhangs ist noch aus zwei Gründen wichtig: erstens nicht bloß für das Verständnis der künstlerischen Struktur eines individuellen Kunstwerks selbst, sondern auch dann, wenn es sich um die Klärung der allgemeinen Probleme der künstlerischen Leistungsfähigkeit der literarischen Werke einer bestimmten literarischen Gattung (z.B. der Romanliteratur, der Lyrik, des Dramas) oder der verschiedenen literarischen Richtungen oder Stile (z.B. der romantischen Literatur, des positivisti-

§ 27. Unbestimmtheusstellen

(Rekapitulation)

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sehen Naturalismus, der modernen expressionistischen Literatur usw.) handelt. Es taucht nämlich die Frage auf, ob die Mannigfaltigkeit der Unbestimmtheitsstellen sowie die Auswahl ihrer Typen, die sich in einem literarischen Werk befinden, nicht für die betreffende literarische Gattung bzw. für die betreffende Richtung charakteristisch ist, und ob die Erforschung dieses Problems uns nicht eine wesentliche Ergänzung zur Erfassung des Wesens dieser Gattungen bzw. literarischer Stile liefern kann, neben der Auskunft, die man auf Grund der vollbestimmten Seite des literarischen Kunstwerks gewinnt. Zu welchen Ergebnissen man dabei käme, läßt sich nicht von vornherein sagen. Es wäre aber interessant, entsprechende Untersuchungen z.B. an der modernen Romanliteratur durchzuführen und in dieser Hinsicht etwa die Romane eines Zola mit denjenigen von Proust zu vergleichen, den Ulysses von Joyce mit dem Romanzyklus von Galsworthy oder mit den Werken von Meredith. Und wie wäre es, wenn man z.B. die Werke Thomas Manns etwa mit den Schriften Faulkners in dieser Hinsicht vergliche? Gelänge es zu zeigen, daß man in diesen Fällen charakteristische Regelmäßigkeiten in der Behandlung der Unbestimmtheitsstellen im literarischen Kunstwerk entdecken kann, dann wäre es auch möglich, die typischen Mannigfaltigkeiten der möglichen ästhetischen Konkretisierungen der Werke der gewählten literarischen Gattung oder einer literarischen Richtung zu überblicken. Die zweite wichtige Frage, die sich aufdrängt, bezieht sich auf diejenigen Unbestimmtheitsstellen der einzelnen literarischen Kunstwerke, die in ihren ästhetischen Konkretisationen nicht beseitigt werden sollen. Es gibt in jedem literarischen Kunstwerk und insbesondere in der echten reflexiven Lyrik Stellen des Nichtgesagten, des Verschwiegenen, des Unbestimmten, Offengelassenen, die trotz ihrer merkwürdigen Anwesenheit und ihres ebenso merkwürdigen Unbemerktseins und Unbeachtetseins doch eine wesentliche Rolle in der künstlerischen Struktur des Kunstwerks spielen. Aus ihrem Unbeachtetsein, aus ihrem Verbleiben im Dunkel der Peripherie müssen sie bei der analytischen Betrachtung der Werke hervorgeholt werden und es muß zu Bewußtsein gebracht werden, daß ihre künstlerische Funktion zerstört würde, wollte man sie beseitigen und durch solche oder andere Ausfüllungen ersetzen. Mit einer Ersetzung durch positiv bestimmte Angaben gewönne man in diesen Fällen nichts als ein unnötiges Geschwätz, und zudem verursachte man noch eine wesentliche Störung des Gleichgewichts dessen im Kunstwerk, was eben

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IV. Abwandlungen des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

bekannt und vollbestimmt ins helle Licht gerückt ist. Der feinfühlige, genügend künstlerische Kultur besitzende Leser geht über derartige Unbestimmtheitsstellen stillschweigend hinweg, und das eben ermöglicht ihm, den vom Künstler beabsichtigten ästhetischen Gegenstand wenigstens in einer gewissen Annäherung zu konstituieren. Der weniger kultivierte Leser, der künstlerische Dilettant, von dem Moritz Geiger spricht 90 , den nur die Schicksale der dargestellten Menschen interessieren, achtet das Verbot zur Beseitigung solcher Unbestimmtheitsstellen nicht und macht durch geschwätziges Ergänzen dessen, was nicht ergänzt zu werden braucht, aus gut gestalteten Kunstwerken billige, ästhetisch irritierende Klatschliteratur. Aber hierher gehören auch diejenigen Literaturforscher, die zur feinfühligen, tiefen, aber zugleich nur andeutend reflexiven Lyrik eines Hölderlin oder Rilke oder - um etwas ganz anderes zu nehmen - eines Trakl metaphysische Traktate hinzudichten und dasjenige breit herausschwatzen, was nur als Ausblick, nur als eine Andeutung, eine Vorahnung im Kunstwerk berechtigt ist und so bleiben soll. So muß der Literaturforscher, dereine analytische Betrachtung des literarischen Kunstwerks durchführt, sich selbst Einhalt gebieten, indem er genau beachtet, wo im Werk solche Unbestimmtheitsstellen vorhanden sind, die eben als solche in der Konkretisation belassen werden sollen. Die Behandlung dieser ganzen Problematik erlaubt dem Forscher vorauszusehen, zu welchen und in welchem Grad ästhetisch wertvollen Konkretisationen das betreffende Werk (unter der Voraussetzung eines empfänglichen und ästhetisch aktiven Lesers) führen kann. Dies erzielt man aber noch immer, ohne die Entscheidung zu treffen, welche von den möglichen Konkretisationen die "richtige" "Interpretation" des betreffenden Werkes bildet, und auch schon ohne gleich den Versuch seiner "Bewertung" (d.h. der Bestimmung seines Wertes) zu unternehmen. Sobald man aber zu der Einsicht gelangt, daß ein bestimmtes Werk verschiedene ästhetisch wertvolle Konkretisationen zuläßt und manche von ihnen dem Leser suggeriert, befindet man sich bereits in derjenigen Phase des Umgangs mit dem dichterischen Werk, in welcher das Problem der Bewertung auftaucht. Wir sind aber hier noch nicht genügend vorbereitet, um dieses Problem aufzurollen und anzugreifen. Momentan ist nur wichtig, uns klar zu Bewußtsein zu bringen, daß diese Bewer-

QO

[Vgl. M. Geiger, Zugänge zur Ästhetik, Leipzig 1929.]

§27. Unbestimmtheitsstellen

(Rekapitulation)

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tung in zwei durchaus verschiedenen Richtungen unternommen werden kann: in bezug auf das literarische Kunstwerk selbst und bezüglich auf seine einzelnen, in ästhetischer Einstellung gewonnenen Konkretisationen. Und zugleich muß man auch klar sehen, daß es sich in jedem dieser Fälle um Werte einer völlig anderen Art handelt, beim Werk selbst um künstlerische Werte und bei den ästhetischen Konkretisationen um ästhetische. Da aber das Werk selbst im konkreten Leib der Konkretisation als Skelett enthalten ist, so kann man sagen, daß in der Konkretisation selbst sowohl die künstlerischen Werte dieses Skeletts als auch die ästhetischen Werte des konkretisierten Ganzen zur Gegebenheit gebracht werden können. 9 1 Es ist nützlich, den radikalen Unterschied zwischen diesen Werten wenigstens in einigen Worten anzudeuten. Der künstlerische Wert kommt einem Kunstwerk zu, wenn es in sich selbst die unentbehrliche, aber nicht hinreichende Bedingung der Aktualisierung eines von seiner Natur verschiedenen Wertes enthält, nämlich eines ästhetischen Wertes, der an einer Konkretisation des betreffenden Kunstwerks zur Erscheinung kommt. Der künstlerische Wert ist der Wert eines Mittels, eines wenn man so sagen darf - Werkzeugs, das die Fähigkeit besitzt, unter günstigen Umständen einen ästhetischen Wert zur Erscheinung zu bringen. Diese ergänzende Bedingung der Aktualisierung des betreffenden ästhetischen Wertes - diesen "günstigen" Umstand seiner Aktualisierung - bildet der Betrachter des Kunstwerks, der die Fähigkeiten des Kunstwerks auszunutzen weiß, um seine entsprechende Konkretisation zu aktualisieren, an welcher Q1 Es muß zugegeben werden, daß das konkretisierte literarische Kunstwerk noch andere Werte verkörpern, oder besser, zur Erscheinung bringen kann, z.B. moralische und pädagogische Werte, Werte sozialer oder allgemein kultureller Art, und daß es dann im Hinblick darauf andere Funktionen im menschlichen und sozialen Leben erfüllt. Alle diese eventuellen Werte sind aber für das Kunstwerk sekundärer Natur und kommen hier überhaupt nicht in Betracht. Merkwürdigerweise werden aber gewöhnlich diese außerkünstlerischen und außerästhetischen Werte vom Leser und auch von den Kritikern in erster Linie in Erwägung gezogen. Dies hat sehr verschiedene Gründe, die hier nicht behandelt werden können. Nicht zuletzt spielt hier auch der Umstand eine sehr schwerwiegende Rolle, daß sowohl die Leser als auch die sog. Kritiker nicht genügend zum angemessenen Umgang mit der Kunst und mit den ästhetischen Gegenständen erzogen sind. Sie bringen sich das Spezifische der ästhetischen Werte und das Eigentümliche der Kunst nicht klar zu Bewußtsein und retten sich angesichts der zu überwindenden Schwierigkeiten durch eine Flucht vor der Kunst in andere Gebiete, wo es anscheinend nicht so schwierig ist, die Werte zu erkennen und auch anzuerkennen. Aber das ist nur eine scheinbare Rettung.

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

jener ästhetische Wert seine erscheinungsmäßige Gegenwart erlangt. Er ist in seiner Erscheinungsgegenwart auf doppelte Weise fundiert: in dem entsprechenden Kunstwerk, das mit entsprechenden künstlerischen Werten ausgestattet ist, und in dem Betrachter, der ihn an der Konkretisation unter Mithilfe des Kunstwerks und insbesondere seiner künstlerischen Werte zur phänomenalen Selbstgegenwart bringt. Während der künstlerische Wert ein ausgesprochen relationaler Wert ist, dessen Wertigkeit eben darin liegt, daß dasjenige, zu dessen Aktualisierung er ein unentbehrliches Mittel ist, in sich selbst und für sich selbst - also in diesem Sinn absolut - werthaft ist und dem ihn Mitbedingenden als solchem einen Wert verleiht. Dieser in sich absolute Wert ist eben der ästhetische Wert, dessen Materie (Wertqualität) seinem Wesen nach nur "zu schauen" ist, sich also in einer erscheinungsmäßigen Selbstgegenwart erschöpft. Bei jedem künstlerischen Wert liegt eine ganz eigentümliche Situation vor: Einerseits scheint es einleuchtend zu sein, daß er, wenn er einem literarischen Kunstwerk zukommen soll, in dessen effektiven Einzelheiten fundiert sein muß, so daß man auf die Rolle des bewertenden Lesers (insbesondere des "Kritikers") nicht einzugehen brauchte. Andererseits aber ist dieser Wert durch die ästhetischen Werte der möglichen Konkretisationen des betreffenden Werkes mitbedingt. Diese Möglichkeit wird durch das betreffende Werk freilich auf eine unentbehrliche, aber doch nicht hinreichende Weise bestimmt. Die Realisierung dieser Konkretisationen hängt in hohem Maß vom Leser ab, der im allgemeinen nicht gezwungen ist, überhaupt eine Konkretisation des Werkes zu bilden (er kann es z.B. ablehnen, es zu lesen) und sie im individuellen Fall gerade in solchen Bestimmtheiten zu gestalten, daß der vom künstlerischen Wert des Werkes angedeutete ästhetische Wert zur Erscheinung gebracht wird. Ob dem Werk der künstlerische Wert effektiv zukommt, ist somit durch das Verhalten des Lesers bedingt. Andererseits - davon wird gleich die Rede sein - ist der Leser auch nicht ganz unabhängig von den Bestimmtheiten des Kunstwerks, wodurch das Maß der Fundierung des künstlerischen Wertes im Kunstwerk vergrößert wird. Der künstlerische Wert beruht darauf, daß im betreffenden Kunstwerk ein gewisser Bestand an Eigenschaften vorhanden ist, der in einer bestimmten Konkretisation des Kunstwerks die unentbehrliche ontische Basis für die Konstituierung einer Auswahl von ästhetisch valenten Qualitäten (oder auch formalen Momenten) ist, die

§ 27. Unbestimmtheitsstellen

(Rekapitulation)

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ihrerseits das Fundament des in sich qualitativ bestimmten ästhetischen Wertes sind. Den zur hinreichenden Basis des zu konstituierenden ästhetischen Wertes noch fehlenden Faktor muß seinerseits der Leser liefern. Er kann dies manchmal ganz unabhängig vom Kunstwerk tun, er kann aber in dieser Hinsicht von gewissen Eigenschaften des Kunstwerks dazu angeregt werden. Der künstlerische Wert des Kunstwerks liegt also in denjenigen seiner Eigenschaften, vermöge welcher es auf den ästhetischen Betrachter einwirkt und ihn in der Konkretisation zur Konstituierung der noch fehlenden Bestände des ontischen Fundaments des ästhetischen Wertes anregt. Fehlt im Kunstwerk der Bestand an Eigenschaften, welcher ihm diese auf den Betrachter gerichtete Aktivität erlaubt, so ist die Konstituierung des ästhetischen Wertes in einer bestimmten Konkretisation - sofern es zu ihr überhaupt kommt - der Fähigkeit des Betrachters allein überlassen, obwohl die unentbehrliche rein ontische Basis des zu konstituierenden ästhetischen Wertes im Kunstwerk vorhanden ist. Fehlt aber auch diese Basis und kommt es trotzdem zur Konstituierung eines ästhetischen Wertes, so ist er eine reine Schöpfung des Betrachters, so sehr er auch an dem ästhetischen Gegenstand erscheinen mag. Er ist auf keine W e i s e im Kunstwerk fundiert und in diesem Sinn nicht "objektiv". 9 2 Es kann natürlich auch Fälle geben, w o im Kunstwerk die unentbehrliche und in dem Sinn hinreichende Bedingung der Konstituierung eines ästhetischen Wertes enthalten ist, daß die Eigenschaften des Kunstwerks auf eine eindeutige Weise den vollen Bestand der ästhetisch relevanten Qualitäten, die einen ästhetischen Wert konstituieren, bestimmen und auch auf eine genügende Weise auf den Betrachter einwirken, so daß dieser im Umgang mit dem betreffenden Kunstwerk gezwungen ist, den durch das W e r k vorausbestimmten ästhetischen Wert zu konkretisieren und damit auch zur Erscheinung zu bringen. Dann ist dieser Wert, ungeachtet dessen, daß seine Aktualisierung von der Aktivität des Betrachters abhängt, im Kunstwerk fundiert und ist in diesem Sinn "objektiv". Nun, der erste Schritt zur Bewertung eines Kunstwerks hinsichtlich seines künstlerischen Wertes besteht darin, in der forschenden Betrachtung unter

Vgl. dazu meinen Artikel "Betrachtungen zum Problem der Objektivität", Zeitschrift philosophische cit., S. 2 1 9 - 5 5 ] ,

Forschung,

für

1967, Heft I und II [auch in Erlebnis, Kunstwerk und Wert, op.

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Berücksichtigung einer Reihe seiner Konkretisationen denjenigen Bestand an Eigenschaften zu suchen, in welchem die Basis für einen möglichen ästhetischen Wert enthalten sein kann. Und wenn man diesen Bestand bereits gefunden hat, so ist noch zu fragen, welchen Charakter dieser Bestand als Fundierung des Wertes hat, d.h. welche von den soeben unterschiedenen Möglichkeiten besteht. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich vor dem Forscher sehr mannigfache Sachlagen eröffnen, die sehr schwierig zu behandeln sind, insbesondere deswegen, weil sehr viele verschiedene Situationen in bezug auf den Charakter der Fundierung des Wertes zu beurteilen sind. Es ist große Vorsicht und auch große Geduld geboten, sich voreiliger Entscheidungen zu enthalten. Denn wenn man die Frage nach dem Wert und nach dessen Begründung aufwirft, erhebt sich gewöhnlich ein lauter Schrei nach den sogenannten "Kriterien" des Wertes bzw. des Wertvollseins. Man fordert, daß man solche ganz allgemeinen "Kriterien" der "Objektivität" des Wertes angibt. Und zugleich behauptet man von vornherein, daß es keine solchen unfehlbaren Kriterien gäbe, daß sie sich von einer Epoche zur anderen, von einem Kulturkreis zum anderen, ja sogar von einem Menschen zum anderen änderten und daß es somit keine gültigen Kriterien und auch keine "objektiven" Werte gäbe usw. Ich möchte hier keine Zeit damit verlieren, gegen diese weit verbreiteten Meinungen zu polemisieren. Ich glaube, daß wir sachlich noch viel zu wenig vorbereitet sind, und zwar sowohl in den verschiedenen Kunstgattungen als auch in der Kenntnis der einzelnen Kunstwerke sowie endlich der an ihnen erscheinenden Werte, um die Frage nach den materiellen "Kriterien" überhaupt anzuschneiden. Ich glaube, daß man ein immer genaueres und tieferes analytisches Erkennen der Kunstwerke und insbesondere der literarischen Kunstwerke gewinnen muß, um in dieser schwierigen Frage vorwärts kommen zu können. Ein anderes Problem, auf das ich hier noch hinweisen möchte, bezieht sich auf den Grund der Bestimmung der Höhe des künstlerischen Wertes eines literarischen Kunstwerks. Wovon hängt sie ab? Es handelt sich natürlich nicht um eine willkürliche Entscheidung darüber, welchen Wert man für höher oder niedriger halten will oder zu halten habe. Es handelt sich darum, welcher objektive, im Werk selbst oder mit den von ihm bestimmten möglichen Konkretisationen verbundene Tatbestand über die Höhe des künstlerischen Wertes entscheidet. Dann liegen verschiedene mögliche Beantwortungen dieser Fra-

§ 27. Unbestimmtheitsstellen

(Rekapitulation)

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ge nahe. Sollte man nicht meinen, der künstlerische Wert eines bestimmten literarischen Kunstwerks sei desto höher, je zahlreicher und wertvoller die möglichen, "richtigen" ästhetischen Konkretisationen desselben sind? Das Werk birgt dann im Keim die Mannigfaltigkeit hoher ästhetischer Werte, und die Fähigkeit, alle diese Werte vorauszubestimmen und ihnen zu ihrer erscheinungsmäßigen Aktualisierung zu verhelfen, scheint mit ihrer Mannigfaltigkeit zu wachsen. Und dieses Vermögen ist j a nichts anderes als der künstlerische Wert selbst. Man sagt auch gewöhnlich: wirklich "große" literarische Werke seien eben diejenigen, die in verschiedenen kulturellen Epochen immer wieder aufs neue auflebten und neue Erfolge erlebten. Die großen griechischen Tragiker, die "Ilias", die Werke Shakespeares, die Lyrik Goethes usw. - das sind Werke, die in immer neuen Kulturepochen andere Konkretisationen erleben, an denen auch neue ästhetische Werte zur Erscheinung gelangen, wobei diese Neuheit die Identität der Werke nicht bedroht. Indessen ruft gerade der Umstand gewisse Bedenken gegen diese Auffassung des künstlerischen Wertes hervor, daß je zahlreicher die Mannigfaltigkeit solcher möglichen verschiedenartigen Konkretisationen eines Kunstwerks wird, es desto weniger in sich selbst eindeutig bestimmt zu sein scheint und desto zahlreichere Unbestimmtheitsstellen und potentielle Elemente in sich zu enthalten scheint. Seine Beteiligung an der Bildung der Konkretisationen und der in ihnen konstituierten ästhetischen Werte wird dann unbedeutend und sinkt immer mehr herab. Die Verantwortung für die Aktualisierung dieser Werte lastet aber in hohem Maß auf den Lesern bzw. auf den Betrachtern des Werkes. 9 3 So scheint auch die Höhe der künstlerischen Werte, die in derartigen Werken auftreten, nicht besonders groß zu sein. Man muß aber hier die doppelte Rolle des künstlerischen Wertes beachten, einerseits in der ontischen Fundierung der ästhe-

Q-Î Wenn man die heutige Lyrik liest, hat man den Eindruck, daß die Dichter der Meinung sind, ihr Werk, soweit es nur möglich ist, unbestimmt sein lassen zu müssen, damit der Leser erst einen möglichst weiten Bereich zugelassener Konkretisationen zur Verfügung hat, die er nach seinem Willen so oder anders gestalten kann. Dies fing in Deutschland bereits mit Stefan George an, als er in seinen Gedichten alle Interpunktionszeichen wegließ, um ja den Leser in seiner Freiheit, das Gedicht zu deuten, nicht zu beschränken. Die jetzige Lyrik geht in dieser Richtung unvergleichlich weiter, indem man z.B. auf die Ausbildung korrekter, voller Sätze oft verzichtet, um dem Leser die Freiheit einer ihm genehmen Ergänzung des Gedichtes zu belassen. Der schematische Charakter des literarischen Werkes wird da manchmal bis an die Grenze des Absurden getrieben.

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IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks

tisch valenten Qualitäten und der in ihnen gründenden ästhetischen W e r t e , andererseits in der Ausübung der Einwirkung auf den L e s e r , um ihm eine Konkretisation zu suggerieren. Insofern also im Hinblick a u f das erste zugegeben werden kann, daß die "großen" Kunstwerke einen relativ kleinen Anteil an der Konstituierung der ästhetischen W e r t e haben, die in ihren mannigfachen Konkretisationen erscheinen, so muß doch ihre künstlerische Bedeutsamkeit in der W e c k u n g des Interesses und der Aktivität der L e s e r in der Gestaltung i m m e r neuer Konkretisationen hoch eingeschätzt werden. Die Meisterschaft m a n c h e r literarischer Kunstwerke kann auch darin liegen, daß sie eben nur sehr wenige ästhetisch hochwertige Konkretisationen zulassen. Das Kunstwerk ist in seiner Struktur innerlich so geschlossen, daß es nur relativ wenig Unbestimmtheitsstellen und potentielle M o m e n t e hat, an denen es ergänzt und aktualisiert werden kann. E s ist auch innerlich so streng gebaut, daß die Variabilitätsgrenze der Ausfüllungen einzelner Unbestimmtheitsstellen sich gegenseitig bedingen und einengen, so daß die Zahl der zugelassenen wertvollen Konkretisationen stark absinkt. E s können nur sehr wenige Veränderungen in den Konkretisationen vorgenommen werden, wenn der hohe ästhetische W e r t des Ganzen nicht darunter leiden soll. In der innigen Geschlossenheit des Aufbaus liegt zugleich der hohe künstlerische Wert des Kunstwerks sowie auch der ästhetische W e r t seiner wenigen Konkretisationen. Und dieser W e r t ist dann nicht niedriger als der W e r t j e n e r W e r k e , die sehr viele verschiedene wertvolle Konkretisationen zulassen. Im Zusammenhang mit dem eben Gesagten eröffnet sich die Möglichkeit einer anderen Auffassung von der Höhe des künstlerischen Wertes. Und zwar soll man sie nicht in der Relativierung a u f die durch das betreffende W e r k bedingten ästhetischen W e r t e suchen, sondern im H i n b l i c k auf die eigene Kunstfertigkeit des W e r k e s , auf die V o l l k o m m e n h e i t der künstlerischen T e c h nik, woraus sich dann seine eventuelle W i r k s a m k e i t a u f den L e s e r oder seine Fundierungsfähigkeit der ästhetisch wertvollen Qualitäten ergibt. Diese Kunstfertigkeit ist als ein besonderes Gepräge des Aufbaus des Kunstwerks zu bewundern. W i r sehen also, daß die Höhe des künstlerischen W e r t e s eines literarischen Kunstwerks auf verschiedene W e i s e verstanden werden kann und daß sie auch bei verschiedenen W e r k e n anders bestimmt ist. E s handelt sich nur darum, daß man i m m e r klar weiß, welcher Art der W e r t im betreffenden Fall

§ 27. Unbestimmtheitsstellen

(Rekapitulation)

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ist und worin er gründet. Auch dieser Umstand muß uns dazu bewegen, keine allgemeinen "Kriterien" von vornherein aufzustellen, sondern die einzelnen Kunstwerke ganz vorurteilslos zu betrachten und sich von ihnen belehren zu lassen. Dann wird sich auch der Zusammenhang zwischen den künstlerischen Werten und ihrem ontischen Grund, der in verschiedenen Fällen verschieden sein kann, langsam klären. Das ist eine Sachlage, mit welcher der literarische Kunstwerke analytisch betrachtende Forscher rechnen muß. Es steht ihm zu, in dem gerade untersuchten Kunstwerk einerseits diejenigen Elemente und Momente zu suchen, welche die Mannigfaltigkeit der ästhetisch wertvollen "richtigen" Konkretisationen intentional bestimmen, andererseits aber auch diejenigen Eigenheiten des Werkes zu entdecken, in welchen die Art und die Kraft des Einwirkens auf den Leser, im Geist bestimmt geartete Konkretisationen zu aktualisieren, ihren Grund haben. So wie die Rücksicht auf die möglichen Konkretisationen den Forscher über das literarische Kunstwerk selbst zu einem Ausblick auf diese Konkretisationen hinführt, so führt ihn andererseits die Rücksicht auf die Wirkungsfähigkeiten des Kunstwerks in Richtung auf den möglichen Leser und seine verschiedenen Verhaltensweisen dem literarischen Kunstwerk gegenüber hin, so sehr der Forscher in beiden Fällen auf bestimmte Seiten und Gestaltungen des Kunstwerks selbst konzentriert sein mag. Und diese Konzentration ist am größten dort, wo wir die "Kunstwertigkeit" des Kunstwerks enthüllen und sie in ihrer Eigenheit erfassen wollen. Das ist die komplizierte Situation, vor welcher die analytische, vorästhetische Betrachtung literarischer Kunstwerke steht, wenn sich für sie die Frage nach der Entdeckung des künstlerischen Wertes des Kunstwerks abzuzeichnen beginnt. In den zahlreichen Studien zur sog. "literarischen Wertung", die in den letzten Jahren erschienen sind, hat - wie mir scheint - niemand diese Situation klar gesehen. Sie muß sowohl ganz allgemein als auch im Einzelfall zuerst analysiert werden, bevor man an die Durchführung einer "literarischen Wertung" eines Werkes selbst herantritt. Wie aus den zuletzt angestellten Erwägungen hervorgeht, sind wir noch nicht genügend vorbereitet, an das Problem der "literarischen" und auch der "ästhetischen" Wertung literarischer Kunstwerke schon jetzt heranzutreten. Momentan müssen wir sogar die Frage offen lassen, ob jene "literarische Wertung" eine besondere Erkenntnisoperation oder eine Verhaltensweise ist, die über die Sphäre des Erkennens hinausgeht und in das

340

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

Gebiet eines besonderen Fühlens führt. Es kann damit - wie es scheint - noch eine [davon] verschiedene Bewandtnis haben. Es gibt möglicherweise verschiedene Typen und Weisen der "Wertung". Die einen fallen in das Gebiet einer besonderen Art des Erkennens, während die anderen in völlig anderen Verhaltensweisen des ästhetischen Empfängers bestehen. Sobald wir aber an das Problem der Wertung bzw. des Werterfassens eines literarischen Kunstwerks herantreten, können wir uns mit dem bloß vorästhetischen analytischen (eventuell auch synthetischen) Betrachten des Werkes nicht zufrieden geben und müssen das Problem der Erfassungsweise der ästhetischen Konkretisationen des literarischen Kunstwerks angreifen.

§ 28. Das betrachtende E r k e n n e n der ästhetischen Konkretisation des Kunstwerks In diesem Paragraphen ist eine der wichtigsten Fragen für die Möglichkeit der wissenschaftlichen

Erkenntnis der literarischen Kunst zu erwägen: Ob und

wie sie möglich ist, ohne daß der spezifische Charakter des ästhetisch Wertvollen dabei einer Deformation unterliegt, das ist das Problem. Auf den ersten Blick scheint es, als eröffneten sich hier keine prinzipiell neuen Probleme. Es seien hier dieselben Weisen des betrachtenden Erkennens anzuwenden, die bereits im vorigen Paragraphen besprochen wurden, mit dem alleinigen Unterschied, daß sie auf etwas anderes angewendet werden sollen: nicht mehr auf das literarische Kunstwerk als ein schematisches Gebilde, sondern auf eine der Konkretisationen, die in ästhetischer Einstellung zur Konstitution gelangt. Jede Konkretisation eines literarischen Kunstwerks ist ja sowieso bis zu einem gewissen Grad auch schematisch, wenn auch manche Unbestimmtheitsstellen des zugehörigen Kunstwerks beseitigt wurden. Es bleiben aber dabei noch genügend Unbestimmtheitsstellen unausgefüllt, so daß man Grund hat, die Konkretisation nicht für ein allseitig voll bestimmtes Gebilde zu halten. Andererseits werden in den einzelnen Konkretisationen tatsächlich nicht alle potentiellen Elemente aktualisiert. Viele Literaturforscher sind somit der Meinung, daß hier an ihrer Verfahrensweise nichts zu ändern sei, 9 4 und wenn sie bei ihren Versuchen auf *Schwierigkei-

§ 28. Betrachtendes Erkennen der Konkretisation

341

ten* stoßen und Mißerfolge erleiden, schieben sie das der sog. Irrationalität des Kunstwerks zu, das angeblich der rationalen Erkenntnis unzugänglich sein soll, und erklären das literarische Kunstwerk in seiner ästhetischen Konkretisation für überhaupt unerkennbar. Man glaubt infolgedessen, eine solche Konkretisation solle nur ästhetisch erlebt werden und könne nur in dem Maß erkannt werden, als es im ästhetischen Erleben selbst gewisse Erkenntnisakte gibt, die dies leisten können, solange sie in das Gewebe dieses Erlebnisses eingeflochten sind. Dabei ist man ohne weiteres bereit zu betonen, daß sowohl dieses Erleben als auch die darin eingewobenen Erkenntnisakte bloß zu "subjektiven" Ergebnissen führen, und das soll bedeuten, daß sie keine allgemeine Geltung haben noch haben können und eigentlich nichts anderes als eine Illusion des Forschers sind. Ist an dieser Auffassung alles richtig? Muß man wirklich auf die Wissenschaftlichkeit der Erfassung literarischer ästhetischer Gegenstände 95 verzichten? Das ästhetisch-betrachtende Erkennen des literarischen ästhetischen Gegenstandes bereitet uns größere Schwierigkeiten als das analoge Erkennen des ästhetischen Gegenstandes in der Malerei, d.h. des ästhetischen Gegenstandes, welcher sich im ästhetischen Umgang mit einem Bild konstituiert, das keine rein mechanische Abbildung einer außerkünstlerischen Wirklichkeit, sondern ein Kunstwerk ist. Es scheint zunächst, daß beim ästhetischen Erleben jeder Art, also unabhängig davon, was seinen (Ausgangs-)Gegenstand bildet, die Vertiefung in dieses Erleben die Erlangung einer betrachtenden Erkenntniseinstellung mindestens sehr erschwert. Frei kann man - wie es scheint - einen ästhetischen Gegenstand nur in zwei Fällen betrachtend erkennen: entweder nach dem Vollzug des vollendeten ästhetischen Erlebnisses oder wenn man den Verlauf dieses Erlebnisses in gewissen Phasen unterbricht und zur betrachtenden Einstellung zurückkehrt. 96 Im ästhetischen Erleben gibt es aber beachtenswerte Unterschiede je nachdem, ob wir mit einem Bild oder mit einem literarischen Kunstwerk ästhetisch verkehren. Wenn wir

95

Statt "ästhetische Konkretisation des literarischen Kunstwerks" verwende ich jetzt den kürzeren Ausdruck "literarischer ästhetischer Gegenstand".

96

Es gibt noch eine dritte Möglichkeit, auf die ich noch zu sprechen komme. Es gibt aber in diesem Fall keine derartige Freiheit im Verlauf der Erkenntnisoperationen wie bei den jetzt erwähnten Möglichkeiten.

342

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

es mit einem Bild zu tun haben, haben wir es in den meisten Fällen (d.h., wenn das Bild nicht zu groß ist und gut beleuchtet wird) mit seinem physischen Seinsfundament, d.h. mit einem Gemälde zu tun, 9 7 welches sich während des Betrachtens nicht merklich ändert. Man kann es dann im allgemeinen mit einem Blick als Ganzes sehen und während des Wahrnehmens in relativ kurzer Zeit das Bild selbst als Ganzes konstituieren. Und wenn man bald nach dem Einsetzen des Betrachtens in die ästhetische Einstellung versetzt wird, kann man auch ziemlich schnell zur Konstituierung des entsprechenden ästhetischen Gegenstandes gelangen. Man braucht im allgemeinen nicht, so wie es beim Kennenlernen eines literarischen oder eines musikalischen Kunstwerks notwendig ist, die aufeinanderfolgenden Teile des Werkes in einem in der Zeit ziemlich lange dauernden Vorgang des Lesens oder des Hörens zuerst kennenzulernen, um es erst nachher oder auch schon während der Lektüre im ästhetischen Erlebnis zu erfassen. Auch bei einem relativ kurzen Gedicht gewinnen wir nacheinander das immer neue Material (die Teile des Gedichts), das als Grundlage zur Konstituierung des literarischen ästhetischen Gegenstandes dient. Bei einem Bild ist es nach dem relativ schnell verlaufenden Vorgang des Sehens 9 8 und nach der endgültigen Konstituierung des "malerischen" ästhetischen Gegenstandes relativ leicht, zu der betrachtenden Einstellung überzugehen und diesen Gegenstand dann zu erkennen. Von wesentlicher Bedeutung ist dabei, daß der auf der Grundlage eines Bildes konstituierte ästhetische Gegenstand auch nach dem Ablauf des ästhetischen Erlebnisses einige Zeit

97

Vgl. Untersuchungen zur Ontologie der Kunst, "Das Bild" [Tübingen 1962], S. 138-253.

QO

Es gibt natürlich verschiedene Falle, in welchen man das betreffende Bild auch sehr lange wahrnehmend betrachtet und sogar das Gemälde in mannigfachen Wahrnehmungsmannigfaltigkeiten untersucht. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn es zweifelhaft ist, ob das uns vorgelegte Gemälde wirklich ein Original, z.B. von El Greco, ist oder eine vortreffliche Nachahmung. Es ist auch möglich, daß uns das richtige Verstehen des Bildes besondere Schwierigkeiten bereitet und daß wir schon während des ästhetischen Erlebens zur schlichten Wahrnehmung des Gemäldes zurückkehren und es von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Im ersten Fall handelt es sich aber Uberhaupt nicht um die ästhetische Erfassung des Bildes, im zweiten dagegen tun wir es deswegen, weil wir unsere ästhetische Erfassung des ästhetischen Gegenstandes vertiefen und ihn als eine gerechte Deutung des betreffenden Kunstwerks konstituieren wollen. Jedenfalls sind es eher Ausnahmefälle, während der Vorgang der Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes in der Malerei meist viel schneller vor sich geht als in den sog. "Zeitkünsten".

§ 28. Betrachtendes Erkennen der Konkretisation

343

im lebendigen Gedächtnis relativ unverändert erhalten werden kann. Man kann ihn dann als Ganzes auf einmal erfassen. Dies verhält sich aber bei literarischen (oder auch musikalischen) Kunstwerken wesentlich anders, wie aus den schon durchgeführten Betrachtungen hervorgeht, weil da nicht bloß die bereits gelesenen Teile des Werkes nicht mehr aktuell sind, sondern auch die Erscheinungen der Zeitperspektive ingerieren und die Gestalt der einzelnen Teile und ihrer Ordnung der Aufeinanderfolge modifizieren. Nach dem Abschluß der Lektüre hört das gelesene Werk überhaupt auf, aktuell zu sein, ganz unabhängig davon, ob es in schlichter oder in ästhetischer Einstellung gelesen wurde. Es könnte nur entweder im lebendigen Gedächtnis oder in Erinnerungsakten wieder aufleben, aber auch dann nur in einer kondensierten Gestalt oder in einem sich in der Erinnerung vollziehenden Ablauf seiner aufeinanderfolgenden Teile. Außerdem ist es dann nur in einer Zeitperspektive nämlich in derjenigen, die wir am Ende des gelesenen Werkes haben - zur Erfassung zu bringen, in einer Zeitperspektive, die für die Erkenntnis des Werkes vielleicht sehr wichtig oder vielleicht sogar am wichtigsten ist, uns aber das Werk nur in einer doch weitgehenden Verkürzung gibt. Um in dieser Zeit eine Erkenntnis des literarischen ästhetischen Gegenstandes durchzuführen, müßte ihn der Erkennende eine relativ lange Zeit in seiner vollen Lebendigkeit und Frische erhalten können, obwohl er in diesem Moment bereits seine Einstellung prinzipiell geändert hat (er ist nämlich von der ästhetischen Einstellung zur betrachtenden zurückgekehrt). Er müßte sich auf die Ergebnisse einer lebhaften und möglichst adäquaten Erinnerung stützen, in welcher ihm der bereits konstituierte volle literarische ästhetische Gegenstand gegeben wäre. In seiner wissenschaftlichen *Praxis* bedient sich auch der Literaturforscher oft ausgiebig der Wiedererinnerung. Dabei drohen aber neue Gefahren - der Täuschung oder des Irrtums der Erinnerung - , und zudem beginnen neue sekundäre Zeitperspektiven infolge des sich Entfernens des Erkennenden von der Phase des ästhetischen Erlebnisses zu intervenieren. Um dies zu vermeiden, kann man auch anders verfahren, und zwar auf zwei verschiedene Weisen: man kann entweder den ästhetischen Verkehr mit dem Werk nach der Lektüre eines Teiles unterbrechen und für einige Zeit die betrachtende Einstellung einnehmen, um in ihr bereits gelesene und ästhetisch konstituierte Teile des Werkes zu erkennen und nachher wiederum zur ästhetischen Einstellung zurückzukehren, oder während des ästhetischen Er-

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IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

lebens des Werkes zugleich versuchen, die ästhetisch-betrachtende Erkenntnis der einzelnen Phasen des Werkes in neuen, sozusagen dariibergebauten Erkenntnisakten durchzuführen. Beide Erkenntnisweisen haben aber ihre Mängel und führen zu beachtenswerten Schwierigkeiten. Die erste deswegen, weil sie den normalen Verlauf des ästhetischen Erlebnisses unzweifelhaft stört, die zweite, weil sie die völlige Hingabe des ästhetischen Erlebens an den sich konstituierenden ästhetischen Gegenstand erschwert oder vielleicht überhaupt unmöglich macht. Im ersten Fall werden außerdem die Phänomene der Zeitperspektive, in denen die Teile des konkretisierten Werkes zur Erscheinung gelangen, und somit die von ihnen stammenden ästhetisch valenten Momente wesentlich gestört und verändert. In der wissenschaftlichen *Praxis* aber werden diese beiden Verfahren mit größerem oder kleinerem Erfolg bzw. Mißerfolg angewendet." Die Folgen dieser Verfahrensweisen werden wir uns deutlicher zu Bewußtsein bringen, wenn wir einige Züge des ästhetischbetrachtenden Erkennens 100 des literarischen ästhetischen Gegenstandes klären. Während das vor-ästhetische betrachtende Erkennen des literarischen Kunstwerks (außer den bereits früher besprochenen Fällen) völlig emotionslos verlaufen kann, verhält es sich mit dem betrachtenden Erkennen des literarischen ästhetischen Gegenstandes doch anders. Zur Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes ist - wie wir uns erinnern - das Sich-Abspielen der ästhetischen Ursprungsemotion unentbehrlich. Sie und dasjenige, was sich aus ihr im ästhetischen Erleben entwickelt, bilden die spezifische Weise der Erfahrung des ästhetischen Gegenstandes - man kann auch sagen, daß sie den unmittelbaren Zugang zu dem ästhetisch Wertvollen bzw. zu den ästhetischen Werten schafft. Dem ästhetisch-betrachtenden Erkennen des literarischen ästhetischen Gegenstandes muß diese Emotion zugrunde liegen, soll es diesen Zugang nicht verlieren. Sie bildet in diesem Fall keinen störenden oder verfäl-

nq Alle diese Schwierigkeiten verlieren bis zu einem gewissen Grad bei kleinen Werken, z.B. kleinen lyrischen Gedichten, ihre schädigende Bedeutung. 100

Der Ausdruck "ästhetisch-betrachtende" Erkenntnis soll bedeuten, daß dieses Erkennen sich auf einen ästhetischen Gegenstand bezieht, also die Ergebnisse des ästhetischen Erkennens ausnützt, aber zugleich über das ästhetische Erlebnis hinausgeht und betrachtend, d.h auf die Erfassung der eigenen Züge des (ästhetischen) Gegenstandes aus ist. Wie ein solches Erkennen möglich ist und wie es sich vollzieht — das ist unser Problem.

§ 28. Betrachtendes Erkennen der Konkretisation

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sehenden Faktor, es fragt sich nur, wie sich der Charakter der betrachtenden Erfassung mit ihr verträgt. Sobald dieser Gegenstand in seinem Wert konstituiert ist, vollzieht sich - wie wir uns erinnern - der Akt der ästhetischen Wertantwort, der aus der Erfahrung des Wertes erwächst und eine unmittelbare Anerkennung dieses Wertes ist. In inniger Einheit mit der Wertantwort müssen sich neue Erkenntnisakte vollziehen, und zwar auf eine Weise, welche die Ergebnisse der Konstitution und Erfassung des Wertes nicht antastet bzw. nicht modifiziert. Denn erst jetzt ist dasjenige, was sich im Verlauf des ästhetischen Erlebnisses und im Vollzug der Wertantwort konstituiert hat, der fertige und vorgefundene ästhetische Gegenstand. Auf diesen Gegenstand muß sich unser betrachtendes Erkennen richten. Dies wird bis zu einem gewissen Grad dadurch erleichtert, daß wir in den Endphasen des ästhetischen Erlebnisses auf den ästhetischen Gegenstand und den Zusammenklang seiner ästhetischen Wertqualitäten konzentriert sind; wir brauchen uns also nicht erst auf etwas zu richten, was nur an der Peripherie unseres Bewußtseins liegt. Indem wir in die Kontemplation dieses Gegenstandes vertieft sind und uns an der Fülle des qualitativen Zusammenklanges der Wertqualitäten ergötzen, vollzieht sich gerade dasjenige, was in jeder unmittelbaren Erfahrung vonstatten geht: die anschauliche Selbstgegenwart dessen, woran wir uns eben ergötzen. Es bleibt uns, das Selbstgegebene festzuhalten (damit es uns nicht sofort entschwindet) und es in seiner qualitativen Beschaffenheit zu begreifen. So einheitlich die zuletzt resultierende Gestalt des Zusammenklanges auch sein mag, so gilt es doch nicht bloß, ihre Spezifität zu erfassen (was eine unzweifelhafte Bedingung der Wertantwort und insbesondere des Sich-Ergötzens am Wert ist), sondern auch die qualitative Grundlage, auf der sie fundiert ist, zu durchschauen und in ihrer qualitativen Heterogenität zu erfassen, 101 wonach noch eine begriffliche Fassung dieses ganzen Bestandes

' Bei den literarischen (bzw. musikalischen) ästhetischen Gegenständen ist es eben fraglich, wie und ob dies möglich ist, weil die früheren Phasen des entsprechenden ästhetischen Gegenstandes vorübergehen und dem Betrachter, der auf den finalen Wert konzentriert ist, entschwinden, obwohl sie auch zu der Konstitution dieses Wertes ihrerseits beitragen; es ist da eben kein dauerhaftes Bild vorhanden, sondern nur ein sich immer wieder aufs neue entwickelnder und vorübergehender Vorgang, d.i. das literarische Kunstwerk selbst. Und doch können wir bei der Erfassung des literarischen ästhetischen Gegenstandes auf die den ästhetischen Wert begründende Grundlage nicht verzichten, weil uns sonst vom ganzen ästhetischen Gegenstand nur sein letzter werthafter Ausklang bliebe. Dies kann *schon im

346

IV. Abwandlungen

des Erkennens

des literarischen

Kunstwerks

folgen muß, damit es zu einer echten, betrachtenden Erkenntnis des Ganzen kommt. Es sollte außerdem möglich sein, die Ergebnisse dieser Fassung in eindeutig bestimmten und anderen verständlichen Urteilen anzugeben. Und da erst entstehen Schwierigkeiten und regen sich Zweifel, ob dieser ganze Erkenntnisvorgang so durchgeführt werden kann, wie die analytische, vorästhetische Erkenntnis des literarischen Kunstwerks verläuft. Es wird fraglich, ob die Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks nicht in vielen Einzelheiten von der analytischen betrachtenden Erkenntnis des literarischen Kunstwerks als eines schematischen Gebildes verschieden ist, Einzelheiten, welche ihre Objektivität und auch ihre intersubjektive Verständlichkeit in Frage stellen könnten. Die ästhetische Kontemplation der im ästhetischen Erleben endgültig konstituierten wertbestimmten Gestalt der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks ist unzweifelhaft selbst eine emotional betonte Erschauung, welche uns oft in verschiedene mögliche Emotionen versetzt. Diese Emotionen (die weit über das hinausgehen können, was in der Wertantwort enthalten ist) sind *an sich keine ästhetischen Erfassungsemotionen mehr*, die an sich den Schlüssel zu ästhetischen Werten bilden, sondern einfach verschiedenartige (mögliche) Gefühle, in die wir versetzt sind und die bloß einen Nachklang des ästhetischen Erlebnisses bilden. Als Gefühle haben sie es an sich, daß sie, wenigstens in vielen Fällen, phänomenal produktiv sind, d.h. daß sie die Fähigkeit haben, manche ihnen gemäße phänomenale Charaktere dem jeweilig Gegebenen (Vorgefundenen) aufzuprägen und insofern dessen qualitative Gestalt zu ändern und insbesondere zu verfalschen. Die eigene wertbestimmte Gestalt des ästhetischen Gegenstandes (insbesondere der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks) kann somit durch die Gefühlszustände, in welche wir infolge der Erschauung des ästhetischen Gegenstandes versetzt werden, mit neuerlichen phänomenalen Momenten behaftet werden, die ihm im Grunde fremd sind und die ihn - besonders in seinem ästhetischen

schlichten ästhetischen Erleben kaum* zugelassen werden. Sobald es sich aber um eine Erkenntnis

des

ästhetischen

Gegenstandes

handelt

-

insbesondere

in

einer

wissenschaftlichen Forschung - ist die qualitative fundierende Grundlage des ästhetischen Wertes - man möchte sagen - ebenso wichtig wie dieser Wert selbst. Daher unsere Forderung.

347

§ 28. Betrachtendes Erkennen der Konkretisation

Wert - verfälschen können. Das also, was man zuerst zu tun hat, ist, diese *Folgeemotionen* entweder zu beseitigen oder mindestens die von ihnen stammenden

sekundären

emotionalen

Phänomene

am

ästhetischen

Gegenstand von seiner eigenen qualitativen Wertgestalt scharf zu unterscheiden, um diese Gestalt in ihrer Reinheit zu erfassen. Es ist natürlich viel leichter, die Reaktionsgefühle zu dämpfen oder überhaupt zu beseitigen, weil dann die von ihnen stammenden phänomenalen Charaktere am ästhetischen Gegenstand verschwinden oder mindestens verschwinden können. Dieser Weg scheint auch der natürliche zu sein, weil die betrachtende Einstellung des Erkennenden von selbst die in ihm waltenden Gefühle - wenigstens im Prinzip auszulöschen fähig ist. Sie zeichnet sich ja durch eine gewisse Emotionslosigkeit aus. Wenn es aber wirklich gelingt, die als Folge des ästhetischen Erlebnisses entstehenden Gefühle auszulöschen, dann droht die Emotionslosigkeit des betrachtenden Erkennens zu weit zu gehen und dazu zu führen, daß zugleich auch die spezifisch ästhetische Emotion beseitigt wird, welche die Erschauung der Wertbestimmtheit des betreffenden ästhetischen Gegenstandes mitermöglicht und auch emotional betont. Dadurch würde aber - wie es scheint - der Zugang zu anschaulich gegebenen Wertqualitäten und zu ihrer ästhetisch wertvollen qualitativen Grundlage versperrt; man verlöre dadurch den unmittelbaren Kontakt mit der endgültigen Wertgestalt des ästhetischen Gegenstandes, so daß dann dem betrachtenden Erkennen des ästhetischen Gegenstandes nichts mehr zu erfassen bliebe, und zwar gerade dasjenige fehlte, was seinen wesenhaften Kern und die ratio essendi bildet. Dann könnte dieses werthafte Antlitz des ästhetischen Gegenstandes nur auf Grund einer lebhaften Erinnerung dessen, was in der letzten Phase des bereits verflossenen ästhetischen Erlebnisses phänomenal selbstgegenwärtig war, betrachtend erkannt werden, wobei alle Gefahren der erinnerungsmäßigen Täuschung und des Irrtums wieder auftreten würden. Dem ist zunächst dadurch abzuhelfen, daß man den qualitativen werthaften Gehalt des ästhetischen Gegenstandes im lebendigen Gedächtnis aufbewahrt und die betrachtende Intention des Erkennens auf ihn richtet, oder aber, daß man nach dem Auslöschen der phänomenalen Selbstgegenwart des konstituierten ästhetischen Gegenstandes versucht, das betreffende Kunstwerk aufs neue ästhetisch zu erfahren und zu einer neuen Konstituierung des diesbezüglichen ästhetischen Gegenstandes zu gelangen, an der man aufs neue den werthaften Gehalt dieses Gegenstandes

348

IV. Abwandlungen

des Erkennens

des literarischen

Kunstwerks

betrachtend zu erkennen sucht. Sowohl Bilder und Musikwerke als auch literarische Kunstwerke nehmen wir oft mehrere Male wahr (wir betrachten, hören oder lesen sie mehrmals), und so sehr auch dabei gewisse Gefahren drohen, 102 ist es doch unzweifelhaft, daß wir dasselbe Kunstwerk mehrmals ästhetisch erleben und dabei auch zur Konstituierung desselben ästhetischen Gegenstandes gelangen können. Wir lernen dabei die in ihrer ästhetischen Konkretisation aufs neue erfaßten Werke immer genauer und deutlicher kennen, so daß wir an Hand der neuen Konkretisation des werthaften Gehalts des betreffenden ästhetischen Gegenstandes die Erkenntnisergebnisse, welche wir an einer früheren Konkretisation über diesen Gehalt erworben haben, an der neuen Konkretisation erweitern, vertiefen und kontrollieren können. Es ist ein Vorurteil zu behaupten, man könne dasselbe literarische Kunstwerk nicht mehrmals mit wirklichem Interesse und unter Weckung eines neuen ästhetischen Erlebnisses, das zu demselben literarischen ästhetischen Gegenstand führt, lesen. Wir tun es tatsächlich oft (in der Musik kommt das vielleicht öfter als in der Literatur vor), und zwar sowohl als schlichte Konsumenten als auch als Literaturforscher. Und eine Vertiefung der ästhetischen Erfassung, ein richtigeres Verständnis des Werkes und seiner ästhetischen Konkretisation kommt dabei auch oft tatsächlich vor. Und gerade ganz ebenso, wie bei den Musikwerken, die wir in verschiedenen Ausführungen hören, gelangen wir auch bei literarischen Kunstwerken nicht bloß zu der Überzeugung, daß wir es mit demselben Kunstwerk als einem schematischen Gebilde, sondern auch mit demselben literarischen ästhetischen Gegenstand zu tun haben. Die Identität dieses Gegenstandes bleibt - trotz aller Unterschiede, auf die wir noch zu sprechen kommen - durch mehrere Erfassungen hindurch erhalten, obwohl nicht geleugnet werden soll, daß sie manchmal aus besonderen Gründen abbricht, so daß wir dann zwar noch sagen können, wir hätten dasselbe literarische Werk gelesen; wir haben aber dabei einen völlig anderen ästhetischen Gegenstand erworben. 103 Dort aber, wo es uns gelingt, diese Identität auf-

102 Ich ΙΛ1 ..

komme sogleich darauf zu sprechen.

Uber die Gründe sowie die Grenzen dieser Identität habe ich sowohl in dem Buch Das literarische

Kunstwerk

tersuchungen

(Kapitel X I V ) als auch in der Abhandlung "Das Musikwerk" (vgl. Un-

zur Ontologie

der Kunst, S. 5 - 1 3 8 ) eine besondere Betrachtung durchge-

führt. Vielleicht habe ich dort die Unterschiede zwischen den einzelnen Konkretisationen, besonders den ästhetischen Konkretisationen, zu stark betont.

§ 28. Adäquate

Rekonstruktion

349

rechtzuerhalten, bezieht sie sich nicht bloß auf die neutrale Grundlage des Kunstwerks, sondern auch auf den werthaften Gehalt des in mehreren Fällen konkretisierten ästhetischen Gegenstands. Und das ermöglicht uns, eine begründete betrachtende Erkenntnis dieses Gehalts zu erzielen, oder es hilft uns mindestens, dieses Erkennen durchzuführen und seine Ergebnisse zu sichern und zu kontrollieren. Ich vergesse natürlich nicht, was ich hier und in meinem Buch über das literarische Kunstwerk über die zahlreichen und verschiedenartigen Unterschiede zwischen den einzelnen Konkretisationen desselben literarischen Kunstwerks gesagt habe. Diese Unterschiede bestehen im normalen Fall der Lektüre des Werkes durch literarische Konsumenten, und sie lassen sich besonders deutlich fühlen, wenn es sich um verschiedene Leser oder um Lektüren desselben Lesers handelt, die sich in größeren zeitlichen Abständen abspielen. Und sie wachsen, wenn die Lektüre nicht genug auf die genaue Erfassung des Sinnes der Sätze achtet und auch bei ungenügend aktiver Objektivierung der dargestellten Gegenständlichkeiten und bei relativ großer Unlebendigkeit der Konkretisierung der Ansichten durchgeführt wird, d.h. wenn sie dem Zufall überlassen bleibt. Alle diese Mängel der Lektüre sind aber gar nicht notwendig und können vermieden werden, wenn nur die Lektüre auf eine möglichst genaue und adäquate Rekonstruktion des betreffenden Werkes eingestellt ist. Je ordentlicher, je genauer die Entzifferung des Werkes ist, je achtsamer der Leser nicht bloß die einzelnen Sätze, sondern auch die Zusammenhänge zwischen ihnen beachtet, sich den Suggestionen des Textes unterwirft und aktiv die dargestellte Welt sinngemäß intentional entwirft, zugleich auch die Ansichten unter der Suggestion der dichterischen Sprache konkretisiert und auch diejenigen und nur diejenigen Unbestimmtheitsstellen im Geist des Werkes beseitigt, die eben beseitigt werden sollen, desto wahrscheinlicher ist es, daß auch die ästhetische Konkretisierung des Werkes in den Bereich der vom Kunstwerk zugelassenen Konkretisationen fällt und daß sich somit die erzielten ästhetischen Konkretisationen desselben literarischen Kunstwerks einander nähern. Man spricht jetzt oft unter der Suggestion von Emil Staigers Werken von der "Kunst der Interpretation". Man sollte aber vor allem von der Kunst des Lesens literarischer Kunstwerke sprechen, und zwar von einer Kunst, die nicht notwendig Gabe des Talents, des sozusagen nicht zu erlernenden Genies ist, sondern von einer "Kunst", die eben - wie ein gutes Handwerk -

350

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks

erlernbar ist und auch ausgeübt werden kann. E b e n das mehrmalige L e s e n desselben literarischen Kunstwerks bei gleichzeitiger analytischer B e t r a c h tung der beiden Schichten der Sprache, unter Erraten des Sinnes der Sätze und Satzzusammenhänge und unter Beseitigung der zunächst sich eventuell aufdrängenden Unverständlichkeiten des T e x t e s , führt zu einem immer besseren Verständnis des gelesenen W e r k e s und eben damit auch zu seiner korrekteren Rekonstruktion und dann auch zu einer d e m W e r k immer genauer angepaßten ästhetischen Konkretisation. Natürlich müssen neben der erlernten Kunst des L e s e n s noch verschiedene subjektive Bedingungen erfüllt werden, die über diese " K u n s t " hinausgehen und in das G e b i e t des Talents des Lesers führen und vielleicht nicht mehr erlernbar sind. Und es gehören auch dazu die günstigen Umstände, unter welchen sich die Lektüre und die ästhetische K o n kretisierung des W e r k e s vollzieht. Nicht bei allen Lesern und nicht in allen Fällen der Lektüre müssen sie in gleichem M a ß e erfüllt werden. Daher kann es auch bei einer korrekten Lektüre und bei der Bemühung, das betreffende W e r k möglichst adäquat ästhetisch zu konkretisieren, noch beträchtliche Unterschiede zwischen verschiedenen Konkretisationen desselben W e r k e s geben und zwar sowohl bei einem und demselben L e s e r als auch bei verschiedenen L e s e r n . Nichtsdestoweniger darf nicht behauptet werden, diese Unterschiede müßten i m m e r und notwendig vorhanden sein und seien i m m e r so radikal und tiefgreifend, daß die dabei erzielten literarischen ästhetischen Gegenstände überhaupt nicht identifizierbar sind bzw. sein müssen. Infolgedessen müssen sie auch nicht zur Konstituierung radikal verschiedener ästhetischer W e r t e führen. Nur aber, wenn es so wäre, könnte uns eine neuerliche Lektüre desselben Kunstwerks bei dem Versuch, den ästhetischen W e r t desselben betrachtend zu erkennen, nicht helfen. D e r Versuch, eine neuerliche Lektüre zu diesem Z w e c k durchzuführen, hätte dann keinen Sinn. M a n sollte aber diesen ungünstigen Grenzfall nicht von vornherein und ohne die konkrete Erfahrung zu berücksichtigen als notwendig annehmen und a u f die Erlernung einer korrekten Lektüre und a u f den Versuch, eine möglichst adäquate ästhetische Konkretisation durchzuführen, aus Prinzip verzichten. M a n tut es aber eben oft "aus Prinzip", weil man von vornherein die sogenannte

"Subjektivität"

und

"Relativität" der ästhetischen Werte predigt. M a n schließt auch von vornherein aus, daß sowohl die ästhetisch wertvollen Qualitäten, als auch die in ihnen fundierten qualitativ bestimmten W e r t e in den konstanten, an sich ästhetisch

S 28. Adäquate

Rekonstruktion

351

neutralen Eigentümlichkeiten des Werkes ihren Seins- und Bestimmungsgrund haben können, da - wie die subjektivistische und relativistische Werttheorie voraussetzt - diese Werte und diese Qualitäten lediglich im ästhetisch erlebenden Leser, in seinem "gustus" ihren Ursprung und auch ihre subjektivistische Anerkennung haben und haben können. Man setzt noch dazu voraus, daß es zwischen den Lesern unausrottbare Unterschiede des "gustus" gibt. Dann müssen natürlich die einzelnen literarischen ästhetischen Gegenstände in ihrem Wert radikal voneinander abweichen und sich je nach der Stimmung des Lesers auch radikal wandeln. Man kann nicht "zweimal in denselben Fluß steigen", man kann nicht zwei identische oder gleiche ästhetische Konkretisationen desselben Werkes realisieren - sagt man. Dann wäre es natürlich zwecklos, dasselbe Werk noch einmal zu lesen, um mit demselben ästhetischen Wert zum zweiten Male zu verkehren. Nun - d a s sind alles "prinzipielle", nicht nachkontrollierte Grundsätze, die fallengelassen werden müssen, sobald man nur den Vorgang des Lesens vorurteilslos analysiert und sobald man sich auch selbst befragt, wie es einem tatsächlich bei den Versuchen, ein bestimmtes Werk in korrekter Lektüre kennenzulernen, erging. Dann sieht man, daß man die Einflüsse der sich wandelnden Stimmung bei der Lektüre sowie auch die Einflüsse der Wandlung unserer geistigen Frische mindestens sehr begrenzen kann, und andererseits, daß die Lernversuche, ein bestimmtes Werk zu lesen, gar nicht fruchtlos sind. Durch mehrmalige Lektüre beginnen wir das Werk besser zu verstehen, obwohl wir zudem noch danach trachten müssen, daß die Bedingungen, unter welchen das ästhetische Konkretisieren des Werkes verläuft, möglichst günstig sind. In der Praxis tun wir das fast immer. Wir bereiten uns auf die Lektüre vor, wir versuchen, alle störenden Umstände zu beseitigen usw. Wichtig ist aber, daß die ästhetische Konkretisierung des Werkes sozusagen nicht "von außen" - z.B. durch Berücksichtigung der Information über andere Werke, über die historischen Umstände, in welchen das betreffende Werk geschrieben wurde - wie dies bei den Literaturforschern oft der Fall ist, sondern "von innen", durch die Konzentration auf das betreffende Werk selbst und die Anlehnung der Konkretisierung an seine Einzelheiten gestützt wird. Man erhebt oft seitens der Literaturforscher, die vor allem auf genetische Probleme eingestellt sind, den Vorwurf, daß dann das Werk unverständlich sei. Nun, es kann natürlich literarische Werke und sogar

352

IV. Abwandlungen des Erkennens des liierarischen

Kunstwerks

Kunstwerke geben, die bei der Begrenzung ihrer Erfassung auf ihre eigenen Einzelheiten tatsächlich unverständlich sind. Sie sind dann entweder schlecht geschrieben oder benutzen die Unverständlichkeit als ein besonderes künstlerisches Mittel, um gewisse ästhetische Effekte hervorzurufen. In beiden Fällen müssen sie aber in ihrer Unverständlichkeit zuerst erfaßt werden, und wenn sie in ästhetischer Einstellung konkretisiert werden, so führt das zu Konkretisationen, die ihrem Wesen entsprechen und deren Wert eben dann richtig konstituiert und auch erfaßt wird, ganz unabhängig davon, ob er dann positiv oder negativ ist. Und in dieser seiner eventuellen Negativität oder Gebrechlichkeit soll er eben erkannt werden. Und erst dann kann eventuell der Versuch unternommen werden, den Gehalt eines solchen Werkes durch äußere Information zu ergänzen und nachzusehen, ob es daraufhin verständlicher wird und in ästhetischer Konkretisation einen anderen, vielleicht höheren oder niedrigeren ästhetischen Wert erhält. Man muß dann auch ein klares Bewußtsein davon haben, was durch dieses Verfahren in den Gehalt des Werkes eingeführt oder in ihm modifiziert wurde, um den Grund, auf dem sein Wert konstituiert wurde, streng zu bestimmen. Von vornherein aber auf dem Standpunkt zu stehen, daß alle - auch die literarisch besten Werke - erst durch eine Welle von äußeren Informationen verständlich werden könnten, während diese sie im Grund oft nur verdecken oder jedenfalls verfälschen, ist ganz unberechtigt. Durch die Information deutet man auch in das Werk verschiedenes hinein, was ihm im Grund ganz fremd ist, und wirft gerade auf seine ästhetisch wertvollen Qualitäten und auch auf seinen eigentümlichen ästhetischen Wert ein fremdes Licht: eine Umdeutung gerade dessen, was das Individuelle am Werk ist. Jedes wirklich echte und große Kunstwerk ist eben ein eigenartiges Individuum, und es muß alles darangesetzt werden, daß es in seiner individuellen Eigenheit, in seinem ästhetisch werthaften Gehalt konstituiert und nach dem Vollzug seiner Konstituierung in seinem eigenen ästhetischen Wert erkannt wird. Es gibt natürlich auch zahlreiche literarische Kunstwerke, welche diese einzige Individualität nicht besitzen und über das Niveau des sich oft Wiederholenden nicht hinausreichen. Diese ihre "Durchschnittlichkeit", "Uneinzigkeit" muß auch in der auf sie selbst gerichteten Konkretisierung zur Ausprägung gelangen. Und erst nachher und auf Grund ihrer ästhetischen Konkretisation kann und muß ein solches "nichtssagendes" Werk mit anderen Werken verglichen werden, damit

§ 28. Herstellung von Objektivität

353

geklärt wird, welchen anderen Werken es ähnlich ist, welches andere Werk es zum Vorbild hatte usw. Dies sind aber schon alles sekundäre Probleme, welche die ästhetische Konkretisierung des betreffenden Werkes in seiner ganzen "Mäßigkeit" bereits voraussetzen. Die betrachtende Erkenntnis des im ästhetischen Erlebnis konstituierten und in der Wertantwort anerkannten ästhetischen Wertes des Kunstwerks ist im Grunde dasselbe, was man gewöhnlich die "Wertung" oder die "Bewertung" des Kunstwerks nennt, oder bildet mindestens den theoretischen Grund dessen, was oft das "Werturteil" oder die Beurteilung des Wertes heißt. Es herrscht die weitverbreitete Meinung, daß man, um eine solche Bewertung zu vollziehen, notwendig die sogenannten "Kriterien" dieser Bewertung haben müsse, Kriterien, welche allgemeine Prinzipien des Wertseins (in einer bestimmten Kategorie des Wertes) angeben und die auf den besonderen Fall angewendet werden müssen, um zu entscheiden, ob die im Kriterium angegebenen Bedingungen in dem speziellen Fall erfüllt sind. Nun, diese "Kriterien" eben als allgemeine Prinzipien bilden etwas dem zu bewertenden Kunstwerk Äußeres, nicht einen aus dem Wesen des betreffenden Kunstwerks stammenden Faktor, der apodiktisch vorschreibt, was im Kunstwerk erfüllt werden muß, wenn ihm ein bestimmter Wert zukommen soll. Diese Kriterien sind dabei sehr verschiedener Art und auch verschiedenen Ursprungs. Oft wird die Ansicht vertreten, daß sie sich aus gewissen sozialen oder technischen Tatbeständen (z.B. politischen Tendenzen, der herrschenden ökonomischen Lage usw.) oder auch aus den in der betreffenden Epoche herrschenden Kunstauffassungen ergeben und dann einfach dem Kunstwerk auferlegt werden. Als solche sind sie auch vom tatsächlichen Gehalt des Kunstwerks und auch des auf seinem Grund konstituierten ästhetischen Gegenstandes völlig unabhängig und stellen ihn in ein fremdes Licht. Diese Kriterien sind endlich - wie die Geschichte lehrt - sehr wandelbar und ändern sich j e nach der äußeren allgemeinen Lage des Werkes, so daß in verschiedenen Zeiten verschiedene Kriterien der Bewertung auf dasselbe Kunstwerk angewendet werden und ihm (bzw. dem entsprechenden ästhetischen Gegenstand) einen ganz anderen Wert zuerkennen lassen. Und dann sagt man natürlich: der Wert, und der ästhetische im besonderen Maße, sei "relativ" zu den Kriterien und der Situation, aus welcher das angewendete Kriterium entstanden ist. Die Verwendung der Kriterien zur Bewertung literarischer konkre-

354

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

tisierter Kunstwerke ist auch große Mode, weil es denjenigen, der auf diesem Weg die Bewertung durchführt, von der Notwendigkeit, das Kunstwerk (den ästhetischen Gegenstand) auf eigene Verantwortung mühsam zu erkennen, befreit. Es genügt, nur die im Kriterium genannten "Merkmale", von welchen der Wert abhängig sein soll, im betreffenden Kunstwerk aufzufinden, um das bewertende Urteil zu fällen. Sonst kann das betreffende Kunstwerk unbekannt bleiben. Man gewinnt auch bald Übung, die betreffenden "Merkmale" mühelos zu finden, man braucht keine genaue Analyse des Werkes mehr durchzuführen und die Gefahren, welche mit der erfolgreichen Durchführung des ästhetischen Erlebnisses verbunden sind, nicht mehr auf sich zu nehmen. Die Lösung der Aufgabe ist relativ leicht und führt zu einem - wie man glaubt sicheren Ergebnis. Wird dieses Ergebnis nicht allgemein anerkannt, so kann man sich immer darauf berufen, daß andere Kriterien angewendet wurden, was bei dieser Sachlage natürlich erlaubt ist. Die Berufung auf die herrschenden Kriterien ist im Grund eine Flucht vor der Kunst und ist auch für diejenigen bestimmt, die für Kunstwerke und ästhetische Werte blind sind. Auch sie können - wenn es aus irgendwelchen Gründen nötig ist - Kunstwerke einer Bewertung unterziehen und dadurch selbst in der Gesellschaft erfolgreich werden, wo sie ohne die Kriterien nur zu schweigen hätten. Nun, bereits Max Scheler hat gegen die Verwendung der "Kriterien" bei der Bestimmung der Werte und des Wertvollseins gewisser Gegenstände protestiert. Sie können die echte intuitive Erschauung der Werte nicht ersetzen. 1 0 4 Ihre Anwendung führt nicht bloß zu einem skeptischen Relativismus der Werte, sondern beraubt uns auch aller glücklichen Stunden in unserem Leben, in welchen wir mit Werten - seien sie sittlicher oder ästhetischer oder auch anderer Natur - unmittelbar verkehren und sie zur Erschauung bringen. Das bloße Wissen, daß gewisse Gegenständlichkeiten in diesem oder jenem Sinn einen bestimmten Wert haben - ein Wissen, das uns im besten Fall die Anwendung der Kriterien geben kann - vermag für uns das unmittelbar schauende und uns in tiefe Emotionen versetzende Erfassen der Werte nicht zu ersetzen. Unser Leben wird dadurch leer und ärmer. Andererseits wird der Zwecksinn solcher Gegenständlichkeiten, wie es z.B. die Kunstwerke sind,

[Vgl. M. Scheler, Der Formalismus

in der Ethik und die materiale

Werke. Bd. 2), Bern und München 1966, S. 208.]

Wertethik (Gesammelte

355

§ 28. Herstellung von Objektivität

nicht realisiert; sie verlieren ihre wesentliche R o l l e im L e b e n des Menschen und scheinen dann wirklich in sich selbst ganz wertlos zu sein. S o ist die Anwendung der Kriterien zur Bewertung der Kunstwerke und der in ihnen gründenden ästhetischen Gegenstände zwar leicht und mühelos, sie widerstreitet aber dem echten W e s e n aller Kunst. E s scheint also, daß sich die Gefahren, welche der M ö g l i c h k e i t der Erkenntnis einer ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks zu drohen schienen, überwinden lassen, soweit es sich zunächst darum handelt, eine individuelle ästhetische Konkretisation in ihrem ästhetischen werthaften Gehalt oder wenigstens eine auf Grund mehrerer individueller Konkretisationen konstituierte, gewissermaßen in ihrem Typus durch das betreffende Kunstwerk vorgeschriebene ästhetische Konkretisation zu erkennen. E s gibt aber noch einige Gefahren, die der sog. "Objektivität" dieser Erkenntnis zu drohen scheinen und die noch zu erwägen sind. E s ist vor allem zu betonen, daß die Erkenntnis der konstituierten ästhetischen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks nicht analytisch sein und andererseits sich doch nicht auf eine bloß ganzheitliche Erfassung der endgültig

resultierenden

Gestalt

des

ästhetischen

Wertes

der

Konkretisation

beschränken kann. S i e kann und darf nicht analytisch sein, d.h. sie darf nicht einzelne unselbständige M o m e n t e der ästhetisch wertvollen Grundlage der letztlich konstituierten W e r t e sowie auch die einzelnen E l e m e n t e und M o mente der ästhetisch neutralen Grundlage des ästhetisch werthaften Gehalts der Konkretisation für sich unterscheiden und abheben und sie alle von der in ihnen gründenden Wertqualität abgrenzen. Denn das k ä m e einem Zerschlagen, einem Zersplittern des einheitlichen Gesichts des ästhetisch konkretisierten Kunstwerks gleich. Gerade die innige Einheitlichkeit des literarischen ästhetischen Gegenstandes, die selbst das formale M o m e n t seines ästhetischen W e r t e s ist und das Auftreten der letztlich resultierenden gestalthaften Wertqualität ermöglicht, würde dadurch zerstört und beseitigt. Das betrachtende Erkennen des literarischen ästhetischen Gegenstandes m u ß ihn in seinem letzten Wert erfassen, seine Eigentümlichkeit zur klaren Selbstgegebenheit bringen, sie muß also den ganzheitlichen Charakter dieses Gegenstandes und seines W e r t e s bewahren und ihm gerecht werden. Andererseits aber gehört es zur wesenhaften Funktion dieses Erkennens nicht, daß es die Wertqualität des letztlich resultierenden W e r t e s bloß aus dem Ganzen heraushebt und alles

356

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

andere, worin dieser Wert fundiert, einfach beiseite läßt, so als ob es im vollen Gehalt des ästhetischen Gegenstandes nicht vorhanden wäre. Also hat dieses Erkennen noch etwas mehr zu leisten, als nur den letztlich resultierenden Wert in seiner qualitativen Bestimmtheit zu erfassen. Auch der ganze Boden, aus dem dieser Wert herauswächst, muß irgendwie berücksichtigt und zur klaren Gegebenheit gebracht werden, damit wirklich das Ganze des literarischen ästhetischen Gegenstandes nicht bloß im ästhetischen Erleben gehabt, sondern auch klar erkannt wird. Wie läßt sich das machen, ohne in das analytische Verfahren zu verfallen? Hier liegt, wie ich glaube, die größte Schwierigkeit sowohl für die konkrete Durchführung der Erkenntnis des ästhetischen Gegenstandes, als auch für den theoretischen Beweis, daß diese Erkenntnis wirklich möglich ist. Das ist der Punkt, an welchem sowohl der Bergsonsche Intuitionismus als auch seine Anwendung in der Ästhetik durch Croce hinfällig geworden ist, weil man diese Schwierigkeit nicht zu überwinden wußte. Läßt sie sich aber überwinden? Denn die Forderung, welche hier der Erkenntnis des ästhetischen Gegenstandes gestellt wird, scheint ihrem Wesen zu widersprechen. Und wenn sie nicht überwunden werden kann, dann bleibt der Literaturwissenschaft zwar die Möglichkeit, literarische Werke wissenschaftlich zu behandeln, aber all das, was an ihnen - wie man gesagt hat - "Kunst" ist, ist sie gezwungen, beiseite zu lassen. 1 0 5 Man soll vor allem weder die absolute Einheitlichkeit der ästhetischen Gegenstände noch die radikale Einheitlichkeit oder besser Einfachheit seiner Erkenntnis übertreiben. Gewiß ist jede Gestalt - wie sie eben an ästhetischen Wertqualitäten zur Erscheinung kommt - kein in Elemente zerlegbares Ganzes. Ihre spezifische Eigenheit beruht auch darauf, daß sie als Quale im Vergleich zu der Mannigfaltigkeit der Momente, in denen sie gründet, etwas vollkommen Neues *einbringt*. Sie muß in eben diesem Neuen erfaßt werden. Aber ihr Vorhandensein im Ganzen des ästhetischen Gegenstandes und sogar ihr Hervortreten in den Vordergrund bedeutet gar nicht, daß der ganze Hintergrund verschwindet; er ist weiterhin sichtbar und leuchtet durch die Gestaltqualität hindurch. Ich habe deswegen einst den Zusammenhang zwischen einer Gestalt und der qualitativen Grundlage, aus der sie hervorwächst,

Das ist das Problem, das auch K[nut] Hanneborg in seinem schönen Buch The Study of Literature [Oslo 1967] nicht zu überwinden vermochte.

§ 28. Herstellung von Objektivität

357

"harmonische Einheit" genannt. 1 0 6 So braucht man kein besonderes analytisches Verfahren anzuwenden, um ihn mit der Gestalt selbst mitzuerfassen, und zwar in derselben Gegebenheitsweise, wie er im schlichten Erleben in ästhetischer Einstellung zur Erscheinung gelangt. Man muß nur bei der thematischen Erfassung der Gestalt feinfühlig genug sein, auch die qualitative, in sich verschiedene miteinander verschmolzene Qualitäten bergende Grundlage thematisch mitzuerfassen. Um diese Feinfühligkeit sozusagen zu begünstigen, kann man in einem vorherigen analytischen Erkenntnisverfahren die in dieser Grundlage geborgenen Qualitäten analytisch zu erfassen suchen und, nachdem dies geschehen ist, zur ästhetischen Einstellung zurückkehren und die Gestalt in harmonischer Einheit mit der Grundlage ganzheitlich erfassen. Der Erfassungsakt ist dann gewiß nicht schlechthinnig einfach, aber trotzdem bildet er auch ein Ganzes für sich, in dem die zwar verschmolzene, aber doch nicht schlechthinnig einfache Ganzheit des ästhetischen Gegenstandes erfaßt wird. Übrigens zeichnen sich nicht alle ästhetischen Gegenstände in ihrem werthaften Bestand durch eine radikale innige Einheit aus. Es kann zwar in ihm mehrere solche Wertqualitäten geben, daß sie untereinander eine harmonische Einheit eingehen oder daß sie zur Konstituierung nur einer abgeleiteten Werteinheit führen. In allen diesen Fällen ist der innere Aufbau des werthaften Bestandes des ästhetischen Gegenstandes außerordentlich innig. Und da bedarf es einer ganzheitlichen, aber doch für die Mannigfaltigkeit der innig verschmolzenen Qualitäten empfindlichen Erfassung des Ganzen, einer Erfassung, die aber durchaus im Rahmen des Möglichen liegt. Daneben aber gibt es auch ästhetische Gegenstände, in welchen der innere Aufbau gar nicht so innig ist und eine eher freie und eventuell auch gegliederte Struktur aufweist. Dann ist natürlich auch die betrachtende Erkenntnis des ästhetischen Gegenstandes viel freier und braucht nicht mit der größten Konzentration auf die Erlangung der radikal ganzheitlichen Erfassung vollzogen zu werden. Es sind da verschiedene Grade der relativen Freiheit des Zusammenhanges zwischen mehreren zugleich auftretenden Qualitäten und auch Gestaltqualitäten möglich, und die Erkenntnis dieses Zusammenhanges gehört ebenfalls zur Aufgabe der betrachtenden Erkenntnis des ästhetischen Gegenstandes und liefert ein Charakteristikum der Form dieses Gegenstandes. Die Besonderhei-

106

Vgl. Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. II/l, S. 48 f.

358

¡V. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

ten dieser Form können ebenfalls ein ästhetisch wertvolles Moment desselben sein und tragen zur Konstitution des endgültigen Wertes bei. An der Grenze der möglichen Abwandlungen des Aufbaus des ästhetischen Gegenstandes steht einerseits seine radikal innige Einheit, und stehen andererseits die vielen voneinander verschiedenen Fälle, in welchen der ästhetische Gegenstand gewissermaßen zu zerfallen beginnt und dann dadurch bedroht ist, daß sich in ihm kein einheitlicher positiver ästhetischer Wert konstituiert. Dagegen tauchen manchmal formale negativwertige Momente auf, die den Betrachter zu einer negativen Wertantwort auf das Ganze eines solchen Gegenstandes bringen können. Natürlich ist - wie schon angedeutet - die Situation bei einem literarischen Gegenstand viel komplizierter und verursacht auch der Erkenntnis seines werthaften Bestandes viel größere Schwierigkeiten als z.B. bei einem Bild. Nur bei kurzen Werken, z.B. kleinen lyrischen Gedichten, ist es möglich, den sich im ästhetischen Erleben konstituierenden ästhetischen Gegenstand auf einmal als Ganzes zu erkennen, und dabei als ein Ganzes, welches das ganze Gedicht umfaßt. Bei längeren Werken, z.B. Romanen oder Dramen, die in viele Kapitel bzw. Akte zerfallen und deren Lektüre eine verhältnismäßig lange Zeitspanne erfordert, ist der in der letzten Phase des Werkes sich konstituierende ästhetische Gegenstand - auch wenn er in sich ein innig innerlich gebautes Ganzes bildet - nur der ästhetische Ausdruck lediglich eines Teiles des Werkes, z.B. der letzten Szene im Drama oder des letzten Kapitels in einem Roman, wobei nur im Hintergrund ein mehr oder weniger spürbarer Nachklang der früheren Teile des Werkes mittönt. Das Werk ist in diesem Fall so gebaut, daß es mehrere für sich komponierte Teile (Kapitel, Akte, Szenen) in sich enthält, welche bei einer in ästhetischer Einstellung durchgeführten Lektüre zur Konstituierung einer Mannigfaltigkeit ästhetischer Gegenstände führen, die in der Lektüre aufeinanderfolgen und auch nacheinander erkannt werden. Die sich dabei enthüllenden Wertqualitäten können sehr verschiedener Art sein, und es gehört zur Kunst der Komposition derartiger literarischer Werke, daß die nacheinander zur Erscheinung gelangenden Werte in ihren Qualitäten zu einem harmonischen Zusammenklang führen, 1 0 7 der, obwohl er in der Zeit des Werkes ausgedehnt ist, doch

107

Dasselbe findet in den Werken der Musik stau.

§ 28. Rationale und nicht-rationale

Sprache

359

synthetisch ex post zu erfassen ist und auch - wenn auch nur bei besonderer Aktivität des erfassenden Bewußtseins - erfaßbar ist. Es liegen da sehr verschiedene Möglichkeiten vor, welche auch mannigfache Schwierigkeiten der möglichen Erfassung mit sich bringen und besondere Probleme für die Methode der Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation solcher Werke aufwerfen. Dies kann aber hier [ ] nicht mehr entwickelt werden. Eine neue Reihe von Schwierigkeiten bei der Erkenntnis literarischer ästhetischer Gegenstände entsteht, sobald wir beachten, daß die Ergebnisse der unmittelbaren Erkenntnis sprachlich formuliert und in der Gestalt einer Mannigfaltigkeit von Urteilen den anderen Literaturforschern vorgelegt werden müssen. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß die Sprache, über die wir verfügen, im allgemeinen den Erfordernissen der Erkenntnis der ästhetischen Gegenstände nicht genügt. Die Umgangssprache ist im allgemeinen ein relativ primitives Werkzeug und der Realisierung anderer Zwecke angepaßt. Andere Wissenschaften, insbesondere die mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen, haben zu ihren Zwecken besondere "Sprachen" ausgebildet, die Ästhetik aber, und auch die Literaturwissenschaft, befindet sich in dieser Hinsicht in einer noch sehr mißlichen Lage. Die gewöhnliche Umgangssprache verfügt zwar oft über sehr lebendige, schlagende und treffende Ausdrücke, die in konkreten Lebenssituationen dem Sprechenden wie von selbst in den Sinn kommen. Sobald wir aber in rein erkenntnismäßiger Einstellung - z.B. im Verkehr mit ästhetischen Gegenständen - nach entsprechenden adäquat treffenden Worten und Wendungen suchen, wollen sich die lebendigen Worte der Umgangssprache, die manchmal, trotz allem, sehr nützlich sein könnten, nicht von selbst einstellen. Wir suchen sie dann oft vergeblich, und die Anzahl der technisch schon ausgebildeten Ausdrücke der Ästhetik ist noch relativ sehr klein und angesichts des großen Reichtums der ästhetischen Gestaltungen und Erscheinungen sehr unzureichend. Im Zusammenhang damit ist auch der Bereich der eindeutig und exakt bestimmten allgemeinen Begriffe, die in der ästhetischen Betrachtung verwendbar wären, äußerst gering. Die Ästhetik (ebenso wie die ästhetisch eingestellte Literaturwissenschaft) ist eben noch eine relativ junge Disziplin, und so sehr sie sich auch in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, so ist die Mannigfaltigkeit verschiedener Forschungsrichtungen und "Schulen" - so nützlich sie auch in bezug auf das Angreifen der Probleme von verschiedenen Zu-

360

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

gangswegen her sein mögen - eher hinderlich, wenn es sich um die Ausbildung einer gemeinsamen Sprache und einer gemeinsamen Begriffsapparatur handelt. 1 0 8 Wir verfügen über begriffliche Unterscheidungen nur für sehr krasse Gegensätze zwischen ästhetischen Bildungen und Erscheinungen. Für fast alle Abwandlungen und subtilen Nuancen von Qualitäten, sowie ihre *Modifikationen, welche auf dem Zusammensein mit anderen Qualitäten im Rahmen eines Ganzen auf den Gestalten beruhen*, besitzen wir gar keine besonderen Namen und oft auch keine zusammengesetzten abgeleiteten Ausdrücke (Wendungen). Dies erschwert die begriffliche Fassung des ästhetischen Gegenstandes und der in ihm auftretenden ästhetisch wertvollen Qualitäten außerordentlich. Die Wertqualitäten werden nur sehr vage bestimmt, und es fehlen die Benennungen aller ihrer Abwandlungen. Für eine auch nur in sehr bescheidenem Maß befriedigende Beschreibung der qualitativen Tatbestände, welche im Gehalt der ästhetischen Gegenstände auftreten und auch ziemlich klar unmittelbar erfaßt und erkannt werden, muß eigentlich eine ganz neue Sprache, müssen neue Namen und Wendungen geschaffen werden. Dies ist keine leichte Aufgabe. Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, daß es in diesem Fall nicht möglich ist, - wie es die Mathematiker tun

-

"Definitionen" der neuen Namen und Ausdrücke anzugeben. Die definitorische Bestimmung der Bedeutung der Namen (wie man gewöhnlich sagt: "Begriffe") ist in einem ganz anderen Erkenntnisprinzip begründet als dem, das bei der Bildung einer Sprache zur Beschreibung der qualitativen Bestimmtheiten ästhetischer Gegenstände zugrundeliegen muß. Dort, in der Mathematik, in der Naturwissenschaft, gründet das Prinzip der Sprachbildung und insbesondere der definitorischen Bestimmung der "Begriffe" (Namen) in den Gegebenheiten der analytischen, vor-ästhetischen Erkenntnis, die meistens auf das Quantitative gerichtet ist. Die Bestimmung der Bedeutungen betrifft

IOS Wenn ich an jene Zeit vor vierzig Jahren denke, als ich an die Herausarbeitung des Aufbaus und der Seinsweise des literarischen Kunstwerks und der Werke der anderen Künste ging, so muß ich zugeben, daß in der allgemeinen Kunsttheorie eine wesentliche Wandlung und auch in der wissenschaftlichen Kunstforschung eine größere Konzentrierung auf die Kunstwerke selbst eingetreten ist. Ein unzweifelhafter Fortschritt ist zu verzeichnen. Die oft auftretende Tendenz der einzelnen Forscher, alles immer wieder von Anfang an - ungeachtet der bereits erzielten Ergebnisse - zu beginnen, steht aber der Ausbildung einer gemeinsamen Begriffsapparatur im Wege.

§ 28. Rationale und nicht-rationale

Sprache

361

Namen von künstlich isolierten Elementen oder ihren Zusammensetzungen. Dies ergibt zuerst einfache Nennungen; aus ihnen werden dann abgeleitete Namen gebildet, deren Bedeutung aus vielen einfachen Bedeutungen besteht, einer Mosaik-Bildung ähnlich. Dagegen dürfen die Namen, die bei der Beschreibung der Bestimmtheiten der ästhetischen Gegenstände verwendbar wären, nicht auf eine solche "mosaikartige" Weise gebildet werden. Denn auf diesem Weg würde durch das Sieb der definitorisch gebildeten Namen (Begriffe) all das rinnen, was in den Gegebenheiten der ästhetischen Erkenntnis am wesentlichsten ist: alle spezifischen Eigenheiten des qualitativen Zusammenklanges, insbesondere die Gestalten, welche eben keine mosaikartige Zusammensetzungen der sie unterbauenden Qualitäten sind, sowie alle gegenseitigen qualitativen Modifikationen der in einem Ganzen auftretenden, ästhetisch valenten Qualitäten. Dasjenige, was die unentbehrliche Bedingung der definitorischen Bestimmung der Bedeutungen der Namen ist - eben das Vorhandensein einer Mannigfaltigkeit isolierter und voneinander unabhängiger Elemente (die sich also beim gemeinsamen Auftreten gegenseitig gar nicht modifizieren), und nur solcher Elemente, also das Fehlen von qualitativen Zusammenklängen in dem betreffenden Gebiet der gestaltmäßigen Bestimmtheiten - , dies ist gerade bei dem Versuch, eine Sprache zu bilden, welche geeignet wäre, die Gegebenheiten der ästhetischen Erfahrung zu beschreiben, nicht erfüllt. Wenn man eine Sprache, in welcher die Bedeutung der Worte und insbesondere der Namen definitorisch durch die Angabe einer Anzahl einfacher (elementarer) Bedeutungen bestimmt wird, eine "rationale Sprache" nennen wollte, dann müßte man diejenige Sprache, die zur Beschreibung der Gegebenheiten der ästhetischen Erfahrung verwendbar wäre, "irrational" nennen. Die Auffassung aber, daß lediglich eine definitorisch gebildete Sprache "rational", d.h. in der Wissenschaft leistungsfähig ist, ist nur ein neupositi vistisches Vorurteil, das nicht einmal auf die von den Logistikern gebildeten Sprachen paßt. 109 Tatsache ist, daß die lebendige Umgangssprache in ver-

Dieses Vorurteil drückte sich viele Jahre hindurch in der bekannten Verachtung der Umgangssprache und den zahlreichen Versuchen aus, künstliche Sprachen zu bilden. Fast schien es - unter dem Druck der neopositivistischen Agitation - unschicklich, sich der Umgangssprache zu bedienen, als eines Tages Wittgenstein entdeckte, daß es sich lohnt, sich mit der Umgangssprache zu beschäftigen, und sie auf diese Weise wiederum zu Ehren

362

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

schiedenen nationalen Systemen, in welchen mit verschiedenen syntaktischen Mitteln dieselben logisch-funktionellen Aufgaben auf sinnvolle Weise gelöst wurden, ohne mosaikartige Definitionen entstanden ist und daß sie sich sich ständig um neue sinnvolle und im Kontext relativ eindeutige Worte bereichert. Die neuen Worte und ganze Ausdrucksweisen entstehen immer dann, wenn im Bereich des kulturellen Lebens der betreffenden Sprachgemeinschaft irgendwelche neue, bis jetzt nicht vorkommende Gegenstände, Erscheinungen oder Funktionen auftauchen und gewöhnlich wie unwillkürlich durch irgendwen sinnvoll benannt werden. 110 Trotz aller Wandlungen, denen jede Sprache im Verlauf der Zeiten unterliegt, erhalten sich diejenigen Worte, die von jemand, der mit sprachschöpferischer Genialität begabt war, in engem Zusammenhang mit dem unmittelbaren Erkennen der betreffenden Gegenstände gebildet bzw. erfunden wurden. Es können ganz neue Worte sein, die aber merkwürdigerweise - wenn sie im Geist der Muttersprache gebildet sind oder bloß aus den vorhandenen Stammwörtern umgebildet werden 111 - sofort, ohne besondere Erklärungen oder "Definitionen" verstanden werden. Erst wenn wir schon Ausdrücke besitzen, die im Zusammenhang mit der unmittelbaren Erfahrung gebildet wurden und die dann oft einen breiten, nicht immer homogenen Anwendungsbereich besitzen, ist es möglich, sie zu "präzisieren", d.h. eindeutig zu machen. Dies kann wenigstens in manchen Fällen durch eine "Definition" geschehen. Bei allen Wörtern aber, welche

brachte. Nur hat es sich gezeigt, daß er den Problemen, welche die Umgangssprache stellt, ziemlich machtlos gegenübersteht. Es genügt, hier auf die Bereicherungen der Sprachen hinzuweisen, die mit der Erfindung des Flugzeugs und des ganzen Flugwesens oder des Radios oder des Fernsehens verbunden sind. Die Jugend einer jeden neuen Generation erweist sich in ihrer Umgangssprache, die zuerst von der älteren Generation nicht angenommen wird, [als] besonders schöpferisch. Und dies geschieht ganz unorganisiert und auch trotz der Einwirkung der Schule, welche die übernommene Sprache älterer Generationen übermittelt und oft auch um die Reinheit dieser Sprache kämpft. '

11

Abschreckend ist nur die von administrativen Faktoren betriebene, scheinbare Bereicherung der Sprache durch Einführung entsetzlicher Neologismen, die durch eine Umbildung fremder Wörter, vor allem aus der lateinischen oder griechischen Sprache, entstehen. Oft sind daran auch die Techniker oder Spezialisten in den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen (vgl. z.B. der Medizin) schuld.

J 28. Rationale und nicht-rationale

Sprache

363

einzigartige Qualitäten unfehlbar bezeichnen oder einen Gegenstand unter einer solchen Qualität fassen, bewirkt die "Definition" nichts anderes als eine Zuordnung des definierten Wortes zu einer geordneten Mannigfaltigkeit von anderen Wörtern, deren synthetischer Sinn denselben Bereich umgrenzt, wie ihn das definierte Wort bestimmt, aber nie genau dieselbe eigentümliche Bedeutung besitzt wie das definierte Wort. Das Wesentliche dieses Wortes wird also durch diese "Definition" gerade nicht expliziert. Die Genialität in der Bildung neuer Wörter beruht vor allem darin, daß man mit dem Wort das eigentümlich qualitative Moment der betreffenden Erscheinung, zu deren Benennung man einen sprachlichen Ausdruck sucht, auf eine allen verständliche Weise genau und direkt trifft. Findet man in der betreffenden Sprache keinen passenden Ausdruck, so geht es darum, einen neuen Wortlaut zu bilden, der sich in das wortlautliche System harmonisch einfügt, also in seiner Struktur gewisse allgemeine Regeln der Wortlautbildung dieser Sprache erfüllt, zugleich aber die Fähigkeit hat, im Hörer gerade den Akt des Erschauens des eigentümlichen qualitativen Moments zu wecken.112 Dem gebildeten Wortlaut wird dadurch das entsprechende intentionale bedeutungsmäßige Moment verliehen, und die Sprache wird um ein neues sinnvolles Wort bereichert. Das neugebildete Wort wird dadurch auch für diejenigen verständlich, die nicht Zeugen dieser Wortbildung waren, und es wird auf diesem Weg zu einem Werkzeug nicht bloß der intersubjektiven Verständigung in der betreffenden Sprachgemeinschaft, sondern auch zu einem Mittel, die gemeinsame Arbeit in der Gewinnung der unmittelbaren Erkenntnis bis jetzt unbekannter Gegenstände (und insbesondere ästhetischer Gegenstände) in den für sie charakteristischen Momenten zu ermöglichen. Die Aufgabe der Bildung neuer Wörter, deren Bedeutungen die Eigentümlichkeiten der ästhetischen Gegenstände getreu wiedergeben, ist in denjenigen Fällen viel leichter zu erfüllen, in welchen mehrere Menschen mit demselben Kunstwerk un-

111 Daß es solche sprachlautlichen Gebilde, welche diese merkwürdige Fähigkeit besitzen, in jeder Umgangssprache gibt - dies scheint ganz unzweifelhaft zu sein, so geheimnisvoll und ungeklärt es auch ist, worauf sich diese Fähigkeit gründet. Neben solchen Wörtern gibt es, ebenso unzweifelhaft, in jeder Umgangssprache und besonders in den künstlichen Sprachen (z.B. dem Esperanto) auch Wörter, welche diese Fähigkeit nicht besitzen und in diesem Sinn leblos, unwirksam sind. Solche Worte müssen dann auf künstliche Weise in die betreffende Sprache defmitorisch eingeführt werden.

364

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

mittelbar verkehren. Es kommt aber dabei sehr darauf an, daß es gelingt, dieselben (eventuell die gleichen) ästhetischen Gegenstände zu konstituieren, die also dieselben Zusammenklänge ästhetisch valenter Qualitäten sowie der sie unterbauenden Bestimmtheiten aufweisen, und daß man auf Grund der konstituierten Gegenstände ihren ästhetischen Wert zu erkennen weiß. Dann kann es angesichts derselben Gegebenheiten zu dem gemeinsamen Versuch kommen, die eventüell nötigen neuen Wörter und Wendungen gemeinsam zu erfinden, welche für alle, die dieselben Ergebnisse der ästhetischen Erfahrung und der darauf gegründeten betrachtenden Erkenntnis gewonnen haben, ohne weiteres eindeutig verständlich sein werden. Ob dies gelingt, hängt natürlich in hohem Maß von den in Frage kommenden Kunstwerken sowie *von der Weise ihrer Exposition ab*. Praktisch stehen der Lösung dieser Aufgabe oft verschiedene Hindernisse im Weg, und zwar nicht bloß der Mangel an dazu nötigen Fähigkeiten, sondern auch verschiedene theoretische Auffassungen. Eine von ihnen ist die psychologistische Theorie, daß nämlich die Bedeutung des Wortes ein gewisses psychisches Erlebnis sei, welches nur demjenigen erkenntnismäßig zugänglich ist, der es hat. Sie scheint heute nicht mehr aktuell zu sein. Ein anderes Hemmnis bildet die Auffassung von der sog. "Subjektivität" der "ästhetischen Eindrücke" (man sagt noch "Empfindungen") sowie die damit oft verbundene Theorie von der Relativität aller Werte, insbesondere auch der ästhetischen Werte. In ihrem Sinn soll jeder von uns das betreffende Kunstwerk ganz anders "sehen" (wahrnehmen) und zu völlig verschiedenen, miteinander unvergleichbaren ästhetischen Gegenständen gelangen. Daraus entspringt das Prinzip de gustibus non est disputandum, daraus auch die Behauptung, daß man keine gemeinsame Sprache haben und zu keinem Verständnis kommen kann. Es ist bekannt, daß sich die erste Theorie schon lange als unhaltbar erwiesen hat, obwohl sie in positivistisch eingestellten Philosophenkreisen immer wieder in verschiedenen Diskussionen und Abhandlungen erscheint. Die zweite dagegen harrt noch der Widerlegung und gilt in weiten Kreisen für unzweifelhaft. Es gehört sogar gewissermaßen zum "guten Ton", sie ohne Bedenken anzuerkennen. Ist sie aber wirklich wahr? Was bildet ihre befriedigende Begründung, wenn wir bis jetzt weder eine befriedigende Werttheorie noch eine hinreichende Klärung des ästhetischen Erlebnisses und der Erkenntnis

§ 28. Urteile über den ästhetischen

365

Gegenstand

ästhetischer Gegenstände besitzen? 113 Wir nähern uns auf diese Weise den Problemen, deren Formulierung die Aufgabe des nächsten Kapitels bildet. Schon jetzt aber muß festgestellt werden, daß es nur dann unmöglich wäre, den anderen die Ergebnisse der Erkenntnis der ästhetischen Gegenstände auf verständliche Weise zu übermitteln, wenn auf schlüssige Weise bewiesen würde, daß es unmöglich ist, daß zwei Menschen, die mit demselben Kunstwerk unmittelbar ästhetisch verkehren, zu (mindestens) gleichen ästhetischen Gegenständen, die sich auf Grund dieses Kunstwerks konstituieren, gelangen und sie in denselben ästhetisch wertvollen qualitativen Zusammenklängen erkennen können. Ein unbezweifelbarer Beweis dafür fehlt aber. Mit diesem Problem verbindet sich eine andere Frage, welche auf die letzte kulminierende Phase des Erkennens der ästhetisch werthaften Gegenstände ein erhellendes Licht wirft. Es ist dies die Frage nach der allgemeinen Gültigkeit der ästhetischen Bewertung. Es gilt aber zunächst, uns mit dieser Bewertung selbst für eine Weile zu beschäftigen. Der Abschluß des betrachtenden Erkennens der ästhetischen Gegenstände vollzieht sich im begrifflichen Fassen der Ergebnisse dieses Erkennens und führt zur Aufstellung einer Reihe von Urteilen über den betreffenden (individuellen) ästhetischen Gegenstand. Sie sind zweierlei Art: 1. berichtende Urteile, in welchen die Beschreibung

des betreffenden

ästhetischen Gegenstandes enthalten ist. 2. Urteile, welche einfach feststellen,

daß der betreffende Gegenstand

einen qualitativ bestimmten Wert hat. 3. Sätze, die zwar äußerlich die Gestalt von Urteilen haben, die aber den Gegenstand - insbesondere den ästhetischen Gegenstand - bewerten, ihn lobend oder tadelnd beurteilen. Im Grunde sind es keine echten Urteile, sondern das Ergebnis einer völlig anderen subjektiven Operation, eben des "Lobens" (des positiv Bewertens) oder "Verurteilens" (Mißbilligens), und haben gar

1 1 Ί

Vgl. dazu mein (demnächst in deutscher Sprache erscheinendes) Buch Erlebnis.

Kunstwerk

und Wert [Tübingen 1969], in welchem ich die Mängel der bisherigen Auffassungen des Wertes bespreche, andererseits aber auch die verschiedenen Sinne der "Relativität" des Wertes zu unterscheiden suche. In polnischer Sprache ist dieses Buch 1966 erschienen [Przezycie-dzieto-wartosc,

Krakow 1966],

366

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

nicht die Funktion, objektiv festzustellen, daß der betreffende Gegenstand diesen oder jenen Wert b e s i t z t . " 4 Die berichtenden Urteile geben die beschreibenden Ergebnisse des betrachtenden (auf Grund eines ästhetischen Erlebnisses vollzogenen) Erkennens des betreffenden individuellen ästhetischen Gegenstandes. Es gehören hierher also nicht diejenigen Urteile, welche die ästhetischen Erlebnisse oder psychischen Verhaltensweisen und Reaktionen des mit einem Kunstwerk oder einem ästhetischen Gegenstand unmittelbar verkehrenden Menschen beschreiben. Die letzteren fallen entweder in das Gebiet einer beschreibenden phänomenologischen Erkenntnistheorie oder in das Gebiet der Psychologie. Im letzteren Fall liefern sie Beschreibungen individueller psychischer Tatsachen, die das empirische Material für eine allgemeine Psychologie bilden. Sie haben mit den Urteilen, welche individuelle ästhetische Gegenstände betreffen, nichts zu tun. Die Bedingung des selbständigen Gewinnens von berichtenden Urteilen über einen ästhetischen Gegenstand besteht vor allem darin, daß der Urteilende a) ein ästhetisches Erlebnis vollzieht, in welchem es zur Konstitution eines bestimmten ästhetischen Gegenstandes kommt, 1 1 5 b) daß sich bei ihm auch die Endphasen des betrachtenden Erkennens des betreffenden bereits konstituierten ästhetischen Gegenstandes abspielen. Andererseits bilden die berichtenden Urteile den theoretischen Grund für Werturteile, d.h. für Urteile, die das Haben eines bestimmten Wertes feststellen. In welcher

Vgl. M[ieczyslaw] Wallis, O zdaniach

estetycznych

(Von ästhetischen Sätzen) [Przeglqd

Filozoficzny XXXV (1932), S. 347-375; auch in ders., Przezycie

i wartosc, Kraków 1968,

S. 31-53], wo Wallis diese Unterscheidung durchführt. Ich habe mich [mit] diesen Fragen auch in meinem Vortrag auf dem Ästhetischen Symposium (im Anschluß an den Internationalen Kongreß der Philosophie in Venedig, 1958) unter dem Titel "Bemerkungen zum Problem des ästhetischen Werturteils" [Ä/vwra di Estetica,

vol. III, no. 3, 1958]

beschäftigt. ' ^ Es ist natürlich möglich, daß der Urteilende mehrere solche Erlebnisse hat, die sich auf denselben ästhetischen Gegenstand beziehen (bzw. von demselben Kunstwerk ihren Ausgang nehmen), und daß er dann entweder zu einer synthetischen Erfassung (Konstituierung) des betreffenden ästhetischen Gegenstandes kommt oder aber zu einem gewissen Spiel oder Kampf zwischen den verschiedenen ästhetischen Erlebnissen gelangt. Diese verschiedenen möglichen Fälle müssen aber einer besonderen Analyse unterzogen werden, die hier nicht durchgeführt werden kann.

§ 28. Urteile über den ästhetischen

367

Gegenstand

Beziehung die Bewertungssätze zu diesen beiden Typen der "ästhetischen" Sätze (Urteile) stehen, das bildet ein eigenes Problem. Der ästhetische Gegenstand kann aber Werte noch sehr verschiedener Art haben. So kann er z.B. einen kulturellen Wert in der Gesamtheit der Errungenschaften einer Gemeinschaft oder den Wert einer besonderen Bedeutsamkeit in der Geschichte eines Volkes oder den einer erzieherischen Einwirkung auf den Menschen, der mit einem literarischen Werk unmittelbar verkehrt, und dergleichen mehr haben. Dies sind aber für den literarischen ästhetischen Gegenstand nur mögliche sekundäre Werte, die ihn gar nicht konstituieren und sich erst aus seinem besonderen wesenhaften Wert ergeben, obwohl man ihr eventuelles Vorhandensein weder übersehen noch in ihrer Rolle für das gesamte Wertvollsein des betreffenden Gegenstandes leugnen soll. Diese eigentümlichen, nur die ästhetischen Gegenstände konstituierenden Werte, deren Wesen darin liegt, daß sie eben geschaut werden müssen, nennen wir ästhetische Werte im spezifischen Sinn. Ihr Fehlen - unabhängig davon, ob sie positiv oder etwa negativ sind - hat zur Folge, daß wir es dann zwar mit einem intentionalen Gegenstand zu tun haben, der auf Grund eines (literarischen) Kunstwerks im ästhetischen Erlebnis konstituiert wird, der aber kein ästhetischer Gegenstand ist, unabhängig davon, ob er noch Werte anderer Art besitzt oder nicht. Es gibt auch nicht bloß eine, sondern mehrere

verschiedene

Grundarten (manche sagen: Kategorien) ästhetischer Werte. Diese Werte verschiedener Grundart können zugleich in einem und demselben ästhetischen Gegenstand auftreten. Es kann aber auch sein, daß nur ein Wert von einer besonderen Grundart den ästhetischen Gegenstand beherrscht. 1 1 6 Nicht alle Werturteile bzw. Beurteilungen (Bewertungen), sondern nur diejenigen, welche entweder das Auftreten eines ästhetischen Wertes in einem ästhetischen Gegenstand feststellen oder diesen Gegenstand sub specie eines ästhetischen Wertes bewerten (beurteilen), stehen mit einem ästhetischen Erlebnis und

16

An einem anderen Ort - zuerst auf dem V. Ästhetischen Kongreß in Amsterdam - habe ich versucht, einerseits verschiedene Grundtypen der ästhetisch wertvollen Qualitäten zu unterscheiden, andererseits auch eine Zusammenstellung verschiedener ästhetischer Werte zu geben, wonach ich dann das Problem aufgeworfen habe, ob sich da notwendige Zusammenhänge zwischen einer Auswahl ästhetisch wertvoller Qualitäten und dem ästhetischen Wert, der in ihnen gründet, aufweisen lassen. Vgl. mein Buch Erlebnis, Wert.

Kunstwerk

und

368

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

einer darauf aufbauenden betrachtenden Erkenntnis des durch diesen Wert konstituierten ästhetischen Gegenstandes in einem engen Seins- und Motivationszusammenhang. Natürlich ist es im reinen psychologischen Sinn möglich, ein ästhetisches Werturteil auch dann zu fällen, wenn man den diesbezüglichen ästhetischen Gegenstand im unmittelbaren Erlebnis nicht selbst und selbständig konstituiert und ihn auch betrachtend nicht erkannt hat. Es kann sogar passieren, daß dieses gefällte Urteil zufällig auch wahr ist und daß es andererseits auch falsch sein kann, wenn das auf dem ästhetischen Erlebnis aufbauende betrachtende Erkennen mißlungen ist. Man kann zwar Werturteile blindlings, aus Routine (nach sog. "Kriterien" oder aus bloßem Zufall) fällen. Trotzdem besteht ein besonders enger Zusammenhang zwischen dem Inhalt des vollzogenen Werturteils (bzw. der Beurteilung) sowie dem Urteilsakt und den sie vorbereitenden Erlebnissen. Die letzteren bilden für die ersteren das Mittel der letztlich verantwortlichen Begründung. Sie bilden, wenn sie richtig vollzogen w e r d e n , 1 1 7 die Art der ästhetischen Erfahrung, auf die man sich letzten Endes zu berufen hat und an deren Gegebenheiten sich die Werturteile (Beurteilungen) als wahr bzw. als falsch erweisen. Da die Ergebnisse der betrachtenden Erkenntnis des ästhetischen (konstituierten) Gegenstandes in den berichtenden ästhetischen Urteilen erfaßt werden, bilden die letzteren (soweit sie in ihrem Inhalt an die Gegebenheiten dieser Erkenntnis getreu angepaßt sind) wirklich die theoretische Grundlage der ästhetischen Werturteile. Die ästhetischen Werturteile schreiben einem bestimmten ästhetischen (insbesondere literarisch-ästhetischen) Gegenstand einen bestimmten Wert zu. Es sind Urteile über Gegenstände,

die einen Wert besitzen, und nicht über

diesen Wert selbst (worüber berichtende Urteile auch möglich sind). Sie können zweifacher Art sein: entweder a) schreiben sie dem ästhetischen Gegenstand einen - wenn man so sagen darf - "Vergleichswert" zu, der diesen im Vergleich zu anderen ästhetischen Gegenständen, denen ebenfalls Werte und zwar derselben Art - zukommen, auszeichnet, oder b) sie schreiben ihm einen Eigenwert zu, der ihm ohne jede Berücksichtigung der Beziehung auf andere werthafte Gegenstände z u k o m m t . 1 1 8 I 17 Da eröffnet sich ein neues Problem, dem wir noch das folgende Kapitel widmen müssen.

118··Uber den verschiedenen Sinn der sog. "Relativität" der Werte vgl. meinen Artikel "Uber die Relativität der Werte" in dem Buch Erlebnis, Kunstwerk und Wert [op. cit., S. 79-96]. Er

§ 28. Urteile über den ästhetischen Gegenstand

369

Unter allen diesen Urteilen sind noch zwei Arten von Urteilen zu unterscheiden: a) Urteile, die über die Werte gewisser Gegenstände selbst gefällt werden, b) Urteile, welche die Begründung oder "Fundierung" des Wertes im werthaften Gegenstand betreffen. Die ersteren können sowohl allgemein als auch individuell sein. Im ersten Fall beziehen sie sich entweder auf alle Werte überhaupt (bzw. auf die allgemeine Idee des Wertes überhaupt) oder nur auf gewisse Arten von Werten, z.B. bloß auf die ästhetischen Werte oder nur auf ästhetische Werte einer bestimmten Kategorie (Abart). Die individuellen, sich auf Werte beziehenden Urteile betreffen einen individuell

bestimmten

Wert eines ästhetischen Gegenstandes, z.B. den ästhetischen Wert, der sich in einem bestimmten ästhetischen Erlebnis als Wert der Konkretisation von Rembrandts Selbstbildnis, in der Frickgalerie in New York, konstituiert hat. Urteile dagegen, welche die Begründung eines Wertes in einem bestimmten Gegenstand betreffen, haben die Funktion aufzuklären, worin dieser Wert bei dem betreffenden Gegenstand gründet, d.h. in welchen ästhetisch relevanten Qualitäten, die am betreffenden ästhetischen Gegenstand auftreten, und in welchen ästhetisch wertneutralen, aber künstlerisch wirksamen und dadurch wertvollen Momenten des betreffenden Kunstwerks der Wert seinen konstitutiven Grund hat. Die Urteile dieser letzten Art bilden gewissermaßen das Bindeglied zwischen den rein beschreibend berichtenden Urteilen über den Gehalt eines ästhetischen Gegenstandes und den Werturteilen und erlauben es, den Zusammenhang zwischen dem Wert und seiner gegenständlichen Fundierung besser zu verstehen. In ihnen liegt auch zum Teil die Begründung der ästhetischen Bewertung des ästhetischen Gegenstandes. In einem ästhetischen Gegenstand können verschiedene Werte auftreten, welche den letztlich resultierenden, sozusagen synthetischen Wert begründen. Sie sind von diesem letzteren zu unterscheiden. In einer ästhetischen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks können sie folgender Art sein. Es können z.B. Werte sein, die aus dem Reichtum mannigfacher

Darstellungs-

weisen der Schicksale der in der gegenständlichen Schicht auftretenden Personen entspringen. Es können zugleich Werte sein, die sich aus den Stileigen-

wurde zuerst auf dem Hie Congrès des Sociétés de Philosophie de langue française in Brüssel im Jahre 1947 vorgelegt.

370 tümlichkeiten

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

der im Werk verwendeten sprachlichen Gebilde ergeben oder

in der Tiefe des Lebens der dargestellten Personen gründen oder an den mannigfaltigen Ansichten, in welchen die dargestellten Gegenständlichkeiten erscheinen, haften oder endlich am Zusammenklang der mannigfachen ästhetisch relevanten Qualitäten in den Kulminationsphasen des Werkes zum Ausdruck kommen. Treten in einem ästhetisch konkretisierten Werk Werte aller hier eben genannten Abarten auf und sind sie der Art, daß sie alle "harmonisch" zusammenklingen, dann konstituiert sich in ihnen ein synthetischer Gesamtwert der betreffenden Konkretisation des literarischen Kunstwerks, dessen Wertqualität sich aus der Wahl der Wertqualitäten der ihn begründenden Werte und auch Unwerte (Mängel) ergibt. Diese dabei resultierende Qualität des Gesamtwertes kann sehr verschiedener Art sein. Entweder ist es eine "Gestalt", welche dem ästhetischen Gegenstand die letztlich begründende Einheit verleiht, oder es ist nur eine synthetische Qualität, an der sozusagen die Teilbestimmtheiten noch sichtbar sind und zu einer gewissermaßen gegliederten, aber doch zusammenstimmend einheitlichen Struktur des Wertes führen, oder es prägt sich in ihr ein qualitativer Widerstreit (eine Disharmonie) aus, welcher auf die Höhe des Gesamtwertes einen mindernden Einfluß hat. Jedenfalls ist aber der Gesamtwert in seinem qualitativen Gehalt keine arithmetische Summe der ihn begründenden Werte bzw. ihrer qualitativen Bestimmungen. Welche Art der synthetischen Bindung der Gesamtwert in seiner qualitativen Bestimmtheit aufweist bzw. aufweisen kann, das ist natürlich Sache der speziellen Erforschung der einzelnen literarischen ästhetischen Gegenstände und kann hier nicht entwickelt werden. Das hier Gesagte soll nur einen flüchtigen Ausblick auf die mannigfaltige Verschiedenheit der Abwandlungen, die möglich sind, geben. Es muß aber gesagt werden, daß in der bisherigen Literaturforschung die Lösung dieser sich ergebenden Aufgabe nie gegeben und im Grund auch nie gesehen wurde. Ihre Lösung würde uns aber erst über die Struktur des Wertes eines bestimmten literarischen ästhetischen Gegenstandes belehren, was uns allmählich zu einer Theorie der möglichen Strukturen von ästhetischen Werten führen könnte. Momentan sind wir davon noch sehr weit entfernt und können *nur* einige vorbereitende Hinweise über die sich da eröffnenden Möglichkeiten andeuten. So scheint es wahrscheinlich zu sein, daß das Auftreten mehrerer positiver und miteinander nicht widerstreitender ästhetischer Werte in einem ästhetischen Gegenstand -

§ 28. Urteile über den ästhetischen

Gegenstand

371

wenigstens im allgemeinen - zu einer Erhöhung des aus ihnen resultierenden synthetischen Gesamtwertes führt; wenn dagegen *unter den Bestandteilwerten* neben den positiven Werten auch Unwerte (Mängel?) auftreten, so zieht dies eine Minderung des resultierenden Wertes nach sich. Nicht alle ästhetischen Werte aber stimmen zusammen. Es scheint, daß es positive Werte geben kann, die beim Vorhandensein in einem ästhetischen Gegenstand in Widerstreit geraten; es ist wahrscheinlich, daß dies im allgemeinen zu einem niedrigeren Gesamtwert führt, als wenn es diesen Widerstreit nicht gäbe. Es wäre aber erst nachzuprüfen, ob ein Widerstreit ganz besonderer Art zwischen den Wertqualitäten der Bestandteilwerte nicht im Gegenteil einen Effekt bildet, der zu einer Erhöhung des daraus resultierenden Wertes führt. Es scheint z.B., daß das sich im Schicksal eines im Drama dargestellten Helden enthüllende Tragische eine ästhetisch relevante und wirkende Qualität ist, deren Auftreten im Werk zu einer hohen positiven ästhetischen Wertqualität führt. Stellen wir uns aber vor, daß in demselben Werk auch eine kraß groteske Gestalt auftritt, so kann es jetzt zweifelhaft werden, ob der Kontrast (oder vielleicht auch der Widerstreit) zwischen diesen beiden ästhetisch relevanten Qualitäten überhaupt werthaft synthetisierbar ist und zur Konstituierung eines hohen positiven Gesamtwertes führt oder im Gegenteil den eventuell noch konstituierten Wert wesentlich herabsetzt oder ihn endlich überhaupt zerstört. Wahrscheinlich kann darauf noch die Art, in welcher diese beiden ästhetisch relevanten Qualitäten zur Erscheinung gebracht werden, einen Einfluß haben. Dies könnte erst in einem konkreten Fall in subtiler analytischer Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation eines bestimmten literarischen Kunstwerks entschieden werden. Natürlich gehört dazu ein großes Feingefühl des Betrachters für den wertqualitativen Gehalt des ästhetischen Gegenstandes, und nicht jedem wird es gelingen, da zu einem sicheren Ergebnis zu gelangen. Und es könnte in besonderen Fällen zu einem Widerstreit der Meinungen zwischen den Forschern kommen und es kostete wahrscheinlich viel Mühe und machte die Enthüllung möglicher Fehler in der Erfassung des ästhetischen Gegenstandes notwendig, um zu einer Einigung zu kommen. Wichtig ist momentan nur zu betonen, daß derartige Forschungsaufgaben bei der ästhetischen Betrachtung literarischer Kunstwerke bestehen und unternommen werden müssen. Die Durchführung solcher Betrachtungen, mindestens an einigen ausgewählten Kunstwerken, müßte uns zu der Überzeugung führen, daß so-

372

IV. Abwandlungen

des Erkennens des literarischen

Kunstwerks

wohl die rein theoretische Betrachtung des ästhetischen Wertes konkretisierter literarischer Kunstwerke als auch ihre konkret durchgeführte ästhetische Bewertung eine sehr schwierige und verantwortliche Aufgabe der Literaturforschung ist und nicht mit einigen Phrasen, die kaum etwas besagen und mit denen man sich gewöhnlich zufrieden gibt, zu erledigen ist. Die Durchführung einer solchen ästhetischen Bewertung sowie die betrachtende Erfassung der Struktur des ästhetischen Wertes erfordert im Einzelfall nicht nur eine korrekte und möglichst erschöpfende Konkretisierung des betreffenden Kunstwerks bis zur Konstituierung aller möglichen ästhetisch relevanten Qualitäten in ihr und der in ihnen gründenden qualitativ bestimmten Werte, sondern fordert auch, daß man in betrachtender Erkenntnis des wertbehafteten ästhetischen Gegenstandes das ganze Spiel der begründenden Bestandteilwerte miterfaßt und auf diesem Weg zu der oft hierarchischen Struktur des Gesamtwertes vordringt. Die weitestgehende Unterwerfung des Forschers unter die vom literarischen Kunstwerk ausgehenden Suggestionen der ästhetischen Konstitution der Konkretisation und seine ebenso weitgehende Unabhängigkeit von der herrschenden Modeauffassung läßt hoffen, daß der Forscher bei der Lösung der verschiedenen Wertprobleme, die sich auf das von ihm zu bewertende konkretisierte Kunstwerk beziehen, zu richtigen Ergebnissen gelangen wird. Die Aufstellung der sich auf das betreffende Werk in der Konkretisation beziehenden berichtenden Werturteile ist ein Verfahren, das zwar aus den Gegebenheiten des ästhetischen Erlebnisses und der sich darauf stützenden Erkenntnis schöpft - aus Gegebenheiten also, welche j a so viele emotionale und überhaupt irrationale Momente in sich bergen - , das aber an sich ganz kühl ist und in dem intellektuelle Momente überwiegen. Es unterwirft auch die bereits gewonnenen Urteile mehrmals einer kritischen Kontrolle, unter Vergleich verschiedener bereits gewonnener Einsichten, und führt sogar manchmal gewisse Experimente durch. Man versucht z.B. gewisse Teile des gelesenen Werkes abzuändern oder bloß abzublenden und sieht nach, ob und eventuell was für Änderungen bei den dabei erscheinenden ästhetischen Werten eintreten. Es ist mit einem Wort eine komplizierte und schwierige Forschungstätigkeit, nicht aber eine - wie man manchmal hört - einfache Reaktion, die unter dem Eindruck des Werkes auf uns entsteht, und mitnichten ist sie auch ein Ausdruck der persönlichen Überzeugungen und

§ 29. Ästhetisches

Erleben vi. betrachtendes

Erkennen

373

Neigungen des Kritikers, wie das die sog. "impressionistische" Kritik bzw. neuerdings die *"nouvelle critique"* behauptet. Auf diese Weise wurde hier ein Überblick über die wichtigsten Phasen der ästhetisch-betrachtenden Erkenntnis ästhetischer Konkretisationen des literarischen Kunstwerks gegeben. Es bleibt uns noch, den Unterschied zwischen dem ästhetischen Erleben des literarischen Kunstwerks und dem betrachtenden Erkennen desselben bzw. seiner ästhetischen Konkretisationen zu verdeutlichen. Gehen wir jetzt dazu über.

§ 29. Der Unterschied zwischen dem ästhetischen Erleben des literarischen Kunstwerks

und dem betrachtenden Erkennen seiner

ästhetischen Konkretisation

Das erste grundlegende Moment dieses Unterschiedes besteht darin: während das ästhetische Erleben in weitgehendem Maß schöpferisch oder mindestens mitschöpferisch ist, indem es erst zur Konstituierung der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks führt, hat das betrachtende Erkennen es mit einem bereits fertigen, gegebenen (vorgefundenen) Gegenstand zu tun und soll nicht schöpferisch sein. Zwar ist - wie wir gesehen haben - im ästhetischen Erleben in einzelnen seiner Phasen eine Reihe von perzipierenden, erfassenden Faktoren enthalten, somit von Faktoren, die ihrem Wesen nach zu den Erkenntnisverhaltensweisen - im weiten Sinn des Wortes - zu zählen sind, doch bilden sie trotzdem lediglich gewisse Übergangsphasen des ganzen Konstituierungsvorgangs des ästhetischen Gegenstands. Zweitens aber ist die Funktion dieser Faktoren im ästhetischen Erleben von derjenigen der betrachtenden Erkenntnis verschieden. Sie dienen nicht dazu, dem Leser ein begriffliches (rationalisiertes) Wissen vom literarischen Kunstwerk zu verschaffen, sondern bilden ein Mittel zur Versenkung des Lesers in die Kontemplation der ästhetisch relevanten Qualitäten und deren Zusammenklänge, um ihm das Entzücken an ihnen in unmittelbarem Verkehr zu ermöglichen. Beim betrachtenden Erkennen des Werkes selbst oder seiner ästhetischen Konkretisation dagegen fällt diese Funktion des Erfassens fort, und ihr Verlauf wird durch die Idee

374

IV. Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks

geleitet, eine echte Erkenntnis des ästhetischen Gegenstandes zu gewinnen. Die Anstrengung des Erkennens geht hier dahin, dem werthaften Zusammenklang, seiner Struktur und seiner Fundierung in bestimmten Mannigfaltigkeiten der ästhetisch relevanten Qualitäten und letzten Endes in den wertneutralen Bestimmtheiten des literarischen Kunstwerks selbst möglichst adäquat gerecht zu werden. Die beiden Vorgänge unterscheiden sich zudem in ihren Kulminationsphasen auf eine wesentliche Weise. Während beim ästhetischen Erleben die emotional bestimmte Wertantwort und das kontemplative Entzücken an dem konstituierten qualitativen Zusammenklang (bzw. an dem ästhetischen Wert) des ästhetischen Gegenstandes die Kulmination bildet, liegt sie beim betrachtenden Erkennen in der ästhetischen Bewertung, die in entsprechend formulierten Werturteilen zum Ausdruck kommt und ihren Abschluß in der Bestimmung des ästhetischen Wertes des betreffenden Gegenstandes findet. Während dort die Kulminationsphase in der Tiefe eines par excellence emotionalen Erlebnisses versinkt, tritt hier die nüchterne, sorgfältige, gewissenhafte und vorsichtige intellektuelle Betrachtung (Forschung) in den Vordergrund. Obwohl das betrachtende Erkennen einer ästhetischen Konkretisation es mit einem vorgefundenen Gegenstand zu tun hat und im beständigen Bemühen, sich dem Gegenstand möglichst genau anzupassen, besteht, so ist es keinesfalls etwa ein passives Verhalten des Forschers. Im Gegenteil, es zeichnet sich - wie übrigens jeder selbständige Erkenntnisakt - durch eine große Aktivität aus, welche vor allem auf der Erhaltung des konstituierten ästhetischen Gegenstandes in lebendiger Anschaulichkeit und unverfälschter Gestalt beruht, um daran die ganzheitliche und eventuell auch analytische Erschauung und Erfassung dieses Gegenstandes zu ermöglichen. Auch eine große Anspannung der Erkenntnisaktivität zeichnet die begriffliche Fassung dessen aus, was am ästhetischen Gegenstand zu enthüllen und zu verstehen gelungen ist. Diese Bemühung ist um so aktiver durchzuführen, als es an überlieferten Begriffen oft fehlt und man sich nicht selten gerade von den überlieferten Begrifflichkeiten und den traditionellen Ansichten unabhängig machen muß. Dasselbe gilt auch für die letzte Durchführung der begrifflichen Fassung des ästhetischen Wertes der Konkretisation sowie seiner Begründung im Aufbau des Kunstwerks. Eine spezifische Aktivität

§ 29. Ästhetisches Erleben vs. betrachtendes

Erkennen

375

zeichnet natürlich auch das ästhetische Erlebnis aus. Es ist aber eine Aktivität in der möglichst vollen Erschauung des ästhetisch relevanten Gehalts des ästhetischen Gegenstandes im originellen Zusammenklang aller in Frage kommenden Qualitäten und in eins damit auch die Aktivität in der kontemplativen und emotionalen Hingabe an diesen Gegenstand, um ihm voll gerecht zu werden. Gerade aber dieses Sich-Vertiefen in die Kontemplation als auch die emotionale Hingabe an den werthaften Gehalt des ästhetischen Gegenstandes muß bis zu einem gewissen Grad abgedämpft und sogar überwunden werden, um eine gewisse Distanz zum Gegenstand zu gewinnen und dadurch seine betrachtende Erkenntnis zu ermöglichen. Die Beschreibung der verschiedenen möglichen Verhaltensweisen dem literarischen Kunstwerk und seinen Konkretisationen gegenüber haben wir auf diese Weise den Hauptpunkten nach durchgeführt. Es sind da natürlich weitere, mehr ins einzelne gehende deskriptive Forschungen möglich und wünschenswert. Wir müssen uns aber mit dem Gesagten begnügen, da sich in diesem Moment der Betrachtung neue Probleme wesentlich anderer Art eröffnen, auf die wir noch wenigstens mit einem ersten Zugriff eingehen wollen.

V.

Kapitel: Ausblick auf einige Probleme der kritischen Betrachtung der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks

§ 30. Einleitende Bemerkungen Die bisherigen Überlegungen - so ergänzungsbedürftig sie auch sein mögen sind so weit gediehen, daß es jetzt schon möglich ist vorauszusehen, welche erkenntniskritischen Probleme sich bezüglich der verschiedenen Weisen des Erkennens des literarischen Kunstwerks eröffnen. Ich versuche, sie im Folgenden zu skizzieren, soweit dies beim jetzigen Stand der Forschung möglich ist. Wie es sich aus den durchgeführten Überlegungen ergibt, muß man neben dem sich gewöhnlich auf relativ zufällige Weise vollziehenden Kennenlernen des literarischen Kunstwerks bei der Lektüre eines literarischen Konsumenten - drei verschiedene Weisen des Erkennens dieses Werkes (im weiten Sinn des Wortes) unterscheiden: 1. das vorästhetische betrachtende Erkennen des literarischen Kunstwerks selbst, 2. das ästhetische Erleben, welches zur Konstitution der ästhetischen Konkretisation des Werkes führt, und 3. das betrachtende Erkennen dieser Konkretisation in ihrer werthaften Gestalt. 1 Alle diese Abwandlungen des Erkennens zeichnen sich dadurch aus, daß dieselben Grundtypen der Erlebnisse als Elemente des ganzen Vorgangs *in ihren Bestand eingehen*. Infolgedessen sind auch die erkenntniskritischen Fragen, welche sich bezüglich dieser Vorgänge und der in ihnen gewonnenen Ergebnisse erheben, zum großen Teil dieselben. Die Unterschiede aber, die zwischen ihnen bestehen, sowie die verschiedenen Aufgaben, die sie zu erfüllen haben, haben zur Folge, daß auf dem Boden einer jeden von ihnen neben den gemeinsamen auch völlig verschiedene Probleme auftreten,

Man kann die Reihenfolge dieser Weisen des Erkennens ändern und das ästhetische Erleben an die erste Stelle setzen, da es in vielen Fällen auch für das vorästhetische betrachtende Erkennen des literarischen Kunstwerks instruktiv ist. Diese Reihenfolge hat aber keine größere Bedeutung.

§ 31. Erkenntniskritik der forschenden

Betrachtung

377

welche nur der einen Abwandlung des Erkennens des literarischen Kunstwerks eigen sind. In zwei verschiedenen Richtungen muß unsere Betrachtung fortgeführt werden: a) in Richtung auf eine Bestimmung der positiven und negativen Grundwerte der Erkenntnis, die in den einzelnen Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks in Betracht kommen, b) auf eine Entdeckung der Quellen der möglichen Fehler (Irrtümer) beim Vollzug dieses Erkennens.

§ 3 1 . Erkenntniskritische Probleme des vorästhetischen betrachtenden Erkennens des literarischen Kunstwerks In den Erlebnissen, die sich bei der schlichten Lektüre eines literarischen Konsumenten abspielen, kommt es unzweifelhaft teils zu einer - wenn auch nur fragmentarischen - Erkenntnis des gelesenen Werkes, teils zu einem ästhetischen Erleben, in welchem sich die ästhetische Konkretisation des Werkes konstituiert. Dieser ganze Vorgang unterliegt aber verschiedenen zufälligen Wandlungen und vollzieht sich oft auf eine nicht bewußt organisierte Weise und dient auch sich wandelnden Zielen, bzw. Zwecken, die zu erreichen er im Einzelfall ausgerichtet ist. Es ist infolgedessen angebracht, unsere Betrachtung vor allem den übrigen von uns unterschiedenen Weisen des Verkehrs mit dem literarischen Kunstwerk zuzuwenden. Ich beginne mit der Erwägung der erkenntniskritischen Probleme, die sich bei dem vorästhetischen betrachtenden Erkennen des literarischen Kunstwerks eröffnen. Der Verlauf dieses Erkennens wird - wie bereits bemerkt - mehr oder weniger bewußt durch die Idee geleitet, daß in ihm die Erkenntnis des betreffenden Kunstwerks als "objektives" Wissen von ihm erzielt werden soll. Anders gesagt: man strebt letzten Endes danach, eine Anzahl zusammenhängender und begründeter wahrer Urteile über dieses Werk zu gewinnen. "Wahr" sind sie aber dann und nur dann, wenn sie ihm solche und nur solche Eigenschaften (Merkmale) sowie Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften bzw. Teilen zuschreiben, die es selbst, sobald es nur eben "fertig" und "festgelegt" ist, in sich besitzt. Mit anderen Worten: die Wahrheit der literarische Kunstwerke betreffenden Urteile (wir wollen sie "literarische Urteile"

378

V. Kritik der Erkenntnis

des literarischen

Kunstwerks

nennen) ist von der Wahrheit der Urteile über irgendwelche andere Gegenstände nicht verschieden. 2 Auch der Begriff der "Objektivität" der unmittelbaren Erkenntnis des literarischen Kunstwerks, bevor sie in Urteilen formuliert wird, scheint zunächst kein anderer zu sein, als derjenige, der bei der Erkenntnis realer Gegenstände verwendet wird. Freilich muß man da vorsichtig sein, wenn man beachtet, daß literarische Werke eben nicht real und insbesondere nicht seinsautonom sind, sondern durch schöpferische Akte des Dichters intentional entworfen werden und somit nur seinsheteronom sind. 3 Dies muß auch bei dem Begriff der "Objektivität" der unmittelbaren Erkenntnis eines seinsheteronomen Gegenstandes berücksichtigt werden, aber es genügt, wenn wir - wenigstens für unsere hier verfolgten Zwecke - die Bedingung einfügen, daß die Erkenntnis eines seinsheteronomen Gegenstandes seiner Seinsheteronomie gerecht werden und ihm seine Bestimmtheiten als ihm in dieser Seinsweise zukommende zuschreiben muß. Im Zusammenhang damit eröffnen sich bei der literarischen Erkenntnis gewisse Fragen und Schwierigkeiten, die bei anderen Erkenntnissen - wie es zunächst scheint - nicht auftreten. Der angeführte Begriff der Wahrheit des Urteils und die mit ihm verbundenen Ideen der Erkenntnis und ihrer "Objektivität" setzen einen bestimmten Begriff des Erkenntnisgegenstandes voraus. Er wird da als etwas verstanden, das 1. von dem ganzen Vorgang des Erkennens und von den in ihm erreichten Urteilen völlig unabhängig existiert und 2. seine eigenen Bestimmtheiten besitzt, die ihm ganz unabhängig davon zukommen, ob er überhaupt und even-

Indem ich dies sage, vergesse ich natürlich nicht all j e n e Schwierigkeiten, die mit der Klärung des Begriffs Wahrheit, bzw. Wahrsein, als auch mit der Aufgabe, zuverlässige Kriterien des Wahrseins zu finden, verbunden sind, o h n e d a ß dabei ein circulus

vitiosus

began-

gen wird. Dies sind aber alles Fragen, die zu prinzipiell und auch zu kompliziert sind, als daß sie hier behandelt werden dürften. Mit Rücksicht auf die Unterschiede in der Seinsweise der verschiedenen Erkenntnisgegenstände und auch in der Weise, wie ihnen m a n n i g f a c h e Bestimmtheiten z u k o m m e n können, habe ich anderenorts versucht, den Begriff der "Objektivität" sowohl in der A n w e n d u n g auf die gegenständliche als auch auf die erkenntnismäßige "Objektivität" auf m a n n i g f a c h e Weise zu differenzieren. Vgl. dazu meinen Artikel "Betrachtungen zum Problem der Objektivität", Zeitschrift Kunstwerk

für philosophische

Forschung,

Bd. 21, H. 1-2, 1967 [auch in

Erlebnis,

und Wert, op. cit., S. 219-55]. Ich kann hier diese Probleme nicht entwickeln.

§ 31. Erkenntniskritik

der forschenden

Betrachtung

379

tuell auf welche Weise er erkannt wird. 4 Überall dort, wo der Gegenstand, der erkannt wird, seinsautonom5 ist, d.h. sein Seinsfundament, welches auf der Immanenz der ihn bestimmenden Qualitäten beruht, in sich selbst hat, stößt der soeben gegebene Begriff des Erkenntnisgegenstandes auf gar keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Er darf aber nicht für den allgemeinsten Begriff des Erkenntnisgegenstandes überhaupt gehalten werden. Er muß eben auf die seinsautonomen Gegenständlichkeiten eingeengt werden. Wie ich in meinem Buch Das literarische Kunstwerk zu zeigen suchte, ist das literarische Kunstwerk kein seinsautonomer, sondern ein seinsheteronomer und insbesondere rein intentionaler Gegenstand, welcher sein Seinsfundament in den schöpferischen Bewußtseinsakten seines Autors hat. Die es bestimmenden Qualitäten (allgemeiner: seine Materie und seine Form) sind ihm nicht im strengen Sinn immanent, sondern werden ihm durch entsprechende Bewußtseinsakte des Autors intentional nur zugewiesen und verliehen. Sobald es in einer intersubjektiv vorhandenen Sprache in irgendeinem physischen Material (durch Druck, Schrift, Magnetophon usw.) festgelegt wird, ist es im Prinzip dem beliebigen, die betreffende Sprache beherrschenden Leser erkenntnismäßig als vorgegebener Gegenstand zugänglich, es muß aber abgelesen und bei dieser Lektüre rekonstruiert werden. Dasjenige, was dabei der Leser an den seinsautonomen in Betracht kommenden Gegenständen vorfindet, das sind lediglich - wenn es sich um ein gedrucktes Werk handelt - Druckzeichen, die ihn dazu bewegen, die entsprechenden Worte, d.h. Wortlaute und ihre Bedeutungen, intentional zu meinen. Im Grund wird also das ganze Werk in allen seinen Schichten auf Grund der richtigen Entzifferung der Druckzeichen und mit Hilfe der dem Leser bekannten und von ihm beherrschten Sprache vom Leser aus eigenen Kräften wie aufs neue rekonstruiert. Den Anfang dieses Rekonstruktionsvorganges bildet die Erfassung der Wortlaute, dann entfalten sich in verschiedenen möglichen Abwandlungen - all jene Bewußtseinsoperatio-

Nicht alle Erkenntnistheoretiker sind bekanntlich geneigt, einen solchen Begriff des Erkenntnisgegenstandes anzuerkennen. Er wird von der transzendentalidealistischen Erkenntnistheorie verworfen. Unter denjenigen wiederum, die ihn annehmen, stimmen nicht alle dem zu, daß so verstandene Erkenntnisgegenstände erkannt werden können. Diese Möglichkeit wird von den realistisch eingestellten Interpretatoren der Kantischen Kritik reinen Vernunft verworfen. Vgl. Der Streit um die Existenz der Welt, Bd. I § 12.

der

380

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

nen, die hier im I. Kapitel beschrieben wurden. Sind sie alle abgelaufen, dann haben wir es mit einer vollzogenen Rekonstruktion bzw. Konkretisation des Kunstwerks zu tun. Handelt es sich darum, das betreffende Kunstwerk in seiner eigenen schematischen Struktur zu erfassen, also eine reine Rekonstruktion desselben zu erzielen, so wird dabei vermieden, die Unbestimmtheitsstellen des Werkes auszufüllen und seine bloß potentiellen Momente bzw. Elemente zu aktualisieren. Der Vorgang des vorästhetischen betrachtenden Erkennens eines bestimmten Werkes baut sich sozusagen über einer solchen Rekonstruktion auf, d.h. er richtet sich auf das betreffende Werk eben in der gewonnenen Rekonstruktion. 6 In den Ergebnissen des betrachtenden vorästhetischen Erkennens des betreffenden literarischen Kunstwerks gründen die Urteile, in welchen die Erkenntnis dieses Kunstwerks enthalten ist. Die Erlangung dieser Urteile vollzieht sich gewissermaßen in drei miteinander verbundenen Schritten: a) im Rekonstruieren des betreffenden Werkes während der Lektüre, b) im Erkennen seiner so gewonnenen Rekonstruktion und c) in der Fassung der Ergebnisse dieses Erkennens in eine Mannigfaltigkeit miteinander verbundener Urteile. Das Problem der Wahrheit und der Begründung dieser "literarischen Urteile" kompliziert sich infolgedessen in besonderem Maße. Bei jedem Schritt oder aufjeder Stufe eröffnen sich neue Probleme, die mit der Wahrheit der literarischen Urteile verbunden sind. Und zwar die folgenden Probleme:

Man faßte vielleicht die Situation gerne so, daß dieses Erkennen eben "reflexiv" (reflektiv) ist, d.h. den Akten des Lesens übergebaut. Es ist aber etwas anderes, auf die Akte des Lesens zu reflektieren

(wie wir es in gewissem Maß im I. Kapitel dieses Buches getan

haben), und wieder etwas anderes, sich auf die in diesen Akten des Lesens, des Verstehens usw. konstituierten, bzw. von ihnen enthüllten Gegenstände

zu richten und in diesem

Gerichtetsein diese Gegenstände (insbesondere die verschiedenen Schichten des literarischen Kunstwerks) sozusagen sekundär

zu erfassen. Diese neuen Akte setzen also die

intentionale Leistung der Akte des Lesens voraus und sind eben damit etwas von den Akten des Lesens grundsätzlich Verschiedenes. Je nachdem, worauf im analysierten Werk sich das betrachtende vorästhetische Erkennen richtet, entstehen sehr mannigfache Situationen zwischen den Akten des Lesens und den Akten des betrachtenden analytischen Erkennens des in den Akten des Lesens konstituierten bzw. rekonstituierten Werkes. Es würde uns aber von unserem Hauptthema zu sehr ablenken, wenn wir diese Situationen für sich studieren wollten.

§ 31. Literarische Urteile und objektive

Erkenntnisergebnisse

381

a) diejenigen, die sich auf das Getreusein des Rekonstruierens des literarischen Kunstwerks in der Lektüre, bzw. auf das Getreusein der Rekonstruktion selbst beziehen, b) welche die Objektivität der Erkenntnis des Werkes selbst, bzw. seiner getreuen Rekonstruktion, bzw. seiner ästhetischen Konkretisation betreffen, c) die sich auf die Anpassung des Inhalts der literarischen Urteile und ihres Zusammenhanges an die Ergebnisse der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks, bzw. seiner ästhetischen Konkretisation oder an das Beschaffensein des Kunstwerks selbst beziehen. In jedem dieser drei Fälle gibt es einen ganzen Problemzusammenhang. Insbesondere gruppieren sich die Probleme um drei verschiedene Fragen: 1. um die Frage nach dem Sinn des Getreuseins (der Objektivität bzw. der Anpassung), 2. um die Frage nach der Möglichkeit des Erreichens des Getreuseins (der Objektivität bzw. der Anpassung) und 3. um die Frage, wie das Getreusein, bzw. die Objektivität, bzw. die Anpassung im Einzelfall bewiesen werden kann. Denn erst dann, wenn diese drei Fragen positiv beantwortet werden könnten, wäre der Beweis für die Wahrheit der literarischen Urteile erbracht. Wir beginnen mit der Betrachtung des ersten Problemzusammenhanges, wobei wir uns natürlich nur auf die ersten Schritte in der Behandlung dieser Fragen beschränken, weil es sich hier lediglich um die Grundlegung und nicht um den Aufbau einer Erkenntnistheorie der Erfassung literarischer Werke handeln kann, wobei der Begriff des literarischen Werkes so weit gefaßt wird, daß er den Spezialfall der wissenschaftlichen Werke umfaßt, so daß es sich da unter anderem um die Frage nach der Möglichkeit einer objektiven bzw. intersubjektiven Wissenschaft handelt. ad a) Ich lasse hier den Fall beiseite, in welchem sich die Rekonstruktion eines literarischen Werkes (insbesondere Kunstwerkes) in einer freien, dem Zufall überlassenen Lektüre eines literarischen Konsumenten vollzieht, und gehe sogleich zur Behandlung des Falles über, in welchem sich diese Rekonstruktion zwecks Erlangung einer vorästhetischen betrachtenden Erkenntnis des Werkes - also gewissermaßen von vornherein unter einer gewissen Kontrolle (und auch Vorsicht) des Lesenden - vollzieht. Was heißt dann, daß eine solche Rekonstruktion dem Werk "getreu" ist? Das heißt, daß sie in jeder Hinsicht dem Werk selbst gleicht, so daß in ihr dieses Werk in allen seinen

382

V. Kritik der Erkenntnis

des literarischen

Kunstwerks

Einzelheiten zur Enthüllung kommt. Diese Rekonstruktion ist dagegen "nicht getreu", wenn dies in irgendeiner Hinsicht nicht der Fall ist. Es kann natürlich sehr viele Grade dieses Nicht-Getreuseins geben, so daß in manchen Fällen die betreffende "Rekonstruktion" 7 überhaupt als Rekonstruktion verworfen werden muß. In anderen Fällen dagegen kann sie noch dafür gelten, erfordert aber noch verschiedene Korrekturen, um (in vollem Sinn) getreu sein zu können. Im Zusammenhang damit stellen sich folgende Fragen: 1.Worin das Nicht-Getreusein der Rekonstruktion liegen kann, 2. welche Bedeutung für die Möglichkeit, das Werk selbst zu enthüllen, die einzelnen Stellen des Nicht-Getreuseins besitzen, 3. auf welche Weise wir uns davon überzeugen können, ob und in welcher Hinsicht die gewonnene Rekonstruktion dem Werk selbst getreu oder nicht getreu ist, 4 . ob und welche Bürgschaft man erlangen kann, daß die gewonnene Rekonstruktion wirklich dem Werk getreu ist oder es gerade nicht ist? 1. Da j e d e s literarische Werk mehrschichtig ist und zugleich aus mehreren Teilen besteht, die aufeinanderfolgen, enthält es eine außerordentlich große Anzahl von Elementen und den sich aus ihrem Zusammensein und ihrer Aufeinanderfolge ergebenden Eigenschaften; es ist infolgedessen - besonders bei Werken größeren Umfangs - sehr schwierig, der ganzen Mannigfaltigkeit dieser Elemente und Eigenschaften voll gerecht zu werden. Nicht alle Schichten sind aber konstitutiv gleichwertig. Grundlegend sind die beiden Schichten a) der sprachlautlichen Gebilde und Erscheinungen und b) der Bedeutungseinheiten. Von ihrer richtigen, getreuen Rekonstruktion hängt - wenigstens bis zu einem hohen Grade - das Getreusein der übrigen Schichten und ihrer aller Zusammenfassung zu einem Ganzen ab. In erster Linie kann also das eventuelle

Nicht-Getreusein

der Rekonstruktion

darauf

beruhen, daß * ( 1 ) * nicht alle Elemente der sprachlautlichen Schicht in der betreffenden Rekonstruktion berücksichtigt werden. Dies kann vor allem auf einem Versehen (oder Weglassen) irgendeines Wortlauts beruhen, was aber weniger wahrscheinlich ist. Häufiger dagegen können mannigfache sprachlautliche Erscheinungen übergangen werden, wodurch dann die von ihnen

"Rekonstruktion" ist im gegenständlichen Sinn genommen, als Gebilde der Tätigkeit des Rekonstruierens. So verstanden bildet sie den Grenzfall der "Konkretisation" des Werkes, in welcher alle Unbestimmtheitsstellen sowie alle Potentialitäten ohne Ausfüllung bzw. Aktualisierung belassen werden (so wie sie im Werk selbst sind).

§ 31. Literarische

Urteile und objektive

Erkenntnisergebnisse

383

ausgeübten konstitutiven Funktionen (z.B. bei der Parathaltung oder Aktualisierung der Ansichten) wegfallen und in der Folge zum Wegfall in der Rekonstruktion der von ihnen abhängigen Elemente der übrigen Schichten des Werkes führen. Analoge Weglassungen können auch in der Schicht der Bedeutungseinheiten vorkommen (wenn der betreffende Wortlaut unbeachtet blieb und folglich auch nicht rekonstruiert wurde) und entsprechende Lücken in der Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten nach sich ziehen. Eine solche Lücke in der Bedeutungsschicht macht sich aber auch ohne ein besonderes Nachkontrollieren des Textes von selbst spürbar, da dann z.B. der Sinnzusammenhang der Sätze oder die Einheit des betreffenden Satzsinnes gestört wird, so daß er durch den Leser nicht gedacht werden kann und ihn zur Rückkehr zum Text und zur Suche nach dem fehlenden Sinnelement zwingt. *(2)* Häufiger und auch gefährlicher sind die Fälschungen in der Rekonstruktion der beiden sprachlichen Schichten, wenn z.B. ein Wortlaut falsch rekonstruiert wird, weil der Text an der betreffenden Stelle einfach falsch gelesen wurde, oder wenn beim richtigen Erfassen des Wortlauts das betreffende Wort doch falsch verstanden, also in einem anderen Sinn rekonstruiert wird, als es an dieser Stelle verstanden werden sollte. Wenn das Werk in der eigenen Muttersprache gelesen wird, so kommt dies relativ selten vor, die Fälle mehren sich aber, wenn das gelesene Werk in einer anderen Sprache geschrieben ist, so daß da auch dem diese Sprache beherrschenden Leser Fehler in der richtigen Sinnerfassung passieren können. Die schlimmsten Mißdeutungen, also Fälschungen des Sinnes, ergeben sich aus einer falschen Verwendung der syntaktischen Funktionen, so daß entweder der Satzbau nicht richtig erkannt und rekonstruiert oder der Zusammenhang zwischen den Sätzen falsch gedeutet wird. Gefährlich sind solche Fälschungen in der Bedeutungsschicht, weil sie nicht ohne weiteres bei der Rekonstruktion des Werkes spürbar sein müssen, so daß der Leser überzeugt sein kann, er habe das Werk getreu rekonstruiert. Denn die Fälschungen müssen nicht zu Widersprüchen oder Uneinheitlichkeiten im Autbau des Werkes führen. Gewöhnlich wird der Leser erst durch einen anderen Leser dieses Werkes darauf aufmerksam gemacht werden, daß etwas nicht in Ordnung und daß eine neuerliche Deutung des Textes notwendig ist, um den richtigen Sinn zu vollziehen. Diese Fälschungen in der Bedeutungsschicht führen automatisch zu entsprechenden Fälschungen in der dargestellten Welt des Werkes, woraus sich dann

384

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

noch weitere Fälschungen im Zusammenhang der Schichten ergeben. Die daraus folgenden Unstimmigkeiten in der dargestellten Welt können aber dem Leser leichter als die Fehler in der Bedeutungsschicht auffallen und können ihn bewegen, nach ihren Gründen zu forschen und damit zu einer neuerlichen genaueren bzw. korrekteren Rekonstruktion des Werkes fortzuschreiten. *(3)* In der Rekonstruktion des Werkes können ganz neue Elemente oder Momente auftreten, die im Werk selbst überhaupt nicht vorhanden sind. Dies bezieht sich vor allem auf die Schicht der Bedeutungseinheiten; es kann da Verschiedenes durch den Leser hinzugedacht sein, was im Werk selbst fehlt. Man liest ja oft sozusagen "zwischen den Zeilen" und fügt damit nicht bloß dasjenige, was nur implicite gesagt wird, sondern auch Verschiedenes hinzu, was nur eine Erdichtung des Lesers ist. Der Leser bringt sich dies meist gar nicht zu Bewußtsein; daher ist diese Weise des Nicht-Getreuseins der Rekonstruktion nicht so leicht zu entdecken. *(4)* Endlich kann es noch vorkommen, daß zwar der strikte Gehalt aller Schichten getreu rekonstruiert wird, dagegen Fehler in der Rekonstruktion der Beziehungen und Zusammenhänge zwischen den Elementen der verschiedenen Schichten begangen werden. Diese Fehler können dann beim Übergang zu der ästhetischen Konkretisierung des Werkes bei der Konstituierung der ästhetisch relevanten Qualitäten sehr schwer wiegen. Alle diese Unkorrektheiten in der Rekonstruktion des literarischen Werkes sollten nicht mit den "perspektivischen Verkürzungen" und den Wandlungen, die mit der Zeitperspektive verbunden sind, vermengt werden. Denn diese Wandlungen im Gesamtaspekt des literarischen Kunstwerks ergeben sich vor allem aus der eigenen Struktur des literarischen Werkes und sind nie ganz zu vermeiden, am wenigsten die Erscheinungen der Zeitperspektive. Dagegen können die sich aus der Mehrschichtigkeit des literarischen Werkes ergebenden "perspektivischen Verkürzungen" mehr oder weniger bedeutend sein und sind den Unterschieden vergleichbar, welche bei der Verfertigung photographischer Kopien sich aus dem verschiedenen Grad der Entwicklung der einzelnen Einzelheiten des Bildes beim "Baden" der Bilder ergeben: nicht alle Schichten (bzw. die in ihnen auftretenden Einzelheiten) werden bei der Lektüre in gleichem Maße "entwickelt", "ausgeprägt". Bei der reinen Rekonstruktion des Werkes selbst führt dies noch nicht zu einem Nicht-Getreusein der Rekonstruktion. Diese Verkürzungen und Wandlungen der Zeitperspekti-

S 31. Literarische Urteile und objektive Erkenntnisergebnisse

385

ve haben aber eine besondere Bedeutung bei der ästhetischen Konkretisation des Werkes, da mit ihnen Verschiebungen in der Konstituierung der ästhetisch relevanten Qualitäten in eins gehen können. Ich werde noch darauf zurückkommen. 2. Nicht alle Unkorrektheiten der Rekonstruierung des literarischen Werkes sind im selben Maße bedeutsam. Es ist aber schwer, hier gewisse, für alle Werke geltende Regelmäßigkeiten anzugeben, denn diese Bedeutsamkeit ist in hohem Maße vom Aufbau und den Eigenheiten der einzelnen Werke abhängig. Die Weglassung z.B. eines Bedeutungselementes kann bei dem einen Werk eine untergeordnete Rolle spielen, während sie bei einem anderen Werk für den Sinn des ganzen Werkes ganz entscheidend sein kann. Diese zu ergänzende Bedeutung kann z.B. einen Satzzusammenhang herstellen, ohne welchen das Werk in Teile zerfällt. Ihr Vorhandensein im Werk ist dann unverständlich. Diese weggelassene Bedeutung kann aber einen nicht unentbehrlichen Akzent in einem in Sätzen sich entfaltenden Gedanken bilden. Alles hängt hier von der Rolle ab, welche das weggelassene Bedeutungselement im betreffenden Werk spielt. So ist die Bedeutsamkeit einer solchen Weglassung lediglich im Rahmen des betreffenden Werkes zu beurteilen. 8 Ähnlich verhält es sich, wenn in der Rekonstruktion gewisse neue Elemente hinzugefügt werden, wobei es sich natürlich nicht um jene Elemente handelt, die eine Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen des Werkes sind. Denn diese letzteren finden bei der Konkretisation - und besonders bei der ästhetischen Konkretisation - des Werkes statt und bilden keinen Fall des "Untreuseins" dem Werk gegenüber. Auf diese Fragen werde ich noch bei der Besprechung der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks zurückkommen. Hier kommt es lediglich auf die Hinzufügung eines Elements in der Rekonstruktion an, dessen Auftreten durch das Werk selbst in keinem Sinn vorausgesehen wird. Ihre Folgen können je nach Werk sehr verschieden sein, ihre Bedeutsamkeit läßt sich also - wie bemerkt - nur in der Beziehung zum Gesamtaufbau des betreffenden Werkes beurteilen. Die hier möglichen, in ihrer Bedeutsamkeit sehr verschiedenen Fälle haben wir bereits bei der Signa-

Im Zusammenhang damit können sich gewisse Schwierigkeiten ergeben, auf die ich noch zurückkommen werde.

386

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

lisierung einer solchen Unkorrektheit der Rekonstruktion des Werkes angedeutet. Über die verschiedene Wichtigkeit (Bedeutsamkeit) des Untreuseins einer Rekonstruktion des literarischen Kunstwerks läßt sich allgemein vielleicht nur folgendes sagen: Die relativ größte Bedeutsamkeit der Unkorrektheit der Rekonstruktion besitzen diejenigen in die betreffende Rekonstruktion eingeführten Änderungen (Abwandlungen des Werkes selbst), die in den beiden Schichten der Sprache des Werkes stattgefunden haben, weil sie zugehörige, das Original verfälschende Abänderungen in den von der Sprache abhängigen Schichten des Werkes nach sich ziehen, so daß dann das ganze Werk in der Rekonstruktion einer Wandlung unterliegt. Dagegen braucht z.B. eine Wandlung in der Schicht der paratgehaltenen Ansichten, z.B. das Parathalten einer Ansicht oder sogar einer ganzen Mannigfaltigkeit von Ansichten, die im Werk selbst gar nicht vorausgesehen waren, für die Konkretisation keine weiteren Folgen nach sich zu ziehen. Und dies kann eventuell erst bei einer ästhetischen Konkretisation des Werkes die wichtige Folge haben, die diese Konkretisation als unangemessen erscheinen läßt. Die Entdeckung und dann auch die Beseitigung der Verfälschungen, die bei einer Rekonstruktion eines literarischen Werkes begangen wurden, kann oft erst die Konfrontation mit einer Rekonstruktion desselben Werkes liefern, die von einem anderen Leser durchgeführt wurde. Die große Rolle einer Zusammenarbeit

verschiedener Leser bei der Bildung der Rekonstruktion

eines bestimmten Werkes macht sich hier bemerkbar, ein Thema, mit dem wir uns bis jetzt nicht beschäftigt haben. Wir werden noch darauf eingehen müssen, aber es ist schon hier anzudeuten, daß bei dieser Zusammenarbeit und infolgedessen bei der Bildung einer gemeinsamen

(intersubjektiven)

Rekonstruktion eines und desselben Werkes besondere, bedrohliche Schwierigkeiten auftauchen. Bei der Erwägung der verschiedenen Weisen, in welchen eine Rekonstruktion dem Werk gegenüber untreu sein kann, bringen wir uns die allgemeine Wichtigkeit einer jeden Unkorrektheit bei der Rekonstruktion eines Werkes für die objektive vorästhetische Erkenntnis desselben zu Bewußtsein. Jede Unkorrektheit der Rekonstruktion kann die Quelle einer Inobjektivität dieser Erkenntnis sein. Denn sie wird ja auf der Basis einer in der Lektüre gewonnenen Rekonstruktion des Werkes, aber gewissermaßen auch an dieser

§ 31. Literarische

Urleile und objektive

Erkenntnisergebnisse

387

Rekonstruktion durchgeführt und erreicht. Wenn die Rekonstruierung des Werkes sich nicht unter der Kontrolle eines betrachtenden Erkennens, sondern sozusagen selbständig abspielt, und wenn wir unsere betrachtende Erkenntnis möglichst genau an die gewonnene Rekonstruktion

anzupassen suchen, ohne

ihre mögliche Unkorrektheit zu berücksichtigen, dann fassen wir das Werk selbst auf eine in all denjenigen Punkten falsche Weise auf, in welchen diese Rekonstruktion dem Werk eben untreu und dadurch auch unkorrekt ist. Um also das Werk möglichst adäquat zu erkennen, muß man zunächst eine möglichst getreue Rekonstruktion desselben durchführen. Es gibt natürlich Fälle, wo dies ohne besondere Schwierigkeiten gelingt. Im allgemeinen wird es aber vorteilhaft sein, die Bildung der Rekonstruktion bei einer Lektüre durchzuführen, welche unter ständiger Mithilfe der betrachtenden vorästhetischen Erkenntnis der gerade rekonstruierten Teile des Werkes stattfindet. Indem man sich bei der Lektüre vor allem den Sinn der Bedeutungseinheiten, den syntaktischen Bau der Sätze, die mögliche Vieldeutigkeit der Worte und Wortgruppen, der syntaktischen logischen Funktionen, welche zwischen den Sätzen bestehen, möglichst klar zum Bewußtsein bringt, gelingt es, die Fehler der Rekonstruktion - wenigstens bis zu einem gewissen Grade - zu vermeiden. Dann ist es auch möglich, die verschiedenen Partien der Rekonstruktion miteinander zu vergleichen und nachzusehen, ob sie zusammenstimmen, bzw. wenn sie unstimmig sind, ob diese Unstimmigkeiten wirklich im gelesenen Text gründen usw., um auf diese Weise die eventuell entdeckten Unkorrektheiten der Rekonstruktion zu beseitigen und damit auch das betrachtende Erkennen des Werkes vorwärtszutreiben. Diese "Ausbesserung" der Rekonstruktion vollzieht sich also sowohl in der analytischen als auch in der synthetischen Phase des betrachtenden Erkennens des Werkes durch seine sich konstituierende Rekonstruktion hindurch. Durch die Rückkehr zum Text, durch die Analyse seiner einzelnen Teile (Stellen), durch das Vergleichen der bereits erzielten Ergebnisse mit den immer neuen Teilen der Rekonstruktion usw., erzielen wir eine Konfrontation der bereits gebildeten Rekonstruktion mit dem Werk selbst, woraus sich die Möglichkeit ihrer Verbesserung ergibt und wodurch die untenbehrlichen Bedingungen zur Erreichung objektiver Ergebnisse seiner Erkenntnis geschaffen werden. Manchmal können wir dabei zu der Überzeugung kommen, daß die bisherige Rekonstruktion so

388

V. Kritik der Erkenntnis

des literarischen

Kunstwerks

mangelhaft war, daß man sie überhaupt verwerfen und die aufmerksame und kritisch eingestellte Lektüre des Werkes aufs neue unternehmen sollte. Bei diesem ganzen Spiel zwischen der erzielten oder im Werden begriffenen Rekonstruktion des Werkes und ihrem sowohl analytisch, als auch synthetisch eingestellten betrachtenden Erkennen sowie beim Zurückgehen auf das Werk selbst in einer neuen Phase seiner Rekonstruktion ist es möglich, den bereits erfaßten oder gemeinten Sinn der Sätze bzw. der anderen Bedeutungseinheiten durch eine gewisse Zeit hindurch in seiner Identität im lebendigen Gedächtnis zu erhalten, ohne völlig neue Verstehensakte vollziehen zu müssen. Das ermöglicht eben eine Kontinuität der Betrachtung des Werkes, bzw. seiner Rekonstruktion, so daß wir es mit einem, wenn auch komplizierten Vorgang des Forschens nach der eigenen Gestalt des Werkes (bzw. seiner Rekonstruktion) und nicht mit einer diskreten Serie von sich unabhängig voneinander abspielenden Akten des Verstehens bzw. des Meinens zu tun haben. Eine Konfrontation der gewonnenen Rekonstruktion (bzw. ihren Teilen) mit den entsprechenden, sich bei der neuerlichen Lektüre enthüllenden (neu rekonstruierten) Teilen des Werkes selbst gestattet, entweder zu einer Bestätigung ihrer Korrektheit oder zu einer Revision und Umgestaltung mancher ihrer Teile zu gelangen. Die Ingerenz des betrachtenden Erkennens bei der Umbildung der bereits erzielten Rekonstruktion sowie der Rekurs auf die originelle Gestalt des Werkes bei einer neuerlichen Lektüre erweisen sich dadurch als sinnvoll und nützlich. 3. Im Zusammenhang mit diesem ganzen Verfahren stellt sich eben die bereits erwähnte Frage, wie wir uns davon überzeugen können, daß eine bestimmte Rekonstruktion werkgetreu ist oder nicht. Es wurde festgestellt, daß man beim vorästhetischen betrachtenden Erkennen die Rekonstruktion des Werkes hinsichtlich ihres Getreuseins kontrollieren und eventuell verbessern kann. Was bedeutet dies aber? Etwa nur, daß wir uns aufs neue dem Text des Werkes zuwenden und ihn aufs neue und besser zu verstehen suchen? Gewiß. Was können wir aber dadurch Neues und Anderes gewinnen, als nur eine Rekonstruktion eines Teiles des Werkes, welche wir nachher mit der "alten" Rekonstruktion vergleichen (was nur durch die Identitätserhaltung des Sinnes bzw. der Gestalt der alten Rekonstruktion im lebendigen Gedächtnis möglich ist)? W a r u m soll aber diese neue Rekonstruktion getreuer und besser sein als die alte? Vielleicht ist gerade die alte Rekonstruktion getreuer und

§ 31. Literarische Urteile und objektive Erkenntnisergebnisse

389

überhaupt besser als die neue? Oder vielleicht sind beide gleich gut? Und vor allem, warum sollen wir der neu gewonnenen Rekonstruktion eher glauben, sie gebe das Werk getreu wieder, warum soll sie "glaubhafter" als die zuerst gewonnene sein? Sind sie nicht beide in gleicher Weise verdächtig, dem Werk irgendwie untreu zu sein? Bleiben wir da nicht immer an den Kreis der Rekonstruktionen gefesselt, ohne je zum Werk selbst vordringen und es erreichen zu können? Und endlich: wir wenden uns aufs neue dem Text zu, um uns von ihm sozusagen belehren zu lassen, wie das Werk selbst ist, wenn wir bereits auf irgendwelche Weise wissen oder mindestens vermuten, daß die Rekonstruktion, die wir haben, in einer Hinsicht dem Werk untreu ist. Wie können wir das überhaupt wissen, ohne sie mit dem Werk verglichen zu haben? Nun, man wird uns sagen, es genüge, wenn wir es nur vermuteten, und um es vermuten zu können, genüge es, wenn in der Rekonstruktion gewisse Unstimmigkeiten oder auch nur unerwartete Effekte aufträten. Aber, wenn es sie nicht gibt und wir keinen Anlaß haben, mißtrauisch zu werden, und somit alles daransetzen, die gegebene Rekonstruktion möglichst adäquat zu erkennen, so fragt es sich, mit welchem Recht wir behaupten dürfen, daß diese Rekonstruktion dem Werk getreu ist und daß somit auch die auf ihr gegründete Erkenntnis des Werkes selbst objektiv ist? Wenn wir dagegen bereits wissen, daß unsere Rekonstruktion des Werkes ihm in einem Punkt untreu ist, so fragt es sich wiederum, wie wir die Bedeutsamkeit dieser Unkorrektheit beurteilen können, wenn es wahr ist, daß dies vor allem davon abhängt, welche Rolle dasjenige Element im Werk selbst spielt, das in der Rekonstruktion einer Fälschung oder jedenfalls einer Abänderung unterlag. Denn wenn wir nur die betreffende unkorrekte Rekonstruktion zur Verfügung haben, das Werk aber im Original nicht kennen, so können wir auch die Rolle des Elements, welches einer Fälschung oder Abwandlung unterlag, nicht kennen. Lassen wir für den Augenblick dahingestellt, ob wir es tatsächlich nur mit Rekonstruktionen bzw. Konkretisationen und nicht mit dem Werk selbst zu tun haben. Auch wenn dies wahr wäre, scheint die Sachlage nicht so hoffnungslos zu sein. Denn auch wenn wir zur Beseitigung einer Unkorrektheit in einer Rekonstruktion des Werkes bei einer neuerlichen Lektüre des Werkes nur eine neue Rekonstruktion hervorbrächten, so muß beachtet werden, daß sie durch ein genaueres Verstehen der Sätze gebildet wurde, so daß diese

390

V. Kritik der Erkenntnis

des literarischen

Kunstwerks

Sätze dadurch vermöge der in ihrem Inhalt angegebenen Weisungen eventuell miteinander in Verbindung gesetzt werden konnten und daß infolgedessen die von ihnen bestimmten dargestellten Gegenstände ganz genau so bestimmt werden, wie es vom Inhalt der entsprechenden Sätze gefordert wird. Wir können dann - wie es scheint - erwarten, daß die auf diesem Weg gewonnene neue Rekonstruktion dem Werk wirklich getreuer und korrekter sein wird, als eine Rekonstruktion, welche ohne diese Vorsichtsmaßregel gestaltet wurde. Oft bringen wir uns natürlich nicht zu Bewußtsein, daß wir das betreffende Werk in verschiedenen Hinsichten unkorrekt rekonstruieren. Dann können wir durch das einfache Erkennen dieser Rekonstruktion keine objektive Erkenntnis des entsprechenden Werkes gewinnen. Ein solcher Mißerfolg ist aber bei keiner empirischen Erkenntnis von irgend etwas ausgeschlossen. Sobald wir uns diese Eventualität zum Bewußtsein bringen, müssen wir es uns zum Prinzip machen, daß vielleicht gerade in jenen Fällen der Erkenntnis, wo sie zu einer schlicht gewonnenen Rekonstruktion geführt hatte und uns über jeden Zweifel erhaben zu sein scheint, ein kritisches Nachkontrollieren erforderlich ist. Schon eine betrachtende Erkenntniseinstellung bei der Lektüre macht uns vorsichtiger und kritischer. Die analytischen Erkenntnisoperationen aber richten unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Einzelheiten des gelesenen Textes und auf die von ihnen bestimmten Zusammenhänge, die uns zunächst beim schlichten Lesen entgangen sind oder bloß entgangen sein konnten. Sie helfen uns, die eventuell vorhandene Vieldeutigkeit der Wörter und der Wortwendungen sowie die eventuelle Uneindeutigkeit der Satzkonstruktion zu entdecken oder ein Gefühl für bis jetzt unvermutete Zusammenhänge zwischen den Sätzen zu bekommen oder endlich den Text auf eine aktivere Weise zu lesen, was uns ermöglicht, eine entsprechende, früher nicht vollzogene Objektivierung der dargestellten Gegenstände durchzuführen. All das erlaubt uns, eine Konfrontation der neuen, mit Hilfe der analytischen Betrachtung gewonnenen Rekonstruktion des Textes mit der früher gewonnenen Rekonstruktion zu erlangen. Diese Konfrontation belehrt uns aber nicht bloß über die Verschiedenheiten der beiden Rekonstruktionen, sondern sie zeigt uns auch die Vorzüge der neuen und die Mängel der alten Rekonstruktion. Das kann auf verschiedene Weise geschehen: z.B. macht sie uns auf gewisse Unstimmigkeiten zwischen den Elementen der früheren Rekonstruktion oder auf ihre uns früher entgangenen Unklar-

§ 31. Literarische

Urteile und objektive

Erkenntnisergebnisse

391

heiten aufmerksam, während beides in der neuen Rekonstruktion nicht mehr vorhanden ist. Natürlich ist noch mit der Möglichkeit zu rechnen, daß diese Mängel nicht Zeichen der Mangelhaftigkeit der Rekonstruktion selbst sind, sondern daß das betreffende Werk selbst nicht ganz klar oder nicht einstimmig ist, so daß nur die neu gewonnene Rekonstruktion sozusagen zu optimistisch durchgeführt wurde, obwohl dies in Anbetracht dessen, daß sie bei kritischer analytischer Erwägung des Werkes gewonnen wurde, wenig wahrscheinlich ist. Wenn aber ein solcher Verdacht aufkommt, dann ist eine Rückkehr zu dem Werk selbst notwendig und eine aufmerksame Analyse seiner entsprechenden Stellen kann uns doch eine Entscheidung ermöglichen. Behilflich kann eventuell ein Vergleich unserer Rekonstruktion des Werkes mit den Rekonstruktionen anderer Leser, eine Diskussion mit ihnen über die zweifelhaften Stellen des Werkes oder auch ein Vergleich des betreffenden Werkes mit anderen Werken desselben Verfassers sein. In der wissenschaftlichen *Praxis* hat man diese Weise der Kontrolle der bereits gewonnenen und nicht miteinander zusammenstimmenden Rekonstruktionen literarischer Werke *mehrmals* versucht und ist oft zu einer Klärung der Sachlage gekommen. Eine gute Kenntnis der Sprache, in welcher das betreffende Werk geschrieben wurde und die in der Zeit der Entstehung des Werkes gebräuchlich war, kann hier auch die sich eröffnenden Schwierigkeiten bei der richtigen Erfassung des Werkes, und das heißt in der Bildung einer ihm getreuen Rekonstruktion, beseitigen helfen. 9 Es ist auch nicht sicher, daß man die Bedeutsamkeit eines z.B. zunächst nicht rekonstruierten Elements des Werkes, welches bei einer neuen, aufmerksam durchgeführten Rekonstruktion beachtet und ergänzt wurde, wirklich nicht beurteilen kann. Denn es ist doch möglich, die beiden Rekonstruktionen miteinander zu vergleichen und sozusagen empirisch festzustellen, was das neu berücksichtigte Element im Aufbau des Werkes zur Folge hat und inwiefern es das Werk strukturell besser oder schlechter gestaltet, ohne zunächst zu erwägen, welche Rolle es in einer ästhetischen Konkretisation spielt. Man braucht da auch nicht nur mit dem Gedächtnis zu arbeiten. Das, was uns da zur Verfügung stehen muß, das läßt sich j a auf unzweifelhafte Weise am gedruck-

Auf die bei solchen Verfahrensweisen entstehenden prinzipiellen Schwierigkeiten des gegenseitigen Verständnisses zwischen verschiedenen Lesern komme ich bald zurück.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

ten Text nachprüfen. Darin besteht eben die große Bedeutung der Schrift für das Erkennen literarischer Werke. Man wird aber einwenden, daß alle von uns vorgeschlagenen Mittel eines Nachkontrollierens, welche Rekonstruktion korrekter ist, uns nur in immer neue Rekonstruktionen, bzw. in immer neue Sprachgebilde - z.B. fremde Aussprüche über das betreffende literarische Werk - verwickeln, die alle "korrekt", "getreu" verstanden und rekonstruiert werden müssen, damit wir die Sicherheit haben, den betreffenden Text, bzw. die fremden Äußerungen in ihren, ihnen immanenten Bedeutungen verstanden zu haben. Und immer sind es nur Rekonstruktionen entweder literarischer, gedruckter oder bloß gesprochener Gebilde ("literarischer Werke" im weiteren Sinne), während es sich darum handelt, zu ihnen selbst und nicht bloß zu ihren Rekonstruktionen vorzudringen, deren Angemessenheit, Korrektheit dann wieder in neuen Rekonstruktionen zu prüfen wäre. Die Quelle all dieser Schwierigkeiten und Zweifel liegt in der Tatsache, daß jedes Sprachgebilde und insbesondere jedes literarische Kunstwerk ein seinsheteronomer intentionaler Gegenstand ist, der aus Bewußtseinsoperationen hervorgeht und intersubjektiv erst dann zugänglich wird, wenn es an irgendein physisches Seinsfundament "geheftet" wird. Dieses Seinsfundament bildet entweder eine Handschrift oder ein gedruckter Text oder endlich das laut ausgesprochene Wort oder bloß das konkrete wortlautliche Material des Sprechenden. In den §§66 und 67 des Buches Das literarische Kunstwerk suchte ich die daraus folgenden Schwierigkeiten zu überwinden. Hier möchte ich aber diese Frage noch einmal durchdenken. Das Problem wird aber erst dann akut, wenn man noch gewisse - gewöhnlich nicht ausdrücklich ausgesprochene - Voraussetzungen macht. Man glaubt, daß 1. zwischen dem Wortlaut (als typischer Gestalt) und der Wortbedeutung gar kein sachlicher Zusammenhang besteht: jeder Laut kann mit jeder Bedeutung verbunden werden, 10 was erst durch eine besondere Entscheidung (man sagt: "Konvention") entschieden wird. 2. Die Wortbedeutung ist durch den Verstehenden nicht direkt zu erfassen, sondern kann nur mittelbar durch die Erfassung des Erlebnisses des die Bedeutung Meinenden erschlossen werden. 3. Dieses

Das ist der Standpunkt Demokrits, der sich dem Standpunkt Piatons im Kratylos entgegensetzt. Die modernen Linguisten scheinen sich ausgesprochen für Demokrit erklärt zu haben.

§ 31. Literarische Urleile und objektive

Erkenntnisergebnisse

393

Erlebnis ist aber nur von demjenigen, der es hat, bzw. erlebt, zu erfassen. 4. Auch wenn man zugeben wollte, daß der in diesem Erlebnis gemeinte Sinn (die Bedeutung) ein intentionales, seinsheteronom existierendes Gebilde ist, ist dieses Gebilde in seinem Sein an die Existenz des es bestimmenden Bedeutungserlebnisses so gebunden (so sehr es auch dasselbe transzendiert), daß mit dem Vollzug dieses Erlebnisses auch dieser Sinn (diese Bedeutung) vorübergeht bzw. zu sein aufhört. Soll diese Bedeutung in ihrem Gehalt erfaßt werden, so muß sie aufs neue in einem neuen Meinungsakt desselben "Inhalts" geschaffen werden, so daß man dann zwei verschiedene, wenn auch im besten Fall völlig gleiche Bedeutungen hat, die zweite eben als eine "Rekonstruktion" der ersten. Man kann aber dann nie die Sicherheit haben, daß die neue Bedeutung wirklich eine getreue Rekonstruktion der ersten ist, weil die erste bereits entschwunden ist, wenn die neue gebildet wird, und weil es nicht mehr möglich ist, sie mit der neuen zu konfrontieren, es sei denn durch eine Erinnerung an sie. Die Erinnerung aber gibt uns keine Gewähr, daß das, woran man sich erinnert, mit dem Erinnerten als solchem identisch ist. Die Annahme all dieser Behauptungen führt in der letzten Konsequenz dazu, daß man nicht einmal sicher sein kann, ob man dasselbe (dieselbe Bedeutung, denselben Sinn) zwei Mal identisch denken kann. Damit hört nicht nur die Möglichkeit einer intersubjektiven Verständigung auf, sondern auch die Möglichkeit des Verstehens seines eigenen sprachlich gefaßten Gedankens und des Weiterdenkens über dasselbe auf dieselbe Weise, da immer neue Sinne auftreten, deren gesicherte Identität dann nicht zu beweisen wäre. Man sieht also, daß in den oben zusammengestellten Behauptungen der Verzicht auf die Identität der seinsheteronomen, rein intentionalen Gegenständlichkeiten für viele sie entwerfende Bewußtseinsakte zu weit geht. Diese Identität wird aber in Frage gestellt oder ist mindestens nicht zu beweisen, sobald man - wie oben gesagt wurde - das Sein der seinsheteronomen Gegenständlichkeit (insbesondere der Bedeutungen) auf die Aktualität des sie meinenden Bewußtseinsaktes beschränkt, so daß dann jeder neue sprachliche Denkakt einen individuell neuen Sinn (eine neue Bedeutung) nicht bloß aufs neue meint, sondern ihn auch in diesem Meinen erschafft und erschaffen muß, weil der von einem früher vollzogenen Akt gemeinte Sinn nicht mehr existiert. Es ist unklar, aus welchen Gründen man

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

eine solche Auffassung anerkennen sollte; 11 wohl aus der gewöhnlich angenommenen absoluten Machtlosigkeit und Unfruchtbarkeit der reinen Bewußtseinsakte den seinsautonomen, bzw. den realen Gegenständen gegenüber, die man dann auf alle Gegenständlichkeiten erweitert. Das Bewußtsein (das menschliche Bewußtsein) wird dann als überhaupt unschöpferisch (im Sinne der Kreation einer beliebigen Gegenständlichkeit) behandelt, und das intentionale Korrelat der Bewußtseinsakte zu einem Element dieser Akte gemacht, unabhängig davon, ob man eventuell zugleich geneigt ist zu betonen, daß diese Korrelate nur ein Pendant und eine zweite Ganzheit dem Akt gegenüber bilden. Überbrückt man das Vorurteil, daß das intentionale Korrelat ein Element des Bewußtseinsaktes sei, 1 2 dann beseitigt man das zweite Vorurteil, der seinsheteronome intentionale Gegenstand müsse nach dem Vollzug des Aktes, der ihn intentional entwirft, selbst zu sein aufhören. Positiv gesagt: es darf 13 dann zugegeben werden, daß der intentionale Gegenstand,

11

Sehr üble Konsequenzen würden sich daraus sowohl im gedanklichen, bzw. erkenntnismäßigen, als auch im sittlichen Leben des Menschen ergeben. Unter anderem folgte daraus, daß uns keine Entscheidung (u.a. sittlicher Art), keine Verpflichtung, die wir auf uns nehmen, binden könnte. Sie wäre einfach nicht mehr vorhanden, sobald sich der Akt der Verpflichtung, bzw. des Entschlusses, dies oder jenes zu tun, vollzogen hat.

11 Die Verwerfung dieses Vorurteils stimmt mit der Behauptung Husserls [Ideen zu einer reinen Phänomenologie.

Husserliana III (hrsg. von W. Biemel, Den Haag 1950, S. 76. Vgl.

dazu auch R. Ingarden, Einführung

in die Phänomenologie

E. Husserls

(Gesammelte

Werke, Bd. 4, hrsg. von G. Haefliger), Tübingen 1992, S. 177-178.] überein, daß der intentionale Gegenstand, bzw. das Noema des Aktes kein "reeller Teil" der Noese ist. Dies ist auch der erste, wenn auch nicht ausreichende Schritt zur Überwindung des transzenden1 -i talen Idealismus. Ich sage "darf zugegeben werden - und nicht "muß" zugegeben werden, weil nicht gesagt werden kann, daß in jedem Fall eines schöpferischen Bewußtseinsaktes der intentional entworfene Gegenstand (z.B. der einzelne Satz oder ein ganzes literarisches Kunstwerk) nach dem Vollzug dieses Aktes bestehen muß. Ob dies der Fall ist, hängt von der Art des Aktes selbst ab: liegt es in seiner Intention beschlossen, daß der gemeinte Satz oder irgendeine andere Gegenständlichkeit eben weiter bestehen soll, dann erst ist der (intentionale) Grund seiner seinsheteronomen Weiterexistenz vorhanden, und dann besteht auch dieser Gegenstand nach dem Vollzug des ihn entwerfenden Aktes fort. Und das ist gerade der gewöhnliche Modus, in welchem intentionale Gegenstände (z.B. Kunstwerke) geschaffen werden, und sie sind eben als solche implicite gemeint. Dies entspringt dem schöpferischen Willen des Künstlers, aber ebenso dem eines Forschers. Das ist aber gar nicht immer notwendig. Es kann auch Akte geben, in welchen ein bestimmter Gegenstand verworfen wird (wenn

§ 31. Literarische Urteile und objektive

Erkenntnisergebnisse

395

insbesondere das sinnvolle Wort einer Sprache, weiter bestehen kann, nachdem die ihn entwerfenden Akte bereits vorübergegangen sind. Erst dann aber läßt sich nach dem Ablauf der schöpferischen Akte des Dichters von der Existenz des literarischen Kunstwerks sinnvoll sprechen. Nur dann hat es auch einen Sinn, von Erfassungsakten zu sprechen, in welchen ein literarisches Kunstwerk erkannt oder (in einem anderen Fall) eben mißdeutet und damit auch wenigstens zum Teil nicht erkannt wird. Und erst dann kann die Rede von einer "getreuen", "korrekten" Rekonstruktion des Werkes erlaubt werden, in welcher das Werk selbst in seiner eigenen Gestalt adäquat zur Enthüllung gelangt. Erst jetzt klärt sich, daß es bei der Lektüre eines literarischen Kunstwerks zweierlei Situationen geben kann: die eine, in welcher der literarische Konsument vor allem darauf eingestellt ist, sich an dem gelesenen Werk zu amüsieren. Er benutzt es nur als Mittel, sich seine eigene Konkretisation (resp. Rekonstruktion) zu bilden, um an ihr sein Gefallen zu finden, und kümmert sich relativ wenig um das Werk selbst. Er erkennt es nur insofern, als dies zur Bildung seiner Rekonstruktion unentbehrlich ist. Er bemüht sich nicht, zu der originellen Gestalt des Werkes selbst vorzudringen, erfaßt es selbst im Grund nicht und geht nur seinen eigenen schöpferischen Akten nach, in denen sich seine Konkretisation des Werkes konstituiert. Dann gibt es sicher zweierlei Gebilde: das literarische Kunstwerk selbst (im Original) und dessen "Rekonstruktion" oder "Konkretisation", die jetzt in verschiedenen Relationen zu einander stehen können. Und die zweite Situation, in welcher das ganze Bemühen des Lesers (insbesondere des Forschers) dahin geht, zu der eigenen Gestalt des Werkes vorzudringen und auf die eigene Schaffung einer neuen Rekonstruktion des Werkes zu verzichten, so daß sie, wenn es dennoch gewissermaßen unwillkürlich zu ihrer Konstitution kommt, doch gewissermaßen durchsichtig (transparent) wird und dem Forscher erlaubt,

man etwa eine wissenschaftliche, bis jetzt gehegte Auffassung verwirft), und zwar in dem Sinn, daß er nicht mehr bestehen soll. Dies findet Uberall da statt, wo der Künstler mit seiner Komposition unzufrieden ist und sie zum Nichtsein verurteilt. Es kann endlich reine Phantasieerlebnisse geben, die dem Moment der jeweiligen Gegenwart dienen und deren Sinn (Zweck) eben darin besteht, gerade in diesem Augenblick vorhanden zu sein. Sie sollen uns nur amüsieren und dann vorbeigehen.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

durch sie hindurch das Werk im Original zu erfassen, es selbst und nicht mehr bloß seine Rekonstruktion. Und erst an der zur Sicht gebrachten eigenen Gestalt des Werkes kann - falls erwünscht - ermessen werden, inwieweit eine erzielte Rekonstruktion wirklich getreu, bzw. korrekt ist, oder in welchem Maß sie im Gegenteil vom Original abweicht und es verfälschen muß, wenn man nicht durch sie hindurch zum Original vordringt, sondern an ihr selbst hängenbleibt und sie irrtümlicherweise für das Werk selbst hält. Dann sind alle Unkorrektheiten an ihr zugleich Verfälschungen des Werkes. Es wird unter dem Gewand der Rekonstruktion, bzw. Konkretisation, in einer Reihe ihm im Grunde fremder Momente für das Werk selbst gehalten, obwohl dem Leser nur die Rekonstruktion gegenwärtig ist. Um zu dem Werk, wie es an sich ist, zu gelangen und nachzukontrollieren, inwiefern die bereits konstituierte Rekonstruktion ihm getreu ist, gibt es kein anderes Mittel, als das Werk zu lesen - jetzt aber schon in einer geänderten Einstellung - nämlich der neuerlichen betrachtenden Erkenntnis. Man tritt dann aus dem Kreis der Rekonstruktionen und Konkretisationen heraus, um sie eventuell nur im Kontrast zu dem aufs neue entzifferten Werk selbst als Quelle der früher begangenen Verfälschungen zu fassen und sie eben als solche zu verwerfen. Es ist also nicht wahr, daß wir bei dem Versuch, Unkorrektheiten in der Rekonstruktion zu entdecken, verurteilt sind, im Kreis immer neuer Konkretisationen oder Rekonstruktionen zu verbleiben und keinen Zugang zum Werk selbst finden zu können. Das Werk hört nicht auf zu existieren, nachdem es vom Dichter verfaßt wurde, und sobald es in einem physischen Fundament seine Stütze gefunden hat, bzw. in ihm festgelegt wurde, harrt es des Moments, in dem wir es in seinem Selbst fassen. Es muß aber noch eine Bedingung erfüllt werden, damit wir einen Zugang zu ihm gewinnen können. Und der Schlüssel dazu ist nichts anderes als die identische Sprache, die sozusagen zwischen dem Werk und dem Leser liegt: die Sprache, in welcher das Werk geschrieben ist, und die Sprache, die der Leser beherrschen muß, um eine mit ihm "gemeinsame Sprache" zu finden. Daß der Leser diese Sprache beherrscht (entweder als Muttersprache oder als eine gut erlernte, angeeignete Sprache), habe ich hier von vornherein vorausgesetzt. Alles hängt jetzt nur davon ab, wie es möglich ist, eine intersubjektive, gemeinsame (KOINÉ) Sprache zu haben. Diese Frage habe ich mir eben in meinem Buch Das literarische Kunstwerk vorgelegt und in den schon angege-

§ 31. Literarische Urteile und objektive Erkenntnisergebnisse

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benen Paragraphen zu lösen versucht. Gewöhnlich wird der Weg zur Feststellung, daß wir dasselbe wie unsere Bekannten denken, falsch eingeschlagen. Und zwar meint man unter dem Druck des Psychologismus, welcher im Bereich der Sprachtheorie noch immer einen ziemlich großen Einfluß ausübt, daß wir uns, um die fremde Rede und insbesondere auch ein literarisches Werk zu verstehen, auf irgendeinem Weg über die Denkerlebnisse des Sprechenden (bzw. des "Autors") informieren müssen, daß wir also erst über diese Erlebnisse einen Zugang zur fremden Sprache gewinnen können. Da aber, wie man gewöhnlich zugleich meint, die fremden Erlebnisse uns erkenntnismäßig unzugänglich sind, so ist uns dieser Weg eigentlich verschlossen. So sammelt man verschiedene Informationen über die Lebensumstände und Schicksale des Autors, um sich auf diesem Weg - wie man sagt - über die "Intentionen" des Verfassers zu informieren, also von ihnen aus zu schließen, wie er seine Rede oder sein Werk verstanden hat bzw. es verstanden haben wollte. Es soll nicht gesagt werden, daß dieser letzte Weg völlig unzweckmäßig und aussichtslos ist. Er ist aber jedenfalls sehr mittelbar, und man kann nie wissen, wie leistungsfähig er ist und inwieweit er zu sicheren Ergebnissen führt. Es ist auch mindestens sehr unwahrscheinlich, daß es auf diesem Weg normaliter zum gegenseitigen S ich-Verstehen zwischen den Menschen, z.B. zwischen Mutter und Kind, kommt. Dies ist ein sehr umfangreiches und schwieriges Problem, das wir hier gar nicht zu lösen suchen. Es scheint aber, daß es einen viel kürzeren Weg gibt, den anderen in seiner Rede zu verstehen. Wenn es sich um Namen irgendwie erfahrbarer Dinge oder erfahrbarer Vorgänge handelt, so geschieht dieses Sich-Verstehen entweder durch die Angabe anderer Namen, die den Sinn des gesuchten Namens klären oder dadurch, daß wir uns mit dem Sprechenden in derselben gegenständlichen Situation, angesichts derselben Dinge und Vorgänge befinden und sie meinend, auf sie hinweisend uns bestimmter Wörter bzw. Wendungen bedienen und uns so gegenseitig darüber orientieren, welchen Sinn die von uns verwendeten Wörter haben. Außerdem gibt es auch unmittelbare Erfassungsakte sowohl idealer Wesenheiten als auch idealer Gegenstände, und da gibt es einen anderen Weg - bei Nennung dieser Gegenstände und eventuell auch der zwischen ihnen bestehenden Relationen - , sich über den Sinn der Rede des anderen zu verständigen und sich sogar der Identität dieses Sinnes zu vergewissern. Menschen, die z.B. gemeinsam eine gut durchgeführte phänomenologische Analyse

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

konkreter Phänomene mitgemacht haben, wissen, wie man sich auf unmißverständliche Weise selbst über schwierige phänomenale Sachlagen verständigen und dabei zur Bildung einer subtilen gemeinsamen

Sprache über qualitative

Eigenheiten verschiedener Gegenständlichkeiten kommen kann, welche über die sogenannte Umgangssprache weit hinausgeht. Natürlich gibt es auch Fälle, wo man sich über die Analyse gewisser Wesenstatbestände nicht zu einigen vermag und dann auch nicht sicher ist, ob man Wörter verwendet, die zwar denselben Wortlaut, aber eine verschiedene Bedeutung haben, oder ob man andere phänomenale Tatbestände im Auge hat. Und wenn hier eine Identitätserfassung fehlt, kann sie sich auch nicht im gemeinsamen Verstehen derselben Wörter und Worte herstellen lassen. Jedenfalls ist aber dieser Weg der Konfrontation

der Sprachbildungen mit einer gemeinsam erzielten unmittelba-

ren Erkenntnis (und insbesondere der Erfahrung) von denselben Gegenständlichkeiten aussichtsvoll und führt zum Besitz einer gemeinsamen, intersubjektiven Sprache, welche durch Erreichung weiterer gemeinsam durchgeführter Erkenntnisse allmählich immer weiter ausgebildèt und vervollkommnet wird. Literarische Werke und insbesondere auch literarische Kunstwerke verhelfen ihrerseits zur Bereicherung unserer Erfahrung und damit auch mittelbar zur weiteren Ausbildung der gemeinsamen Sprache. Die Schwierigkeiten also, die dem richtigen Verstehen literarischer Werke im Wege zu stehen scheinen, lassen sich beseitigen, und es ist wenigstens im Prinzip möglich, das Werk selbst (und nicht bloß irgendeine seiner Rekonstruktionen) zu verstehen und es selbst (zunächst in seiner Doppelschicht der Sprache) mit den sonst gewonnenen und eventuell schriftlich niedergelegten Rekonstruktionen zu kontrastieren und ihre Korrektheit oder Unkorrektheit zu erweisen. Das richtige Verstehen der Sprache eines bestimmten literarischen Kunstwerks bietet aber besondere Schwierigkeiten, die z.B. bei wissenschaftlichen Werken nicht vorhanden sind. Dies liegt nicht bloß daran, daß die Sprache des literarischen Kunstwerks ihr Material vor allem aus dem Bestand der lebendigen Umgangssprache schöpft und keine strenge Terminologie verwendet, wie es wissenschaftliche Werke tun, sondern auch daran, daß in ihm die Wörter und Ausdrucks weisen der Umgangssprache auf eine besondere Weise verwendet werden. Fast jedes Wort der lebendigen Umgangssprache, sofern es isoliert genommen wird, ist vieldeutig, wie uns jedes Wörterbuch ad oculos zeigt.

§ 31. Literarische Urteile und objektive

Erkenntnisergebnisse

399

Freilich wird diese Vieldeutigkeit durch den Kontext wesentlich beschränkt; aus mehreren verschiedenen Bedeutungen des betreffenden Wortes wird durch den Kontext (im glücklichen Fall) eine bestimmte Bedeutung ausgewählt und steht im Satz bereits in dieser Bedeutung. Nicht immer gelingt es aber, alle Vieldeutigkeiten der Wörter auf diesem Weg zu beseitigen, und es bleiben genug vieldeutige Wörter in jedem literarischen Text. Seltener gibt es in guten literarischen Texten Vieldeutigkeiten der Satzkonstruktion selbst (bzw. solche, die sich aus einer mangelhaften Satzkonstruktion ergeben) oder auch Vieldeutigkeiten in den Zusammenhängen zwischen den im Text auftretenden Sätzen, obwohl auch diese Vieldeutigkeiten nicht immer vermieden werden können. Der Leser muß also bei der Lektüre aufpassen, ob der Text nicht aus diesem oder einem anderen Grund vieldeutig ist, er muß bei der Lektüre vorsichtig und kritisch genug sein, wobei ihm eine gute Kenntnis der Sprache, in welcher das betreffende Werk geschrieben ist, sehr hilfreich sein kann. Das Werk wird erst dann gut in seiner Sprache erkannt, wenn der Leser nicht bloß feinfühlig genug für das bloße Vorhandensein der Vieldeutigkeiten ist, sondern auch erkennt, welche verschiedenen Deutungen des Textes durch denselben zugelassen, welche dagegen durch die weiteren Teile des Textes eliminiert werden. Und er muß sich auch darüber orientieren, welche von diesen durch die Vieldeutigkeit zugelassenen Deutungen ein Vorrecht vor anderen möglichen Deutungen ("Interpretationen?") haben oder ob alle bei der Lektüre gleichmäßig zur endgültigen Ausdeutung des Textes in Betracht gezogen werden dürfen. Es kann dabei entweder als ein zufälliger Mangel des Werkes betrachtet werden, daß mehrere Vieldeutigkeiten im Text auftreten, es gibt aber auch Fälle, wo die vorhandenen Vieldeutigkeiten sichtlich zur künstlerischen Absicht des Werkes gehören. Es soll dann gewissermaßen in dieser Vieldeutigkeit schillern und auf diesem Weg besondere künstlerische Effekte erzielen. Das muß sich auch der Leser - eben mit Hilfe des betrachtenden Erkennens des Werkes - zu Bewußtsein bringen und als ein Charakteristikum des Werkes erfassen. Die Folgen einer solchen Vieldeutigkeit sind ästhetisch bedeutsam und führen bei einer ästhetischen Konkretisation zu verschiedenen, von vornherein berechneten ästhetisch relevanten Phänomenen. In Dichtungen und insbesondere in lyrischen Gedichten gibt es oft eine besondere Verwendung der Sprachgebilde. Es gibt Gedichte, in welchen gar keine der im Gedicht auftretenden Wörter im - wie man sagt - "wörtlichen" Sinn genom-

400

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

men werden sollen; sie sollen in "übertragenem" Sinn gelesen werden. Genauer gesagt: Es gibt in der Sprache des Gedichts einen "Doppelsinn", dessen beide Bedeutungen bei der Lektüre erfaßt werden sollen und von denen keine aus dem Gehalt des Gedichts eliminiert werden darf. Es gibt gewissermaßen verschiedene Ebenen des Sinnes und in der Folge auch in der im Gedicht zur Darstellung oder auch zum Ausdruck gelangenden "Wirklichkeit" eine Mehrschichtigkeit der Ebenen, von denen die eine zwar in den Vordergrund rückt und nur in ihrem Rücken die "weitere" Ebene durchschimmern läßt, aber zugleich nur ein Mittel, nur ein Weg ist, um die weitere Ebene hervortreten zu lassen und sie als diejenige zu zeigen, die allein im Gedicht wichtig ist. Von den beiden Sinnen soll nur der zweite letzten Endes gedacht und gemeint werden, während der erste nur den Zugang zum zweiten bildet. Noch etwas genauer genommen ist es so, daß der erste Sinn des Textes, im "wörtlichen" Sinn der Worte genommen, gewisse Anzeichen enthält, z.B. Unstimmigkeiten, die der Art sind, daß der Leser, wenn er bei diesem ersten Sinn bleiben wollte, zu der Überzeugung kommen müßte, der Text sei eigentlich unsinnig, irgendwie dumm; es gibt aber zugleich in diesem Text auch gewisse Anzeichen, daß er nicht so gemeint sein kann, daß die im Text gegebene wörtliche Fassung nicht wörtlich genommen werden darf, daß man also einen anderen, nicht expressis verbis auftretenden Sinn suchen soll, der zwar bis zu einem gewissen Grad suggeriert wird, aber doch nicht eindeutig ist und nicht suggestiv genug angedeutet wird, als daß der Leser ihn ohne weiteres, ohne eigene Bemühung finden könnte. Dieses Suchen nach diesem anderen, nicht explizierten Sinn - der aber als der "eigentliche" für den Leser gelten soll - kann natürlich noch auf verschiedenen Wegen vor sich gehen. Entweder durch Verbleiben in der Doppelschicht der Sprache (sozusagen auf rein "logischem" Weg) oder unter Berücksichtigung der von der Doppelschicht der Sprache entworfenen dargestellten Welt, wo sich zunächst diejenigen Gegenstände konstituieren oder nur zu konstituieren beginnen, die dem wörtlichen Sinn des Textes entsprechen. Und da beginnt es sich an dem zunächst Dargestellten (das Ausgedrückte Inbegriffen) anzudeuten, daß andere Gegenstände die Stelle der bereits dargestellten Gegenständlichkeiten einnehmen und daß sie unter anderen Aspekten betrachtet und in andere Beziehungen gesetzt werden sollen, die aber in irgendeiner Verwandtschaft (Analogie oder Ähnlichkeit) mit den zunächst dargestellten Gegenständlichkeiten

§ 31. Literarische Urteile und objektive Erkenntnisergebnisse

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gesehen werden sollen, und daß diese neuen Gegenstände es sind, um die es sich eigentlich handelt, aber sie sollen nicht selbst, nicht direkt, ohne den Aspekt der zunächst konstituierten, erscheinen, sondern gerade mit ihrer Hilfe zur Erscheinung gebracht werden. Die ersteren sollen also nicht völlig aus dem Gesichtskreis verschwinden, sondern nur einen Aspekt der letzteren bilden. Warum gerade ein solch mittelbarer Weg gewählt wird, um die eigentlich darzustellenden Gegenständlichkeiten zu zeigen, ohne daß sie direkt und "wörtlich" genannt werden, ist eine Frage für sich, 14 deren Klärung zum Aufbau und zur Darstellungstechnik der dichterischen Kunst gehört. 15 Hier han-

14

Vielleicht handelt es sich darum, auf diesem Wege gewisse ästhetisch relevante Qualitäten mit ins Spiel zu bringen, welche direkt unnennbar sind, oder aber darum, daß es in der dargestellten Welt Eigentümlichkeiten gibt, welche nur auf diesem mittelbaren Wege zur Schau gebracht werden können, oder endlich darum, daß das Zusammenspiel der direkt und wörtlich gemeinten Gegenstände und ihrer Aspekte mit dem nur indirekt zur Erscheinung gebrachten Tatbestand eben ein besonderes ästhetisch relevantes Moment in das Ganze des Gedichts einführt, welches auf einem anderen Wege nicht zur Erscheinung gebracht werden kann. Das müßte an einzelnen Werken für sich untersucht werden, wobei die künstlerische Leistungsfähigkeit dieser Methode der Darstellung erst gezeigt und beurteilt werden könnte.

15

Vgl. z.B. den älteren R. M. Rilke ("Stundenbuch" [Zweites Buch]): In tiefen Nächten grab ich dich, du Schatz. Denn alle Überflüsse, die ich sah, sind Armut und armsäliger Ersatz für deine Schönheit, die noch nie geschah. Aber der Weg zu dir ist furchtbar weit, und, weil ihn lange keiner ging, verweht. O, du bist einsam. Du bist Einsamkeit, du Herz, das zu entfernten Talen geht. Und meine Hände, welche blutig sind vom Graben, heb ich offen in den Wind, so daß sie sich verzweigen wie ein Baum. Ich sauge dich mit ihnen aus dem Raum als hättest du dich einmal dort zerschellt in einer ungeduldigen Gebärde, und fielest jetzt, eine zerstäubte Welt, aus fernen Sternen wieder auf die Erde sanft wie ein Frühlingsregen fällt.

402

V. Kritik der Erkenntnis

des literarischen

Kunstwerks

delt es sich lediglich darum, auf die Schwierigkeiten und Gefahren einer richtigen Rekonstruktion des Werkes hinzuweisen. Denn obwohl es im allgemeinen klar ist, daß nicht der wörtliche Sinn der eigentliche ist, und obwohl Suggestionen durch den Text erwirkt werden, den "eigentlichen" Sinn zu suchen, ist es nicht ebenso klar und eindeutig, welcher dieser neue Sinn und die ihm zugehörige dargestellte Welt ist. Es soll eben nicht eindeutig gesagt werden, um was es sich letzten Endes handelt, und die Beziehung zwischen dem "wörtlichen" und dem "eigentlichen" Sinn ist sozusagen absichtlich wie gelockert und läßt einen gewissen Spielraum der Unbestimmtheiten zu. Manchmal findet der Leser mit Treffsicherheit den "eigentlichen" Sinn, er kann ihn aber ebensogut nicht treffen, und andere Deutungen sollen aus seinem Gesichtskreis nicht verschwinden. Wie soll er aber diese anderen Deutungen ausschließen und mit welchem Recht? Vielleicht kommt es eben darauf an, daß die anderen "möglichen" Deutungen doch mitschwingen und die Eindeutigkeit der dargestellten Welt eben in der Schwebe lassen? Neigt man zu entschieden dazu, nur eine Deutung zu bevorzugen, dann bekommt man eben eine "Interpretation" - um das Wort von Emil Staiger zu benutzen - aber kein richtiges, kein volles Verständnis des Gedichts, da dieses eben nicht einseitig nur eine (auch nicht die wahrscheinlich am suggestigvsten durch den Text des

Oder vgl. den jüngeren G. Benn: Radar Ein Nebel wie auf See und meine Belle-etage fahrt ohne Takelage Von Quai zu Quai. Sie findet keinen Ort, daran das Tau zu schlingen, denn neue Wellen bringen sie wieder fort. Wie weit sind Sund und Belt und schwer die Hafenfrage, wenn, ohne Takelage noch Nebel fällt. ([Gottfried Benn.] Gesammelte

Werke Tin vier Bänden] III, Gedichte

[Wiesbaden I960])

§ 31. Literarische

Urteile und objektive

Erkenntnisergebnisse

403

Gedichts dem Leser aufgedrängte und damit auch vielleicht die am wahrscheinlichsten "eigentliche") Deutung bevorzugen und sämtliche anderen ausschließen darf. Aber es ist eben nicht leicht, das richtige Verhältnis zwischen den Deutungen zu finden und die verschiedenen Grade ihrer Wahrscheinlichkeit und künstlerischen Bedeutsamkeit abzuschätzen und bei der Rekonstruktion mit entsprechender Haupt- und Neben-Betonung wiederzugeben. Bei tieferem Verständnis des Werkes darf man sich sicher nicht auf das Erfassen und Verstehen der Doppelschicht der Sprache des Werkes beschränken. Dies reicht für eine getreue Rekonstruktion und desto mehr für eine ästhetische Konkretisation derartiger Gedichte (aber oft auch der sog. "prosaischen" Werke) nicht aus. Wie unsere Überlegungen in den §§ 10-14 bereits gezeigt haben, sind zu diesem Zweck noch andere Vorkehrungen unentbehrlich, die über das bloße Verstehen der Sprache des Werkes weit hinausgehen, obwohl sie sich unzweifelhaft auf dieses Verstehen, bzw. auf die in ihm konstituierten Satzsinne des Werkes stützen. Es ist freilich nicht ausgeschlossen, daß sich diese neuen Vorkehrungen so vollziehen, daß man mit ihrer Hilfe ohne besondere Schwierigkeiten eine getreue Rekonstruktion des ganzen Werkes erreicht, sie müssen sich aber nicht auf eine solche Weise vollziehen, weil das Verstehen der Sprache des Werkes (in jeder ihrer beiden Schichten) nicht völlig eindeutig ihren Verlauf bestimmt. Die Satzsinne bestimmen jedenfalls die Richtung, in welcher sie sich vollziehen sollen. Ihr Verlauf hängt aber in hohem Maß von der jeweiligen Stimmung des Lesers, von seinen zufälligen Fähigkeiten zur Objektivierung der dargestellten Gegenständlichkeiten auf Grund der von den Sätzen entworfenen Sachverhalte usw. ab. Um also zu entscheiden, ob die erworbene Rekonstruktion des Werkes ihm getreu ist, muß neuerlich in betrachtendem analytischem Erkennen des Textes (der Sprachgebilde) sowie der sich aus seinem Gehalt ergebenden Möglichkeiten für die Konstituierung des im Werk Dargestellten nachkontrolliert werden, ob und in welchem Maß uns bei der gegebenen Rekonstruktion Unkorrektheiten mit unterlaufen sind. Behilflich kann dabei auch der Umstand sein, daß fast jedes (gute) literarische Kunstwerk einen eigenen Stil und einen eigenen Typus der Konsequenz hat, die uns, sobald wir sie uns zu Bewußtsein gebracht haben, als ein gewisser Wegweiser zur Konstituierung einer getreuen Rekonstruktion des Werkes dienen können, bzw. als eine Warnung, daß es in denjenigen Punkten der Rekonstruktion, die vom Stil des Werkes und von

404

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

der Konsequenz sowohl in der Darstellung der Gegenstände als auch in der Verwendung der künstlerischen Mittel abweichen, zu Unkorrektheiten in der Rekonstruktion des Werkes kommen kann. Natürlich müssen dabei schon alle Schichten des Werkes berücksichtigt werden und auch alle Phasen seiner Entwicklung, da sich erst dann die Stileigentümlichkeiten und die künstlerische Konsequenz im Aufbau des Werkes enthüllen, und zwar auch dann, wenn noch nicht alles in den einzelnen Schichten des Werkes getreu rekonstruiert wurde. So muß die analytische Betrachtung des Werkes, welche zur Kontrolle der Richtigkeit der Rekonstruktion herangezogen wird, sowohl alle Schichten als auch alle Phasen des Werkes berücksichtigen. Auch die Zuflucht zu den Ergebnissen einer fremden Lektüre des Werkes und die Konfrontation der beiderseitigen dabei erzielten Ergebnisse kann beim Nachkontrollieren der getreuen Rekonstruktion des Werkes behilflich sein. Auf diesen verschiedenen Wegen können wir unsere bereits erzielte Rekonstruktion nicht bloß nachkontrollieren, sondern auch vervollkommnen, so daß man nach entsprechenden Versuchen zu einem Ergebnis kommen kann, bei dem man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vermuten darf, daß das betreffende literarische Kunstwerk wirklich so ist, wie es sich uns in einer (vervollkommneten) Rekonstruktion zeigt. 4. Eben damit haben wir bereits auf die letzte der von uns gestellten Fragen geantwortet: Wir können keine absolute Gewähr haben, daß die von uns gewonnene Rekonstruktion eines untersuchten literarischen Kunstwerks ihm absolut getreu ist, bzw. in diesem oder einem anderen Punkt noch ungetreu (unkorrekt) ist. Diese Tatsache verstößt nicht gegen den wissenschaftlichen Charakter der Literaturforschung. Das Erkennen des literarischen Kunstwerks, das zu einer bestimmten Rekonstruktion desselben führt, bildet nur einen Spezialfall des empirischen Erkennens überhaupt, in welchem wir nie eine absolute Gewähr für die Objektivität 1 6 der erzielten Ergebnisse gewinnen können. Von der Literaturwissenschaft brauchen wir nicht mehr zu fordern, es kommt nur darauf an, daß die aufgestellten Behauptungen möglichst gut in dem gegebenen Material (d.h. im literarischen Kunstwerk und seiner Rekonstruktion) gegründet werden. Vgl. dazu meinen Artikel: "Betrachtungen zum Problem der Objektivität", Zeitschrift philosophische cit. S. 219-55 ]

Forschung,

Bd. XXI, Heft 1-2. [Auch in Erlebnis, Kunstwerk

f.

und Wert, op.

§ 31. Literarische Urteile und objektive Erkenntnisergebnisse

405

ad b) Ich habe oben die Objektivität der Erkenntnis eines literarischen Kunstwerks von dem Getreusein (der Korrektheit) seiner Rekonstruktion unterschieden, obwohl diese beiden Angelegenheiten in nahem Zusammenhang miteinander stehen. Das Getreusein einer Rekonstruktion eines literarischen Werkes ist ein Fall und auch ein Grad der Ähnlichkeit zwischen dem Werk und der Rekonstruktion; im Grenzfall kann sie zur Gleichheit dieser beiden Gegenständlichkeiten führen, so daß dann das Werk selbst an der Rekonstruktion zur genauen Enthüllung kommen kann. Bei der Erkenntnis eines literarischen Werkes kann von einem solchen Verhältnis keine Rede sein. Keine Erkenntnis (Erkenntnisergebnis) ist dem in ihr Erkannten (dem zu erkennenden Gegenstand) ähnlich. Das Erkenntnisergebnis ist ein von uns erworbenes Wissen von einem Gegenstand. Indem es sich auf ihn bezieht, schreibt es ihm gerade diejenigen Eigenschaften (allgemeiner: Merkmale) zu, die er an sich selbst ohne Rücksicht auf den Vorgang des Erkanntwerdens besitzt. Die Beziehung zwischen der Erkenntnis und dem im Vorgang des Erkennens erkannten Gegenstand ist weder die Beziehung der Ähnlichkeit noch - wie man oft sagt - der Übereinstimmung, sondern ist ganz spezifisch und beruht darauf, daß der Erkenntnissinn in den durch ihn gemeinten Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes seine Erfüllung findet.17 Wenn der Erkenntnissinn wirklich in den an sich bestehenden und in ihrer Selbstheit gegebenen Bestimmtheiten des in ihm gemeinten Gegenstandes voll erfüllt wird, dann ist das betreffende Erkenntnisergebnis eine Erkenntnis

im

strengen Sinn, oder - wenn man will - eine "objektive" Erkenntnis, was dasselbe ist. Wenn man geneigt ist, bei dem Wort "Erkenntnis" noch das Eigenschaftswort "objektiv" hinzuzufügen, so geschieht es deswegen, weil eine Erkenntnis noch von verschiedenen anderen Gesichtspunkten aus betrachtet werden kann und weil ihr dann verschiedene andere Bestimmtheiten zugewiesen werden. So kann z.B. die Erkenntnis eines Gegenstandes erschöpfend (adäquat) oder nicht erschöpfend sein, sie kann auch anschaulich und unanschaulich, unmittelbar und mittelbar, gewiß oder nur wahrscheinlich usw. sein. Oft verwendet man auch das Wort "Erkenntnis" in einem sehr weiten Sinn, bei welchem jedes bei einem Erkenntnisvorgang erzielte Wissen,

17

Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen Unters.

[2 Bde., Halle 1900, 2 1913], Bd. II, V. u. VI.

406

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

unabhängig davon, ob es wahr oder falsch ist, für eine Erkenntnis gehalten wird. Dann ist es nötig, zwischen einer "objektiven" und einer "nicht objektiven" Erkenntnis zu unterscheiden. In diesem weiten Sinn genommen kann ein Erkenntnisergebnis bezüglich eines literarischen Kunstwerks, das auf Grund einer bestimmten Rekonstruktion desselben erreicht wurde, trotzdem nicht objektiv sein. Das ergibt sich aus dem Wesensunterschied zwischen einer Rekonstruktion eines literarischen Kunstwerks und der betrachtenden Erkenntnis desselben Werkes. Während es sich bei einer Rekonstruktion um eine getreue Nachbildung des Werkes, Satz um Satz, mit ihren entsprechenden intentionalen Korrelaten handelt, trachten wir bei einer betrachtenden Erkenntnis dieses Werkes danach, ein System von Urteilen über dieses Werk, über seine Eigenschaften, seine Zusammensetzung aus Teilen, seine künstlerische Struktur und die sich aus ihr ergebende künstlerische Leistungsfähigkeit zu erzielen, was uns natürlich über die jeweilige Rekonstruktion in ihrer Entfaltung vom Anfang bis ans Ende hinausführt und von uns durchaus neue Einsichten (eine unmittelbare Erfassung) in die Eigentümlichkeiten des Werkes erfordert. Dieses betrachtende Erkennen, sosehr es an Hand des Werkes, bzw. einer getreuen Rekonstruktion, durchgeführt wird, kann aber in verschiedenen Punkten fehlgehen und uns somit irrtümliche Auffassungen über das Werk liefern. Die gewonnene Erkenntnis ist normalerweise unvollständig

(umfaßt nicht das ganze Werk in allen seinen Teilen und

Eigentümlichkeiten), was nie ganz zu beseitigen ist. Diese Unvollständigkeit als solche braucht noch nicht irrtümlich zu sein, es wird dann nur eine weitere Bereicherung der erzielten Ergebnisse gefordert. Diese Unvollständigkeit kann aber auch zu gewissen schiefen Auffassungen über die Beziehungen zwischen den Teilen und den Eigenschaften des Werkes führen (z.B. eine falsche Überbetonung der einen und eine Unterbetonung anderer Eigenschaften des Werkes, eine fehlerhafte Erfassung seiner künstlerisch wichtigen Momente usw.). So ist im betrachtenden Erkennen des literarischen Kunstwerks eine neue Quelle möglicher Fehler enthalten, welche bis zu einem gewissen Grade von der Rekonstruktion des Werkes unabhängig sind. Daß aber in den auf diesem Weg erzielten Erkenntnisergebnissen Fehler enthalten sind, kommt uns oft nicht zu Bewußtsein. Erst wenn Unstimmigkeiten oder gar Widersprüche in ihnen auftreten oder wenn jemand anderer uns darauf aufmerksam macht, können wir sie klar erfassen und dann versuchen, sie durch neue Versuche des

§ 31. Literarische Urteile und objektive Erkenntnisergebnisse

407

unmittelbaren betrachtenden Erkennens zu beseitigen. Wenn der Vorgang dieses Erkennens sich noch im Vollzug befindet, wenn wir selbst die gewonnenen Erkenntnisergebnisse nicht für "fertig" halten, wenn noch alles im Fluß ist, dann ist es noch ziemlich wahrscheinlich, daß die von uns begangenen Fehler entdeckt und beseitigt werden. Sobald man aber glaubt, daß man das endgültige Ergebnis erreicht hat, kann man nur durch fremde Ergebnisse bezüglich desselben Werkes darauf aufmerksam gemacht werden, daß nicht alles in Ordnung ist. Wenn aber unsere oder fremde Erkenntnisergebnisse anderen Forschern zur Kenntnis gebracht werden sollen, dann müssen sie in eine Anzahl von sprachlich formulierten Urteilen gefaßt werden, und da eröffnet sich eine neue Quelle möglicher Irrtümer. ad c) In diesen Urteilen werden die Erkenntnisergebnisse festgelegt und bilden, wenn auch nicht das einzige, so jedenfalls das wichtigste Mittel, sie mehreren Erkenntnissubjekten zugänglich zu machen. So liegt sehr daran, daß ihr Inhalt an die erzielten Ergebnisse eines unmittelbaren Erkennens möglichst adäquat angepaßt wird. Der Inhalt eines Urteils *ist dann dem Ergebnis eines unmittelbaren Erkennens "angepaßt"*, wenn in ihm dieselben und auf dieselbe Weise verbundenen, abgeleiteten Bedeutungsintentionen auftreten, welche als ursprüngliche Intentionen im unmittelbaren Erkennen, das in dem betreffenden Urteil seinen Ausdruck und auch seine Festlegung findet, enthalten sind. Es muß natürlich zwischen der Wahrheit eines Urteils und der Anpassung seines Inhalts an ein Erkenntnisergebnis unterschieden werden. Ein wahres Urteil kann gegebenenfalls an ein diesbezügliches Erkenntnisergebnis nicht angepaßt sein (das dann in sich nicht objektiv ist); das an dieses Erkenntnisergebnis in seinem Inhalt angepaßte Urteil wird dann falsch sein. Nur ein an ein objektives Erkenntnisergebnis in seinem Inhalt genau angepaßtes Urteil ist wahr. Wie sich aus den früheren Überlegungen ergibt, bildet die Gewinnung einer adäquaten Anpassung des Inhalts eines Urteils an ein Ergebnis einer unmittelbaren Erkenntnis oft eine sehr schwierige Aufgabe, die nur dann positiv gelöst werden kann, wenn man im Besitz einer zu diesem Zweck entsprechend entwickelten Sprache ist. In vielen Fällen, besonders wenn uns das unmittelbare Erkennen wirklich neue Ergebnisse auf einem wenig erforschten Gebiet liefert, können wir in der vorhandenen Sprache (auch wenn sie

408

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

schon über die gewöhnliche Umgangssprache hinausgeht und einen eher technischen Charakter hat) nicht die nötigen Wörter und Wendungen finden. Manchmal erschwert uns diese Aufgabe auch die Tatsache, daß die in der betreffenden Sprache vorgefundenen syntaktischen Funktionen und normal verwendeten Ausdrucksweisen zu Formulierungen führen, die das im unmittelbaren Erkennen tatsächlich Vorgefundene nicht wiederzugeben imstande sind bzw. zu dessen Verfälschung führen. Im ersteren Fall liegt auf uns die schwere Bürde, neue Wörter (Nomina, aber auch Zeitwörter) zu erfinden, die in ihrem Bedeutungsgehalt dem unmittelbar Vorgefundenen genau angepaßt wären, es also mit ihrer Bedeutungsintention richtig träfen. Im anderen Fall harrt unser die weit schwierigere Aufgabe, die bestehenden syntaktischen Funktionen unwirksam zu machen und zu versuchen, neue logisch-syntaktische Funktionen zu bilden, die sich trotz ihrer Neuheit in das System der bereits vorhandenen Sprache einfügen lassen und zu keinem Widerspruch führen. Bei Kunstwerken, die wirklich aus der ursprünglich schöpferischen Aktivität eines echten Künstlers hervorgegangen sind und zu völlig originellen ästhetischen Konkretisationen führen, ist die Forderung, eine zweckmäßige Umbildung der vordem vorhandenen Sprache durchzuführen, besonders schwer zu erfüllen, und die Mißerfolge, die wir dabei erleiden können, können uns um die neuen Entdeckungen bringen, die wir beim betrachtenden Erkennen eines Kunstwerks gemacht haben. Wir haben bereits das Neue und Originelle und zugleich zum Wesen des Kunstwerks Gehörige in unmittelbarem Erkennen entdeckt und vermögen es nachher trotzdem niemandem adäquat zu sagen. Auch bei einer möglichst vollkommenen Anpassung der Urteile über einzelne literarische Kunstwerke an die Gegebenheiten des unmittelbaren literarischen objektiven Erkennens soll man sich indessen nicht täuschen lassen, daß auch das vollkommenste System von Urteilen, das die Ergebnisse dieses Erkennens zum Ausdruck bringt, für sich selbst nur ein Äquivalent dieses Kunstwerks geben könnte. Wir können in einem solchen System ein umfassendes Wissen von diesem Kunstwerk erlangen, es wird uns dennoch nie die konkrete Fülle des Kunstwerks ersetzen, die wir im unmittelbaren forschenden Erkennen im Prinzip wenigstens erreichen können. Der Grund dafür liegt vor allem darin, daß jedes System von Urteilen, das wir in der wissenschaftlichen Praxis gewinnen können, immer endlich ist und somit die Fülle der ganzen Mannigfaltigkeit der Eigenschaften und der oft einzigartigen Eigen-

§ 31. Literarische Urteile und objektive Erkenntnisergebnisse

409

heiten des literarischen Kunstwerks nicht erschöpfen kann. Dieses Wissen ist also immer unvollständig. Es gibt aber auch noch andere Gründe, welche ausschließen, daß dieses System der Urteile ein Äquivalent des Kunstwerks bildet und es zu ersetzen vermag. Es vertieft und bereichert nur das Wissen, das der Leser beim schlichten Lesen von ihm erlangen kann. Jede Mannigfaltigkeit von festgelegten, verantwortlich begründeten und miteinander zusammenhängenden Urteilen über ein literarisches Kunstwerk (als ein schematisches Gebilde) bildet selbst einen Fall von literarischem Werk. Es ist nämlich ein wissenschaftliches Werk über einen besonderen individuellen Gegenstand. Die Ordnung der Aufeinanderfolge seiner Teile (letzten Endes der einzelnen Urteile) ist durch seine eigenen Kompositionsprinzipien bestimmt, welche in verschiedenen Werken über dasselbe literarische Kunstwerk sehr verschieden sein können. Diese Ordnung ist im Prinzip von der Anordnung der Sachverhalte, die im betrachteten literarischen Kunstwerk bestehen, unabhängig. Die Urteile über ein literarisches Kunstwerk in einem wissenschaftlichen Werk können unter anderem in ihren Inhalten die Ordnung der Aufeinanderfolge der Teile des betrachteten Kunstwerks sowie die anderen Zusammenhänge zwischen seinen Bestimmtheiten, bzw. zwischen den in demselben bestehenden Sachverhalten erfassen, aber die intentionalen Sachverhalte der Urteile, in denen diese Erfassung vonstattengeht, brauchen gar nicht selbst so angeordnet zu werden, wie die Sachverhalte, deren Zusammenhang und Anordnung sie bestimmen. Im Gegenteil, ihre Anordnung und die Zusammenhänge, in denen sie selbst stehen, müssen anders sein als dasjenige, was sie betreffen. Man könnte sagen, daß in einem wissenschaftlichen Werk über ein literarisches Kunstwerk eine völlig neue Perspektive entsteht, in welcher dieses Kunstwerk zur Darstellung gebracht wird. Und die Wahl dieser Perspektive ist durch die Absichten, bzw. Ziele, die sich der Forscher stellt, bestimmt und ist nur mittelbar von der eigenen Struktur des Kunstwerks bedingt. Diese Perspektive ist natürlich auch verschieden von jener Perspektive, unter welcher sich uns dieses Kunstwerk bei einer schlichten adäquaten Lektüre zeigt, und zwar gerade deswegen, weil es sich uns erst unter dieser neuen, distanzierteren Perspektive in seinen Eigenschaften, strukturellen Momenten, künstlerischen Fertigkeiten usw. enthüllen kann, die uns bei der schlichten Lektüre, sozusagen aus zu großer Nähe, entgehen. Diese neuen Perspektiven, in welchen das betrachtete Kunstwerk zur Darstellung gelangt,

410

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

brauchen nicht immer "Außenperspektiven" zu sein. Beim wissenschaftlichen Behandeln eines Kunstwerks können und müssen im Grund auch sozusagen "Bohrungen", Querschnitte 18 durch das Kunstwerk gelegt werden, wodurch es von verschiedenen inneren Punkten aus in inneren Perspektiven zur Erscheinung und auch zur Darstellung gelangt, so daß man erst dann den inneren Wesensaufbau des Kunstwerks versteht. Es werden dann aus der Fülle des Kunstwerks besondere Mannigfaltigkeiten seiner Teile und Momente ausgewählt und in ihren Zusammenhängen und Abhängigkeiten erfaßt und in ihrer Rolle für das Ganze des Kunstwerks sowie für sein künstlerisches Gesicht gezeichnet. Und erst aus diesen verschiedenen (gewöhnlich von verschiedenen Forschern aufgenommenen) Außen- und Innen-Ansichten ersteht vor den Augen der wissenschaftlichen Forschung das betreffende literarische Kunstwerk in seiner eigenen Struktur und in seinem materialen Wesen, wobei sich letzten Endes eine Identität unter allen diesen Aspekten erweisen muß. Wenn wir dann noch einmal zu seiner Lektüre zurückkehren und es in der Aufeinanderfolge seiner Teile in der konkreten, ihm immanenten Zeit im intuitiven Erleben und Erfassen sich vor uns entfalten sehen, erkennen wir es nicht bloß in seiner ursprünglichen, originären Gestalt, sondern haben es jetzt vor uns im ganzen Reichtum der Bestimmtheiten und Strukturen, die erst auf dem Umweg über eine wissenschaftliche betrachtende Erkenntnis des Werkes zur Enthüllung gebracht werden können. Natürlich, beim ganzen Spiel der verschieden eingenommenen Gesichtspunkte, der Außenperspektive und der Querschnitte, werden einmal diese, das andere Mal jene Seiten, Schichten, Einzelheiten, Zusammenhänge und Abhängigkeiten hervorgehoben und in den Vordergrund geschoben, andere dagegen nur aus Distanz nebenbei behandelt, oft kaum erwähnt, so daß sich die Architektur des Werkes merkwürdig zu verschieben scheint, und es tauchen da manche Phänomene auf, die dem Kunstwerk selbst fremd zu sein scheinen und die auch irgendwie ausgelöscht werden sollen, sobald wir das Kunstwerk in seiner eigenen, unrelativierten Gestalt wieder vor unseren Augen erstehen lassen wollen. All dies ist

19t Ein bedeutender polnischer Kritiker, der ungefähr von der Zeit der sog. Literatur Jungpolens bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Lemberg (Lwów) wirkte, Ostap Ortwin, hat in den dreißiger Jahren eine Sammlung seiner kritischen Essays unter dem markanten Titel "Querschnitte" veröffentlicht. Er wurde im Krieg ermordet.[Ostap Ortwin, Próby przekrojów: Ze studjów nad teairem, lirykq i powiesciq 1900-J935, Lwów 1936.]

§ 31. Literarische Urteile und objektive

Erkenntnisergebnisse

411

bei der Erforschung eines literarischen Kunstwerks nicht zu vermeiden, da sich erst auf diesem Weg ein besser begründetes und zugleich reicheres, von den verschiedenen Zufälligkeiten der schlichten Lektüre unabhängig machendes Wissen von einem individuellen literarischen Kunstwerk erreichen läßt. Andererseits drohen aber bei diesem ganzen Verfahren verschiedene Gefahren, wie z.B. eine verfälschende Verschiebung in der Anordnung der Elemente des Kunstwerks, eine Überbetonung mancher seiner Bestimmtheiten unter Vernachlässigung anderer, ein Auftauchen gewisser dem Werk fremder Phänomene usw. Es droht die Gefahr, daß wir in der Mannigfaltigkeit der Perspektiven und Gesichtspunkte die Grenze nicht finden können, die zwischen den sich aus dem Wesen des betreffenden Kunstwerks selbst ergebenden Aspekten und denjenigen Erscheinungsweisen und Phänomenen verläuft, welche sich auf die Willkür der individuell gesetzten Forschungsziele und auf das Gefallen des Forschers beziehen. Zwar ist es möglich, bei der Lektüre einer wissenschaftlichen Abhandlung über ein bestimmtes literarisches Kunstwerk eine entsprechende "Objektivierung" (vgl. §10) der durch die einzelnen Sätze dieser Abhandlung gelieferten Tatbestände durchzuführen und sich so dem betreffenden Kunstwerk und seiner eigenen Gestalt wieder zu nähern, doch wissen wir aus den früher durchgeführten Analysen, daß es möglich ist, diese Objektivierung bei demselben Bestand und derselben Anordnung der Urteile auf verschiedene Weise durchzuführen. Und es stellt sich die Frage, in welchem Maß sich die eben erwähnten Relativitäten beseitigen lassen. Es ist auch möglich und sehr ratsam, verschiedene Abhandlungen über dasselbe Kunstwerk zu lesen und zu versuchen, aus ihren Ergebnissen synthetisch eine von den Relativitäten der Forschung befreite Erfassung der eigenen Gestalt des Werkes zu rekonstruieren. Es besteht aber kein Zweifel, daß wir bei diesem Verfahren - dessen Zweckmäßigkeit und Legalität hier gar nicht in Frage gestellt werden soll - immer vor der sehr schwierig zu beantwortenden Frage stehen, welche von den sich aus der Forschung ergebenden Aspekten des betreffenden Kunstwerks ihm eigen sind und sein individuelles Wesen zur Ausprägung bringen, und welche nur relativ zur Phase der Forschung selbst und relativ zur Individualität des Forschers und auf sie zurückzuführen sind. Läßt sich diese Frage überhaupt entscheiden? Man soll nicht von vornherein mit einem kurzen und ebenso bequemen als leichtfertigen und unfruchtbaren

412

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

"Nein" antworten. Man darf aber auch an dieser Frage nicht unbekümmert vorübergehen. Eins ist aber zunächst klar: Jede wissenschaftliche Darstellung eines individuellen literarischen Kunstwerks mit Hilfe eines Systems von Urteilen ist diesem Kunstwerk selbst nicht adäquat, sie ist auch kein Äquivalent des Kunstwerks und kann es gar nicht ersetzen. Aber das allein ist noch kein Mangel oder Fehler dieser Darstellung. Sie soll auch gar kein solches Äquivalent sein, man darf es ihr also nicht vorwerfen, wenn sie es nicht ist. Sie leistet uns eben ganz andere Dienste als eine schlichte, aber aufmerksam und feinfühlig durchgeführte Lektüre des Kunstwerks. Und beide Zugänge zum Kunstwerk selbst sind berechtigt und liefern uns ein anderes Wissen von ihm; sie ergänzen einander und verhelfen einander zu seiner immer besseren, tieferen und allseitigen Erfassung. Die schlichte Lektüre - abgesehen davon, was sie uns bei der Erlangung einer ästhetischen Konkretisation des Werkes und eben damit auch bei der Erfassung eines bestimmten ästhetischen Gegenstandes leistet - regt uns zur Stellung verschiedener Fragen bezüglich der Bestimmtheiten und Eigenheiten des Kunstwerks selbst sowie bezüglich seiner Kunstfertigkeit an und leitet somit zum betrachtenden Erkennen des Kunstwerks über. Das sich entfaltende betrachtende Erkennen dieses Kunstwerks zwingt uns alsbald, in einer aufmerksamen und behutsamen Lektüre zum Kunstwerk zurückzukehren, die uns dann ihrerseits erlaubt, das betrachtende Erkennen genauer und auf eine adäquatere Weise durchzuführen und nach einer analytischen Betrachtung zu seiner synthetischen Erfassung fortzuschreiten. Daraus ergeben sich neue Einsichten in die Eigenschaften des Kunstwerks, aber auch neue Unklarheiten über seine

verschiedenen

Bestimmtheiten, die uns zur weiteren Forschung anregen. Und so weiter. Bei diesem ganzen komplizierten und mehrmals zum Kunstwerk selbst hinleitenden Verfahren von vornherein zu sagen, es führe uns nicht aus dem Kreis von lauter Relativitäten und "subjektiven" Verfälschungen hinaus - ist mindestens eine zu bequeme Entscheidung, die uns der Überwindung der drohenden Gefahr gar nicht näher bringt. Diese Schwierigkeiten können nicht überwunden werden, wenn man nicht von vornherein auf den aus Hochmut gehegten Anspruch auf besondere "Wissenschaftlichkeit" verzichtet. Stolz auf die überspannte Verantwortlichkeit unseres Wissens bleiben wir oft in einem unfruchtbaren Skeptizismus stecken.

§ 31. Literarische Urteile und objektive

Erkenntnisergebnisse

413

Zum Abschluß dieser Überlegungen noch ein Problem: Es wurde hier bereits im I. Kapitel darauf hingewiesen, daß es im literarischen Kunstwerk möglich ist, die Objektivation der dargestellten Gegenständlichkeiten auf sehr verschiedene Weise durchzuführen, wobei die Mannigfaltigkeit dieser Objektivationen je nach den Eigenheiten des Werkes schwankt. Diese Tatsache führt zu einer allgemeinen prinzipiellen Frage: Ist es möglich, bei größten Bemühungen und bei Überwindung aller theoretischen Schwierigkeiten nur ein System von Urteilen über ein bestimmtes literarisches Kunstwerk zu gewinnen? Der Ausdruck "ein System" soll dabei so verstanden werden, daß die Anordnung der zu diesem System gehörenden Urteile schon außer Betracht bleiben soll. Oder anders gesagt: Ist es ausgeschlossen, daß man über ein bestimmtes literarisches Kunstwerk unter einer bestimmten Hinsicht zwei oder mehrere wahre, aber zugleich nicht zusammenstimmende Systeme von Urteilen gewinnen kann? Ich sehe hier natürlich momentan davon ab, daß es in jedem literarischen Kunstwerk Unbestimmtheitsstellen gibt, die auf verschiedene Weise ausgefüllt werden können, da jetzt die betrachtende vorästhetische Erkenntnis des Werkes selbst und nicht die seiner (möglichen) ästhetischen Konkretisation erwogen wird. Die Unbestimmtheitsstellen bleiben also in unausgefülltem Zustand erhalten, und es wird beim Erkennen des Werkes nur berücksichtigt, welche Möglichkeiten der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen im betreffenden Werk vorhanden sind. Es handelt sich also momentan nur um diejenigen Urteile, welche sich auf seine im Werk bestimmten Seiten bzw. Eigenschaften beziehen. Denn wenn es in jedem Werk möglich ist, verschiedene Objektivationen der in ihm (eindeutig) dargestellten Gegenstände durchzuführen, so scheint es, daß man je nach der Weise der durchgeführten Objektivation eben anders bestimmte dargestellte Gegenstände erhält und daß somit auch die sich auf sie beziehenden Urteile verschieden sind und miteinander nicht zusammenstimmen. Worin können aber die auf verschiedene Weise objektivierten dargestellten Gegenstände untereinander differieren? Hinsichtlich ihrer materialen, qualitativen Bestimmtheiten selbst scheint dies nicht möglich zu sein, denn diese sind in der sprachlichen Doppelschicht des Werkes durch material bestimmende Momente der in ihr auftretenden Sätze und ihrer sachlichen Anordnung entweder direkt eindeutig bestimmt (falls natürlich der Text des Werkes eindeutig ist, aber wenn er es nicht ist,

414

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

dann haben wir eine ganz andere Situation, die hier nicht in Betracht kommt) oder ergeben sich notwendig aus dieser Bestimmung. Um die Gefahr doppelter Systeme von Urteilen über ein und dasselbe Werk zu vermeiden, wäre es also *kaum* ratsam zu sagen, daß die gegenständliche Schicht des Werkes nicht nur in dem Sinn nicht voll bestimmt sei, daß die einzelnen in ihr auftretenden Gegenständlichkeiten in mancher Hinsicht ohne eindeutige Bestimmung sind, sondern auch in dem Sinn, daß ihre kategoriale Struktur in gewissen Fällen nicht voll bestimmt ist? Oder soll zugegeben werden, daß die verschiedenen Objektivierungswege der dargestellten Gegenstände zwar zu verschiedenen, aber einander nicht widerstreitenden (sondern sich nur ergänzenden) kategorialen Auffassungen führen? Diese Frage müßte an vielen konkreten Beispielen untersucht werden, da, wie es scheint, die Eindeutigkeit und Vollständigkeit des Textes literarischer Kunstwerke noch sehr schwanken kann. Oft kann uns erst eine sehr genaue Analyse zeigen, wie der betreffende Text, der zunächst große Vorzüge zu haben scheint, wirklich beschaffen ist. Es kann vielleicht in dieser Hinsicht vorkommen, daß auch der materiale Gehalt der im Text des Werkes stehenden Sätze der Art ist, daß er noch eine zweifache Ausdeutung der materialen Bestimmung der dargestellten Gegenständlichkeiten zuläßt und damit bei einer weit genug geführten Objektivation zu zwei material verschiedenen Gegenständlichkeiten führt. Diese letzteren würden - wenn man sie ganz genau so nimmt, wie sie durch die Doppelschicht der Sprache des Werkes bestimmt sind - auch in der Materie der durch die Satzsinne bestimmten Seiten nicht voll bestimmt. Wie es damit in den einzelnen Fällen auch stehen mag, so muß doch jedenfalls festgestellt werden: Falls die in einem literarischen Kunstwerk dargestellten Gegenständlichkeiten material oder formal (kategorial) vor der Durchführung der Objektivation nicht eindeutig und auf den Seiten, die der Text positiv bestimmt, nicht voll bestimmt sein sollten, dann müßte man sagen, die voll durchgeführte Objektivation, bzw. die infolge derselben realisierte Gestalt der dargestellten Gegenständlichkeiten gehöre nicht zu der reinen Rekonstruktion

des Werkes, sondern erst zu einer seiner

Konkretisationen.

Zum System der Urteile über das literarische Kunstwerk selbst sollte man dann nicht diejenigen Urteile zählen, welche sich auf die so oder anders endgültig objektivierten dargestellten Gegenständlichkeiten beziehen. Man müßte aber zu diesem System eine Reihe von Urteilen hinzurechnen, welche

§ 31. Literarische

Urleile und objektive

Erkenntnisergebnisse

415

besagten, was durch den Sinngehalt der sprachlichen Doppelschicht an den dargestellten Gegenständen ohne den Vorgang der Objektivation bestimmt ist und was zugleich als eine Mannigfaltigkeit verschiedener Objektivationen noch offen gelassen wird, so daß die

möglicher

verschiedenen

endgültig objektivierten Gegenständlichkeiten als eine Mannigfaltigkeit von Potentialitäten

zum betreffenden Kunstwerk gehörten, die erst in den ein-

zelnen Konkretisationen zu Aktualitäten einer wirklich durchgeführten Konstitution verwandelt würden. Die diesbezüglichen Urteile gehörten dann zu derselben Gruppe von Urteilen, die auch die Urteile über die Unbestimmtheitsstellen des Werkes und über deren mögliche Ausfüllungen in den Konkretisationen enthält. Wenn sich dagegen die entgegengesetzte Möglichkeit als richtig erwiese, so bedeutete dies nichts anderes als nur dies, daß die hier in Betracht kommenden Urteile untereinander gar nicht unzusammenstimmend sind, sondern nur von verschiedenen

Seiten der materialen

und kategorialen Bestimmung der dargestellten Gegenständlichkeiten gelten, die in ihnen alle enthalten sind und die nur durch die Hervorhebung in der Erkenntnis und durch die Erfassung in entsprechenden Urteilen im Ganzen des Gegenstandes stärker betont, deutlicher unterschieden werden. Im letzteren Umstand läge natürlich eine gewisse Inadäquatheit im Verhältnis zum Werk selbst vor, sie ließe sich aber durch den Rückgriff auf die unmittelbare Erkenntnis des Werkes selbst und durch die Einbettung der hervorgehobenen und zu kraß unterschiedenen Momente in die einheitliche Ganzheit der betreffenden dargestellten Gegenstände beseitigen. Es zwingt uns jedenfalls nichts zu der Annahme, daß man in bezug auf all diejenigen Seiten des literarischen Kunstwerks selbst und insbesondere der dargestellten Gegenstände, die in ihm selbst eindeutig festgelegt sind, gleich wahre und zugleich unzusammenhängende Urteile erhalten müßte. Im Gegenteil: überall dort, wo man Urteile erhält, die untereinander nicht zusammenstimmen, sind sie entweder nicht alle wahr oder, wenn sie wahr sind, widersprechen sie sich nicht, sondern beziehen sich auf verschiedene Einzelheiten des Werkes oder endlich auf verschiedene Konkretisationen desselben. Indem wir diese Bemerkungen über die erkenntniskritischen Probleme der vorästhetischen betrachtenden Erkenntnis des literarischen Kunstwerks hiermit abschließen, müssen wir betonen, daß das Gesagte nur die ersten Perspektiven der sich eröffnenden Problematik andeutet und daß sich eine mehr ins

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

416

Kunstwerks

einzelne gehende Problematik erst bei der Behandlung der forschenden Erkenntnis der einzelnen Werke entwickeln ließe.

§ 32. Einige Probleme der Erkenntniskritik des ästhetischen Erlebnisses

Das ästhetische Erlebnis, das sich in uns während der Lektüre eines literarischen Kunstwerks entwickelt, hat nicht zur Aufgabe, uns die Erkenntnis eines ästhetischen Gegenstandes zu liefern. Seine Funktion ist es zunächst nur, diesen Gegenstand zu konstituieren, also erst den Ausgangspunkt einer Erkenntnis besonderer Art zu bilden. Es verläuft unter dem Einfluß dessen, was dem Leser vom betreffenden Kunstwerk zur Gegebenheit zu bringen gelungen ist. Es ist also bis zu einem gewissen Grad durch die zur Gegebenheit gebrachten Teile oder Eigenschaften dieses Werkes geregelt, aber nicht vollkommen dadurch bestimmt, denn auch der Erlebende mit seinen Fähigkeiten, seinen Neigungen und den relativ zufälligen Stimmungen, in denen er sich während der Lektüre befindet, wirkt mehr oder weniger unwillkürlich bei der Gestaltung des Erlebnisses mit. Dieses ist das Ergebnis des Zusammentreffens des Lesers mit dem Kunstwerk, aber die Rolle dieser beiden Faktoren ist nicht immer die gleiche und auch nicht immer gleich bedeutend. Manche ästhetischen Erlebnisse entwickeln sich unter dem Übergewicht des Werkes, manche aber unter dem Übergewicht des Lesers, besonders, wenn er nicht bloß für die Gegebenheiten des Kunstwerks empfänglich ist, sondern auch sich selbst sehr aktiv verhält. Die Vermehrung seiner Aktivität kann selbst durch die Eigenheiten des gelesenen Werkes angeregt werden. So kann das ästhetische Erlebnis auch bei demselben Werk und demselben Leser auf sehr mannigfache Weise verlaufen und somit auch zu verschiedenen zulässigen ästhetischen Gegenständen führen. Natürlich spielen da auch die Umstände, unter denen es zum Zusammentreffen kommt, eine bedeutende Rolle. Bei der Konstituierung dieses Gegenstandes ist das Erlebnis - wie ich es oben im § 24 zu zeigen suchte - von perzeptiven Momenten, die sich auf die Eigenheiten des sich in der Rekonstruktion befindenden Werkes richten, durchwoben, und außerdem bildet es, besonders in seinen späteren Phasen, in welchen die ästhetisch relevanten Qualitäten und die in ihnen gründenden ästhetischen

§ 32. Erkenntniskritik

des ästhetischen

Erlebnisses

417

Werte bzw. Wertmomente bereits konstituiert sind, eine Form der unmittelbaren Erfahrung dieser Werte, aus welcher sich letzten Endes die emotionale Wertantwort des Erlebenden ergibt und die die Grundlage einer Erkenntnis des im Erlebnis konstituierten ästhetischen Gegenstandes bilden kann. Diese darin eingewobenen Erkenntnismomente entfalten sich aber auf eine verschiedene Weise, je nachdem, worin das Erlebnis letzten Endes mündet, bzw. wozu es dient. Denn entweder a) handelt es sich für den Erlebenden nur darum, im Kontakt mit einem Kunstwerk und vermöge der Konstituierung eines ästhetischen Gegenstandes dieses Erlebnis einfach zu haben, das für ihn irgendwie wertvoll ist, oder b) kommt es ihm darauf an, in diesem Erlebnis zur Erschauung und in der Folge auch zur

Erkenntnis

bestimmter Werte zu gelangen, die am konstituierten ästhetischen Gegenstand zur Erscheinung kommen. Im ersten Fall ist das ästhetische Erlebnis eine sich selbst genügende Lebenserscheinung, im zweiten dagegen bildet es eine Vorbereitung und ein Mittel zur ästhetischen Erkenntnis eines werthaften Gegenstandes. Diese verschiedenen Aspekte, unter welchen das ästhetische Erlebnis vollzogen und auch erwogen werden kann, führen zu verschiedenen erkenntniskritischen

Problemen.

Besprechen

wir zunächst

diejenigen

Fragen, welche sich im ersten Fall aufdrängen. ad a) In der erkenntniskritischen Betrachtung der vorästhetischen Erkenntnisweise des literarischen Kunstwerks bildet das Problem der Objektivität dieser Erkenntnis, bzw. der Wahrheit der in ihr erworbenen Urteile die zentrale Frage. Bei dem sich selbst genügenden ästhetischen Erlebnis hat die Frage nach der Objektivität dieses Erlebnisses zunächst keine Bedeutung. In den Vordergrund treten dagegen drei andere Fragen: 1. das Problem der Leistungsfähigkeit

des ästhetischen Erlebnisses, 2. die Frage nach der zu-

lässigen Wandelbarkeit und Verschiedenheit der ästhetischen Erlebnisse, die beim Umgang des Lesers mit demselben literarischen Kunstwerk entstehen, 19 wobei wiederum die Frage nach der Beziehung des ästhetischen Erlebnisses zu dem Kunstwerk,

welches den Ursprung dieses Erlebnisses bildet,

auftaucht, und 3. die Frage nach der Rolle des ästhetischen Erlebnisses im

Es kann sich dabei entweder um Erlebnisse desselben oder verschiedener Leser handeln. Beides kommt für uns in Frage.

418

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

Leben des Menschen und ihrer Wandlung je nach der Leistungsfähigkeit dieses Erlebnisses. 1. Was haben wir aber im Sinn, wenn wir von der "Leistungsfähigkeit" eines ästhetischen Erlebnisses sprechen? Ästhetische Erlebnisse, die sich beim Verkehr mit demselben literarischen Kunstwerk in uns entfalten, sind nicht bloß in sich selbst verschieden, sondern führen auch zu charakteristisch verschiedenen ästhetischen Konkretisationen des Werkes. Manche von den letzteren sind an ästhetisch relevanten Qualitäten ärmer als andere, die sich durch einen Reichtum an solchen Qualitäten auszeichnen. Zum Beispiel bei der von mir so genannten "philologischen" Weise des Lesens wird der Umkreis der ästhetisch relevanten Qualitäten auf diejenigen Qualitäten eingeengt, die in der sprachlautlichen und in der Schicht der Bedeutungseinheiten auftreten können. Bei einer Lektüre indessen, bei der man sich bemüht, alle Schichten des Werkes in ihren ästhetisch bedeutsamen Momenten zu berücksichtigen und zur Einheit zusammenzufassen, wächst im allgemeinen die Mannigfaltigkeit dieser Qualitäten und bringt den ästhetischen Wert des konkretisierten Werkes zur deutlichen Ausprägung. Zugleich können die Unbestimmtheitsstellen auf eine sehr mannigfache Art ausgefüllt werden und beträchtliche Verschiedenheiten zwischen den Konkretisationen herbeiführen. In all dem kommt die verschiedene "Leistungsfähigkeit" des ästhetischen Erlebnisses zum Ausdruck. Es zeichnet sich nämlich dann durch eine höhere Leistungsfähigkeit aus, wenn es auf der Basis desselben literarischen Kunstwerks zur Konstituierung einer ästhetischen Konkretisation des Werkes führt, die eine größere Anzahl ästhetischer Werte enthält und einen höheren ästhetischen Gesamtwert besitzt, wobei aber die Bedingung erfüllt werden muß, daß die in der Konkretisation erscheinenden ästhetischen Werte zu demjenigen Bereich der Werte gehören müssen, welcher bei dem betreffenden Kunstwerk überhaupt noch in der Reichweite seiner Realisierungsmöglichkeiten liegt. Durch diese Beschränkung wird vermieden, daß man ästhetischen Erlebnissen, bei denen sich der Erlebende wenig um das betreffende Kunstwerk kümmert und es nur als Mittel verwendet, um sich erregen zu lassen und auf beliebige Weise im Erlebnis schwelgen zu können, eine Leistungsfähigkeit im angegebenen Sinn zuerkennt. Das Minimum an Leistungsfähigkeit weist ein Erlebnis auf, in dem es überhaupt zu gar keiner Konstitution eines ästhetischen Gegenstandes kommt und das somit nur scheinbar ein ästhetisches

§ 32. Erkenntniskritik des ästhetischen

Erlebnisses

419

Erlebnis ist. Dieser Schein entsteht gewöhnlich daraus, daß im Verlauf des Erlebnisses starke Emotionen auftreten, die selbst nicht ästhetisch sind, deren Erleben aber für den Erlebenden die Quelle einer ästhetischen Emotion ist. Die so verstandene Leistungsfähigkeit des ästhetischen Erlebnisses darf zugleich nicht damit verwechselt werden, in welchem Maß und auf welche Weise ein ästhetisches Erlebnis dem Kunstwerk, auf dessen Basis es sich entwickelt, "Gerechtigkeit widerfahren läßt". Diese letzte Angelegenheit kommt dann in Betracht, wenn ein ästhetisches Erlebnis als Vorbereitung zu einer Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation eines (literarischen) Kunstwerks und auf diesem Weg auch zu einer Erkenntnis dieses Kunstwerks selbst fungiert (vgl. dazu unten sub b). Die Leistungsfähigkeit des ästhetischen Erlebnisses hängt vor allem von den Fähigkeiten des Lesers ab, von seinem Interesse für bestimmte künstlerische Motive, von seinem Vorstellungstypus, dem Bereich und der Aktivität seiner Phantasie, von der Subtilität seines Feingefühls, von der Aktivität seines emotionalen Reagierens, von dem Typus seiner ästhetischen Kultur und dergleichen mehr. Auch die Weise, wie die Unbestimmtheitsstellen ausgefüllt werden, spielt eine wichtige Rolle, da sie einen Einfluß auf die Aktualisierung der ästhetisch valenten Qualitäten haben kann. Es gibt da ganz verschiedene Möglichkeiten. Manchmal kann die Nichtausfüllung einer wichtigen Unbestimmtheitsstelle oder eine Ausfüllung, welche vom Werk nicht zugelassen wird oder mit anderen Ausfüllungen und Eigenheiten des Werkes nicht zusammenstimmt, zur Zerstörung der inneren Einheit der Konkretisation oder mindestens zur Verfälschung des Zusammenklanges der ästhetisch relevanten Qualitäten führen. Manchmal kann dagegen die absichtliche Nichtausfüllung einer Unbestimmtheitsstelle die Einheitlichkeit des qualitativen Zusammenklanges der Konkretisation erhöhen und dadurch zur Vergrößerung ihres ästhetischen Gesamtwertes führen. Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines ästhetischen Erlebnisses ist somit nicht bloß die Kenntnis des Bestehens der ästhetischen Werte notwendig, die in der dem Erlebnis zugehörigen Konkretisation zur Erscheinung gelangen, sondern auch eine gute Kenntnis des Werkes selbst und der von ihm angedeuteten Möglichkeiten anderer Konkretisationen. Denn erst im Licht der künstlerischen Fähigkeiten bzw. Werte des Kunstwerks und bei der Konfrontation mit anderen möglichen Konkretisationen desselben Werkes enthüllt sich, was das

420

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

betreffende Erlebnis ästhetisch zu leisten imstande war. Den Problemen, die sich da eröffnen, könnte eine ganze Wissenschaft gewidmet werden. 2. Die verschiedenen möglichen Fälle der Leistungsfähigkeit des ästhetischen Erlebnisses zeigen sich nicht nur daran, wie die zugehörige ästhetische Konkretisation des Werkes aufgebaut ist, sondern auch an einem anderen Verlauf des Erlebnisses selbst, besonders aber an der Gestaltung seiner Endphasen. Denn aus einem anders verlaufenden Erlebnis ergibt sich eine anders gestaltete Konkretisation. Die Sachlage ist aber sehr kompliziert, und es ist ohne eingehende Studien nicht möglich, ganz allgemein zu sagen, aus welchen Unterschieden im Erlebnis sich eine anders gestaltete Konkretisation ergibt. Nichtsdestoweniger kann man hiereinige Hinweise geben: Die ästhetischen Werte sind in Mannigfaltigkeiten von ästhetisch relevanten Qualitäten fundiert, die in ihrer Zusammensetzung der betreffenden Wertqualität streng zugeordnet sind. 2 0 Das Erscheinen einer bestimmten Wertqualität in einem ästhetischen Gegenstand ist davon abhängig, ob es dem Erlebenden gelungen ist, in der betreffenden Konkretisation des Werkes eine entsprechende Auswahl von ästhetisch wertvollen Qualitäten zu aktualisieren. Das konkrete Auftreten jeder dieser Qualitäten in einer Konkretisation ist aber von zwei Seiten bedingt: von der Seite der Rekonstruktion des Werkes und von der Seite des erlebenden Subjekts. Im ersten Fall handelt es sich darum, daß jede ästhetisch wertvolle Qualität - falls sie dem ästhetischen Gegenstand vom erlebenden Subjekt nicht unberechtigterweise aufoktroyiert worden ist 21 20 Diese allgemeine Behauptung, welche das Bestehen eines inneren wesensmäßigen Zusammenhangs zwischen verschiedenen hierarchisch geordneten, ästhetisch relevanten und auch irrelevanten Qualitäten und den qualitativ bestimmten ästhetischen Werten voraussetzt, kann hier nicht auseinandergelegt werden. Das gehört zu einer allgemeinen ästhetischen Werttheorie. Und ich verstehe sehr gut, daß man dieser Auffassung eine entgegengesetzte gegenüberstellen kann, die sich ebenfalls auf manche Argumente berufen kann. Diese ganze Diskussion müssen wir einer anderen Betrachtung Uberlassen. Hier kommt es nur darauf an, daß man erst dann auf die hier entwickelte Problematik bezüglich des ästhetischen Erlebnisses kommt, wenn man sich für die zuerst angegebene Behauptung ausspricht. Die ganze hier gegebene Analyse des ästhetischen Erlebnisses weist darauf hin, daß der ästhetische Gegenstand nicht lose aus einander fremden Qualitäten zusammengewürfelt 21

ist. Da eröffnen sich eben Probleme, die nicht mit der bloßen Leistungsfähigkeit des ästhetischen Erlebnisses verbunden sind und - wie man dies gewöhnlich faßt - mit den Fragen nach der "Objektivität" des vom Erlebnis Geleisteten zusammenhängen.

§ 32. Erkenntniskritik des ästhetischen

-

ihre Fundierung in entsprechenden

421

Erlebnisses

wertneutralen

Momenten

des

Kunstwerks finden muß. Das Vorhandensein dieser wertneutralen Momente im (literarischen) Kunstwerk, die eben diese Fundierung der ästhetisch wertvollen Qualitäten bilden, entscheidet über den künstlerischen Wert des Kunstwerks. Das ästhetische Erlebnis gewinnt an Leistungsfähigkeit, wenn es bei seinem Vollzug dem erlebenden Subjekt gelingt, die im Kunstwerk vorhandenen künstlerischen Werte zu aktualisieren (nicht notwendig zu rekonstruieren, denn dies hängt schon mit den Problemen der "Gerechtigkeit" des Erlebnisses, bzw. seiner sog. "Objektivität" zusammen, worauf wir bald kommen werden). Je mehr solcher den künstlerischen Wert des Kunstwerks bildenden Momente aktualisiert werden, desto zahlreicher wird die Mannigfaltigkeit der ästhetisch wertvollen Qualitäten im ästhetischen Gegenstand sein, und eben damit wächst auch die Möglichkeit des Erscheinens der ästhetischen Werte. Oder anders gesagt: desto mehr kann sich die Leistungsfähigkeit des ästhetischen Erlebnisses steigern. Sie muß aber nicht ipso facto wachsen, denn dieses Erscheinen ist noch von anderen Faktoren abhängig. Unter diesen die ästhetisch wertvollen Qualitäten begründenden wertneutralen Momenten des Kunstwerks kann es noch Unterschiede geben, und zwar 1. in ihrer Aktivität, die ästhetisch relevanten Qualitäten zu begründen (u.a. ob sie für die Konstituierung einer solchen bestimmten Qualität unentbehrlich und hinreichend oder bloß unentbehrlich sind) und 2. in der Aktivität ihrer Wirkungsfähigkeit auf den erlebenden Betrachter des Kunstwerks (ob sie ihn aktiv genug zum entsprechenden Feingefühl und auch zur Aktivität in der Entwerfung und lebendigen Aktualisierung der ästhetisch relevanten Qualitäten anregen). Je günstiger sich diese die künstlerischen Werte des Kunstwerks bildenden Momente im ästhetischen Erlebnis aktualisieren lassen, desto größer ist seine Leistungsfähigkeit. Aber auch die "subjektive" Seite des sich entfaltenden ästhetischen Erlebnisses spielt hier eine wesentliche Rolle. Es handelt sich nämlich darum, daß der Erlebende feinfühlig genug ist, 1. die entsprechenden Momente des Kunstwerks zu erfassen bzw. zu aktualisieren, 2. die von ihnen vorbestimmten ästhetisch relevanten Qualitäten zu differenzieren und aktiv intentional zu entwerfen, so daß sie zur lebendigen Erscheinung am (literarischen) Kunstwerk gelangen, und endlich 3. sie *dann* nach ihrer Konstitution im ästhetischen Gegenstand zu empfinden, die sich in ihnen gründenden ästhetischen Werte zu erfassen und auf sie

422

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

entsprechend emotional zu reagieren - also eine ihnen entsprechende Wertantwort zu bilden. Erst die sich gegenseitig unterstützenden, auf den Verlauf des Erlebnisses einen Einfluß ausübenden, gegenständlichen und subjektiven Faktoren bestimmen den Typus der Leistungsfähigkeit des ästhetischen Erlebnisses. Sie sind aber - wie eben angedeutet wurde - sehr verschiedener Art und hängen zum Teil nicht voneinander ab. Ihr Gesamtbestand kann also von Fall zu Fall sehr variieren. Einerseits kann die Leistungsfähigkeit des Erlebnisses sogar bei demselben Kunstwerk und demselben ästhetisch erlebenden Betrachter sehr verschieden sein. Andererseits aber können auch die entsprechenden ästhetischen Konkretisationen desselben (literarischen) Kunstwerks sehr voneinander abweichen. Es fragt sich somit, wie weit die Grenzen der möglichen Variabilität dieser Konkretisationen bei einem und demselben Werk sein können. 22 Im Zusammenhang damit müssen wir uns noch ein wenig mit der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen und der Aktualisierung der potentiellen Faktoren des literarischen Kunstwerks in der Konkretisation beschäftigen. Die Ausfüllungen können nämlich Momente von dreierlei Art enthalten: 1. sowohl künstlerisch inaktive und ästhetisch neutrale, 2. ästhetisch zwar neutrale, dagegen künstlerisch aktive, d.h. die allein oder mit anderen Momenten des Kunstwerks zur Konstituierung ästhetisch valenter Qualitäten führen, und 3. Momente, die selbst ästhetisch valente Qualitäten sind. Der Bereich der in einer Konkretisation zur Aktualität gelangenden Momente hängt sowohl vom Umfang der betreffenden Unbestimmtheitsstellen als auch vom Verlauf des ästhetischen Erlebnisses ab. Die Tatsache, daß gewisse ästhetisch relevante Qualitäten überhaupt in einer Konkretisation aktualisiert werden, entscheidet aber nicht von selbst über den ästhetischen Wert der ganzen Konkretisation. Denn es gibt viele Unbestimmtheitsstellen und somit auch viele Ausfüllungen, welche zur Konstituierung ästhetisch relevanter Qualitäten führen können. Zur Konstituierung des ästhetischen Wertes und insbesondere des ästhetischen Gesamtwertes einer Konkretisation sind aber nicht beliebige, sondern auf entsprechend mögliche Weise ausgewählte ästhetisch valente Qualitäten notwendig. Und diese Auswahl - für die es bei den Konkretisa-

Ύ1 Diese Frage ist noch nicht präzis genug gestellt. Wir werden bald versuchen, sie etwas genauer zu formulieren [im vorliegenden § 32, ad b), S. 438],

§ 32. Exkurs: Variabilitätsgrenze der Konkrelisationen

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tionen eines bestimmten Kunstwerks mehrere verschiedene Möglichkeiten gibt - hängt einerseits von der Weise, wie die verschiedenen Unbestimmtheitsstellen einander angepaßt sind, und von der Leistungsfähigkeit des ästhetischen Erlebnisses ab. Die ästhetisch valenten Qualitäten in einer Konkretisation können in einer solchen Auswahl auftreten, daß sie zu keinem Zusammenklang führen und somit auch keinen einheitlich bestimmten ästhetischen Wert konstituieren können. Aber ebensowohl können sie in besonders gewählter Mannigfaltigkeit aktualisiert werden, deren Folge eben die Konstituierung eines bestimmten Wertes oder sogar mehrerer ästhetischer Werte in einer Konkretisation ist, die sich gegenseitig vertragen oder im günstigsten Fall sogar einander fordern. Meistens ist es so, daß nicht alle Elemente dieser Auswahl gleich möglich sind, d.h. daß manche von ihnen durch die im Werk bestimmten und mit der betreffenden Unbestimmtheitsstelle zusammenhängenden Faktoren des Kunstwerks dem Betrachter in höherem Grad suggeriert werden. Sie werden also vom Erlebenden wahrscheinlicher als andere Qualitäten aktualisiert (entworfen), die zu derselben zugelassenen Mannigfaltigkeit der "ausfüllenden" Qualitäten gehören. Das Weitere hängt jetzt vom ästhetisch erlebenden Betrachter des Kunstwerks ab: ob er während des Erlebens überhaupt die nötige Aktivität in der Aktualisierung der Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen besitzt, ob er die entsprechende Phantasie hat, dann aber auch die Feinfühligkeit dafür besitzt, was gerade an der betreffenden Unbestimmtheitsstelle als Ausfüllung zur erscheinungsmäßigen Gegenwart zu bringen ist, was dagegen achtlos und reaktionslos zu *übergehen* ist, ob er also den ästhetischen Takt hat, nur diejenigen Ausfüllungen zuzulassen, welche miteinander zusammenstimmen (eventuell zu erwünschten Kontrasterscheinungen führen) und ästhetisch nicht tot, sondern in dem Sinn aktiv sind, daß sie entweder selbst schon ästhetisch relevante Qualitäten in sich enthalten oder die hinreichende Bedingung ihrer Konstituierung sind; ob er in seiner Verhaltensweise und in der Folge im Verlauf des ästhetischen Erlebnisses der Willkür und dem Zufall des Moments hingegeben oder seinerseits bestrebt ist, den Verlauf des ästhetischen Erlebnisses und insbesondere den Vorgang der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen zu beeinflussen oder sogar zu beherrschen, so daß er gewillt ist, die ihm vom Kunstwerk gegebene Chance bewußt in der Richtung auszunutzen, daß der aus dem ästhetischen Erlebnis hervorgehende ästhetische Gegenstand das bei dem

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

Kunstwerk zugelassene Optimum an konkretisierten ästhetischen Werten aufweist. Jedes einzelne (literarische) Kunstwerk läßt verschiedene ästhetisch werthafte Konkretisierungen zu, die nicht alle zugleich aktualisiert werden können, da sie sich meistens ausschließen. So ist es natürlich, daß dem ästhetisch erlebenden Betrachter daran liegen kann, verschiedene ästhetische Konkretisationen desselben Werkes nacheinander zu aktualisieren und damit wenigstens einen Teil der Möglichkeiten zu realisieren, die uns das betreffende Werk bietet. So wird er versuchen, sein ästhetisches Erleben wenigstens bis zu einem gewissen Grad zu leiten, um einmal diese, das andere Mal jene ästhetischen Werte zur Aktualisierung und zur erscheinungsmäßigen Selbstgegenwart zu bringen, um mit ihnen verkehren und auf sie entsprechend emotional antworten zu können. Dabei kann ihm zunächst nichts daran liegen, daß jede der aktualisierten Konkretisationen dem Kunstwerk selbst wirklich gerecht ist, da ihm zunächst nur an der Mannigfaltigkeit der erscheinungsmäßig konkretisierten Werte und an dem emotionalen Verkehr mit ihnen liegt. 23 Aber dann muß doch gefragt werden, ob es denn keine zulässige Grenze dieser Variabilität der ästhetischen Konkretisationen eines bestimmten Werkes gibt. Es ist im allgemeinen nicht möglich zu sagen, ob jede Änderung bzw. Abweichung im Verlauf des ästhetischen Erlebnisses eine entscheidende Bedeutung für die endgültige Gestalt der Konkretisation und deren Wert hat; dies müßte erst an einzelnen Fällen untersucht werden, indem man versucht, bei demselben Werk mehrere Modifikationen im Verlauf des Erlebnisses durchzuführen. Es ist aber klar, daß bei all den verschiedenen Unterschieden zwischen einzelnen ästhetischen Erlebnissen, die zu einer Konkretisation eines und desselben Werkes führen, die wichtigste Rolle die Gestaltung der letzten Phasen des Erlebnisses spielt, und zwar die Phase, in der die ästhetischen Wertqualitäten und damit auch die Werte zur erscheinungsmäßigen Konstitution gelangen und in der sich die Gestaltung der auf diese Werte gerichteten Wertantwort des Erlebens vollzieht. Diese beiden Phasen bilden den letzten Ausklang der Leistungsfähigkeit des Erlebnisses. Und je höher die konstituierten (ästhetischen) Werte, bzw. der letzte globale Wert ist, desto 23

So wie das z.B. sehr ehrgeizige und im Grund unverantworliche Regisseure tun, die ein dramatisches Werk unbarmherzig umgestalten, nur um zu dem von ihnen beabsichtigten Buhnenerfolg zu gelangen.

§ 32. Exkurs: Variabilitätsgrenze der Konkretisationen

425

höhere Anerkennung sollte er in der Wertantwort - wie erwartet - in der Endphase des Erlebnisses finden. Es wird [ ] kein gewöhnliches Gefallen mehr sein, sondern irgendeine Art der Bewunderung, des Entzückens und einer mit ihnen verbundenen Bejahung des Wertes, einer Bejahung, d.h. der Bekräftigung im Sein, der Zustimmung dazu, daß es gut ist, daß dieser Wert existiert. Bei der Konstituierung eines zwar positiven, aber nicht besonders hohen Wertes wird die emotionale Wertantwort entsprechend die Gestalt anderer Weisen der Anerkennung bzw. der Zustimmung annehmen, sie wird auch weniger aktiv, nicht so lebhaft und auch nicht so "heiß", sondern eher lau oder sogar kühl sein und den Erlebenden nicht so engagieren. 24 Das Moment der "Bejahung" wird noch in ihr enthalten, aber nicht so kräftig sein. Wenn endlich das ästhetische Erlebnis zur Konstituierung eines negativen Wertes (eines "Unwertes") führt, dann wird die Wertantwort eine Verwerfung, eine Verurteilung sowohl dieses Unwertes selbst als auch der betreffenden Konkretisation sein. Diese Verwerfung bildet den Gegensatz zur "Bejahung", sie geht also mit einem Postulat des Nichtseins und mit der impliziten Feststellung in eins, daß es nicht gut (eventuell schlecht) sei, daß dieser Unwert existiert. Bei noch tieferen Unwerten kann es zu einem emotional gefärbten Widerwillen, zu Abscheu oder gar Ekel kommen. Zwei verschieden verlaufende ästhetische Erlebnisse desselben literarischen Kunstwerks können aber auch zur Konstituierung zweier Konkretisationen führen, die einen qualitativ verschiedenen, aber seiner Höhe nach gleichen ästhetischen Wert haben, 25 weil dieselben Unbestimmtheitsstellen auf eine sehr verschiedene Weise ausgefüllt werden und in der Folge auch verschiedene ästhetisch relevante Qualitäten zur Konstitution bringen. 26 Es ist dann nicht ausge-

24

je

Wie der bekannte Ausdruck "es läßt mich kalt" sagt. Ich vergesse nicht, daB es sehr schwierig ist zu begründen, wie zwei qualitativ verschiedene Werte gleiche Höhe besitzen können. Es ist aber wiederum eine Frage der allgemeinen Werttheorie, die hier nicht behandelt werden kann.

26

Dies kann z.B. dann leicht eintreten, wenn dasselbe literarische Kunstwerk in verschiedenen historischen Epochen gelesen wird. Bei geänderter historischer Situation füllt man dann die Unbestimmtheitsstellen auf eine andere Weise aus und neigt auch zum Verkehr mit anderen ästhetisch relevanten Qualitäten und konkretisiert sie mit größerer Freiheit, während die anderen vernachlässigt werden. Das heißt aber nicht, daB sich dann das Wertvollsein gewisser Qualitäten selbst geändert hat, sondern nur, daß gewisse ästhetisch wertvolle Qualitäten in einer Epoche beliebt werden; man schafft also in der Konkretisation

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

schlossen, daß trotz der gleichen Höhe der beiderseitigen Werte andere Wertantworten vollzogen werden, weil die andere qualitative Bestimmtheit des Wertes es eben fordert. Nehmen wir z.B. zwei verschiedene literarische Kunstwerke: das eine zeichnet sich durch eine kristallklare Komposition aus, hat eine vorzügliche Verteilung der ästhetisch relevanten Akzente der einzelnen Teile, so daß es zu ihrem harmonischen Zusammenklang kommt. In seiner ästhetischen Konkretisation erscheint die ruhige Anmut einer "klassischen", rationalen Struktur. Das andere Werk dagegen weist hinsichtlich seiner Komposition keine besonderen Vorzüge auf, entfaltet dagegen in ästhetischer Perzeption mannigfache lyrisch emotionale Momente, die ebenfalls zu einem harmonischen qualitativen Zusammenklang führen und eine eigentümliche Anmut, aber durchaus anderer Art, zur Erscheinung bringen. Beide Werke können in der ästhetischen Konkretisation gleich hohe Werte aufweisen, aber die Art der Wertantwort, obwohl sie gleichermaßen anerkennend wird, wird in ihrem Gesamtausklang verschieden sein. Im ersten Fall wird in ihr die Form einer ruhigen, in einer gewissen kontemplativen Distanz erlebten Bewunderung der vollkommenen Harmonie des Aufbaus überwiegen, im zweiten Fall dagegen wird vor allem ein gefühlvolles Gefallen an dem Zauber der eigenartigen Stimmung in den Vordergrund treten. Etwas Ähnliches kann auch bei zwei verschiedenen ästhetischen Konkretisationen eines und desselben literarischen Kunstwerks vorkommen, von denen etwa die eine mehr die vorzüglichen strukturellen Eigenheiten des Werkes, die andere mehr die subtile, lyrisch-emotionale Stimmung zur Ausprägung bringt. Allgemein gesagt: gleich hochwertige, aber in ihrer Wertqualität verschiedene ästhetische Konkretisationen desselben Werkes sind ebensowohl möglich wie gleich hohe Anerkennungen, die als Wertantworten qualitativ anders bestimmt sind. Auf dem Gebiet der ästhetischen Konkretisationen literarischer Kunstwerke - eben weil sie einen vielschichtigen Aufbau und eine

die Bedingungen ihres Erscheinens; dagegen werden die anderen - bei Erhaltung

ihres

Wertvollseins - nicht konkretisiert. Solange die beiden verschiedenen Ausfüllungen der entsprechenden Unbestimmtheitsstellen nur im Bereich der von ihnen

zugelassenen

Möglichkeiten liegen, kann man nicht sagen, daß in dem einen oder in dem anderen Fall das Werk nicht angemessen oder gar falsch konkretisiert wurde.

§ 32. Exkurs: Variabilitätsgrenze der Konkretisationen

427

quasi-zeitliche Struktur haben - läßt sich weder eine einlinige Ordnung der Werthöhe noch eine einlinige Gradation der Wertantworten auf die sich möglicherweise ergebenden Werte aufstellen. 27 Es gibt mehrere verschiedene Systeme von möglichen ästhetischen Werten sowie auch mehrere Systeme von möglichen Wertantworten. Sie werden durch verschiedene Grundtypen der ästhetischen qualitativen Zusammenklänge oder, wenn man will, durch verschiedene material bestimmte Kategorien des literarischen ästhetischen Gegenstandes oder, noch anders, durch verschiedene Stile der ästhetisch valenten qualitativen Zusammenklänge bestimmt. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß es in den Konkretisationen eines und desselben literarischen Kunstwerks zu einer Kreuzung verschiedener Wertsysteme kommt, die miteinander entweder zusammenstimmen oder sich auch widerstreiten können. Und dies ist nicht ein Ausdruck der so oft betonten "Relativität" oder - wie das beliebte Wort sagt - "Subjektivität" der ästhetischen Werte, sondern eine notwendige Folge des Wesensaufbaus des literarischen Kunstwerks, das eben diese Möglichkeiten eröffnet. Natürlich hat man früh genug - denn es taten dies bekanntlich bereits die Sophisten - die Tatsache festgestellt, daß ein und dasselbe literarische Kunstwerk - und in der Folge alle Kunstwerke überhaupt - bei der Lektüre zu verschiedenen, manchmal diametral entgegengesetzten Wertantworten führt. Von dieser Feststellung ist man gleich schnell zu der Theorie der sog. "Subjektivität" und "Relativität" der (ästhetischen) Werte übergegangen, die in dem Satz "de gustibus non est disputandum" zusammengefaßt wird und eine Legalisierung einer vollkommenen Anarchie sowohl in der Beurteilung der Kunstwerke als auch beim Umgang mit ihnen darstellt. In unserer Zeit nimmt sie einerseits Gestalt eines sensualistisch gefärbten Skeptizismus den Werten gegenüber an, die von den Neupositivisten verschiedener Provenienz (im stolzen Bewußtsein hoher "Wissenschaftlichkeit") gepredigt wird, andererseits die eines geschichtlichen Relativismus, der sich von Hegel, Dilthey usw. herleitet. Es würde uns zu weit führen, diese skeptischen Richtungen aufs neue zu diskutieren. Es wird aber nützlich sein, darauf hinzuweisen, von wo sich dieses skeptische "de gustibus non est disputandum" herleitet.

Diese Behauptung ließe sich vielleicht auf alle ästhetischen Gegenstände erweitem, dies erfordert aber eine besondere Betrachtung.

428

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

Man unterscheidet vor allem nicht zwischen dem literarischen Kunstwerk (dem Kunstwerk überhaupt) und seinen verschiedenartigen Konkretisationen. Infolgedessen überträgt man die sich auf die ästhetischen Konkretisationen beziehenden Beurteilungen (bzw. Wertantworten, was aber nicht dasselbe ist) auf das entsprechende Kunstwerk selbst und glaubt damit, es würden ihm widerstreitende und sich ausschließende Werte zugeschrieben, was natürlich ein Mißstand wäre. Man weiß nicht, daß den ästhetischen Werten gegenüber eine völlig andere Wertbeurteilung (Wertantwort) am Platz ist als den künstlerischen Werten gegenüber, weil man einfach den Unterschied zwischen künstlerischen und ästhetischen Werten nicht kennt, bzw. auch nicht anerkennen will. Somit hält man alle Wertbeurteilungen für ästhetische Beurteilungen, deren Rechtmäßigkeit und Begnindbarkeit man a limine verwirft. Man erkennt den Unterschied zwischen dem Wert und der Wertantwort (bzw. Werturteil) nicht an, und, indem man im Grunde das Bestehen aller Werte, insbesondere auch der ästhetischen leugnet, sucht man sie auf die "Werturteile" (Bewertungen) zurückzuführen, die man dann noch psychologisch-soziologisch oder geschichtsphilosophisch relativiert. Mit der Vermengung des Wertes mit den subjektiven Verhaltensweisen den Werten gegenüber, also insbesondere mit den Wertantworten, vermengt man zugleich den Wandel in der Wertschätzung (Gefallen, Werturteil usw.) mit dem Wandel des Wertes selbst, bzw. dem Wandel des Gegenstandes im Zustand seines Wertvollseins. Wenn z.B. ein bestimmter Gegenstand - etwa die Dramen Shakespeares - in einer Epoche hoch geschätzt wird, in einer anderen aber nicht, so behauptet man ohne weiteres, daß dieser Gegenstand seinen Wert verloren hat. Da man aber zugleich glaubt, daß dieser Gegenstand in seinen Eigenschaften gar nicht verändert wurde, so zieht man daraus die letzte Konsequenz, daß dieser Gegenstand weder einst noch jetzt irgendeinen Wert besitzt und daß es somit überhaupt gar keine Werte gibt, sondern nur wechselnde Wertschätzungen, die eben damit für "subjektiv" erklärt werden, was besagen soll, daß sie Fiktionen des Wertvollseins projizieren. Man will den Tatbestand nicht anerkennen, daß man Werte sowohl erkennen als auch fälschlich vermeinen kann. Letzteres soll unter dem Einfluß verschiedener Gefühle stattfinden. Alle individuellen, psychologischen, eventuell soziologisch bedingten Wandlungen in den Wertschätzungen

§ 32. Exkurs: Variabilitälsgrenze der Konkretisationen

429

können weder an den Werten selbst noch an den wertvollen Gegenständen etwas ändern. Alle diese Vermengungen wurden schon entlarvt und die entsprechenden Unterscheidungen durchgeführt, und so ist dem axiologischen Skeptizismus das Fundament entrissen, was natürlich nicht besagt, daß alle Werte richtig erkannt werden und gar keine Zweifel ihrem Erkennen und auch ihrem Sein und Bestimmtsein gegenüber erhoben werden dürfen. Bei der Behandlung des Wertproblems in bezug auf Kunstwerke und deren Konkretisationen hat man auch nicht berücksichtigt, daß literarische Kunstwerke schematische Gebilde sind (wie in verschiedener Weise auch alle Kunstwerke), 28 die infolgedessen Mannigfaltigkeiten möglicher ästhetischer Konkretisationen vorherbestimmen. Rein zahlenmäßig können sie beliebig zahlreich sein, hinsichtlich ihrer Bestimmung können sie aber nicht unbegrenzt mannigfach sein, sobald nur die Forderung gestellt und erfüllt wird, daß sie nicht dem freien Belieben des Konsumenten überlassen bleiben, sondern auf einer werkgetreuen Rekonstruktion gegründet und dem Werk "gerecht" werden sollen. Das ästhetische Erlebnis, aus dem sie hervorwachsen, soll nicht ganz beliebig verlaufen, sondern durch eine bestimmte, sich in ihm vollziehende Erkenntnisweise des Kunstwerks und auch der bereits erzielten Teile der Konkretisation geregelt werden. Dann ist die Mannigfaltigkeit der vom literarischen Kunstwerk zugelassenen ästhetischen Konkretisationen in ihrer Bestimmungsart streng umgrenzt und in ihren Grundtypen wenigstens dem Prinzip nach durchschaubar. Endlich: Über die Richtigkeit oder Falschheit des oft gepredigten Satzes "de gustibus non est disputandum" muß auf Grund der Analyse der Beziehung zwischen einer auf bestimmte Weise konstituierten ästhetischen Konkretisation (und insbesondere der in ihr konstituierten ästhetischen Werte) und der Wertantwort sowie der auf ihr gegründeten und ihr angepaßten Wertbeurteilung entschieden werden. So lange dies nicht getan wird und auch die hier soeben aufgezeigten Ausgangspunkte der skeptischen Lösung der ganzen Frage nicht einer Berichtigung unterworfen werden, ist der axiologische Skeptizis28 Neuerdings hat Max Wehrli den schematischen Aufbau des literarischen Kunstwerks mit dem Wertproblem in Zusammenhang gebracht, aber auch er hat die relativistischen Tendenzen bei der Behandlung der ästhetischen Werte nicht genügend überwunden. Vgl. Max Wehrli, Wert und Unwert in der Dichtung [Köln 1965].

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

mus und Relativismus in bezug auf die ästhetischen Werte nur eine bequeme Ausrede, die ihre Vertreter von der Mühe einer verantwortlichen Untersuchung dieser Frage befreien soll. Es muß freilich zugegeben werden, daß die beiden Glieder dieser Beziehung bis jetzt nicht genügend untersucht und geklärt worden sind. Man weiß nicht, welche ästhetischen Werte es überhaupt gibt und welche von ihnen in den Konkretisationen literarischer Kunstwerke auftreten können. Es gibt auch keine befriedigende Analyse der verschiedenen emotionalen Wertantworten. Ein Fortschritt in beiden Richtungen wäre für die Lösung der möglichen Beziehungen zwischen Werten und Wertantworten sehr wichtig. Rebus sie stantibus aber können wir uns doch über die prinzipiellen Möglichkeiten orientieren und die da vorliegenden verschiedenen Fragen abgrenzen. Wertantworten sind unmittelbare Reaktionen des einen bestimmten Wert anschaulich erfassenden Subjekts, Reaktionen, die aus dem emotionalen Fühlen (man könnte auch sagen: "Er-Fühlen") des betreffenden Wertes in seiner qualitativen Bestimmtheit hervorwachsen und in dem in ihnen enthaltenen Akt der Anerkennung und Bejahung der selbstgegenwärtigen Wertqualität sinnvoll angepaßt werden, falls es überhaupt zu einer solchen Wertantwort kommt. Hildebrand zählt sie zu den sog. "Stellungnahmen" 29 , und das ist gewiß auch richtig, bloß muß hinzugefügt werden, daß es sehr verschiedene Stellungnahmen gibt, die auch ganz intellektuell sein können, z.B. die Verwerfung eines fremden Urteils, das man für falsch hält. Die Wertantwort ist indessen emotional mitbestimmt, wenn auch nicht rein emotional, da sie unzweifelhaft einen intentionalen Bezug auf einen selbstgegenwärtigen und sich in seiner Wertigkeit präsentierenden Gegenstand hat. Es kommt zu einer solchen Wertantwort überhaupt nicht, wenn die unmittelbare Werterfassung auf irgendwelche Weise mißlungen ist - unmittelbare Werterfassung, d.h. eine solche, bei welcher der Wert in seiner Materie (Qualität) anschaulich (phänomenal) selbstgegenwärtig ist. Es kann dann entweder gar kein Wert (in seiner Qualität und Höhe) zur Sicht kommen 3 0 , oder es geschieht auf eine unvollkommene Weise, indem z.B. die 29 [Vgl. D. von Hildebrand, "Die Idee der sittlichen Handlung", Jahrbuch für Philosophie Phänomenologische

Forschung

und

3 (1916), 126-251, S. 154ff„ 164ff.]

Dies kann aus verschiedenen Gründen geschehen: a) aus "objektiven", wenn das betreffende Kunstwerk künstlerisch nicht leistungsfähig genug ist, und b) aus subjektiven, wenn

§ 32. Exkurs: Variabilitätsgrenze

der

Konkretisationen

431

Wertqualität nicht in genügend anschaulicher Fülle, Deutlichkeit und Schärfe hervortritt, so daß auch die Werthöhe unklar wird. Gelingt aber die unmittelbare Werterfassung, dann tritt auch die Wertantwort ohne Verzug ein. Man kann sagen, daß dann beides, Werterfassung und Wertantwort, ein erlebnismäßiges Ganzes bilden, so sehr die Wertantwort ein anderes Verhalten des erlebenden Subjekts ist als die Werterfassung im engen Sinn des Wortes. Dieses Ganze hat man wohl oft im Sinn, wenn man von "Wertung" spricht, obwohl man mit diesem Wort auch das darauf aufgebaute Werturteil versteht, 31 das schon ein rein intellektueller Akt ist und ein Ganzes für sich bildet, das bei der Wertung in unserem engen Sinn fortfallen kann und das auch vollzogen werden kann, ohne daß sich die Wertung vollzieht. Es ist dann durch die Wertung nicht begründet. Die sinnvolle Anpassung der Wertantwort an den Wert bezieht sich auf zwei wesensmäßig miteinander verbundene Momente des Wertes: auf seine Wertqualität und auf die sich daraus ergebende Werthöhe, die - eben weil sie in dieser Qualität gegründet ist - den Wert auf eine absolute Weise charakterisiert und erst sekundär - im Vergleich mit anderen Werten desselben Wertsystems - eine ihnen gegenüber relative Höhenbestimmtheit gewinnt. Der Wertqualität entspricht in der Wertantwort die emotionale Fülle, die in ihrer Art der Wertqualität zugeordnet ist, der Werthöhe dagegen entspricht der "Schätzungsakt" ("Modus" der Anerkennung, Hochschätzung und Bejahung, im entgegengesetzten Fall die Verwerfung und dergleichen mehr), der zugleich ein Modus einer gewissen Unterwerfung des Subjekts unter die Höhe des Wertes ist. Die beiden Momente der Wertantwort sind für sie konstitutiv. Sie dürfen in ihr - in irgendeiner Abwandlung - nicht fehlen und entscheiden zudem über die Art der Wertantwort. Sie sind auch einander streng zugeordnet, obwohl die emotionale Fülle bei Erhaltung des gleichen Anerkennungs-

es dem Betrachter nicht gelungen ist, die den Wert fundierenden ästhetisch valenten Qualitäten zu empfinden und aufzunehmen, oder wenn er eigentümlich "blind" oder "taub" für die betreffende Wertqualität ist. 11 Vgl. meinen Vortrag auf dem Ästhetischen Symposium während des Internationalen Kongresses der Philosophie in Venedig, 1958, u.d.T. "Bemerkungen zum ästhetischen Werturteil", Rivista di Estetica III (1958), no. 3, S. 4 1 4 - 4 2 3 [auch in Erlebnis, Kunstwerk Wert, op. cit., S. 9-18],

und

432

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

aktes noch in gewissen Grenzen variieren kann. Dies entspricht der Tatsache, daß es Werte verschiedener Qualität und doch derselben Höhe geben kann. Bringt man sich die Struktur des Wertes (und insbesondere des ästhetischen Wertes) einerseits und die Struktur der Wertantwort andererseits zum Bewußtsein, so kann man sagen (oder mindestens als Vermutung aussprechen), daß es idealiter eine strenge Zuordnung zwischen Werten und Wertantworten gibt. Und zwar: zu einem jeden Wert, den eine bestimmte Wertqualität konstituiert und ihm eine entsprechend eindeutige Werthöhe verleiht, gibt es eine und nur eine genau angepaßte Wertantwort, welche wiederum in ihrer emotionalen Fülle und in ihrem Anerkennungsakt eindeutig bestimmt ist. Den Wertantworten dagegen, welche durch einen eindeutig bestimmten Anerkennungsakt konstituiert sind, die aber eine in bestimmten Grenzen variable emotionale Fülle besitzen, entspricht innerhalb eines Systems eine genau umgrenzte Mannigfaltigkeit von Werten, welche die gleiche Werthöhe, aber dazu noch eine, in festgelegten Grenzen variable Wertqualität aufweisen. Dagegen scheint es ausgeschlossen, daß Werte, die durch eine identische Wertqualität bestimmt sind, verschiedener Höhe sein könnten. Denn die Wertqualität (Hartmann sagt: Wertmaterie) 32 entscheidet über die (absolute) Höhe des Wertes, was nicht ausschließt, daß verschiedene Wertqualitäten auf einer Höhe zusammentreffen können. Diese ideale Zuordnung - die im einzelnen erst herausgestellt werden müßte - kann uns aber von selbst nicht vor dem axiologischen Skeptizismus schützen, insbesondere auch nicht auf dem Gebiet der ästhetischen Werte. Sie spielt nur insofern eine Rolle, als in den einander zugeordneten Gliedern - den Werten und den Wertantworten - das konstitutive Element der Wert und das daraus folgende Element die Wertantwort ist. Werte sind in ihrem Sein und Sosein von den Wertantworten unabhängig, aber für sie bestimmend. Sie sind - falls sie überhaupt echte Werte und keine Scheinwerte sind - in dem Gegenstand fundiert, dessen Wert sie bilden, und brauchen, um zu sein, nicht erst erfaßt, beantwortet oder beurteilt zu werden. 33

32

[Vgl. N. Hartmann, Ethik, Berlin 1926, S. 109, 127.]

Π Die Subjektivisten in der Werttheorie behaupten eben das Gegenteil. Nach ihnen entstehen Werte, wenn sie überhaupt irgendwie existieren, aus den Beurteilungen, die gewissermaßen schöpferisch sind und sich im Wandel der Zeiten selbst wandeln. Das Schöpfertum der Menschen beruht aber nicht auf der Erschaffung gewisser Illusionen von Werten, sondern

§ 32. Exkurs: Variabilitätsgrenze der Konkretisationen

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Bei all dem scheint nicht ausgeschlossen, daß es Fälle gibt, in welchen es trotz des Vorhandenseins eines bestimmten Wertes im betreffenden ästhetischen Gegenstand entweder zu keiner Wertantwort oder zu einer dem Wert nicht idealiter zugeordneten Wertantwort kommt. Man beruft sich oft auf diese Tatsache 34 und glaubt darin einen hinreichenden Grund zu ästhetischem Skeptizismus zu finden. Indessen wäre der Satz "de gustibus non est disputandum" nur in zwei Fällen richtig: wenn es gar keinen Fall einer idealiter nicht zugeordneten oder überhaupt fehlenden Wertantwort gäbe oder wenn stets fehlerhafte Wertantworten erfolgten. Im ersten Fall fehlte überhaupt der Grund zu einer Diskussion über den Gustus, denn dieser Grund liegt eben darin, daß es manchmal zu einer fehlerhaften oder mangelnden Wertantwort kommt. Im zweiten Fall könnte man wirklich nicht über den Gustus diskutieren, aber eben deswegen, weil dann alle Wertantworten gleich gut oder gleich schlecht wären. Um zu erkennen, daß eine Wertantwort dem Wesen des betreffenden Wertes nicht angemessen ist, muß man angemessene Wertantworten mit nicht angemessenen konfrontieren können. Und das findet erst dort statt, wo einige Wertantworten angemessen und andere nicht angemessen sind. Dies scheint gerade der tatsächliche Fall zu sein, und dann eröffnet sich die Möglichkeit einer Diskussion über den "Gustus".

auf der Erschaffung der Kunstwerke, bzw. auf der Miterschaffung der ästhetischen Gegenstände, in denen Werte fundiert sind. Sowohl Werterfassungen als auch Wertantworten sind ihrem eigenen Sinn nach nicht schöpferisch; die ersten - da sie eben aufnehmende, erfassende und in diesem Sinn "passive" Akte sind, die zweiten - weil sie bereits eine Reaktion, eine Verhaltensweise des Subjekts gegenüber gewissen ihm zukommenden Gegebenheiten bilden. Die bei den transzendentalen Idealisten (aber auch bei den positivistischen Psychologisten) vorherrschende Meinung, jeder Bewußtseinsakt sei mindestens intentional schöpferisch, ist ein Vorurteil, das dem differenzierten Wesen einzelner Grundarten der Bewußtseinsakte nicht gerecht wird. Freilich tut man es gewöhnlich auf eine unbefriedigende Weise, indem man sich dabei auf das Werturteil (bestenfalls auf die Wertantwort) eines anderen Betrachters desselben Kunstwerks beruft, ohne gezeigt zu haben, daß auch das ästhetische Erlebnis des anderen zu einem gleichen konstitutiven Ergebnis geführt hat, d.h. daß die entsprechende Konkretisation dieselben Werte besitzt. Aber daß bei verschiedenen Konkretisationen verschiedene Wertantworten erfolgen, ist nur natürlich und spricht in keiner Weise für den ästhetischen Skeptizismus.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

Was bedeutet aber die Tatsache, daß in einem einzelnen Fall jemand zu einer nicht angemessenen Wertantwort gelangt? Dies bedeutet nur, daß es ihm aus irgendeinem Grund nicht gelungen ist, die Konkretisierung des betreffenden literarischen Kunstwerks so durchzuführen, daß es in ihr zum erscheinungsmäßigen Auftreten der entsprechenden ästhetischen Qualitäten und dann auch des entsprechenden Wertes gekommen ist. Der Betrachter hat es mit einer anderen, diese Werte nicht enthaltenden Konkretisation zu tun, eben weil er entweder für die entsprechenden ästhetisch wertvollen Qualitäten oder für den diesbezüglichen Wert blind, bzw. unfähig ist, sie zu konstituieren. Dann vollzieht er entweder überhaupt gar keine Wertantwort, da er dasjenige nicht hat, worauf zu antworten wäre, oder eine andere Antwort, weil er auf etwas anderes antwortet. In beiden Fällen ist alles in Ordnung, d.h. sie liefern kein Argument für einen allgemeinen ästhetischen Skeptizismus. Nur dann, wenn es ihm gelungen wäre, eine Konkretisation des betreffenden Werkes zu konstituieren, in welcher eine bestimmte Mannigfaltigkeit ästhetisch wertvoller Qualitäten, und infolgedessen auch der in ihnen gründende Wert, zur erscheinungsmäßigen Selbstgegenwart für den Betrachter gelangt, und er trotzdem also angesichts des betreffenden Wertes zu einer Wertantwort käme, die dem Wert idealiter gar nicht zugeordnet wäre, könnte man behaupten, daß die Wertantwort in diesem Fall von der Gegebenheit des ästhetischen Wertes ganz unabhängig ist. Und erst dann, wenn man dies ganz allgemein

behaupten dürfte, also behaupten, daß alle

Wertantworten von der Erfassung des Wertes und von seinem zur Anschauung gebrachten Wesen (Wertqualität + Werthöhe) völlig unabhängig

sind

und somit - falls es überhaupt zu einer Wertantwort kommt - sie selbst sowie ihr emotionaler Gehalt (ihre Fülle) und ihr Anerkennungsakt durch völlig andere, außerhalb des Kunstwerks und des ästhetischen Verkehrs mit ihm liegende Faktoren hervorgerufen werden, hätte man einen hinreichenden Grund, den ästhetischen Skeptizismus zu vertreten. Sobald man aber einmal zugibt, daß die Werterfassung und die Wertantwort ein erlebnismäßiges Ganzes bilden, welches bei dem in der Erfassung anschaulich gegebenen Wert nicht anders verlaufen kann, ist der ästhetische Skeptizismus schon unhaltbar. Es kann nur zugegeben werden, daß bei einem vorgegebenen literarischen Kunstwerk verschiedene ästhetische Konkretisationen erreicht werden können, in welchen verschiedene ästhetische, letztlich resultierende

S 32. Exkurs: Variabilitätsgrenze der

Konkretisalionen

435

Globalwerte erscheinen können oder auch überhaupt gar keine - wenn eben das Werk künstlerisch schlecht ist. W o das ästhetische Erlebnis sich selbst genügend ist, also nur der ästhetischen Konsumption dient, und keine Vorbereitung der Erkenntnis des Werkes oder einer in ihm fundierten ästhetischen Konkretisation ist - da ist diese Mannigfaltigkeit verschiedener Konkretisationen und der sich in ihnen zeigenden verschiedenen ästhetischen Werte kein Mangel und auch kein Grund für den ästhetischen Skeptizismus. Wie weit aber die verschiedenen Konkretisationen voneinander abweichen können, dies läßt sich mit Bestimmtheit nicht sagen, 35 aber das schadet auch gar nicht. Bestimmt aber ein jedes literarische Kunstwerk nicht von sich aus und ganz unabhängig davon, wer sie durchführt, eine fest umgrenzte Mannigfaltigkeit von zulässigen ästhetischen Konkretisationen? Und zwar Konkretisationen, die vom Kunstwerk selbst zugelassen werden, indem sie eine getreue Rekonstruktion des Werkes enthalten und diejenigen Elemente und Momente in ihr, welche den potentiellen Elementen und den Unbestimmtheitsstellen des Kunstwerks entsprechen, im Bereich dessen liegen, was diese beiden Typen der Elemente des literarischen Kunstwerks als möglich bestimmen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß eine solch ideale Zuordnung zwischen dem bestimmten literarischen Kunstwerk und seiner Mannigfaltigkeit von solchen möglichen Konkretisationen zugestanden werden darf, wobei dann in ihr sowohl positiv- wie negativwertige Konkretisationen auftreten können. Wenn aber irgendeine von diesen Konkretisationen vom Leser wirklich aktualisiert werden soll, so kann das entsprechende ästhetische Erlebnis nicht ganz beliebig und dem Zufall überlassen verlaufen, sondern es muß vom Leser der Versuch unternommen werden, dieses Erlebnis auf Grund, bzw. im Anschluß an seine werkgetreue Rekonstruktion zu vollziehen. Dann dient dieses Erlebnis als Vorbereitung auf eine Erkenntnis der (zulässigen) ästhetischen Konkretisation des Werkes - und somit können wir zur Besprechung des Falles b) des ästhetischen literarischen Erlebnisses übergehen. Zuerst aber noch eine Bemerkung.

Dies ist eben deswegen nicht möglich, weil die Mannigfaltigkeit der Leser sowie der Bedingungen, unter denen die ästhetische Konkretisation eines literarischen Werkes verläuft, vom Werk ganz unabhängig und in sich selbst gar nicht zu umgrenzen ist. Und der Leser ist für die Gestaltung der Konkretisation des Werkes mitverantwortlich.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

3. Zu den vielen in der Ästhetik weit verbreiteten Irrtümern gehört auch die Vermengung der bereits sub 1. und 2. besprochenen Probleme mit der Rolle, welche das ästhetische Erlebnis im Leben des Menschen spielt. Die ästhetischen Erlebnisse bilden - wie bekannt - eine Bereicherung und Vertiefung des Lebens des Menschen. Man glaubt auch, daß sie auf die Gestaltung der menschlichen Persönlichkeit einen günstigen Einfluß ausüben - dahin gehört das Programm: Erziehung durch Kunst! - obwohl es fraglich sein mag, ob dieser Einfluß nicht stark überschätzt wird. Jedenfalls aber bildet das ästhetische Erleben einen positiven Lebenswert des Menschen. So erscheint fast auf jedem Niveau der Kultur die Tendenz, ästhetisch zu erleben. Der Wert dieses Erlebens ist aber nicht ästhetischer Natur, sondern völlig anderer Art, sofern wir uns natürlich unseren eigenen Erlebnissen gegenüber nicht ästhetisch einstellen und sie als ästhetische Gegenstände erfassen, was nicht selten geschieht. Dieses Erfassen eigener Erlebnisse als besonderer ästhetischer Gegenständlichkeiten ist aber sekundär und bildet ein Symptom einer gewissen Dekadenz. Viel schlimmer ist es, wenn es aus Mangel an ästhetischer Kultur oder an Leistungsfähigkeit der (im Grunde nur scheinbar) ästhetischen Erlebnisse geschieht, welche sich auf verschiedene Gegenständlichkeiten unserer Erlebnisse beziehen. Dann bildet diese Erscheinung den Fall des - wie Moritz Geiger sagt - "Dilettantismus im künstlerischen Erleben". 36 Er besteht in einer eigentümlichen Mystifikation, in einer Art "qui pro quo": Der ästhetische Wert oder der Lebenswert eines (scheinbar ästhetischen) Erlebnisses wird für den ästhetischen Wert des Gegenstandes dieses Erlebnisses genommen (gehalten). Dieser Gegenstand selbst ist in sich gleichgültig und wird in der Folge auch nicht voll konstituiert, seine Stelle nimmt aber unberechtigterweise das Erlebnis selbst ein. Was das eigentliche Ziel (oder der Zweck) des ästhetischen Erlebnisses ist, bzw. sein soll, beginnt ein zu anderen, im allgemeinen nicht ästhetischen Zwecken mißbrauchtes Mittel zu werden: ein Mittel zur Bereicherung unseres Lebens, zum Haben gewisser Zuständlichkeiten, die für uns irgendwie angenehm sind. In der Theorie führt das zu falschen Auffassungen des ästhetischen Erlebnisses und insbesondere zu all den subjektivistischen Theorien des ästhetischen Gegenstandes. Unter anderem wird im Zusammenhang damit die Leistungsfähigkeit

Moritz Geiger, Zugänge zur Ästhetik [Leipzig 1928].

§ 32. Exkurs: Variabilitätsgrenze der Konkretisationen

437

des ästhetischen Erlebnisses mit seinem Reichtum an verschiedenen, besonders an emotionalen Momenten vermengt. Den ästhetisch naiven Menschen, denen vor allem am Haben gewisser Erlebnisse liegt, scheint es, je mehr sie durch gewisse Gegenstände (insbesondere Kunstwerke) gerührt werden, je mannigfacher und bunter ihr Gefühlsleben ist, desto wertvoller seien die Gegenstände ihrer Erlebnisse, oder anders gesagt, desto leistungsfähiger sei ihr ästhetisches Erleben. 37 Ich habe früher (§ 24) das ästhetische Erlebnis und insbesondere auch die Wertantwort von der emotionalen

Reaktion des

Erlebenden unterschieden, welche sich im Erlebenden unter dem Einfluß des Zusammentreffens und des Verkehrs mit einem Kunstwerk, bzw. einem bereits konstituierten ästhetischen Gegenstand entwickelt. Diese Reaktion ist gewöhnlich in ihrem Wesen außerästhetisch, obwohl sie eine Nachwirkung des ästhetischen Erlebnisses ist. Sie wird von vielen Erlebenden begehrt und wird auch oft fälschlich für das ästhetische Erlebnis selbst gehalten. Sie ist ihm indessen nicht nur ganz fremd, sondern sie stört auch seine volle freie Entfaltung. In vielen Fällen ist es gerade der Reichtum der sich aus dem ästhetischen Erleben ergebenden sekundären Gefühle, der seine Leistungsfähigkeit schwächt. Es gibt z.B. literarische Werke, die darauf berechnet sind, patriotische (oder andere politische) Gefühle zu wecken, die aber sonst künstlerisch primitiv sind. Diese Gefühle bewirken, daß das sich eventuell trotz allem entwickelnde ästhetische Erlebnis nicht leistungsfähig oder sogar wegen ihrer Fülle und Lebendigkeit überhaupt unmöglich wird. Die diese Gefühle weckenden Werke werden aber oft fälschlich als ästhetisch hochstehende Kunstwerke geschätzt. Große Kunstwerke, die zu hochwertigen ästhetischen Gegenständen führen, erfordern vom Betrachter eine gewisse Selbstbeherrschung, Ruhe und Konzentration, damit es überhaupt zur Bildung einer ästhetischen Konkretisation und zur Enthüllung ihres ästhetischen Wertes kommt. Gerade die tiefen und auf dem höchsten künstlerischen Niveau stehenden Werke lassen keine stürmisch sich entwickelnden Erlebnisse des Lesers zu. Die billigen, leeren Sensationswerke rufen im Leser lebendige und mannigfache außerästhetische Gefühle hervor und vermögen deswegen, naive und kulturell wenig gebildete Konsumenten für sich zu gewinnen.

Ύ1 Sie haben natürlich gar keinen Begriff von der Leistungsfähigkeit des ästhetischen Erlebnisses, sie haben sie aber unwillkürlich im Sinn.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

Die Gründung der Theorie des ästhetischen Erlebnisses auf dem Reichtum außerästhetischer Gefühle, die sich mit ihm manchmal verbinden, die Identifizierung seiner Leistungsfähigkeit mit diesem Reichtum, die Vermengung des ästhetischen Wertes der Konkretisation eines Kunstwerks mit dem zweifelhaften Lebenswert außerästhetischer Gefühle - all das ist nur ein großes Mißverständnis, das die Entwicklung der Ästhetik oft wesentlich hemmt. ad b) Gehen wir jetzt zu den erkenntniskritischen Problemen über, die sich auf das ästhetische Erlebnis als eine Vorbereitung zur Erlangung der Erkenntnis ästhetischer Gegenstände beziehen. So wie das Rekonstruieren eines literarischen Kunstwerks einen anderen Verlauf nimmt, wenn es als Ausgangspunkt seiner vorästhetischen Erkenntnis dient, so verläuft auch das ästhetische Erleben nicht so frei, wenn der Erlebende darauf eingestellt ist, nach der Erlangung einer ästhetischen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks sie in einer betrachtend ästhetischen Erfassung zu erkennen. Ein gewisser Verlust an Freiheit hat Vorzüge und Nachteile. Einerseits schützt uns dies in gewisser Weise vor der Verfälschung des Kunstwerks und vor der Konstituierung der Konkretisationen, welche mit seinem Aufbau nicht übereinstimmen. Andererseits aber führt dies ein Moment der Gebundenheit ein, welches gewissen Seiten des ästhetischen Erlebnisses sich nicht voll zu entwickeln erlaubt. Denn die Tendenz, sich genau an die Eigentümlichkeiten des betreffenden Kunstwerks zu halten, erfordert eine völlige Hingebung an die Perzeption und eine Abdämpfung oder Beseitigung aller dem Werk, bzw. dem zu konstituierenden ästhetischen Gegenstand fremden Momente. Das ästhetische Erlebnis verliert die zu große Mannigfaltigkeit seiner Komponenten, wird einfacher, gewinnt aber an Konzentration und oft an Tiefe. Wenn man ein literarisches Kunstwerk ästhetisch erlebt, ohne an die Gewinnung einer ästhetischen Erkenntnis zu denken, dann ist es eigentlich gleichgültig, ob dieses Erleben den Leser zu einer Konkretisation bringt, welche mit den "Intentionen" des Werkes zusammenstimmt oder nicht. Anders ist es, wenn das ästhetische Erlebnis eine Vorbereitung zur ästhetischen Erkenntnis der Konkretisation bzw. des Werkes bilden soll. Dann ist es angebracht, daß das ästhetische Erlebnis nicht bloß leistungsfähig ist, sondern auch - wie ich mich ausdrückte - dem Werk "gerecht" und adäquat wird. Das

§ 32. Erlebnis und Erforschen ästhetischer

Gegenstände

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ästhetische Erlebnis wird aber dem betreffenden Werk "gerecht", wenn es zu einer Konkretisation führt, die 1. zu ihrer Grundlage - die übrigens in ihren Gesamtbestand eingeht - eine dem Werk bezüglich seiner bestimmten

und

aktuellen Momente - in den Grenzen der Möglichkeit - getreue (korrekte) Rekonstruktion hat, die 2. in ihren über die einfache Rekonstruktion hinausgehenden Elementen (Momenten), also in der Explizierung des implicite eindeutig Bestimmten, in der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen und in der Aktualisierung der potentiellen Elemente des literarischen Kunstwerks, in der anschaulichen Hervorbringung der ästhetisch relevanten Qualitäten und in ihrem Zusammenklang, innerhalb der vom Werk selbst vorbestimmten Möglichkeiten liegt, und 3. dem Werk möglichst "verwandt" ist, ihm "nahe" steht. Dies letztere wird hier deswegen eingeführt, weil es z.B. in den Ausfüllungen, welche im Bereich der betreffenden Unbestimmtheitsstellen liegen, gewöhnlich wesentliche Unterschiede in der Weise gibt, wie sie sich zur Ergänzung der übrigen Elemente des Werkes eignen. Die betreffende Ausfüllung kann z.B. in ihrem Stil ganz oberflächlich sein und damit auch uninteressant oder im Gegenteil z.B. eine Tiefe der dargestellten Persönlichkeit enthüllen, einen inneren Konflikt in ihr verschärfen oder ihn im Gegenteil schlichten usw. Sie kann ästhetisch neutral oder im Gegenteil eben eine ästhetisch sehr wertvolle Qualität sein, sie kann in ihrem ästhetischen Aspekt mit den Ausfüllungen anderer Unbestimmtheitsstellen harmonieren oder mit ihnen im Widerstreit stehen usw. Der bestimmte Teil des Textes zwingt den Leser nicht, gerade diese und nicht eine andere Ausfüllung von den durch die betreffende Unbestimmtheitsstelle umgrenzten zu aktualisieren. In diesem Sinn sind sie alle "möglich". Er suggeriert aber bis zu einem gewissen Grad, welche von diesen möglichen Ausfüllungen zum Werk besser "passen", sich besser "eignen" wird. Der empfindsame und feinfühlige Leser gibt diesen Suggestionen nach und wählt bis zu einem Grad unwillkürlich die entsprechende Ausfüllung aus. 3 8 Seine literarisch-künstlerische Kultur, die Kenntnis der Epoche, aus der das Werk stammt, kann ihm dabei behilflich sein, obwohl die Suggestionen, die vom Werk selbst ausgehen, immer die entscheidenden sein sollten. So kommt es zu einer dem Werk "nahen" ästhetischen Konkretisation. Die dem Werk

Bei einer zu Zwecken der ästhetischen Erkenntnis unternommenen Konkretisation kann diese Wahl voll bewußt und mit Absicht vollzogen werden.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

nahen Konkretisationen müssen (da es gewöhnlich vom gleichen Werk noch weitere gibt) nicht notwendig diejenigen sein, welche - relativ betrachtet den höchsten ästhetischen Wert haben. Wenn das betreffende Werk selbst künstlerisch relativ schwach ist, dann dürften die ihm "nahen", ihm gerechten Konkretisationen gewöhnlich keinen ausgesprochen hohen ästhetischen Wert zeigen. Ein begabter Leser (z.B. ein origineller Regisseur) kann aber die Unbestimmtheitsstellen auf eine - zwar durch das Werk zugelassene, aber doch eher unvorhergesehene, nicht in den "Intentionen" des Verfassers liegende Weise ausfüllen und überhaupt das Werk so konkretisieren, daß in der Konkretisation höhere Werte aktualisiert werden, als es in einer dem Werk nahen Konkretisation der Fall wäre. Um den Begriff einer dem Werk "nahen" (und ihm gerechten) Konkretisation eines literarischen Kunstwerks noch zu verdeutlichen, betrachten wir ein "Theaterstück", das auf der Bühne aufgeführt wird. 39 Sowohl das konkrete Spiel der Schauspieler als auch die ganze Bühnenausstattung (Dekorationen, Kostüme der Darsteller usw.) stellen nur z.T. die Realisierung dessen dar, was im Text des Dramas expressis verbis gesagt wird. Darüber hinaus bilden sie aber eine Ergänzung dieses Textes, welche eben den Unbestimmtheitsstellen und den potentiellen Elementen des Werkes entspricht. Sogar bei Erhaltung des ganzen Textes des Werkes 40 kann man zwei radikal verschiedene "Aufführungen" desselben Dramas realisieren. Sie können sich voneinander nicht nur durch die Vollkommenheit der Ausführung und damit auch durch die Qualität und die Höhe des konkretisierten ästhetischen Wertes, sondern auch durch den ganzen Stil der Aufführung unterscheiden. Jeder bedeutende Regisseur, jede neue Epoche des Theaters zwingt den aufgeführten Werken einen neuen Stil der Darstellungs weise auf und schafft dadurch auch Prototypen für andere Aufführungen, so daß sich eine Mode der Interpretation des betreffenden Theaterstückes ausbildet, was auch eine Wandlung in seiner ganzen (konkretisierten) Struktur hervorruft. Wir haben im XX. Jahrhundert mehrere solcher Moden theatralischer Ummodelung von Theaterstücken erlebt und wissen jetzt, vielleicht besser als unsere Vorfahren, wie weit diese Aufführun39 Vgl. dazu Das literarische Kunstwerk,

§57, sowie den Anhang: "Von den Funktionen der

Sprache im Theaterschauspiel". Dies findet gewöhnlich nicht statt, was natürlich eine nicht werkgetreue - wenn auch nicht notwendig unkorrekte - Rekonstruktion desselben bildet.

§ 32. Erlebnis und Erforschen ästhetischer

Gegenstände

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gen vom "Original" des betreffenden Dramas abgewichen sind, wie wenig "nahe" sie ihm stehen. Im Gegensatz dazu gibt es auch Theater, welche die ursprüngliche Tradition der Aufführung - z.B. des klassischen französischen Theaters - erhalten wollen (Comédie Française) und jede Abweichung davon als eine Fälschung dieses Originals empfinden. Das heißt, aus allen ästhetisch wertvollen Konkretisationen der Werke z.B. eines Molière wählen sie gerade diejenigen aus, die sie - auf Grund genauer Studien des diesbezüglichen Werkes - für in seinem "Geist" gestaltete, also ihm möglichst nahe stehende halten. Schon die Weise des Sprechens, der Deklamation, des sich Bewegens auf der Bühne, der Gesten der Darsteller usw. spielt hier eine bedeutende Rolle. Ausländische Schauspieler könnten - auch wenn sie ihre Rollen in französischer Sprache spielten - das alles kaum nachahmen, so gut sie aus anderen Gründen spielen und vielleicht auch andere künstlerische Effekte hervorbringen mögen, die die Aktualisierung hoher ästhetischer Werte nach sich ziehen. Aber ihre Aufführungen werden dem Werk nicht in dem Maß "gerecht", stehen ihm nicht so "nahe". 41 Etwas Ähnliches findet auch bei rein literarischen Kunstwerken statt, obwohl es da nicht so offenbar sein wird, da die vom einzelnen Leser aktualisierte ästhetische Konkretisation nicht so intersubjektiv zugänglich ist, wie eine auf der Bühne gegebene Aufführung eines Theaterstückes.

Bei all diesen Bemühungen, z.B. der Comédie Française oder des *Stanislavskij*-Theaters, das Original des Werkes in seinem Gmndstil zu erhalten, ist klar, daß es zwischen den einzelnen "Aufführungen" - z.B. an zwei verschiedenen Abenden - doch "kleine" Unterschiede im Gesamtwert der Darstellung gibt und geben muB, weil es nicht möglich ist, daß der lebendige Schauspieler auf eine absolut gleiche Weise seine Rolle mehrmals wiederholt. Theaterkenner gehen also oft bloß zur "Premiere" ins Theater, weil sie glauben, daß jede Wiederholung schon eine Gewohnheit beim Schauspieler hervorruft und das genial Schöpferische aus seinem Spiel verschwinden läßt. Viel größere Verschiedenheiten ergeben sich, wenn z.B. ein Hauptdarsteller gewechselt wird. Alle "großen" Schauspieler schaffen da gewöhnlich eine eigene "Schule" und sind darin unersetzbar. Wie weit oder wie nahe dann das von ihnen geschaffene schauspielerische Werk dem "Original" steht, ist nicht leicht zu sagen. Und doch, gerade an diesen Beispielen zeigt es sich, daß der Begriff der "Nähe" und des dem originalen Kunstwerk "Gerechtwerdens" kein leerer, theoretischer Begriff ist, sondern, auf die Theaterkunst angewendet, die verschiedenen Grade seiner Anwendung und eben damit auch die verschiedenen Grade der Annäherung und des sich vom Kunstwerk mehr oder weniger Entfernens zu erfassen erlaubt.

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Kunstwerks

Gewiß, indem wir hier den Begriff der "Nähe", in welcher eine ästhetische Konkretisation dem Werk gegenüber stehen kann, einführen, setzen wir uns einer Gefahr aus. Man kann sagen, daß wir da eine gewisse Beliebigkeit und Ungenauigkeit der ästhetischen Konkretisation zulassen oder rechtfertigen. Denn eben deswegen, weil sowohl die dem Werk sehr "nahen" als [auch] die "entfernteren" Konkretisationen vom Werk in gleichem Maß zugelassen werden, scheint es auf den ersten Blick, daß man im Aufbau des Kunstwerks selbst eigentlich keinen hinreichenden Grund dafür findet, die eine dieser Konkretisationen als die dem Werk "näher" liegende zu erklären, die anderen aber für weiter von ihm entfernt zu halten. Es ist dabei - wie es scheint - nicht ausgeschlossen, daß zwei verschiedene Konkretisationen desselben Werkes ihm gleich nahe stehen können. Es besteht da - wie es scheint - eine Sphäre der "Irrelevanz", 42 in deren Grenzen die Unterschiede zwischen den Konkretisationen desselben Werkes auf den Grad ihrer "Nähe" zu ihm keinen Einfluß haben. Ich möchte all dem nicht widersprechen. Im Gegenteil, ich weise eben daraufhin; man darf aber deswegen den Begriff der "Nähe" oder "Ferne" einer ästhetischen Konkretisation zum entsprechenden Kunstwerk nicht verwerfen. Man müßte nur - was hier noch nicht gemacht werden kann - weitere Betrachtungen darüber anstellen, welche Einzelheiten des literarischen Kunstwerks darüber entscheiden, daß manche Konkretisationen - so wertvoll sie auch sonst sein mögen - dem Werk keine "Gerechtigkeit" widerfahren lassen, und welche das Gegenteil bewirken. Eine große Rolle spielt hier, wie es scheint, vor allem die Frage, in welchem Maß die in der betreffenden Konkretisation gegebene Ausfüllung mit den übrigen Elementen und Momenten des Werkes selbst und auch mit den anderen Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen zusammenstimmt und dadurch der Konstituierung der Einheitlichkeit des Werkes (und der Konkretisation) hilft. Es gibt aber auch literarische Werke, die nicht aus Zufall oder aus Unfähigkeit des Dichters in dem oder

Dies ist ein Ausdruck von Waldemar Conrad, vgl. "Der ästhetische Gegenstand", Zeitschrift f . Ästhetik und allg. Kunstwissenschaft,

Bd. III [1908, S. 71-118] und IV [1909, S. 400-

455], Conrad verfügt aber nicht über eine Reihe von Begriffen, die hier und in meinem Buch Das literarische Kunstwerk eingeführt wurden. Seine Arbeit bildet nichtsdestoweniger den wichtigen Anfang der ontologischen Betrachtung des Kunstwerks, den man nicht vergessen soll.

§ 32. Erlebnis und Erforschen ästhetischer

Gegenstände

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jenem Maß uneinheitlich sind, sondern in welchen diese gewisse Uneinheitlichkeit ein besonderes künstlerisches Charakteristikum des Werkes bildet und ihrerseits zu besonderen (eben "beabsichtigten") ästhetischen Effekten führt. Die Rücksicht auf die Erhaltung der Einheitlichkeit des Werkes in der Konkretisation entscheidet also von selbst noch nicht darüber, daß sie dem Werk "näher" steht als eine andere, in welcher darauf nicht geachtet wird. Eine der ästhetischen Konkretisierung des Werkes vorangehende vorästhetische betrachtende Erkenntnis des Werkes kann den Leser über den Typus des Werkes in dieser Hinsicht belehren und ihm dann eine dementsprechende ästhetische Konkretisation bilden helfen, in welcher der Typus der Einheitlichkeit (bzw. Uneinheitlichkeit) des Werkes berücksichtigt und in der Konkretisation durch Wahl entsprechender Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen erhalten wird. Ceteris paribus kann dadurch eine größere Nähe der Konkretisation erzielt werden. Aber noch innerhalb der Grenzen des Typus der Einheitlichkeit des betreffenden Kunstwerks kann dieser Typus noch mit verschiedenen Mitteln erreicht werden. Das heißt, es kann noch eine verschiedene Auswahl von erfüllenden Qualitäten oder Motiven geben, welche denselben Typus der Zusammenstimmung mit den bestimmten und aktuellen Elementen des Werkes hervorbringen, aber doch nicht in demselben Maß dem Werk "nahe" stehen werden. Und da müßte man auf weitere Bedingungen hinweisen, von denen eine bestimmte "Nähe" der Konkretisation dem Werk gegenüber abhängen kann. Erst beim Übergang zu ganz konkreten Situationen könnte aber gezeigt werden, welche neuen Probleme und Schwierigkeiten bei den verschiedenen Versuchen, eine einem bestimmten literarischen Kunstwerk "nahe" ästhetische Konkretisation zu bilden, zutage treten. Dies läßt sich bei unseren ganz allgemeinen Erörterungen, die nur die Aufstellung der prinzipiellen Gesichtspunkte zum Ziel haben, unter denen das Verhältnis der Konkretisation zu ein und demselben Werk betrachtet werden soll, nicht erreichen. Es tauchen aber da zwei Schwierigkeiten auf, welche die Berechtigung der Einführung des Begriffes der größeren oder kleineren "Nähe", in welcher eine Konkretisation zu einem Werk steht, in Frage zu stellen scheinen. Die erste ergibt sich daraus, daß man nach der Einführung dieses Begriffes geneigt sein könnte, das Postulat aufzustellen, daß diejenige Konkretisation, welche der ästhetischen Erkenntnis des Kunstwerks dienen soll, dem Kunst-

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

werk gegenüber eine absolute Nähe erreichen, bzw. ihm "am nächsten" stehen soll. Die zweite Schwierigkeit erwächst aus der Frage, wie man denn darüber entscheiden soll, ob eine bestimmte ästhetische Konkretisation dem Werk "näher" als eine andere steht. Womit soll man sie vergleichen? Mit dem Werk selbst? Oder mit anderen Konkretisationen? Jede Konkretisation geht ja über das Werk selbst mit Notwendigkeit hinaus. Das Werk an sich ist eben in denjenigen Momenten, in welchen die Konkretisation über es hinausgeht, unbestimmt und kann - wie es scheint - kein bestimmtes Vorbild liefern, an dem die Nähe oder Ferne einer Konkretisation gemessen werden könnte. Es ist aber klar: Es gibt in diesem Fall keine absolute Nähe der Konkretisation dem Werk gegenüber. Denn das hieße, daß nur eine Konkretisation diese größte, "absolute" Nähe erreichen könnte, indem sie dem Werk selbst völlig angeglichen wäre. Sie kann dem Werk aber nur in denjenigen Momenten völlig angeglichen werden, in welchen sie Elemente und Momente einer dem Werk "getreuen" Rekonstruktion enthält. In allem aber, worin sie über diese Rekonstruktion hinausgeht 43 - und dies ist eben ihr Wesen und ihre Funktion - kann sie an nichts im Werk eindeutig Bestimmtes angeglichen werden, also die " absolute" Nähe erlangen, weil es diesen Prototyp im Werk eben nicht gibt. Darin, daß dies nicht möglich ist, besteht eben das Wesen des literarischen Kunstwerks als eines schematischen Gebildes mit verschiedenen bloß potentiellen und damit auch nicht eindeutig festgelegten und aktualisierten Momenten. Die Idee der absoluten Angleichung läßt sich gar nicht anwenden. Das entsprechende Postulat muß also fallengelassen werden. Man darf nur von einer relativ größeren oder kleineren "Nähe" oder "Entfernung" vom Werk sprechen. Damit wird aber die zweite Schwierigkeit nicht überwunden. Denn es besteht weiter die Frage, womit die dem Werk eventuell nur relativ "näheren" oder "ferneren" Konkretisationen verglichen werden sollen, wenn das literarische Kunstwerk selbst eben Unbestimmtheitsstellen und Potentialitäten enthält, und zwar nicht bloß in einer, sondern in seinen verschiedenen Schichten. Sollen etwa mehrere Konkretisationen desselben Werkes miteinander verglichen werden, damit man auf diesem Weg zur Beurteilung ihrer relativen Nähe

Abgesehen natürlich davon, was in ihr eventuell eine Explikation des im Werk eindeutig implicite Gesagten ist.

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kommt? Es wird aber kaum möglich sein, auf diesem Weg zu einem solchen Ergebnis zu kommen. Denn das, was man bei einem solchen Vergleich erreichen könnte, wäre wohl nichts anderes, als bloß dies, daß die eine Konkretisation einheitlicher als eine andere oder daß sie an ästhetisch wertvollen Qualitäten reicher als eine andere ist, daß sie einen bestimmten Stil in höherem Maß in sich zur Ausprägung bringt und dergleichen mehr. All dies betrifft aber nur die Verschiedenheiten und die Verwandtschaften zwischen den Konkretisationen selbst. Es sagt uns nichts über ihre Beziehung zum Werk selbst, solange man an ihm selbst nicht feststellt, daß es in einem bestimmten Sinn einheitlich oder uneinheitlich ist, daß es einen bestimmten Reichtum an ästhetisch wertvollen Qualitäten nicht bloß zuläßt, sondern auch eindeutig bestimmt, daß es Züge eines bestimmten Stils an sich trägt usw. So muß doch, wie es scheint, zum Werk selbst gegriffen werden, um in ihm den Grund dafür zu suchen, daß ihm eine bestimmte ästhetische Konkretisation näher als eine andere steht. Dann geraten wir aber in dieselbe Schwierigkeit, auf die bereits hingewiesen wurde. Denn es fragt sich, ob nicht alle diese in Betracht gezogenen charakteristischen Züge bereits über das Werk selbst hinausgehen und nur in seinen Konkretisationen zu suchen sind. Ist es aber wirklich wahr, daß diese Konfrontation einer Konkretisation mit dem Werk nicht durchgeführt werden kann, da es sich in ihr um eine Zusammenstellung gewisser Bestimmtheiten der Konkretisation mit der Leere der Unbestimmtheitsstellen handeln müßte? Aus der Tatsache, daß eine Unbestimmtheitsstelle einen bestimmten Umkreis von möglichen Ausfüllungen nur zuläßt, aber keine von ihnen eindeutig bestimmt, bzw. absolut fordert, darf - wie schon bemerkt wurde nicht geschlossen werden, daß alle diese Möglichkeiten gleichwertig,

gleich

wahrscheinlich sind. Zwar werden ja vom Werk keine Entscheidungen getroffen, es werden aber doch Suggestionen geliefert, daß aus den zugelassenen möglichen Ausfüllungen "wahrscheinlichere" und damit auch empfehlenswertere gewählt werden. Nehmen wir ein paar banale Beispiele: Wenn z.B. in einer Erzählung über die Schicksale eines sehr alten Herrn gesprochen, aber zugleich nicht gesagt wird, welcher Farbe seine Haare sind, so kann ihm in der Konkretisation prinzipiell jede beliebige Haarfarbe zugeschrieben werden, aber wahrscheinlicher ist es, daß er eben grauhaarig ist. Denn hätte er tiefschwarze Haare - trotz seines hohen Alters - so wäre es

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eben als etwas Bemerkenswertes, für den betreffenden alten, aber doch wenig gealterten Mann Wichtiges durch den Text festgelegt. So ist es, wenn dies aus irgendwelchen künstlerischen Gründen ratsam ist, wahrscheinlicher und empfehlenswerter, diesen Mann mit grauen Haaren zu konkretisieren, als ihm tiefschwarze Haare zuzuschreiben. Und eine derartige Weise der Konkretisierung dieser Einzelheit in der Konkretisation läßt sie dem Werk näher stehen als andere Konkretisationen, in welchen diese Angelegenheit anders gelöst würde. Und analog: wenn sich z.B. in einem Drama jemand unerwartet und auch unverschuldet in einer tragischen Situation befindet, und im Text nicht gesagt wird, welche Gefühlswelle in ihm die Einsicht, daß er sich eben in dieser Situation befindet, hervorgerufen hat - Furcht, Staunen, männliche Entschiedenheit, tapfere Ruhe und dergleichen mehr - dann ist es wahrscheinlicher, ihn in der Konkretisation in einem der eben genannten Gefühlszustände zu erfassen, als ihn sich im Zustand großer Freude oder lustigen inneren Lachens vorzustellen. Natürlich ist diese größere Wahrscheinlichkeit im Werk selbst vorbereitet, bzw. begründet, indem sich der betreffende Mann schon früher in verschiedenen Konflikten als ein Mann mit bestimmtem sittlichen oder psychologischen Charakter enthüllt hat. Dieser sein Charakter erlaubt dem Leser, eine bestimmte Verhaltensweise in der erwähnten tragischen Situation zu erwarten. Nicht alle inneren emotionalen Verhaltensweisen dieses Mannes bieten sich als gleich wahrscheinlich für die Ausfüllung der angegebenen Unbestimmtheitsstelle und damit auch als dem Werk gleich nahe an. Das literarische Kunstwerk ist auch in seinen aktuellen und eindeutig bestimmten Elementen und Momenten kein völlig inaktives Gebilde. Es birgt verschiedene Möglichkeiten einer Aktivität in sich, mit welcher es auf den Leser zu wirken vermag und ihn zur Gestaltung einer wenigstens vage bestimmten Konkretisation bewegt. Unter anderem sind im Werk selbst diejenigen Tatbestände enthalten, welche vom Leser nur - in der Rekonstruktion - beachtet und aktualisiert werden müssen, damit es in der ästhetischen Konkretisation zur Aktualisierung einer fest umgrenzten Mannigfaltigkeit ästhetisch relevanter Qualitäten kommt, Tatbestände, welche die künstlerischen Werte des betreffenden literarischen Kunstwerks bilden. Das Vorhandensein dieser künstlerischen Werte in entsprechender Auswahl weist auch darauf hin, daß gewisse ästhetisch relevante Qualitäten in der Konkretisation aktualisiert werden sollen. Eine besondere Aktivität der

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künstlerischen Werte bewegt den Leser, aus der Mannigfaltigkeit möglicher ästhetisch relevanter Qualitäten eine Anzahl besonderer Qualitäten zu wählen und sie zu aktualisieren. Die Erfassung des betreffenden Kunstwerks in der vorästhetischen betrachtenden Erkenntnis bezüglich der Art und der Auswahl der ihm immanenten künstlerischen Werte sowie deren Konfrontation mit den in einer bestimmten ästhetischen Konkretisation des Werkes aktualisierten ästhetisch relevanten Qualitäten kann uns darüber belehren, ob sie eben im Sinn der in dem gegebenen Werk enthaltenen künstlerischen Fähigkeiten aktualisiert wurden oder nicht. Ist dies der Fall, so erkennen wir daran, daß die betreffende Konkretisation dem Werk "näher" steht als eine andere Konkretisation, in welcher es nicht zur Aktualisierung solcher relevanten Qualitäten gekommen ist. Es ist somit gar nicht so aussichtslos zu entscheiden, ob und auf welche Weise eine bestimmte ästhetische Konkretisation dem Werk selbst nahe steht oder weit von ihm entfernt ist, obwohl sie vom Werk noch "zugelassen" wird. Der Begriff der "Nähe" einer Konkretisation zum Werk selbst ist in konkreten Situationen verwendbar und ermöglicht uns zu erkennen, daß nicht alle ästhetischen Konkretisationen eines Werkes in dieser Hinsicht gleichwertig sind. Daß dabei eine gewisse Vagheit oder Unschärfe bleibt, läßt sich nicht leugnen, aber diese Unschärfe ist kein Mangel der Begriffsbildung selbst, sondern ergibt sich notwendig aus der Wesensstruktur des literarischen Kunstwerks einerseits und der ihm zugehörigen ästhetischen Konkretisationen andererseits. Da aber die "Nähe" oder "Ferne" der Konkretisation zum Werk selbst zum Gehalt des Begriffs der "Gerechtigkeit" gehört, welche dem betreffenden Kunstwerk eine ästhetische Konkretisation widerfahren läßt, zeichnet sich auch dieser letzte Begriff durch eine gewisse Unschärfe aus, welche nicht erlaubt, strenge, eindeutig bestimmte Entscheidungskriterien aufzustellen, welche sozusagen das Maß bestimmten, in welchem eine ästhetische Konkretisation einem bestimmten Werk "gerecht" wird. Nichtsdestoweniger können angenäherte Kriterien aufgestellt werden, welche die Grenzen des "GerechtSeins" zu bestimmen erlauben. Und es ist jedenfalls nützlich, diesen Begriff einzuführen und ihn bei der Beurteilung der ästhetischen Konkretisationen zu verwenden. Er gibt uns den besonderen Aspekt an, unter dem die ästhetischen Konkretisationen erwogen werden können und auch erwogen werden sollen,

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

wenn sie als Ausgangspunkt zur ästhetischen Erkenntnis der ästhetischen Gegenstände dienen sollen. Was bedeutet endlich, daß das ästhetische Erlebnis, in welchem sich eine ästhetische Konkretisation eines bestimmten literarischen Kunstwerks konstituiert, "adäquat" ist? Es handelt sich um folgende Angelegenheit: Wenn wir bei der Konkretisierung eines bestimmten Werkes in ihren Anfangsstadien bereits eine bestimmte Richtung oder eine Weise der Konkretisierung durch eine bestimmte Auswahl der Ausfüllungen der Unbestimmtheitsstellen sowie der Aktualisierung der potentiellen Elemente des Werkes festgelegt haben, beginnen sich nicht nur gewisse, fest umgrenzte Möglichkeiten der weiteren Konkretisierung des Werkes abzuzeichnen, sondern es beginnt sich auch eine bestimmte Idee, oder besser, eine endgültige Gestalt der Konkretisation festzulegen. Diese endgültige, noch nicht aktualisierte Gestalt oder Idee stellt an uns gewisse Forderungen bezüglich der Gesetzmäßigkeiten, die befolgt, oder der Weisen, die in der weiteren Konkretisierung erhalten werden müssen (oder sollen), wenn es letzten Endes zur Konstituierung einer Konkretisation in dieser Gestalt kommen soll. Bei der bereits erwählten Weise der Konkretisierung schweben uns gewisse Weisungen vor, wie die betreffende Konkretisation sein sollte, wenn sie sich jener Idee oder Gestalt nähern, bzw. sie in sich wirklich verkörpern, sie zur Erscheinung bringen sollte. Die uns zunächst nur vorschwebende Idee läßt sich auch klar und scharf erfassen, sobald es nur gelungen ist, sie in der betreffenden Konkretisation zu verkörpern und auszuprägen. Das ästhetische Erlebnis ist also "adäquat", wenn es zur Konstituierung gerade einer solchen Konkretisation eines bestimmten Werkes führt, daß sie eine genaue Verkörperung ihrer sich andeutenden "Idee" ist. Es ist unzweifelhaft, daß dann das ästhetische Erlebnis durch die sich andeutende Idee bis zu einem gewissen Grade wenigstens geleitet wird. Und es kann dabei fraglich sein, ob es zugleich dem Werk selbst gerecht sein wird. Dies hängt unter anderem davon ab, inwiefern es dem Leser gelungen ist, diese Idee auf Grund einer partiellen Rekonstruktion des Werkes zu bilden und im Einklang mit seinem vorläufigen Verständnis zu gestalten. Das ästhetische Erlebnis ist indessen in niedrigerem oder höherem Grad inadäquat, wenn die sich in ihm konstituierende Konkretisation mehr oder weniger von der vorschwebenden Idee abweicht. Auf Grund vieler Erfahrungen, die wir beim ästhetischen Erlebnis literarischer Kunstwerke gewinnen,

§ 32. Erlebnis und Erforschen ästhetischer

Gegenstände

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wissen wir, wie oft wir mit einer Konkretisation, welche uns zu konstituieren gelungen ist, unzufrieden sind. Wir sind dann unzufrieden nicht mit dem Werk selbst und auch nicht mit den mehr oder weniger angenehmen Erlebnissen, die wir dabei gehabt haben, sondern ganz eindeutig mit der Konkretisation, mit dem Gebilde, bei dem wir angekommen sind. Wir fühlen mehr oder weniger deutlich, daß wir zu einer Konkretisation gelangen könnten, mit welcher wir ästhetisch zufrieden wären, wenn uns nur gewisse äußere Störungen oder unsere persönliche Unfähigkeit nicht daran gehindert hätten. Wir fühlen, daß die tatsächlich konstituierte Konkretisation uns besser befriedigte, wenn sie an die uns vorschwebende, noch nicht deutlich genug erfaßte "Idee" angepaßt wäre, sie genauer "erfüllen", "realisieren" würde. Manchmal bewirkt ein (zunächst) nicht recht beachteter und nicht richtig verstandener Satz des Textes, manchmal eine lebendigere Konkretisierung einer im Text paratgehaltenen Ansicht oder eine etwas anders durchgeführte Objektivierung der in einer Phase des Werkes dargestellten Gegenstände, daß eine bereits konstituierte Abweichung der Konkretisation von ihrer vorgefaßten Idee beseitigt wird. Dann stellt sie sich als eine genauere Anpassung an diese Idee dar und befriedigt die von ihr gestellten Forderungen dann besser. Dies bedeutet, daß das entsprechende ästhetische Erlebnis an Adäquation an die Idee gewonnen hat und daß die umgebildete Konkretisation für uns den Aspekt gewinnt, daß sie so ist, wie sie sein "sollte". Es bleibt aber dann die Frage offen, ob die den Leser befriedigende Konkretisation deswegen "besser" ist, weil sie dem betreffenden Kunstwerk in einem höheren Maß gerecht wird oder nur, weil sie höhere ästhetische Werte zur Erscheinung bringt oder endlich, weil sie uns nur besser zu sein scheint, da sie Werte konkretisiert, an deren Erscheinung uns mehr liegt. Die Adäquatheit spielt nur dann für das ästhetische Erlebnis als eine Vorbereitung zur ästhetischen Erkenntnis des konkretisierten literarischen Kunstwerks eine Rolle, wenn die im Verlauf seiner Entfaltung dem Erlebenden vorschwebende Idee der Konkretisation in seiner werkgetreuen Rekonstruktion begründet ist. Dabei ist noch sehr wichtig, daß diese vorschwebende Idee der Konkretisation nicht nur die Idee einer (aus diesen oder anderen Gründen gewählten) Konkretisation bildet, sondern daß es die Idee einer dem Werk gerechten und insbesondere ihm "nahen" Konkretisation ist. Erst dann spielt die Adäquatheit des Erlebnisses eine positive Rolle bei seiner erkenntniskritischen Betrachtung. Nichtsdes-

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

toweniger spielt das Bemühen des Lesers, eine solche Idee der Konkretisation möglichst früh und auch möglichst klar und deutlich zu erfassen, eine wichtige praktische Rolle bei der Weise, wie das ästhetische Erlebnis in seinen weiteren Phasen verläuft. Denn es vergrößert sich dann die Aussicht, daß es nicht dem bloßen Zufall überlassen wird. Die zuletzt angestellten Erwägungen eröffnen uns gewisse Perspektiven auf die Probleme der ästhetischen Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation literarischer Kunstwerke. Wir gehen jetzt dazu über.

§ 33. Einige erkenntniskritische Probleme der Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks Die jetzt zu besprechenden Fragen sind völlig neuer Art und ergeben sich aus einer Sachlage, welche von derjenigen bei der Erkenntnis der ästhetischen Gegenstände, z.B. in der Malerei, wesentlich verschieden ist, aber viele Punkte mit der Sachlage beim Erkennen der musikalischen ästhetischen Gegenstände gemeinsam hat. Dieses Gemeinsame liegt darin, daß eine ästhetische Konkretisation des Kunstwerks in diesen Fällen im Verlauf einer gewissen Zeitspanne zur Konstituierung gelangt und nach ihrer Konstituierung nicht als Ganzes aktuell verbleibt, sondern gewissermaßen vergeht und in die Vergangenheit versinkt. Um sie in der Aktualität wiederzuhaben, muß man das betreffende (literarische oder musikalische) Kunstwerk aufs neue in einem neuen in der Zeit ausgedehnten Erlebnis ästhetisch konstituieren, bzw. rekonstituieren, was nicht ohne gewisse Änderungen verlaufen kann. Anders ist dies bei Bildern und den in ihnen partiell fundierten ästhetischen Gegenständen. Denn nach der Konstituierung des betreffenden Bildes im ästhetischen Erlebnis auf Grund des gesehenen Gemäldes kann das ganze Bild in einer Gegenwart erfaßt und an Hand des weiterbestehenden und sich relativ wenig verändernden Gemäldes in den darauf folgenden neuen Gegenwarten aufs neue ästhetisch erlebt werden.

§ 33. Probleme der Erkenntnis der Konkretisation

451

Die Zeitstruktur und die Zeitlichkeit 44 des literarischen ästhetischen Gegenstandes hat zur Folge, daß besondere Probleme bei seiner Erkenntnis bestehen. Gewiß, dieser Gegenstand wird vermöge der perzeptiven Faktoren des ästhetischen Erlebnisses kennengelernt. Wenn dieses ursprüngliche Kennenlernen nicht vorhanden wäre, könnten wir vom literarischen ästhetischen Gegenstand überhaupt keine Erkenntnis gewinnen. Andererseits reicht aber diese Form des Kennenlemens für eine in Urteile zu fassende und damit intersubjektiv zugängliche Erkenntnis nicht aus. Diese letztere ist aber unentbehrlich, wenn wir eine Wissenschaft von den literarischen ästhetischen Gegenständen gewinnen wollen. Ist sie überhaupt möglich, und wenn, dann in welchem Sinn? Welche Folgen hat die Zeitstruktur dieser Gegenstände für ihr Erkennen? Wann soll sich dieses Erkennen vollziehen, während des Verlaufs des ästhetischen Erlebnisses, oder erst nach seinem Vollzug? Wenn es während dieses Verlaufs sein sollte, so führt dies - wie es scheint - zu einer doppelten Schwierigkeit. Erstens, weil der Gegenstand nicht in einer Gegenwart fertig konstituiert, sondern erst im Verlauf des ästhetischen Erlebnisses beim Aktualisieren immer neuer Phasen des Kunstwerks ausgebaut wird. Zwei Entwicklungen die des ästhetischen Erlebnisses selbst und die der Aktualisierung immer weiterer Phasen des Kunstwerks - treffen da zusammen. In den anfänglichen Phasen dieses "Doppelvorganges" hat der ästhetische Gegenstand noch nicht alle diejenigen Bestimmtheiten, die ihm im letzten Moment der Konstituierung zukommen. Denn seine Vollendung wird dadurch bedingt, daß er sich auf alle Phasen des literarischen Kunstwerks, die erst nacheinander zur Sicht kommen, stützt. 45 Wie steht es aber damit? Ist es so, daß die in den einzelnen

44

Das Wort "Zeitstmktur" will sagen, daß dieser Gegenstand in einem zeitlich ausgedehnten Vorgang konstituiert wird, weil er selbst Phasen hat und nicht auf einmal konstituiert werden kann. Die "Zeitlichkeit" dieses Gegenstandes dagegen weist darauf hin, daß er nach seiner Konstituierung mit dem Konstituierungsvorgang vergeht und nachher nur in der Wiedererinnerung zugänglich ist.

45

Man könnte die Auffassung vertreten, daß die ästhetische Konkretisation eines literarischen Kunstwerks durch dieses sozusagen sofort, auf einmal intentional bestimmt wird, da ja alle Teile des Werkes, sobald sie einmal niedergeschrieben wurden, existieren. Indessen läßt sich diese Auffassung nicht halten, weil keine ästhetische Konkretisation eines literarischen Kunstwerks durch dieses Werk allein intentional bestimmt wird, sondern erst einer Mitbestimmung durch den Leser bedarf, um in denjenigen Bestimmtheiten ergänzt zu werden.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

Phasen seiner Konstituierung und auf Grund der einzelnen Teile des literarischen Werkes konstituierten Züge seiner Bestimmung sich im Verlauf des ästhetischen Erlebnisses "summieren" und verharren, um als Grundlage für die sich später konstituierenden Bestimmtheiten des literarischen ästhetischen Gegenstandes zu dienen und am Schluß des ganzen Vorgangs mit ihnen zusammen ein vielseitig bestimmtes Ganzes zu bilden, das jetzt gewissermaßen darauf harrt, vom Betrachter in seiner Vollendung erfaßt zu werden? Oder ist es so, daß die bereits in einer Phase des Erlebnisses konstituierten Bestimmtheiten des ästhetischen Gegenstandes mit dem Moment ihrer Konstituierung vergehen und in den späteren Phasen nicht mehr aktuell sind und höchstens in der Wiedererinnerung auftauchen und an die jeweilig neue Gegenwart herangebracht werden? Daß da sowohl die Retention als auch das lebendige Gedächtnis ihre übrigens wandelbare Funktion ausüben, um die bereits nicht mehr selbst gegenwärtigen Bestimmtheiten (bzw. Teile) des sich konstituierenden ästhetischen Gegenstandes noch eine Weile in der Aktualität zu erhalten, steht außer Zweifel. Reicht dies aber aus, wenn es sich um längere literarische Werke handelt, z.B. um lange Romane, die man manchmal mehrere Wochen lang mit verschiedenen Unterbrechungen liest? Schon ein Drama von drei Akten, im Theater aufgeführt, bereitet da große Schwierigkeiten. Nur ganz kurze lyrische Gedichte können in einer Gegenwart enthalten sein. Soll man sagen, daß es sich bei den längeren Werken nicht um einen literarisch-ästhetischen Gegenstand, sondern um eine geordnete Mannigfaltigkeit von ihnen handelt, z.B. um drei verschiedene, den einzelnen Akten entsprechende, oder bei einem Roman um ebensoviele ästhetische Gegenstände, als er Kapitel hat? Ist es nicht die Kunst des Dichters, diese Kapitel so zu gestalten, daß jedes von ihnen zur Konstitution eines besonderen ästhetischen Gegenstandes führt? Ja, auch wenn es so wäre, müßten wir nicht am Schluß des Werkes, z.B. nach der letzten Szene im letzten Akt eines Dramas, nicht nur diesen im letzten Moment konstituierten ästhetischen Gegenstand, sondern auch die früher konstituierten Gegenstände irgendwie im Erfassungsfeld haben? Es muß ja doch irgendwie zu einer Synthese, zur Bildung eines

die den Unbestimmtheitsstellen des Werkes sowie seinen potentiellen Elementen entsprechen. Dann kann aber die Konstituierung des literarischen ästhetischen Gegenstandes nur in einem zeitlich ausgedehnten Vorgang vollzogen werden.

§ 33. Probleme der Erkenntnis der Konkretisation

453

das ganze Kunstwerk umfassenden ästhetischen Gegenstandes kommen. Es scheint, daß sich dies mindestens als Forderung aufdrängt. Es ist aber die Frage, ob und wie es möglich ist, dies zu erreichen. Klar ist zunächst zweierlei: 1. daß die Erreichung dieses Zieles nicht bei allen literarischen Kunstwerken möglich ist und daß es verschiedene Modi und Weisen gibt, in welchen es dazu kommt bzw. mit Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten des betreffenden Werkes kommen kann. Es hängt vom Aufbau und von verschiedenen Einzelheiten des Werkes und seiner Teile ab, ob sie die Grundlage zur Konstituierung eigener ästhetischer Ganzheiten und deren Werte schaffen, oder ob sie einen synthetischen Gesamtwert des einen ästhetischen Gegenstandes bestimmen. Darin kann es große Unterschiede zwischen den einzelnen literarischen Kunstwerken geben. Und zweitens ist es klar, daß der letzte, alles synthetisierende Erfassungsakt des auf diesem Weg zur Konstitution gelangenden ästhetischen Gegenstandes nicht in allen seinen Einzelheiten eine reine Erfahrung sein kann, sondern in hohem Maß mit Erinnerungen und auch mit reinen Denkakten des Verständnisses durchwoben werden muß. Je mehr dieser Akt reine Erfahrung, rein intuitive Erfassung ist, desto größer scheint das erkenntnismäßige Gewicht und die Bedeutsamkeit des in ihm erworbenen Ergebnisses zu sein. Und je mehr er sich auf Wiedererinnerungen und bloße Denkakte stützt, die sich auf die "früheren", den einzelnen Akten oder Kapiteln entsprechenden ästhetischen Gegenstände beziehen, desto mehr wächst die Gefahr einer Verfälschung und Mißdeutung des bereits nicht mehr Aktuellen. Und im Zusammenhang damit wächst auch die Gefahr einer schiefen synthetischen Erfassung des sich letzten Endes konstituierenden ästhetischen Gegenstandes. Man soll aber an diese zusammenfassende Operation keine höheren Forderungen stellen, als sie an die Erkenntnis aller sich in einem Vorgang konstituierenden Gegenständlichkeiten üblicherweise gestellt werden. Natürlich ist es immer möglich, die Erkenntnis eines literarischen ästhetischen Gegenstandes auf ein neues ästhetisches Erlebnis in einer neuen Lektüre zu stützen. Es ist aber nicht zu vergessen, daß wir uns dann im Grund auf eine andere ästhetische Konkretisation des betreffenden Werkes berufen, die in mancher Hinsicht von der früher gewonnenen abweichen kann. Und es ist dabei immer fraglich, ob und in welchem Maß es dem Betrachter überhaupt gelingt, von einem bereits bekannten literarischen Kunstwerk ein neues ergiebiges ästhetisches Erlebnis

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

zu erreichen, weil da wiederum gewisse subjektive Widerstände drohen können. Jedenfalls darf auch diese Möglichkeit nicht unversucht beiseitegelassen werden. Es erhebt sich aber noch eine andere Frage: Wie soll man während des Verlaufes des ästhetischen Erlebnisses forschende, betrachtende Erfassungsakte der sich konstituierenden ästhetischen Gegenstände vollziehen? Ist dies möglich? Sollen es neue, sozusagen auf der Grundlage des sich entfaltenden ästhetischen Erlebnisses aufgebaute Erkenntnisakte sein? Oder sollen lediglich die perzeptiven Faktoren des ästhetischen Erlebnisses nur bewußter, aktiver, erfassender sein, um das sich konstituierende Ästhetische zu packen? Wird das sich im Kontakt mit dem Kunstwerk entwickelnde ästhetische Erlebnis dadurch nicht gestört oder überhaupt unmöglich gemacht werden? Werden die sich frei entwickelnden (und in Freiheit zu entwickelnden) emotionalen Momente des ästhetischen Erlebnisses durch das Betrachten nicht gedämpft oder überhaupt ausgelöscht? Wird die sich entfaltende Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes nicht einfach unterbrochen, so daß dann die sich vollziehende Lektüre des Werkes weiterhin nur leerläuft, ohne die ästhetische Ursprungsemotion hervorrufen zu können? Soll man da nicht lieber darauf verzichten, während des ästhetischen Erlebnisses besondere, auf den ästhetischen Gegenstand gerichtete Erkenntnisakte zu vollziehen, und warten, bis alles zur Ruhe kommt und der ästhetische Gegenstand bereits fertig vorliegt? Soll man nicht lieber auf die intuitive Erfassung des ästhetischen Gegenstandes verzichten und sich dann nur der wachgerufenen Erinnerungen bedienen, als die Konstituierung dieses Gegenstandes zu stören oder sie überhaupt unmöglich zu machen? Denn wenn es da wirklich zu seiner Zerstörung kommen sollte, dann bliebe nichts mehr zu erkennen. Man darf aber in dieser schwierigen Lage nicht zu prinzipiell sein. Man muß im Gegenteil bereit sein, verschiedene Wege zu versuchen und nichts von vornherein auszuschließen. Denn das ästhetische Erlebnis kann in verschiedenen Formen verlaufen, vor allem weil es sehr mannigfach bestimmte literarische Kunstwerke gibt, die dem Erlebenden verschiedene Schwierigkeiten oder Erleichterungen des Erfassens bieten können. Auch die subjektiven Bedingungen des ästhetischen Erkennens sind je nach den Umständen und nach den Fähigkeiten des Erkennenden sehr verschieden. Es kann sein, daß das betreffende Werk den Leser wirklich so stark bewegt, daß er nicht

§ 33. Probleme der Erkenntnis der Konkretisation

455

mehr fähig ist, im ästhetischen Erleben noch Erkenntnisakte, die sich auf den konstituierten ästhetischen Gegenstand richteten, zu vollziehen. Es kann aber auch sein, daß gerade die Aktivität der Wirkung des Kunstwerks und andererseits auch die Aktivität der Emotion beim Leser die Fähigkeit der Erfassung der Eigentümlichkeiten des Gegenstandes verschärft. Er sieht dann alles klarer und differenzierter und bringt sich auch sofort zu Bewußtsein, wie dasjenige bestimmt ist, was ihn so bewegt und zur Bewunderung zwingt. Es kann auch sein, daß der Erlebende erst dann in die richtige Ursprungsemotion versetzt und zur aktiven Wertantwort vorbereitet wird, wenn er den sich konstituierenden ästhetischen Gegenstand tief genug verstanden hat und erst auf Grund dieses Verständnisses zur rein erkenntnismäßigen Erfassung übergeht, die ihm erst das emotionale Verkehren mit dem ästhetischen Gegenstand ermöglicht. Dabei ist im literarisch ästhetischen Erlebnis immer ein Kern intellektueller Verständnisakte vorhanden, da diese Akte für den Vollzug der Lektüre unentbehrlich sind. Die Situation ist also in diesem Fall für die Möglichkeit rein erkenntnismäßiger Akte, die sich auf den ästhetischen Gegenstand beziehen, viel günstiger als z.B. beim Anhören eines musikalischen Werkes, etwa romantischer Musik. Alle diese verschiedenen Modifikationen des ästhetischen Erlebnisses sind - wie gesagt - durch die Eigentümlichkeiten des Werkes selbst mitbedingt. So müßte die Frage, wie die Erkenntnisakte in den Verlauf des ästhetischen Gegenstandes eigentlich eingewoben sind und wie sie es für die Zwecke der Erkenntnis des ästhetischen Gegenstandes positiv oder negativ beeinflussen können, an verschiedenen einzelnen Fällen untersucht werden. Soweit wir aber die möglichen Situationen überblicken können, ist es wenig wahrscheinlich, daß der Vollzug der den literarisch ästhetischen Gegenstand erforschenden Erkenntnisakte im Verlauf des ästhetischen Erlebnisses prinzipiell unmöglich sein sollte, so schwierig es auch im einzelnen Fall sein mag und so unvollständige Ergebnisse diese Akte uns auch liefern mögen. Auch wenn *diese nachprüfbar, korrigierbar und auch falsifizierbar sein und zum weiteren und tieferen Erkennen des literarischen ästhetischen Gegenstandes alle besagten späteren Erkenntnisoperationen erfordern sollten, so haben sie letzteren doch einen unbezweifelbaren

Vorzug

voraus*,

nämlich

daß

sie

unmittelbare

Erfahrungsakte besonderer Art sind, die den Erkennenden in eine direkte anschauliche Beziehung zum Gegenstand bringen. Sie können erst den

456

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks

Ausgangspunkt und das Material für das weitere Verstehen und gedankliche Bearbeiten des Gegenstandes liefern. Die Akte, die sich auf den bereits konstituierten ästhetischen Gegenstand richten und nach dem Vollzug des ästhetischen Erlebnisses auf Grund gewisser Erinnerungsakte unternommen werden, sind in ihrer prinzipiellen Art von anderen Erkennensakten nicht wesentlich verschieden. Erkenntnisakte dagegen, welche in das ästhetische Erleben eingewoben sind und insbesondere die werthafte Seite des ästhetischen Gegenstandes sowie seine innere Struktur betreffen, scheinen ganz besonderer Art zu sein und in ihrer Erfassungskraft über die perzeptiven Faktoren eines jeden ästhetischen Erlebnisses weit hinauszugehen. Ihre eigentümliche Natur müßte noch untersucht werden. Hier kann nur gesagt werden, daß sie sich rapid vollziehende Erleuchtungen sind, Intuitionen eigener Art, die uns ermöglichen, eine gewisse Distanz von dem sich konstituierenden ästhetischen Gegenstand zu gewinnen, von der aus dieser Gegenstand erst in seiner Ganzheit, sowohl in seiner materialen werthaften Bestimmung als auch in seiner Struktur, in hellem Licht hervortritt. Sie stören den Verlauf des ästhetischen Erlebnisses nicht und werden im Gegenteil gerade durch dieses Erlebnis wachgerufen, da sie - obwohl sie spezifisch erkenntnismäßige Akte sind - doch aus der ästhetischen Emotion hervorwachsen, freilich nicht immer und auch nicht bei jedem Erlebenden. Und das intuitive Wissen, das sie uns verschaffen, ist so eindrucksvoll, daß das in ihm Erleuchtete für uns als ein dauerhafter Erwerb bleibt, an den wir in späteren Akten *einer dann schon rein intellektuell gearteten Überlegung* anknüpfen können. Es steht auch nicht in unserer Macht, diese besonderen Erleuchtungsakte beliebig hervorzurufen. Sie müssen eben durch das ästhetische Erleben vorbereitet werden; sie unterscheiden sich aber auch wesentlich von den perzeptiven Faktoren dieses Erlebens. Dieses Erleben ruft im Erlebenden eine Wandlung hervor - oder genauer gesagt, es kann diese Wandlung hervorrufen - , die ihm diese intuitiven Erleuchtungsakte zu haben 46 ermöglicht.

Vielleicht sind diese besonderen Erleuchtungen eben dasjenige, was einst Croce [Estetica come scienza dell'espressione

e linguistica generate, Bari 1928; auch "Aesthetics", in

Encyclopedia Britannica, 14th ed., vol. 1, Chicago 1938, S. 263-269] im Sinn hatte, als er von "Intuition" sprach, aber dann mit vielem anderen vermengte, was ihm nicht übel genommen werden kann. Es ist außerordentlich schwierig, diese Akte in ihrer Eigentümlichkeit zu erfassen, anderen Erkenntnisakten gegenüberzustellen und sie insbesondere

§ 33. Probleme der Erkenntnis der Konkretisation

457

Freilich sind damit die Schwierigkeiten und Bedenken, die sich uns da aufdrängen, noch gar nicht beseitigt. Die nächste Frage, die vor uns steht, ist mit der Zeitlichkeit des literarischen ästhetischen Gegenstandes verknüpft. Sobald er voll konstituiert *ist*, vergeht er. Daß es zu seiner Konstituierung und damit zu seiner Existenz kommt, ist eine einmalige historische Tatsache. Eine zweite, mit der ersten identische ästhetische Konkretisation eines literarischen Kunstwerks kann in derselben Aktualität nicht "realisiert" werden. 47 Es ist ganz so wie im Fall einer Theatervorstellung eines Dramas, die ein einmaliges historisches Geschehnis ist, das für das ganze Publikum und die Darsteller auf der Bühne ein sie alle vereinigendes historisches Ereignis ist, das eben deswegen auch nicht wiederholt werden kann; jede folgende Aufführung desselben Dramas ist ein neues Ereignis. Das, was die Zuschauer von dieser einzigen wertvollen Wirklichkeit retten können, verdanken sie der Aktivität des ästhetischen Erlebnisses und der in es verwobenen intuitiven Erkenntnisakte. Nur durch Rückerinnerung und durch eine Versenkung in das lebhafte Nachsinnen und Nachverstehen der vergangenen ästhetischen "Wirklichkeit" können wir ein ergänzendes Erkennen dieses einmaligen ästhetischen Gegenstandes erwerben. Mit dieser Zeitlichkeit und Historizität des literarischen ästhetischen Gegenstandes hängt auch notwendig zusammen, daß er sich durch eine schlechthinnige Individualität auszeichnet, und zwar nicht bloß eine Individualität der Seinsweise, sondern auch eine Individualität in der vollen materialen Bestimmung. Er ist in dieser Individualität im strengen Sinn nicht wiederholbar; erstens deswegen, weil seine Vollbestimmung von einer Konfiguration so vieler voneinander unabhängiger Bedingungen abhängig ist, die in dieser Konfiguration nicht wiederkehren können. Auch diese Bedingungen

auch von den perzeptiven Faktoren des schlichten ästhetischen Erlebnisses zu unterscheiden. Das hier Gesagte bildet nur einen ersten, sehr unbefriedigenden Anfang. Das Anführungszeichen wird hier gesetzt, weil von einer echten Realisierung in dem Sinn, daß dem Gegenstand ein seinsautonomes Sein verliehen wird, hier nicht gesprochen werden darf. Aber man kann von "Realisieren" im Sinn des Eifiillens

einer Möglichkeit, des

Verwandeins dessen, was zunächst nur in einer Potentialität steht, in einer dem Wesen der betreffenden Gegenständlichkeit zugänglichen Seinsweise - in unserem Fall des in Bewußtseinsakten konstituierten seinsheteronomen, rein intentionalen Gegenstandes - sprechen.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

sind in die historische Zeit eingetaucht und tragen das Stigma des historischen Moments an sich. Es kommt also zuerst darauf an, daß es mindestens wenig wahrscheinlich ist, daß dieselbe Mannigfaltigkeit von verschiedenen voneinander unabhängigen Bedingungen wieder zusammentreffen könnte (das schlechthin Identische, das da in zwei verschiedenen Zeitphasen bewahrt ist, das ist das Kunstwerk in seiner schematischen Struktur selbst). Denn auch der Betrachter, so sehr ér noch eine Zeitlang identischer Mensch bleibt, wird doch im Lauf der Zeit in seiner qualitativen Bestimmung oft stark verändert. Eine sehr bedeutende Rolle spielt hier der Umstand, daß an der Vollbestimmung der ästhetischen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks eben das Zeitquale - das Quale der historischen, konkreten Zeit, in welcher sie sich konstituiert - notwendig beteiligt ist und den vollen Gehalt des ästhetischen Gegenstandes mitbestimmt und über seine strenge qualitative Individualität entscheidet. Diese Individualität ist somit streng einmalig, sie kann zwar in unmittelbarem Erleben erfaßt werden, es ist aber unmöglich, sie begrifflich zu fassen und den anderen sprachlich mitzuteilen. Wenn jemand anderer dasselbe Kunstwerk unter annähernd denselben äußeren Bedingungen ästhetisch erlebte, so ist kaum zu vermuten, daß er genau die gleiche ästhetische Konkretisation mit demselben individuellen zeitlichen Quale aktualisieren könnte. In seiner konkret erlebten Zeit können die Zeitphasen eine andere qualitative Bestimmung an sich tragen und in der Folge auch der von ihm realisierten Konkretisation ein anderes zeitliches Gepräge geben. In dieser Hinsicht sind zwei in derselben intersubjektiven Zeitphase entstehende literarische ästhetische Gegenstände einander nicht anzugleichen. Wenn wir uns also mit anderen über den Gehalt des von uns konstituierten ästhetischen Gegenstandes verständigen wollen, so müssen wir versuchen, ihn ungeachtet des zeitlichen Quale zu fassen. Dies ist insofern möglich, als wir selbst mehrere von uns zu verschiedenen Zeiten konstituierte ästhetische Konkretisationen desselben literarischen Kunstwerks miteinander vergleichen können und an ihnen das Konstante, das trotz des anderen Zeitquales bleibt, herauszuschälen vermögen. Natürlich ist dann das, was wir auf diesem Weg erhalten, nicht mehr so streng individuell. Es ist der gemeinsame Aspekt mehrerer Konkretisationen, vorausgesetzt, daß es uns gelungen ist, sie alle auf die gleiche Weise zu konstituieren, was natürlich nicht leicht ist. Dieser Vergleich geschieht meistens

§ 33. Gestalthaftigkeit des ästhetischen

Gegenstandes

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unter der wesentlichen Mithilfe der Erinnerungsakte, was natürlich verschiedene Täuschungs- und Fehlergefahren mit sich bringt. Eine andere wesentliche Schwierigkeit beim Erkennen einer ästhetischen Konkretisation hängt mit der Frage zusammen, inwiefern ein solcher ästhetischer Gegenstand in seiner materialen Vollbestimmung eine Gestalt ist und inwiefern auch sein letztlich resultierender ästhetischer Wert in seiner qualitativen Bestimmung eine Gestalt hat, die in einer besonderen Mannigfaltigkeit innig zusammenhängender ästhetisch wertvoller Qualitäten gründet und mit ihnen in "harmonischer Einheit" 48 verbunden ist. Unter den Ästhetikern der Gegenwart herrscht die Tendenz vor, allen ästhetischen Gegenständen eine solche innere Einheit und Gestalthaftigkeit ihrer individuellen Natur vorzuschreiben. Es gibt aber in dieser Hinsicht - wie es scheint - noch verschiedene Möglichkeiten. Es scheint, daß es einerseits solche ästhetische Gegenstände gibt (besonders in der plastischen Kunst), deren innerer Zusammenhang aller qualitativen Bestimmtheiten, und insbesondere der ästhetisch wertvollen Qualitäten, so innig und streng ist, daß an ihrer Mannigfaltigkeit und Anordnung nichts geändert werden darf, ohne daß es zu einer wesentlichen Wandlung des resultierenden Gesamtwertes oder sogar zu einer Zerstörung des Gegenstandes selbst kommt. Andererseits scheinen auch ästhetische Gegenstände möglich zu sein, in welchen eine gewisse Wandelbarkeit der den Gesamtwert begründenden ästhetisch wertvollen Qualitäten zugelassen wird. Welche besonderen Möglichkeiten da vorliegen, kann nur an einzelnen literarischen Kunstwerken bzw. ihren ästhetischen Konkretisationen untersucht werden. Diese verschiedenen Möglichkeiten einer gewissen Lockerung im inneren qualitativen Aufbau ästhetischer Gegenstände sind aber für uns, die wir die Möglichkeiten einer betrachtenden Erkenntnis ästhetischer Konkretisationen literarischer Kunstwerke erwägen, von besonderer Wichtigkeit. Denn der literarische ästhetische Gegenstand ist - wie bereits festgestellt wurde - nicht sofort, auf einmal "fertig", voll konstituiert, sondern wird in einer Kontinuität von Phasen konstituiert oder besteht aus einer Mannigfaltigkeit ästhetischer Gegenstände, die dann erst noch zusammengefaßt werden, bzw. werden müssen, damit sich ein Gesamtwert des Ganzen konstituieren kann. In beiden Fällen scheint die Sachlage, auf die es uns ankommt, dieselbe zu sein.

48

Vgl. dazu den Streit um die Existenz der Welt, Bd. II/l, S. 48 ff.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

Sie ist im Grund ontologisch, führt aber in unserem Zusammenhang zu besonderen erkenntnistheoretischen Problemen. Diese Sachlage ist die Beziehung zwischen einer Mannigfaltigkeit ästhetisch wertvoller Qualitäten und dem in ihnen gründenden Wert. In einer bestimmten Mannigfaltigkeit und inneren Verbundenheit untereinander bilden sie den Grund, d.h. die hinreichende Bedingung des Auftretens und Erscheinens eines ästhetischen Wertes, der seinerseits durch eine Wertqualität bestimmt ist. Diese Qualität wird durch die betreffende Mannigfaltigkeit der wertvollen Qualitäten eindeutig bestimmt. In ihr finden sie ihren Zusammenklang und zugleich ihren Ausklang. Je nach dem Fall aber ist ihre geordnete Mannigfaltigkeit zugleich die unentbehrliche Bedingung des Wertes, oder sie ist es nicht und kann durch eine andere, ebenfalls entsprechend gewählte und geordnete Mannigfaltigkeit wertvoller Qualitäten ersetzt werden und die hinreichende Bedingung des Auftretens desselben, bzw. des gleichen Wertes bilden. Solange aber diese Mannigfaltigkeit noch nicht komplett ist, kommt es zum Auftreten und Erscheinen des betreffenden Wertes nicht. Dasselbe erkenntnistheoretisch gewendet: Solange nicht alle zu einer solchen Mannigfaltigkeit der ästhetisch wertvollen Qualitäten gehörenden Qualitäten im ästhetischen Erlebnis zur Erscheinung gekommen sind, kann der betreffende Wert ebenfalls nicht erscheinen, es sei denn, diese Qualitäten würden durch eine andere Mannigfaltigkeit solcher Qualitäten ersetzt, die für das Auftreten und Erscheinen des betreffenden Wertes hinreichend ist. Kann es aber so sein, daß sich diese ästhetisch wertvollen Qualitäten nur einzeln und nacheinander in den aufeinanderfolgenden Teilen des literarischen Werkes zeigen und daß sie sich sozusagen ansammeln, also sich im ästhetischen Erlebnis in vielen aufeinanderfolgenden Phasen erscheinungsmäßig erhalten, um endlich in ihrer Gesamtheit aufzutreten und damit auch die Erscheinung des durch sie fundierten Wertes zu erzwingen? Dies wäre eine relativ günstige Situation, die wir beim Erkennen der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks erwarten können. Am günstigsten wäre es natürlich, wenn alle einen bestimmten Wert begründenden ästhetisch wertvollen Qualitäten in der Konkretisation eines literarischen Kunstwerks zugleich zur Erscheinung kämen. Denn dann würde sich der Wert ohne weiteres einstellen. Es ist aber wenig wahrscheinlich, daß es zu diesem günstigsten Fall kommt, wenn dieser Wert eben der Gesamtwert des ästhetisch konkretisierten Werkes sein soll. Wenn

§ 33. Gestalthaftigkeit des ästhetischen

Gegenstandes

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aber die entsprechenden ästhetisch wertvollen Qualitäten nicht bloß der Reihe nach erschienen, sondern zugleich sofort aus dem Erscheinungsfeld verschwänden, dann wäre ihr Erscheinen sozusagen erfolglos, und zwar auch dann, wenn ihre Gesamtheit bei ihrem gleichzeitigen Erscheinen für die Konstituierung des Wertes hinreichend wäre. Reichte dann das Behalten dieser Qualitäten in lebhafter Erinnerung oder auch im bloßen gedanklichen Meinen aus, um den betreffenden Wert zur erscheinungsmäßigen Konkretisation oder wenigstens zum verständnisvollen Erfassen zu bringen? Leider können wir hier momentan nicht allgemein sagen, welcher von diesen Fällen eintreten kann. Und zwar können wir es nicht bloß deswegen nicht tun, weil diese Situation sich bei einzelnen Werken anders gestalten kann und es somit nicht möglich ist, dieses Problem ganz allgemein zu betrachten. Viel wichtiger und unsere Erwägung erschwerender ist die Tatsache, daß wir uns hier auf theoretisch wenig erforschtem Gelände bewegen. Sowohl die ästhetischen Werte selbst in ihrer mannigfachen qualitativen Bestimmtheit als auch - und vor allem - ihre Fundierung in ästhetisch wertvollen Qualitäten und letzten Endes in gewissen wertneutralen Eigenheiten des (literarischen) Kunstwerks sind im allgemeinen fast ganz unerforscht geblieben. Man hat bis jetzt ein viel größeres Bemühen auf die negative Wühlarbeit gelegt, um die Existenz der ästhetischen Werte und die Tatsache, daß sie dem konkretisierten Kunstwerk zukommen, zu untergraben und bloß immerfort von ihrer "Relativität" und "Subjektivität" zu sprechen, als auf die Aufgabe, sie selbst ins Auge zu fassen und ihre qualitative Bestimmtheit zu klären, und zu entdecken, was das hinreichende Fundament ihres Bestehens und auch ihres Erscheinens ist. Die Spezifität dieser Werte wurde bis jetzt nur in einem sehr bescheidenem Maß aufgedeckt, und ebensowenig wissen wir über die einzelnen ästhetisch wertvollen Qualitäten und über die Seinszusammenhänge, die zwischen ihnen bestehen. 49 Es ist aber zu erwarten, daß sich

4Q In meinem Voitrag auf dem V. Internationalen Kongreß der Ästhetik in Amsterdam 1964 u.d.T. "Über das System der ästhetisch wertvollen Qualitäten" habe ich versucht, die ersten Schritte in dieser Richtung zu tun. Leider sind die Akten dieses Kongresses bis heute, drei Jahre nach dem Kongreß, noch nicht erschienen. In polnischer Sprache habe ich den Vortrag in meinem Buch Przezycie-dzielo-wartosc

(Erlebnis-Werk-Wert) vor einem Jahr

publiziert. Ich hoffe, daß dieses Buch bald auch in deutscher Sprache erscheinen wird

462

V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

nicht nur eine Zusammenstellung und Klärung der wichtigsten ästhetisch wertvollen Qualitäten durchführen lassen wird, sondern daß es auch gelingen wird zu zeigen, daß sie in entsprechend gewählten Mannigfaltigkeiten in einem Kunstwerk zusammen auftreten können und in manchen Fällen auch müssen, und daß endlich ihr Auftreten in bestimmten Mannigfaltigkeiten einen bestimmten ästhetischen Wert in demselben ästhetischen Gegenstand nach sich ziehen muß. Das Studium des Aufbaus verschiedener ästhetischer Gegenstände ist nicht bloß deswegen von Interesse, weil man auf diesem Weg die wesentliche Leistung der Kunstwerke (bei ihrer entsprechenden Erfassung) erkennen kann, sondern vor allem deswegen, weil dadurch auf das schwierige Problem der gegenständlichen Fundierung der ästhetischen Werte in den ästhetisch wertvollen Qualitäten und letzten Endes in gewissen künstlerischen Werten des Kunstwerks ein helleres Licht fallen wird. Beim Erkennen der ästhetischen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks handelt es sich vor allem darum zu entdecken, welcher ästhetische Wert in ihr konstituiert ist und erscheint. Aber nicht das ist die Hauptsache dieses Erkennens. Dies ist im Grund nur eine erfahrungsmäßige Vorbereitung der eigentlichen Aufgabe, die uns da erwartet. Sie besteht in dem auf Anschauung gegründeten Verstehen der Art des Seinszusammenhanges zwischen den in der betreffenden Konkretisation erscheinenden ästhetisch wertvollen Qualitäten, ob sie nämlich in ihr nur tatsächlich zusammen auftreten, eventuell ob sie miteinander verbunden und auf eine merkwürdige Weise verschmolzen sind, ohne indessen ihre spezifische Andersheit dadurch verloren zu haben, oder ob sie auch zusammen auftreten müssen. Und zweitens handelt es sich um das Verstehen der Weise des Seinszusammenhanges zwischen ihrer Mannigfaltigkeit und dem gegebenenfalls erscheinenden qualitativ eigenartig bestimmten ästhetischen Wert. Dieses Verstehen belehrt uns erst über die Struktur des betreffenden literarischen ästhetischen Gegenstandes; die "Struktur" - das ist eben die Art des Seinszusammenhanges zwischen den genannten werthaften Momenten dieses Gegenstandes. Ihr Verstehen kann nicht ohne das Mithaben der qualitativen Momente, die in diesem

[überarbeitete Fassung des Vortrage u.d.T. "Problem des Systems der ästhetisch relevanten Qualitäten", in R. lngarden, Erlebnis, Kunstwerk und Wert, Tübingen 1969, S. 181—218].

J 33. Gestalthaftigkeit des ästhetischen

Gegenstandes

463

Zusammenhang stehen, erreicht werden. Es ist also keine rein formale, sondern eben eine in der Materie des Gegenstandes fundierte formale Einsicht. Es ist auch kein rein intuitiver, sondern ein ausgesprochen intellektueller Akt. Er weist die gegebenenfalls bestehende Notwendigkeit des inneren Aufbaus des betrachteten ästhetischen Gegenstandes oder - im Gegenteil - den Mangel einer solchen Notwendigkeit auf, also seine mehr oder weniger weitgehende Zufälligkeit. Insbesondere kann er in dem Verständnis bestehen, daß der Wert zwar erscheint, aber in den vorhandenen ästhetisch wertvollen Qualitäten nicht genügend fundiert ist, sein Erscheinen also einen außerhalb des betreffenden ästhetischen Gegenstandes liegenden Grund haben muß, wodurch seine Objektivität mindestens in Frage gestellt wird. Es ist beim Erkennen einer ästhetischen Konkretisation weiterhin zu klären, inwiefern die an ihm erscheinenden ästhetisch wertvollen Qualitäten in den künstlerischen Werten des betreffenden Kunstwerks selbst ihren Fundierungsgrund haben oder aus Momenten notwendig entspringen, welche vom Leser als Ausfüllung gewisser Unbestimmtheitsstellen im Einklang mit dem Werk entworfen werden. Auf diese Weise gewinnt man Einsicht in den notwendigen oder auch nicht-notwendigen Aufbau des untersuchten literarischen ästhetischen Gegenstandes bis in seine letzten Fundamente im Kunstwerk selbst. Der Erweis der Notwendigkeit der Seinszusammenhänge zwischen allen hier in Betracht kommenden Momenten enthüllt ein neues spezifisches Wertmoment im ästhetischen Gegenstand, nämlich die Wertigkeit der notwendigen, in der Eigenheit der materialen Momente fundierten formalen Einheit desselben. Das ist sozusagen das Optimum, das auf dem Gebiet der ästhetischen Gegenstände erreicht werden kann. Aber wohlgemerkt, diese Einheit ist nur eine formale Krönung der material bestimmten Werte, die an einem ästhetischen Gegenstand erscheinen. 50 Der ästhetische Gegenstand ist

Ich sage nicht, daß dieses Optimum auch in jeder kulturellen Epoche am meisten geschätzt wird bzw. am meisten gefällt. Es gibt im Gegenteil Epochen - in einer solchen leben wir gegenwärtig - in welchen die notwendige Einheit des ästhetischen Gegenstandes gar nicht geschätzt wird, sondern eben Weite bzw. ästhetische Werte gefallen, die sich in einem merkwürdigen Zustand des Zerfalls, des "Verlustes der Mitte", wie das einst H[ans] Sedlmayr [Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Salzburg 1950] gesagt hat, befinden. Da sieht man am besten, wie der ästhetische, im Kunstwerk letztlich fundierte Wert von dem, was gefällt oder geschätzt wird, unterschieden werden muß.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

dann eine "Realisierung" des Gehaltes einer besonderen Idee, der vom Künstler irgendwie erschaut werden mußte. Der Künstler mußte aber außerdem die Mittel zur "Realisierung" dieses Gehaltes erfinden, das heißt, das entsprechende Kunstwerk erschaffen. Denn wohlgemerkt, diese Idee ist nicht die Idee des betreffenden Kunstwerks, sondern nur des eigentümlichen Seinszusammenhanges zwischen der betreffenden Wertqualität und der mit ihr in harmonischer Einheit zusammenbestehenden Mannigfaltigkeit der ästhetisch wertvollen Qualitäten. Natürlich erheben sich hier sofort viele skeptische Bedenken und vor allem die Frage, wie man diese verschiedenen notwendigen Seinszusammenhänge im Innern des ästhetischen Gegenstandes entdecken und in ihrer Notwendigkeit einsehen kann. Man wird auch von verschiedener Seite einwenden, es gäbe gar keine derartigen Zusammenhänge und wir hätten auch keine Erkenntnismittel, sie zu entdecken. Alles, was hier festzustellen wäre, wären lediglich gewisse tatsächliche Bestände an zusammen auftretenden Momenten. Nun, auf eine prinzipielle Diskussion mit den positivistisch eingestellten Empiristen müssen wir hier verzichten.51 Auf ein Moment möchten wir hier indessen hinweisen. Die Erfassung des Bestehens oder Nichtbestehens der notwendigen Seinszusammenhänge zwischen manchen ästhetisch wertvollen Qualitäten und den ästhetischen Werten kann uns dadurch erleichtert werden, daß es möglich ist, verschiedene Konkretisationen desselben literarischen Kunstwerks zu erlangen. Und in diesen Wandlungen, die sich beim Übergang von einer Konkretisation zu einer anderen feststellen lassen, sieht man auch, wie sich z.B. die Zusammensetzung der in einer Konkretisation auftretenden ästhetisch wertvollen Qualitäten ändert und welche Folgen dies für die Konstituierung z.B. des werthaften qualitativen Zusammenklanges bzw. für das Erscheinen eines ästhetischen Wertes hat. Andererseits sieht man, was bei allen Abänderungen der Mannigfaltigkeit der ästhetisch wertvollen Qualitäten doch unwandelbar bleibt. So kann man gewissermaßen experimentell aus dem Gesamtbestand der einzelnen Konkretisationen die notwendigen Seins5

'

Sie wurde übrigens schon einmal von Edmund Husserl und seinen Mitarbeitern durchgeführt, und es besteht keine Notwendigkeit, sie hier noch einmal zu wiederholen. [Anspielung auf Husserls "Göttinger Epoche" 1900-1913; vgl. H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement: a Historical Introduction, The Hague/Boston 1984.]

# 33. Gestalthaftigkeit des ästhetischen

Gegenstandes

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zusammenhänge unselbständiger qualitativer Momente herausarbeiten. Und man kann auch erfahren, wie eine Wandlung in der Gesamtheit der ästhetisch relevanten Qualitäten den schon erscheinenden Wert zum Verschwinden bringt oder zu einer wesentlichen Änderung der Wertqualität führt. Gerade diese Erfahrungen helfen uns, uns darüber zu orientieren, wo wir es mit einem notwendigen Seinszusammenhang und wo nur mit einem losen gemeinsamen Auftreten innerhalb des Gehalts des ästhetischen Gegenstandes zu tun haben. Natürlich soll man an der hier bestehenden Gefahr einer zu weit getriebenen Rationalisierung des Aufbaus der ästhetischen Gegenstände nicht achtlos vorübergehen. Eine große Bedeutung beim Erkennen der ästhetischen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks hat das Bestreben, die ästhetisch relevanten Qualitäten möglichst erschöpfend zu erfassen, während beim ursprünglichen ästhetischen Erleben gewöhnlich der ästhetische Wert in den Vordergrund tritt, die ihn fundierenden Qualitäten dagegen nur nebenbei erlebt werden und nicht zu einer bewußten Erfassung durch den Erlebenden gelangen. Dies ist gerade beim ästhetischen Erkennen der Konkretisation in dem Sinn zu ändern, daß auch die werthafte qualitative Fundierung des Wertes klar und bewußt erfaßt wird. Die Nichtbeachtung irgendeiner dieser Qualitäten kann dazu führen, daß der entsprechende Wert entweder überhaupt nicht erscheint, so daß er dann dem ästhetischen Gegenstand überhaupt abgesprochen wird, oder daß er doch zur Erscheinung kommt, aber in einer empfindlich geänderten qualitativen Bestimmung. Von dem Grad und der Weise der Vollkommenheit des ästhetischen Erkennens der ästhetischen Konkretisation hängt also nicht bloß die Genauigkeit, sondern auch die Objektivität der in ihm erzielten Ergebnisse ab. Die Erkenntnis ist hier natürlich vor allem vom Verlauf des ästhetischen Erlebnisses und somit von der Gestalt der ästhetischen Konkretisation des Werkes abhängig; sie beschäftigt sich sozusagen mit dem Material, das ihm dieses Erlebnis zur Verfügung gestellt hat, und die Objektivität der in ihr gewonnenen Ergebnisse bezieht sich auf das vom Erlebnis gelieferte Material. Durch die Versuche, die Konkretisation zu erkennen, kann aber auch der Verlauf des ästhetischen Erlebnisses beeinflußt und sozusagen auf die richtige Bahn gelenkt werden. Wenn wir aber das gelieferte ästhetische Objekt auf das literarische Kunstwerk selbst beziehen wollen, dessen Konkretisierung es ist, dann müssen wir auf die kritischen

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

Probleme zurückgreifen, auf die wir schon früher eingegangen sind. Es muß hier nur unterstrichen werden, daß die Bewertung der ästhetischen Konkretisation von der Bewertung des Kunstwerks selbst völlig verschieden ist. Das wären also einige allgemeine erkenntniskritische Probleme beim Erkennen der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks. Speziellere Probleme eröffnen sich erst, wenn man an das Erkennen einzelner Konkretisationen der einzelnen verschiedenen Werke herantritt und da auf besondere Schwierigkeiten stößt, die das betreffende Kunstwerk dem Erkennenden bietet. Darauf können wir aber hier nicht mehr eingehen. Zur Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation eines literarischen Kunstwerks gehört aber nicht bloß das unmittelbare anschauliche Erfassen derselben, sondern auch die Fassung der gewonnenen Ergebnisse in eine Mannigfaltigkeit der Urteile und der entsprechenden Begriffe. Die Möglichkeit einer Literaturwissenschaft, welche sich zur Aufgabe auch das Studium der ästhetischen Konkretisationen stellen wollte, hängt davon ab, inwiefern diese Fassung in Urteile und Begriffe gelingen kann. Nur auf einige damit zusammenhängende erkenntniskritische Probleme möchte ich hier noch kurz eingehen. Das erste Problem bezieht sich auf die intersubjektive Verifikation dieser Urteile. Die ästhetische Konkretisation eines literarischen Kunstwerks ist ein individueller Gegenstand. Über denselben fällt man eine Reihe berichtender Urteile und Beurteilungen (Bewertungen). Dies führt zur folgenden Überlegung: Die individuellen Gegenstände kann man entweder hinsichtlich ihrer sog. "gemeinsamen" Eigenschaften, d.h. solcher, die vielen oder auch allen Individuen derselben Art zukommen, oder hinsichtlich ihrer "individuellen" Eigenschaften erkennen, d.h. derjenigen, die nur dem betreffenden Gegenstand zukommen. Dies betrifft auch die ästhetischen Konkretisationen von Kunstwerken. Es fragt sich nur, worauf sich in ihnen die Urteile beziehen, die den ästhetischen Wert der Konkretisation in seinem tatsächlichen Bestehen und in seiner qualitativen Bestimmung betreffen. Andererseits lassen sich alle individuellen Gegenstände in zwei Klassen einteilen: a) in diejenigen, die ihrem Wesen nach als dieselben von vielen entsprechend befähigten Erkenntnissubjekten unmittelbar erkannt werden können, und b) diejenigen, die dem unmittelbaren Erkennen eines und nur eines Erkenntnissubjekts zugänglich

§ 33. Literaturwissenschaft

und ästhetische

Konkretisationen

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sind. Beispiel ad a) irgendwelche physische Dinge und Vorgänge, ad b) alle Bewußtseinserlebnisse. Die Gegenständlichkeiten der ersten Gruppe nennt man "intersubjektiv", die der zweiten Gruppe "monosubjektiv". Urteile, die sich auf intersubjektive Gegenständlichkeiten beziehen, lassen sich hinsichtlich ihrer Wahrheit entweder direkt durch Berufung auf eine entsprechende unmittelbare Erkenntnis, die durch mehrere Subjekte vollzogen werden kann, "bewahrheiten" oder auch mittelbar durch Zurückfiihrung mittels logischer Operationen auf Urteile, die unmittelbar geprüft werden können. Auch diese Zurückführung kann von mehreren Personen vollzogen werden. Es spielt dabei keine Rolle, ob diese Urteile den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, gemeinsame oder individuelle Eigenschaften zuschreiben. Diese letzte Hinsicht spielt dagegen eine wesentliche Rolle bei monosubjektiven Gegenständlichkeiten. Schreibt ein allgemeines Urteil allen monosubjektiven Gegenständlichkeiten einer Art eine gemeinsame Eigenschaft zu, so kann jeder, dem ein Gegenstand dieser Art gegeben wird, selbst nachprüfen, ob dieses Urteil wahr ist. Infolgedessen können auch Individualurteile, welche einem monosubjektiven Gegenstand eine gemeinsame Eigenschaft zuschreiben, in eigener Erfahrung derjenigen Subjekte nachgeprüft werden, denen ein anderer Gegenstand dieser Art gegeben wird. Dies ist also eine auf Umwegen an einem anderen Gegenstand gewonnene Nachprüfung. Wenn diese Eigenschaft von irgend jemandem in seiner eigenen Erfahrung nicht gefunden wird, so wird damit nur entschieden, daß sie nicht generell ist, es bleibt aber offen, ob sie dem das Urteil Fällenden wirklich gegeben wurde, bzw. dem Gegenstand wirklich zukommt. Wenn sie indessen von mehreren Subjekten in der Erfahrung festgestellt wurde, dann ist es wahrscheinlich, daß sie auch in dem betreffenden individuellen Fall auftritt und dem Gegenstand zukommt. Anders verhält es sich aber, wenn in einem Urteil einem monosubjektiven Gegenstand eine individuelle Eigenschaft zuerkannt wird. Solche Urteile lassen sich durch gar kein anderes Subjekt unmittelbar nachprüfen. Wenn wir in diesem Fall keinen Grund haben, an der Wahrhaftigkeit des Urteilenden zu zweifeln, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als seinen Bericht einfach zur Kenntnis zu nehmen, sofern er uns überhaupt verständlich ist. Entgegen den neupositivistischen Behauptungen ist die Wahrheit eines Urteils nicht mit seiner Bewahrheitung ("Verifikation") identisch und ist auch nicht von ihr abhängig. Trotzdem sind Urteile über

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

individuelle Momente der monosubjektiven Gegenständlichkeiten etwas Unerwünschtes in der Wissenschaft. Ihre Anerkennung ist immer mit einer gewissen Gefahr verbunden. Aufjedem Forschungsgebiet, auf welchem diese Gefahr besteht, ist man geneigt, diejenigen Urteile, die sich nicht unmittelbar nachweisen lassen, von denjenigen abzugrenzen, bei denen dies möglich ist. Die ersteren dürfen aber nicht aus der Wissenschaft ausgeschlossen oder prinzipiell gering geschätzt werden. Als ein Informationsmaterial, das manchmal sehr wertvoll und unersetzlich ist, müssen sie mit entsprechender Vorsicht verwendet werden. Wenden wir dies auf die uns hier unmittelbar interessierenden Fragen an. Jedes literarische Kunstwerk ist in seinem schematischen Aufbau ein intersubjektiver Gegenstand. Es ist indessen fraglich, ob dies auch bezüglich der ästhetischen Konkretisationen behauptet werden darf. Die sich darauf beziehenden Bedenken entstehen vor allem aus der Tatsache, daß auf die Ausgestaltung einer jeden Konkretisation eines bestimmten Werkes - neben diesem Werk selbst - eine Reihe von Faktoren rein individueller, subjektiver Natur Einfluß haben. Wie sich eine Konkretisation z.B. von Goethes Werther oder von Shakespeares Hamlet gestaltet, dies hängt vor allem von mehreren äußeren Umständen ab, unter denen sich die Lektüre vollzieht, und vom Zustand des Lesers selbst. Diese Faktoren sind sehr wandelbar, vom gelesenen Kunstwerk und auch untereinander unabhängig und in ihrem Zusammenauftreten unvorhersehbar. So sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Konkretisationen desselben Werkes sehr mannigfach und im allgemeinen unvorhersehbar. Es wird äußerst selten vorkommen, daß zwei von mehreren Lesern gebildete Konkretisationen desselben Werkes in all den Zügen, die für die Konstituierung des ästhetischen Wertes ausschlaggebend sind, vollkommen gleich sind. 52 Sogar dann, wenn eine Konkretisation bei gemeinsamer Lektüre oder z.B. bei einer Theateraufführung entsteht, sind die Verschiedenheiten bei einzelnen Lesern kaum zu vermeiden. Es ist auch nicht möglich, eine ästhetische Konkretisation, die durch einen anderen Leser (Betrachter) konstituiert wurde, direkt zu erkennen. Nur durch Berufung auf eine eigene getreue Rekonstruktion des Werkes und durch eine vom anderen Leser erhal-

S2

Ob dies prinzipiell ausgeschlossen ist. möchte ich hier nicht entscheiden.

§ 33. Literaturwissenschaft

und ästhetische

Konkretisationen

469

tene Belehrung 53 oder durch die Untersuchung der Bedingungen, unter welchen diese Konkretisation entstanden war, kann man die fremde Konkretisation immer nur annähernd und partiell gedanklich rekonstruieren. Die dabei erzielten Ergebnisse können immer nur wahrscheinlich sein. Besonders bezüglich der bedeutsamen Momente der einzelnen ästhetischen Konkretisationen, die sie oft auf eigentümliche und einzigartige Weise charakterisieren, bezüglich dessen, was früher die "Idee" des Kunstwerks genannt wurde, bezüglich der metaphysischen Qualitäten usw. - kann man nie sicher sein, ob eine fremde Konkretisation diese Momente gerade in der Gestalt enthält, in welcher sie in der von uns konstituierten Konkretisation auftreten. Die mittelbaren Mittel, über die wir verfügen, um darüber etwas Genaueres zu erfahren, versagen oft aus verschiedenen Gründen fast vollständig, obwohl sie auch nicht völlig wertlos sind. Wir können z.B. vom Verhalten des Lesers auf gewisse Einzelheiten der von ihm konstituierten Konkretisation schließen. Besonders die emotionalen Reaktionen des Lesers können in dieser Hinsicht instruktiv sein. 54 Diese Reaktionen können aber falsch beobachtet und falsch gedeutet werden. Und die Tatsache ihres Eintretens kann uns nur in sehr vagen Grenzen über die genaue Gestalt der fremden Konkretisation oder z.B. über den in ihr konstituierten Wert informieren. Die sprachliche Verständigung vermittels der berichtenden Urteile führt nur z. T. zu befriedigenden Ergebnissen, und zwar aus Gründen, die bereits früher angedeutet wurden. Viel hängt davon ab, ob sich der andere Leser - und wir selbst bilden den Fall eines solchen Lesers, wenn wir z.B. in einer Betrachtung den anderen über unsere Konkretisation berichten wollen - selbst von seiner Konkretisation genügend Rechenschaft gibt, ob er seine dazu nötigen sprachlichen Mittel genügend ausgebildet hat usw. Er muß nicht notwendig ein ausgebildeter Literaturwissenschaftler sein, aber er sollte fähig sein, eine getreue Rekon-

c-i Wenn der andere Leser seine Konkretisation laut ablesen würde, so könnte der auf diesem Weg uns zur Kenntnis gebrachte Text des Werkes nicht die volle Konkretisation enthalten. Über die Ausfüllung aller Unbestimmtheitsstellen könnten wir nur eine mittelbare und unvollständige Information erhalten. 54

Das gemeinsame Betrachten eines Dramas im Theater oder das gemeinsame Anhören eines Musikwerkes im Konzert führt zu besonderen Erscheinungen einer gewissen geistigen Ansteckung, wodurch das Verständnis einer fremden Konkretisation wesentlich erleichtert wird.

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

struktion des Kunstwerks zu erzielen und für seine künstlerischen Werte empfänglich zu sein und damit die von ihm konstituierte Konkretisation in ihren wesentlichen Zügen zu erfassen. Die sprachliche Wiedergabe macht da besondere Schwierigkeiten, aber - wie schon früher bemerkt - man darf diese Schwierigkeiten nicht überschätzen und die Möglichkeit des Sich-Verstehens von vornherein leugnen. Besonders im lebendigen Gespräch ist das gegenseitige Verständnis viel leichter zu erlangen und sind die Worte viel leichter zu finden, die den anderen zur Weckung der intuitiven Erfassung der Konkretisation anregen. Eine besondere Kunst des Dialogs muß dabei entwickelt werden, und es ist jedenfalls unzweifelhaft, daß dabei Fortschritte erzielt werden können, obwohl damit nicht gesagt werden soll, daß alle Gegebenheiten, und darunter alle ästhetisch wertvollen Qualitäten, sprachlich intersubjektiv nennbar sind. Wenn wir trotz mehrmals unternommener Versuche eine eigenartige Qualität, die nach dem Bericht eines anderen in der von ihm konstituierten Konkretisation auftreten soll, nicht erraten können, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als zunächst zur Kenntnis zu nehmen, daß noch etwas für uns Unerreichbares in der fremden Konkretisation des betreffenden Kunstwerks vorkommt. Wir können dann versuchen, dieses Kunstwerk noch auf eine neue Weise ästhetisch zu erleben und zu konkretisieren. Vielleicht erkennen wir daraufhin doch noch jene zuerst unbekannte Qualität oder einen Zusammenklang, was uns dann eine Verständigung mit dem anderen Leser ermöglichen könnte. Wir stehen da aber gewiß an der Grenze des gemeinsam zu Erforschenden. Ohne alle diese Versuche zur Verfeinerung des Erkennens der literarischen ästhetischen Gegenstände und zur Überwindung der sprachlichen Schwierigkeiten ist man aber nicht berechtigt, von vornherein zu erklären - wie das oft geschieht - , daß eine wissenschaftliche Beherrschung dieses Gebietes überhaupt unmöglich sei. Daß diese Wissenschaft gewisse Grenzen hat, die übrigens verschiebbar sind, bedeutet nicht, daß es erlaubt ist, ihr überhaupt jedes Recht abzusprechen. Man darf nicht vergessen, daß es noch nicht so lange her ist, daß man überhaupt versucht hat, literarische Kunstwerke selbst einer analytischen Betrachtung zu unterwerfen und zu den in ihnen gründenden ästhetischen Konkretisationen mit adäquaten Erkenntnismitteln vorzudringen. Man hat sich dabei in der Literaturwissenschaft und insbesondere in der sogenannten Geschichte der Literatur viele Jahre mit verschiedenen Angelegenheiten beschäftigt, die

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§ 33. Legitimität von Urteilsdivergenzen

überhaupt über das Gebiet der literarischen Kunst hinausgehen, und man hat dabei viel kostbare Zeit verloren, die für die Ausbildung einer befriedigenden Methode zur Erforschung der literarischen Kunst hätte verwendet werden können. Innerhalb der Grenzen der Kompetenz der Literaturwissenschaft verbleiben also die einzelnen literarischen Kunstwerke als schematische Gebilde sowie die "gemeinsamen" ("allgemeinen") Eigenschaften und Strukturen der Konkretisationen und insbesondere der ästhetischen Konkretisationen dieser Werke, und an den Grenzen des Forschungsbereiches selbst liegen die "individuellen" Züge der einzelnen ästhetischen Konkretisationen, von denen es zweifelhaft sein mag, ob sie nicht diese Grenzen bereits überschreiten und etwa der literarischen Kritik zu überweisen sind. Zur Klärung dieser Frage bedarf es aber einer allgemeinen Erörterung über den Gegenstand, die Aufgaben und die Methoden der Literaturwissenschaft und auch der anderen Wissensformen über die Literatur, zu welchen noch die Philosophie der Literatur, die Kritik und die Poetik gehört. Diese Erörterung überschreitet aber den Rahmen unseres Buches. 55 Dieses Ergebnis scheint aber durch eine Gefahr bedroht zu werden, die jetzt zu besprechen ist. Es werden nämlich über dasselbe literarische Kunstwerk sowohl im täglichen Leben als auch in der wissenschaftlichen Forschung oft anscheinend widersprechende Urteile gefällt, besonders wenn es sogenannte Werturteile oder Bewertungen sind. Sofern dies eine Erscheinung der Unvollkommenheit der einzelnen Forscher ist oder sich aus dem zufälligen Mangel der gerade erzielten Ergebnisse ergibt, so ist dies eine Tatsache, die ja doch in allen - auch in den "strengsten" - Wissenschaften vorkommt und die keinen Grund zu einer Geringschätzung der betreffenden Wissenschaft bildet. Begangene Irrtümer werden im Lauf der weiteren Forschung entdeckt und beseitigt, und ihre Entdeckung führt oft zu neuen Errungenschaften und Umgestaltungen der betreffenden Wissenschaft (wir

55

Die ursprüngliche polnische Redaktion dieses Buches besaß noch einen "Anhang", in welchem diese Probleme skizzenhaft behandelt wurden. Der Umfang der deutschen Redaktion zwingt mich aber, auf diesen Anhang hier zu verzichten, der übrigens jetzt auch sehr erweitert werden müßte. [Vgl. "Anhang. Gegenstand und Aufgaben des 'Wissens von der Literatur'", in R. Ingarden, Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft. Diskussionsbeiträge

Aufsätze und

(1937-1964), hrsg. von R. Fieguth, Tübingen 1976, S. 1-28.]

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

brauchen da bloß auf die Geschichte der modernen Physik hinzuweisen). Im Fall der Literaturwissenschaft nützt man aber diese Tatsache - besonders in den Kreisen der Mathematiker und Naturwissenschaftler (der "science") 56 zu einem verächtlichen Urteil über jede Art von Wissen über Literatur und überhaupt über jede Kunst aus. Man glaubt, diese Fehler und "Widersprüche" seien auf diesem Gebiet notwendig und somit nicht zu beseitigen. Wie steht es damit? Die Tatsache der begangenen Irrtümer und Widersprüche ist natürlich ohne weiteres zuzugeben. Man muß auch dem zustimmen, daß es eine Gefahr für die Wissenschaftlichkeit dieser Forschung bildete, wenn es auf dem Gebiet der Literaturforschung notwendig widerstreitende und sogar widersprechende Urteile gäbe. Das Bestehen dieser Notwendigkeit ist aber zweifelhaft und - wie mir scheint - bis jetzt durch niemanden erwiesen. Es gibt aber dafür gewisse Scheingründe. Man hat sich bis jetzt den Unterschied zwischen einem literarischen Kunstwerk und seinen Konkretisationen nicht klar zu Bewußtsein gebracht und auch die Notwendigkeit dieser Unterscheidung nicht eingesehen. Statt zwei Grundtypen "literarischer" Urteile streng auseinanderzuhalten, nämlich diejenigen, welche die literarischen Kunstwerke selbst, und die anderen, die deren Konkretisationen betreffen, behandelt man alle diese Urteile (und auch Beurteilungen) so, als ob sie alle das "Kunstwerk" (ungeachtet dessen, was darunter verstanden wird) beträfen. Nach Einführung unserer Unterscheidungen fallen - wie mir scheint - die prinzipiellen Schwierigkeiten fort. Daß nämlich zwei Urteile über zwei verschiedene Konkretisationen desselben Werkes bezüglich entsprechender Momente etwas Verschiedenes aussagen, muß weder einen Widerstreit noch einen Widerspruch zwischen ihnen bilden. Denn diese Konkretisationen können in diesem Punkt wohl verschieden sein. Das Nichtzusammenstimmen solcher Urteile bildet dann keinen Mangel der literarischen Forschung, natürlich aber nur dann, wenn der Differenzpunkt in einem solchen Moment oder einer solchen Eigenschaft der betreffenden Konkretisationen besteht, welcher nicht zum Werk selbst, sondern zu der Ergänzung des Werkes durch neue

Wenn man unter "Wissenschaft" den engen Begriff der "science" versteht, so ist es klar, daß die Literaturwissenschaft in diesem Sinn keine "science" sein kann noch auch sein will. Darüber gibt es auch keinen Streit mehr. Unberechtigt ist es nur, daß man diesen engen Begriff der Wissenschaft für den einzig möglichen und zulässigen hält.

§ 33. Legitimität

von

Urteilsdivergenzen

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Momente bzw. Elemente der Konkretisation gehört. Wenn sich aber die beiden Urteile in bezug auf ein Moment des schematischen Aufbaus des betreffenden Kunstwerks selbst unterschieden, dann hätten wir es mit einem tatsächlichen Widerstreit oder Widerspruch zu tun, der aber in weiterer Forschung prinzipiell zu beseitigen ist. Das zulässige Nichtzusammenstimmen zwischen wahren Urteilen über verschiedene Konkretisationen desselben Kunstwerks ist kein Manko der Literaturforschung. Ihre Möglichkeit ergibt sich aus den Hauptergebnissen unserer Auffassung des literarischen Kunstwerks überhaupt. Insbesondere gilt dies bezüglich der ästhetischen Werturteile über verschiedene Konkretisationen desselben Werkes. Es kann nur gefragt werden, ob diese beiden Werte dem Werk selbst gleich nahe stehen oder ob vielleicht der eine von ihnen zwar höher ist, aber dem Werk nicht voll gerecht wird, während der andere eben das tut. Das ändert an der Wahrheit und Geltung der die betreffenden Werte feststellenden Urteile gar nichts. Sie können beide wahr sein und bilden dann den Ausgangspunkt zur weiteren Betrachtung über die Nähe oder Ferne dieser Konkretisationen zum Werk selbst. Eine andere Sachlage ergibt sich indessen, wenn zwei Werturteile demselben literarischen Kunstwerk in derselben Hinsicht verschiedene künstlerische Werte zuerkennen. Da ist zu vermuten, daß mindestens das eine von ihnen falsch ist und sich aus einer ungenauen Analyse des Kunstwerks und der Möglichkeiten seiner ästhetischen Konkretisationen ergibt. Dann ist aber wiederum die Möglichkeit vorhanden, durch eine neue, genauere Analyse des Kunstwerks und seiner Kunstfertigkeit den Widerstreit zwischen den Urteilen zu beseitigen, so daß daraus keine prinzipielle Gefahr für die Literaturwissenschaft erwächst, obwohl es manchmal sehr schwierig sein mag, den Grund des Fehlers aufzufinden und eine korrekte Beurteilung des künstlerischen Wertes des betreffenden Werkes durchzuführen. Daß aber diese Schwierigkeiten bestehen, ist verständlich und wiederum in unserer Auffassung des literarischen Kunstwerks und des künstlerischen Wertes begründet. Denn um dem betreffenden Kunstwerk einen bestimmten künstlerischen Wert zuschreiben zu können, muß man nicht nur die konstanten und aktuellen Momente des betreffenden Kunstwerks richtig erfassen (also eine getreue Rekonstruktion des Werkes durchführen), sondern sich auch in der Mannigfaltigkeit der typischen möglichen Konkretisationen des Werkes sowie in ihren möglichen

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

verschiedenen ästhetischen Werten insoweit orientieren, daß man in diesem Licht die Kunstfertigkeit des betreffenden Werkes beurteilen könnte. Und eben darin, daß man ja nie alle möglichen Konkretisationen berücksichtigen kann, sondern sich immer nur auf einige typische, leichter zu überblickende beschränken muß, kann der Grund liegen, daß die Bewertung des Kunstwerks hinsichtlich seiner künstlerischen Werte oft sehr differiert und nicht einmal zu einem langen Streit führt. Ist das betreffende Kunstwerk sehr reich an verschiedenen möglichen Konkretisationen und lassen dieselben hohe und voneinander abweichende ästhetische Werte zu, dann wird der Streit über den künstlerischen Wert des Kunstwerks lange andauern und ist vielleicht in einer Kulturepoche nicht auszufechten. Das spricht aber nicht gegen die sogenannte "Wissenschaftlichkeit" der Bewertung literarischer Kunstwerke, sondern ist nur eine Konsequenz des wesensmäßigen Aufbaus des literarischen Kunstwerks selbst und seines "Lebens" in verschiedenen Kulturepochen, sowie auch eine Konsequenz der relativen Beschränktheit des Literaturforschers, der oft über den Horizont seiner Epoche nicht hinauszuschauen vermag. Das soll uns zu keiner skeptischen Beurteilung der Literaturwissenschaft verleiten, sondern nur zur weiteren Forschung anspornen. Wenn in jedem Fall, wo ein Werturteil über das Auftreten eines bestimmten künstlerischen Wertes in einem Kunstwerk ausgesprochen wird, zugleich festgestellt würde, daß dieser Wert dem Werk in bezug auf eine fest umgrenzte Mannigfaltigkeit ästhetischer Konkretisationen zuerkannt wird, dann würde die Gefahr einer Fehlleistung in der Beurteilung wesentlich vermindert. Und jedenfalls ist kein Anlaß zu dem oft ausgesprochenen Vorwurf der sogenannten "Subjektivität" und "Relativität" der Bewertung vorhanden. Im Gegenteil, man hätte es dann mit einem Urteil zu tun, das eben die objektiv bestehende Tatsache mit Recht feststellt, daß dem betreffenden Kunstwerk mit Rücksicht auf seine künstlerische Fähigkeit, unter fest umgrenzten Umständen zur Konstituierung bestimmt gearteter ästhetischer Konkretisationen zu führen, ein bestimmter künstlerischer Wert zukommt. Noch eine letzte Frage ist hier kurz zu streifen. Es fragt sich nämlich, ob die Bewertung einer ästhetischen Konkretisation oder eines literarischen Kunstwerks selbst, welche von einem Leser auf Grund des ihm zugänglichen Materials gefällt wurde, auch für die übrigen Leser ohne weiteres bindend und gültig ist, ob diese Leser ohne weiteres einfach verpflichtet sind, sie anzuer-

§ 33. Wertungskompetenz

des Lesers

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kennen, oder aber das Recht haben, sie kritisch zu erwägen und sie auch gegebenenfalls nicht anzuerkennen, und ob dann dieses Recht jedem beliebigen Leser zusteht oder an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Es muß betont werden, daß es hier nicht auf die Tatsache des Anerkennens oder Nichtanerkennens einer Bewertung durch andere Leser ankommt, sondern auf ihr eventuelles Recht dazu. Handelte es sich nur um die bloße Tatsache, dann hätten wires mit einem psychologischen oder soziologischen Problem zu tun, das an sich besteht, aber für uns hier nicht in Betracht kommt. Erwägen wir dieses Problem zunächst bezüglich der Bewertung einer Konkretisation hinsichtlich des ästhetischen Wertes. Das Recht, nach dessen Bestehen hier gefragt wird, ist nicht nur mit der Wahrheit (Richtigkeit) der Bewertung, sondern auch mit ihrer Begründung verbunden. Diese Begründung der Bewertung liefert das ästhetische Erlebnis und die ästhetische Erkenntnis der betreffenden Konkretisation. Das Recht, eine solche Bewertung in Frage zu stellen, steht jedem zu, der befähigt ist, eine entsprechende Überlegung überhaupt durchzuführen. Das Recht der Mc/ifanerkennung einer solchen Bewertung besteht erstens dort, wo dieselbe nicht wahr (richtig) ist, also wenn sie einer Konkretisation einen Wert zuerkennt, der ihr überhaupt nicht zukommt, zweitens aber dort, wo ein ästhetisches Erlebnis, das adäquat, leistungsfähig ist und dem Werk gerecht wird, und die dazu gehörende Erkenntnis der gebildeten Konkretisation nicht zu einer in dem Sinn wertvollen Konkretisation führen, wie die betreffende Bewertung besagt. Die Bewertung ist dann unbegründet. Das Recht zur Nichtanerkennung einer bestimmten Bewertung kommt einem Leser dann nicht zu, wenn a) diese Bewertung richtig, b) wenn sie durch ein entsprechendes ästhetisches Erlebnis und durch die zugehörige objektive unmittelbare Erkenntnis der betreffenden Konkretisation begründet ist und c) wenn der Leser, der nicht weiß, ob die betreffende Bewertung richtig ist, zugleich auch das entsprechende ästhetische Erlebnis und die zugehörige ästhetische Erkenntnis der betreffenden Konkretisation nicht zu gewinnen vermochte. Alle Leser also, die entweder zum Vollzug eines entsprechend qualifizierten ästhetischen Erlebnisses und der zugehörigen objektiven ästhetischen Erkenntnis überhaupt nicht befähigt sind oder die wenigstens bis zu dem Moment, in welchem sie eine Bewertung in Frage stellen, die genannten Operationen nicht auszuführen vermocht haben, haben kein Recht, eine aufge-

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V. Kritik der Erkenntnis des literarischen

Kunstwerks

stellte Bewertung einfach nicht anzuerkennen. Berechtigt dazu sind sie erst nach der Erfüllung dieser beiden Bedingungen. Andererseits haben auch das Recht zur Aufstellung einer ästhetischen Bewertung nur diejenigen, die sie auf Grund des gelungenen Vollzugs der genannten Operationen aussprechen. Wenn sie dies ohne die Erfüllung dieser Bedingung tun, dann ist ihre Bewertung nicht begründet - auch wenn sie zufälligerweise richtig wäre und sie reden so wie die Blinden von der Farbe. Diese Entscheidung engt die Anzahl derjenigen deutlich ein, die das Recht haben, ästhetische Konkretisationen von Kunstwerken zu bewerten oder sie kritisch zu behandeln. Sie bedeutet aber nicht, daß die Bewertungen und korrelativ die ästhetischen Werte - wie man von positivistischer Seite vielleicht geneigt wäre zu sagen - in bezug auf einen bestimmten Kreis von Lesern bzw. Forschern "relativ" sein sollten. Im Gegenteil, erst durch die Aufstellung dieses Prinzips wird die Gewinnung richtiger und begründeter ästhetischer Bewertungen in einem fest umgrenzten Bereich ermöglicht. Es wird nur eine fachmännische Vorbereitung, bzw. Qualifizierung von denjenigen gefordert, die das Recht haben sollen, gültige und verantwortliche ästhetische Bewertungen durchzuführen. Dies wird ja in jeder Wissenschaft gefordert, und es ist nicht erlaubt, Beurteilungen auszusprechen, wenn man Analphabet auf dem betreffenden Gegenstandsgebiet ist. Es wird nur gefordert, daß die Anarchie des "de gustibus non est disputandum" nicht für alle im Umgang mit der Kunst Ungebildeten sanktioniert wird. Diese Bildung und die damit zusammenhängende Kultur der Bewertung kann nur durch die Entwicklung entsprechender Fähigkeiten, d.h. durch Erziehung zur Kunst gewonnen werden. Das feinfühlige, leistungsfähige und dem Werk getreue ästhetische Erlebnis sucht sich nie irgendwelche privilegierten Kreise der Gemeinschaft aus, es ist im Prinzip jedem zugänglich, und zwar in dem Sinn, daß es im Umgang mit großen Kunstwerken geweckt, gewissermaßen auch gelehrt und eingeübt werden kann, was, wenn man nur nicht ganz blind und taub ist, auf jedem Gebiet der Kultur möglich ist. Aber so, wie nicht alle Mathematiker sein müssen, brauchen auch nicht alle etwas von Kunst zu verstehen, obwohl es bedauerlich ist, wenn die Enthüllung der Kunst und der durch sie konkretisierten Werte in einem besonderen Fall mißlingt. Die Erziehung zum Sehen und Hören und auch zum Fühlen, um mit den Werten verschiedener ästhetischer Kulturen verkehren zu können, wird gefordert, und es müssen Mittel und Wege

§ 33. Wertungskompetenz des Lesers

477

gefunden werden, um sie möglichst ergiebig zu machen. Aber selbst die Aufstellung dieser Forderung ergibt sich aus dem Verstehen der Tatsache, daß das ästhetische Erleben und Erkennen der Kunstwerke besondere Fähigkeiten bei dem Empfänger voraussetzt. Die Bewertung des Kunstwerks selbst hinsichtlich des künstlerischen Wertes ist - wie aus dem früher Gesagten folgt - viel komplizierter als die Bewertung seiner ästhetischen Konkretisationen. Sie erfordert schon besondere Übung im analytischen Erkennen des literarischen Kunstwerks sowie eine große Erfahrung bezüglich der möglichen Konkretisierungen des Kunstwerks, ihrer verschiedenen Typen und Stilarten usw. - alles, was ein verantwortlicher Literaturforscher zuerst erlernen muß, bevor er zur Bewertung einzelner literarischer Kunstwerke kommen kann. Aber dies ist schon eine besondere Angelegenheit der Erziehung zur Wissenschaft von der Literatur, die gar nicht von allen Menschen betrieben zu werden braucht, ebensowenig wie z.B. Mathematik oder Naturwissenschaft. Und da eröffnen sich ganz besondere Probleme, auf die hier nicht mehr eingegangen werden kann. Aber auf die Forderung der Unentbehrlichkeit dieser Erziehung muß hier mit Nachdruck hingewiesen werden, da man dies oft vergißt. Den Anfang dieser Erziehung bildet das Erkennen der einzelnen literarischen Kunstwerke vermittels einer richtig durchgeführten Lektüre und eines adäquaten und ergiebigen ästhetischen Erlebens, das zu getreuen und wertvollen ästhetischen Konkretisationen führt. Alle weiteren Probleme der Literaturwissenschaft, die natürlich sehr zahlreich und kompliziert sind und gar nicht unterschätzt werden sollen, hängen schon in ihrer richtigen Formulierung und im Ausgang ihrer Lösungsversuche von diesem Anfang ab. Das war auch einer der Gründe, weswegen ich mich mit diesem Erkennen befaßt habe.

Nachwort Dieses Buch bildet ein Pendant und eine Ergänzung zu meinem Buche Das literarische Kunstwerk. Es wurde einige Jahre nach jenem in polnischer Sprache niedergeschrieben und veröffentlicht. Dreißig Jahre sind aber vergangen, bis es mir möglich war, es in eine deutsche Fassung zu bringen und dadurch dem Ausland zugänglich zu machen. Ich begann es im Jahre 1966 zu übersetzen, aber bald stellte sich heraus, daß es beim bloßen Übersetzen nicht bleiben konnte. Seit der Zeit seiner Entstehung habe ich manches hinzugelernt, das bei einer neuen Gestaltung nicht unberücksichtigt bleiben durfte. Eine Reihe von Ergebnissen auf dem Gebiete der Ästhetik, die ich seit dem letzten Kriege auf Ästhetik-Kongressen vorgelegt habe (1956 und 1958 in Venedig, 1960 in Athen, 1964 in Amsterdam), muß freilich einer anderen Publikation vorbehalten bleiben. Dieses Buch mußte vielmehr im Sinne seiner ihm eigenen Logik weiterentwickelt werden. Viele Fragen (besonders im IV. und V. Kapitel), die in der polnischen Fassung zunächst nur als Problem aufgeworfen worden waren, harrten einer wenigstens vorläufigen Lösung, die ich in der jetzt vorgelegten deutschen Fassung zu geben unternommen habe. Dies hat zu einer gewissen Verschiebung in den Schwerpunkten des Buches geführt. Es mußte versucht und gewagt werden, in manchen Fragen aus der Position vorsichtiger Zurückhaltung herauszukommen und die sich bietenden Schwierigkeiten zu überwinden. So suchte ich vor allem die Scheidung zwischen dem literarischen Kunstwerk in seiner schematischen Struktur und seinen Konkretisationen schärfer zu fassen und zu verdeutlichen. Es mußte gezeigt werden, daß es möglich ist, das Werk in seiner schematischen Struktur und in seinen bloßen Potentialitäten streng zu erfassen, ohne dabei zu einer ausgefüllten Konkretisation zu gelangen und ohne die Potentialitäten durch Aktualisierung zu beseitigen. Dadurch wurde es möglich, die früher nur angedeutete Scheidung der künstlerischen und der ästhetischen Werte zu explizieren und zu verdeutlichen. Damit schien sich aber der Gegensatz zwischen der Literaturwissenschaft und einer in ästhetischer Einstellung durchgeführten Kritik, der im "Anhang" zur polnischen Fassung des Buches angedeutet worden war, noch zu tvertiefen. Der Literaturwissenschaft sollte, wie ich das einst ausgeführt

Nachwort

479

habe, das Erkennen des literarischen Kunstwerkes selbst zugewiesen werden, während seine im ästhetischen Erlebnis konstituierten Konkretisationen der literarischen Kritik zu überlassen waren, die mit anderen Erfassungsund Darstellungsmitteln operieren und die Konkretisationen dem Leser zur Sicht bringen sollte, die dafür aber nicht auf dieselbe Objektivität und intersubjektive Zugänglichkeit Anspruch erheben durfte und deswegen aus dem Bereich der Wissenschaft ausgeschlossen werden mußte. Ist dies aber richtig, daß eine ästhetische Konkretisation eines literarischen Kunstwerks nicht einem echten Erkennen zugänglich sein soll? Auf diese Frage suchte ich im V. Kapitel der neuen Fassung eine positive Antwort zu geben. Wenn sie zutrifft, dann erweitert sich das Forschungsfeld der Literaturwissenschaft auf die literarischen ästhetischen Gegenstände und ergibt sich dadurch die wissenschaftlich geprüfte Grundlage einer "literarischen Wertung", die bis jetzt aus der Wissenschaft verstoßen und dem bloß subjektiven Gefallen des Lesers überlassen worden ist. Natürlich werden im V. Kapitel der neuen Fassung nur die prinzipiellen Möglichkeiten und die sich daraus ergebenden Forschungsaufgaben und Forschungswege aufgezeigt. Ich würde mich freuen, wenn die positive Forschung, die ich selbst ja nicht betreiben darf, diese Wege zu betreten begänne und in konkreten Untersuchungen erprobte, in welchem Maße die von mir bloß aufgewiesenen Wege wirklich gangbar sind. Das Interesse, das für die sogenannte "literarische Wertung" in den letzten Jahren in Deutschland erwacht ist und bei verschiedenen Autoren zu positiven Versuchen geführt hat, wird vielleicht erleichtern, diese Erprobung vorzunehmen und meine Versuche weiterzuführen. Natürlich ist das Problem viel allgemeiner und auf die Erkenntnis der Literatur nicht beschränkt. Es betrifft vielmehr die Erkenntnis aller Künste und der in ihnen möglichen ästhetischen Gegenstände. Dies führt aber schon zu den Problemen des ästhetischen Wertes überhaupt und zu den Fragen nach der Möglichkeit der Fundierung dieser Werte in den eigenen Gestaltungen und Bestimmtheiten der Kunstwerke selbst. Solche Probleme konnten in diesem Buche nicht behandelt werden. Ich habe versucht, sie in anderen Schriften aufzugreifen, und diese wurden bereits in polnischer Sprache zu einem kleinen Buche zusammengefaßt, das, wie ich hoffe, bald

480

Nachwort

auch in einer deutschen Fassung erscheinen wird.* Damit geht die Ergänzung des Literarischen Kunstwerks noch einen Schritt weiter. Zum Schluß bleibt mir die angenehme Pflicht zu erfüllen, meinem getreuen Verleger, Herrn Robert Harsch-Niemeyer, für die Übernahme dieses Buches in seinen Verlag aufs wärmste zu danken. Dank gilt auch Herrn Hermann Wetzel, der die Mühen einer sprachlichen Besserung meines deutschen Textes auf sich genommen und mir in Verschiedenem gute Dienste erwiesen hat. Lwów, 1935/36-Krakow, 1966/67

* [Vgl. Roman Ingarden, Erlebnis, Kunstwerk und Wert, Tübingen 1969.]

Editorische Notiz Die hier vorgelegte Ausgabe des Buches Vom Erkennen des

literarischen

Kunstwerks fußt auf der vom Autor selbst besorgten deutschen Version, die zum ersten und einzigen Mal 1968 im Niemeyer Verlag erschien. Die Ausgabe von 1968 ist die Umarbeitung und erhebliche Erweiterung des polnischen Buches gleichen Titels O poznawaniu dzieta literackiego, das Ingarden 1937 im Verlag der Nationalen Ossolmski-Stiftung in Lemberg publizierte, sechs Jahre nach dem Erscheinen von Das literarische

Kunstwerk bei Nie-

meyer in Halle/Saale. Schon das polnische Buch war als Grundlegung des erkenntnismäßigen Vorgehens der Literaturwissenschaft gedacht gewesen und enthielt daher einen Anhang "Gegenstand und Aufgaben des Wissens von der Literatur", der 1940/41 zu dem Vorlesungs- und Buchprojekt "Über die Poetik" umgearbeitet wurde. 1 Nach dem Krieg wurde die polnische Ausgabe mitsamt ihrem Anhang in den Studia ζ estetyki I (1957; 1966) im wesentlichen unverändert abgedruckt, ebenso auch Aufsatz und Projekt "Über die Poetik". 1966 entschied sich Ingarden auf Einladung des Niemeyer Verlages zu einer Umarbeitung des Buches Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, in die alles einfloß, was er seit seiner ersten monographischen Darstellung des ästhetischen Erlebnisses in dem polnischen Buch 1937 an neuen Ergebnissen in seinen Forschungen zur Ästhetik erzielt hatte. Dies betraf fast alle Teile des Buches, namentlich die Darstellung der Zeitproblematik, insbesondere aber auch die Passagen über die Unbestimmtheitsstellen und die neuen Erwägungen über die Möglichkeit, und eventuell sogar Wünschbarkeit einer einzigen gültigen ästhetischen Konkretisation oder Rekonstruktion des literarischen Kunstwerks. Ein Überdenken der ontologischen und der erkenntniskritischen Probleme der ästhetischen Konkretisation war dringlich geworden, weil Ingarden der Literaturwissenschaft jetzt nicht mehr nur Ermittlungen über die schematische Struktur des literarischen Kunstwerks zuweisen wollte. Er war nun mehr denn je davon überzeugt, daß definitive Einsichten in die

Vgl. die deutschen Übersetzungen dieser Arbeiten in R. Ingarden, Gegenstand der Literaturwissenschaft.

Aufsätze und Diskussionsbeiträge

(1937-1964).

und

Aufgaben

Ausgewählt und

eingeleitet von R. Fieguth, Tübingen 1976 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 19).

482

Editorische Notiti

schematische Struktur des individuellen literarischen Kunstwerks ohne das wissenschaftliche Studium seiner ästhetischen Konkretisation(en) nicht zu erzielen waren. Diese neue Überzeugung erklärt auch, warum das konkret geplante und auch bereits in Angriff genommene Projekt einer deutschen Neufassung von "Über die Poetik" nicht vorankam; das wesentlich Neue, das er der Literaturwissenschaft zu sagen hatte, hatte er auf über 200 Seiten seines neuen deutschen Buches bereits formuliert. Die Erweiterung des ursprünglichen Umfangs von O poznawaniu

dzieta

literackiego liegt bei ca. 45%, d.h. die deutsche Ausgabe ist fast doppelt so stark wie die polnische. Dabei blieb mit der Ausnahme des neu eingefügten § 13 (die Auseinandersetzung mit Käte Hamburger) die Einteilung in 33 Paragraphen gleich, so daß siebzigseitige Monsterparagraphen ohne viel Zwischengliederung entstehen konnten. Aus diesem Grund haben wir uns zur Anfertigung eines ausführlichen analytischen Inhaltsverzeichnisses entschlossen, das jederzeit die Erinnerung an den Gesamtkontext des gerade gelesenen Abschnitts wiederherstellen hilft. Der besseren Orientierung dient auch das neue Namenregister, das Ingardens Text und alle Anmerkungen berücksichtigt. Eine durchgreifende Überarbeitung von Ingardens Formulierungen konnte nicht Aufgabe dieser Ausgabe sein, obwohl Ingardens Deutschkenntnisse 1966 nicht mehr die alten waren und der Verlag damals aus Rücksicht auf den Autor darauf verzichtete, mit der notwendigen Konsequenz die Verbesserung der tatsächlichen sprachlichen Unzulänglichkeiten zu erwirken. Unsere Texteingriffe beschränken sich im wesentlichen auf folgende typische Fälle: 1. Offenkundige Interpunktionsfehler einschließlich falsch gesetzter Gedankenstriche; sie werden stillschweigend berichtigt. 2. Druck- und Korrekturfehler der Ausgabe von 1968 im Bereich der Orthographie und der syntaktischen Konkordanz in genus und numerus. Die korrigierte Form erscheint zwischen *, die unkorrigierte Form wird im nachfolgenden Textkritischen Anhang mitgeteilt. 3. Notwendige Wortzusätze. Sie werden durch [ ] gekennzeichnet. 4. Gravierende Verstöße gegen Syntax und Wortfolge oder sinnentstellende Polonismen werden behutsam bereinigt. Die korrigierte Formulierung

483

Editorische Notiti

steht zwischen *; die ursprüngliche Formulierung wird im Textkritischen Anhang mitgeteilt, gelegentlich mit der Angabe der (mutmaßlichen) polnischen Ausgangsformulierung. Andere erklärungsbedürftige Passagen

werden

ebenfalls durch

*

markiert; im Anhang erscheint eine angemessenere deutsche Formulierung sowie - falls erforderlich - die zugrundeliegende polnische Stelle aus O poznawaniu dziela

literackiego.

5. Die von Ingarden ohne Quellenangaben angeführten deutschen Übersetzungen polnischer und anderer literarischer Texte werden grundsätzlich und ohne Markierung durch andere ersetzt; außerdem wird zuerst der Wortlaut des Originals mitgeteilt. Wo nicht anders angegeben, handelt es sich um literarische Neuübersetzungen von Rolf Fieguth. Ingardens Übersetzungsversionen, die zumindest teilweise von ihm selbst angefertigt worden sein dürften, erscheinen im Textkritischen Anhang im vollen, unveränderten Wortlaut. 6. In Ingardens Fußnoten werden vage bibliographische Angaben durch Zusätze in [ ] präzisiert und gegebenenfalls kommentiert. 7. Eigene Anmerkungen der Herausgeber werden in [ ] gesetzt. Ingardens Anmerkungen und Herausgeberanmerkungen werden fortlaufend numeriert. Die Herausgeber danken allen Personen, die an der Entstehung dieses Bandes tätigen Anteil genommen haben, darunter mit Namen Alexandrine Schniewind, Arkadiusz Chrudzimski (er hat u.a. das Personenregister verfaßt) und ganz besonders Christine Blättler, deren Tatkraft, Sorgfalt und Scharfsinn für den Abschluß des Werks unentbehrlich waren.

TEXTKRmSCHER ANHANG i.O. = im Original S. 3: *bewogen*, i.O. "bewegten". S. 38: *der verstehenden Lektüre*. i.O. "des Abiesens" [poln.

odczytanie].

S. 40: *-gefüge*, i.O. "Gefüge". S. 41: *sondern sie gewissermaßen*, i.O. "sondern ihn gewissermaßen". S. 47: *ebensowohl*, i.O. "gleichwohl" [poln. jednakowo], S. 53: *Scharfsicht*, i.O. "Eindringlichkeit" [poln.

wnikliwosc],

S. 56: *Konversatorium* [ein Diskussionsforum zwischen Privatissimum und Oberseminar], i.O. "Konservatorium". S. 61: *durch den*, i.O. "beim". S. 64: Wortlaut der von Ingarden angeführten Übersetzung: Er irrte durch die Straßen, ohne den Boulevard finden zu können. Er fragte einen Passanten; der lachte und zeigte ihm den Boulevard, der nur einige Schritte weit entfernt war. Seine Füße trugen ihn von selbst dorthin. Tausenderlei farbig aufleuchtende Lichtreklamen, gelb, tief rot, grün, blau und violett aufblitzende Zeichen, Kreise und Buchstaben schnitten ihm wie Glassplitter in die Augen. Ohne zu wissen, was er tat, ging er mechanisch in ein an der Ecke liegendes Café und ließ sich einen Cognac geben. S. 66: *können*, i.O. "kann". S. 66 f., Anm. 46: Wortlaut der von Ingarden angeführten Übersetzung: Jim wanderte quer über die Kommandobrücke, und die eigenen Schritte tönten ihm laut in der großen Stille, als wenn sie von den wachenden Sternen zurückgeworfen würden; seine Augen irrten an der Linie des Horizonts entlang und schienen nach etwas Unerreichbarem gierig zu greifen. Sie bemerkten aber den Schatten des sich nähernden Unfalls nicht. Der einzige Schatten auf dem Meere war der Schatten des schwarzen Rauches, der vom Schornstein immerfort wie eine ungeheure Fahne auf das Meer fiel, deren Ende in der Luft zerfloß. Zwei Malaien stumm und fast unbeweglich steuerten an beiden Seiten des Steuerrades stehend, dessen Messingrand von Zeit zu Zeit im Oval des Lichtes leuchtete, das vom Deckel des Kompasses fiel. Manchmal erschien an dem beleuchteten Teile des Steuerrades eine Hand mit schwarzen Fingern, während sie nacheinander die Radspeichen faßte und freiließ. Die Kettenringe knirschten laut in den Riefen der Steuerröhre ... Jim warf von Zeit zu Zeit den Blick auf den Kompaß...

Textkritischer

485

Anhang

S. 75: *an der [...] Imago*, i.O. "am [...] Imago". S. 75: *uns vorschwebt [...] war*, i.O. "uns vorschwebt - in welchen Farben, Klängen, Bewegungen und selbst offenbaren Emotionen es auch sei - gleichgültig, ob es uns vorgetäuscht wird oder gar wirklich war, alles nur so reizend aussieht." S. 75: *an der Imago*, i.O. "am Imago". S. 78: *als diejenige*, i.O. "als derjenigen". S. 79, Anm. 53: *[denke man an die]*, i.O. "auf die". S. 122: zweimal *Zeitintervall* neutrum, i.O. masculinum. S. 127: *in gewissem Sinn*, i.O. "im gewissen Sinn". S. 129: *Zeitintervall* neutrum, i.O. masculinum. S. 130: *Vergangen-Seins*, i.O. "Einst-Seins,

(ancienneté)"; [ ], i.O.

"älter, immer mehr ancien"·, Anm. 16: *[ ]*, i.O. "dawny, eventuell dem französischen ancien entspräche. [...] dawniejszy (plus ancien) und najdawniejszy, bardzo dawny (très ancien)". Diese Interpretation französischer Lexik ist eigenwillig. S. 131: *[ ]*, i.O. "plus ancien". S. 142: *Vergangen-Seins*, i.O. "Ehemals-Seins". S. 142 f.: *Unter anderen Phänomenen [ ] fühlbar wird.* Neufassung der unverständlichen Originalformulierung: "Von den anderen Phänomenen der Zeitperspektive kommt es hier zur Verkürzung der Zeitintervalle der dargestellten Zeit und zur Erscheinung einer erstarrten, vollzogenen Dynamik der sich entfaltenden Geschehnisse, sofern da überhaupt das Phänomen der Dynamik fühlbar wird." Für die Neufassung wurde Ingardens polnische Version von 1937, S.89 herangezogen: "Z innych zjawisk perspektywy czasowej na pierwszy plan wybija siç tutaj siine skracanie siç odcinków czasu przedstawionego, dynamika zas wypadków wystçpuje w postaci "utrwalonej" ("zamarzniçtej")." S. 144-149: Wortlaut der von Ingarden angeführten Übersetzung: "Auf dem Unterdeck, im Gewirr von zweihundert Stimmen, suchte er oft sich selbst zu vergessen und erlebte dann im Geiste im voraus das Leben auf See, wie es in der Unterhaltungsliteratur dargestellt wird. Er stellte sich dann vor, wie er Menschen aus versinkenden Schiffen rettet, wie er im Orkan die Masten abhaut, wie er am Ende einer Leine durch tobende Fluten schwimmt. Dann schien es ihm wieder, daß er ein einsamer Schiffbrüchiger ist, der halbnackt und barfuß über nackte Felsen wandelt,

486

Textkritischer Anhang

um irgendwelche Krabben zu finden und sich so vom Hungertod zu retten. Er stellte sich in Gedanken oft den Wilden an südlichen, dem Äquator nahen Inselufern mutig entgegen, überwand entstehende Revolten..." usw. (1. c. S. 4). " Es ist was los. Kommt nur! Er sprang rasch auf die Füße. Die Burschen stiegen die Leitern hinauf. Auf dem Oberdeck hörte man ein gewaltiges Laufen und Rufen. Und als Jim aus der Luke auf das Deck hinaus sprang, hielt er auf einmal in Verwirrung, wie gelähmt, inne. Es war Dämmerung eines Wintertages. Der Wind war schon vom Mittag an gewachsen und hielt den Verkehr am Flusse auf. Jetzt dröhnte er mit der Wucht eines Orkans. Seine momentanen Ausbrüche tobten wie Salven großer Kanonen am Ozean. Der Regen fiel in schrägen Strömen, die einmal aufprallten, und einmal verschwanden. Von Zeit zu Zeit enthüllte sich vor Jims Augen der drohende Anblick des brausenden Abgrunds. Das kleine Schifflein warfen die Wellen hinauf und hinunter, von einem Ufer zu dem anderen. Dahinter unbewegte Häuser im schwingenden Nebel, breite Fähren stampften schwerfällig vor Anker, riesige Landungsbrücken wogten auf und ab, durch Wasserfluten bedeckt... Jim hatte den Eindruck, daß alles sich gegen ihn wendete, und Furcht hielt ihm den Atem. Stand bewegungslos. Ihm kam es vor, als ob er herumgewirbelt würde. Man stieß ihn an. Die Schaluppe aufs Wasser! Die Burschen liefen neben ihm. Ein am Ufer stehendes Schiff war mit einem Kutter zusammengeprallt, um einen Zusammenstoß mit dem Ufer zu vermeiden. Ein Instrukteur des Schiffes war Zeuge des Unfalls. Die jungen Matrosen stiegen massenhaft auf die Bordwand und hielten sich an den Kränen der Schaluppen fest. Zusammenstoß! Dicht vor uns. Herr Symons hat's gesehen. Jemand stieß Jim an, der an den dritten Mast anprallte und eine Leine ergriff, um nicht umzufallen. "

[...] "Jim fühlte auf einmal, daß ihn jemand stark am Arm faßte. Zu spät, Junge! Der Schiffskapitän legte die aufhaltende Hand an Jim, der es schien schon fast gerade über die Bordwand springen wollte. Der Junge blickte auf den Kapitän mit dem Ausdruck einer bewußten Niederlage in den Augen hin. Der Kapitän lächelte freundlich. Das nächste Mal wirst

487

Textkritischer Anhang

du mehr Glück entscheiden. "

haben!

Das

wird

dich

lehren, sich

schnell

zu

S. 148: *Als Beispiele [...] bzw.*, i.O. "Als ein Beispiel [...] und". S. 148 f.: Wortlaut der von Ingarden angeführten Übersetzung: Seine Frau blieb allein mit dem Chirurgen. Sie schwieg, wie früher, und dieses Schweigen erregte ihn mehr als alle anderen ihm bekannten perversen Liebkosungen. Übrigens hatte der Chirurg das Empfinden, daß sie etwas gesagt hatte, es war aber noch in Anwesenheit ihres Mannes. Sie hatte etwas sehr Dummes gesagt, das überhaupt gar keinen Sinn hatte, ein trostlos banales Paradoxon, wie sie es zu tun liebte, und über das ihr Verstand nicht hinausreichte. Sie sagte etwas in dem Stil: das niedrigste Prozent der Männlichkeit besitzt ein hundert-prozentiger Mann oder die Frau gibt sich nur dem hin, den sie gar nicht liebt. Dies war sehr peinlich und der Chirurg blickte beschämt zu Widmar hin, der anscheinend dieselbe Scham empfand. Widmar und dem Chirurgen war es sehr unangenehm, sie erröteten sogar beide, denn sie reagierten gleich auf weibliche Dummheit. Übrigens ging mich das nichts an stellte der Chirurg fest und hielt seinen Hut im Wind fest. Staub wehte ihm in die Augen; irgendwo hoch oben schimmerte der Mond, gelb und abscheulich. Doktor Tarnten wischte sich die Augen und murmelte: Teufel! So ein Wind! Als aber Widmar die Zigarettendose Schloß und mich von unten anblickte, empfand ich die Möglichkeit einer großen Unannehmlichkeit, und in der Tendenz zur Selbstabwehr steckte ich die Hand in die Tasche. Was aber das Gehirn der Frau angeht, so geht es mich nichts an, ich glaube, die Frau besitzt interessantere Organe . So erwog er dies bei sich, gierig, unzüchtig und, was noch schlimmer war, etwas gekünstelt und seinen eigenen Idealen gegenüber untreu. Als er sich aber dem Spitaltor mit der Droschke näherte, lief ihm ein Assistent entgegen und der Wind hob die Seiten seines weißen Kittels hoch auf. Der Chirurg Tarnten bemühte sich, den Assistenten nicht zu bemerken und spann seine Gedanken schnell weiter fort, um nicht gestört zu werden. Ich wußte genau, daß dieser Mensch mich mit eigenen Händen erdrosseln wollte, obwohl wir wahre Sympathie zueinander fühlten . Der Chirurg wollte sich noch eine wichtige und unaufschiebbare Sache in Erinnerung bringen, hatte aber schon keine Zeit mehr dafür. In die Droschke sprang der Assistent und..." (1. c. S. 33 35). [...] Rebekka, Rebekka, was erwartet uns noch?

488

Textkritischer Anhang

S. 149: *merken wir*, i.O. "orientieren wir uns" [poln.

orientowac

siç].

S. 150, Anm. 29: *Er lebte von 1878 bis 1957*, i.O. "Er lebte in den Jahren von 1878 bis 1962". S. 150 f.: Wortlaut der von Ingarden angeführten Übersetzung: "Ich schlage dich an, du leidvolle Saite der Seele,/ die du mir die Stille des Abends und den Duft der Heuernte spielst./ In der Erinnerung das weiße Haus, zwei Ahornbäume,/ Sommerabend, Vogel, der in den Ästen lieblich singt./Alles, was mir von euch, ihr glücklichen Tage, blieb:/ Zwei Bäume, der Vogel, der singt - nichts, und doch viel, so viel... " S. 151 f.: Die von Ingarden angeführte Übersetzung: "Deine Lippen wandern, deine Lippen sich führen,/ wie zwei rosige Vögel leicht tasten sie mich an / wie zwei begnadete Lichter, meine Augen, berühren,/ deine Lippen haben mich genommen, deine Lippen besitzen mich.// Wie Bekenntnis voll Scham, wie tolle Geflüster / Wiederhole ich in meinem Munde deine ungezählten Lippen./ Von dem Lächeln in den Ecken bis zum Geschmack an der Zunge - / Deine Lippen küssen und die Welt verschwindet." S. 158: *auch nicht*, i.O. "außerdem". S. 159: *ihm*, i.O. "ihr". S. 175: *, in dem viele [ ] Bedeutung sind.* i.O. "Viele seiner Elemente und Momente sind bei der Lektüre bei der angegebenen Einstellung ohne größere Bedeutung." S. 188: *diese*, i.O. "die von ihm erreichte". S. 206: *wir heutigen Europäer*, i.O. "wir, heutige Europäer,". S. 206: *die Imago*, i.O. "das Imago". S. 270: *auf dieses Erlebnis*, i.O. "zu diesem Erlebnis". S. 295: *, daß jede Analyse sie zu zerstören [ ] droht*, i.O. ", daß sie jede Analyse zu [ ] zerstören droht". S. 309: *dieser Feststellung*, i.O. "dieser Feststellungen". S. 311: *Es ist etwas anderes, ob man [ ] ausnützt, oder ob man [ ] erkennt.*, i.O. "Es ist etwas anderes, gewisse Fertigkeiten ausnützen, sich gewisser Mittel zu bedienen, und wieder etwas anderes, diese Mittel in ihrer Eigenart und Leistung zu objektivieren und als eigene Gegenständlichkeiten zu erkennen."

Textkritischer

489

Anhang

S. 313: *in einzelne Fragmente allmählich beseitigt durch die Entdeckung der Zusammenhänge zwischen ihnen und insbesondere*, i.O. "in einzelne Fragmente allmählich durch die Entdeckung der Zusammenhänge zwischen ihnen beseitigt und insbesondere". S. 324: »bestehen.*, i.O. "besteht." S. 327: *[ ]*, i.O. "zu". S. 331: »Bestand*, i.O. "Tatbestand". S. 338: »Schwierigkeiten*, i.O. "Schwierigkeit". S. 340: *Praxis*, i.O. "Praktik". S. 341: * Praxis*, i.O. "Praktik". S. 343: *an sich keine [ ] mehr*, i.O. "an sich schon keine" [poln.y'wz nie], S. 343, Anm. 100: »schon im schlichten ästhetischen Erleben kaum*, i.O. "kaum im schlichten ästhetischen Erleben". S. 344: *Folgeemotionen*, i.O. "Folgeemotion". S. 354: »einbringt», i.O. "hereinbringt". S. 356: *[ ]*, i.O. "schon". S. 357: *Modifikationen, welche [ ] darauf beruhen* ist die Originalformulierung. Gemeint ist: Modifikationen, die darauf beruhen, daß die betreffenden Qualitäten im Rahmen eines Ganzen mit anderen Qualitäten an den betreffenden Gestalten zusammen sind. S. 361: »sowie von der Weise ihrer Exposition ab* ist die Originalformulierung. Gemeint ist: sowie von der Art und dem Grad ihrer allgemeinen Bekanntheit. S. 367: »nur», i.O. "kaum". S. 368: »unter den Bestandteilwerten*

ist die Originalformulierung;

gemeint ist: unter den Werten, die Bestandteil der Wertausstattung des betreffenden

literarischen

ästhetischen

Gegenstandes

und

des

ihm

zugehörigen Werks sind. S. 370: *nouvelle critique», i.O. "critique nouvelle". S. 373: »in ihren Bestand eingehen* ist die Originalformulierung; gemeint ist: Bestandteil von ihnen sind. S. 3 7 9 - 3 8 1 : *(1)*, i.O. "-"; »(2)», i.O. "2"; *(3)*, i.O. "3"; »(4)», i.O. "5". -

Bereinigung der verderbten

Numerierung

polnischen Übersetzung von Gierulanka, S. 325 f. S. 388: * Praxis*, i.O. "Praktik".

nach dem Vorbild

der

490

Textkritischer Anhang

S. 388: ""mehrmals*, i.O. "nicht einmal" [poln. nie raz]. S. 404: *ist dem Ergebnis [ ] dann "angepaßt", wenn*, i.O. "wird dann dem Ergebnis [ ] "angepaßt", wenn". S. 410: *kaum*, i.O. "nicht". S. 418: *dann*, i.O. "schon" [poln.y'uz], S. 420: *übergehen*, i.O. "umgehen". S. 421: *[ ]*, i.O. "schon" [poln.;'wt nie]. S. 437, Anm. 41: *Stanislavskij*, i.O. "Stanislawski". S. 451: *diese nachprüfbar [ ] sein [ ] oder [ ] diese Erkenntnisoperationen [ ] erfordern sollten, so haben sie letzteren doch einen [ ] Vorzug voraus*, i.O. "sie nachprüfbar [ ] sein sollten oder [ ] diese Erkenntnisoperationen [ ] erforderten, haben sie doch einen [ ] Vorzug vor ihnen". S. 452: Akten *einer dann schon rein intellektuell gearteten Überlegung*, i.O. Akten "der Überlegung, schon rein intellektueller Art". S. 453: *ist*, i.O. "wird".

Analytisches Inhaltsverzeichnis Einleitung

1

§ 1.

1

-

Das Gebiet der Betrachtung Die verschiedenen Weisen der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks und die literaturwissenschaftliche Methodendiskussion.

§ 2. Vorläufige Andeutung des Problems -

4

Weite Bedeutung des Ausdrucks "Erkennen".

§ 3. Die Anpassung des Erkennens an die Grundstruktur des Erkenntnisgegenstandes -

6

Grundtypen der Erkenntnisgegenstände und Grundarten des Erkennens. Ästhetisches Erfahren und allgemeines (apriorisches, eidetisches) Erfassen der wesensmäßigen Struktur des literarischen Kunstwerks.

§ 4. Grundbehauptungen über den wesenseigenen Aufbau des literarischen Kunstwerks

11

Kurze Rekapitualtion der Grundpositionen von Das literarische Kunstwerk. § 5. Das schriftlich festgelegte literarische Werk

14

Der Druck und der Schichtenaufbau des Werks. § 6. Beschränkung des Themas und erste Grundthese

14

I. Die in das Erkennen des literarischen Kunstwerks eingehenden verschiedenen Funktionen

18

§ 7. Das Erfassen der Schriftzeichen und der Wortlaute

18

§ 8. Das Verstehen der Wortbedeutungen und der Satzsinne

23

-

Wortbedeutung und Satzsinn: Transzendenz gegenüber allen Denkerlebnissen (24-26); Kritik der psychologistischen sowie neopositivistischkonventionalistischen Theorien (26-30); Einzelne Wortbedeutung und sprachliches System von Bedeutungen (30-31); Funktionen der Wortarten "Namen", "Funktionswörter" und "Zeitwörter" (31-33). Zum Verfahren des Textverstehens:

492

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

Das Wort als Glied eines Satzgefüges (33-34); Satzdenken und satzbildende Operation, Strom des Satzdenkens von Satz zu Satz, die Satzmannigfaltigkeit (35-38); Besonderheiten bei der Erfassung des literarischen Kunstwerks (38-39). § 9. Passives und aktives Lesen -

39

Signitiver (bedeutungsverleihender) Akt und die Unterscheidung zwischen passivem und aktivem Lesen (40-41).

-

Kritik der positivistischen Theorie vom nur sinnlichen Wahrnehmen ("Begaffen") nur realer Gegenständlichkeiten; aktiviertes Erkennen dargestellter Gegenständlichkeiten und ihrer eigenständigen Quasi-Wirklichkeit (41-44).

§ 10. Objektivierung als der Übergang von den intentionalen Sachverhalten zu den im literarischen Werk dargestellten Gegenständlichkeiten -

44

Analyse der intentionalen Satzkorrelate (Sachverhalte) und ihrer Funktionen (Textbeispiel aus Thomas Manns Die Buddenbrooks)

(44-47).

"Objektivierung" der Sachverhalte und der Charakter der ästhetischen Konkretisation des Werks (47-50). -

Konstituierung einer Quasi-Wirklichkeit mit anderer Ordnung, Dynamik und mit anderen Wertqualitäten als die Sätze (51-54).

§ 1 1 . Die Konkretisierung der dargestellten Gegenständlichkeiten Unbestimmtheitsstellen als notwendige Implikation des schematischen Wesens des literarischen Kunstwerks, als Elemente künstlerischer Komposition, als Stilmerkmal oder besondere literarische Gattungseigenschaft der Lyrik (54-58). Bewußte Beibehaltung oder teilweise Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen beim Lesen (58-60). -

Rolle der Konkretisation der Gegenstände und der Behandlung der Unbestimmtheitsstellen für das ästhetische Erfassen des ganzen Werks; "stilnahe" oder nicht stilnahe Konkre-

54

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

493

tisationen des Werks (60-61). § 12. Aktualisierung und Konkretisierung der Ansichten -

61

Das anschauliche, quasi unmittelbare Erscheinen der Gegenstände in den Ansichten; Ansichten und sprachlautliche Schicht (62-64).

-

Größere oder kleinere Spielräume beim Aktualisieren der Ansichten (Beispiele: aus S. Zeromskis

Schneesturm,

H. Sienkiewiczs Quo vadisl und J. Conrads Lord Jim) (64-69). -

Ansichten und die Veranschaulichung einer metaphysischen Qualität (69-70). Die verschiedenen Möglichkeiten (und Fehlerquellen) der Aktualisierung und Konkretisierung von Ansichten (70).

§ 13. Besonderheit des Verstehens des literarischen Kunstwerks als einer Dichtung

70

Antwort auf Käte Hamburgers Kritik: -

Signale (sprachlautliche Gestaltung: Rhythmen, Melodien, Reime; "opalisierende" Sinnbildung der Sätze) für eine Veränderung der Auffassungsweise und Einstellung des Lesers (Beispiel: eine Passage aus Rilkes Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke) (71-74).

-

Von der wörtlichen zur "opalisierenden" Bedeutung von Wörtern und Sätzen (74-76).

-

Das Verstehen der Metapher als Mitdenken und direktes Erleben der anschaulich schillernden Bedeutung des metaphorischen Wortes und Satzes (76-78).

-

Anknüpfend an Emil Staiger: Probleme der verschiedenen Verstehbarkeit und Interpretierbarkeit des Werks (78-80).

§ 13a. Das Zusammenfassen aller Schichten des Werkes zur Ganzheit und die Erfassung seiner Idee -

Zum "organischen" Aufbau des literarischen Kunstwerks: Implikationen des "Organismus"-Begriffs (81-85); Die begrenzte Analogie des Organismus zum literarischen Kunstwerk (85-87).

80

494

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

Hauptfunktion des literarischen Kunstwerks: Kritisierte Auffassungen (87-93); Ingardens eigene Definition; Widerlegung möglicher Einwände (93-95). -

Hauptfunktion und allgemeine Definition der eigenen individuellen "Idee" eines jeden literarischen Kunstwerks: der durch es "gezeigte", synthetische wesensmäßige Zusammenhang ästhetischer Wertqualitäten; das "Kristallisationszentrum" (in einer der Schichten oder in der Zeitstruktur) (95-96).

-

Die Möglichkeit mehrerer Kristallisationszentren oder des NichtZustandekommens eines wesenhaften inneren Zusammenhangs (96-97).

-

Der Leser als mit-schöpferischer Mitentdecker der letztlichen gestaltmäßigen Wertqualität der Synthese aus den Wertqualitäten des Werks (97-100).

§ 14. Der Einfluß der Zusammengesetztheit der Erfassung des literarischen Kunstwerks auf die Gestalt seiner Konkretisation.... 100 -

Perspektivische Verdrehungen, Hypertrophierungen und Verkürzungen durch ungleiche Aufmerksamkeit beim Lesen; grundsätzliche Transzendenz des literarischen Kunstwerks gegenüber den individuellen Bewußtseinserlebnissen (100-104).

II. Die Zeitperspektive in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks

105

§ 15. Die Struktur der Aufeinanderfolge der Sätze und Teile des Werkes -

105

Die Aufeinanderfolge der Teile des Werks, die zeitliche Ordnung der Lektürephasen; die davon unterschiedene Ordnung der dargestellten Zeitphasen (105-108).

§ 16. Das Kennenlernen des literarischen Kunstwerks während der Lektüre -

Der Umfang der gerade gelesenen lebendig selbstgegenwärtigen Phase des Werks (in der Regel gleich einem Satz); Ankündigung, lebendige Gegenwart und Absinken

108

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

495

der Phase in den Vergangenheitshorizont (108-111 ). Das lebendige Gedächtnis der "kondensierten" Sinnganzheiten; weitgehendes Verschwinden von Sprachlauten, Sätzen und Satzmannigfaltigkeiten (111-113). -

Das lebendige Gedächtnis überhaupt (113-114).

-

Verschwinden der Ansichten aus dem lebendigen Gedächtnis; Kondensierungen auch im Bereich der gegenständlichen Schicht (114-115).

-

Der "doppelte Horizont" der fließenden Lektüregegenwart; Auswirkung auf Tempo und Dynamik des Lesevorgangs, auf das Erfassen aller Schichten sowie auf das Erfassen der Polyphonie der ästhetischen Wertqualitäten (115-117).

§ 17. Die Phänomene der "Zeitperspektive" -

"Zeitperspektive" und Raumperspektive ( 117-122).

-

Räumliche Gestalten und Ansichten und "zeitliche Gestal-

117

ten" in "Zeitansichten": 1) Verkürzung der Zeitintervalle (123-124); 2) Dehnung der Zeitintervalle (124-125); 3) Veränderungen in der Dynamik der Vorgänge (125-127); 4) Zeitdistanz und Erinnerung. "Ansichten" des Erinnerten (127-131); 5) Das Versinken in die Vergangenheit (ohne Analogie in der Raumperspektive) (131-133); 6) Das Phänomen der qualitativen Wandlungen der vergangenen Geschehnisse, deren Ausstattung mit immer neuen Zeitcharakteren (133-137); 7) Die "Erweiterung" der Erinnerung (137-140). § 18. DieZeitperspektive in der Konkretisation des literarischen Kunstwerks Zeitperspektive in der dargestellten Welt, Zeitperspektive bei der Lektüre des Werks; "Kreuzung" beider Zeitperspektiven; Tempusformen und literarische Gattungen (140-144).

140

496

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

Kompositorische Funktion des Wechsels der Zeitdistanz (Beispiele aus J. Conrad, Lord Jim und M. Choromañski, Eifersucht und Medizin) (144-151). Zeit in der Lyrik (Beispiele aus Gedichten von L. Staff, Κ. Wierzyñski und R.M. Rilke) (151-156). Das Jetzt des Dramas im Vergleich zum Jetzt der Lyrik (156-157). Die einheitliche "Färbung" des Jetzt als eigener Phase in der erlebten Zeit und in der lyrischen Zeit; das Jetzt des Lyrik-Lesers (157-161). -

Bei längeren Werken: vom Nacheinander der Zeitansichten zum Erfassen des Systems der Zeitansichten (161-163).

§ 19. Das Erkennen des literarischen Kunstwerks nach der Lektüre -

163

Begrenztheit und Wichtigkeit der ersten Lektüre; Transzendenz des Werks gegenüber den Akten seiner Erfassung (163-166).

III. Bemerkungen über das Erkennen des wissenschaftlichen Werkes

167

§ 20. Über den Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen Werk und dem literarischen Kunstwerk

167

Hauptfunktion des wissenschaftlichen Werks und Hauptfunktion des literarischen Kunstwerks; unterschiedliche Funktionen der Aussage-, Frage- und Urteilssätze sowie der dargestellten Gegenstände, der Ansichten und der ästhetischen Wertqualitäten (167-175). § 21. Das Verstehen des wissenschaftlichen Werks und die perzeptive Erfassung des literarischen Kunstwerks -

Notwendigkeit einer Theorie vom Erkennen des wissenschaftlichen Werks im Vergleich zum literarischen Kunstwerk (175-178). Funktionen der sprachlautlichen Schicht und der Schicht der Ansichten im wissenschaftlichen Werk und das Ideal der Eindeutigkeit (178-180).

-

Möglichkeit einer Umstellung seiner Teile zum besseren

175

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

497

Verständnis des wissenschaftlichen Werks (180-182). -

Rolle des Rückgriffs auf die Wirklichkeit, auf andere wissenschaftliche Werke, Kenntnis der Fachsprache (182-185).

-

Beim literarischen Kunstwerk: Wirklichkeitsbezug als mögliche Quelle falscher Suggestionen; ausschlaggebende Bedeutung der ästhetisch relevanten Qualitäten; Relevanz der Ordnung der Teile (185-190).

IV. Die Abwandlungen des Erkennens des literarischen Kunstwerks

191

§ 22. Ausblick auf weitere Probleme

191

§ 23. Über verschiedene Einstellungen beim Erkennen des literarischen Kunstwerks

195

Die praktische, die forschende und die ästhetische Einstellung zu ein und demselben Gegenstand; die forschende und die ästhetische Einstellung zum literarischen Kunstwerk (195-198). § 24. Das ästhetische Erlebnis und der ästhetische Gegenstand -

Gegenstand des ästhetischen Erlebnisses und realer Gegenstand; Konstitution des ästhetischen Gegenstandes im ästhetischen Erlebnis (am Beispiel der Venus von Milo) (199-112).

-

Allgemeine Struktur des ästhetischen Erlebnisses: 1) Länge und Komplexität des ästhetischen Erlebnisses (212-213). 2) Ästhetische Ursprungsemotion und ästhetische Einstellung (214-217). 3) Folgen der ästhetischen Ursprungsemotion: a) Hemmung im "normalen" Lauf der Erlebnisse (217— 220); b) Isolation des Jetzt des ästhetischen Erlebnisses vom dahinströmenden tätigen Leben (220-221); c) Wandel der Einstellung von der realen Existenz der Tatsachen auf die anschauliche Gestalt qualitativer Gebilde (221-223). 4) Übergang von der Ursprungsemotion zu den Phasen

199

498

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

des ästhetischen Erlebnisses; Konstituierung eines bestimmten ästhetischen Gegenstandes durch die Entdekkung des Zusammenklangs der Wertqualitäten; Probleme bei der vorstellungsmäßigen Ergänzung fehlender Qualitäten (223-229). 5) Erfassen der Qualitäten und deren Formung: a) in kategoriálen Strukturen, durch Hinzukonstruieren eines neuen Subjekts der Qualitäten, des ästhetischen Gegenstandes (229-231); b) in Strukturen des Zusammenklangs der Wertqualitäten (231-235): A. Wechselseitiges Einwirken der Qualitäten im Zusammenklang (232). B. Zusammenklang der Qualitäten und Verlust ihrer Unabhängigkeit (232). C. Neue Qualität ("Gestalt") des Zusammenklangs (232-233). D. Die Gliederung ("Struktur") eines Zusammenklangs in Gestaltqualitäten höherer und niedrigerer Stufe (233-235). 6) Phase des ästhetischen Erlebnisses nach Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes: Unterschiede gegenüber den vorangehenden Phasen (235-237). Die emotionale Wertantwort; ihre Bedeutung für gültige Werturteile; ihr Verhältnis zur Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes (237-242). Wesentliche Funktion des ästhetischen Erlebnisses: "Realisierung" bestimmter Werte, Realisierung einer bestimmten Erfahrungsart (242-243). 7) Die "thetischen" Momente der Seinsanerkennung im ästhetischen Erlebnis: in bezug auf die dargestellten Gegenstände (243-245); in bezug auf den ganzen ästhetischen Gegenstand und die wesensnotwendigen Zusammenhänge unter den reinen Qualitäten (245-247);

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

499

in Verbindung mit der Wertanerkennung in der emotionalen Wertantwort (247-248). § 25. Gibt es ein "literarisches" Erlebnis besonderer Art, oder gehört es zu den ästhetischen Erlebnissen?

248

Kritische Sichtung von Tatarkiewiczs Theorie des literarischen Erlebnisses als "mittelbares Anschauen und Verkehren mit den Sachen" und als Mischung von ästhetischem und außer-ästhetischem Erlebnis (248-253). -

Gegenvorschlag zur Unterscheidung "literarischer" Erlebnisse: A.l. nicht-ästhetische Erlebnisse, A.2. ästhetisches Erlebnis des literarischen Konsumenten; B.l. vor-ästhetisches Erkennen des literarischen Kunstwerks in der Forschungseinstellung, B.2. auf ästhetischem Erlebnis fußendes forschendes Erkennen einer ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks (253-254).

§ 26. Einige Bemerkungen über die literarischen ästhetischen Erlebnisse -

Ästhetische Ursprungsemotion als Notwendigkeit für die ästhetische Einstellung und für die Konstituierung des ästhetischen Gegenstandes (254-256).

-

Die Vielfalt der möglichen ästhetisch relevanten Qualitäten des literarischen Kunstwerks und ihre möglichen Zusammenklänge (je nach dem Bau des individuellen Werks und nach der Disposition des Lesers) (256-257).

-

Besonderheiten der literarischen ästhetischen Erlebnisse: Notwendige Aktualisierung der sprachlich vermittelten Ansichten (im Gegensatz zur bildenden Kunst) (257-258); Mehrphasigkeit des literarischen Erlebnisses im Vergleich mit Musik und Architektur (258-261); Anteil des intellektuellen Verstehens besonders der Sätze am ästhetischen Erlebnis; ästhetisch relevante Qualitäten an Satzstrukturen und Satzzusammenhängen (262-264); Reichtum und Heterogenität der ästhetisch relevanten Qualitäten des literarischen Kunstwerks (264-265).

§ 27. Das vor-ästhetische forschende Betrachten des litera-

254

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

rischen Kunstwerks Vor-ästhetisches Betrachten, objektive Erkenntnis des literarischen Kunstwerks, z.B. durch die Literaturwissenschaft; Unterscheidung zwischen Werk und Konkretisation; Untersuchung der Eigenschaften und Elemente, die das Werk zum Kunstwerk machen (265-266). Die analytische, "mit einer gewissen Destruktion des Kunstwerks" verbundene Phase und die synthetischen Phasen des vor-ästhetischen Betrachtens: Unterscheidung von Konkretisation und Werk durch das Aufsuchen der Unbestimmtheitsstellen (Beispiel: Th. Manns Tristan) und der Untersuchung ihrer Funktion im künstlerischen Aufbau des Werks: als Stilzug einer oder aller Novellen Th. Manns, der Gattung Novelle (272-279); Untersuchung der Ansichten (Vorkommen, Funktion, Zusammenwirken mit der sprachlautlichen Schicht, dem Bau der Sätze und Satzzusammenhänge; weiter am Beispiel Tristan) (279-283). Analyse von Darstellungsweisen: Kreuzungen zwischen der Ordnung der dargestellten Zeit und der Ordnung der Darstellung (283-286); Leistung der Sätze für die Darstellung der Zeit und der verschiedenen Gegenständlichkeiten; Leistung der gewählten Wörter (Beispiel: Wortarten und Darstellungsweisen in Thomas Manns Buddenbrooks) (286-297). Exkurs über eine analytisch-funktionelle Betrachtung lyrischer Dichtung : Das lyrische Ich (im Unterschied zum realen Autor) und die "dargestellte Welt" im lyrischen Gedicht (298-302); das lyrische Ich im Gegensatz zur dramatischen Person und zum epischen Erzähler (303-305); die sprachlautliche Schicht im Gedicht und ihr Zusammenwirken mit den übrigen Schichten; die besondere Bedeutung der Unbestimmtheitsstellen in der Lyrik (305-308).

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

Besonderheit der Zeitbehandlung in der Lyrik (die Gestalt einer "kondensierten" Gegenwart, am Beispiel von Rilkes Gedichten Schlußstück und Initiale) (308-313). Gefahren und Vorzüge einer die Hierarchie der Momente des Werks zerstörenden analytischen, intellektuellen "thematischen Objektivierung" von Einzelheiten; erlebte ästhetische Erfahrung, Rekonstruktion und Konkretisation, analytische Betrachtung, deren funktionelle Perspektive und Überführung in die synthetische Betrachtung der Zusammenhänge: Vor- und Nachteile des analytischen Verfahrens bei lyrischen Gedichten und literarischen Kunstwerken überhaupt (313-317); "Thematische Objektivierung" und Distanz zwischen Erkennendem und Erkanntem (317— 321); die Bindung der analytischen Betrachtung an die ästhetische Erfahrung und an die funktionelle Perspektive (Bezug auf Croce und Bergson); die Methode der experimentellen Veränderung des Werks (321-324); Separierung und Ineinandergreifen der analytischen Betrachtung des Werks und der ästhetischen Konkretisation bzw. deren erkenntnismäßiger Erfassung (Frage der Rechtmäßigkeit und Angemessenheit von Konkretisationen) (324-328). Rekapitulation der analytischen Betrachtung der Unbestimmtheitsstellen : 1. Feststellen und Funktionsbestimmung der Unbestimmtheitsstellen (328). 2. Bestimmung der auszufüllenden und der nicht auszufüllenden Unbestimmtheitsstellen (328-329). 3. Bestimmung der Variabilitätsgrenze für die möglichen Ausfüllungen der einzelnen Unbestimmtheitsstellen - a) jede für sich genommen; b) unter der For derung der Einstimmigkeit des Textes; c) im Hinblick auf die mögliche Konstituierung ästhetisch valenter Qualitäten (329-330).

502

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

4. Ästhetisch wertvolle Qualitäten, die durch eine bestimmte Ausfüllung einer Unbestimmtheitsstelle konstituiert werden können (330). -

Relevanz der Unbestimmtheitsstellen für literarische Gattungen, Richtungen,

Epochenstile

(Romantik, Naturalismus,

Expressionismus) oder Individualstile. Vorschlag einer vergleichenden Untersuchung der Unbestimmtheitsstellen bei Zola und Proust, Joyce und Galsworthy oder Meredith, Th.Mann und Faulkner; Bedeutung nicht auszufüllender Unbestimmtheitsstellen für die Lyrik von Hölderlin, Rilke oder Trakl (330-332). -

Erfassen der künstlerischen Werte des Werks im Hinblick auf die ästhetischen Werte der möglichen Konkretisationen (332-340).

§ 28. Das betrachtende Erkennen der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks -

Zur Frage der Wissenschaftlichkeit der Erfassung literarischer ästhetischer Gegenstände (340-344).

-

Das ästhetisch-betrachtende Erkennen des literarischen ästhetischen Gegenstandes im Vergleich zum vor-ästhetischen Betrachten des Werks; Erfahrung und Anerkennung des Werts (344-346). Das betrachtende Erkennen des literarischen ästhetischen Gegenstandes, unterschieden vom ästhetischen Erlebnis: Beseitigung der Folgeemotion nach Konstitution des ästhetischen Gegenstands (346-348); mehrfach wiederholte Konstitution desselben ästhetischen Gegenstandes zwecks Annäherung an die eine möglichst adäquate Rekonstruktion und zwecks Erkenntnis des literarischen Kunstwerks in seinem eigenen ästhetischen Wert (348-353). Gegen das Postulat allgemeiner oder epochenbezogener Bewertungskriterien (Bezug auf Max Scheler) (353-355).

-

Vorkehrungen gegen die Gefahren für die "Objektivität" der ästhetisch forschenden Erkenntnis:

340

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

Die Ganzheitlichkeit des Gegenstandes als Argument gegen das analytische Verfahren (355-356); dagegen die "verschmolzene, aber nicht schlechthinnig einfache Ganzheit des ästhetischen Gegenstandes" als Motiv für den Rekurs ganzheitlichen Betrachtens auf die analytische Betrachtungsphase und für das Mitthematisieren der die ganzheitliche Gestaltqualität fundierenden Momente (356-359); die Frage der rationalen und der "nicht-rationalen" Sprache, in der sich die Ergebnisse solcher Erkenntnis mitteilen ließen (359-365). -

Die Urteile über einen ästhetischen Gegenstand: Überblick über die möglichen Urteile (berichtende Urteile; feststellende Urteile oder ästhetische Werturteile; Sätze des Lobens oder Mißbilligens) (365-366); Berichtende Urteile; Exkurs über die sekundären nichtästhetischen Werte eines Werks (366-368); Ästhetische Werturteile: "Vergleichswert" oder "Eigenwert"; Urteile über die Werte von Gegenständen und Urteile über die Fundierung des Wertes im Gegenstand (368-369); einige mögliche fundierende Werte im literarischen ästhetischen Gegenstand (369-370); die resultierende Qualität des Gesamtwertes als ganzheitliche "Gestalt", als synthetische Qualität oder als qualitativer Widerstreit (Disharmonie) (370-372); die Intellektualität und kritische Kontrolliertheit des ästhetischen Werturteils (trotz der emotionalen und irrationalen Momente der voraufgehenden ästhetischen Erfahrung) (372-373).

§ 29. Der Unterschied zwischen dem ästhetischen Erleben des literarischen Kunstwerks und dem betrachtenden Erkennen seiner ästhetischen Konkretisation Unterscheidung zwischen Erleben und Erkennen (schöpferisch/nicht schöpferisch, Entzücken/Erkentnisinteresse am ästhetischen Gegenstand, emotionale Wert-

504

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

antwort/ästhetisches Werturteil aufgrund kontrollierter Forschung (373-375). V. Ausblick auf einige Probleme der kritischen Betrachtung der Erkenntnis des literarischen Kunstwerks

376

§ 30. Einleitende Bemerkungen

376

-

Ziel der Erkenntniskritik (376-377).

§31. Erkenntniskritische Probleme des vorästhetischen betrachtenden Erkennens des literarischen Kunstwerks -

377

Allgemeine und besondere Bedingungen und Probleme der Wahrheit und Objektivität "literarischer Urteile": a) das Getreusein der Rekonstruktion des literarischen Kunstwerks (Quellen, Gewichtung und Bekämpfung von Fehlern) (381-404); b) die Objektivität der Erkenntnis des Werks, seiner getreuen Rekonstruktion (Grenzen der Objektivität wegen des Wesensunterschiedes zwischen Erkenntnis und Rekonstruktion; Fehlerquellen; Probleme der sprachlichen Mitteilung der Erkenntnis) (405-407); c) Anpassung des Inhalts der literarischen Urteile an diese Erkenntnis (Wahrheitsbedingungen; Sprachprobleme; endliches System der Urteile und unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der Eigenschaften des Werks; Verschiebung der Hierarchie des Werks in wissenschaftlicher Darstellung als Bedingung für bessere Erkenntnis und als Fehlerquelle; ist mehr als ein System von wahren Urteilen denkbar? (407-416).

§ 32. Einige Probleme der Erkenntniskritik des ästhetischen Erlebnisses a) Erkenntniskritik des schlichten ästhetischen Erlebnisses: 1) Dessen Leistungsfähigkeit ist meßbar an den Wertqualitäten des ästhetischen Gegenstands; abhängig von den Fähigkeiten des Lesers; überprüfbar durch Rekurs auf das Werk selbst und Konfrontation mit anderen Konkretisationen (417—420).

416

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

505

2) Unterschiede in Leistungsfähigkeit und Verlauf des ästhetischen Erlebnisses, in der Anzahl der aktualisierten künstlerischen Werte und der dadurch zum Erscheinen gebrachten ästhetischen Werte (420-429). Exkurs über die Variabilitätsgrenze der Konkretisationen eines Werks und der Ausfüllung der Unbestimmtheitsstellen: Das Problem der gleichen Höhe unterschiedlicher Wertqualitäten; verschiedene Systeme möglicher ästhetischer Werte und möglicher Wertantworten; verschiedene Grundtypen bzw. Stile ästhetischer qualitativer Zusammenklänge; ideale Zuordnung von Wert und Wertantwort; Kritik des Wertrelativismus (429-435). 3) Zur Rolle des ästhetischen Erlebnisses im Leben (436-438). -

b) Erkenntniskritik des ästhetischen Erlebnisses als Vorbereitung forschender Erkenntnis ästhetischer Gegenstände: Das Erfordernis einer besonders werknahen Rekonstruktion (438-439); Exkurs über Konkretisationsstile und die Werknähe von Konkretisationen (439^447); das Erfordernis des "adäquaten", von der "Idee" oder "Gestalt" einer werknahen Konkretisation angeleiteten Erlebnisses (447^50).

§ 33. Einige erkenntniskritische Probleme der Erkenntnis der ästhetischen Konkretisation des literarischen Kunstwerks -

Zeitstruktur und Zeitlichkeit des literarischen ästhetischen Gegenstandes als Problem seiner Erkenntnis (450-453). Zeitliches und sachhaltiges Verhältnis von ästhetischem Erlebnis und forschendem Erfassen (453-456).

-

Vom ästhetischen Erlebnis angeregtes intuitives Wissen über Ganzheit und Struktur des ästhetischen Gegenstandes und dessen Geltung auch für das forschende Erkennen (456). Erkenntnisprobleme wegen Zeitlichkeit und Historizität des literarischen ästhetischen Gegenstandes (457-459).

450

506

Analytisches

Inhaltsverzeichnis

Gestalthaftigkeit und innere Einheit des ästhetischen Gegenstandes und seines qualitativen Wertzusammenklangs als offenes Erkenntnisproblem beim literarischen Kunstwerk (459-465). Das Erkenntnisproblem eines möglichst erschöpfenden Erfassens der ästhetisch relevanten Qualitäten (465-466). Erkenntniskritische Probleme der Urteile und Begriffe einer Literaturwissenschaft, die auch die ästhetischen Konkretisationen betrachtet (466-470). Notwendigkeit einer Bestimmung der Aufgaben und Methoden der Literaturwissenschaft, der Philosophie der Literatur, der Kritik und der Poetik (470-472). Legitimität divergierender literaturwissenschaftlicher Urteile über verschiedene Konkretisationen desselben Werks, begrenzte Legitimität divergierender Urteile über die künstlerischen Werte desselben Werks (472-474). Über die Bedingungen für das Recht und die Kompetenz eines Lesers zur Nichtanerkennung einer literarisch ästhetischen Bewertung und einer künstlerischen Bewertung (474-477).

Personenregister

Ajdukiewicz, Κ. 30η

George, S. 337n

Baumgaiten, Α. 213

Gierulanka, D. 24n

Benn,G. 401η

Gilson, Ε. 94n

Bense, Μ. 186η

Goethe, J. W. 87, 156, 299, 31 ln, 337,

Benveniste, Ε. 19η Bergson, Η. 108, 118, 124η, 158, 233η, 315,319, 320η, 321,356

468 Hamburger, Κ. 12n, 71n, 193n Hanneborg, Κ. 356η

Bertalanffy, L. von 85η

Hartmann, E. von. 249η

Bolzano, Β. 25

Hartmann, Ν. 14, 134η, 432

Bouterwek, F. 249η

Heidegger, Μ. 118η, 312

Brentano, F. 35η, 236η

Herder, J. G. 161η

Bühler, Κ. 21η, 30η

Hildebrand, D. von 52, 237, 430

Choromanski, Μ. 149-151

Hölderlin, F. 332

Conrad, J. 67, 144-147

Husserl, E. 1, 6, 10, 21n, 24f„ 27, 34η, 43,

Conrad, W. 442η

110, 112η, 116, 118η,

155,

158,

222η, 243, 245, 255, 289, 318η, Conrad-Martius, Η. 118η

394η, 405η, 464η

Croce, Β. 315, 321,356,456η

Ibsen, Η. 4,51η, 72η, 78η

Dilthey, W. 1,81, 134η, 427

Ingarden, R. 3η, 24η, 25, 31ff.n, 35η, 37η,

Ehrenfels, C. von 233

44η, 55η, 61η, 82η, 96η, 105η, 134η, 167η, 169η, 193η, 199η, 247η, 249η,

Ewers, Η. Η. 133 Faulkner, W. 51η, 331

267η, 272η, 279η, 283η, 306η, 308η, 319f.n, 365η,

Frege, G. 25

335η, 367η,

349η,

Joyce, J. 331

357η,

378f.n, 404η,

440η, 459η, 461η, 471η

Galsworthy, J. 331 Geiger, Μ. 243η, 332, 436

342η, 369η,

508

Per

Kant, I. 264η, 379η

Russell, Β. 71η

Killy, W. 323η

Scheler, M. 203, 223, 236, 269η, 354

Kleiner, J. 153n, 193n

Schopenhauer, Α. 188

Kridl, Μ. 193n

Sedlmayr, Η. 463η

Külpe, Ο. 223η

Shakespeare, W. 56, 59, 156, 337, 428,

Lessing, G. Ε. 161η Lipps, T. In, 231,250η Lützeler, Η. 57η Mann, T. 4, 9, 45, 46η, 78η, 87, 111, 252, 264η, 275-281, 284η, 286η, 291, 292η, 293, 294η, 297, 331 Meinong, Α. 71,74, 245η Meredith, G. 331 Meyer, Fr. Th. 161η, 249η Mickiewicz, Α. 323η Müller-Freienfels, R. 217η Odebrecht, R. 211η Ortwin, Ο. 213η, 410η Ossowski, S. 221 Platon 217η, 392η

468 Sienkiewicz, H. 47η, 66 Skwarczyñska, S. 193η Staff, L. 149, 151 Staiger, E. 2, 3n, 79, 193n, 350,402 Stanislavskij, K. S. 44In Stenzel, J. 2In Taranczewski, W. 323n Tarski, A. 24n Tatarkiewicz, W. 248-253, 258 Trakl, G. 323n, 332 Vaihinger, Η. 244n Vischer, Fr. Th. 249f.n Volkelt, J. 1, 207n, 21 In, 217n, 223n, 229n, 250n

Proust, P. 331

Wallis, Μ. 366η

Przybyszewski, S. 92

Wehrli, Μ. 429η

Rembrandt, H. van Rijn 230, 369

Whitehead, Α. Ν. 71η

Rilke, R. M. 72-74, 155, 299, 308f„ 312,

Wierzyñski, Κ. 152, 157, 159

332,401η Rothschuh, Κ. Ε. 85η

Wilde, Ο. 90 Wittgenstein, L. 24η, 362η

Personenregister Witwicki, W. 227n Wyka, Κ. 193n, 323n Zola, Ε. 78n, 286n, 331 Zeromski, S. 67f.